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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung
2. Januar 2006 Betr.: SPIEGEL-Gespräch, Sauer, Rechtschreibung

A ltkanzler Helmut Schmidt, 87, ist seinen Gewohnheiten treu geblieben: Als die
SPIEGEL-Redakteure Martin Doerry, 50, Hans-Ulrich Stoldt, 53, und Klaus Wie-
grefe, 40, ihn über die Nachkriegsjahre befragten, qualmte er Mentholzigaretten in
Serie, und sein Kaffee wurde stets „mit Schuss“ gereicht. Auch an der Rhetorik des
heutigen Mitherausgebers der „Zeit“ scheint die Zeit nicht genagt zu haben. Streit-
und angriffslustig wie eh und je zeigte sich Schmidt, und dass er manches besser zu
wissen glaubt als seine Gesprächspartner, mag er noch immer nicht verhehlen. „Sie
sind wohl ein Jungsozialist“, blaffte
er etwa Wiegrefe an, als der Sym-
pathien für mehr plebiszitäre Ele-
mente im Grundgesetz zu erkennen
gab. Der SPIEGEL-Mann demen-
tierte: „Dafür bin ich zu alt.“ Wie-
grefe hat sich mit Schmidt einge-
hend befasst: Im Frühjahr veröf-

MANFRED WITT
fentlichte er im Propyläen Verlag
ein kritisches Buch über Schmidts
Außenpolitik, über die er als Histo-
riker promoviert hatte (Seite 48). Schmidt, Wiegrefe, Doerry, Stoldt

D ie Gesetze der sogenannten Mediendemokratie machen sich viele Prominente


gern zunutze. Interviews können ihnen kaum zu lang werden, den Kameras sind
sie am liebsten nah. Joachim Sauer, 56, Ehemann von Kanzlerin Angela Merkel, 51,
scheint jedoch einen Gegenentwurf dieser Welt zu verkörpern. Scheinwerferlicht
schätzt er nicht, Interviewwünsche lehnt er ab. Für SPIEGEL-Reporter Marc Hujer,
37, war es nicht einfach, sich dem Mann zu nähern, der auch in Zukunft nichts wei-
ter sein möchte als Professor für Quantenchemie. Zu Vorlesungen Sauers wurde er
nicht vorgelassen, Termine internationaler Fachtagungen, zu denen der Gatte der
Kanzlerin eingeladen wird, wurden ihm nicht verraten. Aber Hujer war findig – und
im französischen Lyon, wo er immerhin 720 Euro Kongressgebühr bezahlte, um
Sauers Vortrag über protonierte Kohlenwasserstoffe zu hören, ließ sich Merkels Mann
erweichen. „Kommen Sie, gehen wir einen Kaffee trinken“, sagte er zu Hujer (Seite 32).

S eit dem 1. August 2005 gilt die neue Rechtschreibung in den meisten Bundesländern
als verbindlich – aber in vielen Schulen und auf dem Zeitungs- und dem Buchmarkt
herrschen, wie die SPIEGEL-Redakteure Jan Fleischhauer, 43, und Christoph Schmitz,
44, bei Recherchen vor Ort erfuhren, „Verwirrung und Beliebigkeit“. Eine „kollektive
Unfolgsamkeit“ gar sieht der frühere bayerische Kultusminister Hans Zehetmair, 69. Als
Vorsitzender des Rats für deutsche Rechtschreibung hat er die missglückte Reform mit
seinen Kollegen korrigiert, einige Empfeh-
lungen wie die zur Groß- und Kleinschrei-
bung stehen noch aus. Von dieser Ausgabe
an folgt der SPIEGEL den bisherigen Er-
gebnissen der Zehetmair-Kommission, ins-
besondere den Änderungen in der Ge-
trennt- und Zusammenschreibung. „Sie
sind eine Rückkehr zur Vernunft“, sagt
Chefredakteur Stefan Aust, 59. Der SPIE-
GEL werde „die weiteren Empfehlungen
URBAN ZINTEL

sorgfältig analysieren und ebenfalls über-


nehmen, wenn sie so vernünftig sind wie
Fleischhauer, Zehetmair, Schmitz die bisherigen“ (Seite 124).

Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 5
In diesem Heft
Titel
Archäologen suchen nach dem verschollenen

WOLFGANG KUMM / DPA (L.); VARIO-PRESS (R.)


Pharao Snofru – er war der
größte Pyramiden-Baumeister aller Zeiten ..... 104

Deutschland
Panorama: Seehofer kritisiert
Gesundheitspolitik / EU bekämpft
Medikamente, die Kinder gefährden /
Brennholzklau nimmt zu .................................... 15
Konjunktur: Mit Zuversicht ins neue Jahr ....... 20
Schlechte Noten für die Hartz-Reformen ......... 22
Reformen: SPIEGEL-Gespräch mit Koalitionspolitiker Glos, Merkel, Steinbrück, Autoexport
Finanzminister Peer Steinbrück über seine Pläne
und erste Rangeleien in der Großen Koalition .. 26
Finanzen: Das Musterland Bayern
will ohne neue Schulden auskommen .............. 29 Optimismus als Regierungsprogramm Seite 20
Karrieren: Der Mann an Angela Merkels Zuversichtlich wie lange nicht blicken die Politiker der Großen Koalition und die Ma-
Seite hat Mühe mit seiner neuen Rolle ............. 32
nager der deutschen Konzerne ins nächste Jahr. Kommt jetzt endlich der ersehnte Auf-
Geheimdienste: Welche Rolle spielt der
Verfassungsschutz bei der Affäre um
schwung? Doch noch ist die Stimmung besser als die Lage, und Optimismus allein
abtrünnige NPD-Parlamentarier in Sachsen? ... 35 reicht nicht als Regierungsprogramm, die Koalition muss auch handeln.
Lebensart: Wie zwei Vereine gegen
Fast Food und Gammelware Front machen ...... 36
Justiz: Das deutsch-holländische Ringen um
den ehemaligen RAF-Mann Knut Folkerts ....... 40
Hauptstadt: Der schwierige Abriss
des Palastes der Republik ................................. 41
Aufstieg zum Labor der Welt Seite 64
China, die billige Werkbank der Welt – das
Serie war gestern. Inzwischen streben die Chi-
Vom vermeintlich besseren Deutschland nesen an die Spitze der globalen For-
zur nächsten Diktatur – schung und Entwicklung. Sie bauen eigene
die Gründerjahre der DDR ............................... 42 SINOPIX / LAIF
innovative Industrien auf, die Unterneh-
SPIEGEL-Gespräch mit Altkanzler mer im Westen horchen auf: Die High-
Helmut Schmidt über seine Erinnerungen an tech-Offensive aus Fernost könnte zu einer
die Nachkriegszeit und die Mängel im Bedrohung für ihr Geschäft werden.
politischen System der Bundesrepublik ............ 48
Leiterplatten-Herstellung (in Shanghai)
Gesellschaft
Szene: Atelier für Feierabend-Künstler / Die
Geschichte des Essens und Trinkens in der DDR 52
Eine Meldung und ihre Geschichte .................. 53
Debatte: Deutschlands Bürgertum und seine
Reform-Rebellen .............................................. 54
Die Food-Bewegung Seite 36
Ortstermin: Deutsche Meisterschaften Die einen werben für regionale Naturprodukte,
im Schlossöffnen in Hamburg .......................... 60 die anderen enthüllen Lebensmittelskandale: Mit

DEL PUPPO / ROPI


unterschiedlichen Strategien kämpfen „Slow
Wirtschaft Food“ und „Foodwatch“ gegen McDonald’s & Co.
Trends: Schweden schlucken MTU /
Bundesbank schrumpft weiter / Neue Welle Käseherstellung
der Kapitalflucht .............................................. 62
Globalisierung: Chinas Hightech-Offensive
könnte zur Bedrohung
für die westliche Industrie werden ................... 64
Verkehr: Wie sinnvoll ist die europäische
Satellitennavigation „Galileo“? ........................ 70
Automobilindustrie: SPIEGEL-Gespräch mit
In eisigen Höhen Seite 98
Zwei Extrembergsteigerinnen elektrisieren
DaimlerChrysler-Chef Dieter Zetsche
über den Abbau von Arbeitsplätzen
die Sportwelt: Die Spanierin Edurne Pasa-
ROBERT BOESCH / ANZENBERGER

und die Versäumnisse seiner Vorgänger ........... 72 bán, aber auch die Österreicherin Gerlinde
Mode: Abgewetzt und teuer – Kaltenbrunner könnte es als erste Frau
der Boom der Edel-Jeans ................................. 75 schaffen, alle 14 Achttausender der Erde zu
bezwingen. Ihre spektakulären Touren wer-
Medien den zu einem Wettlauf in der Todeszone
stilisiert. Doch von Rivalität wollen beide
Trends: Mehr Fußball im Free-TV? /
Klon-Fälschung blamiert Wissenschaftsjournale ... 76
nichts wissen.
Fernsehen: Vorschau / Rückblick ................... 77
US-Serien: „CSI“ – die wohl erfolgreichste Kaltenbrunner
Krimi-Reihe der Welt ........................................ 78
6
TV-Drama: Dieter Wedels Scheidungs-
Zweiteiler „Papa und Mama“ ........................... 80

Ausland
Panorama: Korruptionsskandal treibt
Republikaner in Washington in die Enge /
Verliert die Ukraine den Krieg ums
Gas? / Saddam-Komplize in Australien
auf freiem Fuß .................................................. 83
Russland: Mit einer Großoffensive
will der Kreml
sein Image im Ausland reparieren .................... 86
Jemen: Gefährliche Reisen im Land
der wilden Stämme .......................................... 90
Entführungen: Zornig und verstört –
ARCHIVO WHITE STAR
die ehemalige Irak-Geisel Susanne Osthoff ...... 92
Von Pharao Snofru erbaute Rote Pyramide Der Kampf der deutschen Archäologin
gegen die Raubgräber ...................................... 94
Global Village: Die Pariser Flughafen-
Suche nach dem verschollenen Pharao Seite 104 Direktion feiert ihr frischrenoviertes
Terminal 1 am Aéroport Charles de Gaulle ....... 96
Er war Schöpfer des ägyptischen Sternenkults und Baumeister der ersten vollkom-
menen Pyramide: Ruht Pharao Snofru noch immer in seinem Steinmonument? For- Sport
scher sind darin auf Geheimkammern gestoßen und starten eine neue Mumiensuche. Extrembergsteigen: Welche Frau bezwingt
als Erste alle 14 Achttausender der Erde? ......... 98

Wissenschaft · Technik

Doppeltes Drama S. 90 bis 94 Prisma: Invasion der Pfannkuchen-Tiere an


W. RATTAY / REUTERS / E-LANCE MEDIA

der amerikanischen Ostküste / Was ist


ein Winterreifen? ............................................ 102
FRANK RUMPENHORST / DPA

Zwei Geiselnahmen beschäftigen die


Tiere: Der Winterschlaf ist weiter verbreitet
Deutschen zur Jahreswende: Während im- als bisher bekannt ........................................... 116
mer deutlicher wird, dass die im Irak be- Psychologie: Interview mit der
freite Susanne Osthoff mit psychischen US-Psychiaterin Kay Jamison über Menschen
Problemen zu kämpfen hat, entführten mit notorisch guter Laune ............................... 118
Araber im Jemen den Ex-Diplomaten Jür-
Osthoff (im ZDF-Interview), Chrobog gen Chrobog und seine Familie.
Kultur
Szene: Interview mit dem britischen
Regisseur Sam Mendes über seinen neuen
Irak-Kriegsfilm „Jarhead“ / Sprachatlas

Das Wunder des Winterschlafs Seite 116


bayerischer Mundarten ................................... 121
Rechtschreibreform: Die neuen Regeln
im Praxistest – Szenen einer Verwirrung ........ 124
Weit mehr Tiere als bislang bekannt
M. DELPHO / PICTURE PRESS

Europa: SPIEGEL-Gespräch mit dem


begeben sich in den Winterschlaf.
Historiker Karl Schlögel über die kulturelle
Nicht nur Bären oder Siebenschlä-
Wiederentdeckung des ehemaligen
fer, sondern auch Hirsche, Kolibris
deutschen Ostens ............................................ 132
oder Halbaffen verwenden diesen
Pop: Nach langer Abwesenheit verzückt
Energiespartrick. Verfügt sogar der
die exzentrische US-Sängerin Fiona Apple
Mensch noch über diese Fähigkeit? Fans und Kritiker mit ihrem Album
„Extraordinary Machine“ ............................... 135
Siebenschläfer Bestseller ..................................................... 136
Musik: Opernregisseurin und Urenkelin
Katharina Wagner als Kronprinzessin
der Bayreuther Familiendynastie .................... 137
Kino: „Sommer vorm Balkon“ – eine
Zielstrebige Urenkelin Seite 137 melancholisch-witzige Komödie aus der
Berliner Unterschicht ..................................... 139
Die Regisseurin Katharina Wagner probt an der
MARCUS FÜHRER / DPA

Deutschen Oper Berlin „Il Trittico“ von Puccini. Mit


Briefe ................................................................ 8
ihren eigensinnigen Inszenierungen und ihrem un- Impressum .................................................... 140
erschrockenen Auftreten profiliert sich die jüngste Leserservice ................................................. 140
Tochter des 86-jährigen Wolfgang Wagner für die Chronik .......................................................... 141
Nachfolge in Bayreuth. Register ......................................................... 142
Personalien ................................................... 144
Bayreuth-Chef Wagner, Tochter Katharina Hohlspiegel / Rückspiegel ......................... 146
Titelbild: Fotos Ullstein; AKG

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 7
Briefe

tion, sondern um die Schöpfung der Welt,


und wenn schon Evolution, dann bitte Evo-
„Aufklärung ade, wir sind auf dem lutionstheorie!
besten Weg zurück ins Mittelalter! Blanytyre (Malawi) Karl-Dietrich Opitz

Die Folter wieder eingeführt, Ich habe den Artikel mit großem Interesse
und Genuss gelesen. Die völlig abstruse
Kreuzzüge im Nahen Osten, und Theorie des Intelligent Design ist, würde
als Nächstes werden Darwins man sie auf den Menschen generell an-
wenden, ein Widerspruch in sich und be-
grandiose Erkenntnisse auf dem sonders in Hinblick auf seine Jünger ei-
ner, der mich wissend schmunzeln lässt.
Altar des Intelligent Design geopfert!“ Gott vs. Darwin! Der gefühlte Spielstand
Malte Käseberg aus Dortmund zum Titel ist für mich ganz klar 0:1 ohne Verlänge-
SPIEGEL-Titel 52/2005 „Gott gegen Darwin – Glaubenskrieg um die Evolution“ rung und ohne Möglichkeit zur Revanche.
Leipzig Michael Ernst

oder sollte wissen, dass Gesetze unser Es gibt Situationen, in denen man die Poli-
Die Erde ist eine Scheibe ganzes Universum bestimmen, nicht Zu- tical Correctness ablegen muss: Was
Nr. 52/2005, Titel: Gott gegen Darwin – Glaubenskrieg fall oder Chaos. Die Evolutionstheorie von Dummheit ist, muss Dummheit heißen!
um die Evolution Darwin ist da keine Ausnahme. Dabei sind Wer das mit Intelligent Design verhübschen
Zeit, Raum und Abläufe völlig relativ. Das will, verunglimpft die Intelligenz des Men-
Vielleicht haben die Kreationisten doch wissen wir spätestens seit Einstein. Um zu schen und seine Fähigkeit zur Kreativi-
recht, wenn sie Darwin verteufeln. Dass dieser Erkenntnis zu kommen, bedarf es tät. Wer immer noch nicht aus der Ge-
wir nicht vom Tier abstammen, liegt doch nicht unbedingt einer Religion. Es reicht schichte gelernt hat, dass religiöser Funda-
auf der Hand: Kein Tier kann so verlogen mentalismus und Fanatismus
und bigott sein wie die „Krone der Schöp- das größte Leid über die
fung!“ Menschheit gebracht haben
Grenzach-Wyhlen (Bad.-Württ.) Kurt Paulus und letztlich in einen Selbst-
zerstörungsprozess münden,
Der Gott, den uns die Religionen anbieten, dem gehört die größte Stra-
war schon immer tot. Welche Kraft be- fe der Zivilisation: die Ver-
wirkt, dass Materie zu den vielfältigsten achtung! Agnostiker aller
Lebensformen werden kann? Und das si- Länder vereinigt euch!
cherlich nicht nur in unserem Sonnen- Schwäbisch Gmünd
system. Wir wissen im Grunde nichts von W. Otto Geberzahn
den Dingen. Aber einen Darwin zu be-
kämpfen zeugt von tiefer menschlicher Hätte dieses Design auch
Dummheit. nur einen Funken Intelli-
Berlin Helmut Olsen A. SHAH / WILDLIFE genz aufzuweisen, wäre der
Mensch erst gar nicht auf
Gott wird von der jüdisch-christlichen und der Bildfläche erschienen.
von der muslimischen Pfaffenschaft für so Mainz Margot Neuser
dumm verkauft, als ob er seine (!) Evolu-
tion missbilligte. Und der SPIEGEL ver- Orang-Utan-Weibchen mit Nachwuchs Auch die Evolutionstheorie
fälscht mit seinem Titel die Tatsache: Nicht Evolution ohne Blaupause? basiert auf Glauben – auf
Gott ist gegen (sein Geschöpf) Darwin, dem marxistischen Glau-
sondern die Geistlichkeit, die um ihre die Erkenntnis, dass Wissen und Erkennt- ben, dass Materie von Geist unabhängig
Pfründe fürchtet. nis nicht zwangsläufig im Widerspruch zu ist. Das ist sie aber nicht, denn ohne Geist
Karlsruhe Lothar Kübel einem Glauben stehen müssen! ist Materie nicht definiert: Ohne Geist un-
Rehlingen (Rhld.-Pf.) Wolfram Bauer terscheidet sich das, was etwas ist, nicht
Der SPIEGEL berichtet, dass sich der US- von allem anderen, das es nicht ist. Was
Präsident George W. Bush dafür aussprach, Gott ist nicht gegen Darwin. Aber Darwin nicht definiert ist – was sich von nichts un-
den Kindern Intelligent Design beizubrin- war gegen Gott. Der Titel müsste heißen: terscheidet –, kann aber nicht sein. Daher
gen. Den Versuch der Evolutionsgegner, Darwin gegen Gott. Bei dem zitierten hat Gott die Welt geschaffen, indem er sie
diese quasireligiöse Irrlehre ins Klassen- Glaubenskrieg geht es nicht um die Evolu- definiert hat: „Im Anfang war das Wort …
zimmer zu tragen, bezeichnete der Rich-
ter am Bundesgericht in Harrisburg, John
Jones III, dagegen als „atemberaubende
Hirnverbranntheit“. Was dürfen wir aus
Vor 50 Jahren der spiegel vom 4. Januar 1956
Kanzler Adenauer zum 80. Geburtstag Imposantes Schauspiel im
dem Richterspruch hinsichtlich des Ur- biblischen Alter. Vizekanzler Franz Blücher im Mietstreit Trotz vielver-
teilsvermögens des mächtigsten Mannes sprechenden Beginns. Jung-Juristen fordern Nachzahlung aufgrund
der Welt folgern? von Erlass aus dem Jahr 1942 Unikum der Rechtsgeschichte. Schlechte
Gersthofen (Bayern) Helmut Schell Geschäfte für Daimler-Benz in Argentinien Auf der schwarzen Liste.
Zweiter Band der Freud-Biografie von Ernest Jones „Jahre der Reife“.
Anouilh-Premiere in Berlin Don Juan mit Herzfehler.
Ich habe nie verstanden, dass die Theorie Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
von Darwin im Widerspruch zu Gott ste- oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
hen muss – höchstens zu einem religiösen Titel: Arbeitsminister Anton Storch
Dogma! Jeder Naturwissenschaftler weiß
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Briefe

Alle Dinge sind durch USA zu beenden. Unbe-


dasselbe gemacht, und stritten haben Glaube
ohne dasselbe ist nichts und Religionen ihre gu-
gemacht, was gemacht ten Seiten. Wahr ist je-
ist“ (Johannes 1, 1 – 3). doch auch, dass sie seit
Cha-am (Thailand) Urzeiten als Werkzeug
Klaus Wagn zur Manipulation miss-
braucht werden.
Ein hervorragend re- Bremen Reinhard Fies
cherchierter und drin-
gend notwendiger Arti- Schockierender als Den-
kel! Es ist ein seltsames netts These, dass das
Gottesbild, welches die Leben keinen Sinn habe
Kreationisten und ihre und es keinen Schöpfer
pseudowissenschaftlichen gebe, ist sein Argu-
Hilfstruppen des Intel- mentationsstil. Der ver-
ligent Design verbreiten: stößt gegen Kants Re-
ein armseliger Lücken- geln der Erkenntnisge-
büßer-Gott, der perma- winnung, indem Den-
nent gegen die von ihm nett mit Fakten einer

AKG
selbst erschaffenen Na- materiellen Realität ei-
turgesetze verstößt und Biologe Darwin (1840) ne transzendente Rea-
die Menschen täuscht. Alles ist relativ lität auszuschließen ver-
Diese Leute werden wohl sucht. Dabei sieht er die
nie verstehen, dass sich Glaube und Na- Evolutionstheorie a priori als direkten
turwissenschaft wunderbar ergänzen kön- Beweis gegen die Existenz Gottes, weil sie
nen. Sie sind nicht religiös, sondern nur den alten menschlichen Vorstellungen von
fanatisch. Mit ihrer Respektlosigkeit und Gottes Schöpfung widerspreche. Schockie-
Ignoranz gegen die Fakten der Schöpfung rend, wenn sich ein namhafter Philosoph
sind sie die eigentlichen Gotteslästerer! nur einen Schöpfer vorstellen kann, der
Gunzenhausen (Bayern) Günter Hild wie ein Klempner sein Werk immer wieder
aufs Neue durch Wunder verbessern muss.
Warum in Schöpfung „oder“ Evolution Pfungstadt (Hessen) Andreas Ebert
trennen? Warum nicht nach Erkenntnissen
über die Evolution „in“ der Schöpfung su-
chen? Was wir Menschen auch zu wissen Das einzige Mittel
glauben, Gott war und ist der Töpfer, die Nr. 51/2005, CIA-Affäre: Das Krisenmanagement
Evolutionsbiologie ist der Ton. Das ist mir der Großen Koalition
spätestens nach den ersten Semestern mei-
nes Medizinstudiums klar geworden. Wer elementare Menschenrechte missach-
Kassel Dr. Thomas Krause tet, sollte mit der Heuchelei aufhören zu
behaupten, dass er für sie kämpfe. Die Ver-
Was kommt als Nächstes? Die Erde ist eine einigten Staaten sind dabei, weltweit ihr
Scheibe! Die Sonne bewegt sich um die Gesicht zu verlieren. Wenn die Bundes-
Erde! Wenn diese religiösen Dünnbrett- regierung ihnen auf diesem Wege nicht
bohrer nicht über so viel Macht und Ein- folgen will, dann sollte sie sich über die
fluss verfügen würden, könnte man das Unterstützung durch ein entschlossenes
Ganze ja als dummes Gerede von Fanati- Parlament freuen, das durch einen Unter-
kern abtun. Nur leider vereint sich wieder suchungsausschuss die Öffentlichkeit er-
einmal die Ignoranz mit der Macht. Bleibt zwingen kann, die eine Regierung aus
zu hoffen, dass hier die gesunde Intelli- diplomatischer Rücksicht scheuen mag,
genz und nicht das Intelligent Design die aber das einzige Mittel ist, die Bush-Ad-
Oberhand behält. ministration auf den Boden der Vernunft
Seligenstadt (Hessen) Martin Poppe zurückzuholen.
Düsseldorf Dr. Burkhard Hirsch
Evolution ohne Blaupause ist Bullshit, Mr Bundestagsvizepräsident a. D.
Dennett. Eine Pistole geht nie von allein
los, jemand muss den Abzug betätigen. Mit der Befürwortung von Foltergeständ-
Holzwickede (Nrdrh.-Westf.) nissen stellt sich der deutsche Innenmi-
Heiner Schäferhoff nister in eine Linie mit der christlichen
Inquisition, die mit bestialischer Grausam-
Diese hervorragende Titelgeschichte fin- keit Falschaussagen von ihren Opfern ab-
det ihre Krönung im Interview mit dem quälte, um sie dann aufgrund dessen zu
US-Philosophen Daniel Dennett. Seine ermorden. Wenn Herr Schäuble diese Art
Erkenntnisse und Schlussfolgerungen wer- von pervertierter „Rechtsstaatlichkeit“ im
den hoffentlich eines Tages dazu beitragen, Namen seiner christlichen Partei und als
Intelligent Design als Manipulationsver- gewissenloser Vasall der US-Folterscher-
such der derzeitigen Machthaber zu ent- gen gutheißt, dann wird einem speiübel!
larven und deren Traum vom Gottesstaat Mannheim Achim Wolf

10 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Ein bösartiges Ansinnen?
Nr. 51/2005, Grundgesetz: Das Bundesverfassungs-
gericht nimmt sich der Wehrgerechtigkeit an

Es liegt doch die Vermutung nahe, dass


man darauf spekuliert, mit der „Drohku-
lisse Bundeswehr“ genügend junge Män-
ner zum Ableisten des Zivildienstes nöti-
gen zu können. Ohne diese billigen Ar-
beitskräfte würde das soziale System wohl
zusammenbrechen. Als ehemaliger Zivi
weiß ich aber auch um die Vorteile des
Zivildienstes. So wird dort oft das soziale
Bewusstsein geschult. Für eine Zukunft
ohne Wehrpflicht wäre es vielleicht ange-
bracht, über einen freiwilligen Zivildienst
für Männer und Frauen nachzudenken.
Groß Kreutz (Brandenb.) Martin Henniger

Seit geraumer Zeit ist der Zivildienst neun


Monate abzuleisten, genauso lang wie
bei der Bundeswehr! Ansonsten haben Sie
recht: Es läuft viel falsch bei Musterung und
Co. Es hätte auch noch die Willkür bei der
Akzeptanz des Verweigerungsschreibens
erwähnt werden können, da es bei 100 Pro-
zent inhaltlich identischen Schreiben vor-
kommen kann, dass eine Verweigerung an-
erkannt, die andere abgelehnt wird.
Steinfurt (Nrdrh.-Westf.) Peter Bleckat

Meiner Meinung nach herrscht Wehrge-


rechtigkeit erst dann, wenn entweder alle
jungen Männer und Frauen Wehr- oder Zi-
vildienst ableisten müssen, oder dann,
wenn das System Wehrpflicht endlich dort
landet, wo es sich eigentlich 15 Jahre nach
dem Fall des Eisernen Vorhangs längst be-
finden sollte: in den Geschichtsbüchern.
Rimbach (Bayern) Sebastian Skupin
ALEXANDER HEIMANN / DDP

Zivildienstleistender, Seniorin
Billige Arbeitskräfte fürs soziale System

Als deutscher Staatsbürger, Jahrgang 1940,


durfte ich zwölf Monate Grundwehrdienst,
anschließend drei Monate Zwangswehr-
übung ableisten. Dies hat mir eineinhalb
Jahre Stillstand in der Ausbildung und le-
benslange finanzielle Einbußen gebracht.
Wehrgerechtigkeit? In Deutschland an-
scheinend ein bösartiges Ansinnen. Hier
in der Schweiz werden Nichtdienende
mit einer „Wehrdienstersatzsteuer“ belegt.
Warum gibt es das nicht in Deutschland?
Weesen (Schweiz) Rolf Westphal

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 11
nach Lebeds Entlassung drohte ihm in Ti-
raspol schlicht und einfach der Knast.
Tiraspol (Moldau) Anatoli Platitsyn
Ehemaliger Pressesprecher von General Lebed

Doppelter Drahtseilakt
Nr. 51/2005, Kabinett: Der schwierige Start des
Außenministers Frank-Walter Steinmeier

Herr Steinmeier ist noch keine vier Wo-


chen im Amt und hat während dieser Zeit
auch durchaus positiv gewirkt. Geben Sie
ihm für eine umfassende Beurteilung ein
bisschen mehr Zeit! Seine unauffällige,
auch uneitle Art finde ich sehr angenehm
im Vergleich zu seinem Vorgänger, der sei-

MATTHIAS JUNG
nen Hang zur Selbstdarstellung bisweilen in
einem schwererträglichen Maß auslebte.
Darmstadt Klaus Korb
Zuckerrübenernte (in Hessen): Ein bisschen Herausforderung muss sein
Politik ist kein Unterhaltungsjob! Stein-
Aspartam, heute in vielen Lebensmitteln meier ist nicht schuld an der Unsicherheit,
Vom Regen in die Traufe enthalten, unter Beschuss. Neue Forschung
hat ergeben, dass dieser Süßstoff womög-
die mit dem doppelten Drahtseilakt ver-
Nr. 50/2005, Globalisierung: Der Kampf um den Zucker bunden ist: einerseits zwischen Demokra-
lich stark krebserregend ist. tie und Geheimdienstaktivitäten, anderer-
In einer Zeit, in der jährlich einige tausend Löhrbach im Odenwald (Hessen) seits zwischen dem geforderten guten
Menschen versuchen, die über vier Meter Werner Pieper transatlantischen Verhältnis und dem Um-
hohen Zäune an der Südspitze der EU zu gang mit der gegenwärtigen US-Regierung
überwinden, um nicht mehr Hunger lei- Sie glauben doch nicht, dass nach der Zu- und ihrer Doppelmoral. Dass Steinmeier
den zu müssen, und in der wir uns gleich- ckermarktreform die zuckerhaltigen Pro- zornig auf Vorwürfe reagiert, die unter-
zeitig darum Sorgen machen, wie wir un- dukte billiger werden? Dies ist eine gezielte stellen, das Dilemma löse sich dadurch, je-
sere Landwirtschaft von der Erzeugung Verdummungskampagne, um das Ge- derzeit die „Sachen auf den Tisch zu le-
von Nahrungsmitteln auf die Pflege unse- wissen der Konsumenten ruhigzustellen. gen“, spricht für ihn, verschafft ihm Kon-
rer Landschaft umstellen, sollten wir uns Wenn die europäische Zuckermarktpro- turen und macht ihn zu allem anderen als
vielleicht einmal fragen, ob nicht doch et- duktion weggebrochen ist, werden sich zu einem Verdächtigen.
was falsch läuft. Schon die Erzeugung von Preiseffekte einstellen, die uns teuer zu Dortmund Helga Klöpping
Biomasse beziehungsweise Nahrungsmit- stehen kommen werden. Ob das den Land-
teln, die dann in Biogasanlagen zur Ge- arbeitern dann nützt?
winnung von Strom verheizt werden, hal- Ludwigshafen Thomas Schmidt
te ich für schwer vermittelbar.
Scheeßel (Nieders.) Jannes Stellmann
Aus dem Reich der Fabel
Herr Schaaf möchte also kein Pseudobau-

MICHAEL HANSCHKE / DPA


Nr. 51/2005, Presse: Ein ehemaliger Vertrauter
er sein, der Pferdeboxen vermietet. Bitte des russischen Generals Lebed baut
erkläre mir doch mal jemand, warum einer, sich in Berlin ein kleines Zeitungsimperium auf
der gegen horrende Subventionen Zucker-
rüben anbaut, ein echterer Bauer ist als Unternehmer Nicholas Werner mag von
einer, der Hafer und Heu anbaut, Weiden Berlin-Marienfelde aus zugewanderte Russ-
unterhält und Großvieh (das sind Pferde landdeutsche weiter mit eingemachten Außenminister Steinmeier
nun mal) versorgt. Natürlich machen die Gurken und Tomaten erfreuen, das geht Politik ist kein Unterhaltungsjob
„dummen“ Großstädter, die ihre Pferde mich wenig an. Aber es erstaunt mich, dass
unterstellen und von Landwirtschaft meist er sich als Mitkämpfer von General Alex- Mit Erstaunen lese ich, dass die gravieren-
keine Ahnung haben, unter Umständen ander Lebed in Transnistrien brüstet. Der den und nicht entschuldbaren Fehler der
mehr Ärger als ein Acker voller Rüben, Wunderjunge, der sich in Tiraspol als No- Rot-Grün-Regierung als „handwerkliche
aber ein bisschen Herausforderung muss in wikow ausgab, versorgte die Stadt mit Fehler“ verniedlicht werden. An einen
Zeiten der Globalisierung sein! einachsigen Marktbuden, für deren be- Außenminister müssen strengere Maßstäbe
Vaihingen/Enz Andrea Scharsich waffneten Schutz er wie andere Unter- angelegt werden als an den Normalbürger.
nehmer dem örtlichen Stadtkommandan- Der Artikel ist voll von problematischen
Ursprünglich war eines der Argumente für ten „Gebühren“ zahlte – angeblich zur Feststellungen wie zum Beispiel: Steinmei-
die Rübe, dass sie erheblich zur Abschaf- Unterstützung der guten Anliegen des Ge- er „will sich mit dieser Rede reinwaschen.
fung der transatlantischen Sklaverei bei- nerals. Dass er mit 21 bereits Abschlüsse in Aber er hat nur die Fakten auf seiner Sei-
trug. Millionen Afrikaner wurden wegen Medizin, Recht und Wirtschaft erworben te, nicht die Herzen.“ Er hat eben nicht die
des Rohrzuckers gen Westen verschifft. So haben soll, gehört – wenn man sich an die Fakten auf seiner Seite, das ist der Punkt.
gesehen erscheint es fast schicksalhaft, dass Praxis der Sowjetzeit erinnert – ins Reich München Mona Hasse
nun das Rohr die Zukunft der europäischen der Fabel. Er hatte auch keinen TV-Sender
Zuckerwirtschaft versauert. Wer auf süßen in Tiraspol, so wenig wie ein Bauunter- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-
Ersatz umsatteln möchte, kommt vom Re- nehmen. Und 1996 tauchte er auch nicht schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
gen in die Traufe: Gerade gerät der Süßstoff wegen seiner „Popularität“ in Berlin auf – Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de

12 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Panorama Deutschland
GESUNDHEIT

Seehofer wirft Schmidt


Versäumnisse vor
V erbraucherschutzminister Horst Seehofer hat die Gesundheits-
politik der Bundesregierung scharf kritisiert. Die aktuellen Pro-
bleme der Krankenkassen, die zu höheren Beiträgen führten, „sind
zum großen Teil hausgemacht“, sagte der CSU-Politiker dem SPIE-
GEL. „Wenn die Gesundheitsreform so umgesetzt worden wäre,
wie 2003 beschlossen, gäbe es keinen Anlass für Beitragssteigerun-
gen.“ Er warf der seit 2001 amtierenden Bundesgesundheitsminis-
terin Ulla Schmidt (SPD) vor, sie habe die enormen Preissteigerun-
gen bei Arzneimitteln nicht verhindert: „Die internationalen Phar-
makonzerne setzen ihre Interessen seit vielen Jahren durch, indem
sie mit Arbeitsplatzverlagerungen drohen. Die Politik lässt sich zu
oft beeindrucken“, kritisierte Seehofer. Als einen Fehler sieht er
zudem den Plan der Bundesregierung, den Kassen nicht, wie ur-
sprünglich zugesagt, im kommenden Jahr 1,7 Milliarden Euro aus der
Tabaksteuer zusätzlich zu überweisen.
Seehofer fordert für 2006 eine umfassende Gesundheitsreform: „Es
wäre sinnvoll, die Arbeitgeberbeiträge festzuschreiben, um die Arbeit
nicht weiter zu verteuern.“ Außerdem seien mehr Wettbewerb und
ein Abbau von Bürokratie nötig. Versicherten solle es leichter gemacht
werden, zwischen den Kassen zu wechseln. „Eine Belastung der Pa-

STEPHANIE PILICK / DPA


tienten ist aber nicht denkbar“, sagte Seehofer. „Die wurden bei der
letzten Reform spürbar zur Kasse gebeten. Jetzt müssen die Struk-
turen so verändert werden, dass die Finanzmittel von den Akteuren
im Gesundheitswesen wirtschaftlich erbracht werden.“ Seehofer war
von 1992 bis 1998 Bundesgesundheitsminister und anschließend Fach-
mann der Unionsfraktion für dieses Thema im Bundestag. Schmidt, Seehofer

HESSEN AU S S E N P OL I T I K

Querelen um Klinik-Verkauf Zypern fordert Kunst zurück


B eim geplanten Verkauf der Uni-Klinik Gießen-Mar-
burg an den privaten Krankenhausbetreiber Rhön-
Klinikum könnte dem Land Hessen im Vergleich zu an-
E in juristischer Streit um Kunstschätze von Weltrang, die in den
siebziger Jahren aus Kirchen und Klöstern Zyperns geraubt und
nach München verschoben worden waren, belastet die deutsch-zypri-
deren Angeboten ein wirtschaftlicher Nachteil in Höhe schen Beziehungen. Viele verschollen geglaubte Mosaiken, Ikonen
von mehr als 100 Millionen Euro entstehen. Das be- und Fresken waren im Oktober 1997 bei dem in München lebenden
hauptet die im Vergabeverfahren unterlegene Firma As- Türken Aydin D. sichergestellt worden. Das Verfahren gegen den Ar-
klepios Kliniken, die Einspruch gegen das Vergabever- chäologen, der wegen Verdachts der gewerbsmäßigen Hehlerei ein
fahren eingelegt hat und mit Klage droht. Asklepios- Jahr in Untersuchungshaft gesessen hat, wurde eingestellt. Seither
Inhaber Bernard Broermann wirft der Regierung von streiten D. und die zyprische Regierung zivilrechtlich um die Kunst-
Ministerpräsident Roland Koch (CDU) „handwerkliche gegenstände. In einer im Dezember 2005 im Bundesjustizministerium
Fehler“ vor. So sei bei dem Rhön-Klinikum der Bau ei- eingegangenen Verbalnote fordern die Zyprioten noch einmal nach-
nes 107 Millionen Euro teuren Protonen-Bestrahlungs- drücklich die Herausgabe
zentrums zur Tumorbehandlung als „Investition“ be- der Pretiosen. Das Ministeri-
handelt worden. Asklepios habe, neben einem höheren um prüft jetzt, ob dies vor
Kaufpreis und Investitionszusagen über 125 Millionen Abschluss des zivilrechtli-
Euro in weitere Medizintechnik, dieses medizinisch chen Verfahrens möglich ist.
umstrittene Großgerät ebenfalls als Option im Angebot Die zyprische Regierung
gehabt, aber nur als „durchlaufenden Posten“ berech- müsste dafür zusichern, Ge-
net, da es auch von einer anderen Investorengruppe genstände wieder nach
auf eigene Rechnung errichtet und betrieben werden Deutschland zurückzu-
könne. Um diesen Posten bereinigt, liege das Asklepios- schicken, falls deutsche
Angebot um eine dreistellige Millionensumme über Gerichte Aydin D. ein Ei-
dem des Rhön-Klinikums, so Broermann. Die Landes- gentumsrecht an ihnen
regierung will die Vorwürfe prüfen. Kunstschatz aus zypriotischer Kirche zuerkennen.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 15
Panorama

E U R O PA lagen und finanziellen Anreizen für die Medikamentenherstel-


ler sowie Förderprogrammen für die wissenschaftliche For-

Riskante Medikamente schung und deren Umsetzung geschnürt werden konnte. Das
werde „für Innovation bei der Entwicklung von Kinderarznei-
mitteln“ sorgen, so der Vizepräsident der EU-Kommission, Gün-

M it jahrelanger Verzögerung hat die EU jetzt eine Verord-


nung auf den Weg gebracht, die einen skandalösen Zustand
beenden soll: Über die Hälfte aller in Europa bei der Behand-
ter Verheugen, „und die Gesundheit der Kinder verbessern“.
Wenn das Europäische Parlament die Verordnung zügig durch
die zweite Lesung bringt, könnte sie 2007 in Kraft treten.
lung von Kindern verwendeten Arz-
neimittel sind für diesen Einsatz weder
geprüft noch zugelassen worden. Das
geht aus Unterlagen des EU-Parlaments
hervor. Fehlende oder unpräzise Infor-
mationen zur Dosierung erhöhen dem-
nach das Risiko von Nebenwirkungen,
gelegentlich mit tödlichen Folgen. Ins-
besondere in der Intensivbehandlung
oder für Früh- und Neugeborene fehlen
probate Mittel. Setzt der Arzt ein
womöglich lebenswichtiges, aber nicht
für Kinder zugelassenes Medikament
ein, macht er sich unter Umständen
strafbar (SPIEGEL 23/1999). Setzt er es
nicht ein, stirbt vielleicht sein Patient,
weil es legale Alternativen nicht gibt.
Der Markt von rund 110 Millionen Kin-
dern in der Europäischen Union ist den

PETRA STEUER / JOKER


Pharmakonzernen bisher nicht groß
und profitabel genug, um ein ausrei-
chendes Arzneimittelsortiment für die
unter 18-Jährigen anzubieten. Die EU
hat acht Jahre gebraucht, bis nun in
Brüssel ein Maßnahmenpaket mit Auf- Arzneieinnahme

ENERGIE JUSTIZ

Holzdiebe im Wald Große Gerichtsfusion


D er nordrhein-westfälische Um-
weltminister Eckhard Uhlenberg
im Norden?
(CDU) beklagt, dass „angesichts
hoher Heizölpreise immer mehr Bür-
ger in den Wäldern Kaminholz
M it den Nachbarn in Hamburg koope-
riert die schleswig-holsteinische Re-
gierung immer enger. Jetzt prüft das Kieler
stehlen“. Die Diebe würden sowohl il- Justizministerium, mehrere Obergerichte
legal selbst Bäume fällen und zer- der beiden Länder zusammenzulegen.
kleinern als auch zum Abtransport be- „Der politische Wille ist da“, sagt Justizmi-
reitgelegtes Holz mitnehmen, sagte nister Uwe Döring (SPD), „wenn es irgend-
der Minister unter Berufung auf in- wie geht, wird es gemacht.“ Davon betrof-
terne Meldungen aus den 35 Forst- fen wären das Oberverwaltungsgericht, das
ämtern des bevölkerungsreichsten Landesarbeitsgericht, das Landessozial-
JAN POTENTE / DAS FOTOARCHIV

Bundeslandes. Uhlenberg appelliert gericht und das Finanzgericht. Außerdem


an die Kaminholzfreunde, sich künftig prüft Döring, ein gemeinsames Landesver-
legal Nachschub fürs Feuer zu be- fassungsgericht für Hamburg und Schles-
schaffen – gern auch aus heimischen wig-Holstein einzurichten. Das nördlichste
Wäldern. Wer sich bei Förstern oder Bundesland hat bislang kein eigenes Verfas-
Waldbesitzern melde, bekomme eine sungsgericht. Die Zusammenlegung der
abgesteckte Fläche zum Abholzen zu- Gerichte wäre auch ein politisches Be-
gewiesen und zahle nur etwa ein Vier- Forstarbeiten kenntnis: „Wir wollen eng kooperieren“,
tel des Ladenpreises für Kaminholz. sagt der Kieler Justizminister. Auch die
Voraussetzung für den inzwischen gewisse Fachkenntnisse – am besten Hamburger wollen die Fusion forcieren.
„sehr gefragten“ Arbeitseinsatz, so erworben in einem Motorsägelehr- Bislang haben Berlin und Brandenburg als
Uhlenberg, seien neben Schutzklei- gang an den Waldarbeitsschulen der einzige Länder damit begonnen, ihre Ober-
dung und mitgebrachter Motorsäge Forstämter. gerichte zusammenzulegen.
16 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Deutschland
GEHEIMDIENSTE vielen Dingen haben wir erst über die
Medien erfahren. Es fällt auch im PKG
„Die Auskünfte sind nicht immer sofort auf, dass sensible Be-
reiche berührt werden. Dafür sind die
nicht immer erhellend“ Informationen bisweilen zu allgemein.
Deshalb müsste das Untersuchungsrecht
Hermann Bachmaier, autonomer als bisher gestaltet werden.
66, SPD-Bundestags- SPIEGEL: Beim Stichwort Guantanamo
abgeordneter von 1983 hätte das PKG doch sicher aufgehorcht?
bis 2005 und über Bachmaier: Zu Guantanamo sage ich
sechs Jahre lang Mit- nichts. Aber grundsätzlich gilt: Viele
glied des Parlamenta- Dinge kommen sehr unverfänglich da-
rischen Kontrollgremi- her. Wenn Sie dann nachfragen, sind
ums (PKG), über die die Auskünfte auch nicht immer erhel-
Grenzen einer effek- lend. Sie können aber auch nicht in je-
tiven Aufsicht über der Sitzung Sachverständige beauftra-
Geheimdienste gen, die dem Vorgang richtig auf den
Grund gehen.
SPIEGEL: Ist eine Kontrolle der Dienste SPIEGEL: Was kann das PKG in einem
durch das Parlament zurzeit überhaupt Fall wie Guantanamo unternehmen?
möglich? Bachmaier: Das Gremium hat kein Wei-
Bachmaier: Das PKG versucht es nach sungsrecht. Seine schärfste Waffe ist, ei-
Kräften. Aber es stößt an strukturelle nen Vorgang – mit Zwei-Drittel-Mehr-
Grenzen, und es hat vor allem auch heit – öffentlich zu bewerten.
nicht die personellen Kapazitäten. BND SPIEGEL: Offensichtlich besteht Hand-
und Verfassungsschutz sind Behörden, lungsbedarf. Was schlagen Sie vor?
deren Tätigkeit abgeschottet verläuft. Bachmaier: In den herkömmlichen Struk-
Eine aktive Aufsicht ist da nur sehr be- turen ist die Geheimdienstkontrolle,
dingt möglich. selbst mit einigen Mitarbeitern mehr,
SPIEGEL: Wurden Sie darüber informiert, letztlich nicht zu bewältigen. Deshalb
dass deutsche Ermittler in Guantanamo wäre ich für einen Vorschlag, den Peter
und Syrien tätig waren? Struck, Otto Schily und ich schon vor
Bachmaier: Dazu kann und möchte ich Jahren gemacht haben, vor kurzem auch
nichts sagen. der ausgeschiedene Justiz-Staatssekretär
SPIEGEL: Muss ein Vorgang dieser Trag- Hansjörg Geiger – und der weiß als ehe-
weite dem PKG gemeldet werden? maliger BND-Chef, wovon er redet: ei-
Bachmaier: Die Bundesregierung muss nen Geheimdienst-Beauftragten mit um-
das PKG laut Gesetz über die allgemeine fassenden Informations- und Zugangs-
Tätigkeit und Vorgänge von besonderer rechten zu installieren, der als eine Art
Bedeutung informieren. Vor allem Letz- Hilfsorgan des Bundestags fungiert und
teres ist natürlich häufig umstritten. Un- dem Parlament verantwortlich ist. Der
abhängig von der konkreten Frage: Von hätte mit Sicherheit einiges zu tun.

BUNDESWEHR Schuhwerk auszustatten. So musste die


Armee im Jahr 2005 größere Mengen
Die Last mit den Stiefeln „handelsüblicher“ Fußbekleidung nach
Afghanistan und Usbekistan fliegen,

T rotz gut zehnjähriger Einsatzerfah-


rung in rauhen Weltgegenden hat
die Bundeswehr offenbar noch immer
weil die eigens für die Bundeswehr ent-
wickelten „Tropenstiefel“ oft bereits
nach kurzer Zeit verschlissen waren.
Mühe, ihre Soldaten mit geeignetem Dabei sind die Probleme längst be-
kannt: Schon bei einem Wüsten-
manöver 1996 standen Luftwaffensolda-
ten im US-Bundesstaat New Mexico
plötzlich auf Socken im Sand, weil sich
in der Hitze die Sohlen von den Stiefeln
lösten. Auch Heerestruppen beim Ku-
weit-Einsatz 2002/03 hatten noch mit
dem Phänomen zu kämpfen. Als un-
tauglich für die Verwendung in der Hei-
mat erwies sich dagegen ein Stiefel mit
KNUT MUELLER

einer wärmeabsorbierenden Spezialbe-


schichtung, die vor Entdeckung mit
Nachtsichtgeräten schützen sollte: Das
Bundeswehrpatrouille bei Kabul Schuhwerk war nicht wasserdicht.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 17
Deutschland Panorama

SPIEGEL-Umfrage „Wird die Zahl der Arbeitslosen im neuen


Jahr eher sinken oder eher steigen?“
42 %
Wie wird 2006? eher sinken

eher steigen 50 %
„Hält die Große Koalition bis zum Ende
der Legislaturperiode, oder zerbricht sie
noch vor der nächsten Bundestagswahl 2009?“
„In einem Jahr können Rumänien und Bulgarien
hält 65 % Mitglieder der Europäischen Union werden.
Verbinden Sie mit dieser Erweiterung der EU
zerbricht 28 % eher Hoffnungen oder eher Befürchtungen?“

15 % eher Hoffnungen

eher Befürchtungen 73 %

A XE L SC HMIDT / ACTIO N PRE SS

0/G rüne „Im kommenden Frühjahr finden in


DS B’9 Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz
Linke.P
er von FDP 74 und Sachsen-Anhalt Landtagswahlen statt.
Anhäng PD
SU S 44 Welche Partei wird bei diesen Landtags-
CDU/C 55
69 19 wahlen von der gegenwärtigen politischen
75 45 Stimmung am meisten profitieren?“
hält 41
27 Angaben in Prozent
ht 22
zerbric 46 10 7 8 1
CDU SPD FDP Linke.PDS B’90/Grüne

„Glauben Sie, dass die Wirtschaft im kommenden „Erwarten Sie, dass die Terrorgefahr für Deutsch-
Jahr wieder in Schwung kommt?“ land im kommenden Jahr weiter zunimmt?“
32 % wird in Schwung kommen wird eher zunehmen 53 %
Dezember 2003* 21 % Dezember 2003* 45 %
wird erst später in Schwung kommen 66 % 23 % wird eher abnehmen
Dezember 2003* 78 % Dezember 2003* 35 %
*keine Vergleichswerte für 2004;
TNS Infratest für den SPIEGEL
vom 19. und 20. Dezember; rund
1000 Befragte; an 100 fehlende
Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe

„Wird die deutsche Fußball-


NOR DP H OTO ( L .); MA RKUS G I LLI A R / G ES (R. )

„Hoffen Sie auf weitere deutliche Nationalmannschaft


Reformschritte im kommenden Jahr?“ 2006 Weltmeister?“ 74 %
hoffe auf weitere Reformen 19 % JA NEIN
67 % 18 Männer Männer 78
erst einmal keine weiteren Reformen
20 Frauen Frauen 70
30 %
18 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Deutschland

WOLFGANG HUPPERTZ / AGENDA


Containerterminal (in Hamburg), Kaufhaus (in Düsseldorf), Gasturbinenmontage (in Berlin): Die Unternehmen investieren wieder mehr, aber

KON J U N KT UR

Erst die Welle, dann die Delle


So viel Optimismus war lange nicht: Politiker und Unternehmer hoffen auf ein Ende des
jahrelangen Stillstands, das neue Jahr soll den ersehnten Aufschwung bringen. Doch die Wirtschaft
wächst zu zaghaft, neue Jobs sind nicht in Sicht. Und bereits 2007 droht der erneute Absturz.

W
enn Angela Merkel frühmorgens rin nun den Aufschwung herbei. Dass die Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Bert
aus dem Fenster ihrer Wohnung mit Steuergeldern und auf Pump finan- Rürup, Chef der Wirtschaftsweisen, spricht
am Berliner Kupfergraben guckt, zierte Sanierung der Museumsinsel noch gar von einem möglichen „Merkel-Auf-
hat sie den Aufschwung gleich vor Augen. mindestens zehn Jahre dauern wird und schwung“.
Auf der Museumsinsel gegenüber ragen die Bahn ihren Verwaltungssitz am liebs- Zuversichtlich wie lange nicht gehen
Baukräne in den Himmel. Tonnenschwere ten aus Berlin abziehen würde – wen Deutschlands Manager ins neue Jahr. „Ei-
Lastfahrzeuge lassen den Boden erzittern. stört’s? nen guten Start“ erwartet BASF-Chef Jür-
Die auf 1,5 Milliarden Euro veranschlagte „Wir haben alle Chancen“, predigte
Sanierung von Berlins historischer Mitte Merkel unlängst in Anwesenheit von Ge-
zählt zu den ehrgeizigsten Bauprojekten werkschaftsfunktionären. „Ich lade Sie ein,
in ganz Europa. machen Sie mit“, verkündete sie im Krei-
Wenig später, Merkel ist inzwischen an se von Wirtschaftsvertretern.
ihrem Arbeitsplatz eingetroffen, richtet Sogar die Auslosung der Gruppenspiele
sich der Blick auf die nächste Großbau- für die anstehende Fußball-Weltmeister-
stelle. Nahe des Kanzleramts entsteht für schaft Mitte Dezember in Leipzig nutzte
700 Millionen Euro der neue Hauptbahn- Merkel, um gute Laune zu verbreiten.
hof. Gern erläutert die Kanzlerin ihren Be- Fachmännisch beurteilte sie die den Deut-
suchern, dass hier, im Herzen der Haupt- schen zugeteilten Nationalteams von Po-
stadt, schon bald eine ganz neue Stadt mit len, Costa Rica und Ecuador als lösbare
MARKUS HANSEN / ACTION PRESS

Bürohäusern und Einkaufszentren aus dem Aufgaben: „Da müssten Ausreden neu
Boden wachsen werde. erfunden werden, wenn es bei dieser Aus-
Bau auf, bau auf, so sang man es in der losung mit dem Weiterkommen nicht klap-
DDR einst bei den Jungen Pionieren, und pen würde.“
so lautet auch Merkels frohe Neujahrsbot- Der Optimismus hat auch andere erfasst.
schaft: Endlich geht es im Lande wieder „Das Jahr 2006 wird für Deutschland ein
aufwärts. Superjahr“, behauptet Norbert Walter,
So lustvoll sie als Oppositionschefin
jahrelang die Malaise des Standorts be- Wirtschaftsminister Glos
klagte, so engagiert redet sie als Kanzle- „Gutes Geld für gute Arbeit“
20 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
SCHÖNING / IMAGO (M.)
die Verbraucher halten sich zurück, und die Beschäftigung stagniert

gen Hambrecht. „2006 beginnt mit positi- Ein Aufschwung ist das noch nicht, al- zustande brachte – aber zu wenig, um den
ven Vorzeichen: Stimmung und Substanz lenfalls ein erstes Hoffnungszeichen. Im- Arbeitsmarkt in Schwung zu bringen. Die
bessern sich“, sagt sein Siemens-Kollege merhin: Die Stimmung ist gut – besser je- Ökonomen des Sachverständigenrates ha-
Klaus Kleinfeld. denfalls als die derzeitige Lage. ben vorgerechnet, dass neue Arbeitsplätze
Jahrelang kam die deutsche Wirtschaft Zwar brummt die Weltwirtschaft. Mit erst ab einer Wachstumsrate von zwei Pro-
nicht vom Fleck, und ebenso lange pro- Wachstumsraten von bis zu neun Prozent zent zu erwarten sind.
gnostizierten die Konjunkturforscher die erzeugen Länder wie China oder die USA Nötig wären weitergehende Reformen,
Wende zum Besseren. Die Experten irr- einen Sog, der auch die exportorientierte doch noch immer ist rätselhaft, welchen
ten, Jahr für Jahr mussten sie ihre Pro- deutsche Wirtschaft ein Stückchen mit- steuer- und wirtschaftspolitischen Kurs die
gnosen nach unten korrigieren. zieht. Merkel-Regierung überhaupt einschlagen
Diesmal ist alles anders, auch ihre dies- Aber entscheidend ist, ob dieser Schub will. Die Erneuerung des Krankenkassen-
jährige Herbstprognose haben die Wirt- endlich auch die deutsche Binnenkon- wesens – vertagt. Die Vereinfachung des
schaftsforschungsinstitute korrigiert – aber junktur in Schwung bringt. Die Unterneh- Steuerrechts vor allem für Unternehmen –
nach oben, von 1,2 auf 1,4 bis 1,7 Prozent men müssten wieder mehr investieren, erst einmal verschoben. Die Überarbeitung
(siehe Grafik). dafür gibt es erste Anzeichen. Aber die der Hartz-Reformen für den Arbeitsmarkt
deutschen Verbraucher hal- – umstritten (siehe Kasten Seite 22).
2,7 Ende der Enttäuschungen? ten sich weiter zurück.
Wunder sind deshalb
Sozialpolitiker wie Gesundheitsminis-
terin Ulla Schmidt (SPD) und Wolfgang
Wirtschaftswachstum in Deutschland in Prozent nicht zu erwarten, schon gar Zöller (CSU) wollen mehr Steuern in die
von den Wirtschaftsforschungsinstituten nicht auf dem deutschen Sozialkassen pumpen, Haushaltsexperte
prognostiziertes Wachstum; jeweils im Herbst- Arbeitsmarkt. Nach Ein- Wolfgang Kampeter (CDU) hingegen we-
gutachten des Vorjahres schätzung des Wirtschafts- niger. Die CSU möchte die Förderung der
korrigierte ministeriums wird die Zahl Ich-AG bei Arbeitslosen abschaffen, die
tatsächliches Prognosen: der Arbeitslosen in diesem SPD will sie beibehalten. Familienministe-
Wachstum 1,4 bis 1,7 % Winter die Fünf-Millionen- rin Ursula von der Leyen (CDU) fordert,
Marke erneut überschreiten die Kosten fürs Kindermädchen künftig
*Schätzung des Ifo-Instituts, 1,7 – und sich auch im weiteren großzügig von der Steuer absetzen zu kön-
Dezember 2005 Verlauf des Jahres nur un- nen, Finanzminister Peer Steinbrück (SPD)
1,5 merklich vom Minusrekord ist dagegen.
1,4 des vergangenen Jahres So geht es hin und her, und auch der für
1,3 unterscheiden. Wirtschaft zuständige Ressortchef Michael
1,2 Zwar wird die Wirtschaft Glos (CSU) trägt wenig dazu bei, die Din-
wachsen, aber nicht schnell ge aufzuklären. In der Öffentlichkeit ist
genug. Ende Januar will die der gelernte Müllermeister zunächst nur
0,9* Bundesregierung ihren Jah- mit seiner Spontaneingebung aufgefallen,
0,8 reswirtschaftsbericht vorle- die Deutschen sollten ihren Urlaub wieder
gen. Laut Vorentwurf rech- öfter im eigenen Lande verbringen, da sei
0,6 net sie für 2006 mit einem es auch schön.
Wachstum von bestenfalls Einig sind sich die Politiker nur in ihrer
1,8 Prozent. Das ist mehr, demonstrativen Zuversicht. Selbst der ge-
0,1 als die krisengeschüttelte planten Mehrwertsteuererhöhung, an sich
deutsche Volkswirtschaft in ein echter Konjunkturkiller, werden plötz-
2001 2002 03 2004 2005 2006 den vergangenen Jahren lich segensreiche Eigenschaften zugebil-
–0,2
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 21
Deutschland

Die Misserfolgs-Formel
Nachdem Wissenschaftler der Hartz-Reform ein schlechtes Zeugnis ausgestellt haben,
streitet die Große Koalition über Konsequenzen.

P
ünktlich zum Jahreswechsel Dabei wird von ihnen nur bestätigt, job in Altenheimen oder auf städti-
suchte Franz Müntefering seine was Arbeitsmarktforscher und Institu- schen Bauhöfen abgeschoben wird,
Truppen aufzumuntern. Die te bereits zuvor in vielen Berichten de- hat fortan schlechtere Chancen, ei-
Hartz-Reformen müssten „zum vollen tailliert aufzählten: Die Reformrezepte nen neuen Job zu finden.
Erfolg geführt werden“, schrieb der So- aus den Hartz-Gesetzen I bis III haben Immerhin: Bei einigen Hartz-Instru-
zialminister in einem Brief an die Lei- sich überwiegend als teure Fehlschläge menten erkannten die Arbeitsmarkt-
ter der deutschen Arbeitsverwaltung. erwiesen (SPIEGEL 21/2005): forscher auch Positives. So erwiesen
Vieles sei bereits erreicht, lobte Mün- • Die Personal-Service-Agenturen, die sich staatliche Lohnkostenzuschüsse
tefering, manche Regelungen müsse Langzeitarbeitslose zu subventio- als vergleichsweise erfolgreich – auch
aber noch einmal „optimiert“ werden. nierten Löhnen an private Firmen wenn ihre Wirkung nachlässt, je mehr
Das ist kaum untertrieben. Während ausleihen sollen, kosten zwar viel davon ausgereicht werden. Ein günsti-
der Ressortchef Durchhalteparolen an Geld, finden aber kaum Kunden. Al- ges Zeugnis stellten die Forscher auch
seine Untergebenen ausgab, veröffent- lein in den ersten zwei Jahren ver- den sogenannten Ich-AGs aus, in de-
lichte das „Handelsblatt“ die Ergeb- schlang das Projekt fast 600 Millio- nen Arbeitslose bezuschusst werden,
nisse wissenschaftlicher Studien, die nen Euro, dafür vermittelten die 857 die sich selbständig machen.
ein anderes Bild der jüngsten Arbeits- Agenturen im Schnitt nicht mehr als Die Resultate will Müntefering Mit-
marktpolitik zeichnen. Ob Minijobs, 30 Arbeitslose auf neue Stellen: nicht te Januar dem Kabinett vorlegen.
Ein-Euro-Stellen oder Personal-Service- einmal 2 im Monat. Schon jetzt aber streiten die Ko-
Agenturen: Ein Großteil der mit viel • Die sogenannten 400-Euro-Jobs, bei alitionspartner, was nun zu tun sei.
Pathos gestarteten Hartz-Reformen, so denen statt der üblichen Steuern und Während die Union den Katalog der
geht aus dem 2500 Seiten starken Be- Sozialbeiträge eine reduzierte Pau- arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen
richt im Auftrag der Regierung hervor, schale abgeführt wird, lösen jede weiter stutzen will, setzt die SPD auf
ist weitgehend wirkungslos verpufft. Menge unerwünschten Nebenwir- gezieltere Förderprogramme.
Was ein gutes Dutzend Forschungs- kungen aus: Zum einen wandeln die Zudem planen die Sozialdemokra-
institute an Münteferings Behörde mel- Arbeitgeber massenhaft reguläre ten, den sogenannten Niedriglohnsek-
deten, setzt die Regierung unter Zug- Stellen in Minijobs um. Zum ande- tor kräftig auszubauen. Bereits im Ja-
zwang. Gerade hatten sich SPD und ren werden die Arbeitsplätze kaum nuar, so kündigt der Arbeitsmarkt-
Union in ihrem Koalitionsvertrag dar- mit Arbeitslosen, sondern vor allem experte Klaus Brandner an, werde man
auf verständigt, an den Grundzügen mit Studenten, Rentnern oder Ne- darüber „offensiv debattieren“.
der bisherigen Arbeitsmarktpolitik fest- benbeschäftigten besetzt. Die Blaupause dazu haben die Sozial-
zuhalten. Nun löst die Bewertung der • Die Ein-Euro-Jobs erweisen sich für demokraten bereits in der Schublade.
Wissenschaftler eine neue Grundsatz- einen Großteil der Beschäftigten als Danach sollen die heutigen Minijobs
debatte über den Fortgang der Refor- Sackgasse. Wer einmal auf einen abgeschafft und durch ein neues „Kom-
men aus. staatlich bezuschussten Niedriglohn- bilohnmodell“ ersetzt werden, heißt es
in einem Papier der SPD-Fraktion. Da-
nach würde künftig für alle Arbeitneh-
mer ein Teil des Verdienstes von Sozial-
abgaben befreit.
Dadurch werde die derzeitige „Tren-
nung in sozialversicherungspflichtige
und Minijobs aufgehoben“, so das Pa-
pier. An ihre Stelle trete „ein Freibetrag
bei den Sozialabgaben“, der „um ent-
sprechende steuerrechtliche Regelun-
gen ergänzt werden“ könne. Vorteil des
Konzepts: Minijobber werden nicht
länger bevorteilt, dafür könnten„gera-
de im Niedriglohnbereich zusätzliche
Arbeitsplätze“ geschaffen werden.
Möglichkeiten für einen Neuanfang
bei den Hartz-Reformen sieht auch
Ressortchef Müntefering: Die Große
MARC DARCHINGER

Koalition könne „eine besondere


Chance sein“, schreibt er in seinem Ar-
beitsagenturbrief, „in dieser Legisla-
turperiode Gemeinsames zu Stande zu
Kanzler Schröder, Hartz-Kommission (2002): Weitgehend wirkungslos verpufft bringen“. Michael Sauga

22 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
ligt. Weil 2007 ja alles um drei Prozent- mehr Reformen, die das Vertrauen der kanzler Franz Müntefering sind sich im
punkte teurer wird, so die waghalsige Pro- Bürger in die Sicherheit ihrer Rente, ihrer Grundsatz einig, dass die Sozialsysteme
gnose, würden sich die Deutschen in diesem Krankenversorgung und ihres Arbeitsplat- künftig stärker aus Steuergeldern finan-
Jahr noch schnell mit neuen Autos und zes vergrößern würden. ziert werden müssten. Auch die meisten
Kühlschränken bevorraten und dem dar- Doch dafür spricht derzeit wenig. Wer Ökonomen vertreten die Ansicht, dass ver-
benden Einzelhandel aus den Miesen helfen. hoffte, die unter der rot-grünen Vorgän- sicherungsfremde Leistungen oder die
Ökonomen hingegen fürchten, dass ein gerregierung angeschobenen Reformen Krankenversicherung der Kinder gesell-
solches Konsumfeuerwerk allenfalls ein würden ausreichen, wird derzeit herb schaftspolitische Aufgaben seien, die aus
Strohfeuer entfachen würde: Tritt die enttäuscht. In einem von der Bundes- dem Steuertopf bezahlt werden müssten.
Steuererhöhung 2007 dann wie angedroht regierung noch unter Verschluss gehalte- Die Krankenkassenbeiträge von Arbeit-
in Kraft, bricht die Konjunktur völlig ein. nen Bericht stellen Forschungsinstitute den nehmern und Arbeitgebern würden ent-

POSITIVE VORZEICHEN Deutsche Konzernchefs über ihre Erwartung an das Wirtschaftsjahr 2006

JÖRG LADWIG/WIRTSCHAFTSWOCHE (L.); OLIVER TJADEN (R.)

SAP-Chef Henning Kagermann Metro-Chef Hans-Joachim Körber


Ich sehe diesem Jahr optimistisch entgegen. Die Zeichen stehen Wir gehen durchaus mit Optimismus ins neue Jahr. Die politisch
auf Wachstum, nicht nur für die SAP, auch für Deutschland. Wir unklare Situation ist bereinigt, und die neue Regierung scheint den
erleben das Entstehen einer modernisierten Industriegesellschaft. Vertrauensvorschuss der Menschen zu bekommen, den sie verdient
Moderne Technologien sind das Fundament für Wachstum, Produk- hat. Allerdings muss man abwarten, wie schnell und konsequent die
tivität und globale Wettbewerbsfähigkeit – und sie sind spannend. angekündigten Maßnahmen umgesetzt werden. Die Menschen
Davon können wir in diesem Jahr hoffentlich viele junge Menschen müssen ihre Zukunft wieder planen können. Dann sind sie auch
überzeugen. bereit, wieder mehr Geld auszugeben.

„Was die Konsumenten in diesem Jahr vor- Hartz-Gesetzen ein vernichtendes Urteil sprechend sinken. Der Faktor Arbeit wür-
ziehen, fehlt im nächsten“, sagt Wolfgang aus. Anstatt Arbeitslose schneller in Be- de entlastet, neue Jobs könnten entstehen.
Wiegard vom Sachverständigenrat. „Auf schäftigung zu bringen, sei vielfach das Doch so sinnvoll dieser Schritt auch
die Welle folgt die Delle“, orakelt die West- genaue Gegenteil eingetreten. wäre: Von Schwarz-Rot beschlossen wurde
deutsche Landesbank in einer Expertise. Weitere Schritte vor allem im Sozial- erst einmal das genaue Gegenteil. Fließen
Zumal fraglich ist, ob sich die Deutschen wesen wären nötig, doch dazu konnte sich bislang mehrere Milliarden Euro aus der
überhaupt dazu bewegen lassen, noch ein- die neue Regierung aus Union und SPD Tabaksteuer an die Krankenkassen, um das
mal tüchtig einzukaufen. Schon jetzt man- bislang nicht aufraffen. Laut Koalitions- Mutterschaftsgeld und andere Familienleis-
gelt es vielen nicht an Geld. Doch aus vertrag sind bei Arbeit und Rente ledig- tungen zu finanzieren, soll damit ab 2007
Angst vor einer ungewissen Zukunft wa- lich Reparaturarbeiten vorgesehen. Mal Schluss sein. Finanzminister Peer Stein-
gen sie es nicht, ihre Ersparnisse anzutas- wieder müssen Millionen Kassenpatienten brück fordert das Geld zur Sanierung sei-
ten. Vor fünf Jahren legten die Bundes- seit Jahresbeginn höhere Gesundheits- nes Haushaltes ein.
bürger noch 9,2 Prozent ihrer Löhne und beiträge zahlen, doch eine Reform des Auch Wirtschaftsminister Glos trägt der-
Gehälter auf die hohe Kante. Inzwischen maroden Medizinsektors hat die Große zeit nicht dazu bei, das Vertrauen in die
sind es 10,6 Prozent. Das Angstsparen ent- Koalition erst einmal vertagt. „Wegen Zukunft zu mehren. Per Interview in der
zieht Wirtschaft und Handel demnach etwa grundsätzlicher Differenzen“ (Gesund- „Bild“-Zeitung sprach sich der Neu-Minis-
20 Milliarden Euro im Jahr. heitsministerin Schmidt) hatten CDU/ CSU ter kaum verhohlen für großzügige Lohn-
Entsprechend kühn ist die Vorstellung, und SPD ihre Koalitionsverhandlungen erhöhungen aus. Glos forderte die Arbeit-
die sorgenvolle Gemütslage ließe sich aus- kurzerhand abgebrochen. geber auf, nicht allein „Kosten, Sharehol-
gerechnet durch Androhung von Steuer- Dabei gäbe es durchaus Gemeinsamkei- der-Value und Aktionärsinteressen“ im
erhöhungen verbessern. Nötig wären viel- ten: Sowohl Merkel als auch SPD-Vize- Blick zu haben. In ihm war die Überzeu-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 23
gung gereift, dass „die Men- Instituts für Weltwirtschaft. Die
schen für gute Arbeit gutes zurückhaltende Lohnpolitik der
Geld verdienen müssen und es Gewerkschaften ist für die meis-
dann ausgeben können“. ten Ökonomen der wichtigste
Den Gewerkschaften kommt Grund dafür, dass die deutsche
solche Schützenhilfe gelegen. In Industrie in den vergangenen
der Metallindustrie, einer Jahren an Wettbewerbsfähig-
Schlüsselbranche mit 3,4 Mil- keit gewonnen hat. Ohne den
lionen Beschäftigten, stehen in Beitrag der Arbeitnehmer wäre
diesem Jahr Tarifverhandlun- die Lage der Unternehmen
gen an. Die IG Metall verlangt demnach weit schlechter – und
einen Zuschlag von bis zu fünf damit auch die Lage auf dem
Prozent. Sie sieht für ihre Mit- Arbeitsmarkt.
glieder nach mehreren dürren Es ist, nach dieser Theorie,
Jahren erheblichen Nachhol- nur eine Frage der Zeit, bis die
bedarf. Unternehmen, wenn sie gute

BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO


Wirtschaftsforschern graust Geschäfte machen, auch wie-
es jedoch bei dieser Vorstellung der mehr investieren. Das führt
– und entsprechend groß war zu mehr Beschäftigung und da-
das Entsetzen, das Glos bei den mit zu mehr Nachfrage – und
allermeisten Fachleuten aus- zu einem Aufschwung.
löste. Jahrelang hatten sie den Wenn das richtig wäre, sagen
Politikern erklärt, dass Arbeit- BASF-Chef Jürgen Hambrecht die Kritiker dieser Theorie,
geber auf Lohnanstieg in der Wir erwarten einen guten Start in das neue Jahr. Insgesamt rechnen müsste der Aufschwung längst
Regel mit Personalabbau und wir 2006 mit einem Wachstum von rund drei Prozent auf den weltwei- da sein, denn die großen Kon-
der Verlagerung von Produk- ten Chemiemärkten. Allerdings dürfte dieses Wachstum auch im kom- zerne haben im Jahr 2005 so
tionsstätten reagieren, zumal menden Jahr regional erneut sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. viel verdient wie selten zuvor.
auf höhere Gehälter automa- Asien wird wieder in der Spitzenliga spielen, und das dürfte auch für Sie plädieren deshalb dafür,
tisch auch höhere Sozialabga- die USA gelten. Europa war beim Wachstum am unteren Tabellenrand die Nachfrage zu steigern. In
ben fällig werden. „Eine Lohn- zu finden. Doch jüngste Signale zeigen, dass sich die Stimmung auf- Deutschland vertritt vor allem
erhöhung führt zu weniger Be- hellt. Leider fehlt insbesondere den deutschen Verbrauchern noch im- der Würzburger Ökonom Peter
schäftigung“, urteilt Dennis mer die Zuversicht. Hier sind weitere klare Signale aus der Politik nötig. Bofinger diese These. Als Mit-
Snower, Präsident des Kieler glied des Sachverständigenrats
forderte er in einem Minder- Der Lohnpolitik der Tarifpar-
heitsgutachten kräftige Lohn- teien könnte jedenfalls, so oder
erhöhungen. so, eine Schlüsselrolle zukom-
Aber wo ist die Grenze men im Wirtschaftsjahr 2006.
zwischen vernünftigen Lohn- Und ebenso viel hängt davon ab,
erhöhungen, die die Konjunk- ob die Große Koalition es bei
tur antreiben, und unvernünfti- rhetorischer Stimmungsmache
gen, die sie abwürgen? Und belässt. Der Bundespräsident
liegt diese Grenze nicht in je- höchstpersönlich hielt es für ge-
dem Unternehmen anders? boten, die Regierenden zur Ord-
Schließlich gibt es auch im Jahr nung zu rufen. Er vermisse „den
2006 nicht nur Unternehmen, durchdachten, ausgestalteten
die gut verdienen, sondern Überbau, der klarmacht, was
auch viele, die Verluste ma- das Ziel ist“, sagte Horst Köhler
chen oder gar ums Überleben vergangene Woche.
kämpfen. Einen ersten Erklärungsver-
Sogar mancher Gewerk- such hatte Kanzlerin Merkel zu
schafter hatte sich im Stillen be- diesem Zeitpunkt immerhin
reits von der Theorie verab- schon unternommen. In zahl-

STEFAN PIELOW
schiedet, die Unternehmen reichen Tageszeitungen und
müssten einfach nur tüchtige Zeitschriften veröffentlichte sie
Gehaltsaufschläge zahlen, um einen Brief mit den besten
die Wirtschaft in Schwung Siemens-Chef Klaus Kleinfeld Neujahrswünschen.
zu bringen. IG-Metall-Vize 2006 beginnt mit positiven Vorzeichen, Stimmung und Substanz Viel Konkretes wollte die Re-
Berthold Huber etwa wirbt seit bessern sich: Gesundheitstechnik, Energie-, Sicherheits-, Automobil- gierungschefin allerdings auch
Jahren für eine Tarifpolitik, die technik – deutsche Unternehmen sind mit Innovationen erfolgreich. diesmal noch nicht verraten;
auch auf die unterschiedliche Darin liegt unsere Chance am Weltmarkt. Die Regierung verfügt über das Prinzip Hoffnung soll einst-
Ertragslage in den Unterneh- alles, um die guten Ansatzpunkte des Koalitionsvertrags in die Tat weilen reichen. „Überraschen
men Rücksicht nimmt. Auch umzusetzen. Das wäre binnenwirtschaftlicher Rückenwind zusätzlich wir uns damit“, schrieb Merkel
viele Betriebsräte sperren sich zur guten Weltkonjunktur. Einen Schatten wirft das erneute Aufrollen an die „lieben Bürgerinnen und
nicht, wenn ihr Unternehmen des Mannesmann-Prozesses, weniger auf die Konjunktur als Bürger“, „was möglich ist und
in Krisenzeiten über Lohnab- auf Deutschlands Selbstverständnis als Unternehmensstandort. was wir können.“
schläge verhandeln will. Alexander Neubacher
Deutschland

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Erhebliche Fliehkräfte“
Finanzminister Peer Steinbrück, 58, über den Konflikt zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitikern,
Mängel im Maastricht-Vertrag und erste Rangeleien in der Großen Koalition

eher als Wirtschafts-, denn als Finanzpoli-


tiker sehen.
Steinbrück: Man muss in diesem Amt bei-
des sein. Die öffentlichen Etatprobleme
sind nicht allein in einer fiskalischen Logik
zu sanieren. Wir können uns nicht gesund-
sparen. Wir müssen Impulse geben.
SPIEGEL: Was heißt das?
Steinbrück: Ohne eine größere Wachs-
tumsdynamik, ohne Erfolge auf dem Ar-
beitsmarkt, ohne eine größere Robustheit
der sozialen Sicherungssysteme gegen die
Erosion sozialversicherungspflichtiger Jobs
und die Folgen der Demografie ist die öf-
fentliche Verschuldung nicht signifikant ab-
zubauen. Daneben haben wir es mit einer
Reihe von gesellschaftlichen Problemen zu
tun, die wir nur mit einem handlungsfähi-
gem Staat lösen können. Es gibt erhebliche
Fliehkräfte. Der Zusammenhalt dieser Ge-
sellschaft muss neben fiskalischen und
WERNER SCHUERING wirtschaftlichen Zwängen auch Gegen-
stand der Politik sein.
SPIEGEL: Wir verstehen noch nicht, was das
mit Ihnen als Finanzminister zu tun hat.
Minister Steinbrück: „Wir können uns nicht gesundsparen“ Steinbrück: Die Fliehkräfte unserer Gesell-
schaft – die Auflösung städtischer Struktu-
SPIEGEL: Herr Steinbrück, was haben Sie ich werden Anfang Januar eine Lösung ren, Bildungsdefizite, Verwahrlosungen,
aus den Fehlern Ihrer Vorgänger ge- vorlegen. Desintegration, Armut, Parallelgesell-
lernt? SPIEGEL: Sie sind gerade mal fünf Wochen schaften – werden unterschätzt. Mit
Steinbrück: Das ist nicht mein Ansatz. Es im Amt und schon in der Defensive. „Markt, Markt, Markt“ und noch mehr Li-
geht nicht darum, Zensuren für die Ver- Steinbrück: Wir reden hier doch über Poli- beralisierung bekommen Sie die nicht in
gangenheit auszustellen. Mich interessiert tik und nicht über Sportereignisse. Klar den Griff. Wir brauchen einen handlungs-
mehr, welche Aufgaben vor uns liegen. ist, dass die klassische Aufteilung nicht er- fähigen, nicht fetten Staat. Dieser aber
SPIEGEL: Wir könnten Ihnen einen häufig folgreich sein kann, wonach die Haushalts- braucht finanzielle Ressourcen. Deshalb
gemachten Fehler nennen. und Finanzpolitiker für das Kürzen und bin ich ziemlich bockbeinig, wenn es um
Steinbrück: Bitte! Verhindern zuständig sind, während die die platte Forderung geht, die Steuern im-
SPIEGEL: Streit mit Kabinettskollegen in anderen Wohltaten verteilen, Barmherzig- mer weiter zu senken. Die Einnahmebasis
aller Öffentlichkeit auszutragen. keit vermitteln und Wunschzettel bedie- der öffentlichen Hand in Deutschland ist
Steinbrück: Unterschiedliche Ressortinter- nen. Mit so einer Arbeitsteilung werden eher unzureichend, bezogen auf das, was
essen sind nicht gleich Streit. Der Hinweis wir die Probleme nicht lösen können. der Staat an Leistung erbringen muss.
schien angemessen, dass sich alle Kabi- SPIEGEL: Genau die zeichnet sich aber im SPIEGEL: Wie wollen Sie das ändern?
nettsmitglieder mit öffentlichen Vorschlä- Moment ab. Steinbrück: Indem wir die Einnahmebasis
gen zu Mehrausgaben zurückhalten soll- Steinbrück: Das ist kein neues Phänomen. nicht aus dem Blick verlieren. 2006 wollen
ten, bevor das Kabinett darüber beraten Die Große Koalition ist dennoch gut bera- wir Luft holen und Rückenwind für die
hat. Und bevor sie mit dem Finanzminister ten, diesen Mechanismus zu durchschauen Konjunktur organisieren. Da sieht es im
abgestimmt sind. und ihm nicht zu folgen. Moment gar nicht so schlecht aus, ohne
SPIEGEL: Konkret ging es um den Vorschlag SPIEGEL: Erkennen Sie da bei Ihren Kolle- dass ich euphorisch werden will.
von Ursula von der Leyen, Kinderbetreu- gen Problembewusstsein? SPIEGEL: Was verstehen Sie unter „Rü-
ungskosten steuerlich stärker zu fördern. Steinbrück: Geben Sie uns doch ein wenig ckenwind“?
Hätte man die Familienministerin nicht Zeit! Wir sind gerade fünf Wochen im Steinbrück: Wir werden private Haushalte
besser anrufen können, anstatt sie öffent- Amt. In einer Großen Koalition ist es in einem gewissen Rahmen als Arbeitgeber
lich abzumahnen? wahrscheinlich am ehesten möglich, zu fördern. Dabei geht es sowohl um Betreu-
Steinbrück: Zum einen verwechseln Sie einem anderen Politikstil zu kommen. ungskosten als auch um Handwerker-
bitte nicht Ursache und Wirkung. Ich habe SPIEGEL: Vielleicht fühlen sich Ihre Kolle- dienstleistungen. Wir werden mit einem
reagiert. Zum anderen: Wir haben mitein- gen in ihren Ausgabenwünschen auch da- Programm zur energetischen Gebäude-
ander gesprochen. Frau von der Leyen und durch ermuntert, dass Sie sich offenbar sanierung zusätzliche Investitionen aus-
26 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
JOHANNES EISELE / DPA (L.); A. SCHMIDT / ACTION PRESS (R.)
Sitzung des Bundeskabinetts, Minister Müntefering, von der Leyen: „Wechselseitig aufeinander angewiesen“

lösen. Darauf warten Handwerker. Wir ge- wir nur die Gesundheitsreform. Da klaffen SPIEGEL: Im Gegensatz zur Gesundheits-
ben mehr Geld aus für Verkehrsinvestitio- die Vorstellungen der beiden Koalitions- reform liegt die Neuordnung der Unter-
nen und fördern Betriebe unter anderem partner weit auseinander. nehmensteuern in Ihrer Verantwortung.
über bessere Abschreibungsbedingungen. Steinbrück: Das ist ein Koalitionsvertrag, Sind Sie da wenigstens etwas weiter?
Wir steigern die Forschungsausgaben. Das kein Gesetzentwurf. Ich glaube, dass gera- Steinbrück: Ich erwarte Ende Januar die
ist doch eine ganze Menge, um diesen de eine Große Koalition die Chance bietet, Gutachten des Sachverständigenrats und
Rückenwind zu organisieren … diese Reformvorhaben aufzugreifen und der Stiftung Marktwirtschaft. Bevor ich die
SPIEGEL: … den Sie dann ein Jahr später mit auch gegen Widerstände durchzusetzen, nicht gelesen habe, können Sie nicht er-
einer Mehrwertsteuererhöhung um drei auch gegen diverse Lobbys. Wenn es sein warten, dass ich mich öffentlich über einen
Prozentpunkte wieder abwürgen werden. muss, müssen wir auch unpopuläre Maß- der größten Paradigmenwechsel in der Un-
Steinbrück: Ich weiß auch, dass die Mehr- nahmen mit Courage und Rückgrat durch- ternehmensteuergeschichte der Bundes-
wertsteuer für sich genommen konjunk- stehen. Das erwarten die Menschen von republik Deutschland äußere. Fragen Sie
turell bremsend wirkt. Bloß was ist die uns. Wir müssen das innerhalb von vier mich in einem halben Jahr noch einmal.
Alternative? Ausgabenkürzungen, sagen Jahren bewältigen, sonst fällt uns das ge- SPIEGEL: Gibt es mit Ihnen eine radikale
dann viele. Darauf stelle ich die Frage: meinsam auf die Füße, mit allen Folgen Vereinfachung der Einkommensteuer?
Kennen Sie den Bundeshaushalt? Wissen für die Glaubwürdigkeit der beiden großen Steinbrück: Da bin ich offen. Ich will mich
Sie, dass allein der Zuschuss zur Renten- Volksparteien – und damit des politischen im neuen Jahr mit Steuerberatern zusam-
versicherung fast ein Drittel ausmacht? Systems in Deutschland. mensetzen und sie fragen, was sie schon
Wollen Sie gern, dass ich dort streiche oder SPIEGEL: Bleibt der Umstand, dass im Koali- immer für besonders unsinnig, bürokra-
in anderen Leistungsgesetzen? Ja, lautet tionsvertrag die fünf Reformfelder nur tisch und ineffizient gehalten haben. Ein
bei einigen die Antwort, nehmen Sie dort vage umrissen sind. Bierdeckelkonzept aber wird es nie geben.
mal acht Milliarden runter. Das entspräche Steinbrück: Was heißt „vage“? Können Sie Das Bild hat sich verselbständigt.
einer Rentenkürzung von real vier bis fünf sich vorstellen, in nur fünf Wochen die Mo- SPIEGEL: Klingt nicht so, als stünde Steuer-
Prozent. Glauben Sie nicht, dass eine sol- dernisierung des Gesundheitssystems fest- vereinfachung ganz oben auf Ihrer Prio-
che Maßnahme sich ebenfalls negativ auf zuzurren? Das ist irreal. Keiner kann er- ritätenliste.
den Konsum auswirken würde? Ich schon, warten, dass nach den Koalitionsverhand- Steinbrück: Das ist doch nicht richtig. Wir
abgesehen von der persönlichen Lage der lungen Sir Lancelot oder besser Königin haben im Bereich der Steuervereinfachung
Rentner. Man muss eben die relativen Vor- Guinevere in Gestalt von Frau Merkel auf schon einiges erreicht. So kann die Mehr-
und Nachteile abwägen. den Turnierplatz reitet und das große heit der Arbeitnehmer schon heute bun-
SPIEGEL: Das Problem ist doch noch ein an- Modell präsentiert. An dem Ding wird ge- desweit eine Steuererklärung auf einem
deres: Sie erhöhen die Steuern und wollen arbeitet werden müssen, und das passiert. Blatt abgeben: Aber natürlich ist für mich
alle Strukturreformen aufschieben. die Konsolidierung des Haushalts beson-
Steinbrück: Wir schieben gar nichts auf. Die ders wichtig. Und da gibt es ein paar Din-
beteiligten Ministerien werden sich schon Neuverschuldung ge, die selbst FDP-Politiker verstehen soll-
im ersten Quartal des neuen Jahres zum von Bund, Ländern und Gemeinden ten. Man kann nicht zugleich Steuern sen-
Gesundheitssystem zusammensetzen. Wir in Deutschland, ken, die Nettokreditaufnahme herunter-
müssen bei der Pflegeversicherung etwas in Mrd. Euro fahren, den Haushalt kürzen und dann
unternehmen, wir werden nach der Verab- 79,6 78,5 Herbst- mehr für Bildung, Forschung, Entwicklung
schiedung des ersten Teils der Föderalis- gutachten und Familienförderung tun. Das passt nicht
musreform über eine Föderalismusreform II zusammen. Wenn über die 25 Milliarden
reden. Sie wissen, dass wir uns um den Defizitquote 2005: Euro, die in dieser Legislaturperiode im
Niedriglohnsektor kümmern wollen, dass 3,5 % des BIP Bundeshaushalt gekürzt werden sollen,
wir eine große Unternehmensteuerreform 42,7 EU-Stabilitätspakt: 3 % weitere Streichungen für richtig gehalten
in Angriff nehmen werden, die 2008 in Schuldenstand Juni 2005: werden, dann geht das nennenswert nur in
Kraft treten soll und auf einen System- 1465 Mrd. Euro Leistungsgesetzen. Dann müssen sich aber
wechsel in der Unternehmensbesteuerung 23,7 die Befürworter auf dem Marktplatz auf
Schuldenstandsquote:
hinauslaufen wird. Das sind, aus der Hüfte * Schätzung der 68,6 %* des BIP eine Apfelsinenkiste stellen und sagen: Ich
geschossen, schon fünf riesige Projekte … EU-Kommission EU-Stabilitätspakt: 60 % bin dafür, dass bei Rente und Arbeits-
zum Jahresende
SPIEGEL: … zu denen im Koalitionsvertrag losengeld II gekürzt wird.
allerdings nichts Konkretes steht. Nehmen 1998 2000 2002 2004 05 SPIEGEL: Können Sie das ausschließen?

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 27
Deutschland

INFLATIONSRATE 2005 LEISTUNGSBILANZ 2005


Quelle: EU-Kommission
in Prozent Defizit/Überschuss
in Prozent des Brutto-
4,3 Spanien –7,4 inlandsprodukts
3,7 Griechenland –7,4
3,2 Irland –2,2
2,6 Belgien DEFIZIT 3,0 ÜBERSCHUSS
2,4 Italien –1,2
2,0 Portugal –9,5
Gewinner 1,8 Eurozone (Durchschnitt) 0,0

und Verlierer 1,6


1,6
Luxemburg
Österreich 0,8
5,9

Länder mit hoher


Inflationsrate und 1,4 Frankreich –0,8

THOMAS LOHNES / DDP


Leistungsbilanzdefizit 0,9 Niederlande 6,0
profitieren von der Zinspolitik 0,6 Deutschland 3,8
der EZB, die sich am Durchschnitt
der Euro-Länder orientiert. 0,5 Finnland 2,2

Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main: „Keine Anerkennung erfahren“

Steinbrück: Sie wissen, dass wir im Koali- bei ihrer Kreditsuche erheblich geholfen höhere Bundeszahlungen an die Kommu-
tionsvertrag vereinbart haben, bei der hat. Denn finanziell gesehen ist ein Leis- nen durchgesetzt hat. Liegt in der Perso-
Grundsicherung für Arbeitssuchende tungsbilanzüberschuss eine Kreditgewäh- nalunion von Arbeitsminister und Vize-
zunächst drei, später vier Milliarden Euro rung des exportierenden an das importie- kanzler ein Interessenkonflikt?
einzusparen, indem wir aufbauend auf die rende Land. Dafür haben wir keine An- Steinbrück: Nein, Sie graben da zu tief.
Erfahrungen dieses Jahres unerwünschte erkennung erfahren. Diese Zusammen- Herr Müntefering war der Erste, der deut-
Entwicklungen abstellen. hänge müssen wir in den zuständigen lich gemacht hat, dass diese Koalition auf
SPIEGEL: Lassen Sie es uns noch mit einem Gremien auf der EU-Ebene stärker zur Erfolg getrimmt werden muss.
anderen Thema versuchen: dem europäi- Geltung bringen. SPIEGEL: Und dennoch ist er in diesem Fall
schen Stabilitätspakt. Alle Euro-Länder mit SPIEGEL: Was heißt das? als Ihr Vorgesetzter aufgetreten.
einer hohen Inflationsrate wachsen stark – Steinbrück: Es geht jetzt darum, dass wir Steinbrück: Ach was. Keiner denkt in die-
weil sie Trittbrettfahrer der Europäischen die im reformierten Stabilitäts- und Wachs- ser Kategorie. Jeder hat seine Prägungen
Zentralbank (EZB) sind, die ihre Zinsen tumspakt enthaltene umfassende wirt- und Aufgaben. Ich kann nicht ständig mit
am Durchschnitt aller Mitgliedstaaten schaftliche Analyse auch konsequent be- dem fiskalischen Zeigefinger fuchteln, und
ausrichtet. treiben. Wir müssen in der Euro-Zone die umgekehrt kann niemand glauben, er kön-
Steinbrück: Es stimmt, die EZB legt für alle wirtschaftlichen Gesamtzusammenhänge ne dauerhaft auf Kosten des Finanzminis-
einen Nominalzins fest, obwohl die Infla- stärker beachten. Genau das war ja auch ters Geschäfte machen. Das gilt auch für
tionsraten sehr unterschiedlich sind. So die Ausgangslage für die Reform des Paktes einzelne Ministerpräsidenten, wenn ich an
kommt es, dass einige Länder ein äußerst – nämlich wegzukommen von einer all- einige jüngste Einlassungen denke. Jeder
niedriges Realzinsniveau haben, was dort zu mechanischen Sichtweise und Aus- weiß, dass wir in der Koalition wechselsei-
zu teilweise erheblichen Zinseinsparungen legung. tig aufeinander angewiesen sind.
bei der Staatsschuld und natürlich auch SPIEGEL: Also bleibt erst einmal alles beim SPIEGEL: Kann Angela Merkel eine bessere
zur Belebung der Wirtschaft geführt hat. Alten? Kanzlerin werden als Gerhard Schröder?
SPIEGEL: Was bedeutet, dass diese Länder Steinbrück: Wir reden über einen Prozess – Steinbrück: Jeder und jede auf seine und
den wirtschaftlichen Impuls der Inflation nicht über einen martialischen Auftritt. Ich ihre Weise. Die Fixierung auf solche Rang-
nutzen, dafür aber nicht durch höhere habe ein massives Interesse daran, den Sta- listen ist ein seltsames Produkt der Bezie-
Leitzinsen bestraft werden. Wäre es nicht bilitäts- und Wachstumspakt nicht zu un- hung von Politik und Medien. Ich glaube,
sinnvoller, wenn sich der EU-Stabilitäts- tertunneln oder zu relativieren. Das hätte dass Frau Merkel häufig unterschätzt wor-
pakt eher nach der Teuerungsrate als nach auch negative Auswirkungen auf unser den ist. Mich hat ihre politische Vita inter-
dem Haushaltsdefizit richten würde? Land. essiert, und die fing nicht 1998 an, sondern
Steinbrück: Die Finanzpolitik muss sicher- SPIEGEL: Der Erste, mit dem Sie in der 1990. So habe ich eine Vorstellung davon
lich in erster Linie die Entwicklung der öf- Koalition aneinandergeraten sind, war bekommen, wie viel Durchsetzungskraft
fentlichen Haushalte im Auge haben. Aber Franz Müntefering, der gegen Ihren Willen es braucht, um schließlich Kanzlerkandi-
Sie sind auf der richtigen Spur. Für die Sta- datin der Union zu werden.
bilität in der Euro-Zone spielen neben SPIEGEL: Wie würden Sie Merkels Stil im
Haushaltsdefiziten zweifelsohne auch In- Unterschied zu ihrem Vorgänger beschrei-
flationsraten und Leistungsbilanzen eine ben?
wichtige Rolle. Es gibt ja nicht nur große Steinbrück: Schröder war sicher ein Alpha-
Unterschiede bei den Realzinsen. Auch die Tier. Frauen kommunizieren anders. In-
Leistungsbilanzsalden der Euro-Länder lie- zwischen lerne ich, dass Frauen häufig eine
gen zum Teil weit auseinander – mit dem höhere kommunikative und soziale Kom-
WERNER SCHUERING

Effekt, dass Deutschland mit seinem hohen petenz haben als Männer. Vor allem in der
Leistungsbilanzüberschuss in den letzten jüngeren Generation sind sie oft besser –
zwölf Monaten den Euro-Defizit-Partnern und das zuzugeben fällt mir gar nicht so
leicht.
* Konstantin von Hammerstein und Wolfgang Reuter im Steinbrück, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Steinbrück, wir danken Ih-
Finanzministerium in Berlin. „2006 wollen wir Luft holen“ nen für dieses Gespräch.
28 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
bis zur CSU-Klausurtagung in Wildbad mit preußischer Disziplin die Spitzenposi-
FINANZEN
Kreuth am 10. Januar abgeschlossen sein. tion im Wettbewerb der Bundesländer hal-

Magische Null Die Leidensfähigkeit des Kabinetts ist


am Ende, weil der Stoibersche Schlachtruf
„Geiz ist geil!“ die Minister seit 2001 im-
mer härter zur Haushaltsdisziplin zwingt.
ten: Mit 1709 Euro Pro-Kopf-Verschuldung
(Ende 2004) ist sein Freistaat verglichen
mit anderen Ländern glänzend in Schuss –
5672 Euro Landesschulden pro Einwoh-
Als einziges Bundesland will
Mindestens sechs Milliarden Euro hat Bay- ner sind es in Nordrhein-Westfalen, sogar
Bayern einen Haushalt ohne ern seither eingespart – das Ziel, 2006 dann 17 013 Euro in Bremen.
Neuverschuldung vorlegen. Doch gar keine Kredite mehr aufzunehmen, Stoiber erreicht sein Ziel nicht durch ei-
das Land ächzt unter der schrieben sich die Christsozialen damals nen großen Wurf, sondern durch Konse-
Sparsamkeit Edmund Stoibers. einstimmig ins Haushaltsgesetz. quenz im Kleinen. So müssen die bayeri-
Doch da war noch die Rede von Steuer- schen Beamten nun zwei Stunden länger

W
enige Tage vor Weihnachten zuwächsen, und die Regierung plante auch pro Woche arbeiten für dasselbe Gehalt.
saßen die Minister und Staats- ein paar Luftbuchungen ein, wie etwa jene Die Blinden bekommen seit 2005 mit 498
sekretäre des Freistaats zur Ka- Euro pro Monat knapp 90 Euro weniger
binettsklausur im lauschigen St. Quirin am
Tegernsee, einem dieser Flecken, wo Bay-
Solider Freistaat Blindengeld, und für die Sportförderung
gibt der Freistaat seit vergangenem Jahr
ern besonders bayerisch ist. Sie schauten Bayerns Landesfinanzen im Vergleich 1,7 Millionen Euro weniger aus.
über die verschneiten Fluren auf die Al- SCHULDENSTAND PRO KOPF 2004 Zahlreiche Ämter und kleine Gerichte
pen, hinauf zum weiß-blauen Himmel – wurden und werden aufgelöst oder zu-
und sie dachten an die Weißwurst. Durchschnitt aller Bundesländer 5369¤ sammengelegt. Stoiber beschloss sogar
Die wird südlich der Donau nicht mit ohne Gemeinden kurzerhand, zum 1. Juli das Bayerische
Messer und Gabel verzehrt, sondern mit 1709¤ Bayern Oberste Landesgericht aufzulösen, was pro
den Zähnen ausgedrückt, bis am Ende eine Jahr nun 1,48 Millionen Euro spart. Er setz-
traurige, verschrumpelte Haut am Teller- HAUSHALTSDEFIZIT/-ÜBERSCHUSS PRO KOPF te eine Reform der Staatsforsten durch und
rand übrigbleibt. Derart „ausgezuzelt“, wie erhebt von 2007 an Studiengebühren.
das in Bayern heißt, fühlten sie sich jetzt in ¤ Seit 1990 kappte das Land die Zuschüs-
auch, jammerten diverse CSU-Funktionä- +50 se zur Denkmalpflege um rund 80 Prozent,
re nach den zwei Tagen am See. 0 und bei der Polizei werden derzeit die
Denn Finanzminister Kurt Faltlhauser Bayern Führungsebenen stark reduziert, Präsidien
hatte den Kabinettskollegen kurz vor dem und Direktionen zusammengelegt.
Fest der Liebe verkündet, dass sie noch –100 Ausgegeben wird nur das Nötigste, Pro-
einmal 100 Millionen Euro einsparen sol- teste und Demonstrationen der Betroffe-
len. Diese Summe fehlt dem Kassenwart, nen schrecken den Bayernregenten nicht.
damit Bayern und sein Regierungschef Ed- –200 „Wir sparen ja noch gar nicht“, sagt er,
mund Stoiber 2006 ein ehrgeiziges Ziel er- „wer spart, legt was zurück. Wir machen
reichen können: Als einziger Ministerprä- lediglich keine Schulden mehr.“
sident will Stoiber einen Haushalt ohne –300 Durchschnitt Was, glaubt man der Opposition im
Neuverschuldung vorlegen und die magi- aller Bundes- Landtag, freilich nicht so ganz stimmt.
sche schwarze Null erreichen. länder bis
Denn Faltlhauser, kritisiert die SPD-Frak-
Doch unter der rigiden Sparsamkeit Oktober tion, mache in Wahrheit Schulden bei sich
Stoibers ächze das Land, stöhnen die Mi- selbst. In der Tat zieht der Finanzchef im-
nister. Wie ein Hausierer hatte Faltlhauser 1998 99 2000 01 02 03 04 05 mense Summen aus dem Landesvermögen.
denn auch in St. Quirin versucht, Mehr als 700 Millionen Euro aus
die 100 Millionen einzutreiben. Er Fonds, Rücklagen und Vermögens-
hatte nachts bis zwei Uhr an der Ho- posten baute er in den aktuellen
telbar gesessen, um den Ministern Haushalt ein, dazu gut 600 Millionen
das Geld abzuschwatzen, hatte mit aus dem Verkauf von E.on-Anteilen.
schmeichelnder Stimme zu „weni- Aber im November klaffte durch
ger Gegenwartskonsum“ aufgefor- die miserable Steuerschätzung eine
FRANK MÄCHLER / PICTURE-ALLIANCE / DPA

dert und versprochen, dass dann neue Lücke in seinem Rechenwerk:


bald schon die Wirtschaft ansprin- Fast eine Milliarde fehlt für einen
gen und das Steueraufkommen stei- ausgeglichenen Etat 2006. Deswegen
gen werde. will Faltlhauser nochmals weitere
Weil Stoibers Macht daheim nach 500 Millionen Euro aus E.on-Erlö-
seinem unrühmlichen Berliner Hin sen nachschießen, 400 Millionen soll
und Her aber geschwunden ist, blie- der Flughafen München, der vom
ben die Ressortchefs erst mal stur. Freistaat ein Darlehen bekam,
Innenminister Günther Beckstein zurückzahlen, die restlichen 100 Mil-
etwa rebellierte, weil er nicht mehr Sparpolitiker Stoiber, Faltlhauser: Preußische Disziplin lionen sollen aus dem Kabinett her-
weiß, wie er mit weniger Geld und ausgepresst werden.
überarbeiteten Polizeibeamten 2006 die Millionen, die durch die Amnestie für Der Haken bei dieser Rechnung: Das
Fußball-Weltmeisterschaft, den Papstbesuch Steuerflüchtige von Schweizer Nummern- Geld aus dem Grundstockvermögen muss
und das Oktoberfest absichern soll. Kultus- konten zurückfließen sollten. Allein: Das der Finanzminister, so will es die bayeri-
minister Siegfried Schneider fehlen jetzt Steueraufkommen blieb in den vergange- sche Verfassung, bis 2012 zurückgezahlt
schon rund 1200 Lehrer, und nun soll er nen Jahren unter den Prognosen, und die und neu angelegt haben, ob das Steuer-
nochmals auf 17 Millionen Euro verzichten. schwarzen Gelder der Reichen liegen weit- aufkommen wächst oder nicht. Aber damit
„Nicht mit uns“, schimpften die Minister gehend immer noch im Nachbarland. werden sich dann wohl andere herum-
fast einstimmig. Die Verhandlungen sollen Umso kräftiger wird gespart. Stoiber will schlagen müssen. Conny Neumann

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 29
Deutschland

KARRIEREN

Das Phantom
Joachim Sauer ist der erste Kanzleringatte Deutschlands. In seinem Leben hat er sich immer
Unabhängigkeit bewahrt, jetzt aber soll er eine Rolle spielen, die andere für ihn ausgesucht
haben. Doch er wehrt sich gegen die Gesetze der modernen Mediendemokratie. Von Marc Hujer

E
r hat einen Vortrag über protonierte
Kohlenwasserstoffe gehalten. Was
auch immer das sein mag. Die Kol-
legen laufen auf ihn zu und stellen Fragen.
Joachim Sauer steht neben dem Pult und
kann sich erst nach vielen Minuten lösen.
Er schiebt sich aus dem Hörsaal, in eine
Ecke neben den Toiletten. Der Professor
braucht eine Pause. Er nestelt an seiner
Aktentasche, dann schaut er auf.
„Jetzt haben Sie mich also doch noch
gefunden“, sagt er. Sauer streckt die Hand
aus und sieht nicht einmal unglücklich aus.
Monatelang stemmt er sich schon gegen
Fernseh- und Zeitungsinterviews, wehrt
Journalistenanfragen mit dürren Worten
ab und vermittelt den Eindruck, dass ihn
die Aufregung um seine Person nur nerve.
Er möchte nicht Kanzleringatte sein, zum
Anhängsel einer Regierung schrumpfen,
die jetzt zufällig von seiner Frau, von An-
gela Merkel, geführt wird.
Sauer ist ein gepflegter Mann, vergli-
chen mit dem achtlosen Äußeren mancher
Kollegen. Er ist 56, sportlich und schlank,
seine Frisur sieht aus wie frisch gemäht,
und sein Jackett sitzt so straff über der
Brust, als wäre er hineingewachsen.
Er ist nach Frankreich gefahren, nach
Vernaison, einem trostlosen Vorort Lyons.
Das Institut français du pétrole hat ihn
kurz vor Weihnachten hierher eingela-
den, in einen abgewetzten, neonbeleuch-
teten Trakt, eingeklemmt zwischen Raf-
finerietürmen und der Autobahn, vergit-
tert wie eine Gefängnisanlage. Auf dem
Programm steht: „Forschungsfortschritte
beim wissensbasierten Design von Kataly-
satoren“.
Niemand zwingt Sauer, hier über etwas
anderes als über Chemie zu reden. Aber ir-
gendwie gefällt es ihm, dass ihn jemand
aufgesucht hat. Er will wissen, wie man
ihn gefunden hat und wie hoch die Teil-
nahmegebühr war, die das Institut in Rech-
nung gestellt hat. „Kommen Sie“, sagt er,
„gehen wir einen Kaffee trinken.“
Er will nichts anderes als Professor blei-
ben, für Quantenchemie an der Humboldt-
Universität zu Berlin. Er will nicht, dass
MICHAEL KAPPELER / DDP

ihm sein Leben entgleitet, dass plötzlich


andere, die Medien, seinen Alltag bestim-
men, dass er endet wie Denis Thatcher,
der Mann der Eisernen Lady, der seiner
Nachwelt als freundlicher, golfspielender
Trottel in Erinnerung geblieben ist. Merkel-Gatte Sauer: „Ich muss arbeiten, ich bin Professor“

32 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Es gibt kein Gesetz, das Sauer vor- chen. Er weiß selbst nicht, ob er Erfolg ha- 2100 Einwohner leben dort, es gibt eine
schreiben würde, was er als Gatte der ben wird. „Mal sehen, was daraus wird“, Kirche, eine Sparkasse, einen Billig-Su-
Kanzlerin zu tun hätte. Niemand zwingt sagt er, „aber ich mache das jetzt.“ permarkt und die Bäckerei Fechler, wohin
ihn dazu, sich in eine bestimmte Rolle zu Es fällt ihm schwer, sich zu verstellen, man bis heute an Weihnachten den eige-
fügen. So gesehen ist er ein Phantom. und er hat auch etwas zu verlieren. Sauer ist nen Stollenteig zum Backen bringen kann.
Und doch kann er nicht so tun, als wäre ein Wissenschaftler mit internationaler Re- Sein Elternhaus steht gegenüber der
nichts passiert. Die Kanzlergattinnen ha- putation, Sprecher des Sonderforschungs- Bäckerei, auf der anderen Seite der Bahn-
ben sich alle mehr oder weniger erfolgreich bereichs 546 mit dem sperrigen Arbeitstitel schranken. Sein Bruder wohnt noch darin
engagiert, oft an der Spitze gemeinnütziger „Struktur, Dynamik und Reaktivität von und betreibt im Neubau dahinter eine
Organisationen: Loki Schmidt, indem sie Übergangsmetalloxid-Aggregaten“. Als ei- Computerfirma. Die Häuser sind frisch ge-
die „Blume des Jahres“ auswählte und für ner von wenigen DDR-Wissenschaftlern hat strichen, zitronengelb.
den Naturschutz kämpfte. Hannelore Kohl, sich Sauer auch im Westen einen sehr guten Eberhard Fechler, der Bäckermeister,
kennt Joachim Sauer, er ist nur sechs Jahre
älter als er. Früher, da sind hier den ganzen
Tag über Züge gefahren, die Bahnlinien ge-
hen direkt am Garten der Sauers vorbei. Es
wurden allerhand Glaswaren hergestellt,
Aschenbecher, Likörgläser und Kompott-
schüsseln, die von hier in die ganze Region
versandt wurden. Es gab eine Ziegelei und
eine Ölmühle. Dem Ort ging es nicht
schlecht. Die Kinder hatten Fahrräder mit
„Stalinbereifung“, Vollgummibelag. Man aß
Kartoffeln mit Leinöl und Quark.
Sauers Mutter war Hausfrau, sein Vater
gelernter Konditor, arbeitete aber als Ver-
sicherungsvertreter. Sauer wollte früh weg
aus dieser Welt und hatte das Zeug dazu,
denn er war fleißig und klug.
Schon auf der Zentralschule Hosena war
er der Klassenprimus, und auf der Erwei-
terten Oberschule Walther Rathenau in
STEFAN BONESS / IPON
Senftenberg galt er als der intelligenteste
und leistungsfähigste Schüler. Er musste nie
abschreiben, um besser zu sein. Mit seiner
Leistung verschaffte er sich Respekt, wenn
auch nicht immer Freunde. Es war sein
Weg, das Leben in den Griff zu bekommen.
Regierungschefin Merkel: Ihr Mann ist keine Hilfe Klaus Böhnisch erinnert sich gut an Sau-
er. Böhnisch ist ein freundlicher Rentner,
indem sie Rezepte mit Hausmannskost ver- Ruf verschafft. Tagungsteilnehmer Karsten der um den Erhalt des Tierparks Senften-
öffentlichte und den Erlös einer wohltätigen Reuter vom Berliner Fritz-Haber-Institut berg kämpft. Er hat Sauer in Geschichte
Stiftung zukommen ließ. Und natürlich Do- sagt, Sauer sei ein „Star der Branche“, ge- unterrichtet, einen tadellosen, hochintelli-
ris Schröder-Köpf, indem sie neben ihren achtet von allen, die etwas mit Computern genten Schüler. Er will nur Gutes über ihn
Ehrenämtern im Wahlkampfteam ihres und Quantenchemie zu tun haben. Ein berichten.
Mannes mitmischte und bei Parteitagen öf- „elitäres Gegenuniversum“ zu Schröder- Gelegentlich soll Sauer den Rat bekom-
fentlich Tränen für ihn vergoss. Köpf habe sich Sauer da aufgebaut, schrieb men haben, sich intensiver am gesell-
Es gab sinnvolle und unsinnige Einmi- die „Frankfurter Allgemeine“. schaftlichen, das heißt sozialistischen Le-
schungen der Ehefrauen, aber immer ha- Sauer sitzt ganz links auf dem Podium. ben zu beteiligen. Aber das hat ihn nur
ben sie mit ihrem Engagement den Män- Er hat jetzt die Tagungsleitung übernom- noch mehr in seiner Arbeit angespornt. Er
nern ein freundlicheres Gesicht verliehen. men. Er misst die korrekte Zeit der Vor- war noch fleißiger und schrieb noch mehr
Sie konnten sich einbringen, wenn die träge ab und stellt danach fast immer die Einsen. Die Schule schloss er mit Prädi-
Menschen mit politischer Rhetorik nicht erste Frage. Er verstehe nicht, bohrt Sauer katszeugnis ab. Er hat gekämpft, um der
mehr zu erreichen waren. einmal nach, „woher bei Ihnen das Elek- Beste zu sein.
Professor Sauer sagt, er wolle nicht öf- tron kommt und wohin es geht“. Der Ge- Mit 25 war er promoviert, mit 44 Pro-
fentlich in Verbindung gebracht werden fragte muss etwas weiter ausholen. fessor. Mit 32 lernte er Angela Merkel, die
mit dem Wirken seiner Frau. Er wolle nicht Als ihn ein Vertreter der französischen Physikerin, kennen. Sie trafen sich in der
über sein neues Leben als Kanzleringatte Erdölwirtschaft fragt, warum er nicht weiter Mensa und tauschten sich über ihre Arbeit
reden, und wenn er jetzt doch weiterrede, mit seinen interessanten Recherchen sei, aus. 1998 heirateten sie. Für beide war
dann nur, um zu erklären, warum er scherzt er, dass die Industrie eben immer es das zweite Mal. Es hat kaum jemand
grundsätzlich nicht reden wolle. nur die anderen Projekte finanziere, nicht mitbekommen, sie wollten kein Aufsehen
„Das ist eine prinzipielle Entscheidung, seine. „Sis was a joke“, ruft er in mutigem erregen.
die ich getroffen habe“, sagt Sauer, „Sie Englisch. Unter Kollegen kann er entspannt Und dann, sieben Jahre später, steht An-
sollten das nicht persönlich nehmen.“ sein, denn hier wird sonst nur über Chemie gela Merkel im Deutschen Bundestag, es ist
Für ihn ist es ein Experiment, ein Test, gesprochen, über Atome, Moleküle und der 22. November 2005 um 10.52 Uhr, und
den er jetzt durchziehen will, da er ihn Gitterstrukturen. sie ist gerade zur Kanzlerin der Bundesre-
einmal begonnen hat. Freunde und Be- Geboren ist er in Hosena, einem kleinen publik Deutschland gewählt worden. Auf
kannte haben ihm dazu geraten, viele mei- Dorf in der Niederlausitz, das inzwischen der Zuschauertribüne sitzt ihre engste Fa-
nen noch immer, er würde es richtig ma- ein Ortsteil der Kreisstadt Senftenberg ist. milie, ihre Eltern, ihr Bruder Marcus und
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 33
Deutschland

weitere Bekannte. Sie winkt zu mal ans Fax gestellt und Inter-
ihnen hinauf, sie ist dankbar views autorisiert, wenn seine Frau
dafür, dass sie gekommen sind. mal nicht da war. Oder er hat sich
Nur Sauer ist nicht da. Die „Süd- mit dem Staatssekretär im Um-
deutsche Zeitung“ mutmaßt: weltministerium unterhalten, da
„Vielleicht ist er in seinem Insti- kannte er sich aus. Er hat sich
tut und forscht.“ Später heißt nicht verkrochen, und er sei auch
es, er habe sich alles viel besser „nie eine Hausfrau gewesen“,
am Fernseher anschauen kön- sagt Simonis.
nen. Das Paar habe kurz danach Wäre es nicht schön, wenn An-

ACTION PRESS
telefoniert. gela Merkel auch mit so viel En-
Es stimmt, dass Sauer im In- gagement rechnen könnte? Wür-
stitut war. Jens Breffke ist ein de es ihr nicht nutzen, wenn sich
langjähriger Schüler von Sauer. Ehepaar Merkel, Sauer*: Experiment durchziehen ihr Mann stärker für sie in Szene
Er kennt den strengen Professor, setzte, nicht nur für jenes denk-
der Butterbrote in der Stunde würdige Foto an einem See in der
verbietet, Kaugummis und Ge- Uckermark, auf dem ein Fischer
tränke jeder Art. Am 22. No- einen Karpfen hochhält und das
vember, sagt Breffke, habe er ihn Ehepaar Merkel/Sauer aussieht,
in der Kantine gesehen. als hätte man es beim Frühstück

HOHENHAUSEN / STERN / PICTURE PRESS


Es war im „Casino Adlershof“, gestört?
wo Sauer meist Mittag essen geht. Merkel wirkt häufig kühl. Es
Breffke hat sich umgeschaut, und fällt ihr schwer, Emotionen zu
da hat er ihn in der Essensschlan- wecken, und sie findet nicht
ge stehen sehen. Es gab an die- immer den richtigen Ton mit
sem Tag Gemüsemaultaschen, den Leuten. Sie könnte jeman-
Entenkeule oder Fischfrikadelle, den gebrauchen, der diese Ei-
alles bis 4,20 Euro. Keine festliche genschaften ausgleicht, der sie
Vorstellung für jemanden, dessen nicht nur als Technokratin, son-
Partnerin gerade die mächtigste DDR-Bürger Sauer, Merkel (M.)*: Lebenswichtige Gespräche dern auch als warmherzige Frau
Frau Deutschlands geworden ist. erscheinen lässt. Ihre Kanzler-
Wenn es wirklich sein Ziel war, mög- Simonis hat die Geschichten gehört, die schaft hängt nicht daran, aber manchmal
lichst wenig Aufsehen zu erregen, dann über Sauer geschrieben worden sind. Dass wäre es leichter für sie. Doch ihr Mann ist
hat Sauer an diesem Tag das Gegenteil er- er seinen beiden Söhnen aus erster Ehe da keine Hilfe.
reicht. Der Fehler war so offenkundig, dass früher immer dicke gestrickte Strümpfe Es ist spät geworden bei Professor Sau-
er eigentlich nur damit erklärt werden verordnete, um ihre Schritte zu dämpfen, er in Frankreich, die Kaffeepause ist vor-
kann, dass Sauer über die an diesem Tag dass er sich bei seinem Nachbarn, dem bei, und der Wissenschaftler muss zum
besonders heftige Medienbeobachtung er- SPD-Linken Ottmar Schreiner, beschwerte, Flughafen. Er hätte am nächsten Tag noch
schrak. Er hasst die Boulevardisierung von weil dieser französische Chansons in un- eine Führung durch das Institut mitmachen
Demokratie. gehöriger Lautstärke hörte, dass er beim können, es wäre der erste Tag ohne hartes
Sauer hat Breffke einmal zur Seite ge- Bezirksamt Berlin-Mitte Beschwerde ein- Vortragsprogramm gewesen, der entspan-
nommen, um ihm den schwierigen Um- reichte, weil er sich durch ein Open-Air- nende Teil der Tagung. Aber Sauer hat kei-
gang mit den Medien zu erklären. Er hat Konzert belästigt fühlte. Auf sein Drängen ne Zeit. „Ich muss arbeiten“, sagt er, „ich
ihn auf einen Artikel in der „Bunten“ hin- wurde eine amtliche Lärmmessung vorge- bin Professor.“
gewiesen, wonach das Ehepaar Merkel/ nommen. „Ich kann nur immer zu Gelas- Zwei Stunden später sitzt er im Flug-
Sauer zu Hause angeblich am liebsten senheit raten“, sagt Simonis. zeug nach Frankfurt. Er hat sich Zeitungen
deutschen Rotwein trinke. Der Professor Professor Simonis hat ein rundes, besorgt, er liest den Politikteil der „FAZ“,
bebte, es war wieder so eine Meldung, die freundliches Gesicht, man nimmt ihm ab, aufmerksam und jede Seite; über den EU-
er am liebsten nicht gelesen hätte. „Wir dass er genießen kann. Aber er sagt auch, Gipfel, über den Streit um Guantanamo.
trinken doch gar keinen deutschen Rot- dass er Verletzungen erlebt habe. Manch- Er liest, als das Flugzeug abhebt, und er
wein!“, rief er. „Wir trinken keinen deut- mal hatte er gehofft, dass auch sein Thema, liest, als das Flugzeug landet. Er liest selbst
schen Rotwein!“ die Umweltpolitik, interessant wäre, ins- dann, als beim Aufsetzen seine Zeitung
Udo Simonis kennt die Freuden und Lei- besondere dann, wenn gerade irgendwo wie ein nasser Lappen zusammenklappt.
den eines Mannes, der manchmal „First ein Hurrikan tobte. Aber es interessierte Er liest, als wäre er in Frankreich zwei Tage
Husband“ genannt wird, er war der erste sich „kein Schwein“ für ihn. Im Mittel- lang ausgehungert worden.
Ministerpräsidentin-Gatte in Deutschland. punkt stand immer nur seine Frau. Angela Merkel hat ihn einmal einen
Er sitzt in seinem Institut, dem Wissen- Aber anders als Sauer kann er sich nicht „prima Kerl“ genannt. Er hat ihr immer ge-
schaftszentrum Berlin, der Professor für erregen über die Seichtigkeit der Medien. holfen, schon als er ihre Doktorarbeit
Umweltpolitik ist emeritiert, aber sie haben Er schimpft nicht über die Belanglosigkeit durchsah. Die Gespräche mit ihm seien
ihm dort noch ein Zimmer gelassen. Mit von Partygesprächen. Er genoss die Feste, „fast lebenswichtig“, hat sie gesagt, er sei
den skandinavischen Hofdamen hat Simo- die ihm durch das Amt seiner Frau offen- ein „wirklich guter Ratgeber“.
nis schon beim Weihnachtsmarkt Hand- standen. „Bester Rotwein fließt in Strö- Sauer hetzt die Gänge des Frankfurter
schuhe gekauft, er war unzählige Male men“, sagt er. Airports entlang. Er muss den Anschluss-
beim Damenprogramm der Ministerpräsi- Er wollte auch mitregieren, ein bisschen flug nach Berlin bekommen. Er klemmt
denten-Gattinnen dabei. Er hat erlebt, wie zumindest. Und deshalb hat er sich manch- sich die „Zeit“ unter den Arm, die will er
sich Frau Biedenkopf im Lübecker Pup- noch schaffen. Natürlich interessiert ihn,
penmuseum verirrte. Sie hatte sich in eine * Oben: mit Papst Benedikt XVI. am 20. August 2005 am was geschrieben wird, als Bürger, als
Puppe verliebt. „Herr Sauer hat eine Rie- Rande des Weltjugendtags in Köln; unten: bei einer Feier Wähler und auch als Kanzleringatte.
senchance“, sagt er. in den achtziger Jahren. Nur zugeben würde er es nie. ™
34 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
heimdienstler gern benutzen. Der Verfas-
sungsschutz räumt einen „recht intensiven
Kontakt“ zum NPD-Mann ein und be-
stätigt auch mehrere Treffen.
Vor allem aber werden die Behörden die
Rolle Schmidts in jenen Monaten erklären
müssen, die zwischen dem ersten Kontakt
und dem Ausstieg lagen. Hat Schmidt, vom
Geheimdienst assistiert, die anderen Kan-
didaten zum Austritt gedrängt?
Die Rechten glauben, dass die Abtrün-
nigen vom Dienst gelenkt wurden oder gar
in dessen Diensten stehen – die Betroffe-

ROLF H. SEYBOLDT / SEYBOLDT-PRESS


nen weisen diese Behauptungen zurück.
Offiziell versichert auch das Landesamt,
Abgeordnete würden nicht als Quellen
oder V-Leute geführt. Aber was war vor
dem Einzug der NPD in den Landtag? Da
mag sich der Geheimdienst nicht festlegen.
Und so glaubt die braune Rest-Fraktion –
jetzt nur noch neun statt zwölf Mann stark
NPD-Fraktion im sächsischen Landtag*: „Schläfer“ des Geheimdienstes? –, die Abtrünnigen könnten „Schläfer“ des
Verfassungsschutzes gewesen sein, und
NPD-Führungsgremien von V-Leuten der vielleicht nicht die letzten.
GEHEIMDIENSTE
Dienste nur so wimmelte. Rechte Vorleute wie der Chefideologe

Intensiver Es stelle sich nun die Frage, poltert


der sächsische Linkspartei-Innenexperte
André Hahn, wer hier eigentlich wen
Peter Marx wittern deshalb „einen Staats-
skandal“. Zwar habe es auch bei den zwölf
Aposteln einen Judas gegeben, sinniert

Kontakt überwache: die Abgeordneten die Behör-


den – oder umgekehrt. „Ein fader Bei-
geschmack“ begleite die Aktion – ein Um-
drehen von gewählten Volksvertretern sei
Marx, aber gleich mehrere? Das könne
doch kein Zufall sein.
Kaum war Schmidt ausgetreten, begann
eine Schlammschlacht. Die „Verräter“ sei-
Der Ausstieg dreier Rechts-
für den Verfassungsschutz tabu. „Ein noch en auf jeden Fall zu meiden und durch
extremisten aus der sächsischen so vernünftiger Zweck“, findet der Linke, „persönliche Abwendung abzustrafen“,
NPD-Fraktion bringt den „heiligt auch hier nicht alle Mittel.“ fordert Parteichef Udo Voigt. Bei der NPD
Verfassungsschutz in Erklärungsnot. Schon der Beginn des Schrumpfungs- liegen die Nerven blank, denn ihr Projekt,
prozesses bei den Rechten bringt die von Sachsen aus die Republik zu erobern,

E
igentlich ist es eine schöne Entwick- Behörde in Erklärungsnöte. Bislang hat der dürfte nun zum Rohrkrepierer werden.
lung für die Demokratie, aber in Verfassungsschutz beteuert, der erste Aus- Der Aderlass im rechten Lager kommt
dem schlichten Plattenbau am steiger Mirko Schmidt habe sich selbst di- vor allem der regierenden CDU zugute.
„Wilden Mann“ zu Dresden möchte man rekt beim Dienst gemeldet und sei darauf- Die Union hat durch die Austritte gegen-
jetzt am liebsten nicht mehr über die hin in ein Aussteigerprogramm aufgenom- über dem kleinen Koalitionspartner SPD
ganze Sache reden. Dabei würden viele men worden. Nie sei das Amt also von sich künftig etwas mehr Druckpotential, fehlt
sächsische Parlamentarier gern wissen, aus an Abgeordnete herangetreten. doch einer möglichen CDU-FDP-Mehrheit
welche Rolle das dort residierende Lan- Aber in dem Punkt schildert der Dienst im Parlament ohnehin nur ein Sitz. Weil
desamt für Verfassungsschutz bei dem die Aktion ein wenig unpräzise: In Wahr- sich durch die Austritte auch die Zusam-
spektakulären Ausstieg von gleich drei heit hat sich NPD-Landesvorstand Schmidt mensetzung der Ausschüsse im Landtag
NPD-Landtagsabgeordneten aus Partei nach eigener Erinnerung schon Mitte des verändert, haben CDU und FDP schon die
und Fraktion der Rechtsradikalen in Jahres schriftlich an den damaligen Dresd- Mehrheit in allen Fachausschüssen. Und
den letzten Tagen des alten Jahres ge- ner Innenminister und heutigen Kanzler- vielleicht geht ja noch mehr.
spielt hat. amtschef Thomas de Mai- NPD-Aussteiger Schön
Die Funkstille wird Sachsens Schlapp- zière (CDU) gewandt – schließt nicht mehr aus, in
hüte kaum vor bohrenden Nachfragen im nicht an den Geheimdienst. die sächsische CDU einzu-
Parlament retten. Seit nacheinander die Er habe die „Intrigen“ und treten – was CDU-General-
NPD-Parlamentarier Mirko Schmidt, Klaus den „selbstherrlichen Füh- sekretär Michael Kretsch-
Baier und Jürgen Schön innerhalb einer rungsstil“ nicht mehr ertra- mer noch entsetzt abwehrt:
Woche die braune Truppe verlassen ha- gen, so der Rechtsausleger. „Eine Aufnahme kommt
ben, wird die Rolle des Dienstes bei Eine Antwort vom Mi- überhaupt nicht in Frage.“
der Absetzaktion immer undurchsichtiger. nister erhielt Schmidt nach Die Aussteiger Schmidt
Sollten die Geheimen die Abgeordneten eigener Aussage nicht – und Baier könnten hinge-
bearbeitet haben, wäre dies der zweite dafür sei ein seltsamer Herr gen wohl weiter braune
Verfassungsschutzskandal rund um die vorbeigekommen, „um zu Ziele verfolgen. Schmidt
braune Truppe – im März 2003 war das überprüfen, ob ich es ernst hat sich die Namensrechte
bundesweite Verbot der Partei gescheitert, meine“. Drei Treffen habe für eine „Sächsische Volks-
GOETZ SCHLESER

weil sich herausstellte, dass es in den es bis zum Ausstieg gege- partei“ gesichert und will
ben. Der Mann habe sich diese mit Baier schon im
* Mit den nun Abtrünnigen Klaus Baier (2. v. l.), Jürgen
als Bediensteter des Innen- Februar gründen.
Schön (3. v. l.) und Mirko Schmidt (2. v. r.) im Oktober ministeriums vorgestellt – Kanzleramtschef de Maizière Dominik Cziesche,
2004 in Dresden. eine Legendierung, die Ge- Seltsamer Besuch Steffen Winter

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 35
HERBERT KNOSOWSKI / AP
Foodwatch-Aktion gegen Gentechnik vor einer McDonald’s-Filiale in Berlin*: „Bringt Burger in Bewegung“

LEBENSART

Die Schlacht der Schnecken


Slow Food und Foodwatch machen Schlagzeilen mit ihrem Kampf gegen gemeinsame Feinde:
Fast Food und Gammelware. Die beiden Vereine könnten unterschiedlicher nicht sein: hier
gemütliche Gourmets mit Toskana-Flair, dort kampferprobte PR-Profis mit Greenpeace-Methoden.

W
er die Veröffentlichungen des 1992, erfreut sich verstärkter Resonanz, seit eine neue Esskultur: Der Verein macht
Vereins Foodwatch liest, braucht Industriefleischskandale die Nation ver- Appetit auf vergessene oder bedrohte hei-
einen starken Magen. Gewarnt unsichern. Bei der Lektüre der Schriften mische Köstlichkeiten und ruft dazu auf,
wird da vor „Acrylamid in Pommes frites“, dieses Verbands aber läuft manchem Leser mutige Produzenten von Qualitätsware aus
vor „Kadavermehl im Schweinetrog“ und das Wasser im Munde zusammen. der jeweiligen Region zu unterstützen.
„Altöl im Hühnerfutter“. Geschwärmt wird da vom edlen Apfel- Und während in der Berliner Food-
Über „eklige Rindswurst“ beklagt sich saft der selten gewordenen Sorte „Finken- watch-Zentrale ein kleiner, effizienter Stab
ein Mitstreiter namens „Knolle“ im Inter- werder Herbstprinz“ oder von einer knallharter PR-Profis nach Greenpeace-
net-Forum des Vereins: „Bräsige, breiige „leckeren Kohlwurst (80% Wildschwein / Art operiert, wirken die ehrenamtlich täti-
Pampe in Wursthaut“; Grundstoff sei ver- 20% Hirsch) aus einem Jagdrevier im west- gen Slow-Food-Mitglieder wie eine sin-
mutlich „durch Massentierhaltung ver- lichen Mecklenburg“. Gerühmt wird die nesfrohe Runde beschwingter Gourmets.
seuchtes, BSE-haltiges, hormoniertes, ge- Geschmacksfülle der bedrohten Kartof- Anführer von Foodwatch ist der kampf-
quältes Zuchtfleisch“ – „Pfui Teufel“. felsorte „Linda“ oder die Kochkunst in erprobte Thilo Bode, 58 und promovier-
„Die Verbraucher werden legal vergif- einem bayerischen Dorfgasthof: „In der ter Ökonom. Zuvor hatte er ein Dutzend
tet“, schlägt der 2002 gegründete Verein Tafelspitzbrühe schwimmt ein riesiger, Jahre lang an der Spitze von Greenpeace
regelmäßig Alarm – und ruft auf zur „Raz- lockerer und wohlschmeckender Leber- Deutschland und Greenpeace International
zia im Supermarkt“, zu Protesten an die knödel, ein richtiges Prachtexemplar.“ gestanden und mit Millionenetats für me-
Adresse säumiger Ernährungspolitiker und, Die beiden ungleichen Vereine haben dienwirksame Eklats gesorgt. So demon-
natürlich, zu Spenden für „die Essensret- zwar gleichermaßen den Sünden der in- strierte Bode etwa auf dem Platz des
ter“, wie sich Foodwatch selbst nennt. Al- dustriellen Nahrungsmittelproduktion den Himmlischen Friedens in Peking, um gegen
lein in den vergangenen acht Wochen kam Kampf angesagt. Doch ihre Konzepte die chinesische Atompolitik zu protestieren
Foodwatch in fast hundert Fernsehsendun- könnten kaum unterschiedlicher sein. – eine Aktion mit weltweitem Echo.
gen und tausend Presseartikeln vor. Wo Foodwatch Unappetitliches enthüllt, Dagegen wirkt Ulrich Rosenbaum, 60,
Völlig anders, sehr viel leiser kommt Skandalfirmen anprangert und scharfe der Sprecher von Slow Food Deutschland,
eine zweite Organisation daher, die eben- Kontrollen fordert, wirbt Slow Food für eher wie ein rheinischer Bonvivant. Der
falls das Wort „Food“ im Namen führt: rundliche Weinkenner und Katzenfreund,
Auch Slow Food Deutschland, gegründet * Im April 2004. langjähriger Hauptstadt-Korrespondent der
36 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Deutschland

„Hamburger Morgenpost“, engagiert sich tion gefunden zu haben. Thema: „Echte sein als nur Treffpunkte ambitionierter
für die Deutsche Akademie für Kulina- Wahlfreiheit bei der Gentechnologie“. Leckerschmecker – was ganz im Sinne des
ristik, schätzt sein Sommerdomizil im ita- „Gemein! 1000 Menüs im Angebot, aber Altlinken Petrini ist: Ein Gericht allein mit
lienischen Montepulciano und schwärmt keinen Hamburger ohne Gentechnik!“, pro- dem Gaumen zu bewerten, predigt der ita-
auf seiner privaten Homepage www.- testiert seither eine von Foodwatch ausge- lienische Slow-Food-Guru, sei „dekadent“
toskanafraktion.de von dem „Geheimnis rufene „Burgerbewegung“ mit dem Slogan: und „dumm“. Ebenso wichtig wie der Ge-
der toskanischen Lebensart“. „Bringt Burger in Bewegung“. Möglichst schmack seien soziale sowie natur- und
Wappentier seines Vereins ist eine pos- viele der rund zwei Millionen deutschen umweltgerechte Erzeugung und Vermark-
sierliche Schnecke, die Tafelrunden heißen Kunden sollen sich nun per Unterschrift tung. Petrini: „Wenn einer dieser Punkte
Schneckentisch. „Für uns ist das Glas Wein dafür einsetzen, dass der Weltkonzern von fehlt, ist das kein Slow-Food-Produkt.“
halb voll und nicht halb leer“, beschreibt seinen Fleischfabrikanten „ab sofort den Die moderne Lebensmittelindustrie tra-
Rosenbaum den Unterschied zwischen Einsatz von Futter ohne gentechnisch ver- ge dazu bei, dass die meisten Menschen
Slow Food und Foodwatch. „Wir zeigen änderte Sorten“ verlangt. sich heute nur noch von einer Hand voll
das Positive, die dagegen sagen igitt, da ist Bereits in den achtziger Jahren hatte die Tier- und Pflanzenarten ernährten, klagt
was Ekliges.“ amerikanische Schnellimbisskette die Grün- Petrini. Mit einer Aktion namens „Arche
Dabei haben die beiden Food-Vereine dung von Slow Food ausgelöst: Als McDo- des Geschmacks“ will Slow Food daher
seit Anbeginn einen gemeinsamen Haupt- nald’s ein Fast-Food-Restaurant ausge- weltweit die bedrohten Nutztier- und
gegner: den Fast-Food-Multi McDonald’s, rechnet an der Spanischen Treppe in Rom Nutzpflanzenarten sowie alte regionale Le-
der weltweit mit dem kunterbunten Re- plante, riefen linke Journalisten zum Pro- bensmittel und Gerichte vor dem Verges-
klameclown Ronald McDonald wirbt. test. Aus dem Piemont stießen Freunde sen bewahren.
Als Greenpeace-Veteran Bode Food- der traditionellen italienischen Osteria um Unter den mehr als 750 „Arche-Passa-
watch ins Leben rief, nutzte er die Erfah- die Zeitschrift „La Gola“ (Maul, Genuss) gieren“ sind auch diverse deutsche Spezies
rungen des Greenpeace-Gründers David hinzu, und 1989 wurde unter dem Vorsitz und Spezialitäten, etwa Weine der Rebsor-
McTaggart, der in den siebziger Jahren mit des „Gola“-Mannes Carlo Petrini in Paris te „Blauer Frühburgunder“, die „Diephol-
waghalsigen Schiffsmanövern gegen Wal- der Slow-Food-Verband gegründet. zer Moorschnucke“ und der schmackhafte
fänger, Robbenjäger und Atomtester Fu- Petrini, nach wie vor Präsident der auf „Albschneck“, der sich in Schwabens
rore gemacht hatte. Für erfolgreiche Ak- 83 000 Mitglieder angewachsenen Weltbe- Weinbergen von Wildkräutern nährt.

DEL PUPPO / ROPI


EZRA KURTH

Slow-Food-Werbung für Qualitätswein in Deutschland, für regionale Käsesorten in Italien*: „Kurze Wege, langer Genuss“

tionen sei, so wusste Bode, dreierlei nötig: wegung, wurde mittlerweile vom US-Ma- Nicht nur für den Umgang mit
„Ein klares Ziel, ein eindeutiger, populärer gazin „Time“ zum „European Hero“ Schnucken und Schnecken gilt eine kurios
Konflikt mit einem geeigneten Gegner und gekürt. Das Stammland Italien, wo Slow anmutende Slow-Food-Regel: „Man muss
die Konstellation David gegen Goliath.“ Food in Bra eine private Feinschmecker- essen, was man retten will.“ Diesem Mot-
Die Methode David McTaggart half auch Universität unterhält, ist nach wie vor die to fühlt sich auch der Landwirt Eckart
gegen Ronald McDonald. Als der Fast- mitgliederstärkste Region. Auf dem zwei- Brandt verpflichtet, der in seinem „Boom-
Food-Konzern 2003 in Anzeigen versi- ten Platz liegt Deutschland, wo die Zahl garden“ an der niedersächsischen Oste
cherte, seine Burger-Brötchen enthielten der Aktivisten binnen eines Jahres von Hunderte alter Sorten wie den „Seester-
nur Weizen, Hefe, Wasser sowie Spuren rund 5000 auf 6000 gestiegen ist. müher Zitronenapfel“ gesammelt hat, die
von Salz und Zucker, nahm Foodwatch den Dem Vereinsmotto „Nur langsam kann er auf Wochenmärkten feilhält.
Kampf gegen Goliath auf. Bode: „Wenn man genießen“ fühlen sich Berühmthei- Über das Bemühen der Agrarmultis,
Sie den richtigen Griff ansetzen, werfen ten wie die Starköche Eckart Witzigmann „alle Lebensmittel aus Profitgier zu ver-
Sie einen scheinbar übermächtigen Geg- und Vincent Klink verpflichtet. Im Kampf einheitlichen“, schimpft auch Karsten El-
ner auf die Matte.“ gegen die Denaturierung der Nahrung, so lenberg, Kartoffelbauer aus dem Lüne-
Die Foodwatcher enthüllten, dass Mc- Klink, dürfe keine Zeit mehr verloren wer- burgischen. Er wirbt für die Renaissance
Donald’s gewisse Zusatzstoffe, sogenannte den – slow hin, slow her: Es sei „nicht fünf von so tollen Knollen wie dem „Weinber-
Emulgatoren, verschwiegen hatte. Der mil- vor zwölf, sondern Viertel vor drei“. ger Schlosskipfler“ oder dem „Blauen
lionenschwere Werbefeldzug wurde dar- Die rund 50 deutschen Regionalgrup- Schweden“.
aufhin gestoppt. Später musste die Firma – pen, „Convivien“ genannt, wollen mehr „Kurze Wege, langer Genuss“ – mit die-
peinlich, peinlich – auch noch 10 000 Euro sem Lehrsatz versuchen die Tafelritter in
Vertragsstrafe an Foodwatch zahlen. Nun * Links: mit Sprecher Ulrich Rosenbaum (M.) im Novem-
ihrem jeweiligen Convivium, die Chancen
war sich Bode vollends sicher, „endlich ber 2005 an der Ahr; rechts: in Bra, dem Sitz der Slow- für regionale Nischenprodukte zu erhöhen,
den richtigen Gegner“ für eine weitere Ak- Food-Zentrale. zum Beispiel mit Käsemärkten, Wildbör-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 37
sen und Privatbierverkostungen. Zugleich
kämpfen sie mit einer Empfehlungsliste für
die Unterstützung des guten alten deut-
schen Landgasthofs und werben mit „Slow

WOLFGANG WEIHS / PICTURE-ALLIANCE / DPA


Baking“ für die knackigen Krusten des
traditionellen Backhandwerks.
Verpönt ist bei den Fastfood-Gegnern
Zuchtlachs, den sie „Hamburger des Mee-
res“ nennen. Auch saisonfremde Angebo-

DOMINIK BUTZMANN
te gelten ihnen als degoutant. Es gebe,
pflichtet die deutsche Verbraucherzentra-
len-Chefin Edda Müller den Slow-Food-
Anhängern bei, schließlich kein „Men-
schenrecht auf Erdbeeren im Januar“. Slow-Food-Thema Kartoffelspezialitäten, Foodwatch-Chef Bode: Duell mit Goliath
Vehement wehren sich die Schnecken-
runden gegen den Verdacht, ihre Regeln BMW für 6000 Euro kaufen? Da merkt Slow Food. Die Behauptung etwa, Fleisch
taugten nur für Angehörige gehobener doch ein jeder, dass der Preis nicht stim- mit Bio-Siegel sei gesünder, könne we-
Stände, die genügend Zeit und Geld für men kann“, sagt der deutsche Vizevorsit- gen darin enthaltener, zwar erlaubter,
elitäres Essverhalten haben. „Der Pizza- zende Christopher Bodirsky. aber umstrittener Zusatzstoffe „überhaupt
bote braucht zur Lieferung mindestens Ebenfalls zu einem Beispiel vom Auto- nicht aufrechterhalten werden“, warnt
eine halbe Stunde. In dieser Zeit lässt sich markt greift Foodwatch-Chef Bode, um Bode.
auch schon phantasievoll und gesund ko- seine Forderung zu begründen, dass auch Die Slow-Food-Leute wiederum sind al-
chen“, versichert Hartmut Julius Meim- billige Lebensmittel einwandfrei sein müss- lein mit ökologischem Anbau irgendwel-
berg vom Convivium Mittleres Ruhrgebiet. ten: „Es kann doch nicht sein, dass beim cher Standardsorten nicht zufrieden zu
Teurer als Fast Food sei gute Ernährung Fiat Panda die Bremsen schlechter sind stellen. Obst und Gemüse aus Bio-Betrie-
schon gar nicht, sofern „weniger und bes- als beim Mercedes.“ Gesundheitliche Un- ben beispielsweise, sagt Olaf Ehrigsen vom
seres Fleisch“ und mehr Gemüse und Obst bedenklichkeit allein von teurer Ware zu Hamburger Convivium, „entspricht der
verwendet werde, empfiehlt der Verein. erwarten sei ein „unsozialer Ansatz“. Slow-Food-Philosophie nur dann, wenn es
Mit ihrer Geiz-ist-geil-Mentalität aller- Schließlich sei der Staat verpflichtet, das auch wirklich schmeckt“.
dings habe die Masse der Verbraucher Grundrecht aller Menschen auf Leben und Um schon die Jüngsten auf den Ge-
dazu beigetragen, dass die Qualität vieler körperliche Unversehrtheit zu achten. schmack zu bringen, hat Slow Food erste
Lebensmittel gesunken sei, argumentiert Blindes Vertrauen in Bio-Produkte in- Kinderkochclubs gegründet. So stellt Pro-
Slow Food. „Wer würde sich denn einen des propagieren weder Foodwatch noch fessor Armin Lewald vom Convivium Ol-
Deutschland

denburg dem örtlichen „KiKoKlub“ seine cher Druck die Politik dazu bewegen, Pes- würden Beitragszahler „scharenweise zu-
Uni-Lehrküche zur Verfügung, wo die tizid- und Nitratsteuern einzuführen und laufen“, erwies sich als „zu optimistisch“,
Kleinen im Dienste der Geschmackserzie- „das Verbraucherrecht vom Kopf auf die wie Bode einräumt.
hung Wackelpudding mit naturtrübem Füße zu stellen“. Ziel: mehr Transparenz Weil das anvisierte Ziel von 30 000 Mit-
Traubensaft zubereiten oder mit erlesenen bei Produktion und Vertrieb von Lebens- gliedern nicht einmal zu einem Drittel er-
Zutaten „Süße Salami“ backen. mitteln sowie Anprangerung von Skandal- reicht worden ist, kann der Manager, der
Gemeinsam mit Sterne-Koch Witzig- betrieben, damit jeder erfahren könne, wo bei Greenpeace über einen Etat von mehr
mann soll eine Stiftung für „gesunde die Ratten huschen. als 100 Millionen Euro verfügte, bei Food-
Schulverpflegung“ aufgebaut werden – ein Von dem Ziel, Ernährung als bedeut- watch alljährlich nur noch eine Million aus-
Vorhaben, das laut Rosenbaum „mit der sames Politikfeld zu etablieren, sieht geben.
zunehmenden Zahl von Ganztagsschulen sich Foodwatch noch weit entfernt. Das Ein Großteil des Geldes geht für den
an Bedeutung gewinnt“ und für das der „Sofortprogramm“, mit dem der neue Versuch drauf, neue Zahlmitglieder zu ge-
Verein auch mit Regierungshilfe rechnet; Bauern- und Verbraucherminister Horst winnen – auch mit Hilfe von Serienbriefen
ein entsprechender Punkt hat Eingang in Seehofer (CSU) auf die Fleischskandale und -anrufen oder Passantenansprache in
die Koalitionsvereinbarung gefunden. reagierte, qualifizierte Bode im SPIEGEL- Fußgängerzonen. „Auch wenn mir dabei
Immer wieder mal aber sieht auch Slow Interview (50/2005) umgehend als „er- manchmal etwas unwohl ist – bei uns kom-
Food Anlass, Politiker zur Schnecke zu ma- bärmlich“; „nicht mal Trippelschritte“ zu men alle Instrumente des klassischen Di-
chen. So begnügen sich die Mitglieder besserem Verbraucherschutz unternehme rektmarketing zum Einsatz“, erklärte Bode
nicht damit, Rebstock-Patenschaften für der Minister. im „Harvard Businessmanager“.
Muster-Weinberge zu übernehmen – sie Auf eine Wende hoffen auch die tradi- Nicht gerade erleichtert wird der Ver-
äußern derzeit, Seite an Seite mit den Win- tionellen Verbraucherzentralen. Ihr Spre- such, Foodwatch zu stabilisieren, durch Bo-
zern, auch lautstark Protest gegen das cher Christian Fronczak sieht in den neu- des früheren Verein: Greenpeace stürzt sich
Brüsseler Weinhandelsabkommen mit den en Mitstreitern – nicht zuletzt dank der mehr denn je auf Food-Probleme; die Sor-
USA, das undeklarierten „Industriewein“ „Kampagnenfähigkeit“ von Foodwatch – ge um die Nahrung scheint zeitweise tradi-
in die EU fluten lassen werde. eine willkommene Ergänzung und Ver- tionelle Schwerpunkte wie Treibhausgase
Dennoch hat Politik für viele Slow- stärkung. Allerdings bleibe abzuwarten, ob und Tropenabholzung zu überlagern.
Food-Anhänger eher Beilagencharakter. sich Foodwatch auf Dauer bewähre. Jüngste Greenpeace-Veröffentlichungen
Für die Foodwatch-Aktivisten dagegen Zurzeit plagen den Verein Finanzpro- greifen exakt jene Themen auf, die auch
zählt die Lobby-Arbeit in der Hauptstadt bleme. Zwar haben Gönner wie der Ex-Pa- den Konkurrenzverband bewegen: „Pesti-
zu den zentralen Aufgaben. „Robben sind pierfabrikant Clemens Haindl (100 000 zide aus dem Supermarkt“, „Genmais auf
hierzulande besser geschützt als Verbrau- Euro) und Schoko-Hersteller Alfred Ritter dem Vormarsch“, „Geheimniskrämerei um
cher“, beschreibt Ex-Robbenschützer Bode (160 000 Euro) Startkapital beigesteuert. Lebensmittelüberwachung“.
die derzeitige Lage. Daher müsse öffentli- Doch die Erwartung, den Foodwatchern Jochen Bölsche
Deutschland

• Birgit Hogefeld, 49. Erst im Jahr 1993


JUSTIZ
festgenommen, hat sie nach der Pro-

Rache oder gnose der Anstaltsleitung des Gefäng-


nisses in Frankfurt-Preungesheim noch
mindestens weitere acht Jahre Haft vor

Gerechtigkeit sich.
• Eva Haule, 51. Sie kann immerhin seit
dem vergangenen Jahr in Berlin als Frei-
gängerin tagsüber eine
Seit zehn Jahren führt der
Fotoschule besuchen.
Ex-Terrorist Knut Folkerts ein

JÖRG-PETER MAUCHER (L.); MARILY STROUX (R.)


Und nun soll Folkerts,
normales Leben. Jetzt soll er der bereits fast 20 Jahre
bis zu 20 weitere Jahre in Haft. gesessen hat, noch ein-
mal bis zu 20 Jahre in

I
m niederländischen Utrecht erfährt das Haft?
Leben des Knut Folkerts offenbar be- „Ich bedauere, dass
sondere Wendungen. „Pfeifend“, be- Ihr Mann durch mich
richtet Joke Kranenburg, 53, hätten Pas- umgebracht wurde“,
santen diesen „Rotzak“, diesen „Scheiß- richtete Knut Folkerts
kerl“ eines Tages durch die Straßen laufen im Sommer der Witwe
sehen, das habe sie zornig gemacht. „Wer Terrorist Folkerts (1980, 2000): Von der RAF distanziert über das niederländi-
jemandem das Leben nimmt, der muss sche Fernsehen aus,
auch dafür büßen.“ aber eine weitere Inhaftierung finde er
Knut Folkerts, heute 54 Jahre und ehe- „nicht gerechtfertigt“.
maliger RAF-Terrorist, habe ihr „Leben Im Gefängnis hatte sich Folkerts für eine
ruiniert“, sagt Joke Kranenburg. Im Sep- Deeskalation des bewaffneten Kampfes
tember 1977 hatte Folkerts während der stark gemacht. Dann distanzierte sich der
Geiselhaft des Arbeitgeberpräsidenten Geläuterte von der RAF und ihrer mörde-
Hanns Martin Schleyer den 46-jährigen Po- rischen Politik. Hardliner der Terrortruppe
lizisten Arie Kranenburg erschossen. Die wie Mohnhaupt und Klar brachen deshalb
Polizei hatte Folkerts gestellt, als er eine mit ihm. Das Vollstreckungsersuchen der
Autovermietung aufsuchte. Niederländer hält Anwältin Halm darum

ANP
Joke Kranenburg, beim Tode ihres Man- für „völlig absurd und unmenschlich“.
nes hochschwanger, hat nie wieder gehei- Beerdigung des Polizisten Kranenburg (1977) Wandlung wie Entschuldigung empfin-
ratet, ihre beiden Söhne allein großgezo- „Dafür hat er noch keinen Tag gesessen“ det Joke Kranenburg dagegen als Oppor-
gen. Folkerts war in Utrecht zu 20 Jahren tunismus: „Sonst hätte er es mir ins Ge-
Haft verurteilt, dann aber an die Bundes- hört gerechtes Strafen auf, wo fängt Ra- sicht gesagt und nicht in eine Kamera.“
republik ausgeliefert worden. Hier war er che an? Auch heute noch sieht sie sich als Opfer,
1980 wegen seiner Beteiligung an der Er- Der sogenannte „Deutsche Herbst“ ist von einem Terroristen in die Isolation ge-
mordung von Generalbundesanwalt Sieg- bald 30 Jahre und eine friedliche Revolu- trieben. „Und dafür hat er noch keinen
fried Buback zu lebenslanger Freiheits- tion her. Die Terrorgefahr kommt inzwi- Tag im Gefängnis gesessen.“
strafe verurteilt, 1995 dann unter Bewäh- schen nicht mehr von links, sondern von „Rechtlich ist es einwandfrei, dass je-
rungsauflagen freigelassen worden. Als sie religiösen Fundamentalisten. Die meisten mand zwei Strafen von zwei unterschiedli-
von Folkerts’ Besuch in Utrecht erfahren Mörder der siebziger Jahre sind selbst in chen Gerichten gesondert absitzt“, be-
habe, sagt die Witwe, habe sie handeln Fällen besonders schwerer Schuld heute stätigt der Stuttgarter Strafverteidiger und
müssen: „Er lebt in Glück und Freiheit, wieder frei. Anders ist es bei Vizepräsident des Deutschen Anwaltver-
das ist für mich unerträglich.“ • Brigitte Mohnhaupt, 56, die mittlerwei- eins Georg Prasser. Die juristische Proble-
Entschieden wiederholte sie im alten Jahr le insgesamt seit mehr als 27 Jahren in matik, erläutert Rolf Hannich vom Deut-
ihre seit 1995 vorgetragene Forderung, das bundesdeutschen Gefängnissen sitzt. schen Richterbund, ergebe sich daraus,
Den Haager Justizministerium solle von den Ihre Entlassung ist nicht in Sicht. dass es sich hier um zwei extrem lange
Deutschen verlangen, dass der Mörder ihres • Christian Klar, 53. Das Oberlandesge- Freiheitsstrafen handle.
Mannes nun auch noch die in Holland ver- richt Stuttgart legte 1998 fest, dass seine Daher hält es Hans-Jörg Albrecht, Di-
hängten 20 Jahre abzusitzen habe. Die Bit- Entlassung auf Bewährung frühestens rektor des Freiburger Max-Planck-Instituts
te um Vollstreckung wurde am 13. Juli ver- 2008 möglich ist. Im Bundespräsidialamt für ausländisches und internationales Straf-
gangenen Jahres abgeschickt; am 15. Sep- liegt seit zwei Jahren sein Gnadenge- recht, „aus Gründen der Gerechtigkeit“
tember stellte die Staatsanwaltschaft Ham- such, das bisher nicht entschieden ist. für geboten, den ehemaligen Terroristen
burg, wo Folkerts nach Angaben seiner An-
wältin Ulrike Halm seit seiner Entlassung
„arbeitet und ein ganz normales Leben
führt“, bei der Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts den Antrag, das Ersuchen
der Niederländer zu prüfen.
Im Frühjahr wollen die Richter „in
diesem exzeptionellen Fall“ (Hamburgs
ULLSTEIN BILD / DPA

Justizsenator Roger Kusch) mit ihrem


THOMAS GRIMM

Votum jene Frage beantworten, die sich


jetzt neu im Falle Folkerts, aber seit ge-
raumer Zeit schon angesichts der vier noch
AP

einsitzenden RAF-Terroristen stellt: Wo Inhaftierte RAF-Terroristen Klar, Mohnhaupt, Hogefeld, Haule: Besonders schwere Schuld

40 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
nicht noch einmal zu inhaftieren: „Wenn Stahlstützen und Stahlbetondecken – sie
H AU P T S TA D T
Folkerts hier in Deutschland wegen aller ist vergleichsweise einfach. Der wahre Ab-
Delikte aus dem Jahre 1977 verurteilt wor-
den wäre, hätte höchstwahrscheinlich eine
einheitliche lebenslange Freiheitsstrafe ge- Ballast der rissfeind lebt im Untergrund. Er heißt
„Schwarze Wanne“ und ist die Ruhe selbst.
In bis zu acht Meter Tiefe hält eine rie-
bildet werden können.“ Und die hätte er
jetzt schon lange abgesessen. „Der Betref-
fende“, sagt Albrecht, „darf nicht schlech-
ter gestellt werden, nur weil die Straftaten
Republik sige Stahlbetonwanne als Fundament das
Grundwasser ab. Ohne Palast würde dieser
174 Meter lange Betonsarg aber nach oben
gedrückt. Mögliche Folge: Der Grundwas-
15 Jahre nach Ende der DDR
getrennt abgeurteilt wurden.“ Überdies sei serspiegel könnte sinken, das Holzfunda-
eine Strafe von insgesamt bis zu 37 Jahren beginnt der Abriss des Palastes ment der Nachbargebäude womöglich fau-
nicht zu vereinbaren mit den Vorgaben des der Republik in Berlin. len. Im schlimmsten Fall könnten die Bau-
Bundesverfassungsgerichts. Das habe aus Die Demontage des Prestigebaus ten gar absacken.
Gründen der Menschenwürde festgelegt, wird teuer und riskant. Die Wannenfrage wurde erst richtig
jedem Täter sei eine Perspektive zu geben. als Problem erkannt, nachdem eine Grup-

S
Somit ziehe selbst eine besonders schwere eit dem Silvestertag sind die Ostal- pe ehemaliger Palast-Generalplaner, die
Schuld in der Regel eine Haftzeit von ma- giker der Hauptstadt heimatlos. In sich heute selbstironisch „Ruinen-Kolleg“
ximal 25 Jahren nach sich. „Erichs Lampenladen“, dem ehema- nennt, davor warnte, an der gigantischen
Entscheidend für das Votum der Ham- ligen Palast der Republik, gingen die Lich- Bodenplatte zu rütteln. Die zuständigen
burger Richter wird – neben der Beant- ter aus – damit der schon weitgehend ent- Behörden wollten zunächst den Hohlraum
wortung der Frage, ob nicht doch schon al- kernte DDR-Prestigebau abgerissen wer- einfach mit Bauschutt füllen und anschlie-
les längst verjährt ist – sein, wie sie einen den kann. Noch ist unklar, ob und wann an ßend begrünen. Damit aber wäre mitten
Notenaustausch zwischen den Niederlan- gleicher Stelle das historische Stadtschloss auf dem Schlossplatz eine Art Hochbeet
den und der Bundesrepublik bewerten. Da- als Humboldt-Forum wiederaufersteht – entstanden: Aus Erichs Lampenladen wäre
nach erfolgte die Auslieferung zunächst nur aber mit der Demontage des Platzhalters Honnis Hünengrab mit womöglich ähnli-
für den Prozess wegen des Mordes an Bu- soll noch im Januar begonnen werden. cher Symbolkraft geworden.
back. In einer Note vom 2. Dezember 1980 Nun soll die Wanne zwar
erklärte die niederländische Regierung bleiben, aber keiner darf sie se-
dann, dass es „mehr im Sinne einer guten hen. Ihre aus dem Boden ra-
Rechtspflege“ sei, nicht auf einer Rücklie- genden Ränder werden abge-
ferung Folkerts’ zu bestehen, zumal seine hobelt; der Rest wird mit ei-
Rückkehr in die freie Gesellschaft dann nem Sand-Wasser-Gemisch
„wahrscheinlich viel weiter in der Zukunft aufgefüllt. Dann soll mittels
liegen würde“. Die deutsche Seite wertete „extensiver Begrünung“ Gras
das als klaren Verzicht. Die Niederländer über die Sache wachsen.
aber bestehen heute darauf, sich stets „das „Noch eine Hundewiese in der

MARC VOLK / AGENTUR FOCUS


Recht auf Vollstreckung der Strafe aus- öden Mitte Berlins“, ätzt die
drücklich vorbehalten“ zu haben. einstige grüne Kultursenatorin
Nachdem sie über Folkerts’ Entlassung Adrienne Goehler.
im Jahre 1995 informiert worden war und Doch auch die Wiesenvari-
2000 erfuhr, dass jetzt auch die Bewährung ante birgt Probleme. Für eine
abgelaufen war, schrieb die niederländi- blühende Landschaft werden
sche Justiz im Oktober 2001 Folkerts in- Palast der Republik: Hundewiese statt Hünengrab 200 000 Tonnen Sand benötigt.
ternational zur Fahndung aus. Das entspricht mehreren tau-
Bestätigt das Hamburger Landgericht Die Palast-Freunde, die sich seit 15 Jah- send Lkw-Ladungen, auch der Bauschutt
jetzt die Zulässigkeit des Vollstreckungs- ren aus vielen Gründen gegen einen Abriss muss abgefahren werden. Der massive Ein-
ersuchens, muss die Hamburger Justiz im gewehrt hatten, haben nun nur noch ei- satz von Brummis würde den Verkehr in
Einvernehmen mit dem Bundesjustizminis- nen Verbündeten: den Palast selbst. Zer- Berlins Mitte über Monate stauen. Deshalb
terium entscheiden, ob sie Folkerts dann zaust und störrisch hockt er in der Mitte wird eigens für die Abbruchmission auf
auch tatsächlich in Haft nimmt. „Wenn er Berlins und stemmt sich mit 52 000 Ton- der Spree ein neuer Anleger gebaut. „80
Glück hat, lehnen die das ab“, sagt Prasser. nen Beton und Stein, 20 000 Tonnen Stahl Prozent des Lastverkehrs werden wir auf
Sollte Folkerts durch das Drängen aus und 500 Tonnen Glas gegen sein Ende. dem Wasser abwickeln“, sagt Manuela Da-
den Niederlanden tatsächlich inhaftiert Diese Masse hat Macht. Sie zu beseitigen mianakis von der Senatsverwaltung für
werden, wäre das die Folge eines für ihn wird teuer – und kompliziert. Stadtentwicklung. Der Ballast der Repu-
verheerenden Irrtums. Der „Rotzak“, den Sprengung oder Abrissbirnen kommen blik verschwindet per Schiff.
die Passanten in Utrecht gesehen haben nicht in Frage. Im sumpfigen Untergrund Dass sich so die mindestens 20 Millionen
wollen, war nicht Knut Folkerts – sondern der Museumsinsel an der Spree stehen sen- Euro teure Demontage mit Risiken und
ein Doppelgänger. sible Nachbarn. Der Berliner Dom und die Nebenwirkungen bis in das Jahr 2007 hin-
Folkerts hatte durch einen Zufall erfah- Museen ringsherum stützen sich auf mäch- zieht, stört niemanden. Die Berliner wol-
ren, dass die Niederländer ihn suchen. Bei tige Holzpfähle. Das auf Sand und Wasser len, ähnlich wie früher am Potsdamer
einem Türkei-Urlaub war er am Flughafen gebaute Herz der Hauptstadt, so die Be- Platz, Bagger und Kräne als Attraktion ver-
festgehalten worden. Nur weil sich sein fürchtung, könnte aus dem Takt geraten, kaufen. „Wir rechnen mit erheblichem
Name auf der Fahndungsliste nicht exakt wenn dem morbiden Palazzo die stähler- Baustellentourismus“, sagt Damianakis.
mit dem in seinen Papieren deckte, konnte nen Knochen gebrochen werden. Vor- Eine Webcam wird den späten Sieg über
er schließlich weiterreisen. Knut Folkerts sichtshalber werden die umliegenden Ge- den Sozialismus sogar weltweit live über-
hatte daraufhin beschlossen, Deutschland bäude mit Schwingungsmessern ausgestat- tragen – für die ehemaligen Palast-Planer
sicherheitshalber nicht mehr zu verlassen. tet, die im Ernstfall Alarm geben. im Ruinen-Kolleg eine „öffentliche Hin-
Caroline Schmidt, Michael Sontheimer, Gefährlich werden kann weniger die richtung per Internet“. Markus Deggerich,
Gerald Traufetter, Markus Verbeet Demontage der oberen Geschosse aus Michael Sontheimer

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 41
Aufmarsch der Parteijugend in Ost-Berlin (1950), Volksaufstand vom 17. Juni 1953: Ein Betriebsunfall der Geschichte, wirklich gewollt nur

die Kommunisten stehen in der Sowje- Das Ergebnis ist die Diktatur Walter
tischen Besatzungszone vor ähnlichen Ulbrichts in der DDR. Der SPIEGEL schil-
Zerstörte Städte, Reparationsforderun- Problemen wie die Demokraten im dert in einer Serie über die Gründer-
gen der Sieger, von den National- Westen. Doch die Einheitssozialisten jahre die Wege der Deutschen nach dem
sozialisten indoktrinierte Menschen – importieren das Moskauer Modell. Zusammenbruch des „Dritten Reiches“.

Vorwärts im Rückwärtsgang
Die DDR sollte das bessere Deutschland werden – stattdessen fanden sich die Ostdeutschen in der
nächsten Diktatur wieder. Während die Bürger ihr wegliefen, träumte die SED davon, die
Bundesrepublik einzuholen. Doch mit dem Mauerbau 1961 war das sozialistische Experiment am Ende.

D
er Sozialismus auf deutschem Bo- auf deutschem Boden“ gedacht, der sich genormten Kleinwohnungen des sozialen
den ist Anfang 1952 als riesige Bau- Deutsche Demokratische Republik nennt Wohnungsbaus der „BRD“ sollen in Zu-
stelle zu besichtigen, eine Straßen- und die westdeutsche Bundesrepublik bald kunft die Werktätigen Deutschlands be-
trasse, fast zwei Kilometer lang, 90 Meter überflüssig machen will. „Die Stalinallee“, herbergen.
breit, vierspurig und sieben Jahre nach verkündet SED-Generalsekretär Walter Ul- Dafür leisten Baubrigaden Sonder-
Kriegsende noch immer ein Trümmerfeld. bricht selbstbewusst, „ist der Grundstein schichten, an „Aufbausonntagen der FDJ“
Im April 1945 waren die Panzer der Roten des Aufbaus des Sozialismus.“ packen Jugendliche mit an, und anlässlich
Armee über die Frankfurter Allee ins Herz Im Sommer 1952 machen die Berliner des „Internationalen Frauentags“ klopfen
des Nazi-Reichs gerollt, nun soll an der ihre Sonntagsausflüge so statt ins Grüne Genossinnen Steine für die Stalinallee. Bin-
„Stalinallee“, wie sie die ostdeutschen Ge- gern zum Baugelände zwischen Strausber- nen eines Jahres sind 1000 Wohnungen
folgsleute des sowjetischen Diktators in- ger Platz und Frankfurter Tor. Hier lässt bezugsfertig, die ersten Mieter ziehen im
zwischen getauft haben, die „erste sozia- sich bestaunen, wie der Sozialismus in ra- Januar 1953 in den Block C-Süd ein. Von
listische Straße in Berlin“ entstehen. santem Tempo in die Höhe wächst: Stuck- einem in der DDR nie wieder erreichten
Der Bau der Prachtmeile ist als Start- schwere „Arbeiterpaläste“ mit Zentralhei- Enthusiasmus schwärmen noch Jahrzehnte
schuss für den Erfolgslauf des 1949 gegrün- zung und Müllschlucker, nicht die Hinter- später Zeitzeugen wie der Städteplaner
deten „ersten Arbeiter-und-Bauern-Staats hof-Wohnklos der Vorkriegszeit oder die Bruno Flierl, Vater des heutigen Berliner
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Serie

ULLSTEIN BILDERDIENST
von einer Hand voll deutscher Kommunisten

Linkspartei-Kultursenators und damals jun- zunächst viele von einem „sozialistischen“ und gerechter Strafe harren kleine und
ger Architekt. Deutschland geträumt. große Nazis hüben wie drüben.
Es gibt solche Momente, in denen der Nach dem Höllensturz unter den Nazis Die Lösungen allerdings, auf die Ost und
Sozialismus tatsächlich in der Lage zu sein muss sich das zerstörte und zutiefst kom- West jeweils setzen, könnten unterschied-
scheint, Berge zu versetzen. Allzu häufig promittierte Land von Grund auf neu er- licher kaum sein. Die Bundesrepublik ver-
sind sie nicht. Die DDR ist ein Betriebsun- finden, und das Weltbild der Marxisten traut für den Wiederaufbau profitorientier-
fall der Geschichte, ein Produkt aus Fa- bedient die doppelte Sehnsucht nach Er- ten Privatunternehmern, die SED setzt auf
schismus und Kaltem Krieg; immer um sei- klärungen für das Unfassbare und nach ei- staatliche Kommandowirtschaft: Schon 1950
ne Daseinsberechtigung bangend, wirklich nem Wegweiser aus dem Nichts. „Wie ein sind 75 Prozent der DDR-Industrieproduk-
gewollt eigentlich nur von einer Hand voll trockener Schwamm saugten wir ihre ein- tion „Volkseigentum“. SED-Generalsekretär
deutscher Kommunisten. Dabei hatten un- fachen und schlüssigen Wahrheiten auf“, Ulbricht lobpreist die staatliche Wirtschafts-
mittelbar nach dem verlorenen Weltkrieg erinnert sich Günter Schabowski, bei lenkung: „Wenn ich durch die Straßen ge-
Kriegsende 16 Jahre alt, der 1952 in die he / und etwas Neues Schönes sehe / dann
SED eintritt und 1984 in das Politbüro weise ich stolz darauf: Das hat mein Freund
aufrückt. getan / mein Freund, der Plan.“
Dass die Deutschen eine gemeinsame Westlich der Elbe treibt bald der Kon-
STIFTUNG HAUS DER GESCHICHTE DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND, BONN / CAMPUS VERLAG

Nachkriegsordnung bekommen, verhindert sument mit dem Kauf von Kühlschränken


der heraufziehende Wettstreit der Syste- und Kabinenrollern die Konjunktur an, im
me. „Lieber das halbe Deutschland ganz, Osten soll dagegen der massive Ausbau
als das ganze Deutschland halb“ – die Ma- der Schwerindustrie Wachstum bringen.
xime von Kanzler Konrad Adenauer gilt Gigantische Anlagen wie das Eisenhütten-
für die sowjetischen Besatzer wie für Bri- kombinat Ost in Stalinstadt, dem heutigen
ten und Amerikaner. Eisenhüttenstadt, entstehen – die „tausend
So entstehen 1949 zwei deutsche Staats- kleinen Dinge“ dagegen, wie die SED et-
gebilde – und damit zwei Formen des Um- was herablassend Alltagsnotwendigkeiten
gangs mit der nationalen Katastrophe. nennt, müssen warten. „So wie wir heute
Die Probleme unterscheiden sich nicht arbeiten, wird morgen unser Leben sein“,
grundsätzlich. Die Industriezentren Sach- lautet eine verbreitete Parole.
sens und Thüringens liegen genauso in Auch die Gesellschaftsentwürfe sind
Schutt und Asche wie das Ruhrgebiet, der konträr. Die Bundesrepublik wirft unter
Strom der Flüchtlinge und Vertriebenen dem sanften Druck der Westalliierten die
ergießt sich ebenso nach Mecklenburg alte deutsche Scheu vor Parteienzank
wie nach Schleswig-Holstein. Hunger und und parlamentarischen „Schwatzbuden“
Wohnungsnot herrschen in den Ruinen ab und organisiert sich im Schutz der Su-
Berlins und Dresdens nicht minder als in permacht USA als pluralistische und re-
den rußgeschwärzten Steinwüsten von präsentative Demokratie.
München und Köln. Die SED will die deutsche Gesellschaft
SED-Chef Ulbricht als Propagandaheld (1952) Auch lastet auf Ost- wie Westdeutschen von Grund auf umkrempeln. In der Theo-
„Mein Freund, der Plan“ gleichermaßen die Schande des Holocaust, rie sollen Arbeiter und Bauern der Bour-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 43
geoisie die Macht im Staat entreißen, in
der Praxis will eine marxistisch-leninisti-
sche Kaderpartei die Führung in einer bis
ins Letzte durchorganisierten Gesellschaft
übernehmen. Die Legitimation liefern
nicht freie Wahlen, sondern eine vorgeb-
liche Logik der Geschichte, dazu ein be-
kenntnishafter Antifaschismus, für die
DDR „eine Art Ersatzpatriotismus“, so der
Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.
Als die Revolution von oben in Ost-
deutschland beginnt, wird in den brennen-
den Ruinen der deutschen Hauptstadt noch
gekämpft. Am 30. April 1945, dem Tag von
Hitlers Freitod, betritt der 51-jährige Be-
rufsrevolutionär Walter Ulbricht, der aus
Leipzig stammt und gelernter Tischler ist,
nach zwölf Jahren Emigration wieder deut-
schen Boden. Auftrag der „Gruppe Ul-
bricht“, zu der noch neun handverlesene
Exilkader gehören: die besiegten Deutschen
für den Sozialismus zu gewinnen. „Ganz
Deutschland“, fordert der Moskauer Dikta-
tor Josef Stalin, „muss unser werden, das
heißt sowjetisch, kommunistisch.“
In der Sowjetischen Besatzungszone, kurz
SBZ, kann sich die Lehre von Marx und En-
gels auf die Bajonette der Roten Armee stüt-
zen. Um ihr in den Westzonen an die Macht
zu verhelfen – und Stalins Einfluss bis an den
Rhein auszudehnen –, sollen die deutschen DDR-Urlauber (1960 in Warnemünde): Bis ins Letzte durchorganisierte Gesellschaft
Kommunisten sich „maskieren“ und im
„Zickzack“ vorgehen, fordert der Kreml- Friedrichstraße KPD-Chef Wilhelm Pieck Hand machen Sowjets und Ulbrichts Leute
Herr. „Es muss demokratisch aussehen, aber und Otto Grotewohl, Vorsitzender der Ost- die ostdeutschen Sozialdemokraten gefü-
wir müssen alles in der Hand behalten“, for- SPD, zu jenem historischen Handschlag, gig. Gegner der Fusion erhalten Redeverbot
muliert es Ulbricht handfester. der fortan das Wappen der Sozialistischen und werden eingeschüchtert, viele fliehen
So bekennt sich die KPD zunächst zu ei- Einheitspartei Deutschlands ziert. Walter aus Angst vor Verhaftung. Als Konzession
ner „parlamentarisch-demokratischen Re- Ulbricht beschwört vor den Delegierten des an die Zonen-SPD werden alle SED-Spit-
publik mit allen demokratischen Rechten Vereinigungsparteitags die „Neugeburt der zenjobs paritätisch besetzt. Das Vertrauen
und Freiheiten für das Volk“ und verkün- deutschen Arbeiterbewegung“, dann stim- Moskaus besitzen allerdings weiterhin nur
det, dass „die Auffassung, Deutschland das men alle voller Inbrunst das alte Kampflied Ulbricht und Pieck.
Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch“ sei. an: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Doch die absolute Mehrheit kann auch
Eine Einheitsfront aus Kommunisten, So- Ein Zusammenschluss von KPD und die Einheitspartei nicht einfahren: Die SED
zialdemokraten und bürgerlichen Parteien SPD erscheint vielen als logische Konse- erhält am 20. Oktober 1946 im Mittel nur
soll Pluralismus vorgaukeln – Entscheidun- quenz aus dem fatalen Bruderkampf in- 47,6 Prozent. Es sind die letzten halbwegs
gen haben „frei von kleinli- nerhalb der deutschen Ar- freien Wahlen in Ostdeutschland.
chem Hader eigensüchtiger beiterbewegung, der Hitler In der SED ist es mit taktischer Rück-
Interessengruppen“ zu fal- Es gibt Momente, mit ermöglicht hatte. Erste sichtnahme nun vorbei, so gut wie alle Ex-
len. Avancen für eine Fusion ge- SPDler verschwinden innerhalb weniger
Praktisch heißt das: Wer
in denen der hen von den Sozialdemokra- Jahre aus der Parteiführung, nicht wenige
gegen die vorgegebene Linie Sozialismus Ber- ten aus – Ulbricht dagegen in sibirische Arbeitslager.
opponiert, bekommt ein Pro- ge zu versetzen will zunächst die KPD zur Dass es mit einem Gesamt-Deutschland
blem – mehrere Vorsitzende scheint. Häufig Massenpartei ausbauen und unter sozialistischem Vorzeichen nichts wird,
der neugegründeten CDU reagiert hinhaltend. zeichnet sich 1947/48 immer deutlicher ab.
wie auch Spitzenfunktionäre sind sie nicht. Dann aber bekommen die Stalin lehnt amerikanische Aufbauhilfe für
der liberaldemokratischen Kommunisten bei der Wahl Osteuropa unter dem Marshall-Plan aus
LDPD werden nach Wider- in Österreich Ende 1945 nur Furcht vor dem damit verbundenen US-Ein-
worten aus ihren Ämtern entfernt. Soge- desaströse 5,4 Prozent der Stimmen. Um fluss ab – die Anti-Hitler-Koalition zerfällt
nannte Massenorganisationen wie die Freie die „Gefahr Österreich“ zu bannen, erklärt endgültig, der Kalte Krieg beginnt.
Deutsche Jugend und Retortengründungen Stalin die Vereinigung von SPD und KPD Der sowjetische Diktator zögert aller-
wie die Bauernpartei (DBD) und die Natio- zur eiligen Terminsache: Bis 1. Mai 1946 hat dings, einen ostdeutschen Staat auszuru-
naldemokraten (NDPD), die mit Ex-KPD- sie unter Dach und Fach zu sein – bei den fen. Die SED-Genossen lässt er zwar ab
Funktionären an der Spitze Landwirte und Landtagswahlen in der SBZ im Oktober soll Oktober 1948 Vorbereitungen treffen.
Altnazis einbinden sollen, drängen die bür- zusammen der Sieg errungen werden. Doch immer noch hofft er, seine Macht
gerlichen Parteien noch weiter ab. Die wiedergewonnene Einheit der Ar- auf ganz Deutschland ausweiten zu kön-
Die Sozialdemokratie wird durch eine beiterklasse ist schließlich ein „Produkt aus nen. Stalin will nicht vorschnell Fakten
besonders feste Umarmung erdrosselt. massiver Einschüchterung und opportunis- schaffen; er hofft, dass die Vorbereitungen
Am 21. April 1946 erheben sich auf der tischer Anpassung“, wie der Historiker zur Gründung der Bundesrepublik ihm die
Bühne des Admiralpalasts in der Berliner Heinrich August Winkler schreibt. Hand in Deutschen in die Arme treiben.
44 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Serie

kommen aus Pflichtgefühl, wie der Pfarrer


Horst Kasner, Vater der heutigen Bundes-
kanzlerin Angela Merkel, den seine Kirche
1954 von Hamburg nach Brandenburg
schickt, andere aus familiären Gründen
oder weil sie ein Haus geerbt haben.
Intellektuelle und junge westdeutsche
Linke, die sich in der Adenauer-Republik
am laxen Umgang mit der braunen Vergan-
genheit und dem strammen Antikommu-
nismus reiben, zieht die Eigenwerbung der
DDR als „antifaschistischer“, „fortschritt-
licher“ und „friedliebender“ Staat an. Wolf
Biermann etwa, Sohn eines in Auschwitz
ermordeten kommunistischen Hafenarbei-
ters, geht 1953 als 17-Jähriger von Hamburg
nach Schwerin; der heutige Linkspartei-Vor-
sitzende Lothar Bisky kommt 1959 mit 18
Jahren aus Schleswig-Holstein in die DDR.
Literaten wie Peter Hacks oder Adolf End-
ler kehren der Bundesrepublik ebenfalls
den Rücken Richtung Osten.
Für das selbsternannte „neue Deutsch-
land“ entscheiden sich auch viele Exilier-
te. Intellektuelle wie der Regisseur Bertolt

FOTOS: HARALD LANGE


Brecht, der Philosoph Ernst Bloch oder
der Romancier Arnold Zweig zögern zwar
lange, denn dass sich der Kommunismus
unter Stalin die Hände schmutzig gemacht
hat, ist ihnen nicht entgangen. Doch letzt-
DDR-Stahlproduktion (1960 in Riesa): Wachstum durch Schwerindustrie lich lassen sie sich von der Vorstellung
locken, das Regime östlich der Elbe stehe
Ulbricht, der lieber den Sozialismus in sorischen deutschen Regierung in der So- auf der Seite des Fortschritts.
Ostdeutschland aufbauen will, muss daher wjetischen Besatzungszone“. Diesen bemisst der Durchschnittsdeut-
erst einmal den „Kampf um die Einheit Am 7. Oktober 1949 wird die Deutsche sche Anfang der Fünfziger vor allem an
Deutschlands“ zur Hauptaufgabe der SED Demokratische Republik ausgerufen, von seinen Lebensumständen. Wem es gelingt,
ausrufen. Die Propaganda schießt sich auf der Spötter bald sagen, sie sei weder die Menschen aus dem Nachkriegselend
die „Spalter“ im Westen ein, eine „Volks- deutsch noch demokratisch und auch keine zu führen, wer ihnen Arbeit, Brot, ein
kongressbewegung“ soll alle Deutschen für Republik. Die frischgebackenen Staatsfüh- Dach über dem Kopf bieten kann, wird die
den Erhalt der Einheit mobilisieren. Ul- rer von Stalins Gnaden begehen die Grün- größere Anziehungskraft entfalten und so
bricht, Pieck und Grotewohl persönlich dung mit einem Fackelzug der FDJ durch den Systemwettstreit gewinnen – „Ma-
agitieren in den Westzonen. das nächtliche Berlin. Selbst die Sowjets gnettheorie“ heißt das, auf beiden Seiten
Doch die „Russenpartei“ SED ist für die stoßen sich an der Ähnlichkeit mit Nazi- des Eisernen Vorhangs.
Mehrheit kein besonders glaubwürdiger Aufmärschen, doch Ulbricht und FDJ-Chef Mitnichten ist schon ausgemacht, wer
Anwalt der Einheit; bei der ersten Bundes- Erich Honecker setzen sich durch. am Ende obenauf sein wird. Das sowjeti-
tagswahl erhält die West-KPD 5,7 Prozent Gegen die Ausrichtung an der UdSSR sche Modell erscheint im Rückblick als
der Stimmen – weder im Osten noch im („Von den Sowjetmenschen lernen heißt krude, doch immerhin hat die forcierte In-
Westen ist der Sozialismus mehrheitsfähig. siegen lernen“) regt sich von Anfang an dustrialisierung die UdSSR innerhalb we-
Einen Tag nach der Wahl Adenauers Widerstand. Zuhauf setzen sich niger Jahrzehnte zur Groß-
zum ersten Kanzler der Bundesrepublik Menschen in den Westen ab, macht katapultiert. Warum
reist die SED-Spitze am 16. September zwischen 1950 und 1952 durch- sollte sie nicht Deutschland
1949 zum Rapport nach Moskau. Dort wird schnittlich 15 000 im Monat. wieder auf die Füße helfen?
ihr ein Brief an Stalin in den Block diktiert: Allerdings hat die DDR an- Allerdings greifen die Besat-
die „Bitte“ um die „Bildung einer provi- fangs auch Zulauf. Manche zer dem Neubeginn durch

Aufbau Ost 23. Juli: Banken und Versicherun- 1949 1952


ULLST EI N B I LD

gen werden beschlagnahmt. 7. Oktober: Grün- 1. Juli: Gründung der Kasernierten


Der Beginn der DDR dung der DDR. Volkspolizei, die Militarisierung
1945 1946 der DDR beginnt.
21. April: Die Ost-SPD schließt sich 1950
30. April: Die „Gruppe Ulbricht“ 1953
trifft in Deutschland ein. unter Druck mit der KPD zur Sozia- ab 21. April: Bei Übergabe der Regimentsfahne
an das erste Regiment der
listischen Einheitspartei Deutsch- den Waldheimer Nationalen Volksarmee (1956) 17. Juni: Volksaufstand in der DDR.
ab April: In zehn „Spezial- lands (SED) zusammen. Schauprozessen
lagern“ des sowjetischen 20. Oktober: Bei den letzten halb- werden über 3300 echte und angebliche
1960
Geheimdienstes, darunter An der innerdeutschen Grenze
freien Landtagswahlen bleibt die Nazis durch ein Sondergericht verurteilt, von werden Minen verlegt.
ehemaligen KZ, werden über SED unter der absoluten Mehrheit. 32 Todesurteilen werden 24 vollstreckt.
150000 NS-Verdächtige und 1961
Gegner des Kommunismus 1947 1951 13. August: Beginn des
interniert, mehr als 40000 Sommer: Stalin lehnt Marshall- 1. November: Mit dem ersten Fünfjahrplan Mauerbaus.
sterben. Plan-Hilfe für Osteuropa ab. wird der Übergang zur Planwirtschaft vollendet.

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Serie

flächendeckende Demontagen kräftig in Hand ostelbische Herrenhäuser gestürmt gen und manipulierte Steuerschulden zwin-
die Speichen. Rund 3400 Fabriken werden und die Gutsherren verjagt, das Land wur- gen Tausende freie Bauern in die Kolcho-
in den ersten Nachkriegsjahren abgebaut, de an über 210 000 „Neubauern“ verteilt. sen, Zehntausende fliehen lieber in den
fast das komplette zweite Gleis der Reichs- Sogar Bürgerliche begrüßen die Boden- Westen. Ihr Land geht an die LPG, deren
bahn wird auf den Hauptstrecken heraus- reform, auch erleichtert sie die Eingliede- Zahl in nur fünf Monaten von knapp 2000
gerissen, rund 12 000 Kilometer Schienen rung heimatloser Ostflüchtlinge. Doch öko- auf über 5000 steigt – doch denen fehlt es
und viele Lokomotiven landen in der nomisch zeitigt der „Klassenkampf auf an Arbeitskräften und Maschinen, die
UdSSR. Am sowjetischen Grenzbahnhof dem Dorf“ fatale Folgen. Die Kleinparzel- Äcker liegen brach, die Versorgung stockt.
Brest stauen sich die Züge mit demontier- len (Durchschnittsgröße 8 Hektar) sind Ulbricht geht es ums Prinzip. Die Kol-
ten Anlagen zeitweilig auf über hundert kaum überlebensfähig, bis 1952 geben rund lektivierung ist Teil eines „verschärften
Kilometer Länge. Zehnmal höher als im 60 000 Neusiedler wieder auf. Nicht Klassenkampfs“, in dessen Namen die letz-
Westen sind die Kapazitätsverluste durch annähernd erreicht die DDR das Ziel, bis ten Bastionen des Nonkonformismus ge-
Demontage, in manchen Branchen liegen 1950 wieder Erträge wie in der Vorkriegs- schleift werden sollen. Neben freien Bau-
sie bei 80 Prozent. zeit zu ernten, diese liegen noch 30 Pro- ern und Mittelstand ist das vor allem die
Was dann noch steht und funktioniert, zent unter denen von 1936. Kirche, der noch fast 95 Prozent der Ost-
produziert nicht notwendigerweise für die Nun fällt die SED in das andere Extrem: deutschen angehören – in den Augen der
DDR-Bevölkerung. Rund ein Viertel aller Landwirtschaftliche Produktionsgenossen- Partei „die stärkste legale Position der im-
Güter geht bis Anfang der fünfziger Jahre schaften (LPG) mit großflächiger Bewirt- perialistischen Kräfte“ in der DDR.
als Reparationen in die UdSSR, bei Uhren schaftung sollen die Versorgungsprobleme 1953 schränkt die SED den Religions-
oder Motorrädern sind es vier Fünftel. Als lösen. Laufend steigende Pflichtablieferun- unterricht ein und verbietet kirchliche Ju-
die Reparationslasten geringer werden, gendzeitschriften. Bahnhofsmissionen wer-
muss sich die DDR auf „Anregung“ Stalins den geschlossen, Rüstzeitheime und Pfle-
wiederbewaffnen und ein gigantisches Rüs- Abstimmung mit den Füßen geeinrichtungen enteignet. Etwas später
tungsprogramm auflegen – noch Ende des Flüchtlinge aus der DDR bis Ende 1961, führen die Einheitssozialisten die Jugend-
Jahrzehnts machen Militär- und Kriegsfolge- in tausend weihe als atheistische Alternative zur Kon-
kosten ein Viertel des Staatshaushalts aus. DDR- firmation ein.
Bevölkerung
Dass die DDR-Wirtschaft nie wirklich in DDR- Die „Junge Gemeinde“ (JG), Teil der
die Gänge kommt, ist letztlich jedoch selbst- 350 17,1 Mio. Flüchtlinge kirchlichen Jugendarbeit mit rund 125 000
1961
verschuldet. Allein 4000 Industriebetriebe – 2,8 Mio. Aktiven, wird zur „Agentenorganisation“
300
einer von sieben – verlegen aus Angst vor bis 1961 erklärt. Zwischen Januar und Mai verhaf-
Enteignung bis 1953 ihren Sitz nach West- 250 tet die Staatssicherheit 70 Theologen und
deutschland; die besten Fachleute nehmen Jugendleiter wie auch viele ihrer Schütz-
sie oft mit. In den neuen „volkseigenen“ 200 linge. Das Politbüro weist den General-
Betrieben, deren Zahl 1949/50 von 1800 auf staatsanwalt an, „in kurzen Zeitabständen
5000 explodiert, läuft kaum etwas rund. 150 drei bis vier öffentliche Prozesse“ gegen
Die Vorgaben der überforderten Wirt- JG-Mitglieder durchzuführen, „in denen
100
schaftslenker sind realitätsfern, grenzenlos klar die kriegshetzerische und Agenten-
optimistisch und verursachen regelmäßig 50 und Sabotagetätigkeit“ zu beweisen sei.
Chaos – kein Wunder, die meisten von ih- Nur dreieinhalb Jahre nach ihrer Grün-
nen hat die SED unter dem Motto „Arbei- dung ist die DDR eine stalinistische Dikta-
1949 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61
ter in die Regierung“ in Schnellkursen zu tur reinsten Wassers – Enteignungen, Säu-
Planern gedrillt. Wie seine Mitarbeiter habe berungen, Schauprozesse, Agentenhyste-
er selbst „von Wirtschaftsplanung auch kei- rie und Apparatschik-Herrschaft inklusive.
ne Ahnung“, gesteht freimütig der sächsi- Und sie ist faktisch bankrott; weil Moskau
sche Wirtschaftsminister Fritz Selbmann – nichts mehr zuschießen will, müssen die
die entscheidende Qualifikation ist SED- Arbeitsnormen um gleich zehn Prozent er-
Treue. Die Zahl der Kader wächst von höht werden.
20 000 im Jahr 1951 auf schließlich über So ist die Stimmung der Bevölkerung
300 000 im Jahr 1989. Schon 1948 ist jeder im Frühjahr 1953 auf dem Nullpunkt. Ob-
zehnte der rund 18 Millionen DDR-Bürger wohl die Flucht längst nur noch über Ber-
SED-Mitglied – für Anpasser sind es gol- lin einigermaßen risikolos möglich ist – ein
dene Zeiten. 500 Meter breiter Schutzstreifen mit einer
Die Lage der Verbraucher dagegen ist im fünf Kilometer tiefen Sperrzone teilt an-
Frühjahr 1953 „dramatisch“, so der Wirt- sonsten das Land –, verlassen mittlerweile
schaftshistoriker André Steiner. Es herrscht 37 500 Menschen monatlich die DDR.
Mangel an Fett, Fleisch und Gemüse, dazu Nach Stalins Tod am 5. März 1953
kommen Strom- und Gassperren. Die kommt auch in Moskau Unmut auf über
Parteiführung sucht die Schuld bei „Sabo- Ulbrichts ungestüme Versuche, den Sozia-
teuren“. Binnen weniger Monate schicken lismus herbeizuzwingen. „Das ist ein
SED-Richter über 10 000 Menschen auf- Mann, der nichts versteht, der sein Volk
grund des neuen „Gesetzes zum Schutz nicht liebt“, schäumt Innenminister La-
des Volkseigentums“ ins Gefängnis. Ein wrentij Berija, dort vorübergehend der star-
LARAFLET / SIPA PRESS

Jahr Knast gibt es schon für das Stibitzen ke Mann. „Ich habe noch nie im Leben ei-
von Taschentüchern oder Weintrauben. nen solchen Idioten gesehen.“ Ulbricht ist
In Wirklichkeit hat der Mangel ideolo- fassungslos, als der Kreml von ihm die
gische Ursachen, voran den alten Klassen- Kehrtwende verlangt – eine Wahl hat er
hass der Kommunisten auf Großbauern. nicht. Am 11. Juni elektrisiert das Politbüro
Im Herbst 1945 hatten Agitatoren und Fliehende DDR-Bürger am Tag des Mauerbaus die DDR-Bürger mit einem „Kommuni-
Landarbeiter mit Dreschflegeln in der Eingeständnis des Versagens qué“, in dem es „ernste Fehler“ eingesteht.
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KEYSTONE / GETTY IMAGES
Mai-Parade der Nationalen Volksarmee (1958 in Ost-Berlin): Gigantisches Rüstungsprogramm

Der nun ausgerufene „Neue Kurs“ ist merhin 8,6 Prozent. Unter Leitungskadern feln über das Land. „Ham Se keine Süd-
eine politische Bankrotterklärung, und so liegt ihr Anteil sogar bei 14 Prozent. Und früchte?“, lässt der Volksmund den Kun-
wird er in der DDR allerorten empfunden. noch spät in den Fünfzigern könnten ehe- den fragen, Antwort: „Wir haben keine
In Berlin marschieren am 16. Juni ausge- malige NSDAP-Mitglieder in der Volks- Eier, keine Südfrüchte gibt’s nebenan.“
rechnet die Bauarbeiter der Vorzeigebau- kammer theoretisch die zweitstärkste Frak- Der DDR-Alltag ist hart: Eine Sechs-
stelle Stalinallee an der Spitze des Protests tion nach der SED bilden. Tage-Woche mit 45 bis 55 Arbeitsstunden
– am Tag darauf kommt es zur Volkserhe- So ist der offizielle DDR-Antifaschismus lässt nur karge Freizeit zu, die ohnehin für
bung. Hunderttausende Demonstranten im ein trügerischer Gründungsmythos – aber Anstehen und Organisieren draufgeht. Un-
ganzen Land bringen die SED-Herrschaft ein höchst effektives Herrschaftsinstru- ter „gesellschaftlichen Verpflichtungen“
an den Rand des Zusammenbruchs. ment. Er bleibt auch nach der Krise von versteht man nicht nette „Wir sind wieder
Die Sowjetarmee macht dem Treiben 1953 der vielleicht zäheste Kitt zwischen wer“-Abende im Smoking, sondern Pio-
schnell ein brutales Ende. Ulbricht entgeht Regime und Bevölkerung. niernachmittage, Gewerkschaftsversamm-
der Ablösung nur, weil in Moskau Berija in Auf den 17. Juni reagiert die SED mit lungen oder Wehrübungen.
den Diadochenkämpfen nach Stalins Tod Verfolgungen, Säuberungen und dem Aus- Immerhin, nach und nach geht es auch
zu Fall kommt und erschossen wird. bau ihres Sicherheitsapparats – die Stasi, den DDR-Bürgern materiell besser. Aber
Der 17. Juni bleibt für die SED-Führer ein 1950 mit 2700 Mitarbeitern zugleich verschieben sich die
lebenslanges Trauma. Da nicht sein kann, gegründet, hat 1955 bereits Maßstäbe zusehends; statt
was nicht sein darf, erklären sie die Rebellen fast 15000 Leute, 1961 sind es „Es muss „Friedensqualität“, also Vor-
zu „faschistischen Provokateuren“ – in ihrer über 19 000. kriegsniveau, wird ab Mitte
Logik kann ein Gegner der „antifaschisti- Doch die Partei hat auch
demokratisch der Fünfziger die Warenwelt
schen“ DDR gar nichts anderes sein. begriffen, dass sie schnell et- aussehen, aber des Westens zum Maß aller
Dass jede Menge echter Altnazis inzwi- was für den Lebensstandard wir müssen käuflichen Dinge – und da
schen Stützen des Systems sind, stört die tun muss. Sie erhöht auf alles in der Hand kann die DDR fast nirgend-
SED dagegen nicht. Zwar war in der SBZ Pump die Lebensmittelim- wo mithalten. Nur 12 von
zügig entnazifiziert worden, bis Anfang porte und senkt die Preise in behalten.“ 100 Osthaushalten haben
1948 hatten über eine halbe Million Perso- den HO-Läden, in denen 1962 eine Waschmaschine,
nen wegen echter oder vermeintlicher NS- man so exotische Dinge wie im Westen sind es 34. Und
Verstrickungen ihre Posten verloren. Die Bohnenkaffee bekommen kann. Prestige- während sich der Anteil der Autobesitzer
DDR selbst hatte 1950 in den „Waldheimer projekte wie der forcierte Aufbau des Ei- in der DDR von 0,2 Prozent der Haushal-
Prozessen“ mehr als 3300 angebliche NS- senhüttenkombinats Ost werden zurückge- te (1955) auf 5 Prozent (1962) steigert, steht
Verbrecher ebenso hart wie pauschal ab- stellt, mehr Geld fließt nun in die Kon- 1962 in der Bundesrepublik schon vor fast
geurteilt. Darauf allerdings folgt ebenso sumgüterproduktion. jeder dritten Haustür ein Pkw. In Qualität
zügig die Absolution für alle anderen: „Wir Aus Kundensicht bleibt die DDR den- und Verfügbarkeit liegen ohnehin Welten
verlangen nicht den negativen Nachweis noch trostlos. Die Schaufenster der Kauf- zwischen Ost und West.
des Nicht-Belastetseins“, so Wilhelm Zais- läden zieren Pyramiden identischer Kon- 1958 schafft die SED-Regierung die Le-
ser, erster Stasi-Chef, „sondern den posi- servendosen, in Auslagen der Fleischerei- bensmittelkarten ab – im Westen war das
tiven Nachweis des Mitmachens.“ en sind Topfblumen häufiger zu sehen als schon acht Jahre zuvor geschehen. Eine
Ende 1953 sind fast 100 000 Mitglieder Koteletts. Aus den DDR-Küchen legt sich Fresswelle erfasst die Ostdeutschen, und
der SED einstige NS-Parteigenossen, im- der strenge Geruch von Kohl und Kartof- prompt ebbt die Fluchtwelle spürbar ab:
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Serie

Nach über 260000 Menschen 1957 verlassen


1959 „nur“ noch knapp 144 000 die DDR.
Neben dem großen Fressen setzt die
SED auf Plaste und Elaste – die Losung
des 1958 aufgelegten Chemieprogramms
wird sprichwörtlich: „Chemie gibt Brot,
Wohlstand und Schönheit“. Zum zehnten
Jahrestag der Staatsgründung bekommen
die Bürger „DeDeRon“ geschenkt, die
Ostvariante der Perlon-Kunstfaser. Nylon-
mäntel, bügelfreie Oberhemden und
Kunststoff-Badmöbel ergänzen nun das
weiter knappe Angebot.
Einen Augenblick scheint der Sozialis-
mus doch noch in Schwung zu kommen.
Der Start des sowjetischen „Sputnik“-Sa-
telliten 1957, der den Westen schockt, zeigt,
zu welchen Hochleistungen er doch fähig
ist. „Wer als Erster den Erdtrabanten in die
Welt schicken kann“, frohlockt ZK-Mitglied
Selbmann, „dem wird es auch möglich sein,
den Kapitalismus in der Produktion von
Fleisch und Fett zu überholen.“
Zuversichtlich stimmt die Ost-Berliner
Führung auch ein Einbruch des bislang ra-
MANFRED WITT

santen westdeutschen Wirtschaftswachs-


tums. Das fällt zwischen 1955 und 1958 von
zwölf auf knappe vier Prozent; die finale
Krise des Kapitalismus, folgert Ost-Berlin, Zeitzeuge Schmidt: „Eine mit heute nicht zu vergleichende Vitalität“
stehe kurz bevor. Selbstbewusst kündigt
Ulbricht an, die DDR werde Westdeutsch-
SPI EGEL-GESPRÄCH
land bis 1961 „einholen und überholen“.
Das Ziel wird mit großem Aufwand pro-
pagiert – und alsbald wieder einkassiert.
Denn während sich die bundesdeutsche
Wirtschaft rasch erholt, geht das Wachstum
„Die Amerikaner haben uns
im Osten in den Keller. Auch fliehen die
Menschen wieder in Scharen, seit sich das
Tempo der Zwangskollektivierung erneut
beschleunigt und Versorgungsengpässe ein-
ungeheuer geholfen“
mal mehr zunehmen. Die Forderung von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, 87, über sein Erleben
Sowjets und SED, West-Berlin zur „Freien der Aufbruchstimmung nach dem Krieg, die Rolle
Stadt“ zu erklären, bedroht zudem den letz-
ten offenen Fluchtweg über die Sektoren- der USA beim Wiederaufbau und die Gefahr plebiszitärer
grenzen; jetzt wollen viele nur raus, bevor Elemente in der Demokratie
die Falle zugeht. Fast 200 000 Menschen
strömen so 1960 in die Bundesrepublik, zu- SPIEGEL: Herr Bundeskanzler … Vitalität zu spüren – der kleinen Leute wie
meist über Berlin. Schmidt: … mein Name ist Schmidt. der großen Leute.
Um den unerträglichen Aderlass zu SPIEGEL: Herr Schmidt, Sie zogen 1953 in SPIEGEL: Woran kann man das festmachen?
stoppen, befiehlt Diktator Ulbricht den den Bundestag ein. Die Wirtschaft boomte. Schmidt: Ich will Ihnen ein Beispiel nen-
Bau der Mauer, im Morgengrauen des 13. Schmidt: Das ist eine Übertreibung. Das nen: Als ich 1953 für den Bundestag kan-
August 1961 rücken die Absperrkomman- Wort Boom kommt aus Amerika und didierte, kam mein Freund Gyula Trebitsch
dos aus. Das in Beton gegossene, stachel- meint einen Zustand konjunktureller auf den glorreichen Gedanken, einen Film-
drahtbekrönte Eingeständnis des Versagens Überhitzung. spot zu drehen. Der zeigte mich an einem
beendet den Traum vom Sieg des Sozialis- SPIEGEL: Aber der wirtschaftliche Aufbruch Schreibtisch und mit Frau und Tochter.
mus – von nun an geht es nur noch um das begann. Wie haben Sie diese Stimmung Und dieses Filmchen von einigen Minuten
Überleben der DDR und ihrer Staatspartei. damals empfunden? haben wir mit Hilfe eines klapprigen Volks-
Ein Ende hat es im gleichen Jahr auch Schmidt: Bevor ich in den Bundestag kam, wagenbusses in den U- und S-Bahn-Sta-
mit der Stalinallee. In einer Nacht-und- war ich Leiter des Amtes für Verkehr in tionen meines Wahlkreises vorgeführt,
Nebel-Aktion wird dort das Denkmal des der Hamburger Behörde für Wirtschaft wenn die Massen aus den Bahnhöfen ka-
schnauzbärtigen Diktators entfernt, die und Verkehr. Damals brauchten wir noch men und nach Haus wollten. Das war eine
Straße selbst in Karl-Marx-Allee umbe- für jeden Neubau auf einer Werft eine unternehmerische Idee. Leute wie Tre-
nannt. Als Symbol des Aufbaus und hoch- Genehmigung der Alliierten. Von wegen bitsch hat es viele gegeben: Josef Necker-
fliegender Zukunftspläne taugt die einsti- boomende Wirtschaft. Das war tatsächlich mann und Werner Otto und viele andere.
ge Prachtmeile nicht mehr. Erst 1965 wer- immer noch ein großer Mist. Aber es war SPIEGEL: Hat man es heute als Unterneh-
den die letzten Baulücken geschlossen. eine mit heute nicht zu vergleichende mer schwerer mit guten Ideen?
Statt der versprochenen Arbeiterpaläste Schmidt: Inzwischen gelten Zigtausende
stehen dort nun triste Plattenbauten. Das Gespräch führten die Redakteure Martin Doerry, Paragrafen, die ein Handwerksmeister gar
Hans Michael Kloth Hans-Ulrich Stoldt und Klaus Wiegrefe. nicht alle kennen kann, obwohl sie ihn be-
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treffen. Insofern hat es damals sehr viel Fenster, und der Raum war so schmal, dass ten, wie man im Falle der Vereinigung die
mehr Freiheit gegeben. die beiden Mitarbeiter immer aufstehen wirtschaftliche Einheit voranbringen könn-
SPIEGEL: Man kann auch ganz anders auf und uns durchlassen mussten, wenn wir te. Ich erwähne das, um deutlich zu ma-
die fünfziger Jahre blicken: Danach haben zu unseren Schreibtischen wollten. Aber chen, dass in der SPD über die Vereini-
unsere heutigen Probleme damals begon- das hat uns nicht gestört, es war ja zu Hau- gung ernsthaft nachgedacht wurde.
nen, etwa durch ein Ausufern des Sozial- se auch alles ärmlich. Kaum einer von uns SPIEGEL: In Ihrer Partei gab es in den fünf-
staats. hatte eine eigene Wohnung. ziger Jahren eine tiefe Skepsis gegenüber
Schmidt: Da kann man ein genaues Datum SPIEGEL: Immerhin hatten Sie während Ih- der sozialen Marktwirtschaft.
nennen. Es fängt 1957 an mit der Ein- rer Zeit als Abteilungsleiter in Hamburg Schmidt: Auf viele Sozialdemokraten trifft
führung der dynamischen Rente. Kanzler einen Dienstwagen mit Fahrer. das zu, bei der SPD insgesamt bin ich mir
Adenauer war aus wahltaktischen Gründen Schmidt: Das war ein Volkswagen. Da war nicht sicher. Die arbeitete genauso aus dem
dafür, sein Wirtschaftsminister Erhard aus die Bodenplatte durchgerostet, der stamm- hohlen Bauch wie alle anderen. Wirt-
volkswirtschaftlichen Gründen dagegen. te aus den Dreißigern. Wenn man durch schaftspolitische Erfahrungen hatte man
SPIEGEL: Und Sie? Pfützen fuhr, spritzte im In- zuletzt bis 1930 sammeln
Schmidt: Ich war auf Adenauers Seite. nern des Wagens immer das können. Das lag 20 Jahre
SPIEGEL: Bereuen Sie das heute? Wasser hoch. „Ich bin in zurück. Ab 1933 waren die
Schmidt: Überhaupt nicht. Das war damals SPIEGEL: Dann wurden Sie öf- Sozialdemokraten verfolgt,
sehr vernünftig. Man hätte allerdings an- ter nass?
meinem Leben mussten ins Ausland, viele
fangen müssen, über Veränderungen nach- Schmidt: Ja. nie von Minder- wurden umgebracht. Es gab
zudenken, als man begriff, dass wir eine SPIEGEL: Nach dem Grund- wertigkeitskom- bei ihnen keine kohärenten
schrumpfende Gesellschaft sind. gesetz verstand sich die Bun- plexen geplagt wirtschaftspolitischen Vor-
SPIEGEL: Das wäre dann während Ihrer desrepublik als Provisorium. stellungen, übrigens auch
Regierungszeit in den siebziger Jahren ge- Hatten Sie damals eine Ver- gewesen.“ bei den Christdemokraten
wesen. mutung, wie lange dieser nicht. Die haben sich erst im
Schmidt: Nein, da hat es auch noch kaum Staat existieren würde? Laufe der Zeit entwickelt.
einer begriffen. Zwei Leute haben ange- Schmidt: Ich habe nicht geglaubt, dass er SPIEGEL: Wie beurteilen Sie dann Ludwig
fangen, es zu verstehen – Professor Mein- bald verschwinden würde. Ich habe aber Erhard, der ja bis heute als Vater des deut-
hard Miegel und in dessen Gefolge der ak- aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen schen Wirtschaftswunders gefeiert wird?
tive CDU-Politiker Kurt Biedenkopf. Noch immer auch gewusst, dass Machtkonstella- Schmidt: Als Wirtschaftsminister hat er
in den achtziger Jahren wurde das Phäno- tionen sich ändern können und dass eine eine Glanzleistung hingelegt. Schon
men dadurch überdeckt, dass immer mehr Änderung der Machtkonstellation in Eu- 1948/49 ist er ziemlich mutig, wie mir
Menschen in die Bundesrepublik kamen, ropa eine Vereinigung der beiden deut- scheint, für eine Befreiung von Bewirt-
zum Beispiel Gastarbeiter oder die vielen schen Staaten ermöglichen könnte. So schaftungsrichtlinien eingetreten und ge-
Aussiedler aus Osteuropa und der damali- ganz falsch war das ja nicht. gen die planwirtschaftlichen Vorstellungen
gen Sowjetunion. Die Vorstellung, dass SPIEGEL: Für wann haben Sie das denn er- der Westalliierten. Wir haben ja 1950 noch
man etwa 1980 die demografisch letztlich wartet? Brotkarten gehabt. Erhard hat relativ früh
verheerende Entwicklung hätte erkennen Schmidt: Ich habe nicht geglaubt, dass es alle Bezugsscheine und Bewirtschaftungen
müssen, ist falsch. noch im 20. Jahrhundert stattfindet. An- abgeschafft. Er hat außerordentlich wirk-
SPIEGEL: Als Bundestagsabgeordneter ha- dererseits hat die Stalin-Note von 1952 – sam das Gefühl des Aufschwungs bei den
ben Sie sich zunächst um Verkehrs- und was immer auch dahintergesteckt haben Menschen erzeugt. Als Bundeskanzler war
Verteidigungspolitik gekümmert. Wie wa- mag – dazu geführt, dass man darüber Erhard allerdings später miserabel. Die ers-
ren die Arbeitsbedingungen? nachdachte, ob da nicht doch etwas zu ma- ten Jahre als Wirtschaftsminister jedoch:
Schmidt: Beschissen. chen sei. Die SPD legte dann 1959 den erstklassig.
SPIEGEL: Lässt sich das ausführen? Deutschlandplan vor. Dieser Plan war Pu- SPIEGEL: Das Bonner Grundgesetz durch-
Schmidt: Ich bekam ein Büro zugewiesen, blic Relation, aber dahinter stand ernst- zieht eine tiefe Skepsis gegenüber der de-
wenige Quadratmeter groß, und darin saß hafte Arbeit. Ich war Vorsitzender der für mokratischen Reife der Deutschen …
ich mit einem anderen Abgeordneten und Ökonomie zuständigen Gruppe. Wir ha- Schmidt: Wo wollen Sie das herauslesen?
unseren beiden Mitarbeitern. Die Schreib- ben uns ein Bild gemacht vom Zustand der SPIEGEL: Etwa aus der starken Stellung der
tische von uns Abgeordneten standen am DDR-Wirtschaft und von den Möglichkei- Regierung gegenüber dem Parlament in
KEYSTONE (L.); PEOPLE PICTURE (R.)

Filmproduzent Trebitsch (um 1955), Versandhauschef Neckermann (1963): „Sehr viel mehr Freiheit“

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Serie

der Form des Konstruktiven Schmidt: Ich habe mir damals


Misstrauensvotums … nicht eingebildet, das beurtei-
Schmidt: Das war doch eine len zu können.
Wohltat. SPIEGEL: Wie müssen wir denn
SPIEGEL: Das bestreiten wir ja Ihre oft geäußerte These ver-
nicht. stehen, die Deutschen seien ein
Schmidt: Aber das ist doch kein unruhiges Volk?
Ausdruck des Misstrauens ge- Schmidt: Wir sind ein Volk, das
genüber der demokratischen sich aufregen lässt. Die Deut-
Gesinnung des Volkes, sondern schen sind ein gefährdetes Volk.
gegenüber zufällig zustande Aber das heißt nicht, dass sie
gekommenen Parlamentsmehr- schlechte Demokraten sind,
heiten. Die hatte man doch in auch wenn sie insgesamt ihrer
der Weimarer Republik erlebt. psychischen Stabilität nicht
Von 1919 bis 1933 im Schnitt alle annähernd so sicher sind wie die
anderthalb Jahre eine neue Re- Engländer.
gierung – weil es leicht war, SPIEGEL: Der Eindruck liegt
eine Regierung zu stürzen, oder nahe, dass die Väter und Mütter
weil es leicht war zurückzu- des Grundgesetzes diese Ein-
treten. Insofern war es eine schätzung geteilt haben. Um
richtige Schlussfolgerung aus Machtmissbrauch zu verhin-
den Weimarer Zuständen, aber dern, haben sie eine kompli-
nicht geboren aus dem Miss- zierte Konstruktion von sich
trauen gegenüber der demo- austarierenden Machtzentren
kratischen Reife des Volkes. Es geschaffen.
gibt allerdings ein Beispiel, das Schmidt: Kompliziert wird die
Ihre These stützt, nämlich die Sache eigentlich nur durch die
plebiszitären Elemente, die im Existenz der Bundesländer. Ich
Grundgesetz nur eine geringe habe das Grundgesetz weder zu
Bedeutung haben. verteidigen noch zu kritisie-
SPIEGEL: Das Argument wollten ren, sondern ich habe ihm
wir gerade vorbringen. zu gehorchen. Aber die Alliier-
Schmidt: Nur – das ist in Eng- ten wollten ein machtloses
land nicht anders, und dort gibt Deutschland und legten großen
es nun wirklich eine alte De- Wert auf das, was wir heute
mokratie. England kennt zwar Föderalismus nennen. Ich habe
Volksabstimmungen, aber nur, es manchmal „Föderasmus“ ge-
wenn die Regierung es will. Sie nannt.
stellen sich die Demokratie SPIEGEL: Dann ist die föderale
SEEGER-PRESS

als etwas Ideales vor. Demo- Ordnung der Bundesrepublik


kratie ist manchmal etwas Be- ein Konstruktionsfehler?
schissenes … Schmidt: So weit würde ich
SPIEGEL: … aber es gibt nichts SPD-Vorsitzender Schumacher*: „Glühender Mann“ nicht gehen; aber sie ist eines
Besseres. der wichtigsten Elemente in
Schmidt: So ist es. dem Geflecht, das Sie als kompliziert be-
SPIEGEL: Die Große Koalition erwägt gera- zeichnet haben.
de eine Verlängerung der Legislaturperi- SPIEGEL: Auch wenn die Alliierten Deutsch-
ode und einen Ausbau von plebiszitären land kleinhalten wollten, so war der Auf-
Elementen. stieg der Bundesrepublik zugleich Folge
Schmidt: Was plebiszitäre Elemente angeht, und Erfolg amerikanischer Politik.
bin ich sehr skeptisch. Schmidt: Das kann man durchaus sagen.
SPIEGEL: Weil das Volk falsche Entschei- Es waren eben ganz verschiedene Phasen.
dungen treffen könnte? In den ersten Jahren ist es so, wie ich es
Schmidt: Nein, weil wir in einer Demokra- vorhin erwähnt habe. Siehe als Beispiel
tie des Fernsehens leben und nicht mehr in die Beschränkungen im deutschen Schiff-
einer Demokratie, in der Zeitungen gele- bau. Doch es gibt ab 1947 den Kalten Krieg
sen werden. Fernsehen macht Stimmung. und als erste große Konsequenz daraus den
Sie können in den USA sehen, wie das Marshall-Plan und als zweite große Kon-
geht. Dort kann man sich sogar Fernseh- sequenz das Nordatlantische Bündnis. Das
zeiten kaufen. Am besten ist es natürlich, verändert die Einstellung der Amerikaner
wenn man bereits Eigentümer von Sen- als Besatzungsmacht, allerdings noch nicht
dern ist, ehe man Regierungschef wird, wie die der Franzosen.
ULLSTEIN BILDERDIENST

Silvio Berlusconi in Rom. SPIEGEL: Das kam später?


SPIEGEL: Wie haben Sie in den fünfziger Schmidt: Erst 1950 hat Jean Monnet dem
Jahren die demokratische Reife der Deut- französischen Außenminister Robert Schu-
schen nach zwölf Jahren Diktatur einge- man diese Idee des sogenannten Schuman-
schätzt? Plans eingeflößt, also eine im Kern
SPD-Werbung (1946) deutsch-französische Montanunion zu
* Mit Herbert Wehner 1949 in Berlin. „Aus dem hohlen Bauch“ gründen. Das bezog sich nur auf Kohle
50 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
und Stahl, damals die Schlüs- SPIEGEL: Da werden Sie im
selindustrien für den Wieder- Kriegsgefangenenlager zu ei-
aufbau Europas; es wurde ner kleinen Minderheit gehört
aber tatsächlich der Beginn haben.
der europäischen Integration. Schmidt: Deutsche Kriegsge-
Kurt Schumacher sah darin fangene haben ja in den La-
eine Auslieferung deutscher gern überall Universitäten
Interessen. Ich war hingegen oder Volkhochschulen aufge-
für den Schuman-Plan und macht. Wir hatten also Kurse
habe darüber auch in einer und Lehrgänge, und Bohnen-
SPD-Zeitung geschrieben. Der kamp hielt einen Vortrag mit
Vorsitzende der Hamburger dem Titel „Verführtes Volk“,
Sozialdemokraten bekam dar- in dem er eine Generalabrech-
aufhin einen Brief von Schu- nung mit den Nazis versuchte.
macher, er solle dem jungen Das führte dazu, dass die
Schmidt mal das Handwerk Mehrheit der jüngeren Offizie-
legen. re uns für Nestbeschmutzer
SPIEGEL: Die Bundesrepublik hielt. Da die Engländer Spione
wurde 1955 souverän. Sie wa- im Lager hatten, bekamen
ren damals Verteidigungsex- sie das mit, und wir wurden
perte und sind viel in die USA entlassen, und die anderen
gereist. Hatte man das Gefühl, mussten noch zwei Jahre in
den Amerikanern auf Augen- französischen Bergwerken ar-
höhe zu begegnen? beiten.
Schmidt: Ich bin in meinem Le- SPIEGEL: War es also eher
ben nie von Minderwertig- Zufall, dass Sie Sozialdemo-
keitskomplexen geplagt gewe- krat geworden sind und nicht
sen. Ich habe natürlich immer bei den Christdemokraten lan-
gewusst, dass die Amerikaner deten?
in jeder Beziehung fünfmal so Schmidt: Ich war außerdem
groß sind wie wir. Das heißt von Schumacher fasziniert –
aber nicht, dass man sich als von diesem glühenden Mann.
Zwerg demutsvoll dem Throne Zusammengeschossen schon
nähert, wenn man mit einem im Ersten Weltkrieg und dann
Amerikaner spricht. viele Jahre im KZ gewesen.
SPIEGEL: Waren wir der Junior- Ich war nicht seiner außenpo-

UPI / PICTURE-ALLIANCE / DPA


partner der Amerikaner? litischen Meinung, aber die In-
Schmidt: Das sind journalisti- tegrität dieses Mannes, seine
sche Schlagworte. Das Ver- Persönlichkeit, hat mich unge-
hältnis war freundschaftlich, heuer beeindruckt.
was Meinungs- und Interes- SPIEGEL: Alles in allem ist die
senverschiedenheiten nicht Entwicklung doch erstaunlich:
ausschließt. Auf dem Felde Washington-Besucher Schmidt*: „Immer auch Spannungen“ Aus einem zerstörten, verach-
der Verteidigung beispielsweise teten, von der Diktatur ge-
war ich derjenige, der die Tributzahlun- den wirklichen Verbrechern, die man in zeichneten Land ist in nicht einmal einer
gen 1976 beendet hat. Wir haben den USA Nürnberg zu Recht verurteilt hat. Man ist Generation ein demokratisches, prospe-
ja immer noch die Besatzungskosten be- übrigens mit den Kommunisten nach 1990 rierendes Gemeinwesen geworden. Wor-
zahlt. schlimmer umgegangen als am Beginn der auf führen Sie das in erster Linie zurück?
SPIEGEL: Sie meinen die Ausgleichszah- Bundesrepublik mit den ehemaligen Na- Schmidt: Da kommen viele Faktoren zu-
lungen für die Devisenverluste, die den zis. Wenn wir mit den Kommunisten etwas sammen. Zum Beispiel der Umstand, dass
Amerikanern durch die Stationierung ih- toleranter umgegangen wären, wäre das wir mit Adenauer und Schumacher zwei
rer Truppen und deren Angehörigen ent- Desaster, wie wir es heute in den neuen Führungsfiguren hatten, an die man sich
standen. Ländern erleben, möglicherweise etwas halten konnte. Oder: Die Unternehmens-
Schmidt: Adenauer hat sich dagegen ge- glimpflicher abgelaufen. chefs, aber auch die Ingenieure und Fach-
wehrt, aber er, seine Nachfolger Ludwig SPIEGEL: Sie schlossen sich 1946 der wie- arbeiter waren im Weltmaßstab Spitzen-
Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy dergegründeten SPD an. Was reizte einen klasse. Ein weiterer Faktor ist, dass die
Brandt – alle haben gezahlt. Ich erwähne 27-Jährigen an dieser Partei? Amerikaner uns brauchten und uns des-
das, um deutlich zu machen, dass es immer Schmidt: In Wirklichkeit schloss ich mich halb ungeheuer geholfen haben. Und es
auch Spannungen gegeben hat. schon 1945 an, bin formal aber erst später herrschte Frieden, wofür maßgeblich das
SPIEGEL: Sie standen dem Nationalsozialis- eingetreten. Sie müssen wissen: Ich saß nuklearstrategische Gleichgewicht zwi-
mus während des Dritten Reiches kritisch von April bis August 1945 in einem engli- schen Ost und West konstitutiv war.
gegenüber. Wie beurteilen Sie die Ent- schen Kriegsgefangenenlager auf belgi- SPIEGEL: Herr Schmidt, wir danken Ihnen
nazifizierung? schem Boden. Dort waren einige Ältere, für dieses Gespräch.
Schmidt: Sie hat mich nicht sonderlich inter- von denen ich enorm viel gelernt habe. Ei-
essiert. ner davon war Hans Bohnenkamp, ein
SPIEGEL: War es ein wirksames Mittel, um religiöser Sozialist. Der hat mich zum Sozi Im nächsten Heft: Warum von
mit der NS-Vergangenheit umzugehen? gemacht. den 250 000 Tätern des Holocaust
Schmidt: Die Entnazifizierung ist ziemlich nur wenige verurteilt wurden.
schnell im Sande verlaufen, abgesehen von * Mit US-Präsident Ronald Reagan 1981.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 51
Szene

Was war da los, D’Ron X?


Der US-Musikproduzent D’Ron X, 35, über seine Ehren-
bezeugung für Stanley „Tookie“ Williams
„Acht Stunden habe ich als Freiwilliger vor der aufgebahrten
Leiche von ‚Tookie‘ Williams Wache gestanden. Es war sein
letzter Wunsch, dass man seinen Körper nach seiner Hinrich-
tung nach Los Angeles überführt, zu seiner Familie. Über tau-
send Leute sind gekommen, um sich von ihm zu verabschie-
den. Mir war es sehr wichtig, dort zu sein, denn uns verbindet
viel. Als Jugendlicher war ich wie er damals Mitglied der ge-
walttätigen Gang ,Crips‘, ich habe die Hälfte meines Lebens im
Gefängnis verbracht. Ich wurde wegen Mordes angeklagt,
aber anders als ‚Tookie‘ wurde ich freigesprochen. Wie er

RICK FRANCIS / AFP


habe auch ich der Gewalt abgeschworen und versuche, die
Kids aus den Gangs rauszuholen. Leider habe ich meinen
großen Helden ‚Tookie‘ im Leben niemals kennengelernt. Erst
dem Toten konnte ich meine Ehre erweisen.“

D’Ron X bei der Totenwache

SACH BUCH das Essen zugleich eine große Restaurant in Schwedt (1980)
kompensatorische Bedeutung
Das große Fressen hatte, eben nicht hinzuneh-
men waren. Voigt, die die
zen, Melonen blieben liegen,
weil keine Lastwagen für die

D ie DDR war arm an Südfrüchten,


aber reich an subversivem Witz:
Warum ist die Banane krumm? Weil sie
DDR von Anfang bis Ende
miterlebt hat, liefert aber
nicht nur einen Stimmungs-
Abholung zur Verfügung
standen. Voigts Gesamtresü-
mee über die DDR-Zeit als
immer einen Bogen um die DDR macht. bericht mit Rezepten und eine Menü: kraftvolle Vorspeise,
Was passiert, wenn man eine Banane soziologische Analyse der enttäuschendes Haupt-
auf die Mauer legt? Da, wo abgebissen DDR-typischen Kellnerun- STRAUBE / AKG
gericht. Zum Nachtisch,
wird, ist Osten. Letztlich an der Banane freundlichkeit, sondern auch nach 1989, gab es dann Ba-
sei der „erste sozialistische Staat auf Hintergrundinformation über nanen satt, aber die Glücks-
deutschem Boden“ zugrunde gegangen, die groteske Misswirtschaft hormone hatten ihren Preis.
vermutet jetzt die Publizistin Jutta Voigt und Organisationsschwäche
in ihrem Buch über Essen, Trinken, im Honecker-Staat: Importiertes To- Jutta Voigt: „Der Geschmack des Ostens. Vom Essen,
Leben in der DDR. Weil die Engpässe matenmark vergammelte tonnenweise, Trinken und Leben in der DDR“. Gustav Kiepenheuer
der Versorgung in einem Land, in dem Ostsee-Fische verfaulten in ihren Net- Verlag, Berlin; 214 Seiten; 16 Euro.

Hamburger Jam-Art-Gallery

Jamming stammt aus Hongkong und


gilt dort als Alternative zum steifen
Herumstehen auf einer Afterwork-
Party. In Hongkong bringen sich die Be-
sucher Essen und Trinken selbst mit, in
der „Jam-Art-Gallery“ im Hamburger
Stadtteil Ottensen sind Getränke im
Preis inbegriffen, denn „Service ist den
Deutschen sehr wichtig“, hat der Ham-
burger Jam-Art-Galerist Frank Bade
E N T S PA N N U N G Ringen um Inspiration auf sich zu festgestellt. Geöffnet ist immer donners-
nehmen. Manchen fehlt es auch schlicht tagsabends und am Wochenende. Etwa
an Platz. In London und Hamburg 600 Kunstschaffende haben hier schon
Atelier für Abendmaler kümmern sich neuerdings Afterwork-
Ateliers um solche Feierabendkünstler.
gewirkt, pro Woche kommen in
Hamburg circa ein Dutzend neue Be-

B üromenschen sind oft besorgt um


ihre Kreativität, es fehlt ihnen aber
meist abends an Energie, das einsame
Sie stellen Leinwand, Acrylfarbe, Pin-
sel, Spachtel und Fachberatung zur Ver-
fügung. Die Idee des sogenannten Art
sucher dazu. Versicherungen und Ban-
ken haben die Galerie auch schon für
Betriebsfeiern gebucht.
52 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Gesellschaft
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Als Kostja seine Großmutter, Smy-
kows Mutter, mit den Worten „du stin-
kende Kröte“ beschimpfte, sah Smy-

Der Sohn der Kröte


Warum ein russischer Vater gegen die Serie „Die Simpsons“ klagt
kow den Zeitpunkt gekommen, ein-
zuschreiten.
Er reichte beim Moskauer Stadt-
gericht Klage ein: Die „Simpsons“ pro-
pagierten Gewalt, Brutalität, Drogen-

A
m frühen Abend, draußen ist es Einsen gab – was in Russland Sechsen konsum und Homosexualität, die Serie
längst dunkel, liegt Igor Alex- entspricht. Smykow wollte sie verkla- stelle die Eltern als Debile dar und die
androwitsch Smykow in einem gen. Erst der Schuldirektor bewegte ihn Kinder als Idioten, und ständig werde
Sessel vor dem Fernseher und erwartet dazu, die Klage zurückzuziehen, die über Sex geredet.
die Ankunft des Feindes. Er hat sich ein Frau habe vier Kinder, sei praktisch Smykow verlangte, die Ausstrahlung
Glas Wodka eingeschenkt, vor ihm steht unkündbar. zu verbieten. Falls das nicht möglich
ein Teller mit Gebäck und Schokolade, Eines Tages schenkte Smykow seinem sei, wollte er einen späteren Sende-
daneben die Fernbedienung; Smykow Sohn einen eigenen Fernseher zum Ge- termin sowie die Anmerkung „nur für
ist vorbereitet. Es gehe um die Zukunft burtstag, der Junge sollte beizeiten ler- Erwachsene“. Schließlich forderte er
der Kinder, sagt er, um die Zukunft des nen, damit richtig umzugehen. Kostja Schadensersatz. Smykow schätzte den
Landes: Wenn niemand etwas unter- mag Zeichentrickserien, Komödien, am moralischen Schaden, den Kostja erlit-
nehme, drohe der „Untergang ten hat, auf 300 000 Rubel, rund
Russlands“. 9000 Euro. Er wollte einen Prä-
Smykow, 38 Jahre alt, Rechts- zedenzfall schaffen – für andere
anwalt in Moskau, hat beschlos- Eltern, für andere Sender, für
sen, sich dem Untergang ent- das ganze Land.
gegenzustellen. Schließlich war Der Prozess zog sich über drei

WASSILI DJATSCHKOW / RUSSLAND-AKTUELL.RU


es sein Sohn Konstantin, von Jahre. Das Gericht setzte rund
Smykow zärtlich Kostja gerufen, 20 Verhandlungstermine an und
der dem Feind die Tür geöffnet lud zahlreiche Zeugen, darunter
hat: Jeden Werktag um 19 Uhr, eine Psychologin von der Russi-
am Wochenende um 9.30 Uhr, schen Akademie der Wissen-
macht sich der gezeichnete Clan schaften.
der „Simpsons“ für drei, vier Ob die „Simpsons“ Propagan-
Folgen im Haus von Igor Smy- da enthielten, fragte der Richter.
kow breit, der sich deshalb ent- Ja, sagte Natalja Markowa, die
schieden hat, in der amerikani- Psychologin, mit fester Stimme.
schen Fernsehserie das Reich des Smykow Könne die Serie seelische
Bösen zu sehen. Schäden bei Kindern anrichten?
Smykow ist ein schwerer Ja, sagte Natalja Markowa, sie
Mann, der viel arbeitet und früh beobachte einen „Kult der Grau-
ergraut ist. Er studierte Jura, als samkeit und Gewalt“.
die Sowjetunion auseinander- Smykow atmete auf. Im Ok-
fiel, er beklagt die Korruption, tober 2003 bewarb er sich für
die Gleichgültigkeit, die allge- Aus der „Süddeutschen Zeitung“ die Kandidatur zum Moskauer
meine Verwahrlosung. Nach dem Oberbürgermeister. Alles schien
Studium war er kurze Zeit zuständig liebsten mag er die „Simpsons“: Bart auf einmal möglich. Er organisierte den
für die Vergabe von Lizenzen an Simpson, den beschränkten Sohn, des- Wahlkampf, gab Interviews. Doch er
Straßenhändler, danach versuchte er sen Schwester Lisa und vor allem Ho- trat nicht an.
sich im Ölgeschäft. Heute verdient er mer, den Vater, der mit seinem dicken Man sei sich über die Finanzie-
sein Geld als Unternehmensberater, eh- Bauch und seinen schütteren Haaren ein rung des Wahlkampfs uneins gewesen,
renamtlich arbeitet er für eine Men- wenig aussieht wie Igor Smykow. sagt Smykow leise. Vielleicht hatte er
schenrechtsorganisation – es sieht aus, Leider, sagt Smykow, veränderte die auch einfach das Gefühl, sich zu-
als suchte er noch immer einen Platz in Fernsehserie Kostjas Charakter, der nächst um seinen Sohn kümmern zu
der neuen Gesellschaft. Junge wurde immer schwieriger und ag- müssen.
Wahrscheinlich war es sein Glück, gressiver. Ende 2005 schließlich wies das Ge-
dass ihm Kostja irgendwann zu Hilfe „Ich würde meine Mutter töten“, sag- richt Smykows Klage zurück. Der Fern-
kam. te er eines Tages, ein andermal rief er: sehsender Ren-TV, an dem RTL zu 30
Der Junge ist neun Jahre alt, er geht in „Hau ab, Papa, ich kann sehr gut auf Prozent beteiligt ist, darf die „Simp-
die dritte Klasse und liebt Computer- dich verzichten.“ sons“ weiterhin ausstrahlen, um 19 Uhr.
spiele. Wenn er aus der Schule kommt, Kostja wollte wissen, was Kokain ist, Smykow will jetzt nach Straßburg
macht er Hausaufgaben, sieht fern, isst zudem äußerte er den Wunsch, einen ziehen, vor den Europäischen Ge-
etwas, spielt. Dann sieht er wieder fern. Mann zu küssen. „Warum schaust du richtshof für Menschenrechte, er möch-
Smykow hat das Gefühl, er müsse seinen dir nicht die guten alten sowjetischen te alles bekämpfen, was russische Kin-
Sohn gegen die neue Freiheit schützen. Zeichentrickfilme an?“, fragte der Va- der süchtig macht.
Gleich in der ersten Klasse bekam ter. „Sie sind hübsch, sie sind friedlich, Als Nächstes, sagt er, will er Pepsi-
Kostja eine Lehrerin, die ihm mehrere in ihnen gibt es nur das Gute.“ Cola verklagen. Imke Donner

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 53
Gesellschaft

Die Große Koalition ist mehr als ein Zufallsprodukt, sie Kluft, die seit den sechziger Jahren linke Deutsche von
spiegelt eine gesellschaftliche Entwicklung wider, die zur rechten Deutschen trennte, schwindet – was besonders
Implosion der politischen Lager geführt hat. Die kulturelle den Konservativen Sorgen macht.

D E B AT T E

Das bürgerliche Dilemma Vo n C o r d t S ch n i b b e n

E
s gibt Tage im Leben einer Nation, die sind so bedeutend, Nur dreimal während seiner Rede produziert Stoiber den Bei-
dass man nicht mehr über sie reden muss: der 4. Juli 1954, der fall, der angemessen ist für diese Art Unionsveranstaltungen. Als
2. Juni 1967, der 9. November 1989. Und es gibt Tage, die sind er vom deutschen Papst spricht und dem christlichen Men-
so wichtig, dass man über sie reden muss. Der 25. September 1965, schenbild der Union, als er mit beifallheischender Stimme be-
der 26. September 2005 und der 22. Oktober 2005. Das sind solche schwört, dass jeder Deutsche sein Land lieben müsse, und als er
Tage, an denen sich der Lauf der Geschichte unmerklich verschiebt, erzählt, dass seine älteste Tochter bald ihr drittes Kind bekommen
aber sie bleiben nicht im Gedächtnis, weil da keiner Weltmeister werde.
wird, kein Student erschossen wird und keine Mauer fällt. Glaube, Vaterland, Familie – das sind die Werte, von denen die
Am Morgen des 22. Oktober betritt Edmund Stoiber die Kon- Jungkonservativen glauben, dass sie im Wahlkampf eine zu ge-
gresshalle in Augsburg, er besucht den Deutschlandtag der Jun- ringe Rolle gespielt haben. Die 380 Delegierten in der Augsbur-
gen Union, und als dieses Bundestreffen der jungen Konservati- ger Kongresshalle sehen sich selbst, wie es in den Tagungsunter-
ven geplant wurde, da war lagen heißt, als „Innovations-
dieser Tag einen Monat nach abteilung“ der Union, als
der Bundestagswahl vorgese- Avantgarde aller Kräfte rechts
hen als großes Jubelfest eines von der Mitte, und man spürt
schwarzen Aufbruchs, und die wütende Enttäuschung
deshalb wird Stoibers Marsch über den von den Wählern
durch die abgedunkelten Rei- abgesagten Rechtsruck. Die
hen der Delegierten von Studenten, Rechtsanwälte,
Scheinwerfern begleitet, die Angestellten, Unternehmer
man Verfolger nennt, vor al- kritisieren in ihren Dis-
lem aber von einer Ein- kussionsbeiträgen, dass die
marschmusik, die man auf Unionsspitze das in Leipzig
Schalke spielt, wenn die beschlossene Reformpro-
Mannschaft den Rasen betritt. gramm geopfert habe für Mi-
„Whatever You Want“ tönt es nisterposten, dass es im Wahl-
aus den Lautsprechern, ein kampf nicht gelungen sei, die
stapfender Song von Status Menschen „im Herzen zu be-
MARC-STEFFEN UNGER

Quo, in dem die Rocker da- wegen“, dass man national-


von singen, dass du – was konservativen Wählern nicht
auch passiert, ob du gewinnst, mit der Homo-Ehe kommen
ob du verlierst – immer schön dürfe. Man müsse einsehen,
angibst. Designierte Kanzlerin Merkel, Koalitionspartner (Oktober 2005) dass sich sowohl die Spitzen-
Der Song wirkt, als wäre er Wütende Enttäuschung der Jungkonservativen kandidaten Kohl und Stoiber
vor 25 Jahren für Stoibers als auch Merkel bei den letz-
Auftritt an diesem Morgen geschrieben worden, ein Lied, das ten drei Bundestagswahlen einer diffusen linken Mehrheit beugen
klingt wie der Triumphmarsch eines Gewinners, das aber erzählt mussten.
von der Angeberei eines Verlierers, und was Stoiber in den Ge-

D
sichtern der jungen Delegierten lesen kann, an denen vorbei er ie Sorge des bürgerlichen Lagers, in der geliebten Heimat
zum Veranstaltungspodium strebt, das macht ihm klar, dass es bei Bundestagswahlen nie mehr mehrheitsfähig zu sein,
eine schwierige Show wird an diesem Tag. Auf den Tischen der trieb das in Augsburg versammelte junge bürgerliche La-
Jungkonservativen liegt eine Broschüre, die auf ihrer Titelseite ver- ger dazu, nicht nur auf Stoiber, sondern auch auf Angela Merkel
rät, worum es auf diesem Deutschlandtag eigentlich gehen sollte. loszugehen. Ihr werfen die Jungkonservativen vor, als Führungs-
Ein leerer Theaterraum mit heruntergelassenem Vorhang und der figur den Kompromiss mit dem anderen Lager zu verkörpern
Zeile: „The end – die 68er verabschieden sich von der Polit-Büh- und nicht den visionären Aufbruch. Aber wer genau hinhörte, der
ne“. Diese Abschiedsgala sollte geboten und der Beginn einer erkannte das wahre Dilemma des bürgerlichen Lagers, das viel
„neuen Gründerzeit“ proklamiert werden. größer ist als das Unglück, eine Führungsfigur zu haben, der man
Der Aufbruch ist an der Urne verhindert worden, doch nicht das Reden, Schminken, Frisieren und das bürgerliche Denken
das Volk machen die Enttäuschten verantwortlich, sondern den mühsam beibringen musste. Das bürgerliche Lager zerfällt in Re-
bayerischen Ministerpräsidenten und andere Spitzenpolitiker der formbürger und Altbürger, und die trennt mindestens so viel wie
Union, die einen falschen Wahlkampf geführt und den histori- Kommunisten von Sozialdemokraten. Die einen Bürger wollen Si-
schen Sieg vermasselt haben sollen. cherheit, Stabilität und Schutz vor Risiken, sie wollen einen star-
54 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
ken Staat und ein soziales Netz. Die anderen Bürger wollen ra- Besonders der kulturelle Überbau der Republik entsprach
dikale Reformen, mehr Eigeninitiative, mehr Risiko, sie wollen nicht den Erfordernissen eines modernen, westlich orientierten
weniger Staat und mehr Markt; die einen wollen immer noch Landes. Wie können die Schulen lebensnaher, wie können
„keine Experimente“ wie in den fünfziger Jahren und wählen des- die Hochschulen berufsorientierter und demokratischer werden,
halb CDU, die anderen wollen „Mehr Freiheit wagen“ und wählen wie kann die Gesellschaft durchlässiger und das Alltagsleben
deshalb CDU oder FDP. toleranter werden – solche Fragen trieben besonders die jun-
Beide Gruppen hat die CDU im vergangenen Jahr verunsi- gen Bürger des Landes in immer größeren Widerspruch zu
chert, Paul Kirchhoffs flat tax und die Kopfpauschale haben die den konservativen Autoritäten der Republik. An den Schu-
einen verschreckt, Horst Seehofers Comeback und die christliche len und Hochschulen begannen Gymnasiasten und Studenten
Sozialpropaganda die anderen. Die Mehrheit der jungen Konser- ab Mitte der sechziger Jahre auf Mitbestimmung und Bildungs-
vativen in der Augsburger Kongresshalle sind Reformbürger, sie reformen zu drängen, in ihrer Freizeit zog es die Aufsässigen
wollen eine marktradikale Union, und deshalb jubeln sie dem in die Partyräume ihrer Bürgerhäuser, in Milchbars oder Kel-
Mann zu, der für eine neoliberale CDU steht wie kein anderer. lerclubs, um die Musik zu hören, die ihre Sehnsucht nach
Friedrich Merz reißt seine Zuhörer zu La-Ola-Wellen hin, weil er einem freieren Leben ausdrückte. Der amerikanische Rock’n’Roll
eine klare Botschaft hat: Die CDU muss eine bürgerliche Partei der der Fünfziger, aber noch mehr die englische Beat-Musik der
radikalen Reformen sein, sonst werden sich die Reformer außerhalb frühen Sechziger wurde zum Kommunikationsmittel der deut-
der CDU sammeln, bei der FDP oder sonstwo, wir sind sozial ge- schen Bürgerkinder, denen ihr Land zu eng, zu autoritär und
nug, deshalb müssen wir radikaler sein. Stoiber formulierte es an- zu provinziell geworden war. Die deutschen Radiosender spiel-
dersherum: Je marktradikaler wir sind, desto weniger Stimmen ten diese Songs nicht, man musste sie bei den amerikanischen
bekommen wir, je sozialer wir sind, desto mehr Leute ziehen wir und britischen Soldatensendern AFN und BFBS aufschnappen
von der SPD herüber – die Vorstellungen von Neoliberalen wie oder bei den Piratensendern, die von der Nordsee aus ins Land
Friedrich Merz seien in Deutschland nicht mehrheitsfähig. schallten.
Konservativ und neoliberal sein zu wollen, zu bewahren und zu

H
reformieren, gute alte Werte wie Sparsamkeit, Bescheidenheit its aus den USA und England zu hören war einer Avant-
und Gemeinsinn zu verkünden und gleichzeitig einen dynami- garde vorbehalten; welche Songs man kannte und moch-
schen Kapitalismus zu propagieren, gottesfürchtig zu sein und te, trennte den Progressiven vom Spießer. Die Botschaft
gleichzeitig marktgläubig, den Familienmenschen zu predigen der Songs wurde antibürgerlich verstanden, und selbst wenn Pe-
und ihm gleichzeitig Arbeitsmarktflexibilität abzufordern, das ist tula Clark Anfang 1965 harmlos von „Downtown“ schwärmte,
das Dilemma des bürgerlichen wurde das von deutschen
Lagers. Bürgerkindern als die subver-
Traditionsbewusst sein zu sive Aussicht auf ein Leben
wollen, aber modern sein zu verstanden, in dem man sich
müssen, weil die ökonomische wild anzieht, die Haare wach-
Existenzberechtigung des sen lässt und mal einen Tag
Bürgertums nun mal ein Wirt- blaumacht.
schaftssystem ist, das so dyna- In den amerikanischen und
misch, so rücksichtslos, so ef- englischen Top Ten des Jahres
fektiv, so zerstörerisch ist wie 1965 sind die Botschaften ver-
kein anderes vorher in der sammelt, die für die Söhne
Geschichte, aus diesem Wi- und Töchter des deutschen
derspruch zwischen Absicht Bürgertums zu Argumenten
und Zwang, zwischen Wollen wurden, um gegen die spießi-
und Müssen bezieht die bür- ge deutsche Leitkultur zu re-
gerliche Gesellschaft ihre bellieren. „You’ve Lost that
MARCUS BRANDT / DDP

Triebkraft. Im politischen und Lovin’ Feelin’“ (Righteous


kulturellen Überbau drückt Brothers), „Eight Days a
sich dieser Widerspruch aus Week“ (Beatles), „Play with
als Kampf zwischen Konser- Fire“ (Rolling Stones), „Stop!
vativen und Rebellen, es tobt In the Name of Love“ (Sur-
eine ständige Schlacht zwi- Finanzpolitiker Merz (Februar 2004, mit Bierdeckel-Steuermodell) premes), „Ticket to Ride“
schen dem bewahrenden und La-Ola-Wellen bei den Marktradikalen (Beatles), „I Can’t Get No Sa-
dem dynamischen Bürgertum, tisfaction“ (Rolling Stones),
und wenn der Konservatismus zu sehr zur Fessel der bürgerlichen „Like a Rolling Stone“ (Bob Dylan), „In the Midnight Hour“
Gesellschaft wird, dann rebelliert die dynamische Fraktion. (Wilson Pickett), „Eve of Destruction“ (Barry McGuire). All die-
se Songs erzählten in ihrer Musik und in ihren Texten von Leu-

A
nfang der sechziger Jahre etwa war die bundesdeutsche ten, die aufsässig waren, die Spaß haben wollten, die Fragen stell-
Gesellschaft im Inneren umstellt von so viel Konservatis- ten, die gegen das wohlgeordnete Leben rebellierten; diese Son-
mus, von so vielen Regeln, Verboten und Vorschriften, gs, von Januar bis Dezember 1965 auf den vordersten Top-Ten-
von so vielen Werten und bürgerlichen Tugenden, von so viel Plätzen, kamen für deutsche Bürgerkinder aus einer Welt, in der
Deutschtümelei und Provinzialität, dass es aus ökonomischen, po- es Bürgerrechtsbewegungen gab und die ersten Hippies, wilde
litischen und kulturellen Gründen irgendwann krachen musste: Mode und Anti-Kriegs-Demonstrationen, Drogen und Sex; die
Mit der Hierarchiegesellschaft, mit den ständischen Strukturen der Popmusik wirkte in diesen Jahren in Deutschland so politisch, weil
Adenauer-Republik, mit den Ordinarienuniversitäten („Unter den sie Ansprüche an ein Leben formulierte, das von den Autoritäten
Talaren der Muff von tausend Jahren“) war die Modernisierung als Frontalangriff auf das bürgerliche Leben verstanden wurde.
der kapitalistischen Produktion nicht zu meistern. Von „Reform- Als die Rolling Stones im September 1965 auf ihrem ersten
stau“ redeten damals die Gesellschaftskritiker und vom „Bil- Deutschland-Trip in Münster und anderswo spielten, schlug ihnen
dungsnotstand“, der Philosoph Karl Jaspers beklagte „das Fort- der Hass des deutschen Bürgertums entgegen, im Feuilleton der
wursteln der Regierung“ und die „Parteienoligarchie“ und frag- „Frankfurter Allgemeinen“ wurde den deutschen Bürgerkindern
te ängstlich „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ der Krieg erklärt: „Wie ist es möglich, dass fünf lächerlich un-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 55
Gesellschaft

männlich gekleidete und behaarte Wesen Tausende junger Men- schauer dazu, nicht mehr artig zu zweit oder in Reih und Glied
schen zu frenetischem Hüftwippen und Kopfwiegen bringen? Die zu tanzen.
haben nichts, was sie interessiert, wofür sie schwärmen, was sie An dem Theater, an dem Eckstein tanzte, war zur selben Zeit Pe-
beschäftigt.“ ter Zadek dabei, das deutsche Theater so umzukrempeln wie der
Solange diese Musik nur auf Konzerten und in Clubs zu hören „Beat-Club“ das deutsche Fernsehen. Mit Schauspielern wie Bru-
war, blieb sie in ihrer Wirkung beschränkt. Doch am 25. Septem- no Ganz, Judy Winter und Vadim Glowna und Kollegen wie Peter
ber 1965 geschah etwas, was das Leben in der Bundesrepublik zu Stein und Wilfried Minks entnazifizierte der Jude Zadek, aus Lon-
verändern begann. Wilhelm Wieben erschien auf den Bildschir- don nach Deutschland gekommen, das deutsche Bühnenwesen
men der Schwarzweißfernseher, entschuldigte sich bei den „Da- und ließ sich vom „Beat-Club“ und seiner Bildersprache inspirie-
men und Herren, die die Beat-Musik nicht mögen“ und kündig- ren, mischte Pop-Art mit Brecht zu Happenings und wollte ein
te die erste Show im Deutschen Fernsehen an, die „nur für euch Theater, das die Grenzen zwischen Theater und Leben übersprang.
gemacht ist“, für alle jungen Leute, die die aufsässige Musik nicht In seinen Bühnenbildern nutzte Zadek die neue Bildersprache
länger heimlich hören wollten. der Pop-Art und Op-Art, auch die deutsche Malerei war inzwi-
Radio Bremen sendete von nun an einmal im Monat den „Beat- schen inspiriert von modernen amerikanischen und britischen
Club“, eine Musiksendung, die nicht nur die Botschaften von Einflüssen, psychedelische Kunst – von Drogen befeuert – mach-
Jimi Hendrix und Frank Zap- te sich breit, und auch im
pa, den Stones, Who, Doors, deutschen Filmwesen sorgten
Status Quo und Steppenwolf Regisseure wie Alexander
bis in die deutschen Wohn- Kluge und Volker Schlöndorff
zimmer des letzten Provinz- dafür, den Einfluss alter Ka-
dorfes brachte, sondern auch meraden zurückzudrängen.
die Mode, die Sprache und Das Leben in der Bundes-
die Regeln einer bis dahin un- republik Mitte der sechziger
deutschen Kultur. Jahre hatte sich verändert, jun-
Die Macher des „Beat- ge Bürgerkinder auf den Gym-
Club“ mussten sich in der nasien und den Universitäten
Presse vorhalten lassen, mit sahen anders aus, sie trugen
ihrer Sendung würden sie den nicht mehr die Konfirmations-
Eltern Schwierigkeiten ma- anzüge auf, sie hatten sich Se-
chen und schlechte Vorbilder cond-Hand-Sachen besorgt,
produzieren. Und da in den lange Ledermäntel oder Jeans
Sendungen Briefe von jungen und Parkas aus den Army-
Zuschauern verlesen wurden, Shops, aus der Londoner Car-
baten die Absender darum, neby Street kamen wildgemus-
ihre Zuschriften nur anonym terte Hemden mit riesigen Kra-
zu bringen, da sie Ärger in gen. In den Innenstädten der
der Schule und zu Hause be- „Beat-Club“-Moderatorin Uschi Nerke (um 1967) Großstädte eröffneten die er-
kamen. Den Sex, die Musik, die Demokratie neu erfinden sten Modeläden nur für Ju-
gendliche. 1963 waren in den

D
ie Heftigkeit, mit der über eine – aus heutiger Sicht – Jahres-Top-Ten nur deutsche Titel, von „Junge, komm bald wieder“,
rührend harmlose Fernsehsendung gestritten wurde, be- über „Ich will ’nen Cowboy als Mann“ und „Vom Stadtpark die La-
schreibt den Beginn eines Kulturkampfs, der das deut- ternen“ bis „Siebentausend Rinder“; 1966 schafften es nur noch Roy
sche Bürgertum auseinanderzutreiben begann: auf der einen Sei- Black und Freddy in die Jahreshitparade, es dominierten die Beatles,
te die konservativen Altbürger, die in ihrer Verehrung von Ord- Beach Boys, Mamas and Papas, Nancy Sinatra.
nung, Anstand und Sauberkeit den Werten des „Tausendjährigen So wie die Bürger handgreiflich wurden, wenn sie Langhaari-
Reiches“ huldigten oder aber den schrecklichen Irrweg dieser ge oder Kurzberockte sahen, so führte auch die Polizei verbissen
Jahre durch penible Korrektheit, deutsche Gründlichkeit und Re- den Straßenkampf gegen undeutsche Gammler und gitarrespie-
geltreue vergessen machen und zukünftiges Fehlverhalten ver- lende Hippies auf deutschen Plätzen und an deutschen Brunnen.
hindern wollten; auf der anderen Seite die Bürgerkinder, die ei- Das Bürgertum wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den Be-
gentlich nicht mehr wollten als ein freieres, toleranteres, weltof- freiungsversuch ihrer eigenen Kinder und trieb sie immer weiter
feneres Leben. Warum ausgerechnet der „Beat-Club“ zum Kata- in die Subversion.
lysator eines Kulturkampfs wurde, erlebten die Beteiligten der

W
Sendung noch mehr als die Zuschauer. as als zarte Bewegung für ein bisschen mehr Spaß, bes-
Für Gerd Augustin, Miterfinder des „Beat-Club“ und Mode- sere Musik und mehr Sex begonnen hatte, wurde so zu
rator der ersten Sendungen, Karin Eckstein, eines der Go- einer Schlacht gegen das bürgerliche Leben, die Bür-
go-Girls, und Evelyn Frisinger, Kostümgestalterin, alle drei gerkinder entdeckten den Reiz der Boheme und den Spaß an der
Bürgerkinder, war der „Beat-Club“ ein gesellschaftlicher und Provokation, und je weniger Spaß die Autoritäten verstanden,
ein persönlicher Kulturbruch. Für Augustin, Sohn eines Nazi- desto mehr wuchs das Ganze an den Gymnasien und Hochschu-
Vaters, militärisch erzogen, war es die Chance, sein Wissen über len zu einer antiautoritäten Bewegung.
die Popmusik – von seinem Vater belächelt – unters Volk zu brin- Der Vater war autoritär, der Lehrer war autoritär, der Polizist
gen: Er hatte vorher zwei Jahre in New York gelebt und als ers- war autoritär, der Staat war autoritär, die Gesellschaft war auto-
ter deutscher DJ in Bremen Platten aufgelegt. Frisinger, Tochter ritär, und dagegen half nur der kollektive Regelverstoß. Erst hat-
eines Musikers, war im Faltenrock ins Swinging London gereist ten noch die Botschaften von Jim Morrison, Frank Zappa, Janis
und Monate später im Minirock zurückgekommen; ihre Mode, Joplin und The Who gereicht, aber bald lieferten Herbert Mar-
die sie in den „Beat-Club“-Sendungen zeigte, kopierten Tau- cuse, Wilhelm Reich und Sigmund Freud die Einsichten.
sende deutscher Mädchen, bei Karstadt in Bremen allerdings Was sich jahrelang an Spannungen aufgebaut hatte im Wirt-
wurde Frisinger von empörten Bürgerinnen bespuckt. Eck- schaftswunderdeutschland, begann sich als Mordswut zu formie-
stein, im Hauptberuf Tänzerin am Goethe-Theater, tanzte im ren, die Heuchelei des bürgerlichen Lebens und des bürgerlichen
„Beat-Club“ wie die junge Tina Turner und brachte viele Zu- Staates machte den Bürgerkindern zu schaffen: Die Familie soll-
56 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
ten sie schätzen, aber Vater ging fremd; die Kirche sollten sie ach- Politisch wurde die große Bürgerinitiative der außerparlamen-
ten, aber der Papst war gegen Verhütung; die Marktwirtschaft soll- tarischen Opposition der Sechziger zum Vorbild für Hunderte
te man toll finden, aber in Afrika hungerten die Kinder; die USA und Tausende großer und kleiner Bürgerinitiativen in den fol-
waren ein Vorbild, aber sie unterdrückten die Schwarzen und genden Jahrzehnten, gegen Tierversuche, Atomkraftwerke und
warfen Bomben in Vietnam. Hundekot. Sie machten aus der wilhelminischen Untertanen-
Gegen die Heuchelei der Konservativen setzten die Bürger- republik eine deutsche Demokratie, die mehr ist als eine Par-
kinder die Hoffnung auf ein ehrlicheres, sinnvolleres und mora- teiendemokratie.
lischeres Leben. Sie lebten in einer heilen Welt – noch ohne Dro-

I
gentod und Aids – und in der Gewissheit, den Sex, die Schule, das n der SPD verdrängten die Eingetretenen die alten Traditi-
Wohnen, die Musik und die Demokratie neu erfinden zu dürfen. onsgenossen von den mittleren Führungsfunktionen, die Ar-
Wo sie hinblickten, ob nach Paris, San Francisco, Rom, Tokio oder beiterpartei verbürgerlichte, ist heute in der Hand von 50- bis
London, entdeckten sie Mitkämpfer. 60-Jährigen, die mal an die Illusion geglaubt haben, der Kapita-
All die nackten Brüste dieser Jahre, all die Scheißhaufen auf lismus könne auf dem Verwaltungswege sozialistisch werden.
den Tischen der Autoritäten, all die Hasch-ins, Go-ins, Sit-ins Weil sie die SPD irgendwann zu reformistisch und angepasst
waren die Rebellion von Bürgern gegen das Bürgertum, der Bo- fanden, zogen viele der 68er weiter zu den Grünen, und ge-
hemien rebellierte gegen den meinsam gelang es Rot und
Bourgeois. Spätestens nach Grün, das antikonservative
den ersten blutigen Opfern – Milieu, das sich in den sech-
Benno Ohnesorg und Rudi ziger Jahren herausgebildet
Dutschke – war die antiauto- und bis in die neunziger ge-
ritäre Revolte zur allgegen- halten hatte, für den Wahlsieg
wärtigen Protestbewegung 1998 zu mobilisieren.
der 68er geworden, die das Das rot-grüne Projekt war
Land fortan umkrempelte. in den Augen ihrer Wähler
Alles ist politisch, hieß es mehr ein kulturelles als ein
nun, die Gesellschaft sowie- politisches Projekt. Sie woll-
so, die Polizei, die Hoch- ten eine moderne Republik,
schule, das Theater, die Lite- in der Schwule und Lesben
ratur, die Musik, die Familie, heiraten durften, in der Wind-
der Orgasmus. „Es lebe die kraft die Atomkraft ablöst, in

WOLFGANG KUNZ / BILDERBERG


Weltrevolution und die dar- der Bildung und Kultur wich-
aus entstehende freie Gesell- tiger sind als Polizei und Bun-
schaft freier Individuen“, deswehr, in der Grönemeyer
hatte Rudi Dutschke das Ziel mehr zählt als der „Musikan-
dieser Revolte formuliert, die tenstadl“, in der Frauen mehr
kein Programm hatte. Macht haben, Ausländer
Nun, aus der Weltrevolu- Demonstrant Dutschke (1968) mehr Rechte und Ansehen.
tion wurde bekanntermaßen „Für eine freie Gesellschaft freier Individuen“ Den Wählern von Rot-
nichts, und die 68er wurden Grün fehlte eine Vorstellung
nie die geschlossene machtvolle politische Bewegung, für die sie davon, wohin das Land sich vor allem sozialökonomisch ent-
heute gehalten werden. Die eigene Ohnmacht immer wieder wickeln sollte, die „neue Mitte“ hatte kein Programm, keine Vi-
spürend, suchten die bürgerlichen Rebellen im Proletariat das sion, keine Forderungen, es war ein Verteidigungsbündnis zur
revolutionäre Subjekt; die einen zog es in kommunistische Par- Abwehr des sozialen Abstiegs.
teien und Zirkel (DKP, KPD/AO, KPD/ML, KBW), 392 soge- Gerhard Schröder und Joschka Fischer ist es im Wahlkampf
nannte linksextremistische Organisationen zählte der Verfas- 2002 wie auch schon 1998 gelungen, Rot-Grün als Bündnis des ge-
sungsschutz 1971; die anderen trieb es zu den Arbeitern und An- sellschaftlichen Überbaus zu profilieren, als Träger von Friedens-
gestellten der Sozialdemokraten, ein paar tausend 68er machten und Solidaritätssehnsüchten der sechziger und siebziger Jahre.
sich auf den langen Marsch durch die SPD; später zogen ein paar Der Pakt zwischen den Rot-Grünen und ihren Wählern: Ihr
tausend von ihnen dann weiter zu den Grünen und vereinigten kriegt noch mal unsere Stimme, dafür liberalisiert ihr weiter den
sich dort mit den Ex-Kommunisten aus den K-Gruppen und klein- gesellschaftlichen Überbau und lasst die sozialökonomische Ba-
bürgerlichen Naturschützern zu einer neuen Partei. sis dieser Republik so, wie sie ist.
Die Bourgeoisie zu stürzen und den Kapitalismus zu beseitigen, Bis zur Wahl 2002 reichte der Zusammenhalt des rot-grünen
das haben die rebellischen Bürger nicht geschafft, aber den deut- Milieus, seit danach aber immer klarer wurde, dass die Moderni-
schen Kapitalismus zu verwestlichen und zu modernisieren, das sierung des Überbaus von Rot-Grün erledigt war und die ökono-
ist ihnen gelungen. Die sich entwickelnde Jugend- und Popindu- mische Basis der Gesellschaft durch Rot-Grün genauso reformiert
strie wurde zu einem gesellschaftlichen Integrationsmedium wie wurde, wie es Schwarz-Gelb gemacht hätte, verloren SPD und
die Gewerkschaften in den Fünfzigern, und die Öffnung der Re- Grüne an Anziehungskraft. Teile der rot-grünen Boheme ent-
publik wurde zum Innovationsprogramm eines Kapitalismus, der deckten ihre neue Bürgerlichkeit, die eigentlich ihre alte war,
an Bürokratie und Spießigkeit zu ersticken drohte. und die jüngeren von ihnen schmückten ihre Neuentdeckung
verzückt mit der Pose des Rebellen. Bürgerkinder, die noch von

A
ls Konsumrebellen etablierten sich viele der 68er, als Anti- Frank Zappa geschwärmt und auf Maos rote Bibel geschwo-
kapitalisten, denen es nicht mehr ging um mehr soziale Ge- ren hatten, dann in den Achtzigern im elitären Konsumstil das
rechtigkeit und Abschaffung der Klassengegensätze, son- Hipstertum gefeiert hatten, erklärten den puren Kapitalismus und
dern um den moralisch besseren Konsum. Für die einen hieß das, seine liberalen Befreier zur Coolness des 21. Jahrhunderts.
den Massengeschmack durch Hipstertum zu unterlaufen, für die an- Wer sich noch in den Neunzigern im Neonlicht der Szenebars
deren, ökologisch bewusst einzukaufen. Für den Konsumrebellen gesonnt hatte, war nun der Neonliberale, der im coolen Aufstand
soll der Kauf Ausdruck von Weltanschauung sein. In dem, was ich gegen den bürokratischen, satten Wohlfahrtsstaat die Lösung des
nicht kaufe, drückt sich aus, was ich denke; in dem, was ich kaufe, deutschen Problems sieht. In den Feuilletons trommelten diese
drückt sich aus, was die Leute denken sollen, was ich denke. Neonliberalen für eine neue Republik, in der aus einem Guss
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 57
Gesellschaft

durchregiert werden müsse, weil Globalisierung, Demografie und zuletzt den Verfassungsrichter Udo Di Fabio gekürt. Die Wahl die-
Staatsverschuldung keine andere Wahl mehr ließen. Die „Wirk- ser Männer sagt einiges über die Reformphantasie des bürgerli-
lichkeit“ diktiere die Politik der Zukunft, und die Wirklichkeit sei chen Lagers, besonders der glückliche Familienvater Di Fabio, der
immer rechts, da, wo Gewinn gemacht werde. Das bürgerliche La- strenge Bürger mit dem Zweitagebart, beseelt von dem Gedanken,
ger, geeint von neoliberal bis neokonservativ, sollte mühelos ins dass im Kinderkriegen der Sinn der bürgerlichen Freiheit liege, ist
Kanzleramt marschieren und danach mindestens die Kulturrevo- so etwas wie der Peter Hahne der Rechtsintellektuellen. Sein
lution ausrufen. Buch „Die Kultur der Freiheit“ ist ein Plädoyer für die Rückkehr
Das Ergebnis ist bekannt, die Deutschen sagten die bürgerliche der Heuchelei; den Deutschen empfiehlt er den Kanon der Wer-
Machtergreifung ab und ließen beide Lager implodieren. Rot-Grün te, an dem schon in den fünfziger Jahren die bürgerlichen Fami-
und Schwarz-Gelb hatten nicht genügend Überzeugungskraft. lien scheiterten. Als im besten Fall volksromantisch ist sein Glau-
be zu bezeichnen, man könne ein Volk zu Werten und Sinn be-

G
egen die Neoliberalen sprach die Wirklichkeit: Ihre kehren, mittels Debatten, Werbekampagnen oder Fernsehserien.
schlichte Wahrheit, mit sinkender Staatsquote, sinkenden Die Überschätzung der Propaganda, der er erliegt, ist die Um-
Steuern, sinkenden Löhnen und steigenden Gewinnen kehrung seiner Behauptung, die Deutschen seien von Hitler mit
ließen sich quasi automatisch mehr Wachstum und mehr Ar- allen Mitteln moderner Propaganda verführt worden.
beitsplätze erzielen, glauben Eine neue Gründerzeit
immer weniger. Die Japaner brauche das Land, wollte
müssen ein Drittel weniger auch Angela Merkel den
Steuern und Abgaben zahlen Deutschen im Wahlkampf
als die Deutschen, warum kri- einreden, wie in den fünfzi-
selt ihre Wirtschaft? Bei den ger Jahren müsse sich das
Briten stieg die Steuer- und Volk engagieren, um eine
Abgabenquote seit 1993 um „Revitalisierung der aktiven
3,5 Punkte auf deutsches Ni- Bürgergesellschaft“ gehe es.
veau, warum fällt die Ar- Glauben das deutsche Bür-
beitslosenquote? In der gertum und seine Vordenker
Schweiz gibt es flexible Ar- und Vertreter wirklich, im 21.
beitsmärkte, freundliche Steu- Jahrhundert könne die dritt-
ersätze und reformierte Sozi- stärkste Wirtschaftsmacht in
alsysteme, warum wächst de- einer globalisierten Welt mit
ren Wirtschaft langsamer als den Werten der fünfziger Jah-
die deutsche? In Deutschland re bestehen? Ist das alles, hat

ROBERTO PFEIL / AP
sind seit dem Jahr 2000 die das deutsche Bürgertum 40
Spitzen-, Eingangs-, Körper- Jahre nach den Sechzigern
schaft- und anderen Steuer- nicht mehr zu bieten als „Vor-
sätze stark gefallen, die Fir- wärts in die Vergangenheit“?
men werden effektiv ein Wahlsieger Schröder, Fischer, Lafontaine (1998) Wenn in den Sechzigern und
Fünftel weniger belastet als Träger der Friedens- und Sicherheitssehnsüchte der sechziger Jahre Siebzigern Reformer des Jah-
1998, die Gesamtsteuerquote res gewählt worden wären,
liegt auf Nachkriegstief, der Kündigungsschutz wurde gelockert, hätte man Willy Brandt, Alice Schwarzer und Rudi Dutschke
in deutschen Unternehmen wird mittlerweile mehr Geld verdient gekürt. Und jetzt Kirchhof, Merz, Di Fabio, also Steuern, Steuern,
als investiert, gemessen am Volkseinkommen erreicht der Anteil Familie, wo ist der Mut, die Vision, der Aufbruch?
der Gewinne aus Unternehmertätigkeit und Vermögen zuletzt

D
33,5 Prozent, ein Rekordwert aus den sechziger Jahren des letz- as große Jahr der bürgerlichen Auferstehung ist vorbei, es
ten Jahrhunderts – warum reicht das alles nicht, um den neoli- beginnt, ja, was? Das Jahr der Pragmatiker? Keine Show,
beralen Automatismus zu befriedigen? Kann es möglicherweise keine Werte, keine Debatten? Die Wähler haben die beiden
daran liegen, dass es keine schlichte Wahrheit gibt, dass man Lager implodieren lassen, Rot-Grün gibt es nicht mehr, gab es im
möglicherweise den Konsum der Deutschen durch Reallohn- letzten Jahr eigentlich schon nicht mehr, der Modernisierungs-
erhöhungen befördern muss, statt die Reallöhne – wie seit fünf auftrag war abgearbeitet. Schröder und Fischer hatten ihre Parteien
Jahren geschehen – zu senken, und dass es möglicherweise nicht in der Regierungszeit erfolgreich entideologisiert, so dass beson-
einfach um mehr Reformen geht, sondern um andere Reformen ders für die Sozialdemokraten der Schritt über den im Wahlkampf
und den richtigen Reformmix? Sind das nicht etwas zu viele Fra- noch beschworenen Richtungsgraben nur noch die Sache von ein
gen, um sich mit neoliberaler Überzeugungskraft als Dolmetscher paar Tagen war. Es regiert nun das Patt, das schon seit einem Jahr
der Wirklichkeit zur Wahl zu stellen? den Gang der Dinge bestimmte, jene Große Koalition, die Hartz
Das bürgerliche Lager fordert von seinen Anhängern und IV und andere Reformprojekte verabschiedete, jene Große Koali-
Wählern, schizophren zu sein. Vertraue dem Markt, aber rechne tion, die in der Gesellschaft langsam von unten gewachsen war.
mit seiner Willkür; plane weitsichtig, aber riskiere alles; konsu- Der heftige innerbürgerliche Konflikt zwischen Bohemien und
miere aus vollen Händen, aber sorge fürs Alter; suche das Neue, Bourgeois hat sich in 40 Jahren totgelaufen, keiner hat das besser
aber schätze die Tradition; denke global, aber liebe deine Heimat; vorgeführt als der Bürgerschreck Fischer, der bei seinem Abgang
misstraue dem Staat, aber gehorche ihm. hinterließ, er sei der letzte Rock’n’Roller der deutschen Politik.
Der Neoliberale will, dass sich der Staat so wenig wie möglich Die drei vom Beat-Club – Augustin, Frisinger und Eckstein – ha-
in die Wirtschaft einmischt, der Neokonservative will, dass der ben ihre Karrieren vom Bohemien zum Bürger unterschiedlich er-
Staat die Moral, die Familie, den Gemeinsinn schützt. Der Neo- lebt. Evelyn Frisinger mietete sich von den Kostümgeldern im „Beat-
liberale will freie Medienmärkte, der Neokonservative will keinen Club“ einen Laden in der Bremer Innenstadt, obwohl sie lieber ei-
Schund im Privatfernsehen, und so weiter und so fort. nen Piratensender in der Nordsee gegründet hätte, vergnügte sich
Zum „Reformer des Jahres“ haben die Initiative „Neue Soziale mit Rod Stewart, Cat Stevens und Scott Walker, galt unter den Bre-
Marktwirtschaft“ und die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszei- mer 68ern als Kapitalistin, weil sie einen Laden hatte, wählte stramm
tung“ in den letzten drei Jahren nacheinander den Steuerrefor- Willy, hat jetzt einen schicke Boutique in bester Innenstadtlage und
mer Paul Kirchhof, den Bierdeckelökonomen Friedrich Merz und wählt deshalb FDP. Karin Eckstein tanzte bis 1970 mit ihrer Zwil-
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lingsschwester zu den Songs von den Small Faces, Kinks, Hollies, Meinungsverschiedenheiten mit ihrer Vorsitzenden nun auch über
Beach Boys und tanzte am Theater die Medea, erfüllte sich dann Rockmusik austragen, muss man als Zeichen des kulturellen Auf-
den Traum einer eigenen Ballettschule und lobt noch heute den Kul- bruchs loben.
turschock der unruhigen Jahre. Augustin ist Bohemien geblieben, Den jungen Konservativen fehlt, das war auf ihrem Deutsch-
managte nach dem „Beat-Club“ Rockstars wie Ike and Tina Turner, landtag zu spüren, das große Thema, das große Projekt, die große
wurde Mitglied der SPD, schrieb mehrere Bücher über die Beat- Mission. Wenn die Nation beschworen wurde, klatschten sie de-
und Rock-Jahre, zuletzt „Der Pate des Krautrock“, präsentiert im monstrativ, aber auch Nationalgefühle sind inzwischen lager-
Offenen Kanal Bremen Erinnerungen und bissige Kommentare zu übergreifend. Entweder man hat sie, oder man hat sie nicht, aber
allem Möglichen, bezeichnete im letzten Jahr den neuen Kultur- wer glaubt, durch Beschwörung, Debatten und Kampagnen die
staatsminister Bernd Neumann als Joseph Goebbels von Angela Deutschen zu mehr Vaterlandsliebe bewegen zu können, ver-
Merkel, wurde dafür mit Sendeverbot belegt und ist seit zwei Jah- kennt den Kern dieses Gefühls.
ren nicht mehr Mitglied der SPD, „wegen Gerhard Schröder“. Fragt man die Deutschen, was ihnen einfällt, wenn sie an ihr
Land denken, sagen sie (in dieser Reihenfolge): Industrie, Heimat,

W
as 1998 von den Sozialdemokraten als „neue Mitte“ be- Leistung, Ordnung, Fortschritt, Sauberkeit. Ihr Nationalbewusst-
schrieben wurde, ist nun die kulturelle und soziale Ba- sein ruht auf der Qualität deutscher Wertarbeit. Die Nation als
sis der Großen Ko- Versorgungseinrichtung, als
alition: die Schnittmenge all Garant für Arbeit und Brot,
jener politischen Kräfte und als Arbeitsamt und Renten-
Lösungen, die jenseits des La- behörde – das wurde zum
gerdenkens und der ideologi- Kern deutscher Vaterlandslie-
schen Kostümierung dabei be. Darum beunruhigten
helfen, das Land zu reformie- Wirtschaftskrisen die Bundes-
ren. Für die Sozialdemokra- bürger stets mehr als Iden-
ten heißt das schon länger, titätskrisen. Darum ist mehr
Gesellschaftspolitik als Stand- vom „Standort Deutschland“
ortpolitik zu verstehen und die Rede als von Deutschland.
sich als konservativer Bewah- Darum ist es auch so schwie-
rer eines – wenn auch ge- rig, die Deutschen in Zeiten
schrumpften – Sozialstaats zu wirtschaftlicher Stagnation
profilieren. Darin sind sie sich durch Appelle an ihren Na-
einig mit den Kräften in der tionalstolz zum Verzicht auf
Union, vor allem in der CSU, Wohlstand zu bewegen.
die einen „dritten Weg zwi- Schröder und Fischer, der
schen Kapitalismus pur der Kanzler und der Außenminis-
angelsächsischen Welt und ter, haben das Verhältnis vie-
dem kuscheligen Wohlfahrts- ler Deutscher zu ihrem Land
staat der alten Bundesrepu- Patriotismus-Werbekampagne (2005) entkrampft. Besonders jene
blik“ (Generalsekretär Mar- Vorwärts in die Vergangenheit? Generation, die ihre Identität
kus Söder) suchen. Die Union in den sechziger Jahren fand
wiederum hat das Kollektiv entdeckt, beschwört die Sehnsucht durch die Abkehr von erstickender Deutschtümelei, hat in den
nach dem Miteinander, „keine Gesellschaft des Jeder-gegen-Je- rot-grünen Jahren ihr Land mehr schätzen gelernt.
den“ dürfe es geben, sondern eine „neue Solidarität unter Bür- Weil viele Menschen dieser Generation das Leben in der Bun-
gern“. In der Förderung der Familien trennt die Roten sowieso desrepublik zu deutsch fanden, haben sie durch ihr Leben das ver-
kaum noch etwas von den Schwarzen, und so wächst zusammen, ändert, was deutsch ist und nun als deutsch gilt. Jede Generation
was nach Ansicht der Wähler zusammengehört. verändert das, was eine Nation ausmacht, gibt ihr etwas, nimmt
Dass zwei Ostdeutsche, unbelastet von 40 Jahren Kulturkampf, ihr etwas, diese Generation hat die Deutschen internationaler
den historischen Kompromiss der beiden Lager moderieren, ist und multikultureller gemacht. Der Internationalismus besonders
nur logisch. Rockmusik habe sie nie vom Hocker gerissen, be- von Pop, Film und Mode hat der Globalisierung kulturell den Weg
kannte Angela Merkel vor einigen Jahren in einem Interview mit geebnet, die Weltkultur, die sich in den Sechzigern herauszubil-
Campino, dem Sänger der Toten Hosen. „Smoke on the Water“ den begann, hat die Kultur der Nationen so verändert, dass man
von Deep Purple habe sie zu DDR-Zeiten gehört, aber sie sei im- mit dem Beschwören der Leitkultur der fünfziger Jahre dem Le-
mer traurig gewesen, dass sie sich auf Feten „nicht in die Musik ben in Deutschland nicht gerecht wird.
reinsteigern“ konnte. „Ich war immer das Mädchen, das Erdnüs-

D
se isst und nicht tanzt.“ u bist Deutschland“, schallt es seit dem 26. September
Dass Rockmusik eine Waffe sein kann, weiß die Union, seit letzten Jahres aus dem Fernseher und liest der Deutsche
Bundespräsident Heinrich Lübke in den sechziger Jahren gegen in Anzeigen. Es ist der Versuch engagierter Bürger und fi-
den Ansturm der englischen Beat-Musik die Pflege des deutschen nanzstarker Medienhäuser, die neue Mitte der Republik zum Ak-
Liedgutes empfahl. 40 Jahre später darf Edmund Stoiber zu „What- teur der Gesellschaft zu machen, ein Netzwerk von Initiativen an-
ever You Want“ in den Deutschlandtag einziehen, und Friedrich zuregen, viele Bürger zu Mitgestaltern der Gesellschaft zu ma-
Merz, der Liebling der Jungen Union, wird mit dem Salt-’n’-Pepa- chen, die Angst vor dem Absturz in Gemeinsinn zu verwandeln.
Song „Whatta Man“ in den Saal geleitet. Für Angela Merkel ha- Das Konzept der PR-Agenturen und Werbeberater klingt wun-
ben die Jungkonservativen als Einmarschmusik ein Lied der Jule- derschön basisdemokratisch – „Du bist Bamberg“, „Du bist
Neigel-Band gewählt: „Ab jetzt oder nie“. Darin heißt es: „Du Bonn“, „Du bist Schlossallee“. Es klingt nach dem Gründergeist
hängst rum wie ein Trauerkloß, badest dich in Langeweile, syste- der 68er, es klingt nach einer Apo von oben. Es ist kein Projekt
matisch absichtslos, so geht’s nie voran, nicht eine Meile.“ der Konservativen, Gerhard Schröder und Angela Merkel hatten
Das klingt nicht nett. Er habe den Vorsitzenden der Jungen beide vor der Bundestagswahl zugesagt, die Kampagne nach der
Union auf den prekären Text aufmerksam gemacht, sagt der Fach- Wahl zu unterstützen. Es war eine Große Koalition im Geiste, wie
mann, der bei den Jungkonservativen die Einmarschmusiken aus- schön, aber am 31. Januar sind die 30 Millionen Euro Werbegel-
wählt. Gespielt wurde der Song trotzdem. Dass Konservative die der verbraucht. Und dann? Der Kampf geht weiter. ™
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Gesellschaft

Drei Sekunden Sicherheit


Ortstermin: In Hamburg-Lokstedt tragen die „Sportsfreunde der
Sperrtechnik“ ihre Deutschen Meisterschaften im Schlossöffnen aus.

U
m 11:01 Uhr steht Steffen Wernéry, te braucht sechs Sekunden. Der zweite lin. Hinter großen Glasscheiben in der
der Präsident des „Sportsfreun- zwölf. Kongresshalle am Alexanderplatz, auf dem
de der Sperrtechnik Deutschland Wahrscheinlich kann man das Hang- Jahrestreffen des Chaos Computer Club,
e. V.“, auf und sagt laut, dass die Wett- schloss vergessen. Es hängt an der deut- so, wie in all den Jahren zuvor. Die
kampfregistrierung abgeschlossen sei. Ne- schen Kellertür und ist Dekoration. Die Schloss-Hacker und die Computer-Hacker.
ben ihm, an zwei großen Holztischen, sit- Leute, die es lächerlich machen, sitzen in Hardware und Software. Aber diesmal sag-
zen 13 Männer und 2 Frauen. Die Wett- einem eingetragenen Verein und veran- ten die Computer-Hacker, dass der Kon-
kampfregistrierten. Sie wollen deutsche stalten Deutsche Meisterschaften. gress rauchfrei bleiben soll. Gesund. Die
Meister im Schlossöffnen werden. Einer Es gibt 350 von ihnen. „350 organisier- Schloss-Hacker sagten, dass es ohne Rauch
kommt aus den Niederlanden. Es sind of- te Sperrsportler“, sagt Wernéry, der Präsi- nicht gehe. Jetzt sitzen sie hier in Ham-
fene Deutsche Meisterschaften. Die Ger- dent. Sie sind Richter, Physiker, Studenten, burg im hölzernen Clubheim des Fußball-
man Open sozusagen. Kaufmänner oder Schließer im Gefängnis. vereins Eintracht Lokstedt. Es sind die
Wernéry trägt ein schwarzes Jackett und Sie sind alles Mögliche, ein gesellschaft- 9. Deutschen Meisterschaften.
darunter einen rotes Hemd und darunter licher Querschnitt, und sie lieben das Der Präsident ruft den nächsten Wett-
ein gelbes T-Shirt und sagt: „Wir beginnen Schloss, und noch mehr, das Schloss zu kampf aus. Handöffnung. „Unsere Kö-
mit dem Wettbewerb Hangschlossöffnung, öffnen, es zu überwinden, auszutricksen, nigsdisziplin“. Es geht um Zylinderschlös-
Wettkampfzeit drei Minuten.“ ser. Die findet man zum Beispiel
Später folgt der Wettbewerb in Türen, sie werden oft Sicher-
Handöffnung von Zylinderschlös- heitsschlösser genannt. Deutsch-
sern, dann das Freestyle, wo land liebt das Sicherheitsschloss,
alle Hilfsmittel erlaubt sind, genauso wie den Zaun, den Tür-
die nichts kaputtmachen. Außer spion und den Lärmschutzwall
Schlüssel, klar. Zum Schluss die an Autobahnen. Alles Dinge, die
Blitzöffnung. für Ruhe sorgen, Frieden. Die
Wernéry hat gelbe Blätter aus- ganze aufgeregte Welt bleibt
gelegt, für die Zuschauer. Es sind draußen. Marmor, Stein und Ei-
nicht viele gekommen, ein paar FOTOS: JOERG MUELLER / VISUM
sen bricht. Das Sicherheitsschloss
ältere Herren mit Hüten, aber nur durch Gewalt.
man hat vorgesorgt, man will Klick-klick-klick-klick, wieder
niemanden beunruhigen. Auf der leise Sound der Instrumente.
den Blättern steht die „Sport- Metall auf Metall. Der Haken,
ordnung“. die Schlange, der Halbdiamant.
Punkt 1: „Es ist deine erste Manche Wettkämpfer stochern
Pflicht, deine Ehrbarkeit, Inte- Wettkämpfer in Hamburg: „Nur Schlösser öffnen, die dir gehören“ im Schloss. Das sind die Grobe-
grität und fachliche Professiona- ren. Die Aufsprenger. Andere
lität zu demonstrieren. Das Sicherheits- die Zylinder zu bewegen, den wunderba- tasten sanft, suchend. Nach 5 Sekunden
bedürfnis Dritter musst du unbedingt ren Moment des Aufschnappens. „Ein gei- fällt das erste Schloss. Nach 14 das zweite.
wahren!“ Punkt 2: „Du darfst nur Schlösser les Gefühl“, sagt Wernéry. Eine Wohnungstür ist nichts anderes als
öffnen, die dir gehören.“ Punkt 3: „Für alle Er hat mit Computern angefangen, er ein Zelteingang, sagen die Schloss-Hacker.
anderen Schlösser brauchst du die Erlaubnis ist eine Art Hacker-Legende. Ein Mythos. Das Sicherheitsschloss nur ein Begriff der
des Besitzers.“ Das ist der Ehrenkodex. Der 1984 hackte er sich in das Btx-System der Schlossindustrie.
Kodex ist wichtig. Einbrecher haben kei- Deutschen Bundespost, um zu beweisen, Nächste Runde: 3 Sekunden, 6, 31. „Of-
nen Kodex. dass es nicht sicher sei, manipulierbar. Ir- fen!“, rufen die Wettkämpfer nacheinander.
Auf den beiden Holztischen liegen Leder- gendwann langweilten ihn Computer, und In Berlin, beim Jahrestreffen des Chaos
etuis mit feinen Instrumenten, manche er entdeckte die Schlösser, Mechanik, eine Computer Club, sitzen die Computer-
ähneln den spitzen Haken, mit denen Zahn- altmodische Sache. Old School. Aber ei- Hacker und sagen, dass der neue biome-
ärzte nach Karies kratzen. Es sind die zu- gentlich geht es um das Gleiche: zeigen, trische Reisepass Mist sei. Die neue elek-
gelassenen Werkzeuge. Hand-Pick-Sets. Da- dass die Dinge nicht so sind, wie sie schei- tronische Gesundheitskarte auch. Tech-
zwischen liegen die Hangschlösser, auch nen. Wernéry gründete einen Verein, weil nisch unausgereift. Hier in Hamburg sitzen
Vorhängeschlösser genannt. Deutschlands man das so macht in Deutschland. die Schloss-Hacker und lachen über
Kellertüren sind voll mit Hangschlössern. An den hölzernen Tischen der Wett- das Sicherheitsschloss. Ganz Deutschland
Hangschlösser schützen Fahrräder, Grill- kämpfer wird geraucht, viel geraucht. Die scheint knackbar. Offen. Sicherheit ist nur
geräte, Skier, Kohlen und alle Dinge, die Zigaretten hängen in den Mundwinkeln, ein Gefühl, aber nie objektiv, sagt Steffen
nicht in die Wohnung passen. Ein gutes während man mit feinen Werkzeugen im Wernéry, der Präsident.
Schloss. Ein Schloss für Mieter. Deutschland Schloss kratzt. Der Raum ist klein und fast Die Lage sei trotzdem nicht so schlecht.
ist schwer vorstellbar ohne das Hangschloss. blau. Niemand öffnet die Fenster. Vier Schlösser stecken in seiner Woh-
Dann wird geöffnet, leise metallene Hätten sie auf die Zigaretten verzichtet, nungstür. Für zwei braucht er Schlüssel.
Geräusche. Klick-klick-klick. Der Schnells- säßen sie jetzt, an diesem Dienstag, in Ber- Jochen-Martin Gutsch

60 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Trends

S P O R TA R T I K E L

Boom bei Leihskiern


A uf eigenen Skiern stürzen sich im-
mer weniger Wintersportler zu Tal.
Während der Absatz an Alpinskiern
mit in Deutschland geschätzten 500 000
Paar seit einigen Jahren stagniert,
boomt das Geschäft mit den Leih-
brettern. Allein beim Marktführer Inter-
sport stieg der Absatz an Leihskiern im
vergangenen Jahr um rund zehn Pro-
zent. Insgesamt wandert heute schon
jeder dritte produzierte Skier in den

MICHAEL LATZ / DDP


Verleih. Viele Skifahrer, besonders aus
alpenfernen Regionen, sind nicht mehr
bereit, für eine Woche Skiurlaub im
Jahr mehrere hundert Euro für ein neu-
es Sportgerät auszugeben. Zum anderen Motorenmontage bei MTU
geht der Trend dahin, die Produkte im-
ÜBERNAHMEN

Schwedische Heuschrecken
B ei dem vergangene Woche beendeten Verkaufspoker um den Motorenherstel-
ler MTU hatte der Münchner Mischkonzern MAN kaum Chancen auf den Zu-
schlag. Haupthindernis waren Widerstände bei Managern und Betriebsräten des Alt-
eigentümers DaimlerChrysler, die im Fall einer Übernahme von MTU durch MAN
einen verschärften Wettbewerb im Geschäft mit schweren Lkw und Bussen fürch-
teten, berichten hochrangige Manager, die eng in die Verhandlungen eingebunden
waren. Noch bis vor kurzem hatten MTU-Arbeitnehmervertreter einen Verkauf an
MAN favorisiert, weil Investment-Firmen ihre Neuerwerbungen überwiegend mit
GALLI / LAIF

Fremdkapital finanzieren und den Unternehmen


zumeist gewaltige Zinslasten aufbürden. Doch ob-
Skilift gleich auch die schwedische Beteiligungsgesell-
schaft EQT, die nun das Rennen machte, MTU nach
mer kurzfristiger zu wechseln. „Der Aussagen von Insidern mit Schulden von rund ei-
Verbraucher will heutzutage eben im- ner Milliarde Euro belasten will, unterstützten Ge-
mer das neueste Produkt haben“, sagt schäftsführung und Betriebsrat den Deal. Die EQT-
der deutsche Intersport-Chef Klaus Manager verstanden es geschickt, sich vom Heu-
Jost. Doch auch das Verleihgeschäft schrecken-Image der Branche abzuheben, indem
selbst ist im Umbruch. Wurden früher sie auf ihren Eigentümer, die schwedische Industri-
die Skier meistens erst am Urlaubsort ellendynastie Wallenberg, verwiesen. Zudem ver-
geordert, leihen heute viele Winter- sprachen sie, zumindest vorerst keine Jobs abzu-
sportler bereits vor Antritt der Reise bauen und sogar ein Gewinnbeteiligungsmodell
ULI LANCÉ

ihre Bretter im örtlichen Sportgeschäft einzuführen. Mitbieter MAN konnte da nicht mit-
aus. Der Vorteil: Vor dem obligatori- halten: Die Bayern offerieren ihren Angestellten
schen Anstehen am Lift entfällt zumin- bislang nicht einmal Belegschaftsaktien. Protestierende MTU-Arbeiter
dest das Anstehen an der Leihstation.

GELDPOLITIK parlamentarische Staatssekretärin im len können sich die einstigen Hüter der
Finanzministerium, dem FDP-Bundes- Mark als einen Think Tank nach
Bundesbank muss tagsabgeordneten Volker Wissing. Da-
mit hat erstmals eine Vertreterin der
US-Vorbild mit etwa 5000 Beschäftigten
vorstellen. Ein Konzept hatten die
weiterschrumpfen neuen Regierung offiziell erklärt, dass
der Umbau der früheren Notenbank
Beamten bereits unter Finanzminister
Hans Eichel erarbeitet, der Plan wurde

S tärker als bislang bekannt will die


Bundesregierung die Zahl der Mit-
arbeiter bei der Bundesbank reduzieren.
weitergeht. Die Bundesbank hat in den
vergangenen drei Jahren ihren Perso-
nalbestand bereits von 15 000 auf 12 500
jedoch wegen der politischen Brisanz
nicht weiterverfolgt. In der Großen
Koalition jedoch könnte das Vorhaben
„Es kann davon ausgegangen werden, reduziert, Ende 2007 sollen dort noch aus Sicht der Strategen im Ministerium
dass – auch nach 2007 – weiterer Bedarf gut 11 000 Beschäftigte arbeiten. Im tatsächlich Chancen haben. Die Pläne
für Personalanpassungen gegeben sein Finanzministerium gibt es aber weiter- sollen demnächst mit Finanzminister
wird“, schrieb Barbara Hendricks, gehende Überlegungen: Die Ministeria- Peer Steinbrück erörtert werden.
62 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Wirtschaft
STEUERN

Neue Welle der Kapitalflucht


O ffenbar recht sorglos
geht die Finanzverwal-
tung mit ihrem Recht um, die
der Konten bei welchen
Kreditinstituten – einsehen.
Nach einer Umfrage des
rund 500 Millionen bei Ban- Genossenschaftsverbandes
ken in Deutschland geführ- Bayern (GVB) bei seinen

KARL-BERND KARWASZ
ten Konten und Depots ab- Mitgliedsbanken hat das be-
zufragen. Bei einer vom reits zu einer Kapitalflucht
Bundesbeauftragten für sauberen Geldes von hoch-
Datenschutz veranlassten gerechnet rund zwei Milliar-
Stichprobe in drei nord- Schaar den Euro allein in Süd-
rhein-westfälischen Finanz- deutschland geführt. Vor al-
ämtern stellte sich heraus, dass neun lem österreichische Banken profitieren.
von zehn Kontenabfragen Mängel auf- Dort wird das Bankgeheimnis wie in
wiesen. So waren etwa die betroffenen der Schweiz streng gehütet. Von Kapi-
Steuerzahler nicht vorher zum Sachver- talerträgen werden anonym 15 Prozent
halt befragt oder die Kontenschnüffelei Quellensteuer abgeführt. Das Alpen-
nicht lückenlos dokumentiert worden – land beteiligt sich auch nicht an der
„ganz gravierende Mängel“, wie der neuen EU-Regelung, wonach Zinsein-
oberste Datenschützer Peter Schaar kommen von Ausländern den Heimat-
findet, die das allgemeine Misstrauen finanzämtern automatisch mitgeteilt wer-
gegen die Aushöhlung des Bankgeheim- den. Inzwischen locken die Österreicher
nisses weiterschürten. Seit April 2005 auch kleine Anleger mit dem Verspre-
dürfen nicht nur Finanzämter, sondern chen, ihr Vermögen vor Hartz IV zu
auch die Erbringer von Sozialleistungen sichern. „Die Kapitalflucht“, so GVB-
ohne Anfangsverdacht einer Straftat die Präsident Stephan Götzl, „geht quer
Stammdaten der Konteninhaber – durch alle sozialen Schichten und hat
Name, Geburtsdatum, Anschrift, Zahl ein erschreckendes Ausmaß erreicht.“

BA N K E NAU F S IC H T

Deutschkenntnisse nicht nötig


N ach einem von vielen Branchen-
kennern erwarteten Rücktritt von
Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann
„Seit mehreren Jahren akzeptiert die
Finanzdienstleistungsaufsicht Geschäfts-
leiter eines Kreditinstitutes auch dann,
könnte auch ein Manager, der nicht die wenn diese zumindest die englische
deutsche Sprache beherrscht, an die Sprache fließend beherrschen“,
Spitze des mächtigsten Bankhauses in bestätigte Staatssekretär Volker Halsch
Deutschland rücken. Aus Sicht der dem Bundestagsabgeordneten Peter
Bankenaufsicht, einer dem Finanzminis- Gauweiler. CSU-Mann Gauweiler findet
terium unterstellten Behörde, spräche das empörend und fordert, die aus
damit auch nichts gegen die Ernennung seiner Sicht unsinnige Praxis zu ändern.
von Managern wie dem Inder Anshu „Es kann nicht sein, dass Vorstände
Jain oder dem Amerikaner Michael verpflichtet sind, einen Kreditantrag ab
Cohrs, die kein Deutsch sprechen und einer bestimmten Höhe prüfen zu
zurzeit von London aus das Investment- müssen, obwohl sie ihn gar nicht lesen
geschäft der Deutschen Bank betreiben. können“, schimpft Gauweiler.
HANS-GÜNTHER OED / VARIO-PRESS
FRANK DARCHINGER

OLIVER BERG / AP

Jain Cohrs Ackermann


d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 63
SINOPIX / LAIF
Produktion von Leiterplatten (in Shanghai): Aufstieg von der Werkbank zum Labor der Welt

GLOBALISI ERUNG

Die Hightech-Offensive
Noch ist China die Billigfabrik der Welt, doch das Riesenreich unternimmt gewaltige Anstrengungen,
eine eigene innovative Industrie aufzubauen. Die Forschungsaufwendungen
steigen stetig, sie könnten schon bald zu einer Bedrohung für die westliche Industrie werden.

A
uch Riesen haben mal klein ange- Doch der Heimatmarkt reicht Dongfang, westliche Firmen und damit deren Know-
fangen. Vor einigen Jahren schick- einem von Chinas drei Branchenriesen, in- how auf.
te Dongfang Electricial Machinery zwischen längst nicht mehr. Mit ihren bil- Inzwischen aber setzen die chinesischen
drei Frachter mit Sojabohnen um die hal- ligen Produkten wollen die Chinesen auch Strategen zunehmend auf eigene Entwick-
be Welt. Mit den Naturalien zahlten die nach Europa vordringen, um dort Kon- lungen. Mit gewaltigen Anstrengungen will
Chinesen dringend benötigte deutsche kurrenten wie Siemens und Alstom Auf- China von der Werkbank der Welt zum
Werkzeugmaschinen zum Bau von Turbi- träge abzujagen. „Von unserer Technologie innovativen Hightech-Labor aufsteigen.
nen. Wenn Dongfang-Schiffe heute nach her zählen wir uns weltweit zu den Bes- Der Ehrgeiz des 1,3 Milliarden Men-
Übersee fahren, haben sie Chinas mo- ten“, prahlt Chefingenieur Zhang, „in For- schen zählenden Landes kennt keine Gren-
dernste Kraftwerkstechnik geladen. schung und Entwicklung rücken wir in zen. Als Symbol dafür schoss die Nation
Zhang Tiande, 52, der Chefingenieur gewaltigen Sprüngen immer weiter.“ kürzlich schon zum zweiten Mal eine be-
von Dongfang, schreitet feierlich auf die Die Aufholjagd fällt den Chinesen nicht mannte Rakete in den Weltraum. Das kol-
große Werkshalle zu. Auch ranghöchsten schwer, denn ihr Know-how erhalten sie lektive Ziel, von lauter Propaganda be-
Bossen von Chinas Staat und Partei führ- großteils von westlichen oder japanischen gleitet, ist klar: Das Reich der Mitte, das
te Zhang hier, nahe Chengdu, der Haupt- Firmen, und zwar legal: Um in China an die Welt einst mit Erfindungen wie Kom-
stadt der Provinz Sichuan, schon häufig staatliche Kraftwerksaufträge zu kommen, pass, Buchdruck oder Schießpulver be-
Dongfangs Produktion vor: Hunderte müssen ausländische Firmen oft als Sub- glückte, will an seine goldene Zeiten an-
Arbeiter schweißen, stanzen und schrau- unternehmer lokaler Hersteller antreten knüpfen.
ben an riesigen Turbinen für den Drei- und diesen dann wichtige Spitzentechno- Um das hochgesteckte Ziel zu erreichen,
Schluchten-Damm im Yangtze, aber auch logien überlassen. Die Folge: Westliche mobilisiert das Land seine üppigste Res-
an Maschinen für Wärmekraftwerke und Konzerne machen sich in China auf lange source: die Menschen. 440 000 Ingenieure
Nuklearanlagen. Sicht selbst überflüssig. bilden die Universitäten des Landes jähr-
Zu tun hat Dongfang genug, das Unter- Dieser massenhafte Transfer von Tech- lich aus. Da diese oft nur ein Fünftel der
nehmen baut allein über ein Drittel von nologie aus dem Westen wird noch ver- Gehälter westlicher Kollegen verdienen,
Chinas neuen Wasserkraftwerken. Das stärkt durch Joint Ventures mit westlichen verlagern immer mehr ausländische Kon-
energiehungrige Land will bis 2010 seine Firmen – und durch hemmungsloses Ab- zerne auch Forschung und Entwicklung in
Stromerzeugung um die Hälfte steigern. kupfern. Immer häufiger kaufen sie auch die Weltfabrik China.
64 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Wirtschaft

Schon heute lassen Neuigkeiten aus dem fast anderthalb Quadratkilometern hat logien weiterentwickelt oder auf die spezi-
Riesenreich auch die Fachwelt im Westen Chinas Zukunft hier schon begonnen: An ellen Bedürfnisse von Großkunden zu-
aufhorchen: Im Februar kündigte China eleganten Parkalleen, benannt nach No- schneidet? Darüber streitet der chinesische
an, den weltweit ersten kommerziell belpreisträgern und berühmten Wissen- Aufsteiger bisweilen mit Wettbewerbern.
genutzten Kugelhaufenreaktor bauen zu schaftlern, ragen die schmucken Gebäude Vor zwei Jahren verklagte der US-Konzern
wollen. Bei diesem neuen, angeblich be- der Huawei-Zentrale aus Glas und Beton Cisco den chinesischen Konkurrenten
sonders sicheren Kernkraftwerkstyp wird empor, mit modernen Laboratorien, teuren Huawei, weil der angeblich Patente für
Uranoxid nicht wie bisher in Brennstäben, Testanlagen und einem idyllischen Wohn- Router-Produkte verletzt hatte. Darauf ließ
sondern in tennisballgroßen Kugeln aus viertel für Angestellte – mit grünen Parks Huawei die Geräte wieder aus den Regalen
Grafit eingeschlossen. und Sportzentren. der Geschäfte nehmen.
Bei Autos strebt China ebenfalls nach In den Niederlanden, Frankreich und Gleichwohl spornt Huawei mit seinem
Spitzentechnologie: Die Tongji-Universität Großbritannien erhielt Huawei Aufträge Wachstum unzählige kleinere chinesische
in Shanghai etwa will gemeinsam mit dem zum Bau von Mobilfunknetzen, weil es Gründerfirmen an, seinem Vorbild nach-
heimischen Autoriesen Shanghai Auto- maßgeschneiderte Technologie billiger und zueifern, gerade in Shenzhen. Die Zeiten,
motive Industry ein Fahrzeug mit Brenn- oft auch schneller liefert als die Konkur- als Fabriken hier nur billiges Plastikspiel-
stoffzellenantrieb entwickeln. renz. Rund 8000 Patente meldete Huawei zeug für Hongkong oder Taiwan produ-
In der Informationstechnologie (IT) ru- nach eigenen Angaben bereits an, 3000 al- zierten, sind längst vorbei.
hen die Hoffnungen des Landes auf Hua- lein in diesem Jahr und 500 davon wieder- Allenthalben wachsen neue For-
wei. Hierzulande können die Verbraucher um im Ausland; rund zehn Prozent seines schungsstätten aus der Erde – zusätzlich
mit diesem Namen noch so wenig anfan- Umsatzes investiert die Firma angeblich in zu 53 bereits bestehenden staatlichen
gen wie mit einer chinesischen Waschmit- Forschung und Entwicklung. Parks. „Wir müssen möglichst viele Schlüs-
telmarke – obwohl viele von ihnen mit ihm Über diesen Bereich wacht He Tingbo; seltechnologien und mehr geistiges Eigen-
zu tun haben. sie trägt den Titel Vizepräsidentin, erzieht tum erwerben“, erklärt Wissenschaftsmi-
Die Geräte, die der Elektronikriese pro- neben ihrem Job noch zwei Kinder und ist nister Xu Guanhua den Zweck des gigan-
duziert, fallen im Alltag wenig auf, sind aber stets in Eile. Wie eine Lehrerin, die ihre ei- tischen Bauprogramms.
unverzichtbar, weil sie den Datenverkehr gene Klasse sucht, hetzt sie durch das wei- In den USA, und zunehmend auch in
über Telefon und Computer steuern. Mit te Testzentrum, einen monumentalen Flach- Europa, wecken die Chinesen mit ihrem
seinen intelligenten und gleichzeitig preis- bau mit griechischen Säulen, breiten Wan- Ehrgeiz tiefe Ängste. In fünf Jahren werde
werten Anlagen stieg Huawei zum gefürch- delhallen und hohen Decken. Ständig muss China einen höheren Anteil seines Brutto-
teten Wettbewerber westlicher Spitzen- He ihre Chipkarte an verschlossene Türen inlandsprodukts in Forschung und Ent-
marken wie dem US-Hersteller Cisco auf. drücken, um weiterzukommen. Dann piepst wicklung stecken als die EU, warnt EU-
Das Reich von Ren Zhengfei liegt am es, und wieder öffnet sich vor ihr ein weite- Forschungskommissar Janez Potocnik düs-
Rande von Shenzhen, der südostchinesi- res Labor mit Ingenieuren, die schweigend ter. Das Land erhöhe seine Ausgaben für
schen Wirtschaftsmetropole. Vor 17 Jah- an ihren flimmernden Computern tüfteln. Forschung und Entwicklung jährlich mit
ren gründete er hier Huawei. Mehrheitlich Ähnlich habe sie auch mit Kollegen zweistelligen Raten. „Wenn jetzige Trends
gehört die Firma den Mitarbeitern, aber Chips entwickelt, sagt He, insgesamt über sich fortsetzen“, sagt Potocnik, „wird Eu-
Ren, der medienscheue Ex-Offizier der hundert, darunter einen Spezialchip für ropa die Gelegenheit verpassen, zu einer
Nationalen Befreiungsarmee, gibt die Vi- die Übertragung optischer Daten, der Hua- führenden globalen wissensgestützten
sionen vor. Und die sind so kolossal wie die wei einen innovativen technischen Durch- Wirtschaft aufzusteigen.“
Firmenzentrale in Shenzhen. bruch beschert habe. Europa als piekfeines Hightech-Labor –
Von der Autobahn führt eine eigene Doch was heißt schon „innovativ“ in ei- und China als schwitzende Werkbank?
Ausfahrt in Huaweis Industriepark. Auf ner Branche, die oft vorhandene Techno- Wer Peking besucht, muss erkennen, dass
IMAGINECHINA / LAIF (L.); CHINE NOUVELLE / SIPA PRESS (R.)

Universitätsabsolventen (in Shanghai), Taikonauten (im Raumfahrtzentrum Jiuquan): An goldene Zeiten anknüpfen

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 65
Wirtschaft

dy-Spiele sowie Steuerprogramme für


Hochgeschwindigkeitszüge. Noch steckt
Codeasy in den Anfängen, ein Start-up
eben. Das karge Großraumbüro – 74 Soft-
ware-Entwickler hocken in schmucklosen
Waben – hat Codeasy günstig vom Soft-
ware-Park gemietet; die teuren Testgeräte
finanziert ebenfalls der Staat. Erste Kon-
takte mit westlichen Mobilfunkbetreibern
seien sehr ermutigend, sagt Zhao, denn
seine Firma kann ihre Software um ein
Fünftel billiger anbieten als japanische
Konzerne.
Doch niedrige Software-Preise reichen
nicht. Das spüren die Chinesen auch bei
dem Versuch, nach dem Vorbild Indiens
westliche Firmen dazu zu bringen, die Ent-

JING RAN / IMAGINECHINA


YI XUAN / IMAGINECHINA

wicklung ganzer Software-Systeme nach


China auszulagern. Bei dieser Art von
„Outsourcing“ hemmen den Standort
China bislang starke Nachteile: schlechte
Englisch-Kenntnisse, fehlender Schutz von
Huawei-Forscherin He, CapitalBio-Chef Cheng: „Unser Land hebt ab“ geistigem Eigentum sowie die aufdringliche
Überwachung des Internet durch den chi-
solche Träume längst überholt sind. Denn was im Westen üblich ist. Was China feh- nesischen Staat.
ein Juwel staatlicher chinesischer Förde- le, seien allerdings talentierte Manager, um Immerhin: Bei arbeitsaufwendigen Teil-
rung glänzt hier schon prächtig am Rand die Erfindungen zu vermarkten, sagt prozessen überwinden immer mehr west-
der Hauptstadt: der Life Science Park. Hier Cheng. Er ist Realist: „Bis unser Land eine liche Firmen ihre Bedenken und lassen die
weihte im vergangenen Jahr die Biotech- große Hightech-Nation wird, brauchen wir nötige Software preiswert in China austüf-
Firma CapitalBio ihre neue Zentrale ein. noch 30 bis 40 Jahre.“ teln, sagt Andreas Schallwig von Avenit
Firmenchef Cheng Jing, 42, drückt Be- Und sie brauchen Leute wie Wang Software in Shanghai. Immer mehr deut-
suchern vor Stolz gleich zwei Visitenkarten Wenjing, 41. Er arbeitete einst in der Fi- sche Spezialisten kämen nach China, um
in die Hand – eine weist ihn als Manager nanzbehörde von Peking, dann gründete er vor Ort Personal anzulernen.
aus und die zweite als Professor der re- 1988 mit einem Partner, einem PC und Das ist ein Anfang, aber aus Sicht der
nommierten Tsinghua Universität in Pe- etwa 5000 Euro Kredit UFSoft – eine Fir- Strategen in Peking darf sich China nicht
king. Im Keller der Uni startete der aus ma für Buchhaltungs-Software, die jetzt mit der Rolle des billigen Zuarbeiters für
den USA zurückgekehrte Biologe vor nur Ufida heißt. Inzwischen herrscht Wang westliche Konzerne zufriedengeben. Mas-
sechs Jahren mit einer Hand voll Kollegen über Chinas größten Hersteller von Fir- siv drängt der Staat ausländische Firmen
die Firma. Nun residiert CapitalBio mit men-Software mit 5000 Mitarbeitern. Aber daher, nach Millionen Billigjobs nunmehr
400 Mitarbeitern in einem Glaspalast mit Wang will weiterwachsen: In seiner Zen- auch Forschung und Entwicklung ins Reich
Panoramablick auf die Berge um Peking. trale in Peking hat er das Modell seines ge- der Mitte zu verlegen. Mit wachsendem
Rund zehn Millionen US-Dollar ge- planten neuen Software-Parks im Norden Erfolg: Rund 600 Konzerne – von Siemens
währte Peking Cheng an staatlichen Mit- der Hauptstadt aufgestellt. Ende kommen- bis zu Microsoft – haben in China For-
teln. Das Geld scheint gut angelegt: Ein den Jahres will Wang bereits in einen Teil schungszentren aufgebaut, jährlich kom-
von CapitalBio selbstentwickelter Scanner des 45 Hektar großen Geländes ziehen – men 200 weitere hinzu.
zur Analyse von Viren oder Biochips wird dort sollen später einmal 12 000 Angestell- Auch in der Mobilfunkindustrie treibt
inzwischen auch in Europa erfolgreich ver- te arbeiten. Denn Wang, der vor Unruhe Peking den Transfer von Know-how voran:
trieben. Die Firma verfügt bereits über ständig mit den Knien wippt oder per Mit rund 380 Millionen Nutzern ist China
sechs US-Patente, 64 weitere Eintragun- Handy dringende SMS-Botschaften ver- schon jetzt der größte Markt für Handys;
gen hat CapitalBio weltweit beantragt. schickt, hat noch Großes vor: Bis 2010 zig Milliarden Euro investierten ausländi-
„Unser Land hebt unaufhaltsam ab vom soll Ufida unter die 50 größten Software- sche Hersteller dort seit dem Jahr 2000.
niedrigen Niveau der Billigfabrik“, froh- Hersteller der Welt aufrücken. Trotz erfolgreicher Aufholjagd chinesischer
lockt Cheng. In China geht vieles sehr schnell. Dort, Hersteller wie Ningbo Bird behaupten al-
Manager wie Cheng sind der Stolz der wo heute im Stadtteil Pudong der Shang- lerdings Westfabrikate wie Nokia und Mo-
chinesischen Staats- und Parteiführung, haier Software-Park entsteht, grasten vor torola weiterhin den Markt.
auch vor Präsident Hu Jintao durfte der zehn Jahren noch Büffel; nun entwickelt Um der heimischen Industrie zum An-
ernste Professor mit der hohen Stirn über sich hier ein kleines Silicon Valley aus ed- schluss zu verhelfen, mobilisiert Peking die
seine Biochip-Technologie berichten. In len Ziegelbauten; den Park zieren Skulp- künftige Mobilfunkgeneration (3G). Über
etwa zwei Jahren will Cheng die Aktien turen mit Hightech-Motiven: Eine Figur aus einen eigenen chinesischen 3G-Standard,
von CapitalBio mit dem Segen der Partei Stein unterweist ein Kind am Laptop. Von „TD-SCDMA“, wollen sie westliche Kon-
an der Hightech-Börse Nasdaq in New den Dächern leuchten Weltmarken der zerne zwingen, sich mit heimischen Her-
York einführen lassen. Elektronik: Sony, Motorola oder Infosys. stellern wie Huawei zusammenzutun, die
Etwa 20 Prozent seines Aktienkapitals In diesem Ambiente treiben auch Zhao für diesen Standard Produkte entwickeln
will CapitalBio Mitarbeitern vorbehalten. Qiang und Hu Hefu die chinesische Soft- sollen. So gründete Siemens bereits ein
In Form von Aktienoptionen will die Fir- ware-Industrie voran. Die beiden Mana- Joint Venture mit Huawei; Konkurrent
ma brillierenden Auslands-Chinesen wie ger tauschten langjährige lukrative Karrie- Ericsson tat sich mit der chinesischen Fir-
Cheng die Rückkehr in die Heimat vergol- re-Jobs in Japan gegen die Rolle als Grün- ma ZTE zusammen.
den. Denn auch Hightech-Manager ver- der in der Heimat ein. Ihre Firma Codeasy In der Unterhaltungselektronik wollen
dienen hier nur einen Bruchteil dessen, entwickelt Software-Plattformen für Han- die Chinesen den Ausländern ebenfalls die
66 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
CHAI HIN GOH / AFP
Sitzung des Volkskongresses (in Peking): „Wir müssen möglichst viele Schlüsseltechnologien und mehr geistiges Eigentum erwerben“

Macht über ihren Riesenmarkt langfristig Mit ihrem schon laufenden Versuch, ei- pen. Und für China, das zwölf Prozent sei-
wieder entreißen, und zwar mit Hilfe eines nen eigenen DVD-Standard namens EVD nes Stroms für Beleuchtung verbraucht, ist
eigenen Standards für die DVD der Zu- durchzusetzen, kommen die Chinesen al- das ein wichtiges Argument.
kunft. Der Mann, der den Schritt des Reichs lerdings trotz massiver staatlicher Unter- Die LED-Technologie stammt aus Ja-
der Mitte zur souveränen Hightech-Nation stützung nur schleppend voran. Doch die pan und den USA. Anfangs wurden sol-
beschleunigen soll, heißt Lu Da. Sein For- Planer geben nicht auf: Getreu ihrem che Leuchten nur in wenigen Produkten,
schungsinstitut in Pekings elitärer Tsing- nächsten Fünfjahresplan streben sie nach etwa Verkehrsampeln, verwandt. Doch
hua-Universität hat den neuen Standard „eigenem geistigen Vermögen und dem jetzt treibt Peking die energiesparende
mitentwickelt. Dabei handelt es sich nur Besitz von Marken“. neue Technologie durch staatlich geför-
um eine geringfügige Abwandlung des im Der Staat unterstützt die Aufholjagd der derte eigene Forschung nach Kräften vor-
Ausland bekannten HD-DVD-Standards. heimischen Industrie, wo immer er kann. an. Und auch Mao setzt darauf, dass er
Doch wenn Lu Da von seinem Arbeits- So bereitet Peking ein neues Gesetz vor, bei Weiterentwicklung und Vermarktung
zimmer im 27. Stock über Chinas Haupt- das staatlichen Institutionen und Betrie- der LED-Technologie die Nase vorn ha-
stadt blickt, denkt er weniger an technische ben die Verwendung heimischer chinesi- ben wird.
Details als an die Industriepolitik seines scher Software vorschreibt. In seinem Betrieb kommen Maos 600
Landes: Da unten, im smogverhangenen Doch lässt sich der Vorsprung westlicher Arbeiter mit der Produktion kaum nach:
Pekinger Stadtdschungel werden 2008 die Hightech so aufholen – per Dekret von Aufgereiht sitzen sie an Mikroskopen und
Olympischen Spiele stattfinden, und eben oben? Das glauben auch die Planer in Pe- stecken die winzigen Glasdioden auf die
zu diesem symbolischen Datum will China king nicht, und deshalb fahnden sie ver- Schaltplatten, später entstehen daraus rie-
seinen neuen Standard einführen – und stärkt nach technologischen Nischen, die sige Werbetafeln oder Leuchtstreifen. In
sich vom Joch ausländischer Elektronik- der Westen bisher eher vernachlässigt. Metropolen wie Shanghai prägen sie be-
konzerne befreien. „Endlich werden wir Mao Guojun, 45, hat mit seiner Firma reits das Stadtbild. Mit Hilfe der bunten
dann ein Wort mitreden bei der Fertigung Junduoli eine solche Nische besetzt. Be- LED-Leuchten verwandeln sich beton-
von DVD-Geräten, die bislang vom Aus- sucher am Firmensitz in Shenzhen emp- graue Bürotürme und Brücken abends in
land monopolisiert wird“, sagt Lu und fängt Mao in einem Saal mit grün-weißen magische Phantasiegebilde.
strahlt. Kunststoffsofas, es funkelt und blitzt wie in „LED lässt China erstrahlen“, jubelte
Wie bitte? Beherrschen chinesische Her- einer Disco: Die Deckenleuchten verfär- das staatliche Wirtschaftsmagazin „Zhong-
steller nicht bereits den Markt für DVD- ben sich nahtlos in allen Farben, von Vio- guo Keji Caifu“ unlängst in seiner Titel-
Spieler, die auch hierzulande zu Schleu- lett bis Giftgrün. An den Wänden flackern story.
derpreisen verkauft werden? Gewiss, doch Leuchtreklamen – und das soll so sein: Wenn es nach Junduoli-Boss Mao geht,
die Patente für die Kerntechnologie der Junduoli ist einer von rund 600 Herstellern sollen auch Deutschlands Städte künftig
Geräte halten ausländische Unternehmen; von Leuchtdioden (LED). schöner, bunter funkeln. Seine Techniker
pro Gerät müssen die Chinesen etwa 20 Mao hält eine Leuchte in die Höhe, sie tüfteln bereits an Produkten für deutsche
Dollar – das sind rund 40 Prozent ihrer besteht aus den winzigen Dioden. Solche Kunden, im Frühjahr will Mao den neuen
Herstellungskosten – an ausländische Li- Leuchten verbrauchen bis zu 80 Prozent Absatzmarkt selbst erkunden.
zenzgeber abführen. weniger Energie als herkömmliche Lam- Wieland Wagner

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 67
Wirtschaft

sollte, könnte es doch für Enttäuschungen


sorgen.
VERKEHR
So ist Galileo zwar ein rein ziviles
Raumfahrtprojekt. Anders als die GPS-Sa-

Zelt statt Campingwiese telliten können die Galileo-Trabanten da-


her nicht mehr im Krisenfall einfach vom
Pentagon abgeschaltet werden. Dennoch
lässt sich auch der Empfang der Galileo-Sa-
Mit dem Start des ersten Testsatelliten beginnt der Aufbau des telliten stören – vom Boden aus.
europäischen Navigationssystems „Galileo“. Werden Während des Kosovo-Krieges etwa wur-
die Sender im All zu einem Jobwunder auf der Erde führen? den die Benutzer von Navigationsgeräten
in der Balkanregion bis hin nach Öster-

D
onnernd hob die Sojus-Rakete am stelle ITU in Genf die für Galileo reser- reich immer wieder in die Irre geleitet. Als
vorigen Mittwoch vom kasachi- vierte Wellenlänge wieder einkassiert. Grund wurde zunächst vermutet, dass die
schen Weltraumbahnhof Baikonur Auf dem Projekt lastet ein hoher Er- US-Militärs absichtlich falsche Satelliten-
ab. An Bord befand sich „Giove A“, ein wartungsdruck. Vor allem drei Gründe signale ausgestrahlt hätten.
nur 600 Kilogramm schwerer Satellit. Be- werden für die Errichtung einer eigenen Viele Experten gehen aber inzwischen
reits wenige Stunden später kreiste der europäischen Satellitenflotte angeführt: eher davon aus, dass die Mogeldaten nicht
Würfel in 23 000 Kilometer Höhe um die • Galileo soll weit genauer sein als das bis- direkt von den Satelliten kamen, sondern
Erde und sendete die ersten Funksignale. herige Navigationssystem GPS (das vom von bodennahen Störsendern, die schnell,
Der Testsatellit ist eine Art Vorhut für US-Militär aufgebaut wurde). flexibel und lokal begrenzt einsetzbar sind
das europäische Navigationssystem na- • Galileo soll auch zuverlässiger arbeiten („Jamming“). So behalten sich die Verei-
mens „Galileo“. Die Sender im All sollen als GPS und wäre nicht mehr beliebig nigten Staaten vor, im Krisenfall nicht nur
weitaus präziser als bisher Autos zum Ziel, durch das US-Militär manipulierbar. GPS, sondern auch Galileo zu stören.
Flugzeuge auf die Landebahn und Wan- • Galileo soll je nach Schätzung 100 000 Aber es kommen noch weitere Sabo-
derer auf den rechten Weg führen. Die bis 150 000 neue Arbeitsplätze schaffen. teure in Frage. Das US-Militär befürchtet
Armada aus insgesamt 30 Flugkörpern Auch wenn das Navigationssystem selbst Attacken auf die Satellitennavigation
wird derzeit gemeinsam von der Europäi- tatsächlich diese Erwartungen erfüllen – etwa durch Terroristen, die einen Flug-

GPS-Autonavigation, Sojus-Rakete mit „Galileo“-Testsatellit vor dem Start (in Baikonur): Konkurrenz für das Monopol am Himmel
DERNER / ACTION PRESS

schen Raumfahrtbehörde Esa und der EU


gebaut, kostet rund 3,6 Milliarden Euro
und könnte frühestens ab dem Jahr 2010
auf Sendung gehen.
Die leicht verfrühte Silvesterrakete gab
jedoch keinen Anlass für übertriebene Fest-
tagsstimmung. Denn das Programm ist zwei
Jahre im Verzug. Grund für das „glet-
scherähnliche Tempo“, wie es die Zeitschrift
„Aviation Week“ nennt, waren schier end-
lose Querelen zwischen den Partnerlän-
dern. Deutschland, das sich mit einer halben
Milliarde Euro an Galileo beteiligt, fühlte
sich bei der Vergabe der Steuerungszentra-
len benachteiligt und verhängte einen Zah-
lungsstopp. Erst Anfang Dezember wurde
entschieden, dass eines von zwei Kontroll-
zentren im bayerischen Oberpfaffenhofen
eingerichtet wird.
Der Streit wurde gerade noch rechtzei-
tig entschärft: Wäre Giove A nicht bis spä-
REUTERS

testens Juni 2006 auf Sendung gegangen,


hätte die internationale Frequenzvergabe-
70
hafen lahmlegen wollen. Anleitungen für kaum erreichbar“, sagt Wolfgang Lechner, Das zeigt die bislang einzige Alternative
Störsender kursieren bereits im Internet. Spezialist bei der bayerischen Navigations- zu GPS. Sie heißt „Glonass“, wurde von
Zumindest in Friedenszeiten jedoch firma Telematica und Berater der Fach- der Sowjetunion bereits in den achtziger
wird Galileo unterm Strich wohl zuverläs- zeitschrift „GPS World“. Jahren des vorigen Jahrhunderts als rein
siger arbeiten als das GPS-System – etwa Eine Genauigkeit von einem Meter gibt militärisches System aufgebaut – und ist
durch die weitaus genaueren Rubidium- es allerdings sogar heute schon – beim be- ein Lehrbeispiel dafür, wie ein Navigati-
Atomuhren an Bord der moderneren eu- stehenden GPS-System. Der Trick ist ein- onssystem auch am Markt scheitern kann,
ropäischen Satelliten und durch ihre größe- fach und nennt sich Differential-GPS wenn es bloß halbherzig betrieben wird.
re Zahl. („DGPS“): In der Nähe von Häfen bei- Aus Geldnot schrumpfte die GPS-Alter-
Wenn mehr Satelliten über den Himmel spielsweise werden dafür zusätzliche Bo- native zwischenzeitlich von 24 auf etwa 10
ziehen, kommt es nämlich seltener zur densender installiert, deren Signale die Satelliten zusammen. Nun soll Indien beim
„Abschattung“ des Signals; solche Funk- Rohdaten aus dem All verfeinern. Wiederaufbau von Glonass helfen. In
löcher treten beispielsweise heute auf, Nach einem ähnlichen Prinzip funktio- Deutschland wird die russische Naviga-
wenn sich die Nutzer durch enge Straßen- nieren auch Zusatzdienste wie „Egnos“ in tionslösung unter anderem unter dem Na-
schluchten bewegen. In Gebäude oder Europa oder „WAAS“ in den USA. Egnos men „Ascos“ für die Vermessung von Bau-
dichte Wälder allerdings werden auch die ist eine Art Differential-Dienst speziell für stellen eingesetzt. Ansonsten gilt sie als
Galileo-Signale nicht vordringen. den Flugverkehr. Damit nicht jeder Nutzer wirtschaftlicher Flop.
Neue Navigationsgeräte sollen dabei so- seine eigene Funkstation aufbauen muss, Gegen das bestehende GPS-System hat-
wohl die Signale von GPS als auch Galileo überwachen bei Egnos Dutzende Boden- te das russische Konkurrenzmodell spätes-
erkennen können – wodurch sich die Ge- stationen die normalen GPS-Signale (unter tens ab dem Jahr 2000 keine Chance mehr;
samtzahl der verfügbaren Navigationssa- anderem in Berlin, Zürich und Paris). da erkannte der damalige US-Präsident Bill
telliten auf über 50 erhöht. Für die Kon- Dann senden sie einen auf diese Weise Clinton den wirtschaftlichen Nutzen sei-
sumenten ist das von Vorteil; aber die Ga- ermittelten Korrekturwert per Satellit an ner Militärsatelliten und gab die bis dahin
lileo-Betreiber schwächen dadurch ihren speziell dafür ausgerüstete Empfänger. praktizierte künstliche Verschlechterung
Wettbewerbsvorteil gegenüber den Ame- Und wenn die Ortung zu ungenau wird, der zivilen Funksignale auf.
rikanern ab, denn die profitieren mit ihrem könnten sie auch eine Warnung ausgeben, Beim europäischen Galileo-System be-
GPS-System ebenso. damit ein Pilot weiß, dass er sich lieber steht indes kaum die Gefahr, dass es zu ei-
Auch die Genauigkeit wird, anders als nicht hundertprozentig auf sein Naviga- ner ähnlichen Investitionsruine verküm-
das die Werbebroschüren suggerieren, tionsgerät verlassen sollte. mert wie das russische Glonass. Der Navi-
gationsmarkt boomt wie noch nie. Die
Wirtschaftsberatungsagentur PriceWater-
Anwendungsmöglichkeiten des „Galileo“-Navigationssystems houseCoopers sagt Galileo eine rosige Zu-
BASISDIENST KOMMERZIELLER SICHERHEITS- ÖFFENTLICH SUCH- UND kunft voraus. Auch andere Experten halten
Positions- DIENST KRITISCHER REGULIERTER RETTUNGSDIENST es tatsächlich für möglich, dass durch das
und Zeitsignale, gegen Gebühr: DIENST DIENST Übermittlung von Projekt Zehntausende Arbeitsplätze ent-
beispielsweise Genauigkeit mit Qualitäts- verschlüsselt und Notsignalen an stehen. Der Haken an der Sache: nicht
für Fahrzeug- etwa 1 m überwachung schwerer zu stören Rettungsdienste
der Navi- als andere Dienste; unbedingt in Europa.
leitsysteme; (GPS: (nahezu in Echtzeit)
gations- Nutzung z. B. von mit den genauen Ständig holen die Europäer neue Part-
bis 4m genau; ungefähr
kostenlos 10m) genauigkeit Zivilschutz, Polizei, Koordinaten des ner ins Boot: Neben Marokko, der Ukrai-
Zoll und Grenzschutz, Hilfesuchenden ne und Israel ist mittlerweile auch Indien
Militär, Nachrichten- mit 280 Millionen Euro an Galileo beteiligt
diensten – und sogar China mit 200 Millionen. Die
globale Verbreitung hat ihren Preis: Die
Endgeräte für den Empfang
der Navigationssignale,
glauben Branchenkenner,
dürften wohl vor allem in
den Billiglohn-Partnerlän-
dern Indien oder China
produziert werden.
Noch während die Gali-
leo-Betreiber den Start ih-
res ersten Satelliten feier-
ten, kritisierten Vertreter
nicht so viel besser sein als beim GPS- Der Nutzen dieser Fehlerkorrektur ist der mittelständischen Wirtschaft, dass am
System. „Bis in den Zentimeterbereich“ gigantisch, der Aufwand minimal: Egnos Boden zu wenig passiere, um neue, weg-
könnten sich die Benutzer fortan zu ihrem leistet vieles von dem, was eigentlich erst weisende Dienstleistungen für die Naviga-
Ziel lenken lassen, wird gern verbreitet. Galileo bringen soll – aber mit rund 300 tionstechnik zu entwickeln.
Realistischer ist es, dass Galileo nur rund Millionen Euro zu einem Zehntel der Kos- Erst jetzt entstehen spezielle Galileo-
zehnmal genauer sein wird als GPS. ten. Zwar sind derlei Differential-Dienste Testzentren, zum Beispiel in Berlin oder
Wer in Zukunft mit einem handykleinen bislang nur in Ballungsräumen verfügbar. Berchtesgaden, wo innovative Anwendun-
Galileo-Empfänger wandern geht, dürfte Aber es ist ohnehin fraglich, ob in entle- gen entwickelt werden sollen. Vor allem
also nicht nur auf zehn Meter genau zu genen Gebieten großer Bedarf für meter- in diesem Hochlohnsektor dürften hierzu-
seiner Campingwiese geführt werden (wie genaue Navigation besteht. lande die meisten neuen Jobs der Naviga-
bei einem normalen GPS-Empfänger), son- Dass die himmlische Monokultur mit tionsbranche entstehen.
dern auf etwa einen Meter genau bis zu Galileo endlich ernsthafte Konkurrenz be- Doch selbst dieser Heimvorteil schwin-
seinem Zelt. kommt, wird gleichwohl allseits begrüßt. det schnell: Auch in Peking wurde be-
„Mehr als ein Meter jedoch ist mit Gali- Andererseits ist damit noch lange nicht der reits ein Galileo-Forschungszentrum er-
leo ohne zusätzliche Hilfstechniken wohl ökonomische Erfolg garantiert. öffnet. Hilmar Schmundt

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Wirtschaft

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Wir sind ein bisschen spät dran“


DaimlerChrysler-Chef Dieter Zetsche, 52, über den Abbau von Arbeitsplätzen
und seine Auseinandersetzung mit der Arbeitnehmervertretung, seine Rolle als Doppelspitze
sowie die Frage, was Mercedes von Chrysler lernen kann

CIRA MORO / VISUM

Konzernchef Zetsche, Mercedes-SLK-Montage (in Bremen): „Das ist nur der Anfang, da können wir noch viel, viel mehr rausholen“

SPIEGEL: Herr Zetsche, Sie sind gerade mal Zetsche: Das ist nicht die passende Be- Zetsche: … und wenn wir unsere Absatz-
vier Monate Mercedes-Chef und ab 1. Ja- schreibung. Aber wir können über einige erwartung mit der Produktivitätssteigerung
nuar zugleich auch Konzernchef von unangenehme Wahrheiten nicht hinweg- zusammen betrachten, haben wir eindeu-
DaimlerChrysler – und schon gibt es mäch- sehen: Unsere Kosten liegen in allen Be- tig zu hohe Personalkapazitäten. Deshalb
tig Krach mit den Arbeitnehmern. Die ope- reichen deutlich über denen unserer bes- sind wir gezwungen, uns in Deutschland
rative Planung des Konzerns sieht vor, dass ten Wettbewerber. Wir brauchen deutlich bei Mercedes von 8500 Mitarbeitern zu
bis 2008 insgesamt 16 000 Arbeitsplätze ge- länger für die Montage unserer Fahrzeuge. trennen. Dies läuft alles auf freiwilli-
strichen werden sollen. Wollen Sie gleich Hier haben wir in den letzten Jahren einen ger Basis. Auf der Betriebsversammlung
allen zeigen, wie hart der neue Boss durch- Produktivitätsstau aufgebaut. Je später Sie im Werk Sindelfingen habe ich gesagt:
greifen kann? den auflösen, umso tiefgreifender sind die Das tut weh, aber wir kommen darum
Zetsche: Ich hoffe, Sie trauen mir nicht nötigen Maßnahmen. Das ist bei uns leider nicht herum.
ernsthaft zu, dass mich solche eher ober- der Fall. Wir sind, selbstkritisch gesagt, ein SPIEGEL: Viele Mitarbeiter wollen ihren Job
flächlichen Absichten antreiben. Zu den bisschen spät dran. nicht aufgeben, obwohl sie dafür bis zu
Zahlen kann ich nur sagen: Wir haben ei- SPIEGEL: Weil Ihre Vorgänger im Vorstand 275000 Euro erhalten könnten. Werden Sie
nen Beschluss über den Abbau von 8500 das alles verschlafen haben, verlieren jetzt Arbeitszeiten und Löhne senken, wie es
Arbeitsplätzen, der jetzt umgesetzt wird. viele tausend Mitarbeiter ihren Arbeits- die Betriebsvereinbarung vorsieht, wenn
Diese Umsetzung läuft auf Basis unserer platz? sich nicht 8500 Freiwillige melden?
Vereinbarung zur Zukunftssicherung. Dar- Zetsche: So einfach, wie es Ihre Frage un- Zetsche: Ich bin optimistisch, dass wir in
an halten wir fest. terstellt, ist die Welt nicht. Wir haben es ja zwölf Monaten unser Ziel erreichen werden.
SPIEGEL: Arbeitnehmervertreter im Auf- auch mit Entwicklungen zu tun, die nicht SPIEGEL: Es gibt offenbar auch Sparpoten-
sichtsrat werfen Ihnen vor, Sie wollten viel von uns beeinflussbar sind. Unsere Kosten tial im Vorstand. Sie führen die Marke
zu viele Arbeitsplätze abbauen, nur um den sind auch deshalb zu hoch, weil die Stahl- Mercedes-Benz und gleichzeitig die Hol-
Profit möglichst schnell zu erhöhen. Ge- und Rohölpreise deutlich gestiegen sind. ding DaimlerChrysler. Bisher waren beide
werkschafter drohen mit Protestaktionen. Zudem ist der Markt so wettbewerbs- Jobs durch hochkarätige – und hoch-
Offenbar können Sie den massiven Stellen- intensiv, dass wir unsere Preise schwerer bezahlte – Vorstandsmitglieder besetzt. Wie
abbau nicht nachvollziehbar begründen. Ist durchsetzen können … wollen Sie das doppelte Pensum erledigen?
die Lage beispielsweise bei Mercedes Car SPIEGEL: … auf Deutsch: auch Mercedes Zetsche: Erfreulicherweise ist es kein
Group wirklich so bedrohlich? muss Rabatte gewähren … doppeltes Pensum, weil es viele Dinge gibt,
72 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
die beide Personen wahrnehmen müs- ebenen mit einem Vorgang befassen müs- Welt AG und der Sanierung von Chrysler
sen – aber nicht zweimal. Zum Beispiel sen, bis es zur Entscheidung kommt. beschäftigt und fuhr deshalb in die Krise?
ein Interview mit dem SPIEGEL. Das ist Möglicherweise sind bestimmte Aufgaben Zetsche: Mercedes war überhaupt nicht
für den Mercedes-Chef angebracht, für dann auch mit weniger Mitarbeitern zu mit der Sanierung von Chrysler beschäf-
den DaimlerChrysler-Chef auch. Aber erfüllen. Das wäre die Folge, aber nicht tigt. Nur zwei Mercedes-Manager wurden
deswegen muss man sich nicht zweimal das Ziel unserer Anstrengungen, schneller vor fünf Jahren in die USA geschickt, ich
treffen. Das Gleiche gilt für die Auto- und effizienter zu werden. Ich möchte aber war einer davon. Ich habe zwar sicherlich
show in Detroit und für die nächste Auf- auf keinen Fall den Eindruck erwecken, kein Problem mit einem gewissen Selbst-
sichtsratssitzung. Ansonsten muss man wir würden uns nur um Kosten kümmern. bewusstsein. Aber ich leide nicht an einer
eben morgens und abends ein paar Minu- Primär beschäftigen wir uns damit, tolle solchen Selbstüberschätzung, dass ich glau-
ten länger und vielleicht effektiver Produkte zu entwickeln, zu bauen und zu be, wäre ich bloß hier geblieben, dann
arbeiten. verkaufen. wäre alles besser gelaufen.
SPIEGEL: BMW zeigt, wie das geht. Die
Münchner verkaufen mehr Autos als Mer-
cedes-Benz, sie sind profitabler und sie
stellen neue Mitarbeiter ein. Ist BMW Ihr
Vorbild? GEWINN/ VERLUST in Mrd. Euro
Zetsche: Kein Vorbild, aber sicher ein An-
sporn. Ich sage nur: Chapeau! BMW hat in 5,69 5,75
den vergangenen Jahren offenbar höhere 4,14
Produktivitätszuwächse erzielt als wir.
Aber ich glaube nicht, dass die Zahl der
verkauften Fahrzeuge der einzige Maßstab
davon:
für den Erfolg ist. Der Umsatz pro Fahr- Mercedes Car Group
zeug, den wir erzielen, ist deutlich höher Mercedes-Benz, Maybach, Smart
als der von BMW.
SPIEGEL: Umso erschreckender ist doch,
3,13
dass Ihr Gewinn pro Fahrzeug so viel ge- 1,67
ringer ist als der von BMW.
Zetsche: Ich bestreite ja nicht, dass der – 0,51
Chrysler Group
Aufwand, den wir betreiben, zu hoch ist. Chrysler, Dodge, Jeep
Wir sind stark bei Innovationen. Aber wir
haben uns zu wenig angestrengt, unser ge- 1,43 1,11
samtes System wirklich schlank zu gestal-
– 0,51
ten. Das fängt in der Entwicklung an. Die
INGO WAGNER / DPA

Fahrzeuge müssen so konstruiert sein, dass 2003 2004 2005


1. bis 3. Quartal
sie möglichst einfach und in gleichbleiben-
der Qualität herzustellen sind. Das geht in Aktienkurs
der Fabrik weiter und endet beim Vertrieb. Veränderung seit der Fusion
Wenn der unendlich viele Kombinationen von Daimler-Benz und Chrysler in Prozent
von Ausstattungsvarianten für jedes Modell + 120
SPIEGEL: Dann hat der Konzern, der bislang fordert, dann wird die Fertigung teuer und
zwei Vorstände für diese Arbeit bezahlte, anfällig für Störungen. + 80 BMW
offenbar viel Geld verschwendet. SPIEGEL: Wie konnte es überhaupt so weit
Zetsche: Nein. Aber durch den Wechsel kommen, dass die einst strahlende Marke + 40
ergibt sich jetzt die Chance, die Arbeit an- Mercedes-Benz so stark abrutscht, Qua-
ders zu organisieren. Ich gebe Ihnen ein litätsprobleme bekommt, der Gewinn ein- 0
Beispiel: Wir haben einen Vorstandsaus- bricht und Tausende von Stellen gestrichen DaimlerChrysler
schuss, das Executive Automotive Com- werden? – 40 17.Nov.
mittee, in dem die wichtigsten Projekte der Zetsche: Ich muss Ihr Statement stark re- 1998
einzelnen Konzernmarken besprochen lativieren. Trotz einiger Turbulenzen wird – 80
werden. Den werden wir jetzt in die Vor- die Marke Mercedes-Benz nach wie vor
standsarbeit integrieren. Die Themen kön- von allen Wettbewerbern ob ihrer Kraft 1999 2001 2003 2005
Quelle: Thomson Financial Datastream
nen direkt in den Vorstandssitzungen be- und Stärke beneidet. Wir haben tolle neue
handelt werden. Das lässt sich in Teilen Modelle wie die S-Klasse. Wir gewinnen
sinngemäß auch auf das Unternehmen Vergleichstests mit neuen Produkten, auch SPIEGEL: Seit Jahren ist in Qualitätsstatisti-
übertragen. Man kann schauen, ob nicht getrieben durch neue Aggregate und Mo- ken ablesbar, dass Mercedes-Benz schlech-
manches doppelt gemacht wird, einmal in toren. Und die Qualität ist heute wieder ter wurde. Warum wurde so spät reagiert?
der Konzernzentrale und ein zweites Mal auf dem Stand, den Mercedes-Kunden von Zetsche: Wir haben natürlich frühzeitig
bei den einzelnen Marken. uns erwarten. Wir werden außerdem festgestellt, das Thema läuft in die falsche
SPIEGEL: Wollen Sie die Konzernzentrale schnell zeigen, dass wir uns in der Renta- Richtung. Und wir haben reagiert. Aber
in Stuttgart-Möhringen etwa abschaffen? bilität nicht hinter BMW verstecken müs- es dauert nun mal seine Zeit, bis beispiels-
Zetsche: Sie haben jetzt diesen Stein, den sen. Wenn Sie die Trends anschauen, dann weise Produktionsprozesse geändert sind.
ich ins Wasser geworfen habe, gleich zu stimmt das jetzt schon. Im Übrigen bringt Seit über einem Jahr bescheinigen uns die
einer Riesenwelle gemacht. Das war so es nichts, wenn wir uns als Historiker wesentlichen Statistiken, dass die Qualität
nicht meine Folgerung. Es geht nicht um betätigen und nach möglichen Ursachen unserer Fahrzeuge spürbar und kontinu-
die Abschaffung der Zentrale, sondern dar- in der Vergangenheit forschen. ierlich besser geworden ist.
um, dass wir schneller werden wollen. Es SPIEGEL: Uns interessiert aber schon: War SPIEGEL: Besonders schlimm sieht es bei der
sollen sich künftig weniger Hierarchie- Mercedes zu sehr mit dem Aufbau der Marke Smart aus. Wenn man alle Verluste
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 73
Wirtschaft

und Sanierungsaufwendungen ad- nen zum Beispiel das Wissen um


diert, dann hat sie seit dem Start über schlanke Produktion, das bei Chrysler
fünf Milliarden Euro vernichtet. Um- vorhanden ist, für Mercedes nutzen.
gerechnet auf jedes verkaufte Fahr- SPIEGEL: Mercedes kann jetzt von
zeug entspricht das einem Verlust von Chrysler lernen?
6000 Euro. Wie lange wollen Sie sich Zetsche: Das ist ja nun überhaupt
dieses Desaster noch ansehen? nichts Böses.
Zetsche: Wir haben im April 2005 ei- SPIEGEL: Es ist trotzdem erstaunlich.
nen neuen Business-Plan verabschie- Zetsche: In unserer Branche wissen

BERND WEIßBROD / DPA


det. Der sieht vor, dass 2007 die Ver- wir, dass Wettbewerbsvergleiche et-
lustphase beendet ist. Wir werden aber was Gutes sind. Und dass wir gegen-
nicht bis Ende 2007 warten und dann seitig voneinander lernen können.
sehen, ob das Ziel erreicht wurde. Wir Das gilt auch intern. Natürlich kann
prüfen kontinuierlich und hoffen auf auch Chrysler dramatisch von der
weitere Fortschritte auf dem Weg dort- technologischen Stärke von Mercedes
hin. Auf der Kostenseite wurden die profitieren. Wir haben heute schon
Ziele bislang ganz eindeutig erfüllt. schöne Beispiele dafür. Der Chrysler
Wir sehen gleichzeitig ein nicht einfa- 300 hätte nie ein solches Erfolgs-
ches Marktumfeld und eine Heraus- modell werden können, wenn er nicht
forderung auf der Umsatzseite. Da wir Mercedes-Know-how genutzt hätte.
entlang der Ziellinie laufen, stärken Das ist das direkte Ergebnis der Fu-
wir der Mannschaft den Rücken und sion – und das ist nur der Anfang,
tun alles, um diese zu unterstützen. da können wir noch viel, viel mehr

RICHARD DREW / AP
SPIEGEL: Und wenn nicht, stellen Sie rausholen.
die Marke Smart ein? SPIEGEL: Die nächste Generation der
Zetsche: 2005 haben wir unsere Ziele M-Klasse und die des Jeeps sollen
erreicht. eine gemeinsame Basis haben, die
SPIEGEL: War der Ausflug ins Klein- Konzernzentrale in Stuttgart, Chrysler 300 nächste Generation der Benzinmoto-
wagensegment nicht von Beginn an „Mercedes-Know-how genutzt“ ren ebenfalls. Sind das Beispiele für
ein Irrweg? die engere Zusammenarbeit?
Zetsche: Ganz sicherlich könnte man es Chrysler und die Finanzdienstleistungen Zetsche: Die Zusammenarbeit bei Kompo-
nicht als Erfolgsstory bezeichnen, wenn wären als Einzelteile an der Börse im Mo- nenten bietet nicht das entscheidende
die Zahlen, die Sie genannt haben, richtig ment mehr wert als der gesamte Konzern. Potential. Wesentlich ist, dass wir das Wis-
sein sollten. Auf der anderen Seite ist Zetsche: Es ist unsere ureigene Aufgabe, sen um bestimmte Technologien in allen
Smart eine sehr positiv bewertete Marke, die Wertpotentiale, die im Unternehmen Teilen des Konzerns nutzen. Das ist der
die vor allem für ihren Ursprung, den liegen, zu heben. Wenn uns das gelingt, entscheidende Reichtum unserer Zusam-
Zweisitzer Fortwo, außerordentlich viel wird der Börsenwert des DaimlerChrysler- menarbeit. Um welche konkreten Projek-
Sympathie bekommt. Und dies hat, glaube Konzerns auch die inneren Werte der ein- te es geht, können wir im Moment noch
ich, auch dem Unternehmen und der Mar- zelnen Geschäftsfelder widerspiegeln. In- nicht sagen, um unseren Konkurrenten
ke Mercedes Sympathie eingetragen. sofern brauche ich da auch keine Licht- nicht allzu viele Einblicke in unsere Pla-
SPIEGEL: Auf Sympathie geben insbesonde- hupe im Rückspiegel. Die Aufgabenstellung nungen zu geben.
re Hedgefonds wenig. Die wollen Profit, setzen wir uns sehr gern selbst. SPIEGEL: Ihre Vorgänger Edzard Reuter und
Profit, Profit. Nachdem die Deutsche Bank SPIEGEL: Wenn Sie die Anleger davon über- Jürgen Schrempp hatten beide eine Vision.
ihren Anteil an DaimlerChrysler von 12 auf zeugen wollen, dass der Zusammenschluss Der eine wollte einen Technologiekonzern
4,4 Prozent verringert hat, haben Sie kei- von Daimler-Benz mit Chrysler sinnvoll schmieden, der andere eine Welt AG. Bei-
nen schützenden Großaktionär mehr. Im ist, müssten Sie die Zusammenarbeit zwi- de sind gescheitert. Haben Sie auch eine
Gegenzug haben sich Hedgefonds beteiligt. schen Chrysler und Mercedes fördern. Gibt Vision?
Werden Sie von denen schon unter Druck es dafür schon Pläne? Zetsche: Logischerweise stimme ich nicht
gesetzt, beispielsweise Smart einzustellen? Zetsche: Wir sind auf diesem Gebiet in- überein mit Ihrer Wertung als Einleitung
Zetsche: Ich habe bisher nicht erlebt, dass tensiv unterwegs. Die größere Chance liegt der Frage. Ich glaube, dass dieses Unter-
direkt oder indirekt Einfluss auf unser Ge- dabei nicht darin, gemeinsame Teile zu nehmen natürlich eine Perspektive braucht,
schäftsgebaren genommen worden wäre. verwenden oder diese gemeinsam bei Zu- auch die Zuversicht zu einer erfolgrei-
Es ist auch nicht wichtig für mich zu wis- lieferern einzukaufen. Sie besteht darin, chen Zukunft. Im Moment sollten wir uns
sen, welcher Teil unserer Aktien sich in die Fähigkeiten und das Know-how, die an auf klare Ziele konzentrieren. Wir müs-
Besitz sogenannter Hedgefonds befindet. verschiedenen Stellen vorhanden sind, al- sen in den Fahrzeugklassen, in denen wir
Das verfolge ich nicht mit großem Puls- len Teilen zugänglich zu machen. Wir kön- antreten, die begeisterndsten Autos bau-
schlag. Denn nach meinem Verständnis ist en mit höchster Qualität. Wir müssen dies
es ohnehin Aufgabe des Unternehmens, Zetsche (2. v. l.), SPIEGEL-Redakteure* mit mehr Effizienz und weniger Ressour-
dem Aktionär Freude an seinen Aktien zu „Keine Lichthupe im Rückspiegel“ cen als in der Vergangenheit schaffen. Und
verschaffen. Und deshalb versuchen wir, dann müssen wir die Autos so verkaufen,
das Unternehmen zunehmend profitabler dass unsere Kunden, unsere Mitarbeiter
zu machen. und unsere Aktionäre ihre Freude daran
SPIEGEL: Hedgefonds könnten ein Inter- haben.
esse daran haben, den DaimlerChrysler- SPIEGEL: Also: zurück zu den Wurzeln?
BORIS SCHMALENBERGER

Konzern in seine Einzelteile zu zerlegen. Zetsche: Das ist der Fokus. Das mag Ihnen
Denn die Nutzfahrzeugsparte, Mercedes, nicht hoch genug aufgehängt sein, aber ich
kann damit sehr gut leben.
* Dietmar Hawranek, Armin Mahler und Stefan Aust in SPIEGEL: Herr Zetsche, wir danken Ihnen
der DaimlerChrysler-Firmenzentrale in Stuttgart. für dieses Gespräch.
74
USA für „7 for all mankind“ mittlerweile
MODEINDUSTRIE
der größte Absatzmarkt.

Perfekter Po Hierzulande betrug der Marktanteil von


Jeans in der Preisklasse über 65 Euro im
Jahr 2004 zwar nur 14 Prozent. Aber die
neuen Luxus-Labels geben dem Textil-
Die Textilbranche kriselt, doch der
einzelhandel neuen Auftrieb. Während die
Markt der Edel-Jeans boomt. Branche für das vergangene Jahr erneut
Gefragt sind besonders abgewetzte ein leichtes Umsatzminus erwartet, wuchs
Modelle, die auch die Hintern das Segment Damen-Jeans von Januar bis
von Hollywood-Größen zieren. September um sieben Prozent. Von 1999

INFUSNY-18 / INFGOFF / BULLS PRESS


bis 2004 hat sich die Zahl der verkauften

U
nwissende könnten sie leicht für Damen-Jeans in Deutschland sogar ver-
ein Exemplar aus der Altkleider- doppelt.
sammlung halten oder für die Lieb- „Die Premiummarken verkaufen sich
lingsjeans, die nach ein paar hundert wie verrückt“, sagt Andreas Feldenkir-
Waschgängen eigentlich aussortiert gehört. chen, Besitzer einer kleinen Hamburger
Eingeweihte wissen: Hier ist jedes Loch In-Boutique. „Manche Schülerin spart sich
geplant, jeder Riss feinste Handarbeit. Das eine Jeans vom Munde ab.“ Einige Kun-
Stück ist nagelneu und hat mindestens Edel-Jeans-Couturier Koral, Kundinnen dinnen schauen täglich herein, manche
200 Euro gekostet. „Hebt den Hintern, verlängert die Beine“ haben bereits 18 Edel-Jeans-Modelle im
Im Bekleidungshandel hat sich eine Schrank hängen und leisten sich doch alle
Erste mit Premium-Jeans und dem Ver-
neue lukrative Nische etabliert. Sie hat we- zwei Monate ein neues Luxus-Label.
nig zu tun mit der Durchschnittsjeans, diesprechen vom perfekten Po auf den Markt: „Ich brauche nur noch Jeans“, sagt Si-
derzeit rund 30 Euro kostet und auch beim „Unsere Passform ist einfach sexy. Sie hebt mone Krüger. Die 28-jährige Immobilien-
Discounter erhältlich ist. Kalifornische den Hintern und verlängert die Beine“, maklerin spricht ihren Vornamen franzö-
Hersteller wie „7 for all mankind“, „Blue sagt Peter Koral, Gründer und Vorstand sisch aus und weiß, worauf es ankommt:
Cult“, „Rock & Republic“, „Paper Denim von „7 for all mankind“. „Der Po ist das Wichtigste.“ Andere Hosen
& Cloth“ oder das schwedische Label Auf den Schildchen, die an den Jeans hat sie aus ihrem Kleiderschrank ver-
„Acne“ setzen auf abgerissenes Design, hängen, weist die Firma skeptische Kunden bannt. Jeans sind für sie Hobby und Status-
Stickereien an den Hosentaschen und auf darauf hin, dass Löcher, Risse und Flecken symbol. Eng müssen sie sein – und vor al-
Kundinnen, denen eine hübsche Ver- volle Absicht sind: „Enjoy the holes, the lem angesagt: „Liz Hurley trägt weiße
packung für den Hintern auch schon mal more the better!“ Jeans. So eine brauche ich auch“, sagt die
349 Euro wert ist. So viel kostet etwa das Verkaufspreise von bis zu 1000 Dollar Hamburgerin.
Modell, das Victoria Beckham für den rechtfertigt Koral mit dem aufwendigen Dass ihre Victoria-Beckham-Hose be-
amerikanischen Hersteller „Rock & Repu- Verfahren, mit dem er hochwertige De- reits nach zwei Monaten am Hintern ge-
blic“ entworfen hat. nim-Stoffe stilvoll zerstören lässt. In Korals rissen ist, findet sie zwar ärgerlich, auf bil-
Vor fünf Jahren kam die in Los Angeles kalifornischen Wäschereien wird gebleicht, ligere, weiter geschnittene, aber eventuell
ansässige Firma „7 for all mankind“ als geschmirgelt und gelasert, um den Ho- weniger abgewetzte Ware will sie trotzdem
sen vor dem ersten Tragen nicht umsteigen: „Die No-Name-Sachen
die begehrten Gebrauchs- passen mir nicht.“
spuren zu verpassen. Und Traditionshersteller wie Levi Strauss, de-
damit die Jeans nicht nur ren Marken noch vor zehn Jahren als tren-
alt, sondern auch edel dy galten, bemühen sich nun um Anschluss
aussehen, bietet Koral in ans neue Luxus-Segment. Levi Strauss
Zusammenarbeit mit der brachte zuletzt eine Vintage-Kollektion der
Marke „The Great China „Levi’s 501“ von 1886 auf den Markt – in
Wall“ eine mit Kristallen einer limitierten Auflage von 501 Hosen
verzierte Variante an. Kos- für 501 Euro pro Stück.
tenpunkt: 995 Dollar. Heiner Sefranek, Geschäftsführer der
Das Geschäft mit den deutschen Mustang Bekleidungswerke, er-
funkelnden Fetzen rechnet innert sich an Zeiten, in denen Jeans zwölf
sich: Innerhalb von fünf Mark kosteten, „ein Stück Freiheit“ und
Jahren hat „7 for all man- „Protestmittel gegen das Establishment“
kind“ den Umsatz fast um waren. 1948 stellte sein Vater hierzulande
das Zwanzigfache gestei- die ersten Jeans außerhalb der USA her.
gert, für das Jahr 2005 er- „Den perfekten Po“ hat der Sohn dann
wartet das Unternehmen bereits 1981 erfunden: „Das Modell ,Disco‘
einen Umsatz von rund saß hauteng.“
250 Millionen Dollar. Den neuen Hype um die Marken aus
Auf Marketing konnte Hollywood hält Sefranek für eine „reine
Koral dabei bislang völ- Marketingaktion“. Doch wenn Stars und
lig verzichten. Hollywood- Klunker Umsatz bringen, zeigen sich auch
CYBERIMAGE / SCHROEWIG

Stars wie Nicole Kidman schwäbische Jeans-Puristen lernwillig:


und Angelina Jolie lassen Schauspieler Till Schweiger durfte bereits
sich in seinen Edel-Model- für Mustang designen, und in diesem Mo-
len ablichten, und so trägt nat will Sefranek eine 300-Euro-Jeans mit
sich der Ruf um die Welt. Swarovski-Kristallen auf den deutschen
Denim-Designerin Beckham: Funkelnde Fetzen für 349 Euro Deutschland ist nach den Markt bringen. Julia Bonstein

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Medien
P O L I T- M AG A Z I N E

Ärger im Ersten
Z um Beginn des neuen Sendezeit-
schemas der ARD schwelt bei den
Machern der montags und donnerstags
laufenden Politik-Magazine wie „Fakt“
und „Monitor“ Ärger: Sie sind von die-
sem Montag an von bisher 45 Minuten
auf eine halbe Stunde verkürzt und
starten einheitlich um 21.45 Uhr – und
damit zeitgleich mit dem ZDF-„heute-
journal“. Nach einer internen Präsenta-
tion der WDR-Programmplanung ist der

FIRO
neue Sendeplatz, der für die Donners-
tagsmagazine bereits seit Oktober 2004 Bundesligaspiel-Übertragung
gilt, alles andere als optimal. Der Studie
zufolge, die den Magazinmachern An- SPORTRECHTE
fang Dezember bei einer internen Polit-
Magazin-Konferenz vorgestellt wurde,
verlor das Erste donnerstags allein in
der Minute von 21.45 bis 21.46 Uhr
Mehr Liga live im Free-TV?
360 000 Zuschauer an das ZDF, 190 000
wechseln zu den Dritten Programmen
der ARD, weitere 180 000 schalteten
F ussball-Fans dürfen darauf hoffen, dass sie im frei empfangbaren Fernsehen dem-
nächst noch mehr Bundesliga-Fußball als gewohnt sehen können. Die Münchner
Firma Arena erwarb für insgesamt 1,26 Milliarden Euro für die Spielzeiten 2006 bis
ganz aus. In einem Brief hatten alle 2009 nämlich nicht nur die Live-Rechte für das Bezahlfernsehen, sondern auch fürs
Free-TV. Derzeit sind mit den Auftaktspielen der Hin- und Rückrunde dort nur
zwei Spiele live zu sehen – bei der ARD. Arena plant, ihre neuen zusätzlichen Free-
TV-Live-Lizenzen weiterzureichen. In Frage kommen für die Münchner dabei das
wiedereingeführte Freitagabendspiel um 20.30 Uhr und Sonntagspartien um 17 Uhr –
und auch das wohl nicht wöchentlich, sondern offenbar bis zu maximal sechs Par-
tien pro Saison, um die eigenen geplanten Bezahlangebote nicht zu gefährden. Hier
verspricht Arena verschiedene Pakete zu unterschiedlichen Preisen – bis maximal
KLAUS GÖRGEN / WDR

20 Euro. Unter anderem soll es möglich sein, nur die Partien des Lieblingsvereins zu
buchen oder ausschließlich die 2. Bundesliga. Innerhalb von drei Jahren will Arena
so mindestens sechs Millionen Kunden locken. Für die Free-TV-Live-Szenarien
haben sowohl RTL als auch die ProSiebenSat.1-Gruppe bereits Offerten bei Arena
abgegeben. Dort verspricht man sich von einer solchen Zusammenarbeit nicht nur
„Monitor“-Moderatorin Sonia Mikich Lizenz-Millionen, sondern vor allem die Möglichkeit, das eigene Angebot per
Crosspromotion auf den Kanälen der jeweiligen Senderfamilien bekanntzumachen.
sechs Magazinmacher dem ARD-Chef- Der unterlegene Mitbieter Premiere versucht derweil, mittels einer Anzeigenkam-
redakteur Hartmann von der Tann, der pagne („Wer sagt eigentlich, dass Premiere keinen Fußball mehr zeigt?“) und Funk-
aus terminlichen Gründen abgesagt hat- spots, in denen Premiere-Boss Georg Kofler dies höchstpersönlich als „glatten
te, noch am selben Tag geschrieben, Unsinn“ bezeichnet, zweifelnde Abonnenten zu beruhigen: Man sei „vorerst nicht
man hätte die Ergebnisse gern mit ihm zum Zuge“ gekommen, aber werde „in den kommenden Monaten daran arbeiten,
diskutiert: „Das ARD-Controlling sieht dass die Bundesliga auch ab August 2006 bei Premiere zu sehen ist.“
als wichtigsten Punkt einen Sende-
beginn der politischen Magazine noch
vor Beginn des ‚heute-journals‘“, heißt
es in dem Brief. „Nur so gäbe es eine
reale Chance, in der Konkurrenz um WISSENSCHAFTSJOURNALE werden Manuskripte zunächst intern
die Zuschauer dem ZDF Paroli zu bie- geprüft und dann an externe Gutachter
ten.“ Am liebsten wäre den Magazin-
machern danach ein Sendebeginn um
Klon-Fälscher versandt („Peer Review“), von 11 000
eingesandten Arbeiten sind dem Maga-
21.44 Uhr gewesen. „Jede Minute Ver-
spätung kostet erhebliche Zuschaueran-
ramponiert Image zin selbst zufolge 2005 nur rund sieben
Prozent gedruckt worden. „Science“
teile.“ In der ARD-Programmdirektion
hat der Wunsch indes keine Chance:
„Wenn man daraus ableitet, das politi-
D er Skandal um den Stammzellfor-
scher Hwang Woo Suk bringt auch
Leitmedien der Wissenschafts-Commu-
liefert sich dabei mit dem Wettbewerber
„Nature“ ein Wettrennen um bahn-
brechende Aufsätze. Dass „Nature“ sich
sche Magazin müsse künftig eine Minu- nity in Erklärungsnöte – etwa das mit Häme jetzt zurückhält, hat einen
te früher beginnen, um erfolgreich zu US-Magazin „Science“, das 2005 sein einleuchtenden Grund: „Nature“
sein“, witzelt Programmdirektor Günter 125-jähriges Bestehen feierte. Das Jour- druckte ebenfalls Hwang-Ergebnisse,
Struve, „könnte man auch so ‚schlau‘ sein, nal hatte im Juni den Beitrag gedruckt, etwa im August 2005 einen Beitrag über
die ‚Tagesschau‘ um 20.13 Uhr enden zu der nun von Hwang zurückgezogen dessen angeblichen Klon-Hund „Snup-
lassen. Aber dazu wird mich kein Tor- wurde und nach letzten Erkenntnissen py“. Auch „Nature“ will deshalb jetzt
ten- oder Säulendiagramm bewegen.“ vollständig gefälscht war. Bei „Science“ seine Kontrollmechanismen überprüfen.
76 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Fernsehen

TV-Vorschau Die Kuckelkorns: Henning Mankell –


Die Kommissarin: Auf der Flucht Ein Leben für den Tod Mittsommermord
Montag, 20.15 Uhr, ARD Dienstag, 22.10 Uhr, Vox Sonntag, 22.00 Uhr, ZDF
Der vermögende Boxstall-Chef Kas- Gut organisiert ist halb beerdigt, weiß Dem Genre des Schaurigen liegt diese
par Blume wird erschossen im Wohn- Christoph Kuckelkorn. Als Thanato- packende Romanverfilmung von Bir-
zimmer neben einer offenen Flasche praktiker gehört er zu denen, die Lei- ger Larsen (Regie) näher, als es in der
Château Petrus gefunden. Das riecht chen auch im Gesicht ansehnlich wieder Regel in deutschen Krimis üblich ist.
für die Kommissarin Lea Sommer herrichten können – und Vox sei Dank Die Kamera (Eric Kress) zeigt ohne
(Hannelore Elsner) und ihren As- dürfen wir zum Jahresanfang in vier Hemmung grässliche Leichen und
sistenten Jan Orlop (Thomas Scharff) Folgen mit dabei sein, wenn Sarg-Einla- überhaupt alles, was ihr an Entsetzen
nach getürktem Selbstmord. Zu gen ausgewählt, Körperflüssigkeiten aus
schnell geraten Zuschauer und Fern- verfärbten Gesichtshälften abgesaugt
sehkommissare auf die Spur des Mör- und für die Trauerfeier des Politikers
ders, die in die abgründige Ehrenwelt Hans-Jürgen Wischnewski die richtigen
des Boxstalls führt. Eher müde als er- Musikstücke bestimmt werden. Wie ein
fahren wirkt Elsner in diesem einfach Werbefilm für den Udo Walz der Pro-
gestrickten Fall (Buch: Eva und mi-Bestatter wirkt diese Doku-Soap. Da
Volker Zahn), der auf flache Weise sind Künstler am Werk, sagen die Sze-
muslimische Moralvorstellungen ins nen, keine Trauerklöße.
Visier nimmt. Nach über zehn Jahren
TV-Dienst für die Kripo Frankfurt
können auch Elsners Bauchtanz im
Polizeiruf 110: Kleine Frau
Bad und der neue Kollege Ingo Esser Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
(Walter Renneisen) nicht erfrischen. Die Brandenburger Hauptkommissarin

NILLE LEANDER / ZDF


Herz (Imogen Kogge) tritt oft so auf, als
trüge sie allein die schweren Lasten des
Pommery und Leichenschmaus Ostens. Doch an diesem Abend hat sie
Dienstag, 20.15 Uhr, ZDF sich für das Abi-Treffen verführerisch
Auch im dritten Film der Familienrei- aufgebrezelt. Die Bürden des Berufs er- Szene aus „Mittsommermord“
he gehen sich Frieder (Armin Rohde) eilen sie trotzdem, denn eine alte Schul-
und seine Geschwister mit ihren Ehe- freundin (Johanna Castdorf) gesteht, vor die Linse kommt. Die Story folgt
partnern wieder gehörig auf die Ner- ihren Sohn getötet zu haben. Was klar dem Grundsatz, alle Menschen seien
ven, diesmal aus besonders skurrilem scheint, wird durch das Misstrauen der verderbt, und nur kleine Unterschie-
Unschuld vermutenden Kommissarin de würden darüber entscheiden, dass
zum spannenden Krimi (Buch: Stefan die einen Verbrecher und die anderen
Rogall, Regie: Andreas Kleinert). Polizisten werden.

TV-Rückblick Vor Streckenabschnitten, die durch den


Dschungel führen, bilden die Laster
Konvois. An indischen Raststätten gibt
Die indische Höllenfahrt
REINER BAJO / ZDF

es einen hierzulande unbekannten Ser-


27. Dezember, Phoenix vicemann, den Ohrenschmalzsäuberer,
Ohne überheblichen Unterton, ohne so- der für umgerechnet einen Cent die
ziale Anklage, ohne dramatisches Getue Hörsinne schärft. In einer kurzweiligen
Rohde, Katharina Thalbach zeigte diese Reportage von Armin-Paul halben Stunde viel über fremde Welten
Hampel, Stephan Kloss und Neville La- lernen, was kann eine Dokumentation
Anlass: Vater Horst (Horst Krause), zarus ein Stück alltäglichen Arbeits- mehr leisten?
seit zehn Jahren totgeglaubt, kehrt wahnsinn in Indien. Die Kamera
zu seinen Kindern zurück, damit sie begleitete einen Lastwagenchauf-
über ihr Leben Bilanz ziehen. Wäh- feur und dessen Beifahrer auf
rend sich Eheabgründe auftun und dem Weg von Delhi nach Kalkut-
die gescholtenen Schwiegersöhne ta, so weit, wie es von Berlin
sich verbrüdern, merkt nur Luise nach Rom wäre. Fünf Millionen
(Mareike Carrière), dass der unbe- Lkw, so erfuhr der Zuschauer,
queme Vater diesmal gekommen ist, sind heute auf dem Subkontinent
um wirklich zu sterben. Mit trocke- unterwegs, was millionenfaches
nem Humor nimmt der Film (Buch Abenteuer bedeutet. Die
und Regie: Manfred Stelzer) die Straßenränder sind gesäumt von
PHOENIX / NDR

Empfindlichkeiten der lieben Ver- umgekippten Fahrzeugen, der


wandten auf die Schippe – und trifft Leichnam eines Überfahrenen
entwaffnend oft ins Schwarze. liegt halb auf der Fahrbahn,
ohne dass es jemanden aufregt. Szene aus „Die indische Höllenfahrt“
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Medien

T V- P R O G R A M M

Hollywood im Fernsehformat
Die Krimi-Reihe „CSI“ ist durch ihre bildgewaltige Machart zur derzeit wohl erfolgreichsten TV-Serie
der Welt geworden. Auch in Deutschland sind die immer aufwendiger werdenden
US-Produktionen plötzlich wieder beliebt, die heimischen Serien stecken dagegen in der Kreativitätskrise.

I
n Hollywood schreibt der amerikani-
sche Traum oft seine eigenen Ge-
schichten über den Aufstieg vom Tel-
lerwäscher zum Millionär. Das beste Bei-
spiel dafür ist Anthony Zuiker, 37.
Vor ein paar Jahren war es leicht, An-
thony Zuiker zu treffen. Man musste nur
nach Las Vegas fahren und gegen Mitter-
nacht die Straßenbahn am Casinohotel
Mirage nehmen – Zuiker war der Fahrer.
Heute dagegen ist es nicht so einfach, zu
ihm vorzudringen. Sein Terminkalender
wird gleich von einer ganzen Horde von
Sekretärinnen und Assistenten verwaltet.
So wie es sich eben gehört für die Schwer-
gewichte der amerikanischen Unterhal-
tungsindustrie, zu denen Zuiker seit dem
6. Oktober 2000 zählt.
Denn an diesem Abend wollten überra-
schend rund 17 Millionen Amerikaner die
erste Folge einer neuen Krimi-Serie über
Kriminaltechniker und Gerichtsmediziner
sehen, obwohl sie vorher vom Sender CBS
fast gar nicht beworben worden war. Der
Erfinder, Chefautor und Co-Produzent der
Serie mit dem Titel „CSI – Crime Scene In-
vestigation“: der Casinobahnfahrer aus Las
Vegas, Anthony Zuiker.
„Eigentlich kommt mir das auch heute
noch alles total verrückt vor“, sagt Zuiker.
Schließlich hatte er doch nur für einen alten
Schulfreund, der es in Hollywood zu einem
recht erfolgreichen Fernsehschauspieler ge-
bracht hat, ein paar Dialoge zum Üben auf-
geschrieben. Doch dann kam ein Anruf
vom begeisterten Agenten des Schauspie-
LANDOV / INTER-TOPICS
lerfreundes: Ob er statt Dialogen nicht auch
gleich ein Drehbuch schreiben könne?
Also kaufte Zuiker sich drei Handbücher
für Drehbuchautoren und schrieb das
Skript für einen TV-Spielfilm. Prompt mel-
dete sich Erfolgsproduzent Jerry Bruckhei- Erfolgsserie „CSI: Miami“: Detailgenaue Kamerafahrten durch Blutbahnen und Synapsen
mer („Top Gun“): Ob er auch eine Fern-
sehserie erfinden könne? ren Fernsehkonzern fast im Alleingang Einschaltquoten, die dreimal so hoch sind
Sechs Jahre später hat sich „CSI“ zu ei- wiederbelebt“, schwärmt CBS-Chef Les- wie der Senderschnitt.
nem weltweiten Fernsehunternehmen ent- lie Moonves. Nicht anders sieht es in Großbritannien,
wickelt. Zur ursprünglich in Las Vegas Auch in Deutschland machen die eher Frankreich, Spanien und all den anderen
spielenden Serie sind mit „CSI: Miami“ im Labor statt auf der Straße ermittelnden führenden TV-Märkten der Welt aus, wo
und „CSI: NY“ zwei eigenständige Ableger Cops die Senderchefs inzwischen glück- „CSI“ die jahrelang dominanten einheimi-
hinzugekommen. Zusammen dominieren lich: Mit zuletzt wöchentlich rund sechs schen TV-Serien meist alt erscheinen lässt.
die drei Forensiker-Teams mit wöchentlich Millionen Zuschauern und teilweise wer- „Es gibt weltweit im Fernsehen ein Come-
rund 60 Millionen Zuschauern die Haupt- berelevanten Marktanteilen bis etwa 30 back von Hollywood, und wir haben es si-
sendezeit in den USA. Prozent beschert „CSI: Miami“ RTL schon cher mitausgelöst“, sagt Zuiker.
„Die Bedeutung von ,CSI‘ kann man gar fast vergessene dauerhafte Quotenhöhen. Genaugenommen stimmt das nicht so
nicht überbewerten: Die Serie hat unse- Bei Vox sorgt die Serie aus New York für ganz, denn „CSI“ wird nicht in Holly-
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wood, sondern in den CBS-Studios produ- Leinwand zu sehen waren: detailgetreue die neue Hollywood-Ware plötzlich wie-
ziert, und die liegen im eher wenig gla- Kamerafahrten durch Blutbahnen und der zum Zuschauermagneten geworden.
mourösen San Fernando Valley genau auf Synapsen, Kugeln, die Organe in Slow-Mo- ProSieben etwa feiert Quotenerfolge mit
der anderen Seite der Hollywood Hills, ein tion durchschlagen. 10 000 Dollar kostet so dem Vorstadt-Drama „Desperate House-
paar Meilen nördlich von Los Angeles. ein ganz normaler Spezialeffekt, nach oben wives“ und hob auch die auf einer Pazifik-
Hier hat auch Zuiker sein Büro, ganz am ist die Preisskala offen. Insgesamt ver- insel spielende Mystery-Reihe „Lost“ ins
Ende des Geländes, hinter Hallen, in de- schlingt jede der rund 40 Minuten langen Programm, deren Produktionskosten von
nen einst Teile von „Magnum“ und „Dal- Episoden etwa drei Millionen Dollar – 60 Millionen Dollar pro Staffel in jeder Se-
las“ produziert wurden. dafür werden in Deutschland bisweilen kunde zu sehen sind. RTL hatte sich dage-
Hollywood, das war bislang immer ein zwei komplette TV-Spielfilme produziert. gen mit einer deutschen Billigvariante un-
Synonym für Kino- und Großproduktio- Wie inzwischen alle großen Kinofilme ter dem Titel „Verschollen“ versucht, die
nen, und auch die Schauspieler wollten entstehen die bildgewaltigen „CSI“-Fol- großenteils im Studio entstand – und schei-
über Jahrzehnte meist nur in die eine Rich- gen eigentlich erst in der Postproduktion terte kläglich.

FOTEX / TARGET
REUTERS

US-Serien „Commander in Chief“, „Grey’s Anatomy“: Quoten weit über dem Schnitt

tung: von der Mattscheibe auf die Lein- am Computer. Hier wird den drei Serien Auch Vox setzt auf den Ami-Trend und
wand. So wurde aus Pierce Brosnan erst ihre jeweils eigene Atmosphäre, ihre eige- hob unter anderem die „Gilmore Girls“
Remington Steele und dann James Bond, ne Farbe verpasst: hart und neon für die ins Abendprogramm. Die Folge: Quoten
und George Clooney wurde vom Kran- Las-Vegas-Ermittler, warme, tropische weit über Senderschnitt, der ohnehin dank
kenhausarzt zum Filmstar. Farben für „CSI: Miami“ und kühle, graue immer mehr US-Serien steigt.
Aber die Zeiten haben sich geändert: und blaue Töne für die im Großstadt- Die neuesten Hits der vergangenen Mo-
Film und Fernsehen mischen sich – und dschungel von New York spielenden Epi- nate sind schon verteilt: ProSieben zeigt
das hat wiederum viel mit „CSI“ zu tun. soden. unter anderem die sexy Krankenhaus-
Schon in Zuikers Büro sind die Hinwei- Alle drei aber wirken am Ende wie Reihe „Grey’s Anatomy“, RTL bediente
se dafür kaum zu übersehen. Gleich neben eine Mischung aus Hochglanzmagazin und sich etwa beim „CSI“-ähnlichen Krimi-
seinem Schreibtisch steht ein großes ge- Videoclip: Die Schauspieler sind stylish, naldrama „Bones“ und der Arzt-Serie
rahmtes Foto von Zuiker mit Quentin Ta- die Kulissen glatt und poliert, immer wie- „House, M. D.“, deren Kamerafahrten und
rantino. Der „Pulp Fiction“-Star war sich der wird die Handlung durch Flashbacks Special Effects stark an „CSI“ erinnern.
nicht zu schade, vergangenes Jahr die und rasante Kamerafahrten durch die Noch nichts bekannt ist über „Comman-
Schlussepisode der „CSI“-Staffel zu menschliche Anatomie unterbrochen. Zui- der in Chief“ mit Geena Davis als erster
schreiben und auch Regie zu führen. Von ker ist sicher: „,CSI‘ hat das weiblicher US-Präsident. Seit
seinen aus dem Kino gewohnten Maßstä- Fernsehen verändert.“ Amtsbeginn von Kanzlerin
ben musste er dabei nicht abrücken: Die Die kinoaffinen Krimis ha- Angela Merkel ist das Inter-
Farben sind düster, die Handlung ist brutal, ben die US-Serienproduktion esse noch einmal sprunghaft
sogar die Länge entspricht mit knapp 90 stark beeinflusst: In den ver- gestiegen.
Minuten einem Kinofilm. Mit klassischen gangenen Jahren tauchten Doch je mehr sich der deut-
Fernsehserien hat das nicht mehr viel zu plötzlich immer mehr aufwen- sche TV-Zuschauer mit sex-
tun – und das soll es auch nicht. dige Hochglanzserien auf, geilen US-Hausfrauen und
„Jede Folge ,CSI‘ soll ein Mini-Kinofilm die auch mit ihren komple- smarten Forensikern anfreun-
sein“, betont Zuiker. Urheber dieser Phi- xen Handlungen und ausge- det, desto weniger mag er sich
losophie ist allerdings nicht er selbst, son- reiften Charakteren eher an offenbar noch mit deutschen
dern Blockbuster- und Bombast-Produzent große Hollywood-Projekte als Friseusen und Kommissaren
Jerry Bruckheimer, der mit „CSI“ einen an Fließbandproduktionen abgeben. Die deutsche Serie,
Ausflug ins Fernsehen wagte. In den ver- fürs Fernsehen erinnern – und heißt es bei den Privatsen-
gangenen Jahren hat Bruckheimer stets sich jetzt immer mehr auch dern, stecke in der Krise.
bild- und soundgewaltige Kassenknaller im deutschen TV-Programm Gefragt sind vor allem neue
wie „Top Gun“ und „Fluch der Karibik“ durchsetzen. Ideen. „Wir müssen durch alle
WILLIAM HOWARD

produziert, im Fernsehen soll es nun nicht Nachdem einige Jahre Genres gehen und nach mo-
anders sein. „Ich will Fernsehen wie Kino selbst große Hits aus den USA dernen Formen der Umsetzung
machen“, sagt Bruckheimer. von Publikum und Sendern suchen“, sagt Barbara Thielen,
Und das heißt vor allem Special Effects, verschmäht oder im Pro- „CSI“-Erfinder Zuiker die neue Fiction-Chefin des
wie sie vor „CSI“ eigentlich nur auf der gramm vergraben wurden, ist „Total verrückt“ Marktführers RTL. Die alten
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Medien

nämlich funktionieren nicht mehr so rich-


tig: Bei einst überdurchschnittlich gut lau-
T V- D R A M A
fenden Serienhits wie „Hinter Gittern“ oder
„Alarm für Cobra 11“ scheint nach rund
zehn Jahren Sendezeit beim Zuschauer all-
mählich Langeweile ausgebrochen zu sein.
Und an neue deutsche Serien hat sich RTL
dieses Jahr kaum herangewagt.
Liebe, Lust und lauter Opfer
Nicht besser sieht es bei Sat.1 aus, der
„Papa und Mama“ – in seinem tragikomischen
Sender wartet seit „Edel & Starck“ verge- Scheidungs-Zweiteiler setzt sich Regisseur Dieter Wedel
bens auf einen ebenbürtigen Nachfolger. mit Macht und Tücke des Alltags-Eros auseinander.
Die Friseusen-Soap „Bis in die Spitzen“
liegt deutlich unter Senderschnitt, die
Krimi-Serie „Der Elefant“ erfüllt nicht
annähernd die Erwartungen.
Allerdings setzt der Berliner Sender nun
auf Offensive: Gleich zehn neue eigenpro-
duzierte Serien will Sat.1 dieses Jahr ins
Programm bringen. Statt scharf zu schie-
ßen, probieren es die Programmmacher
nun lieber mit der Schrotflinte: Irgend-
etwas muss den Geschmack des deutschen
Zuschauers doch treffen.
„Wir entwickeln selbst völlig neue Stof-
fe mit unkonventioneller Erzählweise“,
REINER BAJO / ZDF

sagt Alicia Remirez, Abteilungsleiterin Fic-


tion bei Sat.1. Da wird etwa ein in Berlin
gescheiterter Bundespolitiker in die Pro-
vinz geschickt, oder ein unter Gedächtnis-
verlust leidender ehemaliger Polizist ver- Darsteller Brückner, Schneeberger, Weck: Alte Gewohnheiten als Ehekitt
sucht den Mord an seiner Frau aufzu-

W
klären. as interessiert an der Vergangen- lodie zu hören, eine von heute, der keine
Doch selbst ausgefallene Ideen ersetzen heit? Was an der Gegenwart? An- äußere Not über innere Zweifel hin-
nicht das Gespür für den immer weniger dere mögen rätseln, das Fernse- weghilft.
berechenbaren deutschen Zuschauer: „Bis hen weiß zurzeit die Antwort: Liebe, Lie- Schon der platte Titel dieses Stücks,
in die Spitzen“ und „LiebesLeben“ be und sonst fast gar nichts. „Papa und Mama“, wirkt wie ein Abwehr-
gehören sicher zu den besten deutschen Da stehen sie und können anscheinend zauber gegen die Berückungen des großen
Serien der vergangenen Jahre – nur die nicht anders, Höhepunkte der TV-Saison: Pathos. Der Papa des Papas, Autor und
Mehrheit der Zuschauer ließen sie kalt. Die deutsche Krankenschwester und der Regisseur Dieter Wedel, mit einem ein-
Kreativität ist trotzdem das Einzige, wo- englische Flieger rennen 1945 durch die schüchternden Konto von Fernseherfolgen
mit sich die deutschen Serienmacher be- brennende Stadt, „Dresden“ heißt der für („Wilder Westen, inklusive“, „Der große
helfen können. Denn bei Aufwand und Frühjahr geplante ZDF-Zweiteiler, könnte Bellheim“, „Der Schattenmann“, „Der Kö-
Ausstattung können sie mit den Amerika- aber auch „Feuersturm der Leidenschaf- nig von St. Pauli“, „Die Affäre Semme-
nern nicht mithalten. Mehr als 1000 Mitar- ten“ heißen. ling“), sucht nicht die großen Gesten und
beiter arbeiten das ganze Jahr an den drei Die Fiktionen blicken jetzt besonders letzten lapidaren Sätze zur Liebe, sondern
„CSI“-Varianten: Filmcrews, Bühnenbau- gern zurück und erfreuen das Publikum beobachtet als Theaterfuchs das kleine, oft
er, Special-Effect-Spezialisten. Insgesamt mit Liebesgeschichten aus der Vergangen- lächerliche Hin und Her, in das Menschen
72 „CSI“-Episoden werden jedes Jahr pro- heit. „Die Luftbrücke“, Ende November geraten, wenn der Blitz in bequeme eroti-
duziert – Akkordarbeit vor allem für die gesendet, stellte der alliierten Rettungstat sche Gewohnheiten einschlägt.
Autoren, die sich ständig neue, möglichst eine (wunderschöne) Geschichte zwischen Nie hätte sich der Anwalt Peter Ullrich
bizarre Fälle ausdenken müssen. deutscher Sekretärin und amerikanischem (Fritz Karl) träumen lassen, dass ihm pas-
„Das ist oft eine zermürbende Arbeit“, General an die Seite. Der Lohn des drama- siert, was seinen Mandanten geschieht und
sagt Zuiker. Allerdings stehen ihm auch turgischen Kniffs: die Sensationsquote von wovon er gut lebt: Scheidung. Seine Frau
Ressourcen zur Verfügung, von denen über acht Millionen Zuschauern (knapp 30 Katja (Silke Bodenbender), seine Kinder,
deutsche Serienmacher nicht mal träumen Prozent in der jungen Zielgruppe) – davon die pubertierende Tochter Julia (Anna
können: Bis zu zehn Co-Autoren füllen kann Sat.1 sonst nur träumen. Im Februar Hausburg), der noch kleine Philipp (Wolf-
Zuikers Story-Ideen mit Handlungen und versucht RTL sein Glück mit dem Unglück: Niklas Schykowski), haben den smarten,
Dialogen aus. Vier bis acht Tage braucht „Die Sturmflut“, das Hamburg-Drama von arbeitssüchtigen Karrierejuristen in der Si-
ein Autorenteam für ein Drehbuch, drei 1962. Auch da rauschen neben den Was- cherheit einer glücklichen Beziehung ge-
bis vier Wochen dauert es, bis eine fertig- sern der Elbe die Ströme der Liebe. wiegt. Er seinerseits, der schöne Mann,
produzierte Episode die Serienmaschine Lenker solcher hochdramatischen Fern- verzichtet – trotz guter Gelegenheiten –
im San Fernando Valley verlässt. sehgezeiten ist der Produzent Nico Hof- auf außereheliche Affären. Was, heiliger
Angst vor einer Überproduktion haben mann, 46, der mit seiner Firma Team- Eros, soll passieren? Und warum?
die Serienmacher um Zuiker nicht. Im Ge- worx wie kein anderer auf der Zauberflöte Das Warum – eine der großen Stärken
genteil: Der Erfolg im Ausland löst Über- der historischen Feuer- und Wasserpro- dieses intelligenten Wedel-Films – werden
legungen aus, noch einen Gang zuzulegen. ben, durch die ein liebendes Heldenpaar wir bis zum Schluss nicht ergründen. Dafür
Zuiker: „Wir denken über ein internatio- gehen muss, zu spielen weiß. Am Montag das Wie. Am Anfang sind es bröckelnde
nales ,CSI‘ nach, das in einer europäischen und Mittwoch dieser Woche ist dann Steinchen, die sich von dem so unerschüt-
Stadt spielt.“ Thomas Schulz aber im ZDF eine ganz andere Liebesme- terlich geglaubten Gebäude der Ehe lösen:
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hier ein fast vergessener Kindergeburtstag, Scheidungstäter, sondern die Opfer, die Es herrscht bei Wedel nicht, was sich
dort eine wehmütig belächelte Erinnerung Kinder. Sie bilden wie in der griechischen in den Liebesspielen des Fernsehens
an Zeiten früherer Leidenschaft. Und im- Tragödie den Chor und kommentieren den (besonders den historischen) sonst einge-
mer Arbeitstermine, die immer vorgehen. Scheidungswahn der Alten. Die Kinder bürgert hat: die Macht des Schicksals.
Dann bricht das Gebälk. Katja verlässt knüpfen außerdem ein soziales Netz. Die „Papa und Mama“ findet in der Unüber-
die gemeinsame Villa. Der Mann ist per- Dramaturgie will, dass Charlys Sohn Tho- sichtlichkeit unserer Gegenwart statt. Nach
plex, dann wütend und schließlich ver- mas als Juristen-Azubi bei Anwalt Ullrich Hollywood steht dem Altmeister Wedel
zweifelt. Spätestens hier, denkt der Zu- arbeitet und dort mit der Trennung kon- nicht der Sinn. Am komischsten und ent-
schauer, beginnt die sattsam bekannte frontiert ist, die er auch mit seinen eigenen spanntesten wird der Film, wenn sich die
Rosenkrieggeschichte mit verzweifelten Eltern erlebt. Zudem verknallt sich – we- Kamera zu den erschöpften Scheidungs-
Kindern, rachsüchtigen Eheweibern, geris- gen des Altersunterschieds aussichtslos – kriegern setzt.

FOTOS: REINER BAJO / ZDF


TV-Scheidungspaar (Karl, Bodenbender), Scheidungskinder (Hausburg, Schykowski), Klientin mit Anwalt (Becker, Karl): Menschliche Komödie

senen Anwälten und dem Skandal, der sich die pubertierende Julia in den Studiosus Dann zeigt der Film seine größte Stär-
mal Scheidungsrecht, mal Versorgungs- Thomas. ke, die Schauspielkunst. Wie sich Gisela
ausgleich und mal Sorgerecht nennt. Die Scheidungskinder verstehen sich Schneeberger als Charlys betrogene Frau
Das Nervige, weil hundertmal Gesehene ohne viele Worte. Sie trauern mit kurzen Ruth vom ehelichen Klageweib zur Tat-
an dieser Höllenfahrt, erspart Wedel je- melancholischen Blicken, sie trösten sich. frau emanzipiert und sich trotzdem für-
doch seinen Zuschauern. „Papa und In diesen Figuren, die Wedel mit echten sorglich um ihren untreuen Ehemann
Mama“ interessiert sich für die Comédie TV-Neuentdeckungen wie Hausburg und sorgt, sieht der Zuschauer als glaubhafte
humaine unserer heutigen nachehelichen Brückner besetzt hat, manifestiert sich ein Gratwanderung. Weck spielt den Mann
Gesellschaft. Ein zweites Scheidungspaar utopischer Optimismus, der Glaube an ein ohne Schmäh und meidet die Gefahr, als
wird in den Film eingeführt. Das ist ei- lebenswertes Leben nach der Trennung. lächerlicher liebestoller Oller zu wirken.
gentlich in einem Alter jenseits von gut Denn aus einer Trennung kann man auch Bodenbender, wie Brückner eine Wedel-
und böse. Aber den Speditionskaufmann lernen, lautet eine Botschaft dieses Films. sche TV-Neuentdeckung, schafft es, den
Charly (Peter Weck) hat der Johannistrieb Der von Fritz Karl zunächst nur mit samte- Zusammenklang von rationaler Entschluss-
erwischt, er hat eine Affäre mit einer Jün- ner Smartheit, später aber zunehmend vol- kraft mit nie erlöschender Erotik herzu-
geren (Eva Habermann) und nicht das Ta- ler Ernst gespielte Anwalt wandelt sich un- stellen.
lent zur Heimlichkeit. So kommt, was nicht ter dem Trennungsschmerz. Aus einem ge- Am Ende von „Papa und Mama“ sind all
kommen müsste: Verzweifelt taucht Char- rissenen Advokaten wird ein verantwor- die alten Fragen offen. Wer, fragte schon
lys Ehefrau Ruth (Gisela Schneeberger) bei tungsvoller Rechtsvertreter. Mit einer schö- Shakespeare, lenkt eigentlich die Liebe?
ihrem Sohn (Maximilian Brückner) auf. nen Szene belegt Wedel diese Wende. Die Liebe die Zeitumstände oder, umge-
Charly und Ruth sind eine Art komisches Eigentlich hat der Anwalt in seiner Kanz- kehrt, die Zeitumstände die Liebe? Wann
Gegenbild zu dem Heldenpaar Peter und lei durch seine Scheidung schlechte Karten endet Eros, und endet er überhaupt je?
Katja. Allen tut zwar Schei- – der Senior (Ernst Jacobi) Zum Schluss des Zweiteilers gibt es ei-
den sichtbar weh, aber bei mag im eigenen Laden nicht, nen Kehraus. Geschiedene und nun neu
den Älteren wird deutlich, wovon er lebt. Aber dann zusammenlebende Paare treffen sich in ei-
welch haltbaren Ehekitt die weckt Ullrichs Schicksal ner Ferienanlage auf Mallorca. Die Wun-
Macht der Rituale darstellt. überraschend doch die Sym- den scheinen verheilt, die Scheidungsdä-
Als der erste Schmerz ver- pathie einer reichen Klientin. monen gebannt. Wir leben noch, soll die
klungen ist, sucht Charly seine Barbara Becker, die Ex-Frau Botschaft heißen.
nun getrenntlebende Frau in des Tennisstars Boris Becker, Da laufen sich der Anwalt und Katja
ihrer neuen Wohnung auf und spielt diese Rolle: Eine vom noch einmal über den Weg und versuchen
gönnt sich dort ein erholsames medialen Zirkus verschleierte zu verstehen, warum ihre Ehe scheiterte.
THOMAS LOHNES / DDP

Mittagsschläfchen. Soll hei- Prominente kann über den Belanglose Worte werden gewechselt, die
ßen: In guten wie in weniger Weg einer Fiktion einem Blicke sprechen eine andere Sprache: Wir
guten Tagen kann der Mensch großen Publikum emotional begehren uns noch immer.
nicht trennen, was die Ge- erklären, warum Verantwor- Eros ist eben manchmal stärker als das
wohnheit zusammenhält. tung für gemeinsame Kinder Scheidungsrecht. Er ist ein grausamer Gott.
Im Mittelpunkt des neuen Regisseur Wedel Augenmaß im juristischen Fürchtet euch sehr.
Wedels aber stehen nicht die Augenmaß im Kleinkrieg Kleinkrieg erfordert. Nikolaus von Festenberg

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Panorama Ausland
USA

Düsteres
Sittengemälde
B röckelnde Zustimmung im Irak-Krieg, sinkende Um-
fragewerte für Präsident George W. Bush – als wäre das
Jahr für die Republikaner nicht schon schwer genug gewe-
sen, beginnt in der Partei jetzt erst recht das große Zittern:
Jack Abramoff will auspacken. Der früher einflussreichste
Lobbyist Washingtons soll sich mit Korruptionsermittlern
vom FBI auf einen Deal geeinigt haben. Er hatte im Auftrag
seiner Klienten vorwiegend republikanische Granden mit
saftigen Parteispenden und allerlei anderen Zuwendungen
versorgt (SPIEGEL 48/2005). Seine Kundschaft erhielt dafür
maßgeschneiderte Gesetze oder gar eine Audienz beim
Präsidenten. Abramoff, einst Vorsitzender der Studenten-
vereinigung der Partei, kann verraten, wer im Kongress
und der Bush-Administration ihm und seinen Klienten zur
MICAH WALTER / CORBIS
Hand ging. Im Verdacht stehen mindestens 25 Kongress-Ab-
geordnete, darunter der Sprecher des Abgeordnetenhauses,
Dennis Hastert. Die Justiz scheint entschlossen, den Sumpf
trockenzulegen, und soll Abramoff als Gegenleistung für ein
umfassendes Sittengemälde des Polit-Betriebs einen kräfti-
gen Strafnachlass versprochen haben.

Abramoff

E U R O PA Plassnik: Die ungelöste Finanzfrage hat großen ungelösten Themen, etwa den
wie ein Bleivorhang alles verdeckt. Jetzt Verfassungsvertrag oder die künftigen
„Keine Verschnauf- aber ist der Blick wieder frei. Die Eini-
gung zeigt, dass Sparsamkeit und Soli-
Grenzen eines vereinten Europas.
SPIEGEL: Sehen Sie denn noch weitere
pause “ darität vereinbar sind. Sie fördert den
Aufholprozess unserer Nachbarn im
Beitrittskandidaten?
Plassnik: Unser besonderes Augenmerk
Die österreichische Außenministerin Osten und Südosten. werden wir auf unsere unmittelbaren
Ursula Plassnik, 49, über die am SPIEGEL: Was wird Österreich als Erstes Nachbarn in Osteuropa und im Mittel-
1. Januar begonnene EU-Ratspräsi- anpacken? meerraum legen – mit Schwerpunkt
dentschaft ihres Landes Plassnik: Zunächst müssen wir die Fi- Westbalkan.
nanzeinigung umsetzen und uns dabei SPIEGEL: Frankreich hat jüngst eine
SPIEGEL: Wien übernimmt nun von Lon- mit einem äußerst kritischen EU-Parla- Verschnaufpause bei der Erweiterung
don das Staffelholz. Die britische Prä- ment einigen. Dann geht es um die gefordert.
sidentschaft aber gilt als Plassnik: Es gibt keine Ver-
Misserfolg. Sehen Sie das schnaufpausen in der Ge-
auch so? schichte. Stopptasten gegen
Plassnik: Es war eine Präsi- die Entwicklung der Welt sind
dentschaft der Kontraste: noch nicht erfunden. Unsere
zunächst die furchtbaren Lon- Aufgabe ist es, die Partner auf
doner U-Bahn-Attentate, dann dem Balkan an europäische
der Schock über die negativen Standards heranzuführen. Es
Referenden zur EU-Verfassung kann zum Beispiel nicht sein,
in zwei Gründungsstaaten und dass die Beitrittsperspektive
die fehlende Finanzplanung. von zwei Millionen Mazedo-
Zum Ende aber gab es eine be- niern zum unlösbaren Pro-
achtliche Ernte: den Verhand- blem wird. Das Land ist ein
lungsbeginn mit Kroatien und europäisches Erfolgsprojekt,
GERARD CERLES / AFP

der Türkei und die Einigung wir unterstützen dort eine


beim Thema Finanzen. multikulturelle Gesellschaft:
SPIEGEL: Kritiker sagen, der ge- Die Menschen sind dabei,
fundene Budget-Kompromiss Zwietracht und Zerstörung zu
sei nicht tragfähig. Plassnik überwinden.
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Panorama

Preise für russisches Erdgas


Baltische bis zu pro 1000 Kubikmeter in Dollar
Staaten: 125
Estland, 80 2005 Prognose 2006
Lettland, 180
Litauen Russland
47 Moskau * nach Abzug von Durch-
über leitungsgebühren, Stand:
bis zu 29. Dez. 2005; Quelle:
200
Weißrussland 160

GRABAR VITALY / TASS / PICTURE-ALLIANCE / DPA


Gasprom, Agenturen
40

80 Ukraine *
110
110 110

Moldau
Georgien Aserbai-
Westeuropa dschan
Armenien

UKRAINE Clinch. Für die Ukraine fordert Putin sogar


einen mehr als vervierfachten Preis. Para-

Teure Gasrechnung doxerweise würde Russland damit einen


langfristigen Vertrag kippen, in dem Liefe-
rant Gasprom bis 2009 einen Preis von 50

W esteuropa macht sich wegen des dra-


matischen Gas-Streits zwischen Kiew
und Moskau Sorgen über eine neue Stra-
International Peace. Tatsächlich kassiert
Russland für Gaslieferungen in die frü-
heren Sowjetrepubliken extrem unter-
Dollar garantiert hatte – ebenfalls aus po-
litischen Gründen: Damit sollte die ener-
gieabhängige Ukraine weiter an Russland
tegie Russlands. Mit dem Druck auf die schiedliche Preise. Während der verbün- gekettet werden. Jetzt aber seien in jedem
Ukraine, plötzlich Weltmarktpreise für rus- dete Weißrussen-Führer Lukaschenko le- „Kubikmeter Gas all die Emotionen kon-
sisches Erdgas zu akzeptieren, teste der diglich 47 Dollar pro 1000 Kubikmeter Gas zentriert, die sich zwischen Moskau und
Kreml, wie weit er seinen Energiereichtum berappen muss, soll die Republik Moldau Kiew nach dem Sieg der Revolution in
künftig zur Erreichung politischer Ziele nun bis zu 160 Dollar zahlen – Staatschef Orange angesammelt haben“, so die Mos-
einsetzen könne, warnt Anders Aslund, Woronin liegt wegen seiner Annäherung kauer Zeitung „Kommersant“. Der Kreml
Ostexperte der Carnegie Endowment for an den Westen mit Kreml-Führer Putin im strebt nun andere Ziele an: Er will einer-

PERU Anhänger in den Streitkräften; im Jahr AU ST R A L I E N


2000 führte er eine Militärrebellion ge-
Alptraum in den Anden gen den als korrupt verschrienen Präsi-
denten Alberto Fujimori an. Humala
Sicherer Hafen
D er Siegeszug linkspopulistischer
Politiker in Lateinamerika erreicht
nach Bolivien den nächsten Anden-
verficht eine wirre Ideologie aus
glühendem Nationalismus, Rassismus
und antikapitalistischen Elementen. Ein
H ochrangige Handlanger eines Diktators
vom Schlage Saddam Husseins können
sich auf dem fünften Kontinent weitgehend
staat: Im April wird ein neuer Präsident Linksrutsch in Peru wäre ein Alptraum unbehelligt bewegen. Furore macht zurzeit
gewählt, und Ollanta Humala, ein Ex- für die USA: Der im Volk unbeliebte der Fall des Irakers Udai Adnan al-Tikriti,
Militär und Bewunderer des venezola- scheidende Präsident Alejandro Toledo 38, der zu Saddams heimatlichem Clan
nischen Staatschefs Hugo Chávez, liegt gilt als einer der wenigen Verbündeten gehörte und eine Einheit zur Verfolgung
Umfragen zufolge gleichauf mit der Washingtons in der Region. von Dissidenten geleitet haben soll. Sein Va-
konservativen Kandidatin Lourdes ter war bei Saddam in Ungnade gefallen
Flores. Humala kritisiert die Inves- und offenbar vergiftet worden, Udai floh
titionen multinationaler Konzerne daraufhin 1999 per Boot nach Australien
in Peru und verachtet die politi- und wurde vorerst im Lager Woomera inter-
sche Klasse. Unter dem neolibera- niert. Die Heirat mit einer 30 Jahre älteren
len Präsidenten Alejandro Toledo einheimischen Ärztin ermöglicht ihm seit
glänzt Peru derzeit zwar mit ho- seiner Entlassung ein freies Leben – denn
hem Wachstum, die Armut hat eine Handhabe zur Verfolgung von im Aus-
sich jedoch kaum verringert. Vor land begangenen Straftaten fehlt in der aus-
allem Protestwähler aus den ärme- tralischen Gesetzgebung. „Diese Leute
ren Schichten, die sich von den brauchen bei uns keine Angst zu haben, so-
EL COMERCIO / REUTERS

traditionellen Parteien verraten lange kein Auslieferungsersuchen vorliegt“,


fühlen, wollen für Humala stim- sagt Graham Blewitt, Jurist in Sydney
men. Außerdem hat er zahlreiche und von 1994 bis 2004 stellvertretender
Chefankläger beim Kriegsverbrecher-Tribu-
Humala nal in Den Haag. Weder Den Haag noch
84
Ausland
I TA L I E N Aktivitäten sofort be-
Russisch-ukrainische Pipeline enden“.

seits einen Keil zwischen Europa


Geschäfte Aber damit sind die
peinlichen Fragen an
und die Ukraine treiben – die sei
ein unsicherer Partner, weil sie
unter Brüdern den Regierungschef
längst nicht beantwor-
die neuen Preise nicht akzeptie-
re, damit Abschaltungen riskiere
und so den Transit großer Gas-
S ilvio Berlusconi
steht unter neuem
Verdacht: In Brüssel
tet. Weil sich mit Zu-
schüssen von 70 bis
150 Euro pro Decoder
mengen Richtung Westeuropa prüft die EU-Kommissi- immer mehr Italiener
gefährde, lautet die Botschaft. on, und in Rom ermit- einen erdgebundenen
Zum anderen sind die Russen telt die nationale Kar- digitalen Empfang
bemüht, die Regierung von Prä- tellbehörde, ob Italiens leisteten, profitierten
sident Juschtschenko kurz vor Premierminister mit nämlich auch die Pro-

CORRADO GIAMBALVO / AP
der Parlamentswahl im März staatlichen Subventio- grammanbieter, die
auch im Inland zu diskreditieren. nen den Wettbewerb mit dieser Technik
Das neue Regime sei wirtschaft- verfälscht und damit Bezahlfernsehen in
lich inkompetent, soll den Ukrai- die Umsätze seines Fa- die Wohnzimmer
nern bedeutet werden; tatsäch- milien-Imperiums för- schicken. Vor allem
lich würde ein Gaslieferstopp dert. Seit 2004 heizt Berlusconi der führende private
mitten im Winter die Bevölkerung hart tref- die römische Regie- TV-Konzern Mediaset
fen. Die Putin-Mannschaft setzt zudem auf rung den Kauf oder die Miete von De- legte mächtig zu – der zufällig in
Julija Timoschenko, die von Juschtschenko codern für terrestrisches Digitalfernse- großen Teilen Regierungschef Berlusco-
abgesetzte Ex-Premierministerin, die ihr hen mit Prämien aus dem Staatssäckel ni und seiner Familie gehört. Und zu-
politisches Comeback versucht. Kiews „ei- an. Insgesamt 200 Millionen Euro wur- fällig bekommen die Kunden des größ-
serne Lady“ war jüngst in Moskau und soll den dafür bislang verteilt. Im Haushalt ten Mediaset-Konkurrenten im Pay-TV-
dort versprochen haben, einen Beitritt ihres fürs neue Jahr sind weitere Fördermittel Markt, Sky, keine Staatszuschüsse, weil
Landes zur Nato zu verhindern – ein altes vorgesehen. Einer der großen Decoder- der per Satellit sendet. Der verärgerte
Ermittlungsverfahren gegen sie wurde kurz Händler, der vom staatlichen Geldsegen Wettbewerber hat nun Brüssel zu
darauf eingestellt. Im Gaskrieg bezieht Ti- profitiert, ist zufällig Paolo Berlusconi, Hilfe gerufen. Für Berlusconi ist es
moschenko nun Front gegen ihren früheren der Bruder des reichsten und mächtigs- nicht der erste Vorwurf, er vermenge
Partner: Auch dieser Präsident habe nichts ten Mannes des Landes. „Eine lächerli- politische Macht mit privaten Ge-
getan, um den hohen Gasverbrauch zu sen- che Sache, von der ich nichts wusste“, schäftsinteressen: Dank einer Steuer-
ken und die Suche nach eigenem Erdgas kommentierte der Regierungschef die amnestie seiner Regierung soll sein Fa-
im Schwarzen Meer voranzutreiben. erst jetzt bekannt gewordene Verbin- milienkonzern rund 160 Millionen Euro
dung. Sein Bruder werde „die Decoder- gespart haben.

SRI LANKA lenhochburg Jaffna elf Armeeangehöri-


ge; insgesamt fielen allein im Dezember
Frieden auf der Kippe mehr als 90 Menschen Attentaten zum
Opfer. Der norwegische Chefvermittler

D ie Hoffnung, dass die geteilte Na-


tion nach dem Tsunami politisch
wieder zusammenfindet, war voreilig.
Erik Solheim spricht von einem depri-
mierenden „Schattenkrieg“. Um eine
Eskalation zu verhindern, möchte Präsi-
Obwohl offiziell seit 2002 Waffenstill- dent Rajapakse den mächtigen Nach-
stand herrscht zwischen der Regierung barn Indien stärker in die Friedens-
in Colombo und den aufständischen Ta- bemühungen einbinden. Eine Verschär-
milischen Tigern (LTTE), mehren sich fung des Konflikts kann und will er sich
WADE LAUBE

tödliche Zwischenfälle, seit der singha- so kurz nach seinem Amtsantritt nicht
lesische Hardliner Mahinda Rajapakse leisten. Für die vom Tsunami extrem
Udai Adnan al-Tikriti in Adelaide im November zum Präsidenten gewählt betroffene Bevölkerung im tamilischen
wurde. Kurz vor Heiligabend starben Nordosten wäre ein Wiederaufflammen
Bagdad haben einen derartigen Antrag für bei zwei Anschlägen der LTTE 16 Mari- des Bürgerkriegs fatal; ihre Region wur-
den Saddam-Verwandten bislang gestellt. nesoldaten. Vorigen Dienstag zerfetzte de beim Wiederaufbau bisher stark ver-
Blewitt hält die legislative Lücke für ein eine Mine nahe der nördlichen Rebel- nachlässigt. Beobachter halten die An-
großes Problem: „Australien verfügt – an- schläge für ein Manöver der
A. LOKUHAPUARACHCHI / REUTERS

ders als Kanada, die USA oder Großbritan- LTTE, damit Colombo an
nien – leider auch über keine speziellen Ein- den Verhandlungstisch
heiten zur Untersuchung und Strafverfol- zurückkehrt. Das Ziel neuer
gung solcher Verdachtsfälle.“ Gespräche hat LTTE-Führer
Ein weiterer Grund für den laxen Umgang Velupillai Prabhakaran klar
mit dem Iraker könnte dessen Insiderwissen benannt: mehr Autonomie –
sein. Australiens Geheimdienst Asio hat andernfalls Krieg.
womöglich lebhaftes Interesse an einem ge-
sprächsbereiten Udai Adnan al-Tikriti. Tamilische Kämpfer
85
MLADEN ANTONOV / AFP

Aufmarsch von Kadetten vor der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale: „Wachsende Ehrfurcht vor staatlicher Symbolik“

RUSSLAND

Bär mit Balalaika


Moskaus politische Klasse beklagt mangelndes Ansehen in der Welt und rüstet sich deshalb zur
Quadratur des Kreises: Im Inneren soll Patriotismus nach sowjetisch-militaristischem Vorbild
restauriert, im Ausland ein besseres Image erzeugt werden – auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken.

R
echts Birken, links noch mehr Bir- landbild“ einzufangen – eines, das „der des „Projekts Putin“ gerechnet. Einer, so
ken. Dazwischen russische Erde, ganzen Welt“ gezeigt werden muss. spotten sie nicht ohne Respekt auf den
knöcheltief getarnt durch Plastik- Der Video-Mann befindet sich in großer Kreml-Fluren, der eine ganze geheim-
müll, Schaschlik-Pappen und Bierdosen. und guter Gesellschaft. Nichts, so scheint dienstliche Hauptabteilung für psycholo-
5000 Moskauer Schwermetall-Fans stamp- es, treibt Russlands politische Klasse ge- gische Kriegführung ersetzen könne. Bei
fen und röhren auf dem Festplatz des Ar- genwärtig stärker um als die Sorge, im Aus- allem Hang zu Theatralik und Verschwö-
beiterbezirks Kusminki in patriotischer land weit unter Wert gehandelt zu werden. rungstheorien oszilliert der gelernte Ge-
Trance zu vaterländischer Gebrauchslyrik „Wir können uns drehen und wenden, wie schichtslehrer bis heute halbwegs verläss-
der Gruppe „Piligrim“: „Heilige Rus, wir wir wollen“, klagt ein Kreml-Beamter, „für lich alle depressiven Schwankungen der
bewahren unseren Glauben.“ die westliche Welt bleiben wir Balalaika staatstragenden Stimmungslage – zwischen
Das Spektakel bei freiem Eintritt ist ein spielende Bären.“ imperialer Euphorie und nationalen Min-
Geschenk der regierenden Kreml-Partei Sein oberster Dienstherr, Wladimir Pu- derwertigkeitskomplexen.
„Einiges Russland“, dargeboten unterm tin, beschwerte sich vor Wochen bei aus- Damit antirussische Feindbilder der „eu-
weithin sichtbar plakatierten Motto „Zu ländischen Wissenschaftlern und Journalis- ropäischen Zivilisation“ (Pawlowski) we-
Russlands Ruhm“. Dass dies einst Gruß ten noch halbwegs konziliant, der Westen nigstens nicht die Heimat infizieren, hat
und Credo russischer Faschisten war, stört sei wohl nach wie vor nicht an einem star- die Regierung patriotische Vorsorge-Imp-
die Organisatoren so wenig wie das von ken Russland interessiert. Subalterne sei- fungen beschlossen. Während seit Mitte
nationalen Gesängen und Getränken be- ner Administration aber fahren längst ganz Dezember ein neu geschaffener Fernseh-
rauschte Publikum. andere Geschütze auf, sie sprechen vom sender regierungsamtliche Auslandspropa-
„Wir sind die Allerabgefahrensten“, anhaltenden Kalten Krieg gegenüber Mos- ganda in englischer Sprache betreibt (Rus-
heizt ein Bühnen-Animateur der Menge kau. „Russen sind die Juden des 21. Jahr- sia Today TV; finanzielle Erstausstattung:
ein: „Wir Russen, wir werden es noch der hunderts“, lautet die Opfer-Analyse des 30 Millionen US-Dollar), sollen zu Hause
ganzen Welt zeigen.“ Ein unablässig fil- Kreml-Beraters Gleb Pawlowski: Sie seien vornehmlich Schulen und Kasernen ver-
mender Parteifunktionär glaubt, auf der „heute objektiv die Parias in Europa“. stärkt in den Genuss vorformulierter Va-
staubigen Lichtung „ein ganz neues Russ- Pawlowski wird unter die Geburtshelfer terlandsliebe kommen.
86 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Euro dafür reservieren –
etwa die gleiche Summe,
welche die USA darauf ver-
wenden, ihr weltweit ram-
poniertes Ansehen auf-
zuhübschen: „Das Image
eines Landes in kurzer Frist
zu verändern“, dozierte der
Diplomat, sei „noch nie-
mandem gelungen“.
Genau dies freilich hat
sich die Putin-Administra-
tion vorgenommen, erst
recht für dieses Jahr, da
Russland erstmals den Vor-
sitz der G-8-Gruppe inne-
hat und mit dem Gipfel der
Staats- und Regierungs-
chefs im Juli in Putins Hei-
matstadt St. Petersburg ein
internationales Großereig-
nis inszenieren will.
Schon gleich nach dem

MISHA JAPARIDZE / AP
Machtwechsel im Kreml vor
sechs Jahren begann eine
Neujustierung der Kader
und Kompetenzen für die
Herstellung eines gefällige-
Roter Platz in Moskau im Weihnachtsschmuck: „Die Ehre der Heimat ist eine teure Angelegenheit“ ren Russlandbildes in der
Welt. Ausländische Medien
Vom zentralen Fernsehen und Rundfunk der Chef des russischen Föderationsrats und ihre Korrespondenten wurden wieder
hinunter bis zu Regionalprogrammen wird und stramme Putin-Gefolgsmann, Sergej in „feindliche“ und „kooperative“ sortiert.
die Einführung regelmäßiger Sendungen Mironow, „dann kümmern sich andere Der „Rat für Außen- und Verteidigungspoli-
„patriotischer Bürgererziehung“ erwartet. darum“: Im Westen habe man schließlich tik“, ein Moskauer Intelligenzija-Club zur
Die Nationalhymne mit der einprägsamen „sehr gut gelernt, uns wehzutun und sehr Popularisierung liberal-konservativer Groß-
Melodie aus Sowjetzeiten soll in der pa- schlecht darzustellen“; deshalb sei „die macht-Ideologie, formulierte eine neue
thetischen Interpretation des Alexandrow- Ehre der Heimat eine teure Angelegen- Konzeption: Auf den Märkten der globa-
Ensembles, einst Paradetruppe der Roten heit“. Experten schätzen Moskaus Jahres- len Informationsgesellschaft komme es
Armee, in preiswerten Sonderpressungen aufwand für vaterländische PR auf rund nicht mehr so sehr darauf an, wie ein Land
unters Volk gebracht werden. 100 Millionen Euro. „wirklich ist, sondern wie es sich ausnimmt
Erhoffte Rendite: „wachsende Ehrfurcht Einige Monate zuvor hatte ein leitender und dargestellt wird“. Manche Staaten hät-
vor staatlicher Symbolik, Entwicklung pa- Beamter des russischen Außenministe- ten ein „deutlich überhöhtes Image“, das
triotischer Gefühle unter den Bürgern der riums den Aufwand für ein positives Russ- russische dagegen sei, „bei Anerkennung
Russischen Föderation“. Verstimmt mäkel- landbild in der Welt weit höher kalkuliert. aller Probleme, klar unterbewertet“.
te selbst die sonst staatsfromme Zeitung Wenigstens eine Dekade lang müsse der Derlei Klagen über düstere Russland-
„Iswestija“, die pädagogische Offensive Staat jährlich mindestens eine Milliarde klischees, die langlebig und losgelöst von
habe einen deutlich „militaris- der Wirklichkeit öffentliche
tischen Neigungswinkel“. wie veröffentlichte Meinung
Ein neues Monatsblatt mit im Ausland negativ beeinflus-
dem Titel „Patriot des Vater- sen, sind weder neu noch un-
landes“, landesweite Feier- begründet. Laut einer vor
lichkeiten am „Tag des Wehr- zwei Jahren in Deutschland
pflichtigen“, eine wissen- durchgeführten Untersuchung
schaftliche Konferenz zum kannten 43 Prozent der Be-
Thema „Moral als Grundlage fragten keinen einzigen russi-
des Patriotismus“, patrioti- schen Schriftsteller, 67 Pro-
sche Spiele – für umgerech- zent keinen Komponisten.
net über 14 Millionen Euro „Selbst in den gebildetsten
soll das Selbstporträt des rus- Staaten“, empörte sich Fjodor
LANDOV ZHDANOV / PICTURE-ALLIANCE / DPA

sischen Staates nachkoloriert Dostojewski schon vor 128


werden. Das „schöpferische Jahren über geballte westliche
Potential von Journalisten, Ignoranz, verbreite man über
Schriftstellern und Filmema- Russland „den größten Un-
chern auf dem Gebiet patrio- sinn“. Und wunderte sich,
tischer Erziehung“ sei ent- dass „aufgeklärte Völker so
sprechend zu entwickeln. wenig bestrebt“ waren, dieje-
Fänden sich nicht genü-
gend Propagandisten der gu- * Nach einem Judokampf in St. Peters-
ten russischen Sache, warnte Präsident Putin*: „Nicht länger auf die Stiefel spucken lassen“ burg am 24. Dezember.

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 87
Ausland

nigen kennenzulernen, die schen und ägyptischen

UZAKOV SERGEI/ITAR-TASS (L.); GRANGER COLLECTION/ULLSTEIN BILDERDIENST (R.)


„sie doch alle von jeher Stränden ein: vormalige So-
hassen und fürchten“. wjetmenschen „niedrig und
Der vernichtende Schlag robust wie ein T-34-Panzer
gegen Napoleon zu Beginn gebaut“, saufend, rem-
des 19. Jahrhunderts ver- pelnd, drängelnd – im
schaffte den Russen ebenso schlimmsten Fall „Arsch-
wenig dauerhaften Kredit in löcher vom Kaukasus“.
Westeuropa wie zuvor im Kein Wunder, dass auch
Mittelalter die Absorbie- für den Moskauer Marke-
rung westwärts drängender ting-Spezialisten Alexander
Tataren um den Preis asia- Pankruchin sechs Jahre eif-
tisierender Fremdherrschaft riger Schleif- und Schmir-
für fast zweieinhalb Jahr- gelarbeit Putinscher Propa-
hunderte. Als europäische gandisten im Ausland wenig
Mächte zu Beginn der Neu- geändert haben an der
zeit diplomatische Kund- selektiven Wahrnehmung
schafter nach Osten schick- Russlands: „In den USA“
ten, gaben deren Berichte Kreml-Berater Pawlowski, Russland-Karikatur (1948)*: „Hassen und fürchten“ denke man, „dass wir Anti-
über Despotie und sklavi- semiten sind und überhaupt
sche Volksgesinnung dem Russlandbild justiz und heimlich-unheimliche Macht- Dritte Welt“, die Franzosen hätten „Angst
jene Konturen, die bis heute allen Image- ergreifung der Geheimdienste, Armee- vor der russischen Mafia und jähem Durch-
Korrekturen widerstehen. Übergriffe und die brutale Disziplinierung einander in unserer Gesellschaft“.
Gewiss, es gab Zehntausende Siedler, der aufständischen Tschetschenen addier- Doch Begriffsstutzigkeit, gar Böswillig-
die mit demselben Enthusiasmus nach ten sich in kaum 15 Jahren beim westli- keit beim ausländischen Betrachter erklärt,
Russland treckten wie andere nach Ame- chen Publikum zu einem Russlandbild, das wenngleich nicht auszuschließen, kaum al-
rika. Es gab hochgebildete Geister wie den richtig und falsch zugleich ist. les. Auch internationale Statistiken, die Re-
Deutschen Gottfried Wilhelm Leibnitz, der Richtig, weil Fakten fast immer sorgfäl- putation, Respektierung von Bürgerrech-
schwor, es sei ihm „lieber“, mit Unterstüt- tig recherchiert und korrekt reportiert wur- ten und wirtschaftspolitische Redlichkeit
zung Peter des Großen „bey den Russen den. Falsch, weil Alltagsnormalität oft aus- sortieren, reflektieren wenig Licht und viel
viel Guthes auszurichten als bey den Teut- geblendet wird. In der Summe ergibt sich Schatten:
schen oder anderen Europäern wenig“. jenes Image, das den Kreml ärgert – so • Im Index ökonomischer Freiheiten von
Und es gab preußische Offiziere am Za- sehr, dass seine Propagandisten vergessen, Heritage Foundation und „Wall Street
renhof ebenso wie gut hundert Jahre spä- dass es gleichwohl hausgemacht ist. Journal“ rangiert Russland auf Platz 124
ter Pilgerreisen deutscher Revolutionäre Hatte sich die Sowjetführung einst über von 161 – Abstieg um zehn Positionen
zum Leninschen Smolny. Charakteristiken wie Ronald Reagans binnen eines Jahres;
Doch das russische „Gefängnis der Na- „Reich des Bösen“ oder Helmut Schmidts • Der Korruptionsindex von Transparen-
tionen“ (Lenin) erhielt nach kurzem Frei- „Obervolta mit Atomraketen“ empört, so cy International sieht Russland auf Rang
gang für alle nur einen neuen Anstrich und sahen die Moskowiter Eliten am Ende von 126 von insgesamt 159 – Verschlechte-
einen anderen Namen. Parallel dazu ent- Jelzins Amtszeit ihr Land als „geplünder- rung um 36 Plätze;
stand im nationalsozialistischen Deutsch- te Zone atomar bewaffneter Anarchie“ • Im Uno-Bericht über die menschliche
land durch Stammtisch-Überheblichkeit, (US-Republikaner Dick Armey) oder als Entwicklung liegt Russland auf Platz 62
Rassendünkel und militanten Antikom- „umtriebigste Kleptokratie der Welt“ von 177 Staaten;
munismus ein ebenso widerwärtiges wie (Kongress-Kollege James Leach) etikettiert. • Russlands Pressefreiheit belegt in der
widerstandsfähiges Vorurteilsamalgam, das In Deutschland, wo Ironie gern mit Po- Statistik der Organisation Reporter ohne
sogar den Zusammenbruch 1945 einiger- lemik verwechselt und mit der Keule aus- Grenzen den 138. Platz von 167.
maßen unbeschädigt überstand und, so der geteilt wird, drosch der „Stern“ vorigen Putins Image-Initiative, „sich und unse-
Historiker Wolfram Wette, für die bundes- Sommer auf russische Touristen an türki- ren Menschen nicht länger auf die Stiefel
deutsche Nachkriegsdemo- spucken zu lassen“ (so ei-
kratie „eine geradezu iden- ner seiner Öffentlichkeits-
titätsstiftende Funktion“ arbeiter), hat so richtig nur
bekam. für ihn selbst wohltätige
Nur kurz vermochten Wirkungen entfaltet. Und
Gorbi-Euphorie und ro- auch nur dort, wo offen-
mantische Demokratisie- kundig der Zweck die Mit-
rungserwartungen alte Ost- tel heiligte.
ängste zu überdecken – So mochte Ex-Kanzler
dann generierten Mauerfall Gerhard Schröder nicht wi-
und Grenzöffnungen eine dersprechen, als der über
neue Furcht: vor zuneh- Gas und Öl gebietende Prä-
mender parakrimineller Ver- sident Russlands in einer
ostung des Westens mit Talk-Sendung zum „lupen-
Russland als unkalkulierba- reinen Demokraten“ avan-
PHOTOS12 / INTERFOTO

rem Treibsatz. cierte. Und in einer Bro-


Goldene Klobrillen der schüre des Verbandes der
neuen reichen Russen, ihre
Yachten und Villen, Mas- * Oben: von D. R. Fitzpatrick zur
sowjetischen Berlin-Blockade; un-
senarmut, Mafia-Killer und ten: Historienbild aus dem 19. Jahr-
Korruptionsfilz, Willkür- Napoleon vor dem brennenden Moskau 1812*: Keinen Kredit in Westeuropa hundert.
88 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Ausland

Deutschen Wirtschaft in Russland, gerade-


zu übereifriger Image-Pfleger zum Wohle
JEMEN
des Kreml, ist zu lesen: „Wenn Sie wirklich
beginnen, in Russland zu arbeiten, verges-
sen Sie alles, was Sie in deutschen Medien
über Russland gelesen haben.“
Während Gerhard Schröder in Deutsch-
land „immer mehr ein realistisches Russ-
Die Ehre der Daha
landbild“ Gestalt gewinnen sah, beklagte
Kidnapping als Interessenausgleich: Im wilden Süden der
fast zeitgleich im April vergangenen Jahres Arabischen Halbinsel versuchen die Stämme,
die „Mediengruppe“ des von Berlin und mit Entführungen staatliche Wohltaten zu erpressen.
Moskau gestifteten „Petersburger Dialogs“

F
ein „deutsches Russlandbild auf dem Tief- ast drei Jahrzehnte Dauerherrschaft wenige Tage vor Weihnachten, zwei Öster-
punkt“. haben den jemenitischen Präsiden- reicher in die Hände von Entführern ge-
Das Dilemma ist offensichtlich: Russ- ten Ali Abdullah Salih zwar nicht rieten.
lands innenpolitische Restauration hat zwangsläufig weise, wohl aber erfahren ge- Kurz nach Weihnachten traf es dann ei-
zwar längst noch kein sowjetisches Format macht. Seine Landsleute, so ließ er mit nen ausgewiesenen Experten für Ent-
angenommen, verstärkt aber das Negativ- Blick auf die dieses Jahr anstehenden Prä- führungen, den deutschen Staatssekretär
Image des Landes draußen in weit größe- sidentschaftswahlen wissen, hätten gewiss a. D. Jürgen Chrobog, 65, ehemals Kri-
rem Tempo, als es von den Retuscheuren genug von ihm. Er jedenfalls habe, und senmanager im Auswärtigen Amt. Er war
des Kreml mit wirtschaftlichen Boom-Bil- deshalb wolle er nicht mehr antreten, ge- zusammen mit seiner aus Ägypten stam-
dern übertüncht werden kann. nug von den Sorgen seines Volkes. menden Frau Magda und seinen drei er-
Die tatsächlich einflusslose und zahlen- Das ist verständlich, die Sorgen sind wachsenen Söhnen einer Einladung des
mäßig kleine Opposition in Russland be- groß. In diesen Tagen knallt es gerade mal stellvertretenden Außenministers gefolgt.
herrscht in dem Maße die elektronischen wieder in dem uralten, tiefzerstrittenen Bei einem Ausflug ins uralte Kulturland
Bilder aus Russland, in dem sie von der Wüsten- und Bergreich an der Südspitze Hadramaut wurde die Familie von Krie-
Staatsbürokratie drangsaliert wird. Dassel- der Arabischen Halbinsel. Die Anhänger gern des Daha-Stammes verschleppt.
be trifft auf die einheimischen Stiftungen des im vorigen Jahr getöteten Schiitenfüh- Wie aufwendig Operationen zur Rettung
zu, die mit einem eben angenommenen rers Hussein Badr al-Din al-Huthi liefern von Geiseln sind, weiß kaum jemand bes-
Gesetz unter Staatskontrolle gezwungen sich seit Wochen heftige Scharmützel mit ser als Chrobog selbst. Um 14 im Jahre
oder gar liquidiert werden. Und auch auf den Truppen der Regierung. 2003 entführte Sahara-Touristen nach
ausländische Medien, denen das Leben in Geschossen wird im Jemen oft und gern, Deutschland zurückzuholen, musste der
Russland immer schwerer gemacht wird – weil die Kalaschnikow über der Schulter damalige Staatssekretär in der malischen
der amerikanische Fernsehsender ABC wie der arabische Krummdolch am Gürtel Hauptstadt Bamako sogar einen ständigen
hat seit vergangenen Sommer keine zum Alltagsauftritt fast aller Männer Krisenstab einrichten. Am Ende flossen
Arbeitserlaubnis mehr, al-Dschasira muss- gehören. 50 Millionen Handfeuerwaffen fünf Millionen Euro aus Deutschland in
te seinen Korrespondenten abberufen, die bei 18 Millionen Einwohnern ergeben, den afrikanischen Wüstenstaat.
Deutsche Welle verlor vorübergehend ihre Frauen und Kinder abge-
Sendelizenz. rechnet, ein veritables
Dass es bislang vor allem dieses „Sein“ Waffenarsenal für jeden
im Inneren des Landes ist, welches Haushaltsvorstand.
draußen das Bewusstsein prägt – diese Nur eines ihrer vielen
schlichte marxistische Erkenntnis scheint Probleme schien die Re-
Moskaus Herrschenden abhanden gekom- gierung in den Griff be-
men zu sein. kommen zu haben – das
Das betrifft selbst das sogenannte nahe der ständigen Entführun-
Ausland, die ehemaligen Sowjetrepubli- gen von Ausländern. Dem
ken. Dort soll eine eigens geschaffene Kidnapping-Business wa-
Kreml-Verwaltung nun Wunder vollbrin- ren bis 2001 rund 200 Tou-
gen und die neue Strategie testen: „Russ- risten zum Opfer gefallen.
land, die russische Sprache“, wirbt der Doch ausgerechnet der
russlanddeutsche Verwaltungschef Modest wilde Jemen blieb ein
Kolerow, 42, bedeuten für den postsowje- Traumziel für Bildungs-
tischen Raum „Freiheit, die Voraussetzun- touristen. Mehr als an-
gen für noch größere Freiheit und große derswo in der arabischen
Möglichkeiten“. Die Ukrainer, denen Mos- Welt wecken die Zeugen
kau gerade brüsk den Gashahn zudrehen einer jahrtausendealten
will, mögen das anders sehen. Kultur die Erinnerung
Kolerow hat schon vielen Herren ge- an den märchenhaften
dient – Banken, Verlagen und Gouverneu- Orient aus Tausendund-
ren verschiedenster politischer Überzeu- einer Nacht.
gungen. Russland jenseits seiner Grenzen Gut vier Jahre lang hat-
ins rechte Licht zu setzen zählt für ihn un- ten sich die Touristen ent-
ter die vorrangigen nationalen Interessen: lang der antiken Weih-
Das sei ein „Krieg“, hat Kolerow unlängst rauchstraße im Reich der
geäußert, „in dem wir noch weit entfernt Königin von Saba sicher
sind vom siegreichen 1945; momentan be- fühlen können, bis Ende
finden wir uns erst im schrecklichen Jahr November zwei Schwei-
1941“. Jörg R. Mettke zer und im Dezember, Stadtzentrum von Sanaa: Erinnerungen an einen märchenhaften
90 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Intern fand Chrobog es schon damals 3. und 5. Januar heimkehren sollen. Die gehörigen dienen sollten. Die Clan-Ältes-
nicht amüsant, mit welcher Vollkasko- Münchner Firma hat bereits die Routen ten, die eine Entführung gemeinsam be-
Mentalität Touristen in Krisenregionen geändert und vermeidet jetzt die Ent- schließen, halten ihre Vorgehensweise kei-
eine Instant-Befreiung durch den deut- führungsregion Schabwa. Den Studiosus- neswegs für verbrecherisch. Wenn sich ein
schen Staat erwarteten. Schon auf dem Touristen geht es nach Angaben der örtli- Stamm oder eine Stammesallianz vom
Rückflug von Mali erläuterte der Staatsse- chen Agentur Abu Taleb Group (ATG) gut. Staat übergangen oder benachteiligt fühlt,
kretär den Heimkehrern beim Bier im Re- Auch Chrobogs Ausflug war von ATG or- wird oft zu diesen, fast immer unblutig ver-
gierungs-Airbus, dass sie sich an den Kos- ganisiert worden, einem der größten Sight- laufenden Gewaltstreichen gegriffen, um
ten beteiligen müssten. seeing-Unternehmen Jemens. Druck zu machen. Meist geht es dabei um
Im Entführungsfall Chrobog war der Als Veronica Pommert vom Berliner nicht eingehaltene Versprechen, Kranken-
Krisenstab im Auswärtigen Amt, geleitet Veranstalter „Windrose Fernreisen“ am häuser oder Schulen zu bauen; in jüngster
von seinem Nachfolger Georg Boomgaar- Mittwochabend erstmals von der Ent- Zeit standen vor allem Forderungen nach
den, zunächst einmal „zum Zuschauen führung hörte, schnappte sie sich einen modernen Bewässerungsanlagen und Stra-
verurteilt“. Außenminister Frank-Walter Atlas, um festzustellen, ob sich eine Wind- ßen auf dem Wunschzettel der Entführer.
Steinmeier erinnerte seinen jemenitischen rose-Gruppe in der Nähe von Schabwa Ihre Gefangenen auf Zeit behandeln die
Amtskollegen per Telefon daran, dass aufhält. Ihr Reiseleiter im Jemen konnte Stämme als gute Gäste, viele Geiseln be-
Chrobog immerhin eingeladen worden schnell Entwarnung geben: Alle Teilneh- richten von Festessen, welche die Kidnap-
sei – jetzt müssten ihn gefälligst auch die mer seien glücklich und schwärmten von per ihnen zu Ehren gaben. Passierte den-
Jemeniten wieder herausholen. der jemenitischen Gastfreundschaft. Sie noch in seltenen Fällen etwas Schreck-
Sorgen machten den deutschen Kri- selbst würde jederzeit wieder in den Je- liches, musste der betreffende Stamm den
senmanagern aber auch andere Deutsche, men fahren, Entführungen gehörten dort Angehörigen eine Entschädigung zahlen.
die sich noch immer in der Region aufhal- schlicht zum Alltag, sagt sie. „Wenn ein Insgesamt rechneten sich die Geiselnah-
ten. So führt der Reiseveranstalter Studio- Stammesmitglied gefangen wird, nimmt men für die Stämme: „Im Nordjemen sind
sus derzeit zwei Reisegruppen mit etwa 40 sich der Clan eben eine Geisel, damit ihr über ein Zehntel des Straßennetzes durch
Teilnehmern durch den Jemen, die erst am Mohammed wieder freikommt.“ Entführungen zu Stande gekommen“, be-
stätigt ein Verleger in der Hauptstadt. „Wer
150 das ändern will, muss das gesamte politi-
SAUDI-ARABIEN
Kilometer
OMAN sche System auf den Kopf stellen.“
JEMEN Das beinahe schon folkloristische Ent-
führungsmodell wurde bislang auch nur
Provinz einmal ernsthaft gefährdet – und zwar
Sanaa Schabwa Schabwa durch religiöse Extremisten. Im Her-
Al-Aram kunftsland des Bin-Laden-Clans entführten
radikale Islamisten im Dezember 1998 ins-
Aden gesamt 16 westliche Ausländer. Vier von
Golf von Aden ihnen starben, als jemenitische Sicher-
heitskräfte einen Befreiungsversuch wag-
ten. Solche Aktivitäten gewaltbereiter Fa-
natiker werden von den jemenitischen
Stämmen nicht unterstützt, weil die from-
me Konkurrenz die eigenen Geschäfts-
methoden bedroht.
Im Fall der Chrobog-Entführung ging es
allerdings nicht einmal darum, von der
Zentralregierung weitere Wohltaten zu er-
pressen. Für die Daha stand ihre Ehre auf
dem Spiel. Seit 1993 tobt eine bittere Feh-
MAELSA / SCHROEWIG

de zwischen ihnen und ihren Nachbarn


vom Stamm der Marakscha. Mehrere Mor-
de hatten Blutrache provoziert, und für
diese Form der Selbstjustiz stehen fünf
Entführungsopfer Chrobog, Ehefrau Magda Daha-Mitglieder vor Gericht. Um sie frei-
„Damit Mohammed wieder freikommt“ zupressen oder, ersatzweise, fünf Marak-
scha-Mitglieder vor den Kadi zu zerren,
Solche Geschäftsgebaren sind in der Tat wurden die Chrobogs entführt.
nicht unüblich und haben eine Tradition, Das dürfe man, bitte schön, nicht per-
die Jahrhunderte zurückreicht. „So etwas sönlich nehmen, baten die Kidnapper, die
gehört zu unserer Geschichte wie früher sich, bizarr genug, während der gesamten
Überfälle auf Handelskarawanen“, sagt Verhandlungen immer wieder an die Pres-
Ahmed al-Midwahi, einstiger Geschäfts- se wandten. Einer der Entführer, der sich
träger des Jemen in Bonn und später Di- unter dem Decknamen „Prima Kerl“ mel-
rektor des Nationalmuseums in Sanaa. dete, entschuldigte sich geradezu bei den
Schon zu Zeiten der Imamkönige, die Deutschen: „Wir haben sehr spät erfahren,
THOMAS GRABKA / LAIF

bis zur Revolution von 1962 den Nordje- dass die Geisel ein ehemaliger deutscher
men beherrschten, galten Entführungen als Staatssekretär war. Das ermöglicht es uns
eine besondere Art politischer Einfluss- erst recht, ihm und seiner Familie Schutz
nahme. Die Stämme des Jemen erpressten und Gastfreundschaft zu gewähren.“
die Zentralgewalt, um Forderungen durch- Ralf Beste, Hans Hoyng,
Orient aus Tausendundeiner Nacht zusetzen, die dem Wohl der Stammesan- Steffen Kraft, Volkhard Windfuhr

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 91
Ausland

Katars Hauptstadt Doha, tiefverschleiert.


Und das, obwohl sie noch zuvor dem ara-
ENTFÜHRUNGEN
bischen Sender al-Dschasira ein Interview
gegeben hatte, in dem sie nur ein lose um

„Totaler Kontrollverlust“ den Kopf geschlungenes Tuch trug.


Osthoff nestelte während des Interviews
mit ihren Händen, brachte Sätze nicht zu
Ende, sprang von einem Thema zum ande-
Die im Irak befreite Geisel Susanne Osthoff verstört die Deutschen ren, von Vorwürfen gegen die Bundesrepu-
mit ihrem erratischen Verhalten. Ein abenteuerliches blik bis zum Ärger mit ihrem ehemaligen
Leben und die Geiselhaft haben sie offenbar traumatisiert. Vermieter in Bayern. Auf die Frage nach
ihren Kulturprojekten antwortete sie kryp-

I
n der deutschen Botschaft in Bag- Und in einem aufsehenerregenden ZDF- tisch: „Ich schleppe Kisten von A nach B,
dad wussten sie es als Erste, als noch Interview redete sie beängstigend wirr. und paar Leute können Ihnen die Fragen
alle Zeitungen daheim schrieben, die Susanne Osthoff, das wird jetzt immer genau beantworten. Sie haben ohne mich
Geiselnahme der Susanne Osthoff habe deutlicher, ist nicht nur die unerschrocke- zu fragen mich da irgendwie plötzlich wie-
ein glückliches Ende gefunden, als alle ne Abenteurerin und selbstlose Helferin – der benutzt und sonst, ich sage nichts mehr
dachten, die Angst um diese Frau sei sie ist auch eine zerrissene Frau mit einem dazu, ich wäre schon öfter wegen der Deut-
vorbei. Denn als alle überzeugt waren, tragischen Schicksal. In Zorn und Verbit- schen gestorben, weil die mich sitzenließen
dass Susanne Osthoff nur mit einem terung hat sie die Verbindung zu ihrer Fa- im Krieg. Erst mich vorschicken, ich habe
Schrecken bezahlen musste für ihren Mut milie im bayerischen Glonn schon vor Jah- alles abgeliefert und später, warum hat mich
– da hatten in der Botschaft schon zwei ren abgebrochen und suchte im Irak fast denn mein Vermieter rausgeschmissen?“
Beamte des Bundeskriminalamts mit ihr manisch nach einem neuen Platz im Le- Allein eine Folge der Geiselhaft? In der
geredet. ben. Es waren die Aufgabe und auch das deutschen Botschaft in Bagdad schätzten

MATT MOYER / GETTY IMAGES


FRANK RUMPENHORST / DPA

Archäologin Osthoff im ZDF-Interview, im Irak (2003): Fast manisch auf der Suche nach einem Platz im Leben

Schon vor der Entführung galt Osthoff Abenteuer, die sie immer wieder in die Mitarbeiter Osthoff schon vorher als
als zuweilen eigensinnige und auch eigen- arabische Welt zogen, es war wohl zudem schwierig ein. Im Auswärtigen Amt fiel
artige Person, jetzt aber sprach sie in Wor- eine Flucht aus der engen Welt daheim. hinter vorgehaltener Hand früh der Aus-
ten, die keinen Zusammenhang erkennen Sie wollte Kulturgüter retten und anderen druck „manisch-depressiv“, sehr vorsichtig
ließen, in Sätzen, die keinen Sinn ergaben. Menschen helfen – aber auch sich selbst. natürlich nur. Man wollte alles vermeiden,
Da wussten die Fahnder in der Botschaft, Osthoff, 43, war Muslimin geworden, was die Geisel beschädigen könnte.
dass diese Frau nur äußerlich gerettet war. sprach die Sprache gut, engagierte sich – Das hat sie nun mit dem TV-Interview
Und sie ahnten, dass es nach dem glückli- aber dennoch war sie im Irak nie wirklich selbst getan. Günter Seidler, Leiter der
chen Ende der Geiselnahme keineswegs heimisch geworden. Sie hatte keine Woh- Sektion Psychotraumatologie an der Uni-
auch glücklich weitergehen müsse. nung, keine feste Arbeit, nur Projekte, für versitätsklinik Heidelberg, zeigt sich „er-
Inzwischen ist das anfängliche Verständ- die sie kämpfte. Das tat sie allerdings ve- schreckt“ über den Eindruck, den sie
nis für die Archäologin einem republik- hement, war sie es doch gewohnt, alle machte. Susanne Osthoff „braucht jetzt si-
weiten Kopfschütteln gewichen. Für das Zweifel oder Schwächen hinter einer cher Unterstützung“. Er wertet ihr Verhal-
Auswärtige Amt ist Osthoff ein Ärgernis, kämpferischen Fassade zu verstecken. ten auch als Reaktion „auf den totalen
für die Bevölkerung ein Rätsel: Sie melde- Die Fassade zerbrach in dem ZDF-In- Kontrollverlust, die totale Fremdbestim-
te sich nach ihrer Freilassung nicht bei ih- terview. So verwirrt wirkte sie, dass der mung während der Geiselhaft“.
rer Familie, die in einer Videobotschaft an Sender das Gespräch zunächst nicht aus- Über ihre Familie sagte sie: „Es gibt Fak-
die Entführer appelliert hatte. Sie wollte strahlen wollte und es dann am Mittwoch ten, weshalb da schon seit vielen Jah-
nicht zurück nach Deutschland, ist statt- vergangener Woche in gekürzter Fassung ren keinerlei menschliche Kontakte beste-
dessen in den Golf-Staat Bahrein gereist. doch tat: Osthoff stand in einem Studio in hen, triftige Gründe.“ Für den Kölner
92 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Ausland

Plünderung im Paradies
Der Kampf gegen Raubgräber trieb die
Archäologin Osthoff immer wieder in den Irak.

ABDUL-AMIR HAMDANI
E
s waren die Flussoasen im Lande Nach Ausbruch des ersten Golf-Kriegs
der Sumerer, in denen der Mensch war es mit der Forscheridylle vorbei.
Abschied von der Steinzeit nahm. Überstürzt verließen die Deutschen das
Euphrat und Tigris – laut Bibel begrenzen Land. Für Osthoff lief es auch zu Hause US-Journalist Garen im Irak (2003)
diese Flüsse das Paradies. nicht gut. „Weil es keine freie Stelle an Auf offener Straße gekidnappt
Das Bier wurde dort erfunden, Roll- der Uni gab, sattelte sie auf Semitistik
siegel, Glasur und die ersten Rechtskodi- um“, so Hrouda. Eingefädelt von Scheichs und Dorfoberen
zes. Schon um 3000 vor Christus ließ der Der Kontakt in den Irak brach aber treiben die Banditen Suchschächte in die
sagenumwobene König Gilgamesch ei- nicht ab, sie heiratete einen Araber. Und Tells. Satellitenbilder der Unesco zeigen,
ne zehn Kilometer lange Stadtmauer er- Osthoff sorgte sich zunehmend um die dass vor allem die sumerischen Ruinen in
richten. Wunden, die ein gieriger internationaler der Militärzone der Briten und Italiener
Heute ist all das zu Staub verfallen. Er- Kunsthandel in das Land der Götter, Grä- betroffen sind.
starrt unter Hügeln („Tells“) zieht sich ber und Gelehrten schlug. Heruntergetretene Zäune, leere Wäch-
das große Erbe durch die Weiten des Bereits nach dem ersten Waffengang terhäuschen – einige der ruhmreichen
Irak. Plünderer zerwühlen Tag für Tag mit den USA hatte Saddam Hussein zeit- Orte sehen mittlerweile aus wie Mond-
im Südirak mit Bulldozern, Kalasch- weise die Herrschaft über die Provinzen landschaften. Caterpillars fahren umher.
nikows im Anschlag, die Urstätten der verloren. Zehn Regionalmuseen wurden Großes Räumgerät ist in Aktion. Der For-
Kultur. von Banden geplündert. Bis heute feh- scher Maul vergleicht den Antik-Raub
Als Susanne Osthoff das Gebiet 1987 len 4000 kostbare Objekte, die damals mit einem „Tagebau“.
besuchte, war es noch ein Traumland der abhanden kamen. Dieses Chaos ließ Susanne Osthoff
Archäologie. Die junge Studentin gehör- Weit schlimmer aber sind die Verwer- nicht los. Ein bisschen im Stil der Com-
te zum Team des Münchner Professors fungen, die der zweite Einmarsch der puterheldin Lara Croft versuchte sie,
Barthel Hrouda, der die alte Königsstadt Amerikaner auslöste und die im April Schlimmstes zu verhindern und die Öf-
Isin freilegte. 2003 in der Heimsuchung des National- fentlichkeit aufzurütteln. Im Mai 2003
An diesem Wüstenort sammelte die da- museums von Bagdad gipfelten. Bald da- steckte sie einem Reporter der „New
mals 24-jährige Osthoff ihre ersten Spa- nach entglitt den Besatzern auch die Kon- York Times“ Informationen über die
tenerfahrungen. Tagsüber arbeitete sie trolle über den Süden, dem Operations- Grabganoven zu.
mit Spatel und Feger auf dem Tell. gebiet der schiitischen Mahdi-Armee. Und sie begab sich auch in Lebens-
Abends trank die Gruppe Tee und rauch- „Die Raubgräber sind bestens bewaff- gefahr. Erst im letzten Jahr wurde der
te Wasserpfeife. net“, sagt der Orientalist Stefan Maul. Archäologe Rijad al Duri, auf dem Weg
nach Assur, auf offener Straße gestoppt
und erschossen.
Die deutschen Orientalisten meiden
deshalb seit langem das Land. Der Hei-
delberger Peter Miglus, der in Assur grub
erklärte: „Ich bin doch nicht lebens-
müde.“
Nur das Römisch-Germanische Zen-
tralmuseum in Mainz wagt es zuwei-
len, ihren Orientmann Michael Müller-
Karpe in die Hauptstadt zu schicken.
Das deutsche Institut hilft vor Ort mit
Know-how und Vitrinen.
Müller-Karpe erin-
JOHN RUSSELL (G.); FOUR CORNERS MEDIA

nert sich noch genau,


wie er Ende 2004 im
Hotel Rimal die um-
triebige Osthoff zufällig
in der Lobby traf. „Sie
war gerade mit einem
ZDF-Team unterwegs.“
Aufgeregt bat sie den
Kollegen um Mithilfe:

Plünderung in Isin, Grabräuber-Video


„Bestens bewaffnet“
Psychotherapeuten Christian Lüdke klingt derten die historischen Stätten an Euphrat
das „nach schweren Beziehungsstörun- und Tigris, Osthoff wollte sie aufhalten.
„Wir müssen unbedingt die Plündereien gen in der Kernfamilie“. Auch Botschafts- Aber es gab kein festes Auskommen für
im Süden mit Fotos dokumentieren.“ leute sprechen von „tragischen Vorfällen“ Susanne Osthoff. Sie heuerte zeitweise als
Der Forscher stimmte zu, rückte aber daheim. Führerin für Kulturreisen an, um freilich
tags darauf von dem Plan wieder ab – zu Dass ihre Angehörigen mit Problemen bald wieder hinzuschmeißen. 2003 orga-
gefährlich. „Sie wollte daraufhin mit zu kämpfen haben und zumindest dem nisierte sie zwei Hilfslieferungen von
dem Schleier verkleidet allein in den Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit Deutschland aus nach Bagdad.
Süden fahren“, erzählt er. Handelte Su- nicht immer gewachsen sind, zeigt auch Als Letztes bemühte sie sich um die Ret-
sanne Osthoff fahrlässig? Was trieb die die Einweisung von Osthoffs Bruder tung einer historischen Karawanserei in
Frau? Robert in eine psychiatrische Klinik ver- Mossul. Das Projekt sollte ihr Anker im
Warnungen lagen genug vor. Bereits gangene Woche. Er war in ein Lokal ge- Leben werden. Es gab sogar Geld dafür,
im August 2004 war der US-Journalist kommen, um ein Fernsehinterview zu ge- das Auswärtige Amt sagte dem National-
Micah Garen mit seinem Ziel, das Unwe- ben. Als der Wirt das untersagte, legte Ost- museum in Bagdad rund 40 000 Euro zu.
sen der Schatzdiebe zu stoppen, in arge hoff ein blutiges Messer auf die Theke. Das Die Fahrt, auf der sie gekidnappt wurde,
Nöte geraten. Auf offener Straße gekid- TV-Team rief die Polizei. sollte zugleich ihr Umzug sein nach Arbil
nappt, wurde er geschlagen und erst nach Susanne Osthoff selbst musste in ihrer im Norden des Landes, von wo aus sie die
zehn Tagen wieder freigelassen. Familie darum kämpfen, dass sie überhaupt Arbeiten in Mossul vorbereiten wollte.
Soeben hat der Entführte sein Marty-
rium in Buchform auf dem US-Markt vor-
gelegt; ein Dokumentarfilm ist ebenfalls
bereits in Arbeit. Garen berichtet von
gewieften Hehlern, Banditen und ohn-
mächtigen Lokalpolizisten – eine „Höl-
le“, die zum kulturellen Ausbluten des
Irak führe.
In Umma, einem altakkadischen Zen-
trum, so der Autor, würden „in der
Nacht einige Hundert Ganoven arbei-

HEINZ STRAESSER / VARIO-PRESS


ten, illuminiert mittels elektrischer Ge-
neratoren, Kerosinlampen und Lkw-
Scheinwerfer“. Der Tell sei übersät „von
Hunderten Kratern, einige zehn Meter
tief, die in vertikale Untergrundtunnel
münden“.
In dem Gebiet ist zwar italienisches
Militär stationiert. Das hat eine spezielle Studentin Osthoff (1986 im Südirak): „Tüchtig, wagemutig und sehr geschickt“
Karabiniere-Truppe gegen den Kunstraub
aufgestellt; doch die Leute von „Viper 5“ Abitur machen durfte. Ihr Vater, der davon Das Ganze war eine aberwitzige Idee:
kriegen das Problem nicht in den Griff. nichts gehalten hatte, starb früh. Schon als Schon Monate zuvor wollten Terroristen
Die Amerikaner überfliegen die Diebes- Kind las Osthoff Bücher über Archäologie, sie angeblich aus Mossul entführen. Sie
orte manchmal mit Helikoptern, fühlen später machte sie sich mit dem Motorrad wurde von Kurden gerettet.
sich aber nicht zuständig. auf, durchquerte die Sahara. Doch Osthoff wischte Bedenken beisei-
Gerüchten zufolge sollen die Besatzer Sie wollte immer weg aus der engen te. Für sie sollte es ein Schritt nach vorn
zum Teil selbst die Finger mit im Spiel ha- bayerischen Provinz, sie studierte in Mün- sein, hatte sie doch bislang im Irak aus Ta-
ben. Erst jüngst tauchte auf dem italieni- chen Archäologie. In den achtziger Jahren schen gelebt, war seit Monaten ohne festen
schen Kunstmarkt ein komplettes Tonta- begleitete sie ihren Professor Barthel Wohnsitz. Zudem hatte sie oft Geldsorgen.
felarchiv auf – gestohlen im Irak. Hrouda das erste Mal zu Ausgrabungen in Sie hatte zwar Freunde und Bekannte,
Gesteuert wird der Antikenhandel den Irak. „Sie war tüchtig, wagemutig und manche allerdings etwas zweifelhafter Art.
über die Stadt Fajir. Dort sitzen die Auf- sehr geschickt beim Verhandeln mit den Einer davon war Dschamal al-Duleimi, ein
käufer, die ihre Ware ins Ausland brin- Einheimischen“, sagt Hrouda. Ihren Magis- Psychiater und Ex-Leibarzt von Saddam
gen. Der Luftweg führt fast immer nach ter (Thema: Spiegel im Vorderen Orient) Hussein. Duleimi bot ihr zeitweise Unter-
Frankfurt am Main. machte sie mit der Note eins. Dann aber schlupf in seiner Villa in Bagdad. Er war es
„Früher lief alles über London und das ging es nicht mehr weiter für sie, Stellen aber auch, der Susanne Osthoff den Fahrer
berüchtigte Freihandelslager in Genf“, für Archäologen sind rar. Ihre Träume von vermittelte – der mit ihr ins Verhängnis
erzählt Müller-Karpe. Doch seitdem Bri- einem sinnvollen Leben im Orient drohten fuhr und der jetzt verdächtigt wird, an der
ten und Schweizer das Unesco-Abkom- zu scheitern. Entführung beteiligt gewesen zu sein.
men zum Schutz internationalen Kultur- Als 1991 der Irak-Krieg begann, blieb sie Wer auch immer die Entführer waren,
guts unterzeichnet haben, sind diese dort, heiratete einen Iraker. Vor der Ge- eine zweite Chance werden sie so bald
Drehscheiben aus dem Rennen. Auch burt ihrer Tochter Tarfa, die heute zwölf wohl nicht mehr bekommen. Denn ihre
US-Präsident George W. Bush hat den Jahre alt ist, gingen die beiden nach selbsterwählte Mission wird Susanne Ost-
direkten Weg nach Amerika durch eine Deutschland. Sie fassten nicht Fuß – ihre hoff einstweilen kaum fortsetzen können –
vorläufige Anordnung versperrt. Familie empfahl Osthoff, sie könne sich zur Beruhigung deutscher Politiker, die
Mittlerweile gibt es nur noch ein Land doch „beim Aldi an die Kasse setzen“. fürchteten, sie wolle alsbald in das Land
in Europa, in dem gestohlene Kunstschät- Doch der Untergang in profaner Kleinbür- zurückkehren: Die irakische Regierung er-
ze aus dem Irak legal verkauft werden gerlichkeit war nichts für sie. wägt, ein Einreiseverbot gegen sie zu ver-
können: Deutschland. Matthias Schulz Sie schickte den Mann heim und folgte hängen. Jürgen Dahlkamp, Cordula Meyer,
bald selbst in den Irak. Sie hatte dort eine Conny Neumann, Markus Verbeet,
Volkhard Windfuhr
selbstgestellte Aufgabe: Raubgräber plün-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 95
Ausland

PA RIS
Die Botschaft von Roissy
Global Village: Die Direktoren der Pariser Flughäfen präsentieren
das renovierte Terminal 1 im Aéroport Charles de Gaulle.

N
asskaltes Winterwetter trübt den sie war eher warm-organisch, mit Farben pernschlag später schon schnellt ein Pres-
Luftraum über Paris, um die Ter- von Eierschalen, wulstigen Möbeln und sesprecher von der Seite heran und zeigt
minals von Roissy schnurren die schlauchförmigen Gängen wie aus riesigen lächelnd seine Zähne. „Kollegen, eine Bit-
grün-weißen Flughafenbusse, die Taxis, die anatomischen Modellen. Vorbei. te“, sagt er, „für alle Fragen, die nicht das
Menschen mit Koffern und Trolleys, es Im Jahr 2008 wird die Moderne von ges- Terminal 1 betreffen, wenden Sie sich bit-
kreuzen in Sichtweite die großen Boeing- tern hinter dem heute Modischen ver- te an die Pressestelle.“ Graff scheucht ihn
Jets von Cathay Pacific, und wie Schiffe schwunden sein, und die Flughafengesell- weg mit einer Kopfbewegung.
ziehen die Airbusse der Air France träge schaft wird 240 Millionen Euro ausgege- Er sagt: „Nun, 2E“, und macht eine Pau-
hinter der jungen Ruine des Terminals 2E ben haben zu diesem Zweck. So lange wird se, weil er Zeit gewinnen will und weil aus
vorbei, Aéroport Charles de Gaulle, 3300 sich Terminal 1 wie ein Freiluftmuseum an- einem Lautsprecher in der Nähe letzte
Hektar Fläche, Europas größtes Flugfeld. fühlen, das den Wandel von Geschmack Aufrufe dröhnen. „Wir werden noch ein
Es sind die letzten Tage des letzten Jah- und Moden begehbar macht. Danach wird Jahr brauchen, um es abzureißen, und ein
res, die Direktoren der Pariser Flughäfen alles neu und viel besser sein. „Das Ge- Jahr, um es wieder aufzubauen. 2008, hof-
haben eingeladen zum Ortstermin, aber päck“, sagt Direktor Cavaillès, „wird nicht fentlich, ist alles fertig. Ist das genug? Dann
sie wollen nicht einstürzende Neubauten mehr 25, sondern nur noch 20 Minuten lassen Sie uns jetzt ein Glas trinken.“ Am
zeigen, sie wollen frohe Botschaften ver- brauchen. 20 Minuten! Vom Check-in zur Ende der Halle, hinter Absperrbändern,
breiten. Man begeht, mit sind lange Büfett-Tische
der Presse, den teilreno- aufgebaut, die Presse
vierten Altbau des Ter- hofft auf ein paar Hap-
minals 1. pen, aber bewirtet wer-
Zwei Hand voll Jour- den die Flughafenmitar-
nalisten lassen sich her- beiter. Ihr Jahresempfang
umführen von zwei Hand steht an nach dem Presse-
voll Direktoren, es wer- rundgang. Menschen in
den neue Check-in-Tre- guter Kleidung fahren auf
sen gezeigt, man befühlt Rolltreppen zur Feier.
matte Steinböden, man Ob sich auch jener ira-
fährt Aufzug hoch und nische Flüchtling unter
nieder. „Man findet sich die Menge gemischt hat,
jetzt viel leichter zu- der seit angeblich 18 Jah-
recht“, begeistert sich ein ren als Staatenloser im
Mann mit Klemmbrett Bauch des Airports lebt?
F. BINDEFELD / AÉROPORTS DE PARIS

und Brille, er heißt Jean- Über den Steven Spiel-


Louis Cavaillès, er ist der berg den Film gedreht
Direktor des Terminals 1, hat? „Terminal“? Mit
er sagt: „Und beachten Tom Hanks?
Sie bitte die Farben, die Vor ein paar Wochen
kühle, ich würde sagen: erst kam der „Figaro“ mit
mineralische Anmutung.“ einer neuen, großen Ge-
Reisende fahren ihr schichte über die Unter-
Gepäck herum, sie sehen Flughafen-Generaldirektor Graff (am Pult), Kollegen: Mineralische Anmutung welt von Roissy heraus,
aus, als hätten sie zwi- wo sich anonyme Men-
schen Alt- und Neubauten, Abflug- und Maschine! Von der Maschine zum schen in Versorgungsschächten und Heiz-
Ankunftsebenen jegliche Orientierung ver- Gepäckband!“ Er ruft seine Sätze. röhren einrichten, in einem bizarren, ver-
loren. Es werden Maschinen aufgerufen Auch Pierre Graff hört sie, er ist der botenen Leben, geschützt am Ende von
nach Hamburg, Cardiff und Ljubljana, und Generaldirektor der Pariser Flughäfen, ein gefühligen Sicherheitsleuten, ernährt von
durch große Glasfenster geht der Blick Mann vom Aussehen eines strengen Kar- romantischen Stewardessen, behütet in der
immer wieder in die verrückte Innenwelt dinals, der Chef der Chefs, er trottet im großen Unbehaustheit von Roissy. Holen
dieses Terminals, wo die Menschen in Pulk. Ihn könnte man fragen nach Ter- die sich hier ein Lachsschnittchen ab? Ein
Glasröhren auf Rollbändern herumfahren minal 2E, der anderen, eigentlichen Bau- Glas Wein?
wie Statisten einer Episode von „Raum- stelle von Roissy. 2E: Dort war im Mai vor Und was sagt die Pressestelle dazu? Sie
patrouille Orion“, die Stewardessen dabei zwei Jahren das Dach eingebrochen, was lacht. Sie empfiehlt als Thema stattdessen
wie Wiedergängerinnen von Eva Pflug vier Menschen das Leben und viele ande- das Projekt der Flughafen-Metro, die die
alias Leutnant Tamara Jagellovsk. re die Gesundheit kostete. Es ist ein heikles Terminals von Roissy bald untereinander
Terminal 1. Als die Urzelle des Pariser Thema. Man muss die Frage locker stel- verbinden wird. Oder die neuen Automa-
Großflughafens vor 30 Jahren eröffnet len, wie nebenbei. ten der Star Alliance, die künftig Flug-
wurde, galt der Bau als architektonisches „Monsieur Graff, wunderbar dieses scheine ausspucken für alle 16 Airlines der
Weltwunder. Die Anmutung war damals renovierte Terminal 1, aber sagen Sie, wie Gruppe. Frohe Botschaften. Aber wer will
nicht „kühl-mineralisch“, im Gegenteil, ist eigentlich der Stand in 2E?“ Einen Wim- die dann lesen? Ullrich Fichtner

96 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
BERND RITSCHEL
Profi-Bergsteigerin Kaltenbrunner*: „Für mich waren immer nur meine eigenen Ziele wichtig“

EXTREMBERGSTEIGEN

Königinnen der Todeszone


Welche Frau wird als Erste alle 14 Achttausender der Erde bestiegen haben? Die Spanierin Edurne
Pasabán, aber auch die Österreicherin Gerlinde Kaltenbrunner könnte es schaffen. Schon
jetzt inszenieren die Medien aus der Pioniertat ein Duell. Doch einen Wettlauf lehnen beide ab.

V
on der Polizeiinspektion am Wiener Kennzeichen, der vor einem belebten Se- Abend im Audimax der Uni zeigen wollte
Deutschmeisterplatz bis zu der minargebäude der Universität stand, hatten – und für den sich bereits im Vorverkauf
Straße, in der das aufgebrochene Unbekannte einen schweren Alukoffer knapp 500 Menschen eine Eintrittskarte
Auto stand, waren es nicht einmal zwei Ki- gestohlen. gesichert hatten.
lometer. Es verging dennoch fast eine Stun- Für einen Wiener Gendarmen war In der Hauptrolle wäre die Vorführerin
de, bis zwei Beamte am Tatort eintrafen. das nicht die Art Verbrechen, die einen selbst gewesen: Gerlinde Kaltenbrunner,
Ihr Ermittlungseifer blieb gemäßigt. verzögerten Dienstschluss rechtfertigte. 35, eine der zwei derzeit besten Extrem-
„I hob eh in zwölf Minuten frei“, raunzte „Schaun S’“, feixte der Dicke, „dös pas- bergsteigerinnen der Welt.
der Dicke mit dem Oberlippenbart, offen- siert hier ständig im erst’n Bezirk.“ Für die So wurden Wiens Alpinistenszene we-
sichtlich der Ranghöhere, nachdem er sich Frau, die den Schaden hatte, war der Dieb- nige Tage vor Weihnachten grandiose Bil-
aus dem Beifahrersitz des Streifenwagens stahl indes die Art realer Alpträume, die der vorenthalten. Sie zeigen die Erde dort,
geschält hatte. Dann ließen sie sich schil- ein Stück gelebtes Leben schwärzte. wo sie atemberaubend schön und lebens-
dern, was passiert war: Aus dem Fond ei- Denn in dem Alukoffer hatte sich ne- feindlich zugleich ist wie nirgendwo sonst,
nes blauen VW Sharan mit deutschem ben einem Projektor und einem Computer auf über 8000 Meter Höhe in der bizarren
im Wert von mehreren tausend Euro auch Bergwelt des Himalaja und des Kara-
* In Nepal am Cholatse (6440 Meter) am 1. Dezember 2005. ein Dokumentarfilm befunden, den sie am korum, und sie zeigen eine junge Frau, die
98 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Sport
EDURNE PASABAN ARCHIVE

Profi-Bergsteigerin Pasabán*: „Mein Leben steht auf dem Spiel, da wäre ich wahnsinnig, wenn ich mich bedrängen lassen würde“

in der sogenannten Todeszone ihren bat (8125 Meter), am 20. Juli des ver-
Weg geht, als folgte sie einer Einge-
bung – mal in absurd steilen Eiswän-
Auf dem gangenen Jahres. Nicht einmal 24
Stunden später stand Gerlinde Kal-
den hängend, mal dramatisch tiefe Gipfel tenbrunner auf dem 8034 Meter hohen
Gletscherspalten querend. Die Berge Gasherbrum II – ebenfalls ihr achter
Weltweit gibt es 14 Berge, die höher der Besten Wanda Edurne Gerlinde
Achttausender.
als 8000 Meter sind, und 8 dieser Quelle: E. Jurgalski Rutkiewicz Pasabán Kalten- Spätestens seit jenen zwei Som-
Giganten hat die Österreicherin Ger- BERGE, HÖHE TAG DER BESTEIGUNG
brunner mertagen ist die internationale Berg-
(V. L . ) F. B LI C KLE / BI LD ERBER G; D. RO DR I GUEZ / D ES NI V ELPRE SS ; B. RITS CH EL

linde Kaltenbrunner, die an den Aus- Everest steigerzunft wie elektrisiert von der
läufern des Nordschwarzwalds im ba- 8848m 16.10. 78 23. 05.01 Vorstellung, dass es bei den Frauen
dischen Bühlertal lebt, bereits bestie- K2 23. 06. 86 26.07.04 eine Wiederholung des Wettlaufs um
8611m
gen. Erst zwei Frauen vor ihr haben Kangchendzönga die 14 Achttausender geben könnte,
diese Marke geschafft: die Polin Wan- 8586m 13. 05. 92 den sich bei den Männern in den sieb-
da Rutkiewicz und die Spanierin Lhotse 26.05.03 ziger und achtziger Jahren der Süd-
8516m
Edurne Pasabán. Makalu tiroler Reinhold Messner und der Pole
Wanda Rutkiewicz ist verschollen. 8485m 16.05.02 14.05.01 Jerzy Kukuczka geliefert hatten – und
Sie wurde das letzte Mal im Mai 1992 Cho Oyu 26. 09. 91 05.10.02 06.05.98 den schließlich die halbe Welt gebannt
8188m
gesehen, als sie allein – und offen- Dhaulagiri verfolgte, ehe Messner im Oktober
sichtlich schon ziemlich erschöpft – 8167m 1986 als letzten ausstehenden Gipfel
auf dem Weg zum Gipfel des Manaslu 10.05.02 den Lhotse bezwang.
8163m
Kangchendzönga war. Niemand weiß, Nanga Parbat Die Experten sind sich einig: Wenn
ob die damals 49-Jährige beim Auf- 8125m 15. 07. 85 20.07.05 20.06.03 es in den nächsten Jahren einer Frau
stieg oder beim Abstieg ums Leben Annapurna 22.10. 91 28.05.04 gelingen sollte, diese mythische Marke
8091m
kam. Der Kangchendzönga, 8586 Me- Gasherbrum I zu knacken, kommen wohl nur Pasa-
ter hoch, wäre ihr neunter Achttau- 8080m 16. 07. 90 26.07.03 25.07.04 bán und Kaltenbrunner in Betracht.
sender gewesen. Broad Peak Denn in der Liste der weltweit führen-
8051m
Edurne Pasabán, 32, erreichte ihren Gasherbrum II
den Extrembergsteigerinnen tauchen
achten Achttausender, den Nanga Par- 8034m 12. 07. 89 19.07.03 21.07.05 hinter ihnen gerade einmal drei Frau-
Shisha Pangma 18. 09. 87 07.05.05 en auf, die es bislang auf sechs Acht-
8027m
* In Nepal am Gipfel des K2 am 26. Juli 2004. tausender geschafft haben – eine von
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 99
Sport

ihnen, die Französin Chantal Mauduit, „Bergsteigen ist für mich kein Wettkampf.
kam bereits 1998 beim Anstieg auf den Es ist mein Leben.“ Als Jugendliche gehör-
Dhaulagiri durch eine Lawine ums Leben. te sie zu Österreichs besten Skifahrerin-
Und weil die Amerikanerin Christine nen ihrer Altersklasse, doch mit 14 verließ
Boskoff, 38, seit Oktober 2000 keinen wei- sie das Sportinternat in Windischgarsten,
teren Achttausender mehr in Angriff ge- weil sie sich dagegen sträubte, in ihren
nommen hat, gilt allenfalls die Italienerin Freundinnen auf der Piste plötzlich Kon-
Nives Meroi, 44, noch als Pasabáns und kurrentinnen zu sehen – so hatten es ihre
Kaltenbrunners Liga zugehörig. Trainer verlangt. „Für mich waren immer
Es ist der einsame und immer wieder nur meine eigenen Ziele wichtig“, sagt Kal-
erfolgreiche Kampf des Einzelnen gegen tenbrunner, „und deshalb kenne ich beim
die Naturgewalten, der die Phantasie des Bergsteigen auch keine Gegnerin.“
Massenpublikums beflügelt. Bricht einer Edurne Pasabán steht auf der Terrasse
dann noch Rekorde für die Ewigkeit, avan- ihres Restaurants Abeletxe, das sie sich in
ciert er – wie etwa der Mount-Everest- einem Weiler in den Vorbergen der baski-
Erstbesteiger Sir Edmund Hillary oder schen Pyrenäen gekauft hat, und berichtet
eben Reinhold Messner – bereits zu Leb- von dem „Widerwillen“, den sie empfinde,
zeiten zur Legende. „weil plötzlich alle etwas von mir wollen
Welch große Faszination scheinbar über- und an mir herumzerren“. Nach ihrem
menschliche Leistungen ausüben, unter- achten Achttausender suchte sie Rat bei
strich zuletzt auch die Einhandseglerin El- einem Psychologen. „Mein Leben steht auf
len MacArthur – ihre Solofahrt in einem dem Spiel“, sagt Pasabán, „jeder Schritt
Trimaran, bei der die 29-Jährige in Re- im Himalaja kann mein letzter sein, da
kordzeit die Weltmeere durchkreuzte und wäre ich doch wahnsinnig, wenn ich mich
selbst apokalyptischen Unwettern trotzte, zu irgendetwas drängen lassen würde.“
machte aus der bis dahin nur Fachleuten Das sagt sich so leicht. Doch wie sehr
bekannten Britin eine weltweit bewunder- sich Spanien nach einer modernen Heldin Lager am Mount Everest*: Keine bedeutende
te Extremistin des Sports. ihres Typs sehnt – verwegen, mutig, at-
Und so entwickeln allmählich auch die traktiv, intelligent –, erfuhr die Ingenieurin, wunden hatte. Denn ein gutes Jahr zuvor,
Gipfelerfolge der beiden besten Bergstei- die derzeit in Barcelona ein Marketingstu- im September 2004, musste der Baskin je-
gerinnen eine Dynamik, die mit den An- dium dranhängt, im Spätsommer nach ih- weils am zweiten Zeh des linken und des
fängen ihrer Karriere nicht mehr viel zu rer Rückkehr vom Nanga Parbat. rechten Fußes das vordere Glied amputiert
tun hat. Ging es bei der Bewältigung der Das Sportblatt „Marca“, Spaniens meist- werden – beim gefürchteten Abstieg vom
ersten Achttausender sowohl für Kalten- gelesene Tageszeitung, die ihre Aufmacher- 8611 Meter hohen K2 hatte sie sich schwe-
brunner als auch für Pasabán um nichts geschichten in der Regel den Topstars des re Erfrierungen zugezogen. Noch schlim-
anderes als um die Erfüllung einer Lei- spanischen Profi-Fußballs wie David Beck- mer hatte es einen ihrer Begleiter erwischt:
denschaft, fühlen sie sich nun mehr und ham, Zinedine Zidane oder Ronaldinho Dem Spanier Juan Oiarzabal, der mit 21
mehr gegängelt – von Sponsoren, die ein widmet, hatte nach der Gipfelmeldung die Besteigungen so viele Achttausender vor-
Geschäft riechen und am wachsenden ersten fünf Seiten für die Bergsteigerin aus weisen kann wie kein anderer, mussten die
Ruhm der Abenteurerinnen partizipieren dem baskischen Tolosa freigeräumt – selbst Ärzte sämtliche Zehen abnehmen.
wollen; von den Medien, die ein Duell er- der bevorstehende Wechsel des brasilia- Schon damals hatte das Land wochen-
bitterter Rivalinnen konstruieren, weil sich nischen Wunderstürmers Robinho zu Real lang Anteil genommen am Schicksal der
die Story so besser verkaufen lässt; und Madrid verkam auf der Titelseite zu ei- populären Athletin und ihres Gefährten.
von der Öffentlichkeit, für die es nur noch ner kleinen Notiz. Das Konkurrenzblatt Das Drama auf dem zweithöchsten Gipfel
um eine Frage geht: Wann ist es endlich „Mundo Deportivo“ in Barcelona dichtete: der Erde und die abenteuerliche Rettungs-
so weit mit dem 14. Berg? „Pasabán, das Superweib“. Der Taumel er- aktion, die Pasabán und Oiarzabal inner-
Die Vereinnahmung registrieren beide fasste selbst seriöse Gazetten. So titelte „El halb von nur vier Tagen vom Basislager
Alpinistinnen mit Argwohn. Kaltenbrun- País“: „Edurne, Königin des Himalaja“. des K2 bis auf die chirurgische Abteilung
ner, eine nachdenkliche und überlegt for- Die nationale Erregung war ins Über- einer Klinik in Zaragoza brachte, war
mulierende Frau, sitzt im Café Central in mäßige geraten, weil Pasabán am Nanga
der Wiener Herrengasse und betont: Parbat offensichtlich ein Trauma über- * Camp 1 am Nordsattel auf 7100 Meter Höhe.

Gefährliche Giganten Bilanz der Achttausender-Besteigungen BESTEIGUNGEN TOTE


davon
beim Abstieg
H OLL A ND SE H O OGT E / LA I F

ULLST EI N / PUYA LES

GA M MA / ST UD I O X

Everest Annapurna K2 Everest 2557 192 50


K 2 249 60 23
Kangchendzönga 196 40 8
Lhotse 280 9 2
Makalu 226 24 11
Cho Oyu 1914 37 7
Dhaulagiri 331 56 5 Quellen:
Manaslu 241 52 3 Eberhard
Jurgalski,
Nanga Parbat 265 62 4 Himalayan
Annapurna 140 58 8 Database

Gasherbrum I 229 23 7 Stand:


Cho Qyu
Broad Peak 269 18 4 15.06. 05,
Gasherbrum II 697 17 4 andere
15.12. 05
Der meistbestiegene ... ... und die bedrohlichsten Achttausender Shisha Pangma 229 19 2

100 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
sich damit in eine heikle Abhängigkeit
manövriert hat.
Vor allem einer oberösterreichischen
Bank, bei der Kaltenbrunner seit knapp
einem Jahr unter Vertrag steht, kann es
mit ihren Erfolgen offenbar nicht schnell
genug gehen. So posaunte der Marke-
tingleiter bei einer öffentlichen Veranstal-
tung im vorigen Sommer schon einmal
frohgemut heraus, „in spätestens drei Jah-
ren“ habe Kaltenbrunner alle 14 Achttau-
sender „bezwungen“ – nach Ansicht der
Extrembergsteigerin eine Anmaßung.
Ein andermal ersann der Mann von
dem Geldinstitut flugs einen Erlebnis-
bericht im Namen Kaltenbrunners, den
er einer Zeitung zum Abdruck freigab. In
deftigen Worten ließ er die sonst sehr be-
sonnene Alpinistin erläutern, warum ihre

ROBERT BOESCH / ANZENBERGER


Expedition auf den Mount Everest ge-
scheitert sei.
Dabei illustriert diese Episode wie kaum
eine andere, dass Gerlinde Kaltenbrunner
keine von blindem Ehrgeiz getriebene Re-
kordjägerin in dünner Luft ist. Es war am
30. Mai des vorigen Jahres, als sich die
Herausforderung mehr für Hochleistungskletterer Österreicherin mit ihrem Lebensgefährten,
dem Deutschen Ralf Dujmovits, 44, und
lückenlos dokumentiert – die Baskin hatte der über alle Achttausender-Expeditionen dem Japaner Hirotaka Takeuchi, 34, auf
den Berg mit einem Kamerateam des spa- Buch führt und dessen Aufzeichnungen direktem Wege zum Gipfel des Mount
nischen Staatsfernsehens bestiegen, das für neben denen der in Katmandu lebenden Everest befand. Doch am Abend, auf 7650
das Programm „Al filo de lo imposible“ Amerikanerin Elizabeth Hawley als die Meter Höhe, verschlechterte sich der Ge-
(„Am Rand des Unmöglichen“) drehte. verlässlichsten überhaupt gelten. sundheitszustand Takeuchis innerhalb we-
Immerhin: Pasabán hat den K2 überlebt. Demnach ist Edurne Pasabán die einzi- niger Stunden dramatisch.
Selbstverständlich ist das nicht. Statistisch ge noch lebende von sechs Frauen, die den Der versierte Bergsteiger, der bereits sie-
betrachtet fordert dort etwa jede vierte Be- Gipfel des K2 bislang erklommen haben. ben Achttausender bestiegen hatte und der
steigung einen Toten (siehe Grafik). Der Drei von ihnen starben bei dem berüch- mit Kaltenbrunner und Dujmovits dreiein-
K2, im nördlichsten Winkel Pakistans ge- tigten Abstieg, der auch Pasabán beinahe halb Wochen zuvor bereits auf dem 8027
legen, gilt – neben der wegen ihrer Lawi- zum Verhängnis geworden wäre, Mauduit Meter hohen Shisha Pangma gestanden
nen und herabstürzenden Eisbrocken ge- kam am Dhaulagiri ums Leben, die K2- war, litt trotz guter Adaption an die sauer-
fürchteten 8091 Meter hohen Annapurna – Erstbesteigerin Wanda Rutkiewicz am stoffarme Luft an einem Hirnödem – dem
als der grausamste und einschüchterndste Kangchendzönga. Auch dieser Riese gilt schlimmeren Symptom der Höhenkrank-
Achttausender. als Schreckensberg – nur eine Frau über- heit, das in mehr als 40 Prozent der Fälle
Mag der Mount Everest mit 8848 Me- haupt stand bislang auf dem Gipfel. tödlich endet.
tern der höchste Berg sein, für die Hoch- Ausgerechnet den Kangchendzönga hat Die examinierte Krankenschwester be-
leistungskletterer ist er angesichts von bis- Gerlinde Kaltenbrunner nun im Visier, hielt die Nerven. Während es draußen
lang 2557 Besteigungen keine bedeutende wenn sie am 3. April zu ihrer nächsten Ex- stürmte, spritzte Kaltenbrunner im Zelt
Herausforderung mehr. Gelegentlich geht pedition nach Nepal aufbricht. Danach will dem blutspuckenden und unter heftigsten
es dort in eisiger Höhe schon zu wie auf sich die Österreicherin bis Ende Mai auf- Kopfschmerzen stöhnenden Takeuchi das
dem Rummel – allein am 22. Mai 2003 machen in Richtung Lhotse. Notfallmittel Dexamethason, ein starkes
drängelten sich 118 dickvermummte Ge- Anders als Pasabán, die bei ihren letz- Kortisonpräparat, und rettete ihm damit
stalten auf dem Dach der Welt, mehrere ten fünf Touren mit großem logistischem das Leben. Nach durchwachter Nacht ge-
Dutzend weitere Kletterer hingen an einer Aufwand operierte, weil sie sich von Ka- leiteten Kaltenbrunner und Dujmovits, den
Engstelle vor der Spitze im Stau fest und meraleuten begleiten ließ, gilt Kalten- höchsten Gipfel der Erde fast greifbar vor
mussten auf das Gipfelglück verzichten. brunner als Puristin des Extrembergstei- sich, Takeuchi zurück in ein vorgeschobe-
Dagegen entpuppt sich der K2 als Mon- gens. Sie klettert in kleinsten Gruppen im nes Basislager auf 6300 Meter Höhe.
strum. Dokumentiert sind bislang 249 Be- klassischen Alpinstil, sie verzichtet auf Von dort informierte Kaltenbrunner per
steigungen, und wer einmal oben war, Sauerstoffflaschen und auf Fixseile, und Internet auch ihre Sponsoren über die
kehrt so gut wie niemals auf den Gipfel alles, was sie braucht, trägt sie auf dem dramatischen Ereignisse am Nordgrat des
zurück. Während mehrfache Begehungen Rücken. Mount Everest. Doch nicht alle schienen
des Mount Everest nur noch Freaks inter- Anders auch als Pasabán, die vom Fern- den Ernst der Lage begriffen zu haben.
essieren – ein Sherpa etwa bewältigte die- sehen mit 450 Euro pro Expeditionstag Es sei ja erfreulich, dass es Takeuchi wie-
se Tortur bereits 15-mal –, wagten sich erst honoriert wird und die sich auch um meh- der besser gehe, hieß es in der Antwort
drei Extrembergsteiger überhaupt ein rere zehntausend Dollar teure Gebühren der Bank aus Oberösterreich. Dann ver-
zweites Mal auf den K2. keine Gedanken mehr machen muss, weil riet die Marketingabteilung, was ihr wirk-
Für Frauen scheint auf dem K2 gar ein der Sender alles zahlt, ist Kaltenbrunner lich wichtig war: Ob Kaltenbrunner bitte
regelrechter Fluch zu lasten – das jedenfalls auf die finanzielle Unterstützung kleinerer jetzt schon durchgeben könne, wann sie
lassen die Statistiken des Lörracher Hima- Geldgeber angewiesen. Zuweilen muss es erneut mit dem Mount Everest aufneh-
laja-Kenners Eberhard Jurgalski vermuten, die Österreicherin erkennen, dass sie me. Michael Wulzinger

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 101
Prisma

HOCHSCHULEN

„Uni-Präsidenten mit
mäßigem Erfolg“
Ulrich Teichler, 63, Professor für
Berufs- und Hochschulforschung an
der Universität Kassel, über neue

GARY S. SETTLES / PENN STATE UNIVERSITY


Studiengänge, in denen Studenten
zu Wissenschaftsmanagern ausge-
bildet werden

SPIEGEL: Warum braucht das Land spe-


ziell ausgebildete Hochschulmanager?
Bislang ging es doch auch ohne.
Teichler: Für viele Berufsbilder im Um-
feld der Universitäten gibt es heute kei-
ne passgenaue, geregelte Ausbildung: Stoßwellen nach Revolverschuss
Die Leute in der Studienberatung zum
Beispiel rutschten oft irgendwie in ihren PHYSIK
Job hinein. Und als Universitätspräsi-
dent verschiebt man zwar Millionenbe-
träge, muss sich aber das notwendige
betriebswirtschaftliche Know-how selbst
Das neue Bild der Stoßwellen
aneignen – oft mit mäßigem Erfolg.
SPIEGEL: Nun kann ich also auf Dekan
studieren?
F ühlen kann sie jeder – doch im De-
tail anschauen konnte sie bisher
kaum jemand. Eine neue Visualisie-
gerade abgefeuerten Revolverkugel zum
Beispiel helfen Forensikern, die Über-
tragung von Schmauchspuren auf die
Teichler: Nicht direkt. Um Dekan oder rungsmethode, entwickelt an der Penn- Hand des Schützen besser zu verstehen
Rektor zu werden, müssen Sie auch in sylvania State University, zeigt jetzt in – was zur Aufklärung von Verbrechen
Zukunft natür- nie dagewesener Genauigkeit die noch dienen kann. Stoßwellenfotos von Ex-
lich ein Fachstu- immer weithin unerforschten Stoß- plosionen wiederum sollen dazu beitra-
dium absolviert wellen. Die mit Hochgeschwindigkeits- gen, terrorsicherere Gebäude oder Flug-
haben. Doch an videokameras gewonnenen Bilder einer zeuge zu bauen.
einigen ameri-
kanischen Uni-
versitäten zum
Beispiel arbei-
ten bereits die U M W E LT scher vermuten, dass die Eindringlinge
Hälfte der Uni- als Larven per Schiff aus Japan einge-
Mitarbeiter in
anderen Berei-
Invasion der schleppt wurden. Laborversuche sollen
nun klären, wie das Wachstum der In-
Pfannkuchen
HEIKO MEYER

chen als For- vasoren unter Kontrolle gebracht wer-


schung und den kann. Große Seescheidenkolonien

Teichler
Lehre. Für all
diese Arbeits-
felder gibt es
E ine Invasion von Seescheiden be-
droht die biologische Vielfalt an der
amerikanischen Ostküste. Die Mantel-
gibt es auch in Kanada, Neuseeland und
in den Niederlanden – dort beschränkt
sich der Bewuchs allerdings auf deutlich
nun auch bei uns Aufbau- und berufs- tierkolonie erstreckt sich bereits auf ei- kleinere Flächen.
begleitende Studiengänge, beispielswei- ner Fläche von über 175 Qua-
se in Speyer, Oldenburg, Bremen und dratkilometern – und ein
Kassel. Ende der Rekordvermehrung
SPIEGEL: Sind studierte Wissenschafts- ist nicht in Sicht. Stoppen
manager denn an den Universitäten lässt sich die Ausbreitung der
gern gesehen? Seescheidengattung „Didem-
Teichler: Es gibt auch Vorbehalte. Einige num“ nicht mehr – allenfalls
Forscher empfinden betriebswirtschaft- kontrollieren. Die Meerestie-
liche Vorgaben als fachfremd und re, die sich zu Kolonien zu-
fühlen sich gegängelt – teilweise zu sammenschließen und ausse-
Recht. Denn manche Hochschulmana- hen wie Pfannkuchenteig,
ger schießen über das Ziel hinaus und wachsen schneller als alle bis-
sehen nicht, dass Universitäten eine ei- her bekannten Seescheiden-
gene Kultur haben. In dieser Industrie arten. Sie überwuchern alles
wird ein ganz besonderes Produkt her- – Steine, Seegraswiesen, Mu-
gestellt: Wissen. Und wenn ihnen etwas scheln. Da die wirbellosen
nicht vermittelbar ist, entwickeln Wis- Tiere keine natürlichen Fein-
senschaftler erstaunliche Fähigkeiten de haben, breiten sie sich ex-
beim Unterlaufen von Regeln. plosionsartig aus. Die For- Seescheiden der Gattung „Didemnum“
102 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Wissenschaft · Technik
MEDIZIN fort der ganze Saal.“
Dass er mit seiner Weis-
Strapazierbarer heit offenbar unrecht
hatte und Wertpapier-
Zahnersatz händler keineswegs
blindlings dem Verhal-

Z ahnprothesen aus Metall sind sehr


langlebig, allerdings auch spröde –
Keramikkronen wiederum gelten als be-
ten anderer Investoren
folgen, zeigt jetzt eine
Studie deutsch-engli-
sonders verträglich, haben aber eine scher Forscher, die
viel geringere Lebensdauer. Ein Kaufentscheidungen
deutsch-polnisches Wissenschaftlerteam von Börsianern unter-
hat jetzt einen Zahnersatz entwickelt, sucht haben. Die über
der die Vorteile beider Materialien ver- 6400 Teilnehmer ihres
einen soll: Der Wunderstoff ist angeb- Online-Experiments er-

DAVID KARP / AP
lich haltbarer, rissfester und auch noch hielten Informationen
verträglicher als herkömmliche Prothe- über den wahrschein-
sen. Der neue Verbundwerkstoff besteht lichen Erfolg einer In-
aus einer Keramik, die dem menschli- Börsenhändler (an der Wall Street in New York) vestition sowie Einblick
chen Zahnschmelz ähnelt, sowie feinen in die Entscheidungen
Titan-, Gold- und Silberstäuben. SOZIOLOGIE ihrer Mitstreiter. Trotz dieser Kenntnis-
Unter hohem Druck und Temperaturen se ließen sich die Akteure bei der Anla-
von bis zu 900 Grad Celsius verbinden
sich die einzelnen Bestandteile; die
Spekulanten ohne geentscheidung vor allem von ihren ei-
genen Informationen leiten und orien-
Stäube bilden dann ein metallisches
Netzwerk, das die Keramikpartikel um-
Herdentrieb tierten sich weniger stark am Verhalten
ihrer Mitstreiter, als man bei einem aus-
gibt und so die Festigkeit des Werkstoffs
erhöht. Der zum Patent angemeldete
Zahnersatz ist wegen seiner hohen
A n der Börse, so lehrte einst der un-
garische Börsenexperte André
Kostolany, gehe es zu wie im Theater:
geprägten Herdentrieb erwarten sollte.
Viele der Händler entschieden sich so-
gar bewusst dagegen, einem Trend zu
Bruchsicherheit auch als Knochen- „Einer gähnt, und in kürzester Zeit folgen – und trugen so zur Stabilisie-
implantat denkbar. gähnt jeder. Einer hustet – hustet so- rung der Kurse bei.

AU TOMOB I L E

Was ist ein


Winterreifen?
D ie Änderung der Straßenver-
kehrsordnung, nach der Auto-
fahrer künftig verpflichtet sind, bei
Schnee und Eis mit „geeigneter Be-
reifung“ zu fahren, ist in der Praxis
nicht leicht durchzusetzen. Denn
für die Verkehrspolizisten wird es
schwer sein, zweifelsfrei Sommer-
von Winterreifen zu unterscheiden.
So gibt es bis heute keine amtliche
Kennzeichnungspflicht. Das seit
DIRK BAUER / PHOTOPLEXUS

kurzem von den meisten Herstel-


lern freiwillig auf die Reifenflanke
geprägte Schneeflocken-Symbol
bürgt lediglich für bestimmte Min-
deststandards. Die lange übliche
„M+S“-Kennung für „Matsch und
Schnee“ ist an keinerlei technische Winterlicher Straßenverkehr
Bedingungen geknüpft. Die Poli-
zeibehörden müssen sich daher auf die technische Kompetenz kommt stets auf den jeweiligen Straßenzustand an. Auch er-
ihrer Beamten verlassen. Im Einzelfall, gibt etwa eine Spre- lischt beim Fahren mit Sommerreifen im Winter – entgegen der
cherin des Bayerischen Innenministeriums zu, sei der Befund Behauptung mancher Reifenverkäufer – nicht grundsätzlich
über die Wintertauglichkeit eines Reifens „Ermessenssache“. der Versicherungsschutz. Wohl aber drohen beim Fahren mit
Erschwerend kommt hinzu, dass auch künftig keine nur von der Sommerreifen auf Schnee oder Eis vom Winter 2006/2007 an
Jahreszeit abhängende generelle Winterreifenpflicht besteht; es Bußgelder von mindestens 20 Euro.

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 103
Titel

Spähroboter im Götterberg
Nach der Entdeckung von Hohlräumen und Geheimkammern in Pyramiden starten Archäologen eine
neue Suche nach verborgenen Mumien. Liegt Pharao Snofru, der größte Baumeister aller Zeiten,
immer noch in seinem Sarg? Forschern gilt er als Schöpfer einer monumentalen Sternenarchitektur.

M
it Augen aus Quarzit blickt der gezeigt. Einige waren bisher selbst Exper- Kaminkehrer.“ Nun wird aufgeräumt. Im-
Leichnam aus der Glasvitrine. Es ten unbekannt. mer wieder tauchen in den vollgestellten
ist ein junger Hohepriester. „Vor- „Die Balsamierten waren im Keller ver- Räumen verloren geglaubte Schätze der
sicht!“, ruft ein Handwerker. Gleich dane- schollen“, erklärt die Direktorin Wafaa el- Archäologie auf.
ben, im Schaukasten von Ramses V., wer- Saddik und weist den Weg in das Unterge- Seitdem die Amerikaner von dem Un-
den Leisten angehämmert. Der Pharao hat schoss. 3000 Quadratmeter ist das schumm- ternehmen Wind gekriegt haben, drängeln
Windpocken im Gesicht. rige Gewölbe groß. Überall stapeln sich die Fernsehanstalten mit Anfragen. Als
Das Treiben im ersten Stock des Ägyp- Kisten. In langen Regalen lagern unter ver- erste erhielt National Geographic kurz
tischen Museums von Kairo dient einer staubten Folien zerbrochene Statuen und be- vor Weihnachten eine Drehgenehmigung.
kleinen Sensation. Mitte Januar wird das malte Särge. In den Fluren liegen bräunliche CNN will ebenfalls in die Katakombe, auch
berühmte Haus am Tahrir-Platz, in dem Schädel. Anfangs gab es nicht mal Licht. der WDR. Dem SPIEGEL liegen erste Bil-
auch die Schätze des Tutanchamun liegen, „Hundert Jahre lang wurden hier plan- der schon jetzt vor (siehe Seite 107).
einen neuen Mumiensaal eröffnen. Elf los Funde eingelagert, 80 000 Objekte sind Der Andrang verwundert nicht: Ägyp-
Leichname, Hohepriester, Königinnen und ohne Inventarnummern“, gibt Wafaa zu, ten, die Welt der Hieroglyphen, fasziniert
Prinzen aus der 19. bis 22. Dynastie werden „unsere Restauratoren sahen aus wie die Millionen. Allem Anfang wohnt ein Zau-
104 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Pyramidenfeld von Dahschur
„Mit Snofru beginnt der Gigantismus“

ber inne – und das Reich der Pharaonen


war in vielem Pionier.
Mutterland der Magie, Erfinder des
Hochbaus und der Unfallchirurgie, Schöp-
fer der ersten Verwaltung – und Vorreiter
auch in Sachen Frömmigkeit. Abertausen-
de glatzköpfige Priester, die sich aus Grün-
den der Reinheit alle Körperhaare scho-
ren, taten einst in den Tempeln Altägyp-
tens Dienst. Besonders verehrt wurde die
Göttin Maat, Verkörperung von Ordnung,
Wahrheit und Gerechtigkeit.
3000 Jahre lang schrieb der erste Staat
der Welt Geschichte – von der Steinzeit
bis in die römische Epoche (siehe Chronik
Seite 112). Für die Nachfahren blieb es ein
Traumreich, Inbegriff der Weisheit und
Esoterik und mit Wurzeln im fernen An-
beginn der menschlichen Kultur.
Nach Ewigkeit sehnte sich dieses Volk –
und sah in Sonne und Sternen Symbole der
Unvergänglichkeit. Erfrischend lebendig star-
ren uns aus dem toten Antlitz der mit Natron
und Zedernöl konservierten Mumien die
versunkenen Jahrtausende an. Die Cheops-
pyramide (Höhe: 146 Meter) ist das einzige
antike Weltwunder, das heute noch steht.
Weit weniger bekannt ist dagegen, dass
auch das Reich der „vollkommenen Gottes-
nähe“ (der Ägyptologe Jan Assmann) an
Chaos und Verfall litt. Die Pyramiden des
Alten Reichs sind zugleich Mahnmale
menschlicher Gier und Habsucht.
Bereits um 2100 v. Chr. leistete sich das
Nil-Reich eine schlimme Regierungskrise.
Die Forscher gehen davon aus, dass schon
damals Diebe mit Feuer und Brechstangen
in die Pyramiden eindrangen – also in die
königlichen Friedhöfe, die den Pharaonen
als Startrampen ins Reich der Sterne dienen
ARCHIVO WHITE STAR

sollten. Zielgenau überwanden sie die


Blockaden und Sperranlagen. Offenbar wa-
ren Totenpriester, die die alten Baupläne
kannten, an dem Frevel beteiligt.
BEN BEHNKE (L.); DPA (R.)

Snofru-Statue, Hohlraum-Erkundung in der Cheopspyramide (2002): Hightech-Maschinen entfachen ein neues Schatzfieber

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 105
BEN BEHNKE
Ägyptisches Museum in Kairo: „Hundert Jahre lang wurden im Keller planlos Funde eingelagert“

Allein Tutanchamun entging den Ban- Rover“) durch die Luftschächte der Cheops- Die Befunde, auf dem Ägyptologen-
diten. 1922 fand der Brite Howard Carter pyramide. Nun kündigt Hawass an: „Im kongress in Grenoble präsentiert, haben
den Regenten wohlbehalten in seiner März 2006 unternehmen wir einen erneu- für Verwirrung gesorgt – und das Schatz-
Gruft. Er war überreich bestattet mit ten Vorstoß, diesmal mit einem japanischen fieber mächtig angefacht. „Die Hohlräu-
Schmuck, Ringen, Pektoralen, Streitwagen, Roboter.“ me sind wirklich erstaunlich“, gesteht der
Möbeln und einem Dolch aus meteoriti- Viele Archäologen empfanden schon Wiener Ägyptologe Peter Jánosi.
schem Eisen. Die Mumie lag im innersten seine erste live im Fernsehen ausgestrahl- In einem Buch, das bislang nur auf Fran-
von vier ineinandergestapelten Särgen, 110 te Roboter-Show vor drei Jahren als Bu- zösisch vorliegt, entwickelt Entdecker Dor-
Kilogramm schwer und aus reinem Gold. denzauber. Doch der Mann gilt bei aller mion eine spannende Theorie. Er vermutet,
Es ist dieser eine Herrscher, der eine Ah- Kritik als hervorragender Kenner der Py- dass Cheops in einer bislang unbekannten
nung vom dunklen Zauber der Pharaonen ramidenfelder. Seit über 20 Jahren leitet „vierten Kammer“ seiner Pyramide be-
vermittelt, ihrem symbolgeladenen Geprän- er die Untersuchungen in Giseh. Und er ist stattet wurde – und dort heute noch liegt*.
ge, in dem sich Tiergötzentum und stumme Seine Hypothese: In dem größten Grab-
Würde mischten. Smaragde und Lapislazuli mal der Menschheit gab es einen Trick-
nahm der Lächler mit ins Jenseits (der neu- Als Napoleon in die Mechanismus aus drehbaren Statuen, Fall-
esten Computertomogramm-Analysen zu- Cheopspyramide klet- türen und Blockierquadern, die an Seilzü-
folge nicht ermordet wurde, sondern mit gen hingen (siehe Grafik Seite 108).
kaum 19 Jahren elendig an einer unbekann- terte, soll ihm ein Andere Forscher dämpfen die Erwar-
ten Krankheit starb). Volle acht Säle füllen Dämon begegnet sein. tungen. Sie glauben nicht an den Traum
seine Schätze im Museum von Kairo. von einem zweiten wohlbehaltenen Pha-
Aber ist Tutanchamun wirklich der ein- überzeugt, dass dort noch viele unent- rao, der mit zentnerweise Gold am Leib
zige Pharao, der unberührt und original- deckte Geheimnisse zu finden sind. noch in irgendeinem Versteck modert. Zu
verpackt die Zeiten überstand? Liegt im Zudem liegen seit kurzem weitere span- lange sei nach einem solchen Phantom ge-
Muff der Götterberge, die die Griechen re- nende Nachrichten aus dem Innern der gi- sucht worden.
spektlos mit einem Weizenkuchengericht gantischen Felsprismen vor. Auch der fran- Bereits der arabische Kalif Mamun hielt
(„pyramis“) verglichen, etwa noch ein wei- zösische Architekt Gilles Dormion ist, mit die Pyramiden im 9. Jahrhundert für Tre-
terer Herrscher verborgen? Endoskopen und Geo-Radar ausgerüstet, sore, gefüllt mit märchenhaften Schätzen.
Das ist heute eine der spannendsten Fra- auf seltsame Hohlräume gestoßen: Mit plumper Gewalt ließ er einen Such-
gen der Archäologie – und es ist der „Obers- • In der Cheopspyramide verläuft unter tunnel in die „ungeheuren Kristalle“ (He-
te Rat der Altertümer“ von Ägypten, der dem Fußboden der „Königinnenkam- gel) schlagen.
diesen Verdacht nährt. Deren Chef, Zahi mer“ ein Geheimgang. Im 18. Jahrhundert kamen dann die Eu-
Hawass, der auf der feinen Nil-Insel Za- • Im Grabmal des Pharaos Snofru, des Be- ropäer. „Soldaten, 40 Jahrhunderte blicken
malek residiert, hält das Gerücht schon aus gründers der 4. Dynastie, liegt über dem auf euch herab“, rief Napoleon seinen Sol-
touristischen Gründen am Köcheln. Eingangskorridor ein Flur, der in zwei
Bereits im Jahr 2002 schickte er ein fern- verborgene Säle führt (siehe Grafik Sei- * Gilles Dormion: „La Chambre de Chéops“. Verlag
gesteuertes Forschungsfahrzeug („Pyramid te 110). Fayard, Paris; 312 Seiten; 25 Euro.

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Titel

daten zu. Als er in die Cheopspyramide will den Erbauer der ersten Pyramiden fin-
kletterte, soll ihm ein Dämon begegnet sein. den. Im Frühjahr wird der Antikenchef ein
Mehr war auch nicht drin. Die Pioniere nah- Buch veröffentlichen, in dem er seine ver-
men zwar sogar Sprengstoff zur Hilfe. Doch blüffende Vermutung untermauert.
was sie fanden, enttäuschte alle: leere Kam- Demnach liegt der Schöpfer der Anlage
mern, null Mumien, kein Gold. noch immer in seinem steinernen Grab.
Wo waren nur die Pharaonen geblieben? „Snofru war der größte aller Pharaonen“,
Ihre Bestattungsräume sahen so kahl und sagt Hawass und macht eine große Geste an
trostlos aus, dass einige stutzig wurden. seinem noch größeren Schreibtisch. „Die-
Waren die Felsprismen, diese Wunderwer- ser König hat alle Grabräuber getäuscht.“
ke an architektonischer Präzision, womög- Mit seiner kühnen Theorie rückte Ägyp-
lich nur Scheingräber? Dienten sie gar als tens Chef-Ausgräber eine Gestalt ins Blick-
„Wasserspeicher“, „Windbrecher“ – oder feld, die in der Tat zu den erstaunlichsten
wie ganz Verirrte meinten, als Landemar- Bemalte Holzsärge des Altertums gehört. Es war Snofru, der
ken für heranfliegende Ufos? Vater von Cheops, der die erste echte geo-
Oder hatten die Grabungspioniere metrische Pyramide errichtete. Rund zehn
schlicht etwas übersehen? Irgendwelche Millionen Tonnen Stein ließ der Regent
Zickzackgänge, zugemauerte Verstecke, aufstapeln, was ihm den Rang „größter
Falltüren? Bauherr aller Zeiten“ einbrachte. „Mit
Wie viele Tricks – das ist die entschei- Snofru verbindet sich eine schwer ver-
dende Frage, die nun wieder hochkocht – stehbare Leistungseruption“, konstatiert
wandten die Könige Altägyptens tatsäch- auch der Berliner Gelehrte Rolf Krauss.
lich auf, um ihre kostbaren Ruhestätten ge- Gleichwohl ist der Ruhm jenes Mannes,
gen Plünderer zu sichern? Wie viele falsche der sich selbst „Herr der Weltordnung“
Fährten legten sie? nannte, fast völlig verblasst. Eine ungnädi-
Platz für Geheimwege böten die ins ge Überlieferungsgeschichte verwischte
Monströse aufgestapelten Felsmassen ge- seine Lebensspur. Snofru? Schon der
nug. Viele innenarchitektonische Details in Name klingt albern.
den großen Grabmalen der 4. Dynastie sind Stets stand der König im Schatten seines
bis heute ungeklärt. Es gibt dort Korridore, berühmten Sohns Cheops und dessen
die im Nichts enden, merkwürdige Ni- Nachkommen Chephren und Mykerinos,
schen, doppelte Grabkammern sowie Aus- die ihre himmelstürmenden Grabmale in
buchtungen, deren Sinn keiner versteht. Giseh errichteten. Millionen Touristen pil-
„Vor allem in der Pyramide des Pharao gern zu den Monumenten im Wüstenstaub
ARA AYER / GETTY IMAGES

Chephren wurden immer wieder verbor- am Stadtrand von Kairo.


gene Räume vermutet“, erklärt Jánosi. Das Snofrus Pyramidenstadt, 30 Kilometer
Grabmal ist zwar 143 Meter hoch, innen weiter südlich in Dahschur, ist dagegen
aber so schlicht wie eine Bahnhofsunter- kaum bekannt. Bis Mitte der neunziger
führung gestaltet. „Es sieht fast so aus, als Mumie eines Hohepriesters (21. Dynastie) Jahre war hier militärisches Sperrgebiet.
wäre das eigentliche Gangsystem über- Betreten verboten.
haupt noch nicht entdeckt worden“, meint Gleich zwei riesige spitze Totengebirge
der Forscher. ließ Snofru dort auftürmen: Die mächtige
Ein direkter Einblick in die massiven „Rote Pyramide“ ist 109 Meter hoch; die
Monumente ist versperrt. Zudem beschäf- „Knickpyramide“, auffällig durch ihr ei-
tigen sich weltweit kaum 50 Experten mit gentümliches, gebrochenes Design, ragt
der Architektur dieser Totenstätten – viel- 105 Meter empor.
leicht auch deshalb, weil es in ihrem Inne- Sogar Gestalt und Aussehen des großen
ren kaum Sauerstoff gibt. Kerzen brennen Steinestaplers entzog sich lange der Kennt-
hier mit niedrigerer Flamme. nis der Forscher. Erst im Jahr 1994 ent-
Doch nun weht frischer Wind. Hightech- deckte der Nestor der deutschen Archäo-
Schnüffler ermöglichen eine völlig neue logie, Rainer Stadelmann, 72, durch Zufall
Form der Mumienfahndung. Geo-Radar im Antikenmagazin von Giseh eine stark
etwa kann die Dichte von Steinpackungen Vergoldete Mumienbüste zersplitterte und verdreckte Kalksteinsta-
elektromagnetisch vermessen. Und fernge- tue und identifizierte sie als Snofrus Abbild
steuerte Roboterautos sind in der Lage, ent- – das einzige, das es gibt. Es zeigt einen
legene Stellen auszukundschaften. Mann mit breiten Lippen und leichten Se-
Schon die ersten Vorstöße des Fran- gelohren.
zosen Dormion zeigen, welche Überra- Immerhin sind auch einige Möbel aus
schungen die Elektrospione zutage fördern dem Umfeld des Regenten erhalten. Es war
können. Ein kaum fingerdickes Endoskop eine Sensation, als im Jahr 1925 Ausgräber
hat er in der Pyramide von Medum durch der Harvard University auf das 27 Meter
ein Bohrloch vorgeschoben. Dabei er- tiefe Schachtgrab seiner Gattin Hetepheres
spähte er einen regelmäßig geformten stießen. Ein prachtvoller Baldachin lag dar-
Gang: Er ist 1,4 Meter hoch und führt zu in, samt Truhe für die Stoffbehänge, ferner
zwei verborgenen Räumen mit Krag- Armreifen, ein Bett, eine Sänfte, alles
gewölben. goldüberzogen.
Und genau dort, in Medum, am Rand Schädelsammlung In dem gelben Kanopenkasten fanden
der Oase Faijum, vermutet der bärbeißige Kellerfunde aus dem Ägyptischen Museum sich sogar die eingetrockneten Organe der
Hawass nun den ganz großen Knaller: Er Anfangs gab es nicht mal Licht Königin. Merkwürdig nur: Das Grab war
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 107
Höhe 137m
(ursprünglich 146,6m)

ZD F/ D PA
zwar versiegelt. Als die Ausgräber aber
den Deckel des schweren Alabastersargs
lüfteten, war der – leer.
Nun kommt langsam Licht in die Sache.
Der Urheber und Schöpfer der altägypti-
schen Begräbnisarchitektur gewinnt an Roboteraufnahme
Kontur. Gleich zwei Teams hat das Deut- eines Luftschachts
sche Archäologische Institut in Berlin
ausgesandt, um jene lang versperrte und Luftschacht
von Staub bedeckte Nekropole in Dah- ca. 20 x 20 cm Durchmesser
schur freizulegen, wo unter dem Einsatz
schweißnasser Leiber von 15 000 Hand- Königs-
werkern einst das Zeitalter der echten Py- kammer
ramiden begann.
Jeden Morgen stapfen bis zu 200 Gra-
bungshelfer die kahlen Wüstenhänge em-
por. Sie tragen Gummieimer und Hacken.
Oben geht ein ständiger Wind. Staub wir-
belt, als wäre ein Sandstrahlgebläse einge- Große Galerie
schaltet.
Mörtelbottiche, Beile, Steinhämmer und Königinnen-
kammer aufsteigender
Bohrer haben die Archäologen schon ent- Gang
deckt. In einem Prinzengrab lagen 20
Skelette. Erst Mitte Dezember kam eine Ausschnitt Eingang
Arbeitersiedlung mit zerschlagenen Bier-
krügen zum Vorschein – flüssige Kraft- Versorgungs-
nahrung für die Malocher. Auch Transport- schacht
rampen konnten geortet werden (siehe
Grafik Seite 114).
absteigender
Stadelmann arbeitet zurzeit am „Tal- Korridor
tempel“. Tonnenschwere Quader liegen in
der Gegend herum. Hier vollzog sich wahr- unterirdischer
Grabraum
scheinlich einst die Verwandlung des Kö-
nigs zur Unsterblichkeit. Kantenlänge 230m
Kultpriester führten in dem Heiligtum
das „Mundöffnungsritual“ durch, die
magische Wiedererweckung der Mumie. schoben. Doch es nützte nichts:
Dabei schoben sie ihr ein grobes, haken- „Der Start ins Pyramidenzeitalter begann
artiges Werkzeug in den Schlund, vielleicht mit einem Fehlstart.“
um die Luftwege für den ewigen Atem Mit all diesen neuen Erkenntnissen fällt weiß wie. In Snofrus Regierungszeit fällt
zu öffnen. endlich Licht auf einen Herrscher, der aus der Guss der ersten Kupferstatue und die
Am verblüffendsten ist die Erforschung einer fremden historischen Ferne herüber- Erfindung der Harfe. Der 365-Tage-Kalen-
der Knickpyramide. Schon von außen leuchtet. Fast 50 Jahre lang saß Pharao der war auch schon erfunden.
wirkt das Ungetüm mit seinen gebroche- Das Volk denkt magisch, es ist umringt
nen und von Stein-Plünderern abgenagten von Wahrsagern und Priestermagiern.
Kanten düster und ungemütlich. Als der junge Prinz Wem das Stirnbein bricht, dem legen
Stadelmann öffnet die Einstiegsluke in heiratete, beging die Ärzte eine Straußeneischale in den
das Grabmal. Über 50 Meter weit zieht Wundverband. Die Bauern lassen sich
sich ein enger Korridor schräg in die Tiefe. er aus heutiger Sicht mit Hacken beerdigen. Sie glauben, auch
Beißender Kotgeruch liegt in der Luft. Fle- Blutschande. im Jenseits die Felder beackern zu
dermäuse huschen umher. müssen.
Unten, tief im Inneren, steht im Zwie- Snofru auf dem Thron. Kraftvoll betritt er Wohl im Alter zwischen 16 und 18 hei-
licht einer schwachen Lampe sein Mitar- zu Beginn der 4. Dynastie die Bühne der ratet der Kronprinz. Aus heutiger Sicht be-
beiter Michael Haase. Er zeigt auf Risse Weltgeschichte – und tritt einen schöpferi- geht er dabei Blutschande. „Sicherlich war
und Klüfte. „Das ganze Gemäuer steht un- schen Taumel los. es eine Schwester oder Halbschwester“,
ter Spannung“, sagt der Experte. Einige Etwa 2700 v. Chr. wird der Prinz gebo- meint Stadelmann, „die Königssippe woll-
Felsquader hängen richtig durch. Der ren, wahrscheinlich steht seine Wiege in te ihr Blut reinhalten.“ Namentlich ist
Druck hat sie verformt. Memphis. Dort befindet sich der Zentral- diese erste Gattin nicht bekannt. Sie
Nach jahrelanger Inspektion haben die palast des Pharaos. Nichten, Neffen, Tan- schenkt ihm mindestens fünf Söhne und
deutschen Archäologen nun eine verblüf- ten, der ganze verschwisterte Hofstaat, le- zwei Töchter.
fende Schadensanalyse vorgelegt. Sie kön- ben dort. Umsorgt werden sie von Friseu- Zu tun hat das junge Paar nichts. Es
nen die einzelnen Kapitel der Bauge- ren und Nagelpflegern. Köche drehen steckt in der Warteschleife. Die Thronan-
schichte genau nachzeichnen. Die erste Spanferkel am Feuer und kredenzen wärter im alten Ägypten übernahmen vor
streng und abstrakt geplante Pyramide gemästete Antilopen in Feigensirup. ihrem Amtsantritt keine öffentlichen Äm-
Ägyptens mündete demnach in einer Ka- Schreiende Babys wurden damals mit einer ter. Sie hatten einen eigenen Hofstaat und
tastrophe. opiumhaltigen Tinktur eingelullt. lebten wie Drohnen.
„Zuerst sackten die Fundamente weg“, Schon in der 4. Dynastie konnten die Ungefähr mit 30 Jahren kommt Snofru
erklärt Haase. Verzweifelt hätten die Bau- Steinmetze Ägyptens härteste Gesteine endlich an die Macht. In einer feierlichen
meister daraufhin Rettungsversuche ange- wie Diorit oder Granit glätten. Niemand Zeremonie wird ihm die weiße, kegelarti-
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Geheimgruft fürs Jenseits?
bekanntes Gangsystem der Cheops-Pyramide neu entdeckte oder vermutete Hohlräume Der wahre Kitt in diesem vorzeitlichen
Gemeinwesen aber sind die Blutsbande der
königlichen Familie. Durch inzestuöse
Gepflogenheiten ist sie riesenhaft aufge-
bläht und besetzt alle wichtigen Ämter im
Land. Die besten Jobs übernehmen die
Onkel, Brüder, Halbbrüder und Kinder des
Entlastungs- Pharaos.
kammer Seinem Sohn Rahotep schanzt Snofru
Nische Königinnenkammer
gleich mehrere Posten zu. Der Junior steigt
Schacht zum General und Hohepriester in Helio-
„vierte Kammer“ polis auf, er wird „Erster der Großen der
Halle“ und „Vorsteher der Lastträger“. Als
„Magazinältester“ leitet er auch Papas
ursprüngliche großen Nahrungsspeicher. Eine Kalkstein-
glatte Außen- figur zeigt den Mann mit Oberlippenbart
verkleidung Geheimgang und Augen aus weißem Quarz und Berg-
kristall.

ARCHIV O WHIT E STAR


Königinnenkammer mit Das einfache Volk bekommt die edle
Seilzüge Nische und Schacht Herrschersippe kaum zu sehen. Umgeben
Blockiersteine von goldenen Stühlen und Duftlampen lebt
sie abgeschirmt im Palast von Memphis.
Der französische Architekt Gilles Viele Prinzen tragen den Titel „Hüter des
Dormion stützt seine Theorie einer Geheimnisses“.
zu einem verborgenen „vierten Kammer“ auf Der Pharao ist in diesem System der
verborgenen Georadar-Messungen sowie auf kleine
Ausgang hellste Punkt. Schon seine Titulatur wirkt
Vertiefungen und Bohrspuren in den furchterregend. Sie besteht aus fünf Na-
Steinblöcken, die auf eine alte Me- men, eingemeißelt in eine riesige Kar-
chanik hinweisen. Demnach befand tusche.
sich unter der Königinnenkammer ein Ist es da zu viel verlangt, wenn Snofru
Geheimgang, der zum eigentlichen auch ein monumentales Grab verlangt? Als
Sargraum des Pharao führte. Über ein sicher gilt, dass der König sofort nach sei-
kompliziertes System von Seilzügen nem Regierungsantritt mit dem Bau des
wurde er von oben verschlossen.
Norden Mausoleums beginnt. Er wählt einen Platz
am Ostrand der Oase Faijum, 50 Kilometer
von Memphis entfernt.
ge Krone Oberägyptens und die rote Land, er lässt den Nil steigen. Denn er hat Geplant wird zunächst eine Pyramide
Prunktüte Unterägyptens aufs Haupt ge- beste Kontakte zum Himmel. mit acht Stufen. Das Design ist konserva-
setzt. Er trägt einen kurzen Rock, an dem Wie ein grüner Schlauch zieht sich das tiv und stammt von seinem Vorgänger Pha-
ein Löwenschwanz baumelt. Am Kinn Land fast 1000 Kilometer am Nil entlang. rao Djoser, der bereits 40 Jahre früher erst-
klebt der Brettbart. In den Händen hält er Jedes Jahr tritt der Strom über die Ufer mals solch einen getreppten Turm schuf.
Krummstab und Geißel. und bringt den fruchtbaren Schlamm. In Doch Snofru will höher hinaus.
Die Symbole sagen: Der Pharao ist stark dieser Flussoase wird der Nahrungsüber- Klotz für Klotz steigt die mächtige Zik-
wie ein Tier. Er ist der oberste Magier im schuss erwirtschaftet, der es später möglich kurat empor. Ihre Stufen sind leicht nach
macht, Bauern freizustellen und für den außen geneigt. Als die Maurer nach rund
Grabbau abzukommandieren. zehnjähriger Bauzeit die Kellen fallen las-
Doch das langgestreckte Staatsgebilde sen, ragt die Spitze 85 Meter empor. Was
droht ständig auseinanderzufallen. Nur mit für ein Götterberg! Sein Name: „Snofru
Blut und Schwert war um 3000 v. Chr. die ist dauerhaft“.
Vereinigung der verfeindeten Landesteile Heute steht in Medum nur noch eine
Ober- und Unterägypten gelungen. Der be- klägliche Ruine, die wie ein Turm aussieht.
siegte Norden fühlt sich weiter gedemütigt, Immer wieder haben sich hier im Alter-
die Wunden bluten noch. In der 3. Dynas- tum Steinräuber bedient und den Bau so
tie flackert der Streit, neuesten Erkennt- bis zur Unkenntlichkeit ausgeschlachtet.
nissen zufolge, kurz wieder auf. Die Auf- Einst aber ragte das Bauwerk im Zickzack
rechterhaltung eines funktionstüchtigen zum Firmament.
Zentralstaates blieb für die Pharaonen die „Mit Snofru beginnt der Gigantismus in
anstrengendste Aufgabe. der Architektur“, sagt Haase. Der Mann
Bis nach Nubien dringen Snofrus Bo- denkt in neuen Dimensionen. Und das
genschützen und Fußsoldaten vor, wo sie Reich hat die Produktivkraft, ihm zu fol-
7000 Gefangene und 200 000 Stück Vieh gen. Ein blindwütiger Sturmlauf im Mate-
WELTBILD / INTERFOTO

entführen. Beim Verwalten stützt sich der rial hebt an, der später, bei seinen Nach-
König auf ein Heer von Schreibern und folgern Cheops und Chephren, noch an
Beamten. Er teilt das Reich in 38 Gaue ein. Tempo zunimmt.
Gewirtschaftet wird zentral, wie in der Die Ewigkeit wollten die großen Könige
ehemaligen Sowjetunion. der 4. Dynastie abbilden – eine neue Ar-
chitektur der Sterne. Was ihren Händen
Goldsarg des Tutanchamun entfuhr, war erhaben und groß und doch
Lächler mit Krummstab und Geißel ohne Besinnung. Mit den Pharaonen wur-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 109
de das Ewige ein Nichts. Ihre Grabmale
verklären den Tod.
Gleichwohl markiert der Pyramidenbau
einen entscheidenden Fortschritt des Geis-
tes. Die Pharaonen der Frühzeit hatten sich
noch in großen unterirdischen Magazinen
bestatten lassen, vollgestopft mit Speisen
und Getränken. Es gab sogar Küchen. Sie
wollten bei Sokar wohnen, tief unter der
Erde, im Schattenreich.
Snofru dagegen strebte zum Licht. Die
Pyramide wurde zur Startrampe für die
„vertikale Entrückung des verstorbenen
Herrschers zum Himmel“ (Jánosi).
Die Priesterastronomen hatten dabei ein
klares Ziel vor Augen: Für sie waren die
polnahen Sterne am Nordhimmel, die nie-
mals untergehen, der Inbegriff ewiger Dau-
er. Die Ägypter nannten sie die „Nimmer-
müden“.
Aber auch der merkwürdig orange-
leuchtende Fixstern Aldebaran aus dem
Sternbild Stier taucht in den frühen Astro-
Texten auf. Er wird dort als Zeichen von
Untergang und Verjüngung gedeutet.
ARCHIVO WHITE STAR

Angesichts dieser gleißenden Astro-Ideo-


logie, die den König umgab, verblüfft es, mit
welcher Abgebrühtheit einige Untertanen
die Würde des Staatschefs missachteten.
Unbeeindruckt von den pompösen Entrü- Pyramidenstumpf von Medum: Ließ sich der Steinestapler Snofru hier heimlich bestatten?
ckungsszenarien der Pfaffen brachen sie mit
Brechstangen in die Königsnekropolen ein. Womöglich betrieben die Nil-Monar- gen. Ein Sarkophag war hier nie abgestellt.
„Schon während der Beerdigung wurde chen aber noch ganz andere Tricks, um Auch nur eine Finte?
manchmal Schmuck geklaut“, erzählt der Diebe zu täuschen. Vor allem Pharao Se- Die Untersuchungen des Franzosen
Berliner Ägyptologe Stephan Seidlmayer. chemchet, ein Herrscher der 3. Dynastie, Dormion haben solche Spekulationen kräf-
Tief saß der Schock, als in der 2. Dynastie, nährt diesen Verdacht. tig angefacht. Direkt über dem Eingangs-
während einer Phase politischer Unruhen, Anfang der fünfziger Jahre stießen korridor bohrte er ein Loch, steckte ein
Ganoven die Königsgräber der 1. Dynastie ägyptische Archäologen auf dessen un- Endoskop durch und blickte so in den ver-
aufknackten und leerräumten. vollendete Stufenpyramide. Der Eingang borgenen Gang, der zu zwei Kammern
Verhörprotokolle von überführten Die- war noch original vermauert. Aufgeregt führt. Soweit das winzige Kamera-Auge sie
ben liegen erst aus dem Neuen Reich vor. zerbrachen die Männer das Siegel und auszuleuchten vermochte, scheinen sie leer
In einem Polizeibericht aus der Zeit Ram- stiegen in einen 30 Meter tiefen Flur hin- zu sein.
ses’ IX. (um 1127 bis 1109 v. Chr.) beichtet ab. Auf dem Boden lagen verstreut 21 Nur zu gern würden die Archäologen
ein Übeltäter, wie er und seine Kumpel Armreifen, 388 goldene Perlen, 420 Fa- an dieser Stelle weitersuchen. Doch Ägyp-
mit „Kupferwerkzeugen“ ein Grabmal auf- yencekugeln und Reste eines vergoldeten tens allgewaltiger Grabungschef Hawass
schlugen. Zauberstabs. verweigert die Genehmigung. Der Mann
„Mit brennenden Fackeln stiegen wir Der – gutgetarnte – Sarkophagraum da- würde die Pyra-
hinab“, heißt es dort. Dann habe man die hinter war noch unberührt und verschlos- midenfelder wie
„ehrwürdige“ Mumie des Königs zerrupft: sen. Trotzdem fand sich dort nichts. Der seine „eigenen
„Wir rissen ihr Amulette und Schmuck- US-Forscher Robert Brier hat für den Jagdgründe“ be-
stücke vom Hals“ – und auch die schwere merkwürdigen Befund eine Erklärung: handeln, ärgert
Gesichtsmaske aus Gold. „Vielleicht war es eine Scheinanlage, um
Was für ein Frevel! Wie viel kriminelle Diebe vom wirklichen Grab des
Energie und seelische Verkommenheit, Pharaos abzulenken.“ Die Pyramide
aber auch wie viel Mut und Gier gehören Nun stellt sich heraus: Auch von Medum
dazu, in einem magischen Staatswesen, wo Snofrus Ingenieure sahen die Ge-
Plagegeister alle bösen Taten rächen, solch fahr. Sie ersannen für die Pyra-
ein Verbrechen auszuüben? Doch die mo- mide von Medum eine Art Pan- Endoskopaufnahme
derne Forschung lässt keinen Zweifel: zersperre. Den absteigenden erste Bauform
als Stufen-
eines verborgenen Gangs
Schufte gab es schon im Alten Reich genug. Korridor wollten sie komplett mit pyramide heutige Form zweite Bauform
Also tüftelten die Baumeister immer raf- Quadern vollstopfen, vergleich- (durch Steinraub Modernisierung
finiertere Sicherungssysteme aus. Sie bau- bar den Kugeln in der Lottoröh- deformiert) zu einer echten
ten Fallschächte und geheime Durch- re. Vor dem Grabraum legten sie Pyramide
schlupfe. Um ein Aufpickeln der Blockier- einen Gang mit großen Nischen verborgene Kammern
steine zu verhindern, wurden diese aus an. Offenbar sollten dort riesige und Gänge
härtestem Granit hergestellt. Im Nekropo- Blockiersteine geparkt werden. Grab- eg
lenbezirk patrouillierte Polizei. An den Nur merkwürdig: Auch in der sti
kammer Ein
Wänden der Grabkammern prangten vermeintlichen Sargkammer in
Flüche und Bannformeln. Medum hat keine Mumie gele-
110 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
le aus der 4. Dynastie wirft ungelöste Fra-
gen auf.
Und überhaupt: Dem Supermann Sno-
fru trauen einige Forscher alles zu. Erst
unter dem Spaten der deutschen Archäo-
logen wird nun deutlich, was für einen
Aufwand dieser Tycoon bei seiner Beerdi-
gung betrieb.
Denn die Stufenpyramide in Medum,
400 000 Kubikmeter Kalkstein, war nur der
Auftakt. Als seine Maurer mit dem Koloss
fertig waren, brütete der Gottessohn mit
dem Tuch auf dem Kopf längst über noch
weit kühneren Plänen.
Wohl im zwölften Jahr seiner Regent-
schaft, so die neue Erkenntnis, erfolgte
jener schwerverstehbare Entschluss des
Pharaos, der bis heute die Fachwelt quält:
Abrupt ließ er von seinem ersten Friedhof
ab und stürzte sich in ein neues Vorhaben.
Zuerst schickte er seine Geologen und

GILLES DORMION / GAMMA / STUDIO X


Vermesser mit Strick und Wasserwaage los,
um einen geeigneten Bauplatz zu suchen.
In Dahschur, auf einem Wüstenplateau
hoch über dem Nil, wurden sie fündig.
Umgehend erklärte der König den Bezirk
zum „verbotenen Land“. Nur noch Auser-
wählte durften es betreten.
Neue Quartiere entstanden, man
Bohrung im Eingangskorridor der Medum-Pyramide*: Kameraspion im Geheimgang schachtete eine Hafenanlage aus. Astro-
nomen und Mörtelrührer, Skulpturenma-
sich Jean-Yves Verd’hurt, der Dormions len sogar Zahis Ausgrabungen.“ Deshalb cher und jene armseligen Kerle, die die
Arbeiten finanziert. habe diese Organisation stets als Erste den Kupfermeißel schärften, eilten herbei. Es
Sauer sind die Franzosen zumal, weil Fuß in der Tür. entstanden Garküchen, Kammern für Ge-
Hawass auch deren Weiterarbeit in der Die rund 300 ausländischen Grabungs- treide und Holzbaracken für die Steine-
Cheopspyramide behindert. Mehrfach teams im Land hält der Spaten-Tyrann da- schlepper.
wurde darum ersucht, dort in der Köni- gegen an der kurzen Leine. Jeder neue Die Pyramidenstadt von Nord-Dahschur
ginnenkammer ein 15 Millimeter großes Fund muss zuerst ihm gemeldet werden. hat der Forscher Seidlmayer durch Boh-
Loch in den Fußboden bohren zu dürfen. Hawass ist der Generalvermarkter. Neue rungen ausfindig gemacht. Sie liegt heute
So könnte der (bislang nur elektromagne- Grabungslizenzen für die Pyramiden wer- sechs Meter tief unter Nilschlamm ver-
tisch nachgewiesene) Hohlraum unter dem den nicht vergeben. Nur Stadelmann darf schüttet. In engen Steinhäusern lebten dort
Fußboden endlich ausgespäht werden. noch im Umfeld von Pharao Snofru ar- jene kahlrasierte Kultpriester, die nach
Selbst ein Professor der Universität von beiten. dem Ableben des Pharaos für dessen Lab-
Genf griff in den Zwist ein. „Am Ende ge- Aber was soll’s. Viele Ägyptologen hal- sal sorgen sollten.
langte der Streit sogar auf Ministerebene“, ten die Idee von verborgenen Schatzkam- Die Fachleute versichern, dass es auf
weiß Jánosi. Erwirkt wurde nichts. dem Bauplatz froh und munter zuging. Ha-
Hawass begründet sein Verbot gern mit wass spricht von einem „Nationalprojekt“
nationaler Rhetorik: „Was würden Sie Die Malocher auf dem auf freiwilliger Basis. Richtig ist: Sklaverei
denn sagen, wenn ich daherkäme und ein Bauplatz schufteten war im alten Ägypten zwar unbekannt,
Loch in Notre-Dame bohren wollte“, pol- nicht aber die Zwangsarbeit.
terte er auf dem 9. Internationalen Ägyp- barfuß, halb nackt, Die Malocher schufteten barfuß, halb
tologenkongress. „Wir Ägypter müssen un- ohne Handschuhe. nackt, ohne Handschuhe. Immer wieder
sere Würde behalten. Ich bin der Wächter erlitten sie beim Hantieren mit den ton-
der Pyramiden. Ägypter haben für deren mern ohnehin für Unfug. „Wahrscheinlich nenschweren Steinblöcken Knochen-
Bau ihr Blut vergossen. Ich kann es nicht haben die von Dormion entdeckten Gänge brüche. Herbeigeeilte Priester-Ärzte ban-
erlauben, dass Amateure mit dem Blut von nur einen statischen Sinn und sollten die dagierten und schienten die zerquetschen
Ägyptern spielen.“ enormen Steindrücke ableiten“, meint der Gelenke und legten Kräuter auf die
„Wir warten jetzt erst mal ab“, teilte Experte Haase. Schwellungen.
Dormion sichtlich eingeschüchtert letzte Die Vorstellung, dass nach 4000 Jahren Snofru konnte den Fortgang des Unter-
Woche dem SPIEGEL mit. Jeder Insider Dauerheimsuchung der Pyramiden, erst nehmens von seiner Residenz aus verfol-
weiß: Der Mann ist aus dem Rennen. durch die Ägypter selbst, dann durch Grie- gen. Sie lag direkt am Rand des Bauplat-
Denn hinter den Tiraden von „Big Zee“ chen, Araber und Europäer, dort immer zes. Ein Annalenstein erwähnt, dass er im
Hawass stecken in Wahrheit andere Be- noch ein Pharao herumwesen soll, halten zwölften Jahr seiner Regierung eine neue
weggründe. „Sein Supreme Council of An- sie für höchst unwahrscheinlich. „Königsburg“ mit Toren aus Zedernholz
tiquities ist eng mit National Geographic Ganz sicher sind aber auch die Kriti- errichten ließ. Dabei handelte es sich wahr-
verbandelt“, sagt ein Kenner. „Deren Stif- ker nicht. Denn vor allem die verwirrende scheinlich um die neueingerichtete Pfalz
tung hat dem ägyptischen Altertümer- Innenarchitektur der großen Grabkristal- in Dahschur.
Dienst neue Computer, Schreibtische und Und der Pharao lächelte. Vor seinen Au-
technische Ausrüstung geschenkt; die zah- * Mit dem Dormion-Mitarbeiter Jean-Yves Verd’hurt. gen wuchs nach Westen hin, im Wüsten-
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Titel

staub, ein geometrisches Wunderwerk her- tenhauses 10 000 einfache Steinschlepper große Ausschachtung erfolgt war, traten
an. Seine Architekten hatten ein völlig sowie 5000 Profis im Einsatz: Steinmetze, Verformungen auf. Die Steinpackungen
neues Grabdesign ersonnen: streng, glatt, Mathematiker, Kunsthandwerker. standen unter enormen Druck.
regelhaft – wie eine Figur aus dem Ma- Zuerst schlugen die Arbeiter mit ihren Nach einer Krisensitzung fiel eine erste
thebuch. Kupferhacken eine 23 Meter tiefe Trasse in schmerzliche Entscheidung. Bauleiter Ne-
Gestufte Pyramidentürme stehen oder den Wüstenboden. In dieses Loch mauer- fermaat, der Sohn des Snofru, gab das ge-
standen auch in Tikal, Chichén Itzá und Ba- ten sie die Sargkammer und den Ein- samte Gangsystem auf – zu viel Risse.
bylon. Aber kein Maya, kein Chinese, kein gangskorridor auf. So brauchten sie nicht Solch ein schiefes Gemäuer war eines Pha-
Sumerer und schon gar kein Schrumpf- unterirdisch zu arbeiten. raos nicht würdig.
Germane kam je auf die Idee, Totentempel Dann wurde gestapelt. Über Mini-Ram- Flugs wurde ein neuer Sargraum ent-
in Prismenform zu errichten. pen zogen die Männer, kehlige Lieder worfen. Der Zugangskorridor führte dies-
Auch auf geistigen Gebiet kam es unter anstimmend, die ein bis zwei Tonnen mal von Westen heran. Doch herrje! Neue
Snofru zu einer Revolution. Die neue Re- Spalten taten sich auf. Selbst durch die
ligion gewann die Oberhand – und damit glatten Außenwände der Pyramide zo-
der Triumph des Sonnengottes. Der ganze Stumpf gen sich nun feine Furchen. Der ganze
Dessen Priester, die in Heliopolis einen der riesigen Stumpf drohte auseinanderzubrechen.
gewaltigen Tempel besaßen, legte nun eine Mindestens zwei Jahre Bauzeit waren ver-
neue Deutung der Ewigkeit vor: Sie dach- Pyramide drohte strichen. Was tun?
ten sie als zyklische Wiederkehr des Zen- auseinanderzubrechen. Endlich kamen die Ingenieure auf einen
tralgestirns, das im Osten aufging und blut- scheinbar genialen Rettungsplan. Das zer-
rot über der Westwüste versank. So sollte schweren Steinblöcke empor. Sie lagen beulte Grabmal sollte einen Schutzmantel
der Pharao selbst zu einem ewig funkeln- auf Schlitten, deren Kufen auf nassen erhalten, eine Art Korsett, um es wieder in
den Gestirn am Himmel werden. Schlammbahnen glitschten. Die hellen Ver- Form zu zwingen. Es war eine 15,70 Meter
Die Nekropolen aus der Frühzeit Ägyp- kleidungssteine brachten Lastkähne aus dicke Kalksteinhülle, die den Bau kom-
tens waren nord-süd-orientiert. Jetzt dreh- Tura, 20 Kilometer nilabwärts. plett umschloss.
te sich die Achse auf Ost-West – Richtung Das Auftürmen der unteren Steinlagen Und es sah gut aus. Bald war der Man-
Auf- und Untergang der Sonne. Der Pharao ging flott. Der Grabkorridor der Knickpy- tel angesetzt und sorgfältig mit dem alten
wurde zum Sohn des Re, der ihn bei seiner ramide weicht nur eine Winkelminute von Mauerwerk verzahnt. Immer längere Ram-
täglichen Reise über den Horizont begleitet. der Nordrichtung ab. Selbst mit moderner pen waren nötig, auf denen die Männer
Dieser Theologie des Lichts zollte das Technik ginge es kaum genauer. die gelblichen Kalksteinblöcke empor-
Alte Reich fortan ungeheure Tribute. Rund Mit dieser Ausrichtung zielte der Ein- schleppten. Nun kamen wohl Winden und
zwei Millionen Untertanen verschmolzen gang auf die ewigen Zirkumpolarsterne. Hebekräne zum Einsatz. Auf der Arbeits-

Weltreich der Pharaonen Chronik des Alten Ägypten


FRÜHZEIT A LT E S R E I C H (ungefähre Zeitangabe) MITTLERES REICH
1. ZWISCHENZEIT
3000 v. Chr. 2700 v. Chr. 2600 v. Chr. 2500 v. Chr. 2300 v. Chr. 2040–1650 v. Chr.
2160 –
1. und 2. Dynastie 3. Dynastie 4. Dynastie 5. Dynastie 6. Dynastie 2040 v. Chr. 11. bis 14. Dynastie
Reichs- Erste Stufen- Große Zeit des Militärischer Vorstoß Rückgang des 7. bis 10. Neue Zentral-
gründung pyramide Pyramiden- in die Oasen der Wohlstands; Dynastie macht unter
unter unter König baus unter Westwüste; nahe nach 94- Pharao Mentu-
König Djoser Snofru, der Hauptstadt jähriger Re- Bürgerkriege hotep II.;
Aha (60 Meter) Cheops, Memphis ent- gierungszeit und Reichswir- neuer Regie-
Chephren stehen sechs Pepis II. bricht ren; Plünderer rungssitz
riesige Son- das Reich zu- berauben Kö- in Theben
nentempel. sammen. nigsgräber des
Königstafel aus Alten Reichs.
der Frühzeit Statue eines Schreibers Bemalter Stein aus Theben

zu einem vielarmigen, hämmernden, po- Dorthin sollte die Seele des Pharaos auf- ebene, die noch immer über 130 mal 130
lierenden und steineglättenden Riesen- steigen – hinauf zu seiner neuen Heimat Meter groß war, erfolgte der Feinschliff der
werkzeug. am Himmel. Steinquader.
Erstmals schlug der Homo sapiens mit Und wieder achtete die Bauleitung auf Snofru („der Vollkommenheit erzeugt“)
dem Hammer ans Himmelstor, er riss ein topsicheres Verschlusssystem. Der Ein- wog sich in Sicherheit. Inschriften bezeu-
ganze Berge ab und stapelte sie anderswo gangsschacht ragt 78 Meter schräg in die gen, dass er sich bereits um seine Verpfle-
wieder auf. „Die Pyramiden“, sagt Stadel- Tiefe. Unten befand sich ein Sargraum mit gung im Jenseits kümmerte. Er gründete
mann, „grenzten an Hybris.“ einem Durchschlupf, der zu einem 15 Me- im Nildelta 122 Viehweiden. Von dort soll-
Was für einen Plan hatte Snofru da auf ter hohen „Kamin“ führte. Womöglich ten die fetten Kühe und Gänse kommen,
Papyrus niedergekritzeln lassen! Das neue sollte er in einem geheimen Tunnelsystem mit denen er sich dereinst im Sonnenwa-
Grabmal sollte eine Seitenlänge von 300 im Kernmauerwerk münden. gen bei Re verköstigen lassen wollte.
Ellen (156,90 Meter) haben. Über ihre Doch der Plan ließ sich nicht ausführen. Düsteren Gedanken nachzuhängen war
Höhe wird gestritten. Stadelmann hält für Die Bauleitung stand alsbald unter Schock. ohnehin keine Zeit, die Politik rief. Ein auf
möglich, dass die Ägypter anfangs einen Der Pyramidenstumpf war erst wenige Me- dem Sinai entdecktes Relief zeigt den Kö-
Steigungswinkel von über 60 Grad anvi- ter hoch, als die Statiker Alarm schlugen. nig, wie er einen Gegner traktiert. Die
sierten. „Die wollten auf 300 Ellen hoch.“ Setzungsrisse traten auf. Der Untergrund, Ägypter beuteten dort Türkis-, Malachit-,
Dann ging es los. Der gesamte alte Ar- alte Meeresablagerungen aus Carbonat- und Kupferbergwerke aus. Auch in die
beitsstab aus Medum reiste an. Schätzun- schlämmen, trug das Gewicht nicht. Vor Westwüste drangen die Truppen ein. Bei
gen zufolge waren beim Bau des neuen To- allem im Zentrum der Anlage, wo die dem Vormarsch nahm Snofru 1100 Libyer
112 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
gefangen, und 13 000 Stück Vieh wechsel-
ten den Besitzer.
In Zeiten des Müßiggangs entspannte
sich der Regent auf Bootspartien. Ein Mär-
chen aus dem Mittleren Reich erzählt, wie
er mit 20 schönen Mädchen in Perlenklei-
dern auf dem Dahschur-See herumpaddelt.
Auch jagte er wohl Löwen in der Wüste –
ein Privileg der Pharaonen.
War ihm nach Sex und lüsterner Ent-
spannung, betrat der Gottkönig seinen üp-
pig gefüllten Harem. „Aufseher der Sänger
und Tänzer“ war ein gewisser Ipi, der zu-
gleich als „Vorsteher der Vergnügungen im
Palast“ für gute Laune sorgte. Über eroti-
sche Details halten sich die Hieroglyphen
allerdings vornehm zurück.
Auch privat meldete sich bei dem da-
mals etwa 50-jährigen Regenten neues
Glück an: Klein Cheops wurde geboren.
Seiner ersten Gemahlin hatte Snofru längst
entsagt. Vielleicht war sie tot oder dem
Mann zu alt. Seine Neue, Hetepheres, so
eine Theorie, war eine Haremsdame, die
den alternden König bezirzte und spä-
ter – an allen älteren erbberechtigten Söh-
nen vorbei – das gemeinsame Söhnchen
Cheops auf den Thron bugsierte.
Sicher ist, dass es Hetepheres war, die an
der Seite des Königs nun schwere Stunden

THE ART ARCHIVE


durchlitt. Das vermaledeite Grabmal woll-
te selbst unter dem Gebrüll der livrierten
Aufseher nicht richtig emporwachsen.
Snofru-Sohn Rahotep, Gattin (Kalksteinstatuen): Blutsbande als Kitt des Staates

NEUES REICH S PÄT Z E I T


2. ZWISCHENZEIT 3. ZWISCHENZEIT
1580 –1075 v. Chr. 740 –343 v. Chr. 25. bis 30. Dynastie
1650 –1580 v. Chr. 1075 – 740 v. Chr. Assyrer erobern das Reich, Fremdherrschaft der Perser.
18. bis 20. Dynastie Letzte unabhängige ägyptische Dynastie unter
15. bis 17. Dynastie 21. bis 24. Dynastie Pharao Nektanebos I.
Anbruch eines golde-
Aus Palästina kom- nen Zeitalters; unter Einfall libyscher
mende Hyksos ge- Stämme, Auflösung PTOLEMÄISCHE ZEIT
Thutmosis III.und Ech- 332–30 v. Chr.
winnen die Ober- naton entstehen mo- der Zentralgewalt;
hand im Nildelta. numentale Tempelan- die Provinzgouver- Einmarsch Alexanders des Großen; die neugegründete
lagen. Grablegung neure Ägyptens Hauptstadt Alexandria wird zur Keimzelle der
des Tutanchamuns: machen sich unab- Anhänger aus hellenistischen Kultur.
Bau von Abu Simbel hängig. Gold mit 30 v. Chr.
Skarabäus
unter Ramses II. Nofretete, (22. Dynastie) Tod Kleopatras; Ägypten endet als römische Kolonie.
Gemahlin Echnatons

Freilegung einer Arbeitersiedlung in Dahschur*: Flüssige Kraftnahrung für die Malocher Schlimmer noch: Auch die stützende
Steinschale versagte. Immer mehr Gips-
mörtel war nötig, um die Risse zu kaschie-
ren. In einer Höhe von 47 Metern warf die
Bauleitung das Handtuch. Um das Un-
getüm irgendwie doch noch fertig zu krie-
gen (Stadelmann: „Der Pharao macht kei-
ne Fehler“) rückte Nefermaat notgedrun-
gen von der Idealform ab. Er verringerte
den Böschungswinkel der Pyramide auf 43
Grad. Das sparte Gewicht.
Aber das Chaos ging weiter. In der neu-
en Grabkammer splitterte es immer mehr.
Sie wurde schließlich zugemauert.
Nach rund 15 Jahren Bauzeit, war das
Götzengrab endlich fertig – als Ruine. 3,6
Millionen Tonnen Stein erhoben sich im
BEN BEHNKE

* Mitte Dezember 2005 durch deutsche Archäologen.

113
Titel

Totenland. Die Knickpyramide wurde zur pickelten und die Blöcke mit Hebeln seit-
„Baupleite der Superlative“ (Haase). lich aus dem Fels brachen.
Was tun? Der alternde Staatschef be- Kurz nach Baubeginn der „Roten“ be-
kam langsam Falten. Seine Zeit lief ab. 30 ging Snofru das Sed-Fest, sein 30. Thron-
Jahre war er von Lärm und Baustaub um- jubiläum. Dabei musste der Monarch mit
geben. Doch eine funktionstüchtige Ram- einem rituellen Wettlauf seine Kraft be-
pe für die Ewigkeit fehlte ihm immer noch. weisen. Vermutlich entstand der Kult aus
Es ist der nun folgende Schritt, der maß- dem Generationskonflikt zwischen altern-
geblich zum Ruhm – und zur Unversteh- dem Häuptling und den nachdrängenden
barkeit – diese Pharaos beitrug. Denn Anwärtern.
Snofru, bereits mit zwei großen Pyrami- Snofru war offenbar immer noch fit –
den belastet, packte nun beherzt ein noch und beging weiteren Wahnwitz. Als hätte
er in Dahschur nicht genug zu tun, schick-
te er einen Teil seiner Handwerker zurück
Priester entfleischten nach Medum. Sie sollen sein erstes Rie-
den Pharao und senwerk, die alte Stufenpyramide, aufmot-
zen und ihr nun ebenfalls eine glatte, ab-
wickelten seine Kno- strakte Form verpassen.
chen in Leinentücher. Warum der König seine Kräfte nicht
bündelte ist unklar. Haase gibt zu: „Das ist
heroischeres Projekt an: die „Rote Pyra- verwirrend.“ Doch auch dieser Streich ge-
mide“. lang noch. Beide Grabmale wurden voll-
Unverzüglich gingen die Bautrupps nur endet, wie die Forscher jetzt wissen.
1,9 Kilometer entfernt erneut an die Arbeit. Als die Steinmetze mit zerschundenen
Wieder wurde ein spitzer Gigant entworfen, Händen die harten Polierkugeln fallen

BEN BEHNKE
diesmal sogar mit einer Seitenlänge von 219 ließen, mit denen sie die Quader glätte-
Metern. Beim Steigungswinkel von nur 45 ten, war Snofru ein Greis von rund 75 Jah-
Grad, blieben die Macher diesmal jedoch ren – und starb termingerecht. Trauer er- Restauration von Holzstatuen (im Ägyptischen
vorsichtiger. Auch die Festigkeit des Unter- fasste das Land.
grunds hatten sie gründlich untersucht. „Ut-Priester“ („Umhüller“) entfleisch- be er potentielle Räuber genasführt und
Moderne Luftaufnahmen zeigen, dass ten den Toten und wickelten seine Kno- sich klammheimlich ins Jenseits begeben.
zwei breite Transportrampen von Westen chen in Leinentücher. Eine richtige Mumi- Und Hawass heizt die Stimmung nun an.
auf die Rote Pyramide zuführten. Dort lag fizierung mit Natron war im Alten Reich „Der König liegt vielleicht noch immer un-
der Steinbruch, wo die Arbeiter mit noch unbekannt. berührt in seinem Prachtsarg.“
Meißeln schmale Schneisen in den Fels Als die eklige Prozedur im „Akazien- Die Ägyptologen sind von der Ankün-
haus der Schlächter“ fertig war, glitt der digung, die der Antikenchef demnächst be-
Mittelmeer blumenbekränzte Leichnam in einen offe- legen will, erstaunt. Die Lehrmeinung be-
nen Sarg. Den hievte der Trauerzug, vom sagt nämlich, dass sich Snofru in der Roten
Fruchtland kommend, in die Pyramide hin- Pyramide beerdigen ließ – seinem letzten
Alexandria ein und verstöpselten sie. Nur in welche? und großartigsten Bauwerk.
Hawass’ neue Theorie besagt, dass Wer einmal in der von über vier Millio-
Snofru alle narrte und sich in seinem alten nen Tonnen Stein umgebenen Sargkam-
Grabmal in Medum be- mer dieses Totengebirge gestanden hat, mit
3 km statten ließ. Geschickt ha- ihrem 14,70 Meter hohen
Cheops
Chephren Steinbruch
Mykerinos Arbeiterkaserne
GISEH
Nil

4. Dynastie
Knickpyramide
Kairo Südgrab
Tempel
ABUSIR
5. Dynastie
Giseh
Djoser Siedlung
SAKKARA Sechemchet
3. Dynastie
Memphis
Medum
Oase Snofru Stelenheiligtum Aufweg
Faijum DAHSCHUR
4. Dynastie Snofru
Umfassungsmauer
Nil
Satellitenbild: Nasa

südliche Pyramidenstadt
Luxor (Theben)
50 km
Dahschur-See
dem Grab M 17 in Medum. Der Plan sah
vor, die beiden Mumien genetisch zu un-
tersuchen. Würde ihr Erbgut das Vater-
Sohn-Verhältnis bestätigen, gäbe es kein
Zweifel mehr: Snofru wäre zwar zerfled-
dert, aber vorhanden.
Doch das Unternehmen scheiterte kläg-
lich. Der Grund: Die Briten können ihre
Mumie aus M 17 nicht mehr finden. Sie
wurde verschlampt.
So ist das Leben. Nicht nur die Jahrtau-
sende verwischen die Zeugnisse, auch die
Archäologen selbst haben manche Spur
zertrampelt. Statt ihre Funde zu doku-
mentierten, führten sich einige Pioniere
der Zunft wie die Vandalen auf. Sie stahlen
und plünderten. Der unschätzbare Sarko-
phag des König Mykerinos zum Beispiel
versank im 19. Jahrhundert beim Abtrans-
port nach London im Atlantik.
Aber auch im düsteren Bauch des Ägyp-
tischen Museums von Kairo ist so manche
Pretiose verlegt worden. Erst die neue Di-
rektorin geht jetzt beherzt ans Aufräumen.
Jüngst hat sie zwei Holzstatuen entdeckt,
die nun im Labor restauriert werden. Es
sind seltene Meisterwerke aus der 4. Dy-
Museum in Kairo): Verschollene Meisterwerke aus dem Gewölbe nastie, der Epoche Snofrus.
Vielleicht finden sich in den Gewölben ja
Kraggewölbe, das wie eine gotische Ka- den Fußboden noch weiter aufriss, um sogar noch Hinweise auf die wahre Ruhe-
thedrale wirkt, ahnt, was für ein Titan den Gottmenschen und seine Reichtü- stätte dieses Herrschers. Auch die neuen
Snofru gewesen sein muss. mer endlich zu finden. Die Ausbeute war Spähroboter könnten neue Kunde vom
Nur lag oder liegt der große Steinestap- gleich null. Phantomas der Pyramiden bringen.
ler dort auch begraben? Gibt es in Medum Immerhin kamen dabei Reste einer zer- Vor allem aber die deutschen Archäolo-
noch unbekannte Zickzackgänge, ver- fledderten Mumie zutage. „Heute liegen gen, die in den Sandmassen von Dahschur
steckte Kriechtunnel oder zugemauerte die Leichenreste im Institut für Medizin- stöbern, sind nun dem Heros auf der Spur.
Korridore, die den Weg ins „Allerheiligste“ geschichte von Giseh“, erklärt Stadelmann. Dass Snofru noch goldbehängt in sei-
immer noch versperren? Er glaubt, dass es sich um die kläglichen nem Sarg liegt, scheint den meisten von
Als der Brite John Shae Perring um 1840 Überbleibsel Snofrus handelt. Andere For- ihnen allzu kühn. Schon jetzt denken Ar-
den pompösen Grabraum betrat, wühlte scher deuten sie dagegen als Nachbestat- chäologen mit Grausen an den TV-Zirkus,
er dort wie ein Berserker. Anfang der tung aus späterer Zeit. den Ägyptens Antikenmagier Hawass
fünfziger Jahre folgte ein ägyptisches Um das Rätsel endlich zu lösen, schlug demnächst wieder aufführen wird.
Team, das vor einigen Jahren der Direktor des British Zu Dünkel und Naserümpfen besteht je-
Museum in London eine spannende Un- doch kein Anlass. Die Wände der Grab-
Steinbruch
tersuchung vor. Die Engländer male sind dick und undurchschaubar. Oder
Rote Pyramide besitzen den Körper ei- wie es der Wiener Ägyptologe Jánosi
nes Snofru-Soh- ausdrückt: „Pyramidenanlagen waren die
nes aus geheimnisvollen Orte der Verwandlung
des toten Königs zum unsterblichen Gott.
Magazin
Richtig verstanden haben wir sie
bis heute nicht.“
Friedhof der Königsfamilie Aufweg Matthias Schulz

Norden
Friedhof der Priester
und Beamten

Tor
nördliche Pyramidenstadt
und Königsresidenz

Hafenbecken Doppelgrab am Nil


Der Königsfriedhof von Dahschur
zur Zeit Pharao Snofrus (um 2600 v. Chr.)
Pharao Snofrus gewaltige Doppelnekropole von Dahschur wurde von rund 15 000 Arbeitern errichtet.
zum Nil Neben den heute noch aufragenden Pyramiden enthielt der Bezirk viele weitere Tempel, Gräber und
Magazine, aber auch Bäckereien sowie Siedlungen für Handwerker und Priester. Die Pyramidenstädte
am Rande des Fruchtlands sind bislang nur durch Bohrungen belegt oder hypothetisch.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 115
Wissenschaft

BRIAN E. SMALL
Winternachtschwalbe

J. GIUSTINA / WILDLIFE (L.); M. DELPHO / PICTURE PRESS (R.)

Fettschwanzmaki Siebenschläfer in einem Blätternest

Tiere mit der Fähigkeit zum Winterschlaf: Fast bis ins Absurde hat die Natur die Grenze zwischen Leben und Tod hinausgeschoben

Und sogar Rehe, Hirsche und die ur-


TIERE
wüchsigen Przewalski-Pferde können ihren
Stoffwechsel auf Sparflamme schalten.

Leben auf kleinster Flamme Walter Arnold hat all diese Tiere mit im-
plantierten Sensoren untersucht. Auf 15
Grad kann die Temperatur in den Flanken
von Hirschen fallen. In den Extremitäten
Biologen zeichnen ein neues Bild des Winterschlafs. maßen die Forscher gar nur 3 Grad. „Un-
Nicht nur Säuger, auch Vögel nutzen den Energiespartrick. Besitzt sere Beine würden sofort erfrieren“, sagt
sogar der Mensch noch die Fähigkeit zum Stand-by-Modus? Arnold. Den Tieren jedoch nützt die Un-
terversorgung: „Ihr Energieverbrauch sinkt

D
ie Hopi-Indianer nennen es Hölcho- immer wieder in einen – mitunter auch dramatisch.“
ko: „den Schlafenden“. Bis zu 25 nur Stunden andauernden – Stand-by- „Die Fähigkeit, den Stoffwechsel her-
Tage am Stück verbirgt sich das Modus. unterzufahren, ist unter Wirbeltieren so
kaum 50 Gramm schwere Tier im Winter in Und noch einige weitere althergebrach- weitverbreitet, dass wir es wahrscheinlich
Felsnischen oder unter Kakteen. In eisigen te Vorstellungen über den vermeintli- mit einem stammesgeschichtlich sehr al-
Wüstennächten kann seine Körpertempe- chen Kälteschlaf mussten die Biologen in ten Mechanismus zu tun haben“, konsta-
ratur auf unter 5 Grad sinken. Normaler- jüngster Zeit revidieren: „Was wir bisher tiert Heldmaier. Fritz Geiser von der Uni-
weise liegt sie bei knapp 40 Grad Celsius. Winterschlaf oder Winterstarre nannten, versity of New England im australischen
Erst wenn die Sonnenstrahlen im Früh- scheint eine ganz generelle Reaktion vieler Armidale geht noch weiter. Er glaubt, dass
ling genug Wärme liefern und die Insekten Tiere auf Notlagen zu sein“, sagt Walter selbst ein zentrales Dogma der Biologie
herumschwirren, erhebt sich „Phalaeno- Arnold vom Forschungsinstitut für Wild- bald fallen könnte: „Es ist durchaus mög-
pitlus nuttallii“, die Winternachtschwalbe, tierkunde und Ökologie an der Univer- lich, dass eine konstante Körpertemperatur
wieder in die Lüfte. Der winzige Vogel, in sität Wien. Gerhard Heldmaier, Physio- bei Säugetieren und Vögeln viel seltener ist
den Wüsten Kaliforniens und Arizonas be- loge an der Universität Marburg, bestätigt: als bislang angenommen.“
heimatet, ist ein Spezialist für das Leben „Winterschlaf ist viel weiter verbreitet Faszinierendes haben Forscher über die
auf kleinster Flamme. Winterschlaf heißt als bislang angenommen und keineswegs eisigen Rekorde der Langschläfer zusam-
das Phänomen – und lange galt es als auf den Winter oder auf Säugetiere be- mengetragen. In Heldmaiers Labor in Mar-
Domäne von Murmeltier, Bär und Sieben- schränkt.“ burg etwa dämmern Dsungarische Zwerg-
schläfer, die rund die Hälfte des Jahres ver- Nicht Kälte, sondern Nahrungsknapp- hamster aus Südsibirien in der sogenannten
schlafen. heit oder Wassermangel bedingten zumeist Tagesschlaflethargie, einen nur Stunden wäh-
Neue Beobachtungen jedoch belegen: die Flucht in den Energiesparmodus. renden Starrezustand. Nebenan kuscheln
Nicht nur Säugetiere, auch Vögel können Tropische Blütenfledermäuse und Koli- sich Murmeltiere im kalten Klimaraum zu-
ihre Lebensgeister auf ein Minimum bris etwa erstarren bei Mangel an nektar- sammen. Auf acht Grad ist ihr Körper ab-
drosseln. Neben der Winternachtschwalbe haltigen Blüten. Halbaffen auf Madagas- gekühlt. Nur noch zwei- bis dreimal pro Mi-
fallen auch Vögel wie der Europäische kar wiederum verschlafen die Trockenzeit, nute schlägt ihr Herz. Kaum mehr Energie als
Ziegenmelker, der Mauersegler oder der Kalifornische Erdhörnchen den glühenden eine Leuchtdiode verbraucht das Fünkchen
in Australien beheimatete Eulenschwalm Sommer. Leben in jedem dieser Langschläfer.
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AGE FOTOSTOCK / MAURITIUS IMAGES
Kolibri

ALLSTAR / CINETEXT (L.); GETTY IMAGES (R.)


Braunbär Hirsch

Stilllegung lautet das Geheimnis des könnten, bildeten sich auf wundersame „Das Gehirn für lange Zeit abzukühlen
Energiesparmodus. „Der Stoffwechsel Weise nicht. Doch wehe, das filigrane ist offenbar mit dem Risiko von Ausfäl-
wird zu großen Teilen abgeschaltet“, sagt Gleichgewicht wird gestört: Schon die len verbunden“, kommentiert Heldmaier,
Heldmaier. Bis zu 98 Prozent Energie Berührung eines Zehs reiche aus, um „deshalb muss es periodisch wieder aufge-
könnten kleine Tiere durch ein solches das Hörnchen schockzufrieren, berichtet wärmt werden.“
Verhalten einsparen. Gensequenzen wer- Barnes. Eine Studie der Biologin Kathrin Daus-
den in den Zellkernen nicht mehr abge- Alle 10 bis 21 Tage erwacht das kalt- mann aus Heldmaiers Arbeitsgruppe be-
lesen, Proteine nicht mehr synthetisiert, blütige Tier aus seiner Nahtod-Erfahrung. stätigt diese Vermutung. Dausmann, in-
ganze Reaktionsketten gleichsam einge- Der Körper wärmt sich auf. Für Stunden zwischen an der Universität Hamburg,
froren. unterbricht das Arktische Erdhörnchen untersuchte Fettschwanzmakis auf Ma-
Auch das Immunsystem stellt weitge- den Tod auf Zeit. dagaskar. In der Trockenzeit von April
hend die Arbeit ein. Besonders radikal ist Bei fast allen Winterschläfern kommen bis Oktober verschwinden die possierli-
die Veränderung im Gehirn – im Wachzu- diese Aufwachphasen vor. 90 Prozent der chen Halbaffen von der Bildfläche. Daus-
stand der Energiefresser schlechthin. angefutterten Energiereserven werden da- manns Befund: Die Tiere halten Winter-
„Auf dem EEG ist keine Hirnaktivität bei verbraucht. Die Forscher rätseln noch, schlaf – und das bei Tagestemperaturen
mehr sichtbar“, sagt Heldmaier – ein Zu- was der periodische Kaltstart soll. Ist eine von über 30 Grad. Und siehe da: Einige
stand, der beim Menschen den Hirntod de- von ihnen verzichteten sogar auf die
finiert. Bis zu 90 Prozent des Blutflusses In den Hirnzellen der Winterschläfer sonst üblichen Aufwachphasen – weil es
versiegen im Gehirn der eiskalten Schläfer. warm genug ist für die dahindämmernden
Allein einige überlebenswichtige Bereiche
fanden Forscher Veränderungen wie Gehirne.
des Hirnstamms bleiben aktiv. bei Alzheimer-Kranken. „Die Körpertemperatur der schlafenden
Fast bis ins Absurde hat die Natur die Tiere schwankt mit der Lufttemperatur in
Grenze zwischen Leben und Tod hin- Pinkelpause notwendig? Muss das Im- ihrem Winterquartier“, sagt Dausmann.
ausgeschoben. Der Extremist unter den munsystem den Körper ausputzen? „Wird ihr Körper alle paar Tage auf über 35
Winterschläfern ist das Arktische Erd- Wahrscheinlicher erscheint mittlerweile Grad erwärmt, wachen sie nicht auf.“ Ge-
hörnchen. Wenn sich im Norden Alaskas eine andere Theorie: Die Tiere wachen auf, rade hohe Temperaturen seien es also, die
der Winter ankündigt, rollt es sich unter um Hirnschäden zu vermeiden. Die Wiener den Fettschwanzmaki durchschlafen ließen.
der Erde zusammen und erstarrt. Auf Zoologin Eva Millesi brachte Zieseln bei, Dausmann will nun weitere Makis auf
bis zu minus 18 Grad Celsius fällt die ein Labyrinth zu durchlaufen und sich per Madagaskar untersuchen. Denn noch et-
Bodentemperatur. Doch das Tier wider- Hebel selbst mit Leckereien zu versorgen. was anderes elektrisiert die Forscher: Die
steht. Bei 2 Grad Minus stabilisiert es sei- Die eine Hälfte der gelehrigen Hörnchen Halbaffen gehören zu den Primaten, jener
ne Körpertemperatur – ohne dass sein schickte die Forscherin anschließend in die Gruppe von Säugetieren, zu denen auch
Blut gefriert. Klimakammer zum monatelangen Winter- der Mensch zählt. „Keinen ersichtlichen
„Supercooling“ nennt der Biologe Brian schlaf. Die andere Hälfte blieb wach. Grund“ sieht daher der Zoologe Arnold,
Barnes von der University of Alaska Das verblüffende Ergebnis: Die Winter- warum nicht auch im Erbgut des Menschen
Fairbanks diese Fähigkeit. Die Körper- schlaf-Fraktion war nach dem Aufwachen der jahreszeitliche Drang zur Schläfrigkeit
flüssigkeit werde in einem „metastabi- den Aufgaben nicht mehr gewachsen. Die angelegt sein sollte.
len Zustand“ gehalten. Scharfkantige wach gebliebenen Ziesel dagegen erledig- „Wir wissen, dass kleine Kinder extreme
Eiskristalle, die das Gewebe zerstören ten sie spielend. Kälteschocks eher überleben können als
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 117
Wissenschaft

Erwachsene“, sagt Arnold, „bei jungen


Menschen scheint diese Fähigkeit also noch
PSYCHOLOGIE
besser ausgeprägt zu sein.“
Und noch andere frappierende Paral-
lelen zeigen sich zwischen Mensch und
Winterschläfer. Thomas Arendt vom Paul-
Flechsig-Institut für Hirnforschung in
Leipzig untersuchte die Gehirne winter-
„Champagner der Gefühle“
schlafender Erdhörnchen. Das erstaunli-
Die US-Psychiaterin Kay Jamison über Menschen mit chronisch
che Ergebnis: „Wir konnten in den Hirn- guter Laune und ihr Leben als manisch-depressive Professorin
zellen der Tiere ähnlich veränderte Pro-
teine nachweisen, wie sie sich im Gehirn Jamison, 59, lehrt als neugierig. Manchmal, wenn er unbedingt
von Alzheimer-Kranken finden“, sagt Professorin für Psych- etwas wissen will, ruft er Leute mitten in
Arendt. Auch Nervenendungen degene- iatrie an der Johns der Nacht an. Ein ähnlicher Typ ist auch
rierten bei den Dauerschläfern auf ver- Hopkins University der Virologe Carleton Gajdusek, der für
gleichbare Weise. in Baltimore, Mary- seine Erforschung der Gehirnkrankheit
Warum das Gehirn von Winterschläfern land, und gilt als Au- Kuru den Nobelpreis bekommen hat. Er
nach dem Aufwachen dennoch einwand- torität auf dem Ge- ist legendär für seine endlos langen, sehr
frei funktioniert, Alzheimer-Kranke dage- biet der manischen witzigen Monologe. Ich versuchte einmal
gen unaufhaltsam hinwegdämmern, ist Depression. Für Auf- nach einem Dinner aufzuschreiben, wor-
eine der Fragen, denen Arendt künftig sehen sorgte sie mit über er alles geredet hat: Immunologie,
nachgehen will. Die Studien sollen auch ihrem Bekenntnis, das FBI, Rattengift, Plato, Schizophrenie.
helfen, neue Therapien gegen das Demenz- selbst unter krank- Irgendwann habe ich es aufgegeben. Als
leiden zu finden. haften Stimmungsumschwüngen zu lei- er den Nobelpreis bekam, brachte er die
Ohnehin haben die Energiespartricks den. In ihrem jüngsten Buch beschäftigt gesamte Zeremonie durcheinander, weil
der Winterschläfer die Wissenschaftler zu sie sich mit Menschen, die auffällig über- seine Rede statt 45 Minuten zwei Stunden
spektakulären Visionen inspiriert: So hof- schwänglich sind. dauerte. Aber alle waren begeistert – sogar
die Veranstalter.
SPIEGEL: Bislang ging es in Ihrer Arbeit um SPIEGEL: In Ihrem Buch stehen auffällig vie-
Selbstmord, Depression und Manie. Nun le Interviews mit Wissenschaftlern – neigen
legen Sie ein Buch über Menschen mit die eher zu Enthusiasmus?
permanent guter Laune vor – um sich Jamison: Das glaube ich nicht, ich denke,
selbst aufzuheitern?* dass in jeder Bevölkerungsgruppe so etwa
Jamison: Nein, das Phänomen hat viel mit acht bis zehn Prozent stark enthusiastisch
meiner täglichen Arbeit in der Klinik zu sind. Aber ich muss zugeben, dass mich
tun. Wenn ein Patient auffällig über- diese Berufsgruppe reizte, weil Wissen-
schwänglich wirkt, ist das oft ein erstes An- schaftler oft in der Öffentlichkeit als emo-
zeichen für eine manische Phase. Bei der tionslos, kalt und langweilig dargestellt
Recherche merkte ich, dass ich mich auf werden. Dabei sind viele von ihnen sehr
Neuland begebe: Über Manie ist sehr viel unterhaltsam.
geforscht worden – über Enthusiasmus fast SPIEGEL: Wer ist Ihr persönlicher Favorit
gar nicht. unter den Enthusiasten?
SPIEGEL: Es gibt doch auch Menschen, die Jamison: Das extreme Beispiel dürfte der
einfach gut drauf sind, ohne dass dies US-Präsident Theodore Roosevelt gewe-
RONALD WITTEK / ACTION PRESS

gleich pathologisch sein muss. sen sein. Er liebte das Leben, er liebte die
Jamison: Ja, um die geht es mir großenteils Natur, er liebte die Arbeit – und er liebte
in dem Buch. Diese Enthusiasten sind un- sogar den Krieg. Er fand einfach alles toll,
glaublich neugierig, zukunfts-
orientiert, konzentriert, kreativ
und reißen ihre Umgebung mit.
Enthusiasmus ist ohnehin ein
Murmeltiere wunderbares Wort, es leitet sich
Energieverbrauch von Leuchtdioden aus dem Griechischen ab: „En
theos“ – der innere Gott.
fen sie, die Lagerungsdauer menschlicher SPIEGEL: Geben Sie uns doch
Spenderorgane drastisch verlängern zu mal ein Beispiel für eine en-
können. Künftig könnten gar Astronauten thusiastische Persönlichkeit.
die Reise zu fernen Welten im Winter- Jamison: Der ehemalige US-
schlaf meistern. „Nasa und Esa haben vor Präsident Bill Clinton zum Bei-
einiger Zeit bereits ein entsprechendes For- spiel ist absolut hinreißend. So-
schungsprogramm aufgelegt“, berichtet bald der einen Raum betritt,
PABLO MARTINEZ MONSIVAIS / AP

Heldmaier. sind die Leute bezaubert von


Allerdings warnt der Zoologe vor über- ihm – sogar als er einmal frisch
zogenen Erwartungen: „Noch ist das alles entlassen aus dem Kranken-
Grundlagenforschung.“ Ohne genaueste haus kam. Er ist unglaublich
Kenntnis der Mechanismen sei die Technik
ohnehin nutzlos: „Für einen Marsflug * Kay Redfield Jamison: „Exuberance: The
wäre Gedächtnisverlust natürlich nicht Passion for Life“. Alfred A. Knopf, New
akzeptabel.“ Philip Bethge York; 2004; 416 Seiten; circa 20,50 Euro. US-Präsident Clinton (1999): „Unglaublich neugierig“

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dieser mal wieder mit seinen Kindern im
Weißen Haus Fangen spielte: „Sie müssen
wissen, der Präsident ist ungefähr sechs
Jahre alt.“
SPIEGEL: Sind Amerikaner generell enthu-
siastischer als andere Völker?
Jamison: Schwer zu sagen, aber in der Tat
waren die Pilgerväter, die Amerika be-
siedelten, nicht so miesepetrig drauf,
wie gern behauptet wird. Zumindest wird
heute in den USA Enthusiasmus als natio-
nale Tugend inszeniert. Das kommt nicht
überall gut an. In Europa muss ich mich
immer sehr zusammenreißen, weil gute
Laune dort leicht als hysterisch wahrge-
nommen wird.
SPIEGEL: Wie schwierig ist das Thema gute
Laune für Sie persönlich? Schließlich lit-
ten Sie selbst jahrelang an manischer De-
pression.
Jamison: Viele Menschen mit bipolarer af-
fektiver Störung neigen auch zu besonders
starkem Enthusiasmus. Ich selbst war als
Kind umgeben von Enthusiasten; mein Va-
ter und seine Freunde waren unglaublich
neugierig und unterhaltsam. Ich liebte das.
Aber mit 17 merkte ich, dass sich meine
eigene überschäumende Begeisterung
manchmal bis zur Manie steigerte. Ich
dachte, ich hätte das unter Kontrolle. Auch
als Psychologiestudentin wollte ich meine
Krankheit nicht wahrhaben.
SPIEGEL: Und tatsächlich kamen Sie ganz
gut zurecht und schlossen Ihr Studium ab.
Jamison: Ja, aber die Krankheit wurde im-
TIME & LIFE PICTURES / GETTY IMAGES

mer schlimmer, ich hätte sie deutlich früher


behandeln lassen sollen. Als ich dann Pro-
fessorin wurde in Kalifornien, passierte es:
Ich fühlte mich phantastisch, war sehr pro-
duktiv, feierte viel – und nach ein paar Mo-
naten schlitterte ich in eine wilde Psycho-
se. Ich rannte nachts rastlos rum, tagsüber
ging ich wie irre shoppen, bis ich tief ver-
US-Präsident Roosevelt (im Yellowstone-Park, 1903): „Er fand alles toll, was er anpackte“ schuldet war – was wiederum eine De-
pression nach sich zog und so weiter. Wenn
was er anpackte. Mit 42 wurde er zum nialer Stratege im Zweiten Weltkrieg; aber Enthusiasmus der Champagner unter
jüngsten Präsidenten der USA – und zum in seinen Hassreden neigte er zu militaris- den Stimmungen ist, dann ist Manie das
lebhaftesten. Auch als Erwachsener krieg- tischer Hysterie, und unter seinem Kom- Kokain.
te er sich zu Weihnachten kaum ein vor mando sollen sogar Gefangene erschossen SPIEGEL: Was sagten Ihre Kollegen, als Sie
Freude über Geschenke. Als am Valen- worden sein. Ihr Psycho-Coming-out hatten?
tinstag 1884 gleichzeitig seine Frau und sei- SPIEGEL: Kann die notorisch gute Laune Jamison: Ein paar Leute waren schockiert,
ne Mutter starben, stürzte er sich umso auch für die Enthusiasten selbst zum Pro- andere sagten nur: „Das habe ich mir
fieberhafter in die Aktivität, schrieb un- blem werden? gleich gedacht!“
zählige Bücher, ging jagen und gründete Jamison: In der Tat, manchmal geht En- SPIEGEL: Was hielten Ihre Patienten davon,
eine Rinderfarm. Grübelei, Zweifel und thusiasmus zu Lasten der Kritikfähigkeit. durch eine manisch-depressive Professo-
Trauer scheint es in seinem Leben nicht Und Enthusiasten können für die Umge- rin behandelt zu werden?
gegeben zu haben. bung anstrengend und belastend sein; ihre Jamison: Die sind damit sehr gut um-
SPIEGEL: Das klingt weniger nach einem ständige Begeisterung geht ihren Mitmen- gegangen. Aber ich habe immer klar ge-
„inneren Gott“ als nach Verdrängung und schen irgendwann auf die Nerven – oder macht, dass ich meine Medikamente neh-
Flucht in die Arbeit. sie verursacht bei den anderen Minder- me und all meine engen Kollegen ein-
Jamison: Enthusiasmus ist ja auch ein zwei- wertigkeitskomplexe. Wer immer gut ge- geweiht habe – für den Fall einer akuten
schneidiges Persönlichkeitsmerkmal. Die- launt erscheint, hat es also nicht unbedingt Manie oder Depression.
se Charaktereigenschaft kann sehr hilfreich leichter. Manche Leute denken: Je lang- SPIEGEL: Sind die vielen Feiertage im Win-
sein – aber auch sehr gefährlich. Einerseits weiliger und zurückhaltender ein Mensch ter eigentlich besonders belastend für ma-
setzt sie viel Energie frei – andererseits auftritt, desto intelligenter und subtiler ist nisch-depressive Menschen?
kann sie auch zu Rücksichtslosigkeit er – nach dem Motto: Stille Wasser sind Jamison: Nein, sogar eher im Gegenteil:
führen, sich und anderen gegenüber. Ge- tief. Daher werden Enthusiasten oft nicht Dezember und Januar sind die Monate mit
neral George S. Patton Jr. zum Beispiel war ernst genommen. Ein britischer Diplomat der niedrigsten Selbstmordrate.
ein mitreißender Kommandeur und ein ge- scherzte zum Beispiel über Roosevelt, als Interview: Hilmar Schmundt

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 119
Szene Kultur
REGISSEURE

„Eine Art Meditation


über den Krieg“
Der britische Oscar-Preisträger Sam Mendes, 40, über seinen
neuen Irak-Film „Jarhead“ und militärische Gewalt

SPIEGEL: Mr. Mendes, haben Sie gedient?


Mendes: Nein. In meiner Schule gab es zwei Sorten junger
Männer: die, die zur Armee und zur Marine gingen – und die
anderen. Ich war einer von den anderen. Andererseits kann ich
mich gut hineinversetzen in Anthony Swofford …
SPIEGEL: … den Scharfschützen des U. S. Marine Corps, auf
dessen Erinnerungen an den Irak-Konflikt 1990/91 Ihr neuer

UIP
Film „Jarhead“ beruht. Regisseur Mendes bei Dreharbeiten zu „Jarhead“
Mendes: Ich habe mich gefragt: Wie kann es sein, dass dieser
skeptische, belesene, reflektierende junge Mann plötzlich als SPIEGEL: Man könnte auch sagen: Sie drücken sich um eine
Soldat mitten in der Wüste landet? klare Haltung. Die US-Soldaten in „Jarhead“ kämpfen kaum,
SPIEGEL: Der Ex-Marine Swofford behauptet, Soldaten sei sondern warten in der Wüste auf den Feind und langweilen sich
der Unterschied zwischen Kriegsfilmen und Anti-Kriegs- dabei fast zu Tode. Ist Ihr Film nicht ein bisschen zu harmlos
filmen herzlich gleichgültig – für sie würden alle diese Fil- angesichts des täglichen Terrors im Irak?
me wie Pornografie wirken. Ist „Jarhead“ ein Porno für Mendes: „Jarhead“ ist eine Art Meditation über den Krieg. Es war
Soldaten? eine große Versuchung für jemanden wie mich, ans Ende des Films
Mendes: Ich glaube nicht, aber es ist ein gefährliches Spiel. die Botschaft zu pappen: „Der Krieg im Irak ist ein verdamm-
Was viele Zuschauer an Kriegsfilmen reizt, ist ja der Kampf – tes Desaster.“ Aber dazu ist das Thema zu kompliziert. Es geht
Explosionen, Schießereien, Tote. Aber „Jarhead“ verweigert eher um universelle Fragen: Warum haben Männer das Verlangen,
eben diesen Thrill. Ein Soldat in meinem Film hat den Kopf des in den Krieg zu ziehen? Welche dunkle Seite in ihnen kommt
Gegners schon durch das Zielfernrohr anvisiert, kann dann da zum Vorschein? Am Ende von „Jarhead“ hat der Zuschauer
aber nicht abdrücken. eben nicht das beruhigende Gefühl, alles ergebe einen Sinn.

IDOLE

Stillleben aus Graceland


K eine tote Berühmtheit verdient mehr als Elvis
Presley. Etwa 45 Millionen Dollar scheffelt der
King derzeit pro Jahr; nicht zuletzt dank Witwe Priscil-
la, Gründerin der Elvis Presley Enterprises. Jüngster
Schachzug der florierenden Firma: ein Dokumentar-
film, natürlich multimedial flankiert, unter anderem mit
einem Bildband, der nun auf Deutsch erschienen ist. In
„Elvis by the Presleys“ (Scherz Verlag) plaudert Priscil-
GLOBE / INTER-TOPICS

la über das abwechslungsreiche Leben mit ihrem Ehe-


mann: „Jeder Tag war anders. Die Nächte ebenfalls.“
HENRY LEUTWYLER, 2005/ ELVIS PRESLEY ENTERPRISES, INC. (L. + R.)

So ist das, wenn der Mann ein Tablettensüchtiger ist.


Das Buch wäre der Rede nicht wert, gäbe es da nicht
die wunderbaren Bilder von Henry Leutwyler.
Wie ein Polizeifotograf, der Beweisstücke eines
Verbrechens registriert, bannt Leutwyler Gegen-
stände aus dem Graceland-Kosmos in verstören-
de Nahaufnahmen. Etwa Elvis’ diverse Waffen
und FBI-Devotionalien, das vergoldete Telefon
und all den ganzen anderen Kitsch, mit dem sich
der depressive Star umgab, bevor er am 16. Au-
gust 1977 starb. Es sind kalte, surreale und sehr
traurige Bilder, die viel mehr über Elvis verraten
als der Sermon der umtriebigen Witwe.

Presley-Familie (1970), Elvis-Devotionalien


d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 121
Szene
L I T E R AT U R T H E AT E R

Erzählung einer Toten Was Frauen


Z wei Männer und eine Frau – eine
zumeist verhängnisvolle Konstella-
tion, manchmal sogar eine tödliche.
Nina Hardy, eine gealterte Stummfilm-
wollen
schauspielerin der frühen zwanziger
Jahre, wird auf dem elterlichen Anwe-
sen von ihrem Gärtner mit einer Gar-
E manzenkrieg und Muttigefühl:
Auf das dauererfolgreiche Solo-
Spektakel „Caveman“, in dem ein
tenschere umgebracht. Dabei ist der sitzengelassener Machotyp mit sei-
Mörder, George, ein Spielkamerad aus nem Schicksal hadert, folgt nun „Ca-
Kindertagen – und außerdem ihr frühe- vewoman – Die Antwort“. Eine
rer Geliebter. Doch unbeschwert ist die weibliche Sicht auf Liebesdinge, die
Beziehung der beiden schon zu Jugend- im schönsten „Desperate House-
zeiten nie gewesen. Als nämlich uner- wives“-Stil den Bräutigam am Hoch-
wartet Gregory, Ninas bis dahin unbe- zeitstag noch einmal in die Einzel-
kannter Halbbruder aus einem vorehe- teile seiner Marotten zerlegt: die
lichen Verhältnis des Vaters, bei ihr Unlust zu reden, seine unsanften
auftauchte, fühlte sie sich weit über Überfälle im Schlafzimmer oder sei-
Geschwistergefühle hinaus zu dem neu- ne Gier nach Sportfernsehen. Auf

VOLKER DERLATH
en Familienmitglied hingezogen. Mit sei- dem Münchner Tollwood Winter-
ner ebenso charmanten wie leichtlebi- festival brachte Ramona Krönke mit
gen Art schlug Gregory dem Gefühlschaos zwischen totaler
Nina in seinen Bann und Verzweiflung über die Andersartig- Krönke
wurde bald ihr Liebha- keit des Mannes und dem gleichzei-
ber Nummer zwei. tigen Wunsch nach mütterlicher Fürsorge für den Schwierigen das Premierenpublikum
Der Ire Neil Jordan, 55, pausenlos zum Lachen. Adriana Altaras hat das Ein-Frau-Stück der Südafrikanerin
ist als Filmemacher Emma Peirson für die deutsche Erstaufführung inszeniert – und dabei geschickt eine
zu Weltruhm gelangt. allzu plumpe Attacke auf die Spezies Mann umgangen.
Mit großartigen Regie-
arbeiten wie „Michael
Collins“ oder „Inter-
view mit einem Vam-
pir“ hat er es in Hol- Kino in Kürze
lywood ganz nach oben
geschafft. Sein Drehbuch für den Film „Herr der Diebe“. Der erste Spielfilm nach
„The Crying Game“ wurde 1993 mit einer Vorlage der Bestsellerautorin Cor-
einem Oscar ausgezeichnet. Auch in nelia Funke erzählt eine märchenhafte
seinem jüngsten Roman „Schatten“ Robin-Hood-Geschichte: Ein 15-Jähri-
beweist Jordan erneut seinen literarisch- ger kommandiert eine Bande von Kin-
WARNER BROS.

künstlerischen Rang. dern, die böse Reiche beklauen, um sich


„Ich weiß genau, wann ich gestorben selbst zu helfen. Doch als zwei Waisen-
bin. Es war um zwanzig nach drei am kinder zu der Gruppe stoßen, die auf
vierzehnten Januar des Jahres 1950“, Szene aus „Herr der Diebe“ der Flucht vor ihren Pflegeeltern und
lauten die ersten Sätze seiner Geschich- einem Privatdetektiv sind, gerät die in-
te, in der er die tote Nina auf ihr Lebens- fantile Gauneridylle in Gefahr. Der rührselig-phantastische Stoff, von Regisseur
drama zurückblicken lässt. Dramatur- Richard Claus mit aller gebotenen Harmlosigkeit inszeniert, dürfte vor allem jungen
gisch geschickt, baut Jordan vor dem Zuschauern gefallen, denen der letzte „Harry Potter“ zu grausam war.
Hintergrund einer idyllischen irischen
Flusslandschaft Spannung auf. Präzise „Yes“ ist ein tolldreistes Liebesirrsinnsmärchen der bri-
führt er den Leser in die Gefühlswelten tischen Regisseurin Sally Potter, die seit „Orlando“
seiner Figuren. Stets mutet der Autor (1992) einen stolzen Ruf als verwegene Außenseiterin
den komplexen Charakteren mehr zu, im europäischen Kunstkino zu verteidigen hat. In „Yes“
als sie ertragen, bürdet ihnen Geheimnis- verliebt sich eine kühle, sexuell frustrierte Politiker-
se auf, an denen sie beinahe zugrunde ge- gattin (Joan Allen) in einen schnauzbärtigen, libanesi-
hen. So gelingt es Jordan in seinem Buch schen Kellner (Simon Abkarian). Geredet wird in
– genau wie auf der Filmleinwand – wie- Versen, genauer: in fünfhebigen Jamben. In durch Farb-
der einmal meisterhaft, sich in morali- filter verfremdeten Arrangements zeigt Potter ihre
schen Grenzbereichen zu bewegen, in de- Liebenden am Strand und im Lotterbett, im Kampf mit
nen sich alle Gewissheiten und Fixpunkte der Fremdheit der jeweils anderen Kultur und im Kon-
ALAMODE FILM

in ständiger Ambivalenz auflösen. trast zu einer gleichgültig-kalten Umwelt. Klar siedelt


die Ballade mitten im Kitsch. Und doch ist sie die wun-
Neil Jordan: „Schatten“. Aus dem Englischen
derbare Beschwörung einer poetischen Kraft, die auf-
von Steffen Jacobs. Berlin Verlag, Berlin; 424 Seiten; zubringen das Kino heutzutage nur selten fähig ist. Szene aus „Yes“
19,90 Euro.

122 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Kultur
POP

Alte Reime
D ass die Spaß-HipHopper Die Fantas-
tischen Vier längst zu Branchen-
veteranen zählen, dokumentiert nun ihre
Werkschau „Best of 1990 – 2005“. Die
präsentiert sich als eindrucksvolle Pio-
niergeschichte der deutschen Rapmusik
und reicht von Gassenhauern wie „Die
da“ bis zu „Troy“. Wie lange die Stutt-
garter schon dabei sind, belegt auch eine
kuriose Beilage der limitierten Erstauf-
lage: In Zeiten von Bonus-DVDs und
speziellen MP3-Downloads gibt es hier Die Fantastischen Vier
als moderne Antiquität eine Bonus-Au-
diokassette, einen Tonträger, der nahezu teilweise auf Englisch – aus der zweiten
ausgestorben ist. Diese „Alter Scheiß“ Hälfte der achtziger Jahre. Doch dafür
betitelte Kassette enthält passende lohnt es sich, die eingemotteten Abspiel-
Frühwerke des reimenden Quartetts – geräte wieder aus dem Keller zu holen.

AU S ST E L L U NGE N

Kastraten gesucht
S ie waren die Popstars des Barock: umworben von der Frauenwelt, verehrt von
ihren Fans; wo sie auftraten, strömten die Massen. Kein Wunder, dass Georg Fried-
rich Händel auf Kastratensänger setzte, als er in London das königliche Opernhaus
aufbaute. Etwa 30 dieser Männer mit den engelsgleichen
Stimmen arbeiteten für Händel. Sie kamen alle aus Italien;
nur dort war die Kastration bis ins 19. Jahrhundert hinein
geduldet. Der Bekannteste von ihnen nannte sich Senesino
und prahlte mit seinem „Baum, der keine Früchte trägt“.
Ein Ölporträt des Sängers, im Besitz eines englischen Earl,
COURTESY OF THE EARL OF MALMESBURY

soll nun erstmals öffentlich ausgestellt werden: Das „Handel


House Museum“ plant für März eine Schau zum Thema.
Allerdings fehlen weitere Bilder. „Wir haben erst drei Ka-
stratenporträts“, klagt Museumsdirektorin Sarah Bardwell.
Sie vermutet, dass andere unentdeckt in Sammlungen
schlummern, und ruft dazu auf, einen genauen Blick auf Öl-
porträts aus dem 18. Jahrhundert zu werfen: „Kastraten wa-
ren oft große Männer mit ungewöhnlich langen Armen und
Senesino-Gemälde Beinen. Als trainierte Sänger hatten sie eine breite Brust.“

SPRACH FORSCHUNG menregion. Von Lautgrenzen – wie zwi-


schen „Brücke“ am Main und „Brucke“
Bayern im „Schnia“ oder „Bruck“ an der Donau – reicht die
Palette bis zu krassen Unterschieden im

W as liegt da weiß auf den Feldern?


Der Wetterbericht nennt es
Schnee. Aber wer durch Bayern reist
Wortschatz: Um Bamberg etwa heißt
die Oma „Fraulein“ und „Fraala“, in
Memmingen „Nähne“, aber südlich von
und genau hinhorcht, wird am Lech Nürnberg plötzlich „Großel“. Was hier
„Schnäa“ hören, in Hof „Schnii“, an- „Mande“ ist und dort „Schwinge“ – ein
derswo wieder „Schnai“ und „Schnia“. geflochtener Holzkorb –, das kennt der
Seit Jahren sind Sprachforscher dieser Nachbar als „Kürbe“ und „Zistel“, aber
Vielfalt auf der Spur. Jetzt haben zwei auch als „Krätten“ oder „Gradsn“. Kun-
von ihnen, Werner König und Manfred terbunt erscheinen die Wörter-Karten
Renn, aus den Resultaten ein Buch zum ausgerechnet beim Thema „Sommer-
Stöbern und Staunen gemacht: Ihr sprossen“: Je nach Herkunft können sie
„Kleiner Bayerischer Sprachatlas“ „Merl“ oder „Schecken“, „Rosen-
(Deutscher Taschenbuch Verlag) zeigt muggen“, „Kuhdreck“, „Sommervögel“,
den sonst scheinbar so einheitlichen „Mückenschiss“ und „Spreckel“, ja so-
Freistaat als wildzerklüftete Vielstim- gar „Märzenrieselein“ heißen.
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 123
FALK HELLER / ARGUM
Reformgegner Kraus: „Es gibt zu viel Duckmäuserei, in der Politik, im Erziehungswesen, auch in der Lehrerschaft“

RECHTSCHREIBREFORM

Hit und Top, Tipp und Stopp


Seit dem 1. August 2005 gilt die neue Rechtschreibung in den meisten Bundesländern als verbindlich, die
Lehrer aber können sie kaum durchsetzen. Die Bevölkerung hat die Reform ohnehin nicht
akzeptiert. In den deutschen Schulen herrschen Unsicherheit, Verwirrung – und kollektiver Ungehorsam.

J
osef Kraus redet freimütig, die Tür Stimmen nebenan. „Kommen S’ doch Außerdem macht er selbst auch nicht alles,
zum Sekretariat steht offen. Natürlich mal herein!“, ruft Kraus ins Sekretariat. was die Kultusbürokratie von ihm verlangt.
müsse er als Deutschlehrer die neuen Ein weißhaariger Mann tritt ins Zimmer. Es So muss er bei seinen Schülern eine bisher
Regeln unterrichten, aber privat schreibe ist Herr Riedel, er unterrichtet Latein und übliche, aber nun veraltete Schreibweise
er so, wie er schon immer geschrieben Englisch. „Wie schreiben Sie eigentlich?“, unterstreichen und mit einem ü für „über-
habe. Er könne nur jeden ermuntern, nicht fragt der Direktor. holt“ versehen. Er müsste das Wort außer-
allen Unsinn mitzumachen. „Ich schreibe alt“, sagt Herr Riedel. dem in der neuen Schreibweise darüber-
Kraus ist Direktor des Maximilian-von- Auch in der Schule? „Auch in der Schule.“ setzen, worauf er aber gern verzichtet.
Montgelas-Gymnasiums im bayerischen Auch an der Tafel? „Auch an der Tafel, Was Kraus und viele seiner Kollegen an
Vilsbiburg, CSU-Mitglied, Schiller-Vereh- auch in Klassenarbeiten. Was schert mich deutschen Schulen treiben, war so nicht
rer, Freizeitsportler mit Spezialdisziplin der ministeriale Unfug aus München.“ vorgesehen.
Steinstoßen und Präsident des Deutschen Josef Kraus brummt zustimmend und Seit dem 1. August vergangenen Jahres
Lehrerverbandes. Seit 26 Jahren bringt er läuft ins Sekretariat. Diesmal bringt er zwei sind die neuen Regeln der Rechtschreibung
bayerischen Schülern Deutsch bei, er junge Mathematiklehrerinnen mit. verbindlich. Eigentlich herrscht nun Recht-
kennt sich aus mit der Sprache, auch mit Sie schrieben „nach bestem Wissen und schreibfrieden in Deutschland – fast 19 Jah-
dem Stand der orthografischen Praxis. Gewissen“, sagen die beiden. Dass schrei- re nach dem Auftrag des Bundesinnenmi-
„Die sogenannte Rechtschreibreform ist ben sie, wenn es sein muss, mit Doppel-s, nisteriums und der Kultusministerkonfe-
ein Kniefall vor der fortschreitenden Le- aber bei Kuß wollen sie auf das ß nicht renz, die Rechtschreibung modernisieren
gasthenisierung der Gesellschaft“, sagt der verzichten. Sie nehmen sich aus den neu- zu lassen; gut 17 Jahre nach Vorlage des
Oberstudiendirektor. Er spricht immer nur en Regeln das heraus, was ihnen gefällt. ersten Reformvorschlags; 10 Jahre nach Bil-
von der sogenannten Rechtschreibreform, „Solange es die Germanisten kaum er- ligung der Rechtschreibreform durch die
er erinnert an Schillers Freiheitswillen und klären können, müssen wir uns auch nicht Kultusminister, die Ministerpräsidenten,
kritisiert: „Es gibt zu viel Duckmäuserei, in kümmern“, sagt eine von ihnen. Direktor das Bundeskabinett. Eigentlich.
der Politik, im Erziehungswesen, auch in Kraus nickt. „Ich kann die doch nicht alle Offiziell ist es so: Seit fünf Monaten gilt
der Lehrerschaft.“ ständig kontrollieren!“, ruft er vergnügt. mit Ausnahme von Bayern und Nordrhein-
124 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Kultur

Westfalen an allen Schulen als Feh- Regeln gelten nun amtlich, die
ler, was nicht den neuen Regeln Verordnungen sind da, Sanktio-
entspricht. Die Entscheidung der nen sind für jene beschlossen, die
Kultusminister, die alte Schreib- ihnen nicht folgen können oder
weise nicht mehr gelten zu lassen, wollen.
nicht mal mehr übergangsweise, Doch etwas Eigenartiges pas-
sollte das vorläufige Ende eines siert: Die Reform ist in Kraft, aber
langen Wegs markieren. Keine Re- die Bürger scheren sich nicht
form wurde länger vorbereitet – drum. Sie schreiben einfach wei-
die Anfänge liegen in der linken ter wie gehabt. Im Alltag sowieso,
Reformpädagogik und Sprachkri- da könnte man noch sagen, sie
tik der siebziger Jahre –, keine lei- wissen es nicht besser; aber auch
denschaftlicher diskutiert. Man in den Schulen, den Behörden,
könnte auch sagen, bei keiner an- der Wirtschaft. Selbst dort, wo der
deren Reform hat sich die Staats- Staat Durchgriffsmacht hat, kann
macht so weit vorgewagt. er seine Regeln für die Sprache
Mit der Rechtschreibreform hat nicht durchsetzen. Oder nur halb.
die Politik ein Regelwerk be- So löst sich die Reform von un-
schlossen, das die Bürger nicht ge- ten auf.
fordert hatten. Sie hat sich daran Wenn schon viele Lehrer nicht
gemacht, die Schriftsprache zu er- überzeugt sind, die mit der Spra-
neuern, obwohl die Deutschen kei- che von Berufs wegen umgehen,

BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO


nen Erneuerungsbedarf hatten. Sie kann man von der Bevölkerung
hat sich eines Bereichs bemächtigt, kaum mehr Enthusiasmus erwar-
für den sie gar nicht zuständig ist. ten. Nach einer Umfrage des Mei-
Die Reformer gingen dabei vor, nungsforschungsinstituts Allens-
als müssten sie eine neue Straßen- bach vom Juli 2005 sprechen sich
verkehrsordnung erlassen. Alles nur 8 Prozent der Deutschen für
sollte einfacher, übersichtlicher, lo- Gymnasiasten (in Frankfurt am Main) das neue Regelwerk aus, 61 Pro-
gischer werden. Sie schnitten weg, Aus den neuen Regeln sprießen neue Fehler zent sind dagegen, 31 Prozent un-
was ihnen überflüssig erschien, sie entschieden oder gleichgültig. Die
zeigten wenig Respekt für das Gewachse- Schreibung üblich ist, bekommt das Wort Zahl der Befürworter sinkt seit Jahren, viel
ne. Doch die Sprache ist keine Straßen- als falsch angestrichen, so steht es jeden- weiter geht es nicht mehr. Selbst das Do-
verkehrsordnung. Sie ist ein sehr komple- falls in den ministeriellen Verfügungen. senpfand war bei seiner Einführung po-
xes, häufig widersprüchliches, manchmal Wer Hit und Top konsequenterweise mit pulärer.
staunenswertes Gebilde, das sich über die Doppel-t beziehungsweise Doppel-p Es ist kein organisierter Widerstand,
Jahrhunderte entwickelt hat, ohne immer schreibt, liegt allerdings auch daneben. kein lauter Protest mehr, der dem Reform-
klaren, jedermann einsichtigen Regeln zu Hier hat sich nichts verändert, das muss projekt seine Legitimität raubt, es ist eher
folgen. Wer sich an ihr zu schaffen macht, man halt wissen. ein allgemeiner Ungehorsam im Alltag.
stößt schnell auf Widerstände. Als falsch gelten nun auch Begriffe wie Das macht es für die Sprachregulierer und
Die Neuordnung hat 30 Gerichtsverfah- Schwarzes Brett (neu: schwarzes Brett) ihre Vollzugsorgane, die Ministerialbüro-
ren überstanden, mehrere Volksbegehren oder Schwarzer Tod (neu: schwarzer Tod). kratie, die Kultusbehörden, die Amtsver-
und einen Volksentscheid, die Anrufung Der Schwarze Kontinent und das waltungen, so schwer, nun einzugreifen.
des Bundesverfassungsgerichts. Hunderte Schwarze Meer bleiben erhalten. Bei einer Der Schriftsteller Hans Magnus Enzens-
Verleger und Schriftsteller, darunter die Li- Erkältung muss man sich jetzt die Nase berger konstatiert erfreut einen weitver-
teraturnobelpreisträger Günter Grass und schnäuzen (bisher schneuzen), obwohl das breiteten und sich weiter verbreitenden
Elfriede Jelinek, haben protestiert, meh- menschliche Riechorgan eher in Notfällen „zivilen Ungehorsam“. Von „kollektiver
rere Zeitungen und Zeitschriften, darunter Schnauze genannt wird. Aber die neuen Unfolgsamkeit“ spricht der ehemalige
der SPIEGEL, die Rückkehr zur bayerische Kultusminister Hans
herkömmlichen Schreibweise ver- Kritiker Reich-Ranicki: „Eine Katastrophe“ Zehetmair, der über die Jahre vom
langt. „Unzweifelhaft eine Kata- Befürworter zum Kritiker der Re-
strophe“ nennt der Literaturkriti- form wurde, auch er meint das an-
ker Marcel Reich-Ranicki die Neu- erkennend.
regelung. Es ist nicht so häufig, dass sich
Nichts hat die Reform bisher zu die Deutschen auflehnen gegen
Fall bringen können. Es sah nach das, was ihnen von oben verord-
einem Sieg für die Befürworter aus; net wird. Das obrigkeitsstaatliche
für das Mannheimer Institut für Denken hat eine lange Tradition;
Deutsche Sprache, wo sich alle Jah- oder, freundlicher formuliert, die
re wieder die „Kommission für Deutschen sind ein sehr geduldi-
Rechtschreibfragen“ traf, für die ges Volk. So gesehen hat der Wi-
Kultusministerkonferenz, die allen derstand auch etwas Tröstliches.
Einwänden zum Trotz dafür sorgte, Die Reformer hatten gedacht,
dass in Deutschland das Quentchen dass sich die Bürger nach anfäng-
zum Quäntchen wurde und num- lichen Protesten fügen würden.
merieren sein zweites m bekam. Nun wissen sie nicht, was sie tun
OLAF BALLNUS

Wer seit dem neuen Schuljahr sollen. Sie haben einen Rat für
Tipp und Stopp nur mit einem p deutsche Rechtschreibung einge-
schreibt, wie es in der bewährten richtet, um Entgegenkommen zu
125
Kultur

zeigen. Sie hatten gedacht, das Gremium, Die Reformer haben immer auf Zeit ge- Leipziger Erziehungswissen-
dem 39 Mitglieder angehören, werde es spielt. Als die Kultusminister die neue Or- schaftler Harald Marx hat in
bei einigen Korrekturen und allgemeinen thografie erstmals auf den Lehrplan set- einer mehrjährigen Ver-
Empfehlungen belassen. Aber auch hier zen ließen, sagten sie, es sei zur Probe. gleichsstudie festgestellt, dass
haben sie sich verrechnet. Dann, nach Ende der Testzeit, hieß es, nun bei der s-Schreibung durch
Siebenmal hat der Rat getagt, zuletzt sei es zu spät zur Umkehr. die neuen Regeln sogar un-
Ende November 2005, und was er an Emp- Seit gut sieben Jahren wird die neue gleich mehr Fehler gemacht
fehlungen erarbeitet hat, läuft immer wie- Rechtschreibung in den Schulen gelehrt, werden.
der auf einen Rückbau der Reform hinaus. in einigen sogar schon seit neun; bald ver- Die liberalisierten Kom-
Nach den bisherigen Vorschlägen sollen lassen die ersten Realschüler ihre Schule, maregeln sind vor allem für
die alten Komma- und Worttrennungsre- die nie etwas anderes gelernt haben, als schwächere Schüler zu ei-
geln in vielen Fällen wieder möglich wer- Stengel mit ä zu schreiben. Aber vielleicht nem Problem geworden.
den. Auch die großgeschriebene Anrede stimmt das Argument gar nicht, dass die Weil sie weniger Zeichen set-
in Briefen, das „Du“, soll wie früher gel- Schüler an den neuen Regeln hängen, weil zen müssen, machen sie im
ten. Im Februar steht die nächste Sitzung ihnen die alten fremd sind. Womöglich täte Aufsatz auch weniger Fehler.
an, da wird es um die Groß- und Klein- man ihnen einen Gefallen, wenn man sie Doch können sie beim Lesen
schreibung gehen, auch dabei sollen nach von der neuen Groß- und Kleinschreibung längere Sätze nicht mehr
der Vorstellung des Ratsvorsitzenden Ze- befreien würde oder von den derzeit gel- verstehen, da sie wegen der
tenden Regeln zum Zusammen- und fehlenden Zeichen die Sinn-
Getrenntschreiben. einheiten nicht erkennen.
Arndt-Gymnasium, Berlin, ein Sie beginnen zu stottern
später Vormittag im Herbst. Ein Leis- und müssen den Satz erst
tungskurs Deutsch diskutiert die einmal in seine Bestandteile
Rechtschreibreform. Die Stimmung zerlegen.
ist missmutig, gelegentlich auch re- Viele Lehrer wissen selbst
bellisch. nicht mehr so genau, was
„Das ist doch alles schwachsin- nun gilt und was nicht. Vier-
nig“, empört sich ein Schüler. „Die mal wurde die Reform seit
Regeln sind willkürlich“, sagt ein an- der Vorstellung der Umbaupläne vor zehn
derer. Es gibt Zwischenrufe. „Nichts Jahren wegen offensichtlicher Mängel
ist verbessert worden“, „Die Umset- überarbeitet, mit jeweils erstaunlich wi-
zung der Reform ist skandalös“, dersprüchlichen Ergebnissen. Das Wort
„Warum wurde keine Reform aus ei- unheilbringend musste der Duden in seiner
nem Guss gemacht?“ ersten Reformausgabe 1996 zu Unheil brin-
„Die Schüler sind vollkommen gend umbauen, während er heilbringend
desorientiert“, meint die Deutsch- beibehalten konnte. Im Duden 2000 aber
lehrerin Heidrun Brügger nach der wurde neben heilbringend auch Heil brin-
Schulstunde. Einerseits sei das neue gend zugelassen und im Duden 2004
PETER SCHINZLER

Regelwerk tolerant, zum Beispiel bei schließlich unheilbringend neben Unheil


den Kommaregeln, andererseits gehe bringend.
es wie bei der Groß- und Klein- „Die neuen Regeln sind so kompliziert,
schreibung sehr streng zu. und es ist nicht besser geworden“, sagt Fe-
Schriftsteller Enzensberger Auch zwei Schreibweisen für ein lizitas Liemersdorf, Leiterin der Katholi-
„Ziviler Ungehorsam“ und dasselbe Wort führen zur Ver- schen Grundschule Mainzer Straße in
wirrung. Dass Schüler entscheiden Köln. Liemersdorf war lange für die Re-
hetmair „unsinnige Schreibweisen“ wie- können zwischen Portemonnaie (alt) oder form, auch noch, als die ersten Proteste
der in die alte Form gebracht werden. Portmonee (neu), macht es ihnen nicht kamen. Für die Erstklässler hat sie zum
Je länger die Kultusminister eine Ent- leichter. „Schreibt einfach Geldbeutel“, rät Schulbeginn ein Transparent mit der Auf-
scheidung zur Reform der Reform auf- die Lehrerin der Klasse.
schieben, desto schwieriger wird ihr Stand. Aus den neuen Regeln sprießen neue
Weil die alten Regeln offiziell nicht mehr
gelten, die neuen aber nicht wirklich,
Fehler. Die Reform-Orthografie wird auf
Wörter angewendet, wo sie nichts zu su-
Die unendliche Reform
herrscht Konfusion. Die Einheit der chen hat. Die ss-Schreibung nach kurzem
Schriftsprache ist zerstört, selbst Wider- Vokal (Hass, Fluss, dass) verleitet dazu, irr-
„1. Wiener Gespräche“: Fachleute aus beiden
sinniges scheint richtig. Es ist genau das tümlicherweise auch Hinderniss oder Er- deutschen Staaten sowie Österreich und der
eingetreten, was mit der Entscheidung, die kenntniss zu schreiben. Und weil das Dop- Schweiz treffen zu Fragen der Rechtschreib-
Neuregelung verbindlich zu machen, ver- pel-s in der neuen Schreibung häufiger vor- reform zusammen. Ihr Ziel: Die Orthografie soll
hindert werden sollte. kommt als in der alten, wird es fälschlich „den heutigen Erfordernissen angepasst werden“.
앰 auch Wörtern wie ausser, Fleiss oder
Preussen übergestülpt, richtig ist in diesen
Die Schule ist der Ort, an dem sich die Fällen nach wie vor das ß. „3. Wiener Gespräche“: Der ausgearbeitete
Reform entscheidet. Niemand kann dem Das Schreiben zu vereinfachen, den Zu- Reformvorschlag wird – mit einigen Änderun-
Einzelnen verwehren, sich der neuen Sil- gang zur Sprache zu erleichtern, das waren gen – von den nationalen Fachkommissionen
bentrennung zu verweigern, hier endet die die zentralen Versprechen der Reform. Sie angenommen.
Verfügungsgewalt des Staates. Aber man durchziehen die Aufsätze und Werbe-
kann dem Kind eintrichtern, dass nach an- schriften für eine Neuregelung bis heute.
deren Silben getrennt wird, also Zu-cker Viele Pädagogen sind mittlerweile davon In Deutschland erklärt sich die Kultusminister-
statt Zuk-ker, aber auch Tee-nager statt überzeugt, dass die Reform nicht zu weni- konferenz nach Protesten aus Politik und
Teen-ager. ger Rechtschreibfehlern geführt hat. Der Gesellschaft zu einer Überarbeitung bereit.

126 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
ben. Eine „zu frühe Fest-
legung entspräche nicht
dem Sprachusus“, Spielräu-
me „sollten großzügig und
flexibel“ genutzt werden,
heißt es in internen Schrei-
ben an die Berliner Schulen.

Herbstlicht durchflutet die
Kölner Buchhandlung „Der
andere Buchladen“, es ist
Nachmittag, nicht viel los.
Die Buchhändlerin zieht
einen gelben Duden aus
der Reihe der Nachschla-
gewerke und reicht ihn ei-
nem Kunden.
Der hatte nach einem
Wörterbuch auf dem neues-
ten Stand gefragt. Die Buch-

SCHULLER / SÜDD. VERLAG


händlerin hatte das Gesicht
verzogen und gesagt: „Wer
weiß schon, was der neueste
Stand ist.“
Auf dem Duden klebt ein
rotes Schild. „Neu“ steht
Grundschule Mainzer Straße in Köln: „Ich weiß schon selbst nix mehr“ darauf. Der Kunde freut sich.
„So neu ist er nicht“, sagt die
schrift „Herzlich willkommen!“ über den sich Diskussionen zu ersparen, und hu- Buchhändlerin. „Und alle Veränderungen
Eingang gehängt. Ob willkommen nach schen über die Bereiche hinweg, die ihnen sind da auch nicht drin.“
den neuen Regeln nicht groß geschrieben zu kompliziert erscheinen. „An den Schu- „Und jetzt?“
werden müsse, hatten ein paar Lehrer ge- len wird einer allgemeinen Trial-and-error- Die Buchhändlerin greift nach einem
fragt. „Wir haben den Überblick verloren“, Wahnsinnsstrategie gefolgt“, sagt Harald schweren roten Buch. „Wahrig“ steht dar-
stellt die Rektorin fest. Junge, Schulleiter des Kölner Humboldt- auf. „Das aktuelle Standardwerk auf der
„Eine Katastrophe“, kommentiert ihre Gymnasiums. Grundlage der neuen amtlichen Regeln“.
Kollegin Anne Meins, seit 26 Jahren ist sie Bis heute sprechen die Kultusminister „Sommer 2005“, sagt die Händlerin.
Grundschullehrerin, und stutzt. „Wird Ka- von einer „problemlosen“ Einführung der „Auf dem neuesten Stand?“
tastrophe mit ph oder f geschrieben?“, Rechtschreibreform, aber sie weigern sich, „Nicht wirklich“, seufzt die Buchhänd-
fragt sie sich und lacht: „Ich weiß schon den angeblichen Erfolg wissenschaftlich un- lerin und erzählt von anstehenden Kor-
selbst nix mehr!“ tersuchen zu lassen. In Wahrheit beginnen rekturen, von Arbeitsgruppen und Kom-
Ein Teil des Lehrpersonals würde die nicht nur die Schulen, das leckgeschlagene missionen, Kultusministern und Wörter-
Rechtschreibung im Unterricht am liebsten Rechtschreib-Schiff zu verlassen. Auch in listen. Am Schluss zuckt sie mit den
ausfallen lassen, aber das geht natürlich den unteren Ebenen der Kultusbürokratie Schultern: „Bei der Reform waren jahre-
nicht, also wird improvisiert. Die Deutsch- macht sich die Erkenntnis breit, dass der lang Dilettanten am Werk.“
lehrer legen sich eigene Leitlinien zurecht, Kahn nicht mehr lange zu halten ist. Das Schreibchaos hat den kompletten
stricken sich Faustregeln. Manche gucken Die Berliner Senatsverwaltung hat die Buch- und Zeitschriftenmarkt erfasst. Ein
bei den Schülern nicht so genau hin, um ersten Signale zum Absprung schon gege- Teil der Verlage setzt bei Romanen, Sach-

„Wiener Absichtserklärung“: Vom Bei einem Volksentscheid Der Kieler Landtag beschließt Die meisten der 16 Ministerpräsidenten
1. August 1998 an sollen die neuen in Schleswig-Holstein vo- die Wiedereinführung der wollen, wie von den Kultusministern
Regeln in Schulen und Behörden tieren 56,4 Prozent gegen neuen Rechtschreibung an beschlossen, die neuen Regeln zum
gelten. Alte Schreibweisen werden die neuen Schreibregeln. den Schulen des Landes. Die 1. August 2005 verbindlich einführen.
bis August 2005 geduldet. Folge: An Schleswig- „sprachliche Isolation“ der
Holsteins Schulen muss Schüler soll beendet werden.
nach den alten Regeln Der Rat für deutsche Rechtschreibung
Das Bundesverfassungsgericht weist unterrichtet werden. konstituiert sich in Mannheim. Die Exper-
die Beschwerde Lübecker Eltern ab: Die „Frankfurter Allgemeine“ tengruppe soll zu besonders strittigen
Die Neuregelung sei kein Verstoß kehrt als erste Zeitung zur Punkten Empfehlungen abgeben. Bis
gegen die Grundrechte. Die deutschen Minister- alten Rechtschreibung zu- zum Frühjahr 2006 will der Rat sämtliche
präsidenten beschließen, rück. Wenig später folgt der Vorschläge vorgelegt haben.
trotz des Volksentscheids Deutsche Hochschulverband
Die Reform tritt offiziell in Kraft. In in Schleswig-Holstein mit seinem Schriftverkehr.
Deutschland, Österreich, der Schweiz an der Recht- 2004 stellt auch das In 14 Bundesländern soll jetzt die alte
und Liechtenstein wird an allen schreibreform Verlagshaus Axel Schreibweise als Fehler gewertet werden.
Schulen nach den neuen festzuhal- Springer auf die alte Bayern und Nordrhein-Westfalen wollen
Rechtschreibregeln ten. Schreibweise um. die verbindliche Einführung um ein Jahr
unterrichtet. verschieben.

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 127
Kultur

büchern, Zeitungen und Zeitschriften auf lich peinlich. Sie versucht zu retten, was zu seitdem eigentlich immer gewesen. Die Ko-
die bewährten Schreibformen, ein anderer retten ist, und liefert neben dem großen difizierung der Rechtschreibung folgte der
auf die Neuregulierung, teils mischen die Wörterbuch ein kleines Taschenbuch mit Schreibpraxis, die Wörterbücher sanktio-
Verlagshäuser beide Varianten zu einer ei- eigenen Empfehlungen, von denen sich ei- nierten den Usus, das galt für das „Grimm-
genen Hausorthografie, die schon beim nige wie eine nachträgliche Distanzierung sche Wörterbuch“, und das galt auch für
Konkurrenten ganz anders aussehen kann. zu der Reform lesen, die die Duden-Re- den Duden. Für die Abstimmung der letz-
Durcheinander herrscht auch in deut- daktion lange selbst befördert hat. ten Rechtschreibreform, im Jahr 1901,
schen Gesetzbüchern, sogar innerhalb ein- Es müsse endlich mit dem „häufigen genügte eine dreitägige Konferenz.
zelner Paragrafen. Zivilprozeßordnung Wechsel von Schreibweisen“ Schluss ge- Die modernen Grammatiker sind ambi-
und Zivilprozessordnung, Beweisbeschluß macht werden, heißt es im Vorwort. Auf tionierter. Ihnen reicht es nicht mehr, dem
und Beweisbeschluss stehen da wild ne- dem Buchrücken warnt der Verlag in Rot: Volk beim Schreiben auf die Finger zu se-
beneinander. Nach Meinung des Lekto- „Nicht für die Fehlerkorrektur im Unter- hen, um anschließend daraus ihre Schlüs-
ratsleiters für deutsche Gesetzbücher aus richt geeignet“. So zweifelt Deutschlands se zu ziehen. Sie wollen selbst gestalten.
dem Verlag C. H. Beck, Johannes Was- wichtigstes Wörterbuch an sich selbst. Sie wollen die Regeln vorgeben, nach de-
muth, gehen die unterschiedlichen Schreib- 앰 nen sich der Gebrauch richten soll. Der
weisen in die Tausende. Anstoß für diesen Regelungsehrgeiz geht
Selbst die Bibel ist ins Räderwerk der Dieter Nerius sitzt in einem Hochhaus, zurück in eine Zeit, als man dem Staat
Reform geraten. Die beiden großen kon- das früher der Stasi gehörte. Heute ist dar- noch alles Mögliche zutraute und die
fessionellen Verlage, das Katholische Bi- in die Universität Rostock untergebracht. Schriftsteller mit der Großschreibung auch
belwerk und die Deutsche Bibelgesell- Nerius trägt Jeans, ein graues Jackett und das Großkapital erledigen wollten. Dieter
schaft, bieten die Heilige Schrift in alter eine graue Krawatte. Auch sein Stoffta- Nerius ist einer der Hauptvertreter dieses
und neuer Schreibung an. schentuch ist grau. Er hat Zeit, die meiste Zweiges der Linguistik, er war bis zum ver-
Allerdings setze man die neuen Regeln Arbeit liegt hinter ihm. Auf dem Boden gangenen Jahr auch einer der Anführer
nur in „gemäßigter Form“ um, sagt der stehen zwei Dutzend Kartons, gefüllt mit der Rechtschreibreformer.
Geschäftsführer des Verlags Katholisches den Materialien eines abgeschlossenen Als junger Professor machte sich Nerius
Bibelwerk, Jürgen Schymura: „Die Bibel Forschungsprojekts über die Entwicklung zum ersten Mal daran, die Schriftsprache
muss nicht alles mitmachen.“ Den neuen der Großschreibung in Deutschland. „in Richtung auf eine optimale Funktions-
Regeln konsequent folgen hieße, den „Zu- „Die Großschreibung ist zwischen 1530 erfüllung“ zu trimmen, das war 1974 und
gang und den Sinn der Bibel verstellen“. und 1600 entstanden“, erklärt der Linguis- der Auftraggeber die Akademie der Wis-
Der Duden-Redaktion, die die amtlichen tikprofessor. Sie habe sich aus dem Schrift- senschaften der DDR. Deutsch sollte leich-
Regeln verbreitet und damit zur allgemei- gebrauch entwickelt, erst Jahre später hät- ter zu lernen und einfacher zu lesen sein.
nen Verwirrung beiträgt, ist diese Auflö- ten Schriftgelehrte die Regeln dazu er- Wenige klare Regeln auf alle Fälle der
sungstendenz der Schriftsprache offensicht- forscht und zu Papier gebracht. So ist es Schreibung übertragbar, keine Ausnah-
der Schweiz. In der 1977 am wird auch die Verteilung des Eigentums
Mannheimer Institut für deutsche nicht in Frage stellen“, philosophierte der
Sprache gegründeten „Kommis- Duisburger Sprachwissenschaftler Siegfried
sion für Rechtschreibfragen“ war Jäger.
Nerius stellvertretender Vorsitzen- Im Nachhinein scheint es etwas verwe-
der, neben dem Germanistikpro- gen, von der Beseitigung des ß einen Um-
fessor Gerhard Augst von der Uni- sturz der gesellschaftlichen Verhältnisse zu
versität Siegen als Leiter. erwarten, aber dass die Rechtschreibung
Denn auch in der Bundesrepu- zur kulturellen Tradition gehört und da-
blik hatte der linke Reformopti- mit eher temperierend wirkt, ist so falsch
mismus nach der Politik- und So- nicht. Wer den neuen Menschen formen
zialwissenschaft die Pädagogik und will, muss ihn von seinen Traditionen ent-
Linguistik erfasst. Rechtschreib- fremden, auch darum sollte die Erinnerung
kritik war Gesellschaftskritik. Bil- an das gewohnte Schreibbild gelöscht wer-
dungsfernen Schichten sollte mit den. Wenn es nach dem Willen der dama-

KARSTEN SCHÖNE
einer radikalen Vereinfachung der ligen Reformer gegangen wäre, würden
Schriftsprache eine Barriere in ih- heute Sätze geschrieben werden wie: Der
rer Bildungskarriere genommen keiser fehrt im bot und isst mit dem apt al
werden, die gängige Orthografie und opst. Nur mit der „Distanzierung von
Kölner Schulleiterin Liemersdorf galt umgekehrt als reaktionär, als kulturellen Bindungen“ könne die beste-
„Wir haben den Überblick verloren“ Herrschafts- und Unterdrückungs- hende Gesellschaft überwunden werden,
instrument. Was für die Ökobewe- dozierte der Erziehungswissenschaftler
men. Ein rationales System, frei von bil- gung der Atommeiler, das war für die Wolfgang Lempert.
dungsbürgerlichem Ballast einer aufge- Rechtschreibreformer die Großschreibung. Tatsächlich ist die Rechtschreibreform
blähten Duden-Orthografie. Mit dem „rohrstockersatz“ Rechtschrei- so zeitgebunden wie Abba und Glocken-
Nerius war Reisekader, die DDR war bung wollten die „ewig-gestrigen“ ein Ge- hosen, und wie diese wäre sie auch in die
stolz auf ihre Wissenschaftler, die auch im sellschaftssystem zementieren, dessen Geschichte versunken, wenn sich nicht die
Westen hochangesehen waren. Aus Ros- Kennzeichen der „anale zwangscharakter“ Ministerialbürokratie des Projekts ange-
tock und Ost-Berlin kamen die Spezialisten sei, befanden die revolutionär gutge- nommen hätte.
für Silbentrennung und für Groß und stimmten Teilnehmer des Frankfurter Dort wurde erst die radikale Klein-
Klein. Bald saß Nerius überall in Gremien GEW-Kongresses „vernünftiger schreiben“ schreibung kassiert, dann fiel der „keiser“,
und Kommissionen, zusammen mit Kolle- 1973. „Wer zu glauben gelernt hat, dass bald darauf das „opst“. Im Institut in
gen aus der Bundesrepublik, Österreich, bei brauchen immer ein ‚zu‘ stehen muss, Mannheim schrieben sie neue Varianten,
Kultur

waren Gabriele Ahrens, Se- Regeln gelten sollen, sei es fraglich, ob die
kretärin, und Carsten Ahrens, Wörterbücher die Reform überhaupt rich-
Professor für Bauwesen an der tig deuteten.
Fachhochschule Oldenburg, für Josephine und ihre Eltern könnten zu-
ihre Tochter vor das Verwal- frieden sein. Ihnen wurde recht gegeben.
tungsgericht Hannover gegen das Aber recht bekommen haben sie den-
Kultusministerium gezogen – und noch nicht. Sie hatten erneut eine einst-
bekamen in einem Eilverfahren weilige Anordnung beantragt, in Josephi-
recht. Der damalige niedersäch- nes Klassenzimmer die alte Rechtschrei-
sische Kultusminister Rolf Wern- bung gelten zu lassen. Diese jedoch wollten
stedt legte beim Oberverwal- die Richter nicht erteilen, weil sie keine
tungsgericht Lüneburg Be- „wesentlichen Nachteile“ für das Kind
schwerde ein. Und unterlag ein erkennen konnten, wenn es bis zur end-

CLAUDIA SCHIFFNER
zweites Mal. gültigen Entscheidung wie gehabt unter-
Die Richter zweifelten unter richtet wird.
anderem sein Recht an, eine so Nun muss die Familie Ahrens auf das
wesentliche Entscheidung wie abschließende Urteil warten, damit aber
Kläger-Familie Ahrens: „Das grenzt an Zynismus“ den Eingriff in die Orthografie sei vor „Ende der Schulzeit der Antrag-
per Erlass zu verordnen. So et- stellerin“ nicht zu rechnen, heißt es in dem
auch wenn längst klar war, dass von der was dürfe nur ein Parlamentsgesetz re- Beschluss.
schönen Idee eines einheitlichen, in sich lo- geln. Gerhard Schröder, damals Minister- Das Gericht wolle über das Recht nur
gischen Regelwerks nicht viel bleiben wür- präsident in Hannover, stoppte die Neu- sprechen, es aber nicht durchsetzen, sagt
de. Es gelang Nerius und seinen Kollegen, regulierung für alle Schulen und Behörden Josephines Vater. „Das grenzt an Zynis-
die Trennregeln zu erhalten, die Vereinfa- im ganzen Bundesland. Es sah so aus, als mus. Wir werden moralisch gestärkt, kön-
chung der Kommasetzung, die Eindeut- ob die Reform zum Stehen gebracht wor- nen aber mit diesem Beschluss nichts an-
schung bestimmter Fremdwörter. Wenn den wäre, bevor sie den Alltag erreichen fangen.“
man weiß, wo man suchen muss, findet konnte. Das Bild des Widerstands gegen die
man überall in der Reform noch ideologi- Doch dann entschied das Bundesver- Neuregulierung der deutschen Recht-
sche Schlacken. fassungsgericht im Sommer 1998, dass schreibung gleicht einem Kriegsgemälde,
30 Jahre hat Nerius für die Rechtschreib- das neue Regelwerk sehr wohl durch einen bei dem es zur großen Entscheidungs-
reform gestritten, 2004 war für ihn Erlass in Schulen und Behörden einge- schlacht nie gekommen ist. Das Bild er-
Schluss. Dem Rat für deutsche Recht- führt werden dürfe. Die Verfassungsrich- zählt von Gefechten, die in regelmäßigen
schreibung, der nun über weitere Korrek- ter machten somit den Weg für die Re- Intervallen mal hier, mal dort im Land aus-
turen berät, gehört er nicht mehr an. Er form frei. getragen wurden; von kleinen Scharmüt-
will nicht dabei sein, wenn sein Werk zer- Die Entscheidung aus Karlsruhe gilt heu- zeln, die immer wieder zeitgleich auf-
fleddert wird. te als höchst zweifelhaftes Urteil. Namhaf- flammten; und von partisanenartigen
Eine große Mehrheit werde man für Ver- te Rechts- und Sprachwissenschaftler wie- Attacken Einzelner, die mehr oder weniger
änderungen nie finden, sagt der Professor. sen dem höchsten deutschen Gericht logi- mediale Aufmerksamkeit finden.
Er glaubt, dass sich das Unbehagen über- sche Fehler nach und ein geradezu blindes Zehn Jahre dauert dieser Krieg schon.
winden ließe, vielleicht noch nicht in einer Vertrauen in die Auskünfte der reformwil- Es gibt keinen Sieger, aber es gibt viele
Generation, aber dann in der nächsten. ligen Kultusminister zu sprachwissen- Verlierer. Wer sich in einer der zahllosen
Nerius denkt in großen Zeiträumen, histo- schaftlichen Fragen. Trotzdem folgte das Bürgerinitiativen engagiert hat, für Pro-
rische Umwälzungen gelingen nicht über Oberverwaltungsgericht Lüneburg im testbriefe, Appelle, Petitionen, für Volks-
Nacht. Es ist ein Experiment. Und wenn es Hauptsacheverfahren im Juni 2001
schiefgeht, wenn sich auch nach 10 oder 20 entgegen seiner Eilentscheidung
Jahren herausstellt, dass die Reform im- den Karlsruher Richtern.
mer noch nicht angenommen wurde? Das ist der Stand, als Josephine
„Dann muss zurückgerudert werden“, sagt Ahrens Post aus Lüneburg be-
Nerius. „Das Volk ist der Souverän.“ kommt vom 13. Senat des Nieder-
앰 sächsischen Oberverwaltungsge-
richts, insgesamt 21 Seiten. Es ist
Plattes Land zwischen Bremen und Ol- eine richterliche Stellungnahme
denburg, hohe Kastanienalleen, dazwi- gegen die Rechtschreibreform, ge-
schen ein altes Bauernhaus aus Backstein gen die Art und Weise ihrer Ein-
und Fachwerk. Das Mädchen, das die Jus- führung, gegen die Urheber.
tiz gegen die Rechtschreibreform in Stel- Die Richter schreiben, dass in
lung gebracht hat, ist 16 Jahre alt, heißt Josephines Schularbeiten die „her-
Josephine Ahrens und besucht die 11. Klas- kömmliche Rechtschreibung nicht
se eines Oldenburger Gymnasiums. beanstandet, das heißt als falsch
Josephine war ungehorsam. Sie hat ge- gewertet“ werden dürfe. Die „all-
gen das Kultusministerium geklagt und für gemeine Akzeptanz“ des Reform-
das Recht, weiter ungehorsam sein zu dür- werks sei „durchaus zweifelhaft“,
fen. Sie will in der Schule schreiben, wie in schreiben die Richter weiter. So
vielen Büchern und Zeitungen, die sie liest, würden die alten Regelungen in
URBAN ZINTEL

geschrieben wird – nach den bewährten Presse und Literatur nach wie vor
Regeln. Ohne dass ihr dafür Fehler ange- gelten, „erhebliche Teile im deut-
rechnet werden. schen Volke“ lehnten die Reform
Josephine und ihre Eltern gingen nicht ab. Weil es bis heute keinen ab- Ratsvorsitzender Zehetmair
zum ersten Mal vor Gericht. Schon 1997 schließenden Stand gebe, welche Korrekturarbeit als Wiedergutmachung
130 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
FRANK DARCHINGER
Kultusministerkonferenz (2004): Es gibt keinen Sieger, aber es gibt viele Verlierer

begehren oder Volksentscheide, hat das Jahrelang schlug der niedersächsische Stoiber sollte nicht glauben, als ehemaliger
Gefühl, von der Politik nicht ernst ge- CDU-Oppositionsführer eine Bresche für Kanzlerkandidat immer noch der Erste un-
nommen zu werden. Erst haben die Poli- die Reformkritiker und versprach, das ter den Unionsländerfürsten zu sein.
tiker die Reform auf den Weg gebracht, „verfehlte“ Vorhaben „so weit wie nur Außerdem lag ihm sein Kultusminister in
dann haben sie sich jahrelang nicht möglich zu korrigieren“, sollte er erst ein- den Ohren, der von seinen Kollegen in der
gekümmert, und als klar wurde, was sie mal an der Macht sein. Kultusministerkonferenz kräftig geschuri-
angerichtet hatten, wollten sie nichts mehr Als Ministerpräsident forderte Wulff, gelt worden war. Bernd Busemann wollte
damit zu tun haben. den „Knoten zu durchschlagen“ und als- sich nicht wieder deren Zorn aussetzen
„Sehr geehrter Herr Bundesinnenminis- bald zur bewährten Rechtschreibung und Wulff seinen Busemann nicht hängen
ter, wir haben die Kultusminister unserer zurückzukehren. Politik müsse in der Lage lassen. So endete der Widerstand des Lan-
Bundesländer aufgefordert, die Zustim- sein, „Fehlentscheidungen zu widerrufen. des Niedersachsen.
mung zur Inkraftsetzung der neuen Recht- Hierin zeigt sich wahre Größe“, schrieb 앰
schreibregeln nicht zu erteilen. Wir bitten der Regierungschef im Herbst 2004.
hiermit Sie, sehr geehrter Herr Innen- Die Stunde, Größe zu zeigen, sollte Die Kultusminister haben die Überar-
minister, bezüglich der Entscheidung für Wulff im Juli 2005 kommen, als er die beitung der Reform nun an den ehemali-
über die deutsche Amtssprache ebenfalls verbindliche Einführung der Reform in gen Kultusminister Zehetmair und den Rat
einer Inkraftsetzung vorläufig nicht zuzu- seinem Bundesland zum 1. August hätte für deutsche Rechtschreibung delegiert.
stimmen.“ stoppen können. Bayern und Nordrhein- Zehetmair war von Anfang an dabei, er
Zehn Jahre ist dieser Brief an den da- Westfalen hatten den Anfang gemacht und hat dafür gesorgt, dass Bayern zu den ers-
maligen Innenminister Manfred Kanther sich geweigert, die Reform sofort umzu- ten Ländern gehörte, in denen die neuen
und die Kultusminister alt. Unterzeichnet setzen. Der Rat für deutsche Rechtschrei- Regeln eingeführt wurden. Als 1996, nach
haben ihn die heutigen CDU-Ministerprä- bung solle seine Korrekturen am Regel- heftigen Protesten, eine Reformvariante
sidenten Roland Koch, Peter Müller, werk beenden können, um anschließend zur Abstimmung stand, hat Zehetmair sie
Günther Oettinger und Christian Wulff. eine wirklich verbindliche Orthografie zu mit beschlossen. „Die Politik hätte sich nie
Die Christdemokraten warnten vor einer liefern. an der Sprache vergreifen dürfen“, sagt er
„kurzfristigen Verabschiedung eines bis- Nachdem Wulff mit einigen reformeifri- heute, er begreift seine Korrekturarbeit
her weitgehend geheimgehaltenen Regel- gen Vertretern von Eltern- und Lehrerver- auch als Wiedergutmachung.
werkes“, das „ohne jeden rationalen bänden telefoniert hatte, ließ er bekannt- Die Kultusministerkonferenz würde
öffentlichen Diskurs und ohne jede Betei- geben: Nein, Niedersachsen werde sich weitreichende Rückbauten der Reform-
ligung der deutschen Parlamente“ einge- Bayern und NRW nicht anschließen; die Orthografie gern verhindern. Sie hat bei
führt werden solle. politischen Möglichkeiten gegen die Re- der Auswahl der Ratsmitglieder darauf
Viel genützt hat die Empörung nicht, form seien erschöpft. „Steige ab, bevor das geachtet, dass genug Reformer in der
lange angehalten hat sie auch nicht. Einige Pferd tot ist“, bemühte Wulff eine indiani- Kommission sitzen. Alle Entscheidungen
der Unterzeichner haben sich auf Druck sche Weisheit. müssen mit Zweitdrittelmehrheit verab-
der Kultusminister frühzeitig mit dem Lauf Wulff hatte sich über den Vorstoß der schiedet werden. Doch Hans Zehetmair ist
der Reform abgefunden, andere hatten Bayern geärgert, der mit ihm nicht abge- sehr geschickt dabei, Menschen für sich
beim Aufstieg dann anderes zu tun. Alle sprochen worden war. Er wollte nicht wie einzunehmen. Im Augenblick sieht es so
außer Christian Wulff. Jürgen Rüttgers einfach folgen, Edmund aus, als würde er weit mehr erreichen kön-
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 131
Kultur

nen, als die Kultusministerkonferenz ge-


dacht hatte.
Der Rat hat sich darauf geeinigt, viele
bewährte Schreibweisen in zentralen Be-
reichen wiederherzustellen. So empfehlen
die Sprachexperten den Kultusministern,
die Regeln so zu ändern, dass wieder mehr
zusammengeschrieben werden kann. Man
kann wieder zwischen den unterschiedli-
chen Bedeutungen von sitzen bleiben (auf
einem Stuhl) und sitzenbleiben (in der
Schule) unterscheiden. Auch Zusammen-
schreibungen von Wörtern wie eislaufen

WOLFGANG KUNZ / BILDERBERG


oder kopfstehen sollen wieder richtig sein.
Bei der Silbentrennung soll Sinnentstel-
lendes wie Urin-stinkt (statt Ur-instinkt)
künftig vermieden werden. Dass einzelne
Vokale vom übrigen Wort abgetrennt wer-
den dürfen, etwa bei E-sel oder A-bend,
möchte der Rat ebenfalls rückgängig ma- Danziger Innenstadt, Warschauer Finanzviertel, Kaliningrad: „In den Städten des ehemaligen
chen. Und um die Gliederung eines Satzes
besser deutlich werden zu lassen, sollen
SPI EGEL-GESPRÄCH
viele alte Kommata wieder her. Bei dem
Satz „Es freut mich, dich zu sehen“ muss
das Komma nach den Empfehlungen des
Rates dann wieder gesetzt werden, auch
bei sogenannten erweiterten Infinitiven mit
um: „Wir schreiben richtig, um uns besser
„Der Geist der Städte“
zu verstehen.“
Der Historiker Karl Schlögel über den Aufschwung osteuropäischer
Schon im März wollen die Schriftge- Metropolen, die kulturelle Entdeckung des ehemaligen
lehrten fertig sein. Pünktlich zur nächsten deutschen Ostens und den Umgang mit dem Vertriebenenthema
KMK-Sitzung werden sie ihr erstes Paket
mit Reformvorschlägen übergeben, dann Schlögel, 57, gilt als Verdünnung, als Auflösung ihres Projekts
müssen die Kultusminister entscheiden, Experte für die Be- einer einigen europäischen Großmacht.
wie sie die Reform zu Ende bringen wol- schreibung der All- Schlögel: Ich ärgere mich schon lange dar-
len. Es gibt nicht mehr viele Möglichkeiten. tagswirklichkeit in über, dass immer so getan wird, als entste-
Sie können stur bleiben, weil sie meinen, Osteuropa („Moskau he das neue Europa bei den Konferenzen
dass dies die Staatsräson gebiete. Oder sie lesen“, „Die Mitte in Straßburg und Brüssel. Natürlich blicken
ISOLDE OHLBAUM

nehmen eine Menge von dem zurück, was liegt ostwärts. Euro- alle nach Westen, aber Europa ist nicht an
sie im Sommer noch für richtig erklärt ha- pa im Übergang“, der Oder zu Ende. Europas Karte wird neu
ben. Es hängt einiges von ihrer Entschei- „Im Raume lesen wir gezeichnet. Ich glaube, dass es langfristig
dung ab, für das Ansehen der Politik, für die Zeit“). Er lehrt zu einer Verschiebung der Zentren nach
den Schreibfrieden in den Schulen und im Geschichte Osteuropas an der Europa- Osten kommen wird. Man wird sehen, wel-
Land. Es hängt auch an Johanna Wanka. Universität Viadrina in Frankfurt an der ches Potential in den Städten des Ostens
Seit fünf Jahren ist Wanka Wissen- Oder. Im Hanser-Verlag ist nun sein Buch steckt. Es gibt unzählige Menschen, die im
schaftsministerin in Brandenburg, im Jahr „Marjampole oder Europas Wiederkehr Pendelverkehr zwischen Ost und West
2005 war sie Präsidentin der KMK. Sie war aus dem Geist der Städte“ erschienen. unterwegs sind, die täglich an der Einheit
an der Reformdiskussion nie beteiligt und Europas arbeiten.
sollte das Projekt mit abwickeln. Den Mi- SPIEGEL: Herr Professor, die erste Erweite- SPIEGEL: Zurzeit wird sogar darüber nach-
nisterpräsidenten wäre am liebsten, wenn rung der Europäischen Union nach Osten gedacht, ob es in Zukunft überhaupt noch
sie sich mit der Reform nicht mehr befas- war die deutsche Wiedervereinigung. Sie weitere Aufnahmen in die EU geben soll.
sen müssten, sie irgendwie verschwände, hat immense Kosten verursacht, die Grä- Beweist das nicht, dass die Europäer eine
aber es geht auch um Selbstachtung. Nie- ben sind immer noch nicht überwunden. Einheit und Einigung zwischen Ost und
mand will öffentlich eingestehen, dem Überfordert nun die Osterweiterung der West ablehnen?
Land eine Reform zugemutet zu haben, EU um zehn Länder die Kräfte Europas Schlögel: Ich glaube, dass man unterschei-
die sinnlos war, vielleicht sogar schädlich. auf Dauer? den muss zwischen politischen Proklama-
Wanka sitzt in einer Ecke des Restau- Schlögel: Ganz im Gegenteil. Die ent- tionen und Alltagsgeschäft. Wenn ich mich
rants Borchardt in Berlin und stochert in scheidenden Impulse im neuen Europa an meine Beobachtungen des Alltags hal-
ihrem Essen. Sie redet über die Pisa-Stu- kommen nicht aus Straßburg oder Brüs- te, bin ich sehr zuversichtlich, was die Ei-
die, über das Problem mit der Hochschul- sel, sondern aus den Städten des ehe- nigung Europas betrifft. Es gibt immer
finanzierung. Sie macht eine kleine Pause. maligen Ostblocks. Dort erlebt der alte mehr Touristen, die den Osten entdecken,
„Die Kultusminister wissen längst, dass die kulturelle Geist Europas seine Wieder- so viele Unternehmen, die von Deutsch-
Rechtschreibreform falsch war“, sagt sie. geburt. land nach Osteuropa gegangen sind …
Sie sieht auf ihren Teller: „Aus Gründen SPIEGEL: Ist das nicht eine verstiegene SPIEGEL: … was eher zur Verschlechterung
der Staatsräson ist sie nicht zurückgenom- These? Die alten Kernländer der EU emp- des Klimas zwischen Ost und West beige-
men worden.“ finden die Osterweiterung doch eher als tragen hat. Die Verlegung von Arbeits-
Es ist ein erstaunlicher Satz. Es ist das plätzen nach Osteuropa und die Zuwan-
Eingeständnis einer großen Niederlage. Das Gespräch führten die Redakteure Susanne Beyer und derung von Billigarbeitern, den berüchtig-
Jan Fleischhauer, Christoph Schmitz Romain Leick. ten polnischen Klempnern, werden als
132 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
PETER GINTER / BILDERBERG

IGOR SAREMBO
Ostblocks erlebt das alte Europa seine Wiedergeburt, Europas Karte wird neu gezeichnet“

Schwächung des westeuropäischen Wirt- irgendwie unheimliche Stimmung: Ich pa ist der Schauplatz für Hitler und Walter
schaftsstandorts gefürchtet. glaube, wir haben keine andere Stadt in Benjamin, es ist Stalin und Dostojewski.
Schlögel: Wenn man nationalstaatlich Deutschland, die so schön ist wie Görlitz, Europa ist die Nase der eurasischen Land-
denkt, dann mag das eine Bedrohung dar- in der die verschiedenen baulichen Stile masse, der Schauplatz einer einzigartigen
stellen, wenn wir aber anfangen, uns mit vom Mittelalter bis in die Gegenwart so Geschichte. Das ist mehr als die Europäi-
ganz Europa zu identifizieren, müssen wir komplett zu besichtigen sind. Es gibt die sche Union, geht darüber hinaus, ich wür-
sehen, dass die Prosperität osteuropäischer schönste Gotik, den schönsten Jugendstil de sagen bis zum Ural. Wladiwostok ist
Städte und die Stärkung des Handels einen und Funktionalismus, und doch wirkt Gör- eine russische Stadt, aber sie liegt am Pa-
Kräftezuwachs für uns alle bedeutet. litz in vielem wie eine Fassadenstadt. zifik, nicht in Europa.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass Städte SPIEGEL: Sind nicht viele osteuropäische SPIEGEL: Gehört die Türkei zu Europa?
wie Warschau, Tallinn, Riga oder Vilnius Metropolen in gewisser Weise Potemkin- Schlögel: Nein. Istanbul schon, aber doch
sich zumindest in ihren Zentren so schnell sche Dörfer, die eine Vitalität vortäuschen, nicht die Türkei als Ganzes. Warum nimmt
erholen konnten, obwohl es da eine bür- die schon in den Vororten zur trostlosen man das nicht als gegeben hin und findet
gerlich-städtische Kultur, die den Auf- Ödnis verkommt? Formen der Zusammenarbeit, bei denen
schwung hätte befördern können, schon Schlögel: In Europa zeichnet sich eine Kon- nicht automatisch alle Fragen Eurasiens
lange nicht mehr gibt? fliktlinie zwischen den großen Städten und mitverhandelt werden müssen? Ich finde
Schlögel: Ja, das Bürgertum ist erst durch der Provinz ab. Es gibt eine rasante High- diese Polarisierung – entweder drinnen
die deutsche Herrschaft und dann im So- tech- und Internet-Entwicklung, die sich oder draußen – falsch.
zialismus dezimiert worden, die Städte sind in bestimmten Korridoren abspielt. Zu ei- SPIEGEL: Ist es aber überhaupt möglich,
wie in der Zeit angehalten worden. Ich nem solchen Korridor gehören etwa Lon- Werte und Normen, historische Bündnisse
habe aber den Eindruck, dass es immer ei- don, Paris, Berlin, Warschau, Kiew, Mos- und Verwerfungen, Sympathien und Anti-
nen Genius Loci gibt, der unzerstörbar ist. kau. Die Orientierungspunkte der Men- pathien herauszuhalten aus der Diskussion
Oft waren es einzelne Personen, die für schen, die in Moskau den Ton angeben, um Europa? Wenn man etwa die Beziehung
Kontinuität über den Bruch hinweg gesorgt sind ähnlich wie die der Leute in London. zwischen Deutschland und Polen betrach-
haben. Der Philosoph Georg Lukács war Sie sind aber in einer ganz anderen Welt, tet, scheint die Zeit für einen unverkrampf-
für viele junge Intellektuelle in Budapest in wenn Sie herausgehen aus diesen Hoch- ten Umgang immer noch nicht reif zu sein.
den fünfziger und sechziger Jahren so eine geschwindigkeitskorridoren. 50 Kilometer Der neue polnische Präsident hat den Wahl-
Identifikationsfigur, über die sie Kontakt außerhalb Moskaus befinden Sie sich im kampf – auch – mit antideutschen Sprüchen
aufnehmen konnten mit einer untergegan- 19. Jahrhundert, wo selbst die Infrastruk- gewonnen, bei denen er bewusst Ängste
genen kosmopolitischen Kultur. tur, die im 20. Jahrhundert aufgebaut wor- aus der Vergangenheit schürte.
SPIEGEL: In Ostdeutschland sind Dresden, den ist, Bus, Post, Schule, zerfällt. Die Leu- Schlögel: Es gibt keine nennenswerte revi-
Leipzig, Weimar, Potsdam gute Beispiele te dort werden abgehängt. sionistische Position in Deutschland, aber
für die Wiederbelebung eines Genius Loci. SPIEGEL: Sie plädieren für ein offenes, kom- auf dem Hintergrund historischer Erfah-
In vielen anderen ostdeutschen Orten ist munikatives Europa, erfreuen sich am rungen können die Umtriebe Einzelner ei-
aber von einer Begeisterung über die ei- Pendelverkehr zwischen den Ländern – nen gewissen Schaden anrichten.
gene Stadt nicht mehr viel zu spüren, ob- wo ziehen Sie die Grenzen um Europa SPIEGEL: Sie gehören zu denjenigen, die
wohl manche Viertel größtenteils schön herum? dafür plädieren, dass sich die Deutschen
hergerichtet sind. Was ist schief gegangen? Schlögel: Für mich ist Europa zuallererst auf kulturelle Weise all jene Gebiete wie-
Schlögel: In Estland, Lettland, Litauen ist und vor allem ein Ort. Ich finde es falsch, der aneignen sollen, die früher zum deut-
das gesellschaftliche Klima tatsächlich viel Werte und Normen als Maßstab für Euro- schen Osten gehörten. Wird das nicht in
besser als in Deutschland. Das wird daran pa zu nehmen, denn dann könnten wir Polen, im Baltikum, in Russland als Über-
liegen, dass es da niemanden gibt, den man überhaupt keine Grenzen ziehen. Werte griff empfunden?
zum Sündenbock machen kann. Alle sind und Normen sind universell, wenn man sie Schlögel: Sich mit den Spuren deutscher
beteiligt am Aufbau und fühlen sich ver- als Maßstab nimmt, führt das dazu, dass Vergangenheit in Osteuropa auseinanderzu-
antwortlich. Der deutsche Fall ist ein Son- man sich Europa zurechtwünscht: Europa setzen bedeutet nicht, an den bestehenden
derfall, wegen der unglaublichen Asym- – das schöne Projekt! Das Aufklärungs- Grenzen zu zweifeln oder irgendwelche Ge-
metrien zwischen Ost und West. In einigen projekt! Das Projekt der Französischen biete zurückhaben zu wollen. In dem Maße,
Städten in Ostdeutschland herrscht eine Revolution! Aber Europa ist beides: Euro- in dem wir beginnen, in einen europäischen
d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 133
Horizont einzutreten, der die alte Flucht und Vertreibung der
Teilung zwischen Ost und West Deutschen, der Flucht, Vertrei-
nicht mehr kennt, begegnen wir bung, Krieg und Völkermord
doch automatisch den Spuren durch die Deutschen vorausge-
deutscher Geschichte. Wenn ein gangen war? Wie spricht man
Bankier nach Kaliningrad geht, von Verbrechen im Schatten ei-
um dort eine Bank aufzuma- nes vorangegangenen Großver-

SVEN DOERING / VISUM


chen, dann begegnet er dort dem brechens? Dafür eine angemes-
Philosophen Kant. Oder wenn sene Sprache zu finden ohne
Sie in Riga sind, dann sehen Sie Rechthaberei, das ist in der Tat
ein Opernhaus, in dem Richard sehr schwer.
Wagner gearbeitet hat. Sie ent- SPIEGEL: Also doch lieber Finger
decken eine beeindruckende Marktplatz in Görlitz: „Züge einer Fassadenstadt“ davon?
Erbschaft, die sich in Jahrhun- Schlögel: Nein. In meinen Au-
derten angesammelt hat. Das gen gibt es in der Geschichte der
Verschwinden des Eisernen Vor- Deutschen im 20. Jahrhundert
hangs bringt uns in Territorien, zwei grundstürzende Erfahrun-
in Räume zurück, die im deut- gen. Erstens: die von Deutschen
schen Alltagsbewusstsein verges- ausgehende Gewalt, der Holo-
sen oder verdrängt worden sind. caust und der Krieg im Osten.
SPIEGEL: Wir werden aber im Zweitens: die Gewalt, die dann
ehemaligen deutschen Osten zurückschlägt auf die Deut-
auch konfrontiert mit der de- schen. Der Verlust des deut-
struktiven Seite deutscher Ge- schen Ostens war eine mit Ge-
schichte, mit Konzentrationsla- walt verbundene Westverschie-
gern, mit den Schauplätzen des bung. Es gibt fast keine Familie
Zweiten Weltkriegs. in Zentraleuropa, die nicht ir-
Schlögel: Es gehört beides zu- gendetwas damit zu tun hat,
sammen: die Jahrhunderte da- denn es sind insgesamt wohl
vor und dieses ungeheure Fina- mehr als 30 Millionen Menschen
le, das alles in Schutt und Asche verschoben worden.

BPK
zurückließ – wobei man nicht SPIEGEL: Was ist damit gewon-
vergessen sollte, dass dieses Fi- Flüchtlinge 1945: „Die Zeiten der Ressentiments sind vorbei“ nen, wenn wir uns damit be-
nale sich in einer historischen schäftigen?
Sekunde ereignet hat. Für diejenigen, die die legitime Vergegenwärtigung mit Gegen- Schlögel: Dass wir ein angemessenes, wahr-
sich ausschließlich auf diese zwölf Jahre wartsansprüchen verquickt wird, eben weil heitsgemäßeres Bild von unserer eigenen
konzentriert haben, wird es Zeit, zur die Vertriebenenverbände jahrzehntelang Vergangenheit bekommen, von dem, was
Kenntnis zu nehmen, dass es noch eine an- die Grenzen nicht anerkannt haben. Europa heute ist. Wir können dann zu ei-
dere Geschichte gibt. SPIEGEL: Wie ließe sich denn die Geschich- nem Gespräch kommen, ohne alte Wunden
SPIEGEL: Dennoch: Wenn die Deutschen te der Vertreibung ohne revanchistische wieder aufzureißen oder neue Verfeindung
Teile der osteuropäischen Kultur wieder Gefühle schreiben? zu schaffen.
zu ihrer eigenen Kultur machen wollen – Schlögel: Mir ist in Polen niemand begeg- SPIEGEL: Sie sind Jahrgang 1948, haben Ihr
kann das den Osteuropäern recht sein? net, der bestreiten würde, dass auch die Studium während der 68er-Revolte aufge-
Schlögel: Ich glaube, die Zeiten der Res- Deutschen der eigenen Opfer und Toten nommen, waren damals politisch links ein-
sentiments sind vorbei. Ob Sie Kaliningrad gedenken sollen. Man sollte ein solches gestellt. Wie kommt es, dass jemand wie Sie
oder Wroclaw nehmen – das sind Städte Zentrum im Einklang mit den europäischen sich eines Themas annimmt, das Linke immer
mit einer doppelten Geschichte, mit einer Nachbarn schaffen und Beiräte einrichten, noch aufbringt? Gerhard Schröder wollte bis
doppelten Vergangenheit: Kaliningrad/Kö- in denen nicht nur Deutsche vertreten sind. zum Ende seiner Regierungszeit von einem
nigsberg, Wroclaw/Breslau. Das macht Eine solche Einrichtung müsste ihren Platz Vetriebenenzentrum nichts wissen.
doch gerade ihren Reichtum aus. Es ist die mitten in der Gesellschaft, an einem Ort Schlögel: Ja, es gibt den Vorbehalt, ob man
Berufung auf ein gemeinsames Erbe. wie dem Deutschen Historischen Museum, da nicht Beifall von der falschen Seite be-
SPIEGEL: Sind die Zeiten der Ressentiments haben. Dass wir Deutschen und unsere kommt, aber dann darf man sich vieler
wirklich vorbei? Sie sind Befürworter eines Nachbarn stark genug sind, uns diesem Themen nicht annehmen. Ich glaube, dass
Vertriebenenzentrums, in dem die Ge- Thema zu stellen, daran habe ich keinen in vielen Bereichen die alte Lagerbildung
schichte der Vertreibung der Deutschen Zweifel. überholt ist und man mit Stigmatisierungen
aus Osteuropa aufgearbeitet werden soll, SPIEGEL: Aber kann das Thema überhaupt aufhören soll. Ich merke das bei meinen
auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ist sine ira et studio bearbeitet werden – ganz Vorlesungen an der Europa-Universität in
offenbar dafür. Der neue polnische Präsi- ohne Hass und Eifer –, oder liegt ihm nicht Frankfurt an der Oder. Erst gibt es Beden-
dent Lech Kaczynski aber hat gesagt: Es automatisch ein Vorwurf zugrunde? ken gegen das Vertriebenenthema, aber
wäre das Beste, wenn das Vertriebenen- Schlögel: Sine ira et studio – das ist nicht das Interesse ist am Ende immer groß. Da
zentrum niemals gebaut würde. ganz einfach. Die Betroffenen, ob das nun sagt dann die deutsche Studentin: Meine
Schlögel: Es kommt darauf an, was für ein die Deutschen aus Schlesien sind oder die Oma kommt aus Breslau, ich wollte mal
Zentrum das werden soll. Ich war immer Polen, die aus Lemberg herausgejagt und wissen, was die erlebt hat. Der Pole sagt:
dagegen, dass diese Forschung an die Ver- umgesiedelt wurden, haben ja noch Bilder Mein Opa fährt jeden Sommer nach Li-
triebenen delegiert wird, und bin sehr un- im Kopf. Wir haben es nicht nur mit Akten tauen, um zu gucken, was aus dem Ort ge-
glücklich darüber, wie die Debatte jetzt zu tun. Aber: Was sollte uns daran hindern worden ist, aus dem er kommt. Es ist ein
läuft. In Polen besteht der starke Verdacht, zu versuchen, uns diese Geschichten zu er- Dialog jenseits der Frontlinien.
dass diese Initiative instrumentalisiert wer- zählen? Und das ist das eigentliche Pro- SPIEGEL: Herr Professor, wir danken Ihnen
den kann für den politischen Kampf, dass blem. Wie erzählt man die Geschichte von für dieses Gespräch.
134 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Kultur

chiger Stimme von Liebesabstürzen und Venice, einem beliebten Stadt- und Strand-
POP
sonstigen Turbulenzen des Lebens. viertel von Los Angeles, mit Hund, Fern-

Turbulenzen Natürlich ist das genau die Sorte Lieder,


die man von der leicht schwindsüchtig aus-
sehenden Schönheit erwartet. Von Fiona
seher und Futon.
Vor einigen Jahren nahm sie dann zwar
mit dem Produzenten Jon Brion eine erste

des Lebens Apple heißt es in der Musikbranche seit


Jahren, sie agiere stets hart am Rande eines
Nervenzusammenbruchs. „Man hält mich
für verrückt, nervig, kindisch, mürrisch“,
Version des Albums „Extraordinary Ma-
chine“ auf, sie selbst oder die Plattenfir-
menbosse waren aber mit dem Resultat so
unzufrieden, dass die Musikerin sich mit
Mitte der Neunziger wurde die
umschreibt Apple ihren schlechten Ruf, auf dem neuen Mitstreiter Mike Elizondo noch
US-Sängerin Fiona Apple als den sie auch ein wenig stolz ist. Zumindest mal ans Werk machte. Elizondo schien eine
exzentrisches Wunderkind gefeiert. fördert er die Neugier. eher absurde Wahl zu sein für die zarte
Nun kehrt sie nach langer Seit ihrem Start im Popzirkus gilt Apple Liedermacherin: Er hatte sich als Mitar-
Pause in den Popzirkus zurück. als ebenso durchgeknallt wie talentiert. Ihr beiter von rohen Gangsta-Rappern wie Dr.
1996 veröffentlichtes Debütalbum verkauf- Dre, Eminem und 50 Cent einen Namen

A
ls erste Mahnung schickten die Pro- te sich allein in den Vereinigten Staaten gemacht.
testler eine Ladung Äpfel. Weil das über drei Millionen Mal, das zweite, noch Tatsächlich aber straffte und entschlack-
keine Wirkung zeigte, versammelte gelungenere Werk „When the Pawn …“ te der Produzent Elizondo die allzu ver-
sich ein Haufen empörter Fans vor knapp nicht ganz so gut. drehten Apple-Nummern virtuos. Das kön-
einem Jahr vor der New Yorker Zentrale In Interviews berichtete Apple, dass sie nen viele Fans nun selbst im Internet über-
des Musikkonzerns Sony; die Demon- im Alter von zwölf Jahren vergewaltigt prüfen, wo seit geraumer Zeit die erste,
stranten skandierten bei klirrender Kälte: worden sei und seitdem von düsteren noch von Brion produzierte Version des
„We want Fiona!“ Phantasien geplagt werde; bei einer Preis- Albums zu hören ist – das Werk, das nie in
Als sie von der Aktion hörte, habe sie verleihungsgala anlässlich der MTV Video einem Plattenladen stand, und seine Ent-
zuerst gelacht und dann geweint, „vor Music Awards klagte sie über den verrot- stehungsgeschichte wurden in der „New
Rührung“, sagt die Musikerin Fiona Apple, teten Zustand der Gesellschaft; auf der York Times“, in „Newsweek“ und im „Rol-
die der Anlass war für das bizarre Be- Konzertbühne wurde sie mitunter von ling Stone“beschrieben. Die Aufmerksam-
schwerdespektakel. Weinkrämpfen geschüttelt. keit erhöhte zweifellos den Druck auf
Die Verehrer waren erzürnt, weil sie den In den vergangenen sechs Jahren hörte Sony, Apples Album nicht für alle Zeiten
Musikkonzern Sony verdächtigten, die man dann nahezu nichts mehr von ihr. Als ins Archiv zu verbannen.
Veröffentlichung des neuen Apple-Albums ihre Beziehung zu dem Hollywood-Regis- Schwierige Künstler wie Apple erfahren
zu verschleppen. Immerhin sechs Jahre seur Paul Thomas Anderson („Magnolia“) in den Musikkonzernen offenbar nur noch
lang hatte die heute 28-Jährige, einst als zerbrach, war das immerhin für die selten die Zuwendung, die einst so eigen-
Wunderkind gefeiert und mit dem US-Mu- Klatschblätter ein Thema; die Künstlerin willige Stars wie Bob Dylan oder Miles
sikpreis Grammy ausgezeichnet, keine selbst aber verbarg sich in einem Haus in Davis genossen. In den fünfziger bis sieb-
neuen Lieder mehr geliefert. In ziger Jahren führten sich musik-
den Klatschbörsen des Internet begeisterte Bosse wie Ahmet Er-
wurde verbreitet, die Plattenfir- tegun (Atlantic), Mo Ostin (War-
ma habe ein fertig eingereichtes ner) oder Clive Davis (CBS)
Album als zu unkommerziell noch als Ersatzväter der Künstler
verworfen. auf. Heute wickeln meist nüch-
Nun ist das von derlei Ver- terne Juristen und Kaufleute die
schwörungslegenden umrankte Geschäfte ab.
Werk „Extraordinary Machine“ In seiner Kolumne im US-
aber doch in die Läden gekom- Blatt „Interview“ schimpfte des-
men. Mit beachtlicher Resonanz: halb jüngst der britische Popstar
Es landete sogleich in den ame- Elton John, dass in der Musik-
rikanischen Top Ten und ist be- industrie der Gegenwart kaum
reits für einen Grammy nomi- mehr Ansprechpartner zu finden
niert. Auch die Musikkritiker ge- seien, die an den Künstler glaub-
ben sich verzückt: Die amerika- ten, ihm auch mal die Wahrheit
nischen Fachmagazine „Rolling sagten und für ihn da seien,
Stone“ und „Spin“ wählten „Ex- „wenn man sie um zwei Uhr
traordinary Machine“ weit nach nachts mitten in einer Schaffens-
vorn zu den besten Tonträgern krise braucht. Versuch mal heut-
des Jahres 2005. Selbst das Intel- zutage den Boss einer Plattenfir-
lektuellenblatt „The New Yor- ma anzurufen, das interessiert
ker“ verkündete aufgekratzt, den gar nicht“.
dass man die Lieder nach der Fiona Apple gibt sich dieser
ersten Hörprobe „sofort noch Tage allerdings so, als ob sie auf
mal hören“ wolle. nächtlichen Zuspruch nicht an-
Tatsächlich ist das neue Werk gewiesen sei. Sie fühle sich stark,
RICHARD CLEMENT / REUTERS

der als exzentrisch verrufenen versichert die Musikerin.


New Yorkerin eine Sammlung Über die Pflanze, die das Cover
grandios vertrackter Songs. Aus ihres neuen Albums schmückt,
Walzerklängen und neobarocken juxt sie kämpferisch: „Ich mag
Elektro-Rhythmen bastelt Fiona es, dass die kleinen Knospen wie
Apple kunstvoll verschlungene Fäuste aussehen.“
Melodien, dazu singt sie mit rau- Musikerin Apple: Stolz auf den schlechten Ruf Christoph Dallach

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 135
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach-
Bestseller magazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl-
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Belletristik Sachbücher
1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter 1 (1) Dietrich Grönemeyer Der kleine
und der Halbblutprinz Medicus Rowohlt; 22,90 Euro
Carlsen; 22,50 Euro 2 (2) Peter Hahne Schluss mit lustig
Johannis; 9,95 Euro
2 (2) Daniel Kehlmann Die Vermessung
der Welt Rowohlt; 19,90 Euro 3 (3) Corinne Hofmann Wiedersehen
in Barsaloi A 1; 19,80 Euro
3 (3) Dan Brown Sakrileg
4 (7) Eduard Augustin / Philipp von
Lübbe; 19,90 Euro
Keisenberg / Christian Zaschke
4 (5) Dan Brown Diabolus Fußball Unser
Lübbe; 19,90 Euro Süddeutsche Zeitung; 18 Euro

5 (6) Ben Schott Schotts Sammelsurium


5 (4) Ken Follett Eisfieber
Essen & Trinken Bloomsbury Berlin; 16 Euro
Lübbe; 22,90 Euro
6 (4) Stephen Hawking / Leonard
6 (8) François Lelord Hectors Reise Mlodinow Die kürzeste
Piper; 16,90 Euro Geschichte der Zeit Rowohlt; 19,90 Euro
7 (6) Arno Geiger Es geht uns gut 7 (9) Ben Schott Schotts Sammelsurium
Bloomsbury Berlin; 16 Euro
Hanser; 21,50 Euro
8 (5) Jared Diamond Kollaps – Warum
8 (10) Leonie Swann Glennkill Gesellschaften überleben oder
Goldmann; 17,90 Euro untergehen S. Fischer; 22,90 Euro
9 (7) Diana Gabaldon Ein Hauch von 9 (8) Helmut Kohl Erinnerungen
Schnee und Asche Blanvalet; 24,90 Euro 1982 – 1990 Droemer; 29,90 Euro
10 (12) Irene Dische Großmama packt aus 10 (10) Sabine Kuegler Dschungelkind
Droemer; 19,90 Euro
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11 (11) Eric-Emmanuel Schmitt Mein
11 (9) Kathy Reichs Totgeglaubte Leben mit Mozart Ammann; 19,90 Euro
leben länger
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Die Spur führt ins Was ich noch zu sagen hätte
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12 (11) Santo Cilauro / Tom Gleisner / des Lebens – Gustaf Gründgens
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Heyne; 19,90 Euro Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro

13 (14) Nicholas Sparks Die Nähe des 16 (–) Werner Tiki Küstenmacher /
Himmels Heyne; 19,90 Euro Lothar J. Seiwert Simplify your
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15 (13) Joanne K. Rowling Harry Potter 18 (–) Dieter Hallervorden Wer immer
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Carlsen; 28,50 Euro Schwarzkopf & Schwarzkopf;
19,90 Euro
16 (15) Rebecca Gablé Die Hüter der
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17 (17) Susanne Fröhlich
Familienpackung W. Krüger; 16,90 Euro Streifzug durch vier
Jahrzehnte deutsches
18 (19) Kate Mosse Das verlorene Kabarett mit jeder
Labyrinth Droemer; 22,90 Euro Menge Seitenhiebe auf
den Fernsehbetrieb
19 (18) Cecelia Ahern Für immer
19 (20) Nena / Claudia Thesenfitz Willst
vielleicht W. Krüger; 16,90 Euro du mit mir gehn Lübbe; 16,90 Euro
20 (–) François Lelord Hector und die 20 (15) Eva-Maria Zurhorst
Geheimnisse der Liebe Piper; 16,90 Euro Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro
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Kultur

MUSIK

Die Unaufhaltbare

IKO FREESE / DRAMA.


Die Regisseurin Katharina Wagner zeigt mit Puccinis „Il Trittico“
ihre vierte eigene Regiearbeit. Die Thronfolge
der Urenkelin in Bayreuth wird immer wahrscheinlicher.

W
enn Katharina Wagner die Deut- sein Vermögen einem Kloster vermacht Regisseurin Wagner
sche Oper in Berlin nach einer hat. Um an das Geld zu kommen, wollen Vom Patriarchen emanzipiert
Probe durch den Bühnenaus- die Angehörigen seinen Tod für den Notar
gang verlässt, steht sie mitten auf der noch einmal nachspielen – mit überra- meint sie oft schon nach einem halben Satz
Richard-Wagner-Straße. Na und? Das kann schendem Ende. Zuletzt „Der Mantel“, die begriffen zu haben und kürzt mit raschen
sie nicht beeindrucken. „Lassen Sie uns Geschichte einer unglücklichen Ehe. Worten ab. Die lebenslange Ausbildung
schnell in das Café da drüben gehen“, sagt Sie beginnt mit dem Stück, das ihr the- zur Kronprinzessin ist nicht spurlos an ihr
sie und steckt die Hände zum Schutz vor matisch am fernsten ist, sagt sie. Je weiter vorübergegangen, ihr Selbstbewusstsein
der Kälte tief in die Taschen eines schwar- der Opernabend voranschreitet, desto scheint unerschütterlich.
zen Lederblousons mit Strickärmeln. „Ich näher sollen dem Zuschauer die Menschen Hätte sie als Tochter der Wagner-Fami-
habe es bei diesem Wetter zum Glück nicht und Konflikte erscheinen. In „Der Mantel“ lie eigentlich ein anderes Berufsfeld wählen
weit zur Probe, weil ich ja auch in der erkennt Wagner die klassischen Bezie- können als das Musiktheater? „Ich bin viel
Richard-Wagner-Straße wohne.“ hungsprobleme unserer Zeit, Entfremdung zu dickköpfig, um mich mein Leben lang
Über diese Pointe freut sie sich nun doch und Sprachlosigkeit, „das hat Bergman- mit einem Beruf unglücklich zu machen,
ein bisschen – als Urenkelin Richard Wag- sche Dimensionen“. den ich nicht selbst gewollt hätte.“
ners im großen Berlin ausgerechnet hierher Wenn sie über ihre Arbeit spricht, fühlt Sie besuchte ein Wirtschaftsgymnasium,
gezogen zu sein. „Damit ich meine Adres- sie sich wohl. Ihre Stimme erfüllt das Café, hat aber schon in jungen Jahren begonnen,
se nie vergesse“, sagt sie und lacht. Ihre ihre Hände wirbeln durch die Luft und un- bei berühmten Regisseuren in Bayreuth zu
Stimme klingt unverwechselbar, tief und terstreichen das Gesagte. „Genau, genau, hospitieren und zu assistieren. Und bei
rauh, damit könnte sie jedem Kerl auf einer genau“, die Gedanken des Gegenüber ihrem Namen dauerte es auch nicht lange,
Baustelle was husten. „Nein, die bis ihr nach ihrem Studium der
Wohnung war zufällig frei, als Theaterwissenschaften die erste
ich eine suchte, und sie hat eine eigene Regie angeboten wurde.
Badewanne, nur deshalb woh- Andere Kommilitonen schrieben
ne ich in dieser Straße.“ da noch Bewerbungen.
Katharina Wagner ist 27 Jah- Das war im Herbst 2002, „Der
re alt. Von Beruf ist sie Opern- Fliegende Holländer“ am Main-
regisseurin, von Haus aus Uren- franken Theater Würzburg. In
kelin. Oder umgekehrt? der Woche vor der Premiere
An der Deutschen Oper in wurde die Stadt vom überregio-
Berlin probt sie zurzeit „Il Trit- nalen Feuilleton belagert. Was
tico“ von Giacomo Puccini. Pre- wird die kleine Tochter des Clan-
miere ist nächsten Sonntag. Es Chefs Wolfgang Wagner mit
ist erst ihre vierte eigene Regie- Urgroßvaters Oper machen?
arbeit, und doch gibt sie sich so Hatte sie Nervenflattern da-
selbstbewusst, als habe sie be- mals? „Einmal ist immer das
reits 40 Opern inszeniert. „Eine erste Mal“, sagt Katharina Wag-
Aufführung lebt nicht von einer ner. „Und wenn man das immer
einzelnen Idee“, erklärt sie. weiter rausschiebt, wird man nie
„Eine Idee trägt im Glücksfall selbst Regie führen.“
eine Minute. Wenn ich nun eine Das Überraschendste an die-
ganze Oper in eine Irrenanstalt ser ersten Inszenierung war die
versetze oder in eine U-Bahn, Entschlossenheit, mit der sie alle
dann spielt stundenlang alles Erwartungen an ihre Person ent-
dort. Das macht noch keine täuschte. Am lautesten buhten
spannende Inszenierung aus.“ am Ende die eingefleischten
Sie hat einen Latte Macchiato Wagnerianer, die gekommen wa-
mit fettarmer Milch bestellt und ren (und das Debüt mit 20 000
spricht über die drei Einakter, Euro unterstützt hatten), um mal
aus denen „Il Trittico“ besteht. wieder eine Wagner-Aufführung
Ihre Inszenierung wird sie mit ohne störende Gedanken und
„Schwester Angelica“ eröffnen, Verfremdungen zu sehen.
IKO FREESE / DRAMA.

der Geschichte einer Nonne, die Katharina Wagners Inszenie-


vom Tod ihres Kindes erfährt, rung war voller Stilbrüche. Und
das sie verleugnen musste. Dann
folgt „Gianni Schicchi“ über * Mit Cristina Gallardo-Domas als Schwester
eine Familie, in der der Onkel Proben zu „Il Trittico“*: „Bergmansche Dimensionen“ Angelica.

d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6 137
Kultur

„Wer will schon die Nase von Richard


Wagner haben?“
Drei Wochen später, Endproben zu „Il
Trittico“ in der Deutschen Oper. Der Chor
der Nonnen in „Schwester Angelica“ mar-
schiert in einer etwas statischen Choreo-
grafie auf die Bühne und betet ein lebendes
Madonnenbild an. Als die Nonnen mal ei-
nen Augenblick unaufmerksam sind, steckt
sich die Madonna verstohlen eine Zigaret-
te an und pafft rasch drei Züge. Und die
Fürstin, die Angelica vom Tod ihres Kindes
berichten wird, tritt mit zwei als Hunden
verkleideten angeleinten Männern auf.
„Man darf nie überlegen, was dem Pu-
blikum gefallen könnte“, sagt Katharina
Wagner nach der Probe, „dann kommt
man nie zu scharfen, konkreten Aussa-
gen.“ Für sie ist ein Opernabend missraten,
wenn man als Zuschauer schon beim Hin-

OLIVER LANG / DDP


ausgehen an die Termine des nächsten Ta-
ges denkt: „Oper darf kein Konsum sein.“
Die Anspannung vor der neuen Pre-
miere ist ihr anzumerken. Sie tritt noch
Ehepaar Wagner mit Tochter Katharina: „Wer will schon die Nase von Richard Wagner?“ ein bisschen zackiger und entschiedener
auf als sonst. Da ist nichts Zweifelndes oder
sie hatte ein Konzept, auch wenn das nicht das sind Themen, über die Katharina Wag- Grüblerisches. Die Tücke eines berühm-
durchgehend aufging. Aber für alle war ner nicht sehr gern spricht. Sie ist Profi ten Namens erlebt auch sie: Niemand traut
deutlich sichtbar: Hier hatte sich jemand genug, um auch hier ein paar gestanzte sich so recht, ihr zu widersprechen. Und so
emanzipiert. Nicht nur vom Urgroßvater, Antworten bereit zu haben: „Man kann stehen manche ihrer Sätze etwas hohl im
sondern vor allem vom Vater, dem Pa- das Verhalten meiner Großmutter während Raum.
triarchen Wolfgang Wagner. der Nazi-Zeit nicht gutheißen, aber es ist Am Abend vorher war sie wie jeden Tag
Er habe die Inszenierung am Abend nicht meine Verantwortlichkeit, und ich zwei Stunden im Fitnessstudio. Sie hat mit
der Premiere zum ersten Mal gesehen, kann mich schlecht für etwas entschuldi- Gewichten trainiert. Das sei ein guter Aus-
erzählt Katharina Wagner, und habe sie gen, das ich nicht getan habe.“ Es hat den gleich, weil man sich beim Stemmen und
für ihr handwerkliches Können gelobt. Anschein, als ob sie in diesen Momenten Heben so sehr darauf konzentrieren müs-
„Dass mein Vater und ich einen grund- ausnahmsweise lieber Katharina Müller se, sich nicht zu verletzen, dass man an
sätzlich anderen Begriff vom Regiefüh- oder Katharina Schmidt heißen würde. nichts anderes mehr denken könne. Unter
ren haben, ist ja wohl inzwischen je- Ob ihr Verständnis für die Musik des ihrem schwarzen Rollkragenpullover zeich-
dem klar.“ Urgroßvaters tatsächlich genetisch bedingt nen sich ihre Muskeln ab. Und wenn sie
Wahrscheinlich ist das Katharina Wag- ist oder ob sie dessen Musik von klein auf während der Probe zu den Sängern auf die
ners größte Begabung: Sie scheint es spie- so oft gehört hat, dass sie ihr deshalb so Bühne steigt, dann tut sie dies mit kraft-
lend zu schaffen, ihre Vorstellung von vertraut erscheint, ist eine jener Fragen, vollen, großen Schritten.
Opernregie mit ihrer Rolle als Tochter zu die sie im Zusammenhang mit ihrer Fami- Sie sieht an diesem Tag mehr wie jene
vereinbaren, ohne dabei zu brav zu sein. lie noch am meisten interessieren. Bisher Katharina Wagner aus, die man von den
Der für seinen Starrsinn berühmte hat sie darauf keine Antwort gefunden. Familienfotos zur Eröffnung der Bayreuther
86-jährige Wolfgang Wagner wird ange- Äußerliche Ähnlichkeiten? Hoffentlich Festspiele kennt. Vielleicht, weil sie die tail-
sichts ihrer Arbeiten jedenfalls milde. Mit nicht, sagt sie, die über 1,80 Meter große lenlangen, goldblonden Haare offen trägt.
der bedingungslosen Verehrung eines Va- blonde Urenkelin, die ihre ganze Familie Hin und wieder gebe es Wagner-Fans, er-
ters für seine jüngste Tochter toleriert er um einige Zentimeter überragt, und lacht. zählt sie, die zu ihr sagen würden: „Ent-
nicht nur, was sie tut, sondern ist schuldigen Sie, Sie haben da ein
sogar stolz auf sie. Haar verloren, dürfte ich das ha-
Dass Katharina Wagner die ben?“ Solcher Fetischismus ist ihr
nächste Festspielchefin von Bay- unheimlich. „Denn rein biologisch
reuth werden könnte, ist da mehr ist es doch so: Da war ein Genie,
als naheliegend. Sie hat auf die und dann kamen Leute nach.“
Frage nach dieser Zukunft eine Mit großer Unbekümmertheit
vorsichtige Standardantwort pa- ignoriert sie alle Heiligkeit, die
rat: „Natürlich könnte ich mir das ihre Familie umgibt. Neulich im
vorstellen, aber ich kann mir vie- Urlaub habe sie jemand nach ei-
les vorstellen. Ernsthaft darüber nem Autogramm gefragt. Sie hat
nachdenken werde ich erst, wenn es ihm gegeben. „Wer sind Sie
die Frage konkret ansteht.“ So denn?“, hat daraufhin ein Mann
viel Zurückhaltung liegt ihr ei- am Nebentisch gefragt. „Kathari-
PETRA WINKELHARDT

gentlich nicht, aber es ist ver- na Wagner“, hat sie geantwortet.


mutlich eine kluge Strategie. „Ach, sind Sie mit der Familie
Bayreuth, die Familie Wagner, verwandt, die die Steinofen-Piz-
ihre Großmutter Winifred und za Wagner herstellt?“ Das hat ihr
deren Freundschaft zu Hitler – Wagner-Produktion „Der Fliegende Holländer“: Zackiges Auftreten gefallen. Claudia Voigt

138 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
KINO

Grauer Alltag,
kunterbunt
In seiner melancholischen
Komödie „Sommer vorm Balkon“
feiert der Regisseur
Andreas Dresen Lebensmut und
Tatkraft sozialer Verlierer.

L
iebevoll und fürsorglich, aber auch
schnell und professionell kümmert
sich die junge Frau um den bettläge-
rigen alten Mann. Vorsichtig dreht sie ihn
FOTOS: X-VERLEIH

zur Seite und cremt ihm das Hinterteil ein.


Da merkt sie, dass sie etwas zu viel von der
Salbe genommen hat – und schmiert sich
den Rest flugs auf die eigenen Arme. Die- Darsteller Schmidt, Uhl: Zu Tränen rührende Warmherzigkeit
ser Film spielt in einer Welt, in der die
Menschen nichts verkommen lassen. Selten zuvor hat ein deutscher Film dem Film, der doch so kompromisslos und klar
Die Altenpflegerin Nike (Nadja Uhl) ist Proletariat so viele liebens- und be- wie möglich das Leben in gesellschaftli-
eine der drei Hauptfiguren, die sich in wundernswerte Seiten abgewonnen. Die cher Kälte beschreibt.
Andreas Dresens melancholischer Komö- Unterschichtkomödie, die etwa in Groß- Wenn Nike und Katrin an lauen Som-
die „Sommer vorm Balkon“ mal gewitzt britannien eine lange Tradition hat, kam merabenden auf dem Balkon sitzen, bis in
und mal verzweifelt durch den Berliner hierzulande meist nicht über das Niveau den Morgen trinken und reden und sich
Alltag schlagen. Der Film begibt sich mit- schenkelklopfender Klamotte hinaus. Das über den Dächern Berlins ein wenig wie
ten hinein in die Unterschicht der deut- deutsche Kino strebte nach Höherem, er- die Königinnen der Stadt fühlen, dann teilt
schen Gesellschaft, wo die Menschen stän- zählte lieber von den Problemen der Rei- der Zuschauer ihren Übermut – bis er
dig in Gefahr schweben, durch das soziale chen und Erfolgreichen. „Sommer vorm merkt, dass Katrin in Wirklichkeit ihre Ver-
Netz zu fallen. Und er erzählt beschwingt Balkon“ dagegen entdeckt die Würde und zweiflung zu ertränken versucht. So landet
von der Kunst, immer wieder auf den Bei- Selbstachtung der sozialen Verlierer. sie eines Abends mit einer Alkoholvergif-
nen zu landen. Die knallengen Stretchhosen, die Push- tung in der Notaufnahme.
Nikes beste Freundin Katrin (Inka Fried- up-BHs und grellfarbigen Oberteile, in die Als Katrin sich im Gespräch mit einer
rich) ist Ende dreißig, alleinerziehende Nike sich zwängt, lassen sie wirken wie Ärztin zunächst weigert, ihre Sucht anzu-
Mutter und seit mehreren Jahren arbeits- eine weibliche Bonbonniere. Doch sie trägt erkennen, verweilt die Kamera in Groß-
los. Die teuren Turnschuhe, die sich ihr diese Kleidung mit bezwingender Anmut aufnahme lange und beharrlich auf dem
Sohn Max wünscht, um dem Mädchen sei- und Selbstverständlichkeit. Ihr Essgeschirr Gesicht der großartigen Inka Friedrich; wie
nes Herzens zu imponieren, kann sie sich hat sie sicher im Ramsch gekauft. Doch ein schützender Vorhang fallen ihr die
nicht leisten. Doch Katrin schämt sich, Bitt- wenn sie es morgens auf den Tisch stellt, Haare vors Gesicht. Je länger diese Szene
stellerin zu sein. Bei einem Schulungskurs dreht sie sorgsam die Henkel der Tassen dauert, desto mehr wird die Leinwand zu
für Bewerbungsgespräche muss sie erst nach außen. Selbst in der vermeintlichen einem Spiegel, der den Zuschauer mit sei-
wieder lernen, den Menschen in die Augen Geschmacklosigkeit besitzt sie Stil. nen eigenen verdrängten Lebenslügen kon-
zu schauen. In diesen kleinen Gesten entdeckt frontiert.
Der Lkw-Fahrer Ronald (Andreas „Sommer vorm Balkon“ die Größe seiner Doch mit Lebensmut und Willenskraft
Schmidt) hat keine Angst vor direkten Figuren. Als Nike die Leiche einer alten trotzen die Figuren entschlossen der Tris-
Blicken. Provozierend selbstbewusst platzt Dame, die von ihr lange betreut wurde, tesse. Frappierend leicht gelingt es Dresen
er in Nikes Leben hinein und macht sich vor sich liegen sieht, zieht sie der Toten und seinem brillanten Drehbuchautor
darin breit, als wäre es sein eigenes. Ronald den Rock über das Knie. Eine manch- Wolfgang Kohlhaase („Solo Sunny“) im-
ist der Mann im Rohzustand: rau, viril, mal zu Tränen rührende Warmherzigkeit mer wieder, aus dem normalen grauen All-
wortkarg. Doch er hat einen Traum: Eines herrscht von Anfang bis Ende in diesem tag komische Momente hervorzuzaubern.
Tages, sagt er, möchte er keine Teppiche Nachdem Ronald mit Nike geschlafen
mehr durch die Gegend transportieren, hat, thront er selbstzufrieden auf ihrem
sondern Elektronik. Denn Teppiche hät- Sofa. Sie betrachtet ihn prüfend. Dann sagt
ten ja schon die alten Römer gehabt. sie, alle Männer in ihrem Leben, die etwas
So schlicht und naiv die Wünsche der taugten, hätten auf dem Sofa Platz ge-
Figuren in „Sommer vorm Balkon“ auch nommen, alle Nieten hätten sich in den
sein mögen – der Film nimmt sie ernst. Er Sessel gesetzt. Ronald denkt einen Mo-
blickt nicht spöttisch auf die kleinen Leute ment nach und erwidert dann: „Was soll
herab, sondern tritt ihnen auf Augenhöhe ich denn dazu sagen?“ Nike lächelt und
gegenüber. „Unser oberstes Gebot war, die antwortet: „Dazu musst du nichts sagen.“
Figuren nie zu denunzieren“, erzählt Nad- Man muss das Leben eben nur genau
ja Uhl. „Im Gegenteil, ich bewundere Nikes genug beobachten, dann gibt es wie von
Tatkraft und ihren Pragmatismus. Davon Regisseur Dresen selbst Wahrheit und Witz preis.
können wir uns alle was abgucken.“ Auf Augenhöhe mit den kleinen Leuten Lars-Olav Beier

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140 d e r s p i e g e l 1 / 2 0 0 6
Chronik 22. bis 29. Dezember SPIEGEL TV

Greenpeace-Aktivisten manövrieren mit DONNERSTAG, 5. 1.


ihrem Schlauchboot zwischen einem Wal und 22.20 – 23.15 UHR VOX
einem japanischen Walfänger. Dass das Tier
harpuniert wird, können sie nicht verhindern.
SPIEGEL TV EXTRA
Dolce Vita im Caravan –
Deutsche Camper vor Venedig
Er ist einer der größten Campingplätze
Europas, in der Hochsaison bevölkert
von mehr als 11 000 Besuchern, und
man spricht deutsch, auch wenn Venedig
gleich um die Ecke liegt. Union Lido –
das ist eine umzäunte, in sich abge-
schlossene Welt am Ufer der Adria. SPIE-
GEL TV hat den Alltag auf dem italieni-
schen Platz, der deutscher kaum sein
könnte, zwei Wochen lang beobachtet.

KATE DAVISON / AFP


FREITAG, 6. 1.
21.50 – 23.50 UHR VOX
SPIEGEL TV THEMA
Der längste Tag –
D O N N E R S TA G , 2 2 . 1 2 . M O N TA G , 2 6 . 1 2 . Chaos im Kölner Verkehrsamt
GEWINNER I Zwei Tage vor Heiligabend TRAUER Zum ersten Jahrestag der Tsuna- Seit Oktober dürfen Fahrzeugpapiere nur
werden Tausende spanische Lottospieler mi-Katastrophe gedenken Menschen in noch nach EU-Richtlinien ausgegeben wer-
durch einen ungewöhnlichen Geldsegen aller Welt der rund 230 000 Opfer. den. In der Kölner Zulassungsstelle wurde
beglückt. Mit zwei Milliarden Euro schüt- deshalb ein neues Computersystem instal-
DROHUNG Der Vorsitzende des Deutschen liert. Den Tag danach werden Mitarbeiter
tet die Lotterie-Gesellschaft eine Rekord-
Beamtenbundes, Peter Heesen, droht den und Kunden so schnell nicht vergessen.
summe aus.
Ländern, im Fall weiterer Gehaltskürzun- SPIEGEL-TV-Autor Markus Grün konnte
GEWINNER II Der Indio-Kandidat Evo Mo- gen mit Streiks notfalls sogar Flughäfen den nervenaufreibenden Kampf Mensch
rales triumphiert bei der Präsident- lahmzulegen. gegen Behörde beobachten.
schaftswahl in Bolivien. HATZ Zehntausende Briten ignorieren das
Verbot von Fuchsjagden und besuchen SAMSTAG, 7. 1.
VERLIERER US-Präsident George W. Bush 22.25 – 0.30 UHR VOX
erleidet im Kongress eine Niederlage: Die die traditionelle Hatz am zweiten Weih-
Abgeordneten verlängern die Anti-Ter- nachtstag. SPIEGEL TV SPECIAL
ror-Gesetze des „Patriot Act“ nur um ei- Eine Liebe in Auschwitz
D I E N S T A G , 2 7. 1 2 .
nen Monat. Es ist eine Liebesgeschichte und zugleich
VERPUFFT FDP- und Grünen-Politiker for- eines der spektakulärsten Fluchtdramen in
F R E I TA G , 2 3 . 1 2 . dern, Teile der Hartz-Reformen zu än- der Geschichte des Konzentrationslagers
SIEGER In Warschau wird der national-
dern. Eine Studie hatte ergeben, dass sie Auschwitz: Verkleidet als SS-Mann rettet
konservative Lech Kaczyński als neuer weitgehend wirkungslos sind. ein Pole eine Jüdin. Dann verlieren sie sich
Präsident vereidigt. und glauben, der jeweils andere sei tot – bis
UNGLÜCK Bei einem Großbrand in
sie sich nach Jahrzehnten wiedersehen.
einem Einkaufszentrum der Stadt San
BETRÜGER Der südkoreanische Klonfor-
Félix in Venezuela sterben mindestens
scher-Star Hwang Woo Suk gibt zu, seine 20 Menschen.
SONNTAG, 8. 1.
bahnbrechenden Forschungsergebnisse 22.25 – 23.15 UHR RTL
gefälscht zu haben. MITTWOCH, 28. 12. SPIEGEL TV MAGAZIN
S A M S TA G , 2 4 . 1 2 . GEISELNAHME Die Entführung von Jürgen Ackermann, Schröder und Co. – macht
Chrobog, Ex-Staatssekretär im Auswärti- Macht unmoralisch?; Die vergessene Ka-
SEGNUNG Vor Tausenden Menschen liest gen Amt, und seiner vierköpfigen Familie tastrophe – Pakistan nach dem Erdbeben;
Joseph Ratzinger im Petersdom seine erste im Jemen wird bekannt. Zwischen Allah und HipHop – Jugend in Ber-
Weihnachtsmesse als Papst Benedikt XVI. lin-Neukölln.
RÜCKSCHLAG Die israelische Armee rich-
VERWARNUNG Das Auswärtige Amt fordert tet im Norden des Gaza-Streifens eine
die nach langen Verhandlungen freige- vier Kilometer breite Sicherheitszone
kommene Ex-Geisel Susanne Osthoff auf, ein. So sollen Raketenangriffe auf jüdi-
nicht wieder in den Irak zurückzukehren. sche Siedlungen verhindert werden.
THOMAS EINBERGER / ARGUM

S O N N TA G , 2 5 . 1 2 . D O N N E R S TA G , 2 9 . 1 2 .

GNADE Der Oberste Gerichtshof in Liby- FRIEDEN Die indonesische Armee schließt
en hebt das Todesurteil gegen fünf bulga- ihren Rückzug aus der Provinz Aceh ab.
rische Krankenschwestern auf. Der Pro- Unter dem Eindruck des Tsunami hatte
zess um die Infizierung Hunderter Jakarta vor rund einem Jahr Verhandlun-
Kinder mit dem HI-Virus wird neu auf- gen mit den dort kämpfenden Rebellen Erdbebenopfer in Pakistan
gerollt. begonnen.
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Register
gestorben Derek Bailey, 75. Er zählte zu den Pionie-
ren der europäischen Free-Music-Avant-
Kerry Packer, 68. Sein Gespür für das garde, die britische Zeitung „The Guar-
richtige Timing machte den Australier zum dian“ nannte den Gitarristen eine „Ein-
reichsten Mann des Landes. Im Sommer Mann-Gegenkultur“. Wenn der in Sheffield
1987 löste er sein Ak- geborene Sohn eines Friseurs zur Gitarre
tiendepot auf – kurz griff, ging es ihm nicht primär um Melodie,
vor dem Börsencrash. Rhythmus oder Harmonie, sondern dar-
Im selben Jahr ver- um, neue Klänge und Spielweisen zu fin-

TORSTEN BLACKWOOD / AFP


kaufte er den TV-Sen- den. Jegliche Kategorien dafür lehnte er
der „Nine Network“ ab. Bailey lernte sein Handwerk in kon-
für gut 700 Millionen ventionellen Jazzbands, bis er sich Mitte
Dollar – und erwarb der sechziger Jahre dem Improvisieren zu-
ihn drei Jahre später wendete. Mit der Band Spontaneous Music
wieder zurück, nach- Ensemble spielte er 1968 das einflussreiche
dem der neue Besitzer Album „Karyobin“ ein. Anfang der Sieb-
pleite gegangen war: für 150 Millionen ziger startete Bailey eine der ersten von
Dollar. Mit solchen Deals baute der Ge- Musikern betriebenen Plattenfirmen. Er ar-
schäftsmann ein Imperium aus Verlagen, beitete in seiner Karriere mit so unter-
Fernsehsendern und Spielcasinos auf, am schiedlichen Kollegen wie Pat Metheny,
Ende besaß er ein Vermögen von schät- John Zorn oder David Sylvian zusammen.
zungsweise 5,2 Milliarden Dollar. Damit Derek Bailey starb am 25. Dezember an
bewegte er sich auf Augenhöhe mit sei- den Folgen einer Motoneuronerkrankung.
nem ewigen Rivalen, dem Medientycoon
Rupert Murdoch. Seit Jahren schon war John Peter Moore, 86. Im Zweiten Welt-
Packer gesundheitlich angeschlagen, 1990 krieg diente er in der britischen Marine;
setzte sein Herz während eines Polospiels nach eigenen Angaben sogar als Berater
für Minuten aus. „Ich war auf der anderen Churchills. Als er in
Seite“, berichtete er damals. „Und ich sage den Fünfzigern auf Sal-
euch, dort ist nichts.“ Kerry Packer starb vador Dalí traf, den ex-
am 26. Dezember in Sydney. zentrischen Surrealis-
ten mit einer ausge-

PERE DURAN / EFE / DPA


Wang Daohan, 90. Der Chinese pflegte prägten Vorliebe für
sein Image als Gelehrter und hielt sich Diktatoren, zahlte sich
meistens im Hintergrund. Von dort aus die militärische Ver-
nahm der Entdecker und Mentor von gangenheit aus: Dalí
Chinas Ex-Präsidenten und ehemaligem Vor- engagierte ihn als Pri-
sitzenden der Kommunistischen Partei, Ji- vatsekretär und nannte
ang Zemin, beharrlich und erfolgreich Ein- ihn „mon capitaine“. Moore animierte sei-
fluss auf die Geschicke seines Landes. Als nen Chef zu zweifelhaften Methoden: Auf
Vorsitzender der halboffiziellen„Associati- seinen Rat hin signierte Dalí leere Blätter,
on for Relations Across the Taiwan Straits“ die dann mit Lithografien bedruckt wur-
bestimmte Wang maßgeblich die Gestal- den. Warum sich der Künstler und sein en-
tung der Beziehungen zwischen Festland- ger Vertrauter nach 20 Jahren überwarfen,
China und der Insel Taiwan, initiierte erste ist nicht überliefert. Gerüchten zufolge soll
Gespräche nach Jahr- Moore von Dalís Ehefrau Gala entlassen
zehnten des Schwei- worden sein. Es wurde ruhig um Moore,
gens und bemühte sich bis die Polizei 1999 bei ihm Tausende ge-
14 Jahre lang um die fälschter Dalí-Lithografien fand. Zudem
Verbesserung der oft stellte sich heraus, dass er ein Dalí-Werk
kritischen Situation. beschnitten hatte; das Bild zeigte Dalís
OMP / IMAGINECHINA

Wang, 1980 bis 1985 Frau Gala. Er zahlte eine Entschädigung


Oberbürgermeister von von etwa einer Million Euro. Das Verfah-
Shanghai, erarbeitete ren gegen ihn wurde wegen Demenz ein-
den berühmten Acht- gestellt. John Peter Moore starb am 26. De-
Punkte-Plan von 1995, zember in Cadaqués an der Costa Brava.
in dem die KP auf eine kommunistische
Ausrichtung eines geeinten Chinas ver- berufliches
zichtete. Doch letztlich kam es zu keiner
Übereinkunft; die Führung Taiwans lehnt Tom Koenigs, 61, Menschenrechtsbeauf-
die Ein-China-Politik der Kommunisten ab, tragter der Bundesregierung, wird ab Febru-
das kommunistische China weigert sich bis ar 2006 Uno-Sondergesandter für Afgha-
heute, die Unabhängigkeit der demokrati- nistan. Außenminister Frank-Walter Stein-
schen Republik anzuerkennen. Zu einem meier begrüßte die Entscheidung von
Besuch des Chefunterhändlers in Taiwan Uno-Generalsekretär Kofi Annan für den
ist es nie gekommen. Wang Daohan starb Grünen-Politiker als „Anerkennung für das
am 24. Dezember in Shanghai. deutsche Engagement in Afghanistan“.
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Personalien
Peter Struck, 62, arbeitswütiger SPD- treten. Den Vorwurf der Selbst- beim Tod des früheren US-
Fraktionsvorsitzender im Bundestag, be- zensur Sarkozys zuliebe wies eine Präsidenten Ronald Reagan
unruhigt seine Mitarbeiter, besonders Illustriertensprecherin weit von im vergangenen Jahr auf
dann, wenn der Borussia-Dortmund-Fan sich – man habe nur „verant- einem Konzert die Menge
am Schreibtisch zu BVB-Schal und -Tasse wortlich gehandelt“. Lagar- mit den Worten zum Kochen
greift. Da fragt seine Umgebung schon dère soll dem Sieger bei den gebracht: „Schande, dass
French Open 1983 inzwi- es nicht George W.
schen 150 000 Euro über- Bush war.“
wiesen haben – für des-
sen Hilfswerk „Enfants Ellis Gallagher,
de la Terre“ (Kinder 32, New Yorker
der Erde). Straßenkünstler,
ist den Schatten
David Cameron, 39, auf der Spur. Es
FRANK OSSENBRINK
neuer Vorsitzender begann irgend-
der britischen Konser- wann im vergan-
vativen, leistete sich genen Jahr. Da
einen kleinen Pat- hatten Abfall-
Struck zer. In einer Doku- körbe, Wasser-
mentationssendung hydranten, Ver-
mal, was los sei. Doch der in der Vergan- wurde der Politiker kehrszeichen, ab-
genheit von Herzproblemen Heimgesuch- nach seiner absoluten gestellte Fahr-
te gibt sich cool und klärt auf: Er käme Lieblingsplatte gefragt. räder allüberall in
sich „mit der Arbeit wie im Stadion vor. Der Tory nannte ein Al- Brooklyn plötzlich mit
Das Spiel hat 90 Minuten, und bei den bum der Popgruppe The weißer Kreide umris-
Akten laufe ich permanent einem Rück- Smiths aus den achtziger sene Schattenwürfe.
stand hinterher“. Zum Jahresende brau- Jahren: „The Queen Is Tagsüber eher be-
che er einen „Motivationsschub“. Außer- Dead“. Cameron, ein Vet- langloses Gekritzel
dem sei er jetzt im Wirtschaftsrat seines ter 5. Grades der Königin, auf den Trottoirs, er-
Vereins, da dürfe er „das immer tragen, beteuerte, dass er natür- wachen die Schatten-
und als Fan sowieso“. Pressesprecher Mat- lich mit der Geisteshal- risse im Nachtdun-
thias Will sieht den Humorausbruch mit tung, die hinter dem Al- kel bei eingeschalte-
gemischten Gefühlen: „Strucki läuft schon bum stehe, nichts am Hut ter Straßenbeleuchtung
wieder zur Arbeitshochform auf. Ganz habe. Wie auch immer, zu voller Wirklichkeit:
gefährlich.“ so manchem Tory-Rech- Nun schien es, als hiel-
ten dürfte der musika- ten die banalen Gegen-
Yannick Noah, 45, fran- lische Geschmack des stände Wacht über ihre
zösisches Tennisidol und neuen Chefs nicht ge- eigenen verformten Um-
erfolgreicher Popstar mit heuer sein. Morrissey, risse aus Kreide, wie am
seiner Gruppe Zam Zam, Sänger, Verseschmied Ende einer atomaren Ka-
wurde Opfer einer me- und linker Spiritus tastrophe. Gleichwohl,
dialen Wiedergutma- Rector der Band Gallaghers Werk ist flüch-
chung. Der Sohn eines aus Manchester, hat tig, Regen oder Schnee
schwarzen Fußball-Profis
und einer blonden Fran-
zösin hatte in einem In- Winslet für ein Kinowerk aus-
terview mit der Illu- ziehen. Sie könne ihren
strierten „Paris Match“ Anblick auf der Lein-
beißende Kritik an der wand nicht ertragen, es
brachialen Immigranten- sei ein Martyrium ge-
Politik des rechten In- wesen. „Ich habe eine
nenministers Nicolas Sar- ganze Woche lang nichts
ABACA / REFLEX

kozy geübt, die in einem essen können wegen


Stabreim gipfelte: „Si dieser Szene“, gestand
Sarko passe, je me casse“ sie der britischen „Elle“.
Noah – sinngemäß: Wenn Sar- „Ich habe zwei Kinder,
kozy es zum Staatspräsi- und ich musste nackt
denten bringt, hau ich ab. „Paris Match“ Kate Winslet, 30, durch ein Zimmer ge-
brachte das Interview, allerdings ohne den englische Schauspie- hen.“ Dabei habe sie in
RUSSELL EINHORN / SPLASH NEWS

zündenden Vers. Grund, der Pariser Pres- lerin („Titanic“), bereut der Vergangenheit stän-
se zufolge: Die Illustrierte hatte im Juni einen Fehltritt. Für den Film „All the dig Gewichtsprobleme ge-
Sarko-Ehefrau Cécilia mit ihrem neuen King’s Men“, der demnächst in die Ki- habt, und sie sei sich immer
Liebhaber auf den Titel gehoben und nos kommt, hatte sie sich in einer Sze- noch nicht ihrer Figur sicher. An man-
mit der Demütigung eine Krise zwischen ne nackt und bloß der Kamera zu stel- chen Tagen habe sie quälende Gedan-
dem gehörnten Ehemann und seinem en- len. Nun gelobt die Oscar-nominierte ken über ihren „schlaffen Busen und
gen Freund, dem „Match“-Besitzer und Aktrice, niemals wieder werde sie sich dicken Hintern“.
Medien-Tycoon Arnaud Lagardère losge-
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firma gekämpft, die Tassen mit
dem DDR-Staatswappen im
Haushaltssortiment angeboten
hatte. Knabes Feldzug geht of-
fenbar noch weiter. Der „Super
Illu“ verriet er, der selbst aus
dem Westen stammt, dass ihn
auch die Filme „Sonnenallee“
und „NVA“ stören – die DDR
würde durch sie „als Spaßgesell-
schaft“ reflektiert. Er stufe die
Streifen als „bedenklich“ ein.

Jan Peter Balkenende, 49, nie-


derländischer Ministerpräsident,
hat sich die Kritik belgischer
Kollegen zu Herzen genommen.
Zur letzten Kabinettssitzung im
vergangenen Jahr trat der wenig
populäre holländische Premier
mit neuer Friseur, neuer Brille
und einem modischen orange-
farbenen Schal auf. Grund für
den Stilwandel waren Äußerun-
FOTOS: CHANG W. LEE / NEW YORK TIMES

gen des belgischen Außenminis-


ters Karel De Gucht, der Bal-
kenende als „eine Mischung aus
Harry Potter und Spießbürger-
lichkeit“ verspottet hatte, und
der belgischen Vizepremiermi-
nisterin Freya Van den Bossche.
Die sozialdemokratische Politi-
kerin, mit 30 Jahren das jüngste
Gallagher, Gallagher-Werke Kabinettsmitglied Belgiens, hat-
te in einem Interview mit einer
verderben es schnell. Doch er ist’s zufrie- holländischen Zeitung derb gehöhnt: „Ste-
den. Früher trieb er sein Unwesen als hen in euren Zeitungen Personalanzeigen
Graffitimaler, von der Polizei hin und mit Texten wie: ,Wenn Sie nicht kleinbür-
wieder gefasst, zu Geldbußen und Sozial- gerlich, steif und altjüngferlich sind, kön-
arbeit verurteilt, bis ein Kumpel bei einer nen Sie bei uns nicht Minister werden‘?“
gemeinsamen Malunternehmung in der Van den Bossche gab sich fassungslos:
U-Bahn von einem Zug tödlich verletzt „Balkenende ist 49? Das kann man nicht
wurde. Seitdem hat er genug von Graffiti- glauben. Der trug mit 19 Jahren wahr-
Missionen, die nur in der Szene Ruhm ein- scheinlich schon solche gestreiften Anzü-
bringen. Seitdem ist er der Maler der ge.“ Die Entgleisung des belgischen
Schatten, was er „toll“ findet, denn jetzt Außenministers hatte eine diplomatische
müsse er nicht mehr gehetzt „über die Démarche wegen Beleidigung zur Folge.
Schulter gucken“, wenn er male, jetzt kön-
ne er seiner Arbeit direkt „vor den Augen
der Polizei nachgehen“.

Hubertus Knabe, 46, Leiter der Stasi-Ge-


denkstätte in Berlin-Hohenschönhausen,
hat einen wichtigen Sieg im Kampf gegen
SERGE LIGTENBERG
MARC DARCHINGER

die DDR-Nostalgie errungen. Der gern als


„Stasi-Experte“ zitierte Knabe, hatte sich
diesmal keinen PDS-Politiker mit IM-
Vergangenheit vorgenommen, sondern ei-
nen Seifenartikel, genauer gesagt, „Erichs Balkenende (vorher, nachher )
Duschbad“, das mit DDR-Staatswappen
den Weg in die Regale einer Supermarkt- Die belgische Ministerin hat sich inzwi-
kette gefunden hatte. Für Knabe eine „Be- schen entschuldigt, was wiederum Hol-
leidigung“ der Menschen, die unter der lands populärsten Kabarettisten Youp
SED gelitten haben. Das Reinigungsmittel van’t Hek auf den Plan rief: „Was für eine
flog auf Knabes Druck hin wieder aus dem muffige Socke. Sie nimmt ihre Worte
Sortiment. Zuvor hatte der Gedenkstät- zurück. Erst die Wahrheit sagen und dann
tenleiter schon tapfer gegen eine Möbel- rufen, dass es so nicht gemeint war.“
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Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Österreichischen Ärztezeitung“: Zitate


„Der Umfang von Taille und Hüfte lässt
sich einer Studie von Forschern um Salim „Zeit“-Herausgeber Michael Naumann
Yusuf von der kanadischen McMaster-Uni- zum SPIEGEL-Gespräch
versität in Hamilton (Ontario) zufolge am mit dem FDP-Vorsitzenden Guido
Umfang von Taille und Hüfte ablesen.“ Westerwelle über das Leben als
Oppositionsführer „Liberale – ,David
gegen Goliath‘“ (Nr. 52/2005):

Hat Bundespräsident Horst Köhler einen


Rhetorik-Kurs absolviert? So viel zu seiner
Weihnachtsansprache. Die weiterhin drän-
gende Frage, warum er das hohe Amt
überhaupt innehat, beantwortete Guido
Westerwelle soeben in einem SPIEGEL-
Gespräch. Der Oppositionsführer erinnert
Aus dem „Schwarzwälder Boten“ sich „an die Nacht, in der wir über unseren
Kandidaten für das Amt des Bundespräsi-
denten entschieden haben. Sie (Angela
Aus den „Westfälischen Nachrichten“: Merkel) war sehr einsam in ihrem Gremi-
„Außerdem habe Pönighaus deutlich ge- um, und so leicht hatte ich es in meiner
sagt, dass er das Pferd nicht zurückhaben Partei … auch nicht“. Da machten sie zu-
wolle. Das bestritt der zwar, doch die zier- erst einmal ein Fläschchen Rotwein auf und
liche Frau schüttelte – unterstützt von zündeten das Kaminfeuer an? Keineswegs,
ihrem Anwalt – den Kopf.“ vielmehr formten sie sich einen Präsidenten
als eine Art Prozac-Pille wider den Verlust
politischer Heiterkeit. „Hätten wir Horst
Köhler nicht durchgesetzt … wäre Frau
Merkel nicht Kanzlerkandidatin geworden,
und ich wäre nicht Parteivorsitzender der
FDP geblieben.“ Here’s looking at you, kid:
„Wir haben uns … in die Augen gesehen
Aus dem Herrenberger „Gäuboten“ und gesagt: ,Wir machen das gemeinsam.‘“
„Gewählt wird mit verdeckten amtlichen
Stimmzetteln“, heißt es im Gesetz über die
Aus einem Programmtipp der Fernseh- Wahl des Bundespräsidenten. Von einer
zeitschrift „TV Direkt“: „Es musizieren Jo- karrieresichernden „Schicksalsgemein-
hann Sebastian Bach, Irving Berlin, Cole schaft“ (Westerwelle) zweier notleidender
Porter und Franz Schubert.“ Parteipolitiker ist dort nicht die Rede. Dass
Horst Köhler das unschuldige Opfer einer
doppelten Lebensplanung ist, hatte man
geahnt, und manche sehen es ihm immer
noch an. Aber einen größeren Tort als
Guido Westerwelles öffentliche Erinnerung
an eine politische Nacht in Berlin hat ihm
Aus der Magdeburger „Volksstimme“ noch niemand angetan, noch nicht einmal
seine Redenschreiber.

Aus der „Frankfurter Rundschau“: „,Wer Die „Berliner Zeitung“ zum SPIEGEL-
täglich Gehirnjogging macht, der erhöht Bericht „Spartricks –
nicht nur seine Merkfähigkeit. Auch der Pfennigfuchser nutzen Ikea als Sozial-
IQ steigt auf fünf bis zehn Punkte‘, sagt station“ (Nr. 52/2005):
Medizinpsychologe Lehrl.“
Freundlich sind sie, die Ikea-Stammgäste.
Wenn man sich ihnen neugierig in der Mö-
belhauskantine nähert, laden sie einen so-
fort zum Hinsetzen ein und beteuern: „lch
bin nicht geizig, sondern unverschämt
preisbewusst.“ So preisbewusst, dass man-
che zur Nahrungsaufnahme jeden Morgen
Aus dem „Klever Wochenblatt“ zu Ikea Tempelhof fahren … Wie viele die-
ser Stammgäste es gibt, ist unter ebenjenen
umstritten. „Höchstens zehn“, schätzt der
Aus der „Mittelbayerischen Zeitung“: „,Als eine … „Bis zu fünfzig“, schätzt ein ande-
Berufstätiger hätte ich diese Klimmzüge rer … Sicher ist: Die Spezies existiert. Und
nicht leisten können‘, sagt Otter mit dem wahrscheinlich hätte man sie kaum ent-
Hinweis, dass er allein für den Neubau des deckt, wenn der SPIEGEL nicht kürzlich
Vereinsheimes über 3000 Stunden auf dem das Ikea-Bistro zur „Sozialstation“ für
Bau zugebracht hat – und zwar täglich.“ Finanzschwache erklärt hätte.
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