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Franz Kafka

Der Geier (1920)

Es war ein Geier, der hackte in meine Füße. Stiefel und Strümpfe hatte er schon
aufgerissen, nun hackte er schon in die Füße selbst. Immer schlug er zu, flog dann
unruhig mehrmals um mich und setzte dann die Arbeit fort. Es kam ein Herr vorüber,
sah ein Weilchen zu und fragte dann, warum ich den Geier dulde. „Ich bin ja wehrlos“,
sagte ich, „er kam und fing zu hacken an, da wollte ich ihn natürlich wegtreiben,
versuchte ihn sogar zu würgen, aber ein solches Tier hat große Kräfte, auch wollte er
mir schon ins Gesicht springen, da opferte ich lieber die Füße. Nun sind sie schon fast
zerrissen.“ „Daß Sie sich so quälen lassen“, sagte der Herr, „ein Schuß und der Geier ist
erledigt.“ „Ist das so?“, fragte ich, „und wollen Sie das besorgen?“ „Gern“, sagte der
Herr, „ich muß nur nach Hause gehn und mein Gewehr holen. Können Sie noch eine
halbe Stunde warten?“ „Das weiß ich nicht“, sagte ich und stand eine Weile starr vor
Schmerz, dann sagte ich: „Bitte, versuchen Sie es für jeden Fall.“ „Gut“, sagte der Herr,
„ich werde mich beeilen.“ Der Geier hatte während des Gespräches ruhig zugehört und
die Blicke zwischen mir und dem Herrn wandern lassen. Jetzt sah ich, daß er alles
verstanden hatte, er flog auf, weit beugte er sich zurück, um genug Schwung zu
bekommen und stieß dann wie ein Speerwerfer den Schnabel durch meinen Mund tief
in mich. Zurückfallend fühlte ich befreit, wie er in meinem alle Tiefen füllenden, alle
Ufer überfließenden Blut unrettbar ertrank.

Aufgabenstellung:

Interpretiere die Parabel „Der Geier“ von Franz Kafka und gehe dabei auf die Bild- und
Sachebene ein. Beschreibe dabei, inwiefern der Angriff des Geiers ein Ausdruck des
inneren Leidens des Erzählers ist.
Franz Kafka

Vor dem Gesetz (1914)

vor dem gesetz steht ein türhüter. zu diesem türhüter kommt ein mann vom lande
und bittet um eintritt in das gesetz. aber der türhüter sagt, dass er ihm jetzt den
eintritt nicht gewähren könne. der mann überlegt und fragt dann, ob er also
später werde eintreten dürfen. "es ist möglich", sagt der türhüter, "jetzt aber
nicht." da das tor zum gesetz offensteht wie immer und der türhüter beiseite tritt,
bückt sich der mann, um durch das tor in das innere zu sehn. als der türhüter das
merkt, lacht er und sagt: "wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines
verbotes hineinzugehn. merke aber: ich bin mächtig. und ich bin nur der unterste
türhüter. von saal zu saal stehn aber türhüter, einer mächtiger als der andere.
schon den anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen." solche
schwierigkeiten hat der mann vom lande nicht erwartet; das gesetz soll doch
jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den türhüter in
seinem pelzmantel genauer ansieht, seine große spitze nase, den langen dünnen
türhüterbart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die erlaubnis zum
eintritt bekommt. der türhüter gibt ihm einen schemel und lässt ihn seitwärts von
der tür sich niedersetzen. dort sitzt er tage und jahre. er macht viele versuche,
eingelassen zu werden, und ermüdet den türhüter durch seine bitten. der türhüter
stellt öfters kleine verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine heimat aus und nach
vielem andern, es sind aber teilnahmslose fragen, wie sie große herren stellen,
und zum schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen
könne. der mann, der sich mit seinen reisen abgequält hat, wird ermüdet, da er
auch vor dem innern des gesetzes, wie vor so vielem andern, steht, gleichsam in
seinem reiseanzug, und die jahre haben in seinem gesichte die spuren der reise
eingegraben. so vergeht die zeit. wenn der mann endlich und in todesnöten die
augen schließt, da er schon längst nichts mehr zu sehen hat, hört er noch, dass
ihm unaufhörlich ein geräusch in den ohren klingelt. das leben des mannes vom
lande war ja nur ein eintritt in das vorzimmer des gesetzes gewesen, und nun hört
er selbst dieses geräusch jahre hindurch. niemand dringt hier bis zu dem türhüter
vor, denn dieser türhüter ist mächtig. doch das gift langsam wirkender jahre wird
auch den türhüter mürbe gemacht haben, und eine leichte neugier wird
schließlich den einen doch bewogen haben, einen blick durch das schlüsselloch
der tür zu tun. er wirft, bevor er geht, dem sterbenden noch einen blick zu, den er
langsam sinken sieht. "niemand anders konnte hier einlass erhalten, denn dieser
eingang war nur für dich bestimmt. ich gehe jetzt und schließe ihn."

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