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Seminar Inszenieren Reflexionen

Liebe Studierenden,

letztlich liegt es auch an der Spielleitung die Weise des Theaterspielens auszuwählen. Aus
den pädagogischen oder therapeutischen Anliegen empfehlen sich erst einmal
biographiebasierte Theaterformen. Die können sehr vielfältig sein. Ein sehr bekanntes
Beispiel wäre das von Augosto Boal entwickelte „Forumstheater“ ( in „Der Regenbogen der
Wünsche“,Milow, 2006 https://www.sowionline.de/praxis/methode/forumstheater.html
welches wiederum auf dem „Theater der Unterdrückten“ Frankfurt am Main; 1979) basiert.
https://de.wikipedia.org/wiki/Theater_der_Unterdr%C3%BCckten. Das würde ich aber lieber
spielerisch mit Ihnen erarbeiten. Bei Interesse kann ich aber einige Texte einscannen.

Der Vorteil solcher Arbeitsweisen ist zunächst, dass man direkt an die Erfahrungen der
Spielenden anknüpfen kann. Dies ist aber zugleich der Nachteil dieser Arbeitsweisen. Sie
verlangen eben auch das die Spieler relativ schnell ihr ganz Eigenes zeigen und hinterfragen.
Die eigenen Panzer sollen quasi sofort fallen gelassen werden. Abhängig von der Größe der
Gruppe, den vorherrschenden Gruppendynamiken sowie der Empathie und Führungsqualität
des Spielleiters kann dies auch gelingen und dann hervorragende pädagogische oder
therapeutische Ergebnisse erbringen. Im Focus stände dann auch nicht so sehr eine echte
Veröffentlichung der Arbeit vor offenem Publikum, sondern deren Verlauf und Präsentation
vor beteiligten Interessenten (Pädagogen, Freunde, Verwandte).

Und es bedarf dafür auch Zeit. Das wäre unter Umständen im Strafvollzug für Jugendliche
gegeben. Allerdings wäre dann darauf zu achten, dass die Auswahl der Spielenden nicht
zufällig ist, sondern die gruppendynamischen Hierarchien durch die Zusammensetzung der
beteiligten Spieler ein Stück weit ausgeblendet werden können. Ähnliche Arbeitsweisen
empfehlen sich auch in kleineren Gruppen in jugendpsychiatrischen Einrichtungen

Dies wäre im Kontext „Inszenieren mit bildungsfernen Jugendlichen“ eher eine Ausnahme. In
aller Regel sind die Gruppen größer, werden Produktionszeiten extra eingeräumt und wollen
Geldgeber/Auftraggeber auch Ergebnisse sehen. Dies ist allerdings auch theatralen
Arbeitsweisen immanent. Sie wollen und sie müssen sich präsentieren. Es gibt natürlich
Unterschiede in der Präsentationsweisen. Sie können auch mit Jugendlichen auf die große
Bühne gehen und den ganzen Theaterapparat nutzen. Sie können aber auch wie in den oben
gewählten Beispielen intimere Präsentationsweisen wählen, die eben viel mehr vom
Protagonisten an sich zeigen.

In der sozialen Arbeit gibt es viele Weisen des Arbeitens, die sich eben auch theatraler
Methoden bedienen. Jedes Rollenspiel, jede Improvisation in Kursen, jede Aufstellungsarbeit
und dergleichen sind schon ein wenig Theater. Theater im eigentlichen Sinne entsteht aber
erst vor und mit dem Publikum. Mit dem Begriff Theater ist nicht mehr gemeint, als dass
Menschen zu einem verabredeten Zeitpunkt an einem verabredeten Ort etwas darstellen,
das anders ist als sie selbst, und das andere Menschen dabei zu sehen. Dabei ist beiden
Gruppen bewusst, dass das Vorgestellte nur gespielt, nur als ob ist.

Mit welchen Produktionsweisen gearbeitet werden soll, ist in unserem Zusammenhang


immer von den jugendlichen Spielern, ihren Bedürfnissen und den pädagogischen Absichten
abhängig. Ganz allein dies entscheidet. Auch wenn die Produktion einen eigenständigen
künstlerischen Wert haben soll, steht der Spieler im Mittelpunkt und nicht das Werk. Im
professionellen oder ästhetisch avanciertem Amateurtheater kann man von einem
Schauspieler auch einmal verlangen, etwas zu tun, was ihm wiederspricht. Da hat im
Zweifelsfalle immer der Regisseur recht. Bei uns hat am Ende immer der Spieler recht. Das
heißt nicht, dass der Spieler tun und lassen kann, was er will. Aber er darf zu nichts
gezwungen werden.

Natürlich muss er im Ergebnis über seine Grenzen hinausgehen. Er darf ja eben nicht nur bei
sich selbst verbleiben, sondern soll an sich selbst andere Aspekte seiner Persönlichkeit
erleben. Dies muss jedoch geführt und am Sicherungsseil des Spielleiters geschehen. Unter
dieser Voraussetzung kann der Spielleiter auch ästhetisch experimentieren und „Kunst“
wollen. Gleichzeitig muss der Spieler sich selbstverständlich den Prozessen des Theaters
aussetzen und sie mit seiner Persönlichkeit füllen. Und er muss es gerade dann leisten, wenn
er dies in seinem Leben bisher nicht leisten konnte.

So wird man in einer Einrichtung der Bewährungshilfe oder zum begleiteten nachholenden
schulischen Abschluss oder gar einer Suchtnachsorgeeinrichtung kaum auf Jugendliche mit
hoher sozialer Verantwortung, Leistungsbereitschaft, emotionaler Reife und
Vereinbarungsgenauigkeit stoßen.

Genau dies soll aber vom Spieler geleistet werden. Er muss Verabredungen einhalten, denn
B geschieht nur, wenn vorher A geschehen ist. Er muss leistungsbereit sein, lernen sich zu
engagieren; nicht nur passiv dabei zu sein. Wenn er auf der Bühne Emotionen zeigt, muss er
diese kennen, in irgendeiner Form erfahren haben können. Und jeder der eine Bühne betritt
übernimmt Verantwortung für das gesamte Ensemble und seiner Wirkungsqualität.

All das muss der Spieler einbringen können, obwohl er es in der eigenen Lebenswirklichkeit
oft noch nicht gelernt hat. Insofern ist Theater mit bildungsfernen Jugendlichen eine
beispielhafte paradoxe Interventionsweise, in der vorausgesetzt wird, was doch erst gelernt
werden soll.

Das sind zu Beginn oft strapaziöse Arbeitsprozesse, die laut, respektlos und chaotisch wirken.
Gerade diese Wirkung multipliziert bei einem Blick von außen oder dem Binnenblick eines
jugendlichen Spielers die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Theater ist in diesem Fall immer
Krise. Theater versteht sich aber auch selbst immer als Krise. („Theater ist Krise. Das ist die
eigentliche Definition von Theater - sollte es sein. Es kann nur als Kritik und Krise
funktionieren, sonst hat es überhaupt keinen Bezug zur Gesellschaft außerhalb des
Theaters.“ Heiner Müller) https://de.wikipedia.org/wiki/Heiner_M%C3%BCller

Und genau hierin liegt seine pädagogische Chance. In den letzten Tagen vor der Präsentation
egal welcher Größe gehen alle durch einen Tunnel, der sich mit dem Beginn des öffentlichen
Spiels explosionartig weitet. In diesem Moment und im abschließenden Applaus wird die
Krise überwunden. Die Spieler haben einmal erfahren eine Krise zu meistern, an ihr zu
wachsen. Dies schreibt sich oft fortdauernd in die Erinnerung ein.

Im Nachhinein wird die gesamte Theatererfahrung - weit über die Zustimmung durch das
Publikum -von den Spielenden als Bereicherung und Zuwachs erfahren. Erst werden
Beobachtungen an anderen Mitspielern gemacht, später an der Gruppe. Und in der
Nachbetrachtung werden diese Veränderungen auch an sich selbst erfahr- und beschreibbar.
Durch diesen Weg der Beobachtungen und Erfahrungen wird dies nicht nur inaktiv
wahrgenommen, sondern Bestandteil kritischer Selbstreflexion. Wie im Unterschied
zwischen passivem und aktivem Wortschatz einer Fremdsprache sind die erfahrenen
Veränderungen und subjektiven Fertigkeiten nicht nur einfach da, sondern im
Selbstbewusstsein aktiv und dadurch abrufbar.

Das gemeinsame Lernen und Wandeln ist an Disziplin gebunden. Disziplin, die sich in der
Theaterarbeit oft an Wiederholungen bindet. Dabei wird nicht nur die Geduld der
Spielenden erprobt und gestreckt, sondern die aller Beteiligten. Humor wird da oft zum
Handwerk des Weiterkommens, des überhaupt Weitermachens. Oft steht im anfänglichen
Probenprozess das Befinden der Gruppe über der Sicherung ästhetischer Teilergebnisse. Hier
muss Mut zur Unvollständigkeit und Vertrauen auf die langfristige Wirkung tragfähiger
inszenatorischer Ideen die Gruppe tragen. Nur so ist das Aufbringen der nötigen Disziplin
möglich. Eine Verstetigung dieser pädagogischen Ergebnisse würde eine Verstetigung der
Theaterarbeit benötigen.

Mit herzlichen Grüßen

Gerd Franz Triebenecker

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