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Edition Akzente
Herausgegeben von
Michael Krüger

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Georg Franck
Ökonomie
der Aufmerksamkeit
Ein Entwurf

Carl Hanser Verlag


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45 02 01 00 99

ISBN 3-446-19348-0
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München Wien 1998
Umschlag: nach einem Entwurf von Klaus Detjen
© Abbildung: Augenmodell Somso CS 20, mit freundlicher
Genehmigung der Firma Marcus Sommer, Coburg
Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany

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Inhalt

Vorwort
Einleitung
Im blinden Fleck der Theorie
Leib und Seele
Ökonomie als Realitätsprinzip
Erstes Kapitel: Das aufmerksame Dasein und das
Geschäft der Wissenschaft
»Aufmerksamkeit« und »Bewußtsein«
Die Wissenschaft: ein Kampf um Aufmerksamkeit
Zur ökonomischen Rationalität des Forschungsbetriebs
Zweites Kapitel: Aufmerksamkeit:
Die neue Währung?
Blick auf die Historie der Informationsflut
Die Kultur der Intentionalität
Das Massengeschäft der Information
Die finale Entgrenzung der Informationsflut
Auf der Kippe
Die neue Währung?
Drittes Kapitel: Zur Ökonomie
der Selbstwertschätzung
Der Wunsch nach Beachtung und die Sorge um den Selbstwert
Wie erfahren wir von unserer Rolle im anderen Bewußtsein?
Ökonomischer Preis und intrinsischer Wert
Persönliche Wertschätzung und soziale Geltung
Ansehen und Gesicht
Der Markt des Ansehens
Lokale Märkte und komparative Gefühle
Viertes Kapitel: Das Kapital
Ruhm, Prominenz, Reputation, Prestige
Der Markt der Beachtung und der Kurswert der Beachtlichkeit
Gesellschaftlicher Ehrgeiz
Das Gesellschaftsspiel um den Selbstwert
Der Betrieb der Kultur und der Kapitalmarkt der Beachtlichkeit
Der Gang an die Börse
Abstimmung und Widerspruch
Vom Publikations- zum Massenmedium
Die Produktion der Prominenz
Der Kapitalismus im Geist
Fünftes Kapitel: Attraktivität als Stil der Zeit
Hohe und populäre Kultur
Aura und Idol
Die Kultur der Attraktivität
Attraktivität als Realitätsprinzip
Medienästhetik
Der »attraktive« Sektor
Sechstes Kapitel: Die Wissenschaft:
ein intelligentes Sozialsystem?
Geistiges und beachtliches Kapital
Eine ökonomische Theorie der Wissensproduktion?
Soziale Intelligenz
Rationalität und Moralität
Siebtes Kapitel: Moralische Eleganz
Ökologischer Hedonismus
Ordinärer und nobler Reichtum
Der Zirkel der Abfälligkeit und der Zirkel der Wohltätigkeit
Verstand und Gefühl
Das Herz
Unterwegs zur Selbstaufmerksamkeit
Die Verantwortung der Selbstaufmerksamkeit
Soziale Wohlfahrt, Logik und Ethik
Anmerkungen
Vorwort

Es gibt die Ökonomie des Tauschens und es gibt die Öko-


nomie des Schenkens. Wenn von Ökonomie die Rede ist,
ist aber fast nur vom Tauschen und kaum je vom Schen-
ken die Rede. Das hat etwas mit der Ökonomie selbst, vor
allem aber mit jenen zu tun, die darüber reden. Das Tau-
schen scheint leichter verständlich als das Schenken. Das
Tauschen paßt zur Vorstellung, daß beide Seiten rational
ihren Vorteil verfolgen. Das Schenken sperrt sich der gän-
gigen Vorstellung von ökonomischer Rationalität.
Daran schon zeigt sich, daß der Begriff ökonomischer
Rationalität enger ist als das Spektrum rationalen Han-
delns. Dieses Buch will das begriffliche Korsett erweitern.
Trotzdem macht es keine Ausnahme von der Regel, daß
viel vom Tauschen und wenig vom Schenken die Rede ist.
Das ist einer seiner Mängel. Nicht nur, daß das Schenken
im Fall der Zuwendung von Aufmerksamkeit eine prak-
tisch bedeutende und für die Qualität des Zusammenle-
bens sogar ausschlaggebende Rolle spielt. Die Arbeit sel-
ber wäre nicht zustande gekommen ohne eine Reihe hoch-
herziger Spenden an Aufmerksamkeit.
Bereits die Idee ist eine Spende. Meine Schwester Doro-
thea hat sie mir überlassen. Auf dem Gebiet der Konversa-
tionsanalyse arbeitend, hatte sie vorgeschlagen, den sich
selbst organisierenden Wechsel von Sprechen und Hören
als Form eines stillschweigend ausgehandelten Tauschs zu
beschreiben. Das knappe Gut, das jede Unterhaltung ko-
stet und um dessen Einnahme es in jeder Unterhaltung
geht, ist Aufmerksamkeit. Aus Dorotheas Vorschlag wur-
de ein gemeinsam verfaßter Aufsatz. So kam es, daß die
Idee einer Ökonomie der Aufmerksamkeit erstmals unter
dem Titel »Zwischenmenschliche Verhandlung versus
intersubjektive Norm« in den Papieren zur Linguistik, Nr.
35 (Heft 2/1986) vorgestellt wurde.
Am weiteren Gedeihen der Idee hat Kurt Scheel beson-
deren Anteil. Er hat das Projekt unterstützt, indem er Ent-
würfe durchsah, mit stets gutem Rat zur Seite stand sowie
Vorüberlegungen und Vorabdrucke im Merkur erscheinen
ließ.
Das Projekt wäre gescheitert, hätte mich Helmut Grün-
der nicht aus einer verheerenden Sackgasse herausgeholt.
Er hat es auf sich genommen, zwei unreife Vorversionen
gründlich durchzuarbeiten und dem begriffsstutzigen Au-
tor klarzumachen, daß er sich auf dem Holzweg befindet.
Ohne diesen entschiedenen Einsatz des Freundes wäre die
Arbeit nicht zustande gekommen.
Das Manuskript haben Harald Atmanspacher, Ernst Pe-
ter Fischer und Egon Matzner durchgesehen und verbes-
sert. Harald Atmanspacher hat sich ganz besonders um die
Kapitel 1, 6 und 7 verdient gemacht. Weil ich den Ratsch-
lägen nicht in allen Punkten gefolgt bin, bleiben die Ver-
säumnisse ganz meine Schuld.
Den schwierigsten Begleitpart hat Ingrid Schünemann
übernommen. Nicht nur, daß sie ständig geforderte Berate-
rin in Stil- und Haltungsfragen war, sie mußte es auch
ertragen, daß der Lebensgefährte zwar großzügigst ihre
Rücksicht in Anspruch nahm, weit weniger großzügig aber
im Bedanken mit Aufmerksamkeit war. Ihr ist dieses Buch
zugeeignet.
Einleitung

Was ist angenehmer als die wohlwollende Zuwendung


anderer Menschen, was wohliger als ihre teilnehmende
Einfühlsamkeit? Was wirkt so inspirierend wie begeisterte
Zuhörer, was ist so fesselnd wie das Fesseln ihrer Sinne?
Was gibt es Aufregenderes als einen Saal voll gespannter
Blicke, was Hinreißenderes als den Beifall, der einem ent-
gegentost? Was schließlich kommt dem Zauber gleich,
den die entzückte Zuwendung derer entfacht, von denen
wir selber bezaubert sind? – Die Aufmerksamkeit anderer
Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr Be-
zug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der
Ruhm über der Macht, darum verblaßt der Reichtum ne-
ben der Prominenz.
Prominente sind die Einkommensmillionäre in Sachen
Aufmerksamkeit. Der Ruhm ist die schönste der irdischen
Belohnungen, weil er den Status des Großverdieners an
Aufmerksamkeit noch über den Tod hinaus sichert. Das
Hinreißende am jubelnden Publikum ist der Schwall der
zufliegenden, das Betörende am eigenen Ausüben von
Faszination ist das Bad in der gebannten Aufmerksamkeit.
Der Zauber, der von der Überfülle empfangener Zuwen-
dung ausgeht, übertrifft die Magie des Geldregens. Aber
wie vom Geld, so können wir von der Aufmerksamkeit
nicht genug bekommen. Der Beifall kann zwar von der
falschen Seite kommen, und die Seite, welche Beachtung
findet, kann die falsche sein. Von Menschen aber, die wir
schätzen, und für Eigenschaften, die wir uns zugute halten,
kann der Zuwendung schwerlich zuviel werden.
Nur auf mangelnde Aufmerksamkeit reagieren wir emp-
findlich. Wir halten es einfach nicht aus, keine Rolle im
Seelenleben anderer zu spielen. Die Menschenseele fängt
schon an zu leiden, wenn sie keine erste Rolle in einer
anderen spielt. Und sie nimmt bleibenden Schaden, wenn
sie kein Mindesteinkommen an Zuwendung bezieht. Der
Entzug kann sogar tödlich sein. Kinder sterben an man-
gelnder Zuwendung, Erwachsene erleben die Isolation als
Folter. Die Seele bedarf der Zuwendung ihresgleichen wie
der Leib seiner körpereigenen Morphine.
So ist denn auch kein Kult über Zeiten und Völker so
verbreitet wie der um die Attraktivität der eigenen Person.
Nichts und niemandem huldigen die Menschen mit solcher
Hingabe wie ihrer Anziehungskraft auf fremde Aufmerk-
samkeit. Alles Predigen wider die Gefallsucht, alles Wet-
tern gegen die Eitelkeit blieb vergebens. Die Eitelkeit hat
all die höheren Werte, in deren Namen sie verdammt wur-
de, glänzend überlebt. Aufklärung und Modernisierung
haben ihr nur gutgetan. Die Säkularisierung hat sie befreit,
statt untergraben. Je weiter Brauchtum und Religion zer-
fallen, um so unverhohlener rückt der gesellschaftliche
Ehrgeiz ins Zentrum der Lebensinhalte. Je reicher und
offener die Gesellschaft, um so offener und aufwendiger
wird der Kampf um die Aufmerksamkeit ausgetragen.
Nicht der sorglose Genuß, nein, die Sorge, daß die andern
auch schauen, wird zum tragenden Lebensgefühl in der
Wohlstandsgesellschaft.

Im blinden Fleck der Theorie

Es wäre eigenartig, wenn eine Gesellschaft, die der Attrak-


tivität frönt, nicht auch der Neugier huldigen würde. Neu-
gier und das Verlangen nach Zuwendung sind Geschwi-
ster: Sie sind die beiden freischwebenden Arten des Be-
gehrens. Sie werden wie leibliche Bedürfnisse verspürt,
haben sich aber vom physischen Anlaß des Begehrens
emanzipiert. Sie beschäftigen die Aufmerksamkeit ohne
konkreten Anlaß. Die Lust auf Neues und das Verlangen
nach Zuwendung sind unermüdliche Antriebe zur Findig-
keit. Gemeinsam ist ihnen der ausgesprochen erotische
Einschlag; beide führen zu deprivierenden Entzugser-
scheinungen, wenn sie nicht befriedigt werden. Die Erfül-
lung beider liegt aber ganz auf der psychischen – um nicht
zu sagen, mentalen – Ebene.
Neugier und das Verlangen nach der Rolle im anderen
Bewußtsein sind die Arten der Begehrlichkeit, die das
Bewußtsein von sich aus entwickelt. Ihre Zeit ist gekom-
men, wenn für die leiblichen Bedürfnisse gesorgt ist. Ganz
folgerecht sind sie es, die in der nachindustriellen Gesell-
schaft die Führungsrolle übernehmen. Die Wissensproduk-
tion beerbt die einst dominierende Stellung der Schwerin-
dustrie, an die Stelle des sozialen Stands und materiellen
Reichtums tritt die öffentlich festgestellte Auffälligkeit.
Folgerecht wird die nachindustrielle Gesellschaft als Wis-
sensgesellschaft angesprochen, schlüssig auch, daß wir
eine Hochblüte des inszenierten Auffallens und dicken
Auftragens erleben. Die Wissenschaft beherrscht das
Weltbild in der hochtechnisierten Zivilisation, der Kampf
um die Aufmerksamkeit beherrscht deren Alltagskultur.
Wir sind Zeugen einer förmlichen Explosion des Wissens
und bekommen eine sprichwörtliche Flut Beachtung hei-
schender Reize zu spüren.
Wissenschaft ist die systematisch veranstaltete, profes-
sionell betriebene und arbeitsteilig organisierte Befriedi-
gung von Neugier. Aber nicht nur. Der Wissenschaftsbe-
trieb ist auch eine im industriellen Maßstab organisierte
Ökonomie der Wissen produzierenden Aufmerksamkeit.
Die wichtigsten Produktionsmittel der Wissenschaft sind
vorproduziertes Wissen und lebendige Aufmerksamkeit.
Da vorproduziertes Wissen wiederum aus vorproduzier-
tem Wissen und lebendiger Aufmerksamkeit entstand, ist
es letztlich immer Aufmerksamkeit, die Wissen produ-
ziert. Die Aufmerksamkeit, die Wissen produziert, ist nun
aber nicht begehrt, sondern knapp. Sie wird nicht zwi-
schenmenschlich zugewendet, sondern sachlich verwen-
det. Sie leistet zunächst einmal Arbeit und geht nur unter
bestimmten Umständen in eine Form des Einkommens für
andere über.
Ganz anders die Aufmerksamkeit, deren Attraktion die
Alltagskultur beherrscht. Sie ist begehrt als Einkommen.
Aber sie ist begehrt nicht, weil man anderer Leute Arbeit
damit kaufen könnte, sondern weil sie Zugang zu anderen
Erlebnissphären verschafft. Um der Rolle willen, die die
eigene Person im anderen Bewußtsein spielt, inszenieren
wir die hohe Kultur der Attraktivität. Weil unser gesell-
schaftliches Leben auf der Bühne des anderen Bewußt-
seins spielt, sind Kleiderordnung, Aufmachung und die
Pflege von Figur und Frisur so wichtig. Wie im Theater
werden die Auftritte, auf die es ankommt, sorgsam einstu-
diert und wird aller nur erdenkliche Aufwand getrieben,
um den richtigen Eindruck zu machen. Was neu am Zeit-
stil dieses Aufwands ist, ist die Professionalität und hohe
Technologie der Zulieferindustrien. Mode und Kosmetik
versprechen, massenhaft solche Produkte zu liefern, die
einfach unwiderstehlich machen. Die Technologien der
Herstellung von Attraktivität stecken hinter dem Design
der Konsumgüter und brillieren in der Werbung. Die hoch
technische Zivilisation ist hoch technisiert nicht nur, was
die Techniken maschineller und organisatorischer Art,
sondern auch, was die Technologien betrifft, mit denen
Aufmerksamkeit erregt und eingefahren wird.
In der hochtechnisierten Zivilisation erlebt die Aufmerk-
samkeit jedoch auch in ihrer Eigenschaft als Produktions-
faktor einen historisch beispiellosen Aufschwung. Als
Produktionsfaktor ist die lebendige Aufmerksamkeit eine
knappe Ressource und heißt geistige Arbeit. Der Anteil
der geistigen Arbeit am Sozialprodukt hat den der körper-
lichen in allen entwickelten Volkswirtschaften inzwischen
weit überrundet. Die Aufmerksamkeit ist hier zur generell
wichtigsten Quelle der Wertschöpfung geworden. Eigenar-
tigerweise spielt sie aber so gut wie keine Rolle in der
Wissenschaft von der Ökonomie. Aufmerksamkeit ist kei-
ne Kategorie der ökonomischen Theorie. Dort ist zwar viel
von Entmaterialisierung, Informatisierung und Virtualisie-
rung die Rede, die zentrale Ressource der Informations-
verarbeitung kommt aber nicht zur Sprache.
Auch in ihrer Eigenschaft als Einkommen kommt die
Aufmerksamkeit in der theoretischen Ökonomie nicht vor.
Nicht, daß nur geldwerte Einkommen zählen würden. Es
finden auch psychische Formen des Einkommens Berück-
sichtigung. Es fehlt aber die systematische Betrachtung
des Tauschs an Beachtung und der Einnahmen an Auf-
merksamkeit. Weder als knappe Ressource noch als be-
gehrtes Einkommen ist Aufmerksamkeit eine Kategorie
der ökonomischen Theorie. Und wer nun glaubt, dieses
Versäumnis werde in den weniger technischen Disziplinen
der Sozialwissenschaft korrigiert, wird noch einmal ent-
täuscht. Im großen und ganzen wird man in der Literatur
zur nachindustriellen Gesellschaft unter dem Stichwort
Aufmerksamkeit vergeblich suchen.
Nur dort, wo es intellektuell weniger anspruchsvoll zu-
geht, ist der organisierte Kampf um die Aufmerksamkeit
das große Thema. Der Blätterwald und das Fernsehen ste-
hen im Bann des Reichtums an Beachtung. Nichts interes-
siert die Massenmedien so sehr wie der Rummel um die
bekannten Gesichter und die Kurswerte der Prominenz. Je
schillernder das Genre, um so ausschließlicher wird das
Medium zur Stätte des Kults um die Attraktivität. Es ist
die Regenbogenpresse, die das Hochamt dieses Kults ze-
lebriert. Diesem Kult meint die ernsthafte Intellektualität
nur heimlich beiwohnen zu dürfen. Natürlich ist auch sie
von der Macht der Eitelkeit und von der Gier nach Publizi-
tät getrieben. Reden darüber dürfen aber nur die Klatsch-
spalten, nicht die Wissenschaft.
So nimmt denn auch die Wissenschaftstheorie das Wort
Aufmerksamkeit nicht in den Mund. Alle wissen zwar,
welche Rolle die Eitelkeit in der Wissenschaft spielt. Vom
Wunsch, Aufsehen zu erregen, ist aber höchstens als ver-
pöntem Laster die Rede. Daß es für die Leistungsfähigkeit
des Forschungsbetriebs vielleicht entscheidend sein könn-
te, daß Wissenschaftler nicht nur aus Neugier forschen,
sondern auch für den Lohn der Beachtung arbeiten,
kommt nicht in den Sinn. Nicht einmal als produktive
Ressource findet die Aufmerksamkeit Erwähnung. Die
Abstinenz geht sogar so weit, daß sich die Wissenschafts-
theorie nicht für die Denkökonomie interessiert. So vor-
rangig es für das konkrete Forschen ist, mit der knappen
Aufmerksamkeit hauszuhalten und ihren Wirkungsgrad zu
optimieren, so stiefmütterlich wird diese Ökonomie von
der Theorie der Wissenschaft behandelt.
Der erste und einzige Ansatz einer systematischen Öko-
nomik des Denkens ist die Wissenschaftslehre Ernst
Machs geblieben.1 Sie ist inzwischen über hundert Jahre
alt. Mach erblickte das entscheidende Steigerungsprinzip
der Reichweite und analytischen Schärfe des Denkens in
der Ökonomisierung aufmerksamer Energie. Wissenschaft
bedeutet für ihn den Übergang von handwerklichen zu
industriellen Verfahren der Wissensproduktion. Wissen-
schaftliche unterscheidet sich von der vor wissenschaftli-
chen Forschung durch den bewußten Umgang mit den
natürlich bemessenen Kräften, durch das Vermeiden alles
Überflüssigen, durch die Zerlegung großer Operationen in
kleine Schritte, von denen mindestens ein Teil mechani-
sierbar ist. Wiewohl es diese Art Rationalisierung war, die
in der Zeit seit Mach noch einmal eine dramatische Steige-
rung erfuhr, fand Machs Wissenschaftslehre keine Reso-
nanz. So folgenreich Machs Vordenken der nachklassi-
schen Physik wurde, so folgenlos blieb seine Vorstudie
zur Denkökonomik.

Leib und Seele

Wie kommt es zu diesem eigenartigen Schielen des wis-


senschaftlichen Blicks? Warum ist die beruflich neugieri-
ge Aufmerksamkeit so desinteressiert an sich selbst? Nun,
das Phänomen des aufmerksamen da Seins ist das Ärger-
nis der wissenschaftlichen Objektivität. Es gelingt einfach
nicht, diesem Phänomen mit den Mitteln objektivierender
Erkenntnis beizukommen. Es ist in seinem Wesen subjek-
tiv. Es hat keine vom erlebenden Subjekt unabhängige
Existenz und keine Wirklichkeit, die empirisch oder lo-
gisch zwingend nachgewiesen werden könnte.
Die Aufmerksamkeit ist so schwer zu fassen, wie sie un-
abdingbar für das bewußte Erleben ist. Wir wissen nicht,
wie es zum Phänomen des geistesgegenwärtigen da Seins
kommt. Wir wissen zwar manches über Bedingungen, die
notwendig sind, um das Phänomen hervorzubringen. Wir
wissen aber nicht, wie es kommt, daß unser Nervensy-
stem, statt nur Information zu verarbeiten, auch subjekti-
ves Erleben erzeugt. Mit nichts tut sich die Wissenschaft
so schwer wie mit diesem Erleben. Die Frustration geht so
weit, daß es lange Zeit zum guten Ton in der Wissenschaft
gehörte, das Phänomen als subjektive »Illusion« abzutun.
Tatsächlich sind die Nervensysteme erlebender Wesen
die eigenartigsten Objekte, die es gibt. Sie präsentieren
sich völlig unterschiedlich je danach, ob sie aus der Per-
spektive der dritten Person untersucht oder in der Perspek-
tive der ersten Person erlebt werden. Aus der Perspektive
der dritten Person stellen sie eine anatomische Struktur mit
physiologischer Funktion, ein Konglomerat von chemi-
schen und physikalischen Prozessen dar, deren herausra-
gende Fähigkeit die Verarbeitung von Information ist. In
der Perspektive der ersten, also derjenigen Person, die das
Nervensystem ist, erscheint eine Welt, die aus Empfin-
dungen, Wahrnehmungen, Gefühlen und Vorstellungen
besteht, und deren sinnliche Präsenz gerade nicht auf den
Aspekt der Informationsverarbeitung reduziert werden
kann. Aus der Sicht der dritten Person ist das Nervensy-
stem ein biologischer Computer. Aus der Sicht der ersten
Person ist es das Zentrum einer in sinnlichen Qualitäten
und als bedeutsam erlebten Welt.
Die beiden Aspekte sind in unüberbrückbarer Weise ge-
trennt. Noch kein erlebendes Wesen hat je Einblick in die
Erlebnissphäre eines anderen genommen. Eben diese In-
spektion wäre nun aber erforderlich, wenn die Aufmerk-
samkeit, auf deren Zuwendung wir subjektiv so gierig
sind, Eingang in die Wissenschaft finden sollte. Für die
Wissenschaft zählt allein die Perspektive der dritten Per-
son. Das, worauf es uns an der Aufmerksamkeit unserer
Mitmenschen ankommt, existiert für den wissenschaftli-
chen Blick ganz einfach nicht. Der Wunsch nach Zuwen-
dung ist das Verlangen, ein tatsächliches – möglichst zu-
geneigtes und am liebsten hingerissenes – Fühlen für uns
einzunehmen. An der Existenz einer sinnlich gefühlten
Qualität, die über den Aspekt der Informationsverarbei-
tung hinausreicht, hat der wissenschaftlich geschulte Sinn
ernstlich zu zweifeln gelernt. Umgekehrt ist dieser Zweifel
aus der Sicht des Verlangens nach Zuwendung absurd.
Wenn wir an unsere Rolle im anderen Bewußtsein denken,
ist es eher der Aspekt der Informationsverarbeitung, der
uns kalt läßt. Es ist nicht die Verarbeitung von Informati-
on, was die Eitelkeit vermißt, wenn niemand schaut. Es ist
die Zuwendung der anderen Seele.
Die Gefühle, aus denen heraus die Widmung der Auf-
merksamkeit erfolgt, sind weniger wichtig bei der geisti-
gen Arbeit. Gefühle sind zwar nicht unerheblich, was die
Motivation der Arbeit anbelangt. Die Theorie des Produk-
tionsfaktors Aufmerksamkeit hätte aber unter der Annah-
me entwickelt werden können, daß das subjektive Erleben
ein bloßes Epiphänomen ist. Die Theorie hätte sich, anders
gesagt, nicht auf die Frage einlassen müssen, ob das sub-
jektive Erlebnis Einfluß auf die Informationsverarbeitung
nimmt oder nur einen Begleitumstand ohne eigene Wirk-
samkeit darstellt. Die seelischen Qualitäten, auf die es im
zwischenmenschlichen Tausch der Aufmerksamkeit so
sehr ankommt, hätten auch das Machsche Programm einer
Denkökonomik nicht zu Fall bringen müssen. Auch hier
hätte sich die Betrachtung auf die Knappheit der psychi-
schen Energie beschränken können. Warum nicht einmal
dieser Ausweg gewählt wurde, um sich der praktisch so
wichtigen und immer wichtiger werdenden Ökonomie der
Aufmerksamkeit theoretisch anzunähern, bleibt eine offe-
ne Frage. Gut möglich jedoch, daß schon die Assoziation
mit den seelischen Qualitäten, die im Wortklang von
Aufmerksamkeit mitschwingen, zur Abschreckung hinge-
reicht hat.
Subjektiv erleben wir nicht nur die eigenen Gefühle als
motivierend, sondern auch jene, die wir anderen unterstel-
len. Wie können andere Gefühle nun aber zu eigenen Mo-
tiven werden, wo wir zu anderen Erlebnissphären doch
keinen Zugang haben? Die Frage führt zurück zu dem
Kult, den wir um das Bild der eigenen Person im anderen
Bewußtsein machen. Dieser Kult ist nämlich ein Kult im
ganz unmittelbaren Sinne des Worts. Kultisch ist sowohl
die Hingabe als auch der Gegenstand der Verehrung. Die
Gefühle, die uns im anderen Bewußtsein begegnen, sind –
um es paradox auszudrücken – das Sinnlichste, das es für
uns gibt, und zugleich das Übersinnliche, dem wir alle
huldigen. Fremde Gefühle sind das Sinnlichste, das es für
uns gibt, weil die sinnlichsten unserer Gefühle diejenigen
sind, die sich auf die Gefühle anderer beziehen. Fremde
Gefühle sind zugleich das konkrete Übersinnliche, weil
alles, was wir spüren, empfinden, merken, vorstellen, mei-
nen, immer nur in unserem je eigenen Bewußtsein statthat.
Es gibt kein Fenster zum anderen Bewußtsein hinüber und
keine Tür aus dem eigenen hinaus. Trotzdem leben wir,
als ob wir ständigen Kontakt mit anderem Bewußtsein
hätten.
Der Kontakt von Bewußtsein zu Bewußtsein ist eine ein-
zige Veranstaltung des Wunschdenkens. Wir sind uns des
anderen Seelenlebens so sicher, weil wir es ohne die Vor-
stellung, eine Rolle in anderem Seelenleben zu spielen,
ganz einfach nicht aushalten. Wir beziehen die unterstell-
ten Gefühle anderer auf uns und weiden uns an ihnen, weil
wir ohne diese Labsal nicht leben könnten. Wir erleben es
als großes Drama, wenn wir die Zuwendung nicht be-
kommen, auf die wir uns einbilden nicht verzichten zu
können. Nichts beschäftigt uns so sehr wie unser Selbst-
bild im Spiegel des anderen Bewußtseins. Wir stillen un-
ser Verlangen aber immer nur in der eigenen Vorstellung.
Wir träumen von der Starrolle im Bewußtsein derer, die in
unserem eigenen Bewußtsein die Hauptrolle spielen, ob-
wohl wir doch nie und nimmer aus dem eigenen hinaus-
können. Irgendwie scheint der Trick aber zu klappen. Wir
alle tun so, als ob wir in einer Gesellschaft beseelter We-
sen lebten. Der zwischenmenschliche Tausch der Auf-
merksamkeit ist zwar Magie. Er ist aber Magie, die funk-
tioniert.

Ökonomie als Realitätsprinzip

Es ist kein Wunder, daß sich die Wissenschaft mit sol-


chem Zauber schwertut. Bei ihr muß alles mit rechten
Dingen zugehen. Was in ihren Augen existieren will, muß
sich auch nachweisen lassen. Nur: Ist es nicht doch ver-
blüffend, wie gut die Magie funktioniert? Wäre es denk-
bar, daß sie so tadellos klappt, wenn ihre Unterstellung
illusorisch wäre? Es ist ja nicht so, daß nur der positive
Existenzbeweis der anderen Seele fehlt, es fehlt auch jedes
Anzeichen, das gegen ihre Existenz spräche. Wo ernsthaf-
te Zweifel am bewußten Dasein aktionsfähiger menschli-
cher Organismen gepflegt werden, da sind sie rein theore-
tischer Natur und für theoretische Zwecke künstlich er-
zeugt. Im zwischenmenschlichen Umgang ist die Unter-
stellung, daß hinter dem anderen Verhalten ein Dasein wie
das eigene steckt, die größte Selbstverständlichkeit der
Welt. Die Unterstellung funktioniert sogar mit derart frag-
loser Selbstverständlichkeit, daß es schon wieder ein
Wunder wäre, wenn sie nicht sachhaltig wäre.
Böte nicht dieses andere Wunder den Ansatzpunkt für
eine theoretische Annäherung an den Kult, den wir alle
praktizieren? Wäre es nicht an der Zeit zu fragen, ob wir
uns dümmer stellen, als wir sind, wenn wir die theoreti-
sche Skepsis wörtlich nehmen? Lehrt nicht sogar der Blick
auf den kulturellen und wirtschaftlichen Wandel, daß die
Unterstellung der Vielfalt beseelten Daseins trägt? Ja, wird
diese Unterstellung durch den Wandel nicht noch einmal
bekräftigt?
Ohne den Glauben an die Wirklichkeit anderen Fühlens
wäre die wachsende Bedeutung des Einkommens an Auf-
merksamkeit schlicht unerklärlich. Die boomenden Märkte
der Eitelkeit wären Ekstasen kollektiven Wahns, wenn
dieser Glaube tatsächlich bloßes Wunschdenken wäre.
Wie wäre die Begeisterung zu erklären, mit der alle mit-
machen, wenn außer einem selbst noch niemand erfahren
hätte, wie sich die Rolle des anderen Fühlens im eigenen
anfühlt? Welch anderen Grund als die Projektion des eige-
nen Erlebens hinter das andere Verhalten könnte es haben,
daß sich die Menschen wie abgesprochen auf das seelische
Einkommen stürzen, nachdem der Kampf ums physische
Überleben ausgestanden ist? Die Annahme, daß dieses
Einkommen nur in der Einbildung existiert, war immer
schon wunderlich. Sie ist inzwischen aber regelrecht un-
sinnig geworden. Warum diese Unsinnigkeit also nicht im
Umkehrschluß produktiv machen? Warum nicht fragen,
ob es am Ende die kulturelle und wirtschaftliche Entwick-
lung selber ist, die den wissenschaftlichen Unglauben ad
absurdum führt?
Um dem Drängen dieser Fragen nicht vorschnell nach-
zugeben, muß Klarheit darüber herrschen, daß der Un-
glaube die Reaktion auf eine lange Leidensgeschichte in-
tellektuellen Scheiterns ist. Es ist nicht nur die Wissen-
schaft im engeren Sinne, die sich mit dem Phänomen des
bewußten Erlebens schwertut. Auch die Philosophie hatte
mit dem seelischen Dasein seit je ihre Probleme. Wie ein
roter Faden durchziehen die Versuche, dieses Daseins be-
grifflich habhaft zu werden, die Geschichte der abendlän-
dischen Philosophie. Nie kam es jedoch zu einer befriedi-
genden Lösung. Der Fall blieb unerledigt. Er ging als das
sogenannte Leib-Seele-Problem in die Geistesgeschichte
ein. Um diesen Fall nur noch einmal aufzurollen, müssen
schon sehr triftige Gründe auftauchen. Es reichen nicht
neue Tatsachen, es müssen auch neue Gesichtspunkte auf-
tauchen, die einen Zugang jenseits ausgetretener Pfade
versprechen. Nur ein unerprobter Ansatz rechtfertigt den
abermaligen Versuch. Legt also der gesellschaftliche
Wandel, wie wir ihn erleben, einen neuen Zugang zum
bewußten Erleben nahe?
Das Verständnis des Wandels, das ist die erste These
dieses Buchs, setzt die ausdrückliche Anerkennung des
Bewußtseinsphänomens voraus. Es verlangt aber, das ist
die zweite These, ein tatsächlich ungewohntes Herangehen
an das Phänomen. Es verlangt genau die Art des Herange-
hens, die in der langen Geschichte des Leib-Seele-
Problems noch nicht probiert wurde. Noch nicht wurde in
dieser Geschichte ein ökonomischer Ansatz probiert. Ein
solcher Ansatz, so schien es lange und so scheint es sicher
auch heute noch vielen, paßt schlecht zur Empfindlichkeit
und Würde des Gegenstands. Die Ökonomie wird mit dem
meß- und wägbaren Aspekt des Lebens assoziiert, woge-
gen das aufmerksame Dasein gerade denjenigen Zug am
leiblichen Dasein darstellt, der sich dem Messen und Wie-
gen entzieht. Trotzdem hat die Aufmerksamkeit ihre neue
Bedeutung dadurch gewonnen, daß sie in den hochtechni-
sierten Zivilisationen als produktive Ressource und als
Form des Einkommens ins Zentrum rückt. Symptomatisch
für diesen Wandel ist ihre Ökonomisierung. Je knapper
eine Ressource, desto wichtiger werden Gesichtspunkte
des Haushaltens; je begehrter ein Einkommen, desto sy-
stematischer werden die Anstrengungen seiner Einnahme.
Gewiß, die Prosa des ökonomischen Denkens paßt
schlecht zu dem metaphysischen Glanz, der den Begriff
der Seele umgibt. Nur: Blendet dieser Glanz nicht eher, als
daß er aufhellt? Was hat die Tatsache, daß wir an man-
gelnder Zuwendung leiden und sogar krank werden kön-
nen, mit einer abgehobenen Welt der Ideen zu tun? Wird
es nicht Zeit, daß die Seele aus dem Himmel der Ideen
zurück auf den Boden der Alltäglichkeit geholt wird? Und
liegt es dabei nicht am nächsten, auf die quantitativen
Aspekte des bewußten Daseins zu achten?
Das Charakteristische an der ökonomischen Methode ist
die Unterstellung, daß die Individuen, deren Zusammen-
spiel untersucht wird, rational ihren Vorteil verfolgen. Je
größer der Stellenwert der rationalen Vorteilsuche in ei-
nem sozialen Zusammenhang, desto besseren Erfolg ver-
spricht die Methode. Was als vorteilhaft gilt, ist nicht ir-
gendwie vorentschieden, sondern hängt von den Präferen-
zen der Beteiligten ab. Die Ökonomik faßt beobachtetes
Verhalten als Lösung des Problems auf, wie mit den ver-
fügbaren Ressourcen und eintauschbaren Gütern ein Op-
timum an Wunscherfüllung und Bedürfnisbefriedigung
erreicht werden kann. Sie kommt zu einem Begriff gesell-
schaftlich objektiven Werts, indem sie das Tauschen und
Weitertauschen von Gütern als dezentrale Abstimmung
über ihren Wert deutet. Die theoretische Ökonomie er-
schließt durch diese ihre Methode ein Realitätsprinzip:
Auf der individuellen Ebene existiert, was für die Bedürf-
nisbefriedigung von Belang ist; auf gesellschaftlicher
Ebene existiert, was einen Preis hat.
So befremdlich das Ansinnen eines ökonomischen Zu-
gangs zum Seelenleben auf den ersten Blick erscheinen
mag, so hartnäckig drängt sich dem zweiten Blick die Fra-
ge auf, warum die theoretische Ökonomie das Thema
nicht schon längst aufgegriffen hat. Es fällt nämlich auf,
daß nicht nur eine Theorie der geistigen Arbeit und spezi-
ell der Wissensproduktion fehlt, sondern daß sich die
Ökonomik ganz allgemein mit der Entmaterialisierung des
Wirtschaftsprozesses schwertut. Es fehlt die Theorie der
Informationsökonomie und die Ökonomik der Massenme-
dien. Es fehlt eine Einkommens- und Verteilungstheorie
der Beachtung. Es fehlt die ökonomische Theorie des Pre-
stiges, der Reputation und der Prominenz. Die theoretische
Ökonomie schweigt zum Wandel der Alltagskultur und
zum Wandel im Streben der Wirtschaftssubjekte. Dabei
wäre es ein grober Irrtum zu glauben, die Ökonomik sei
auf Fragen der Geldwirtschaft und des Haushaltens mit
materiellen Gütern festgelegt. Die Unterstellung rationaler
Vorteilsuche bedeutet keine Vorauswahl, was die Art des
Haushaltens oder die Art der getauschten Güter betrifft.
Sie setzt lediglich voraus, daß die Kategorien der
Wunscherfüllung und Bedürfnisbefriedigung greifen. Ob
die Mittel, die dafür geeignet sind, materieller oder imma-
terieller Natur sind, ist sekundär. Auch die Präferenzen,
die die ökonomische Methode unterstellt, sind subjektiv
und von außen nicht inspizierbar. Schließlich sind Preise
nicht als Geldsummen definiert, sondern als die Relatio-
nen, in den Güter welcher Art auch immer getauscht wer-
den.
Es sprechen keine Gründe a priori dagegen, die Unter-
stellung rationaler Vorteilsuche auf den Umgang mit der
knappen eigenen und der begehrten anderen Aufmerksam-
keit auszudehnen. Nur umgekehrt gilt, daß die Gangbar-
keit der ökonomischen Methode noch nicht bedeutet, daß
das ökonomische Realitätsprinzip trägt. Begriffe wie
Knappheit und ökonomischer Wert sind nicht isoliert vom
Rest der ökonomischen Begriffiichkeit belastbar. Die
Möglichkeit, etwas als knapp zu bezeichnen, besagt über
sein Wirklichsein noch wenig. Auch daß etwas geschätzt
wird, ist noch kein Beweis für seine Existenz. Die Fest-
stellung, daß eine Sache knapp und begehrt ist, wird erst
dann zu einem Argument für ihre Wirklichkeit, wenn die-
se Knappheit und Wertschätzung zu Variablen einer öko-
nomischen Theorie geworden sind, die generell erfolg-
reich im Erklären von Beobachtungen ist. Der ökonomi-
sche Ansatz entwickelt Beweiskraft hinsichtlich des auf-
merksamen Daseins also erst, wenn sich der Gedanke ei-
ner Ökonomie der Aufmerksamkeit systematisch entfalten
läßt.
Um die Entfaltung dieses Gedankens geht es im folgen-
den. Es geht um die Frage nach dem Mehr an Verständnis,
das die Annahme erschließt, daß nicht nur der Leib, son-
dern auch die Seele im Leib eine maßgebliche Rolle in
unserem täglichen Leben und Zusammenleben spielen.
Was folgt, ist jedoch kein ökonomischer Vorschlag zur
Lösung des Leib-Seele-Problems. Es geht um das bessere
Verständnis des gesellschaftlichen Zusammenspiels, in das
unser individuelles Erleben eingespannt ist. Der vorlie-
gende Entwurf bleibt aber um ein Ganzes hinter einer
ökonomischen Theorie, die existentielle Beweiskraft ent-
wickeln könnte, zurück. Es wird sich nämlich erweisen,
daß der Tausch der Aufmerksamkeit sich gegen das kano-
nische Format einer ökonomischen Theorie sperrt. Der
herkömmliche Begriff ökonomischer Rationalität ist für
den rationalen Umgang mit der Aufmerksamkeit zu eng.
Und nicht nur dies. Der Erfolg bei der rationalen Rekon-
struktion des Umgangs mit der Aufmerksamkeit ist eine
zweischneidige Sache. Der Begriff ökonomischer Rationa-
lität, den die Analyse unterstellt, ist um ein Grundsätzli-
ches enger als der, den der angemessene Umgang mit un-
serem aufmerksamen Dasein erheischt. Die Fassungskraft
bewußten Erlebens ist mehr als nur ein Produktionsmittel,
die Einnahme zugewandter Beachtung mehr als nur ein
Mittel zur Wunscherfüllung.
Die Verwendung unserer Aufmerksamkeit ist ein ande-
rer Ausdruck dafür, was wir erleben. Die Rolle, die wir im
anderen Bewußtsein spielen, ist Bestandteil unseres
Selbstbilds. Der angemessene Umgang mit unserer Erleb-
nisfähigkeit und unserem Selbstbild läßt sich nicht auf den
Bereich des Kalkulierbaren einschränken. Vielmehr bleibt
eine theoretische Ökonomie der Aufmerksamkeit selber zu
eng, wenn sie sich nicht als kritische Ökonomie versteht.
Sie muß kritisch in zwei Richtungen sein. Sie muß fragen,
was die Ökonomisierung der Aufmerksamkeit mit dem
Erleben selber anstellt. Und sie muß fragen, was es genau
ist, das am eingeführten Begriff ökonomischer Rationalität
zu kurz greift.
Erstes Kapitel

Das aufmerksame Dasein und das


Geschäft der Wissenschaft

Was ist da, wenn wir aufmerksam da sind? Die Welt, wie
wir sie subjektiv erleben. Was ist das aufmerksame Dasein
an und für sich? Die Präsenz des erlebenden Bewußtseins.
Was trennt die Präsenz des Bewußtseins von der Welt, die
es erlebt? Das ist schwer zu sagen. Daß ein Bewußtsein da
ist, heißt, daß ein Merken, Spüren, Empfinden da ist und
nicht vielmehr nichts. Wird alles abgezogen, was gespürt,
gemerkt, empfunden wird, dann bleibt in gewissem Sinne
nichts. Bliebe nun aber tatsächlich nichts, wenn alles ab-
gezogen ist, was Gegenstand des Erlebens ist, dann wäre
das Erleben selber nichts. Daß das Erleben seine eigene
Wirklichkeit hat, merken wir aber daran, daß mit ihm die
Welt verschwindet, wie sie für uns vorkommt. Nur in der
Art und Weise des Gemerktwerdens, Gespürtwerdens,
Empfundenwerdens kommt für uns – als eben aufmerksa-
me Wesen – etwas vor. Weil wir nicht wissen, was »vor-
kommen« in völliger Unabhängigkeit von solchem Ge-
wahren heißen könnte, ist es so schwer zu sagen, was von
dem aufmerksamen Dasein bleibt, wenn alles abgezogen
ist, was in ihm vorkommt. Erst wenn wir dies sagen könn-
ten, könnten wir angeben, was das aufmerksame Dasein
als solches ist.
So ist unser aufmerksames Dasein das Vertrauteste und
das Fremdeste zugleich. Es ist das Vertrauteste, weil es all
unser Erleben begleitet und wir gar nicht umhin können,
es intim zu kennen. Es ist das Fremdeste, weil wir es in
seiner eigenen Wirklichkeit nicht fassen, es nicht wie an-
dere Dinge vor uns hinstellen können. Es entzieht sich der
vorstellenden Vergegenständlichung. Wir können es nur in
der Art und Weise erfahren, daß es seiner selbst inne wird.
Und es kann seiner selbst nur inne werden, indem es sich
seiner eigenen Geistesgegenwart vergewissert. Es kommt
zu sich, indem ihm klar wird, daß es keinen von ihm sel-
ber unabhängigen Standpunkt gibt, von dem aus es be-
trachtet werden könnte. Seine Erfahrung besteht im Zu-
stand der Selbstaufmerksamkeit. Um in den Zustand der
Selbstaufmerksamkeit zu geraten, muß die selbstverständ-
liche Vertrautheit, die wir mit der Präsenz unseres Be-
wußtseins haben, aufbrechen. Die Erfahrung dieses Auf-
brechens ist unaussprechlich. Sie nimmt mystische Züge
an, sobald sich das Dasein des Bewußtseins daranmacht,
seiner selbst als bewußt Sein teilhaftig zu werden.
Hat es überhaupt Sinn, über das aufmerksame Dasein in
gewöhnlichen Worten reden zu wollen? Die Schwierigkei-
ten und die Unzahl der gescheiterten Anläufe sprechen
eigentlich für sich. Eine skeptische Antwort ließe sich
auch schon damit begründen, daß die Rede klarstellen
müßte, was unter der Präsenz des Bewußtseins genau zu
verstehen ist. Es gibt wenige Begriffe, deren Bestimmung
sich mit solcher Hartnäckigkeit einem definitiven Ergebnis
verweigert wie »Bewußtsein«. Die entschiedensten Versu-
che, das Dasein in seiner für sich seienden Wirklichkeit zu
verstehen, verlassen die Ebene der diskursiven Rede. Sie
gehen den Weg der Versenkung und Kontemplation. Sie
folgen der intuitiven Verheißung, daß es kein abstraktes
Nichts sein wird, welches bleibt, wenn aus dem aufmerk-
samen Dasein alles abgezogen ist, was in ihm vorkommt.
Die Selbstaufmerksamkeit hat ihre Erfüllung in der Erfah-
rung, daß die Leere, zu der die Kontemplation hinfindet,
eben dieses Dasein – für sich genommen – ist. Sie erfährt
in diesem Zusich-Kommen, was gemeint ist, wenn gesagt
wird, daß es ein leeres Sein oder erfülltes Nichts ist, das da
bleibt. Sie macht diese Erfahrung gerade nicht auf dem
Weg der Selbstreflexion. Das Bewußtsein erfaßt sich darin
nicht, indem es seine begrifflichen Fähigkeiten auf sich
selbst anwendet. Es kommt zu sich als ein unhintergehbar
Letztes. Es ist aber wiederum nicht das absolute Bewußt-
sein, wie es die westliche Philosophie einmal dachte, was
da zu sich kommt. Es ist, mit einfachen Worten gesagt, die
Seele, die in solchem Zusich-Kommen ihre Natur erfährt.
Das Wort Seele ist wichtig an dieser Stelle. Es enthält
den Hinweis, daß es einen intuitiven Zugang zum Da des
Aufmerksamseins gibt. Wir alle wissen, wovon wir reden,
wenn wir es umgangssprachlich gebrauchen. Dieses Wis-
sen hat all den Mißbrauch des Begriffs und alle gescheiter-
ten Versuche überstanden, die Intuition in begreifendes
Denken zu übersetzen. Wir brauchen weder Philosophen
noch Initiierte zu sein, um zu verstehen, worum es geht.
Eine Seele in dem Sinn, wie ihn jedes Kind versteht, ist
da, wo ein Merken, Spüren, Empfinden ist. Beseelt sind
Wesen, deren Merken, Spüren, Empfinden sich nicht auf
den Informationsgewinn reduzieren läßt, den sie aus Rei-
zen ziehen.
Dem Gebrauch des Wortes Seele entspricht die Auswahl
der anderen Wesen, denen wir Beseeltheit unterstellen.
Wir lassen unser intuitives Wissen um die Beseeltheit des
eigenen Leibs dadurch praktisch werden, daß wir anderen
Lebewesen, mit denen wir uns verwandt fühlen, ebenfalls
ein Merken, Spüren, Empfinden unterstellen, das über den
Aspekt der Informationsverarbeitung hinausgeht.
Analogieschlüsse dieser Art gelten als unwissenschaft-
lich. Die Wissenschaft hat ihr selbstdefiniertes Wesen in
der Bereitschaft, jederzeit den Beweis für ihre Behauptun-
gen anzutreten. Die Rede von der Seele steht nun aber mit
dem empirischen Nachweis und dem logischen Existenz-
beweis gleichermaßen auf Kriegsfuß. Mag das eigene Da-
sein selbstevident sein, so ist das andere doch weder als
Erfahrungstatsache noch im Sinne zwingender Logik be-
weisbar. Die Berichte von anderem Seelenleben sind im-
mer subjektiv. Sie bleiben den zwingenden Beleg schul-
dig, daß existiert, wovon die Rede ist. Schließlich gibt es
immer auch konkrete Gründe, den Berichten aus dem an-
deren Seelenleben zu mißtrauen. Im kleinen hat die Wis-
senschaft mit ihrer Skepsis also recht. Ins Unrecht setzt sie
sich erst, wenn sie ihr Mißtrauen bis zur ausdrücklichen
Leugnung einer eigenen Wirklichkeit des Seelischen
treibt.
Bei dieser Leugnung setzt die folgende Argumentation
an. Die These dieses ersten Kapitels ist, daß sich die Wis-
senschaft mit dieser Leugnung selbst keinen Gefallen tut.
Sie bringt sich um die interessantesten Züge in ihrem
Selbstbild, wenn sie aus ihrem Selbstverständnis alles ver-
bannt, was mit der zwischenmenschlichen Unterstellung
der Beseeltheit zusammenhängt. Die Wissenschaft ist
nämlich, das soll gezeigt werden, das schon fertige Mu-
sterbeispiel einer geschlossenen Ökonomie der Aufmerk-
samkeit. Anhand der Wissenschaft läßt sich vorführen,
wie die Unterstellung anderen Daseins trotz – ja völlig
unabhängig von – allen theoretischen Unsicherheiten
funktioniert. Ihr Beispiel läßt sogar besonders deutlich
werden, welche Bedeutung der zwischenmenschliche
Tausch der Aufmerksamkeit für deren produktive Wid-
mung hat. Das praktische Funktionieren der Wissenschaft
als immaterielle Ökonomie ist keine unwesentliche Beiga-
be zu ihrer Funktion. Von ihr hängt vielmehr ab, ob sie
sich auch als im ökonomischen Sinn rationales Unterfan-
gen ausweisen kann.
»Aufmerksamkeit« und »Bewußtsein«

Für diesen Zugriff ist eine gewisse Klärung der Begrif-


fiichkeit des Daseins nun allerdings unumgänglich. So
hoffnungslos es wäre, »Aufmerksamkeit« und »Bewußt-
sein« bündig definieren zu wollen, so unverzichtbar sind
diese Begriffe, wenn von den Manifestationen des Seeli-
schen die Rede ist. Um zu verhindern, daß die Uneinheit-
lichkeit ihres terminologischen Gebrauchs offene Verwir-
rung stiftet, müssen zumindest zwei Bedeutungen unter-
schieden werden, die sowohl im Fall der Aufmerksamkeit
als auch im Fall des Bewußtseins durcheinandergehen.
Das deutsche Wort »Aufmerksamkeit« zieht zusammen,
was im Englischen als ›awareness‹ und ›attention‹ ausei-
nandergehalten ist. ›Awareness‹ ist der Zustand der wa-
chen Achtsamkeit, ›attention‹ das gezielte Achtgeben.
›Awareness‹ meint den intransitiven Zustand des Daseins,
in dem überhaupt ein Merken, Spüren, Empfinden da ist
und nicht vielmehr nichts. Weil unser Merken, Spüren,
Empfinden so gut wie immer – nämlich bis auf den radikal
ausnehmenden Zustand der erfüllten Leere – auch transitiv
auf etwas gerichtet ist, sticht der Unterschied zwischen der
intransitiven und transitiven Bedeutung nicht von sich aus
hervor. Die Trennlinie zwischen der rein für sich genom-
menen Geistesgegenwart und dem sich einem Gegenstand
zuwendenden Achtgeben erscheint hier sogar als künst-
lich, nämlich nur analytisch zu ziehen. Die beiden Seiten
überschneiden sich sogar ein Stück weit in der Wortbedeu-
tung von ›awareness‹. ›Awareness‹ wird nämlich auch in
dem Sinn gebraucht, daß die Bereitschaft zur Zuwendung
besteht und ein Hintergrundwissen zur Sache aktiv ist.
Eindeutig und ausschließlich transitiv ist allerdings die
Bedeutung von ›attention‹. ›Attention‹ ist so klar auf das
zielend gerichtete, den Gegenstand fokussierende und ihn
heraushebende Achtgeben beschränkt, daß man das Wort
sachlich korrekt mit selektiver Aufnahme und zielgerichte-
ter Verarbeitung von Information übersetzen könnte. Die
Doppeldeutigkeit von »Aufmerksamkeit« wird sinnfällig,
wenn man bedenkt, daß für die selektive Aufnahme und
zielgerichtete Verarbeitung von Information nicht gilt, daß
sie immer in Verbindung mit dem Zustand des Daseins
steht. So regelmäßig das intransitive Dasein mit einem
transitiven Achtgeben verbunden ist, so wenig gilt umge-
kehrt, daß das Achtgeben nur im Zustand des Daseins
möglich wäre. Unser Nervensystem filtert ein Vielfaches
mehr an Reizen aus dem physischen Geschehen um uns
herum und in unserem Körper heraus, als der bewußten
Wahrnehmung präsentiert wird. Es extrahiert aus diesen
Reizen auch um Größenordnungen mehr an Neuigkeits-
wert, als es uns merken, spüren, empfinden läßt. Es arbei-
tet ja auch weiter, wenn wir in Gedanken ganz woanders
oder überhaupt nicht da sind. Schließlich sind Dasein und
Wegsein aus der Sicht der Informationsverarbeitung im
Nervensystem höchstens unterschiedliche Modalitäten der
Verarbeitung. Wie wenig die selektive Aufnahme von
Reizen und wie wenig die zielgerichtete Extraktion von
Information auf den Zustand des Daseins angewiesen ist,
wird am sinnfälligsten daran, daß sie auf Maschinen über-
tragen werden kann.
Das Paradigma der maschinellen Informationsverarbei-
tung ist maßgeblich für die wissenschaftliche Definition
von attention. Wo in der wissenschaftlichen Psychologie
von attention die Rede ist, ist awareness gerade nicht mit-
gemeint. Deshalb wird viel Verwirrung dadurch angerich-
tet, daß es sich eingebürgert hat, attention auch in diesem
reduktionistischen Gebrauch mit Aufmerksamkeit zu
übersetzen. Um ganz klarzustellen, daß es in der vorlie-
genden Abhandlung nie um Informationsverarbeitung al-
lein geht, wenn von Achtgeben und Beachtung die Rede
ist, wird Aufmerksamkeit ausdrücklich in der deutschen
Bedeutung des Wortes gebraucht. Mit Aufmerksamkeit
sind attention und awareness stets zugleich – und zwar
zugleich in ihrer Verschiedenheit – gemeint. Das Auf-
merksamsein sei, ganz im Sinne des umgangssprachlichen
Wortgebrauchs, als die zugewandte und zugleich wach
daseiende Geistesgegenwart verstanden. Mit Aufmerk-
samkeit wird immer sowohl die Kapazität zu selektiver
Informationsverarbeitung als auch der Zustand der Gei-
stesgegenwart angesprochen sein. Und mit dem Zustand
der Geistesgegenwart wird, um auch dies zu betonen, nie
nur die Bereitschaft zur Informationsverarbeitung und das
Aktiviertsein von Hintergrundwissen gemeint sein, son-
dern immer auch die bewußte Präsenz.
Damit sind wir beim gemeinsamen Kern der Referenzen
von Aufmerksamkeit und Bewußtsein angelangt. Die be-
wußte Präsenz ist gleichbedeutend mit dem aufmerksamen
Dasein. Bewußtsein und Aufmerksamkeit konvergieren in
der Bedeutung von awareness. Ihre Bedeutungen überlap-
pen aber auch auf der mit attention angesprochenen Seite.
Nur zu oft wird das Bewußtsein mit selektiver Informati-
onsverarbeitung gleichgesetzt. Wo also liegt der Unter-
schied zwischen Aufmerksamkeit und Bewußtsein?
Tatsächlich ist der Unterschied schwieriger herauszustel-
len als die Gemeinsamkeit. Der Unterschied besteht weni-
ger in der Sache als im Kontext, in dem es üblich ist, den
einen oder den anderen Begriff zu gebrauchen. Vom Be-
wußtsein ist es üblich zu reden, wenn die Sprache und
zumal der Gebrauch des Wortes Ich eine wesentliche Rol-
le spielt. Von Aufmerksamkeit reden wir eher, wenn es
um das selektive Wahrnehmen, um das Spüren und Erfüh-
len sowie um das Achtgeben auf der zwischenmenschli-
chen Ebene geht. Deutlich wird der Unterschied, wenn wir
die zugehörigen Ausdrücke für die Selbstbezüglichkeit
vergleichen. Das Selbstbewußtsein wird wie von selbst mit
begrifflicher Reflexion und der denkerischen Rekonstruk-
tion des Selbst verbunden. Die Selbstaufmerksamkeit hin-
gegen wird mit gesteigerten Zuständen des kontemplativen
Beisich-Seins und überhaupt mit den eher begrifflosen
Formen der Innenschau assoziiert. Auch diese Unterschie-
de im Akzent bekräftigen nun aber, daß Bewußtsein und
Aufmerksamkeit nichts im Wesen Verschiedenes bezeich-
nen.
Daß die Unterschiede keine wesentlichen sind, heißt
nicht, daß sie zu vernachlässigen seien. Bewußtsein und
Aufmerksamkeit sind keine austauschbaren Begriffe, wes-
halb sie im folgenden auch beide gebraucht werden. Al-
lerdings ist das Bewußtsein wegen seines stärkeren Be-
zugs zur begrifflichen Sprache und Selbstartikulation des
Ich der stärker strapazierte Begriff. Die in der wissen-
schaftlichen und leider auch philosophischen Debatte we-
nig beachtete Differenz zwischen den Bedeutungsebenen
der Geistesgegenwart und der Informationsverarbeitung
hat den Begriff an den Rand der Brauchbarkeit gebracht.
Deshalb seien die beiden Ebenen der Bedeutung nun noch
einmal auch an ihm herausgestellt.
Im normalen Zustand seines wachen Daseins ist das Be-
wußtsein immer zugleich ein Bewußtsein von. Es ist nicht
nur intransitiv bei sich, sondern auch transitiv auf etwas
bezogen. Diese Grundverfassung macht den synonymen
Kern von Bewußtsein und Aufmerksamkeit aus. Aller-
dings wird der transitive, inhaltliche Bezug beim Bewußt-
sein nun nicht mit Attentionalität, sondern mit Intentiona-
lität bezeichnet. Der Unterschied zwischen attentionaler
Aufmerksamkeit und intentionalem Bewußtsein entspricht
dem, den wir mit der Abweichung zwischen »achten auf«
und »meinen von« assoziieren. Auch hier kommt die stär-
ker auf die Sprache bezogene Bedeutung von Bewußtsein
zum Tragen. Leider ist die Bezeichnung Intentionalität für
den inhaltlichen Bezug des Bewußtseins aus anderen
Gründen nicht sonderlich geglückt. Sie betont zu sehr die
absichtsvoll hinmeinende Referenz gegenüber dem exten-
siven Umfang und der Deutlichkeit der Bewußtseinsinhal-
te. Sie lenkt von den unterschiedlichen Graden ab, in de-
nen etwas bewußt sein kann. Sie wurde von daher zu
Recht kritisiert. Es gibt nicht nur das konzentriert aus-
schließliche Denken an eine Sache. Zwischen der über-
scharfen Konzentration im Erschrecken und dem im
Schatten dämmernden Hintergrundwissen kommen alle
nur vorstellbaren Abstufungen vor. Der Übergang vom
bewußten Vordergrund zum unbewußten Hintergrund ist
(nahezu) kontinuierlich. Das tatsächliche Bewußtsein von
ist stets eine bunte und laufend wechselnde Mischung aus
Gehalten, die in ganz unterschiedlichen Intensitäten zuge-
gen sind. Dieser Komplexion des Bewußtseins wird der
Begriff der Intentionalität nicht gerecht. Weil er zur Be-
zeichnung nun aber eingeführt ist und die Nähe zur Atten-
tionalität ja auch anklingt, sei er hier beibehalten. Das
Bewußtsein von sei als intentionales Bewußtsein bezeich-
net. Die Negation von bewußt im intentionalen Sinne ist
unbewußt. Unbewußt ist aber nicht das einzige Gegenteil
von bewußt. Es gibt auch die Negation im intransitiven
Sinne des Begriffs. Das Gegenteil von bewußt im intransi-
tiven Sinne ist bewußtlos. Im Zustand der Bewußtlosigkeit
ist nicht dies oder jenes unbewußt, sondern ist das Be-
wußtsein als solches nicht da. Der Unterschied ist der zwi-
schen der aufmerksamen Zuwendung und dem aufmerk-
samen Dasein. Im ersteren Fall sind bestimmte Erschei-
nungen mehr oder weniger deutlich, im letzteren ist es die
Ebene des Erscheinens selber, die aufgespannt oder einge-
zogen ist. Im Fall, daß uns etwas unbewußt ist, existiert
die subjektiv erlebte Welt fort. Im Fall der Bewußtlosig-
keit ist sie weg. Allerdings kennt nun auch das intransitive
Dasein Stufen der Präsenz. Wir sind anders da, wenn wir
frisch ausgeschlafen als wenn wir todmüde oder schon am
Einschlafen sind. Wir sind noch einmal anders da, wenn
wir träumen. Wir sind wohl gar nicht da, wenn wir im
Zustand traumlosen Tiefschlafs oder in Narkose sind.
Vom Bewußtsein ist effektiv nichts mehr da im Koma und
schließlich im Tod. Alle diese Unterschiede sind Unter-
schiede in der Präsenz der Erlebnissphäre insgesamt und
nicht nur solche in deren Zusammensetzung. Erst in zwei-
ter Linie wechseln mit dem Grad der Präsenz auch die
intentionalen Gehalte des Bewußtseins.
Das intransitive Dasein, das da Sein der Geistesgegen-
wart ist ein Phänomen im eigentlichen Sinne des Worts.
Es ist eine Erscheinung, die sich wirklich ereignet, die
aber keine vom Geschehen ihres Erscheinens unabhängige
Wirklichkeit hat. Die sich ereignende Präsenz ist nicht
dasselbe wie die vonstatten gehende Repräsentation des-
sen, was an Inhalten in ihr vorkommt. Das intransitive
Dasein darf, anders gesagt, nicht verwechselt werden mit
dem, was in diesem Zustand gemerkt, gespürt, empfunden
wird. Es ist das Geschehen des Merkens, Spürens, Emp-
findens selbst. Dieses Geschehen ist es, das statthat, wenn
wir bei Bewußtsein sind, und nicht stattfindet, wenn wir
bewußtlos sind. Das Bewußtsein im Sinne des Daseins
dieses Phänomens sei daher phänomenales Bewußtsein
genannt.
Die Differenzierung der intentionalen und der phänome-
nalen Bedeutung ist das unabdingbare Minimum zur be-
grifflichen Klärung von »Bewußtsein«. Zugleich macht sie
die liebe Not deutlich, die die Wissenschaft mit dem Be-
griff in der phänomenalen Bedeutung hat. Das Bewußtsein
in der phänomenalen Bedeutung ist nun einmal nur von
innen her, in der Perspektive seines eigenen Subjekts zu-
gänglich. Aus der Perspektive der dritten Person ist es wie
vom Erdboden verschwunden. Nach außen hin erscheinen
nur subjektive Berichte. Das, was die Berichte schildern,
erscheint nicht. Wohl glauben wir, durch den Austausch
solcher Berichte Zugang zur anderen, zur zweiten Person
zu haben. Bei Licht besehen ist dieser Zugang zur zweiten
Person aber nur ein Salto mortale aus der ersten heraus. Er
ist nicht mehr als ein Analogieschluß vom eigenen auf das
andere Erleben. Noch kein Subjekt hat je die phänomena-
len Zustände eines anderen inspiziert.
Alles, was für ein Bewußtsein wirklich werden will, muß
in seinem eigenen Erleben vorkommen. Es führt keine
Türe aus dem eigenen Bewußtsein hinaus und kein Fenster
zum anderen hinüber. Das andere Bewußtsein ist immer
die Projektion aus dem eigenen heraus. Unsere subjektive
Erlebnissphäre ist eine fensterlose Monade. Ein jedes Be-
wußtsein ist eine Welt für sich. In dieser Welt kommt alles
vor, was für das Bewußtsein Wirklichkeit wird. Selbst die
Vorstellung der Wirklichkeit, wie sie unabhängig vom
wahrnehmenden und vorstellenden Bewußtsein ist, kommt
nur wieder im vorstellenden Bewußtsein vor. Das phäno-
menale Bewußtsein hat keinen Ausgang außer dem end-
gültigen des Todes. Es hat auch keinen Eingang außer dem
einmaligen der Geburt. Als möglichen Zusammenhang
zwischen den Monaden sah Leibniz, der Verfasser der
Monadologie, nur die Allwissenheit einer höchsten, näm-
lich göttlichen Monade, in deren Bewußtsein alles und
damit auch die Allheit der individuellen Monaden aufge-
hoben ist.
Leibnizens Monadologie ist der kühne Entwurf einer
Kosmologie, die statt der physischen Realität vom Dasein
der Aufmerksamkeit als eigentlicher Wirklichkeit ausgeht.
An ihr wird paradigmatisch klar, worauf die Wissenschaft
sich einlassen müßte, wenn sie das phänomenale Bewußt-
sein in ihr Weltbild einführen wollte. Für die Wissenschaft
zählt nicht die Perspektive der ersten und auch nicht die
der zweiten Person. Die Wissenschaft ist festgelegt auf die
anonyme Perspektive der dritten Person. Diese Perspekti-
ve ist bei Leibniz die des allwissenden Gottes. Ist Wissen-
schaft also nicht geradezu gezwungen, den phänomenalen
Aspekt des Bewußtseins zu leugnen?
Die Antwort fiele eindeutig aus, wenn da nicht zwei
Sachverhalte wären, die die Monadologie ihrerseits außer
acht läßt. Der erste ist, daß die Monaden im Plural nicht
nur, wie Leibniz dachte, in der Aufmerksamkeit eines all-
wissenden Gottes zusammenhängen. Der andere ist, daß
am Zugang, den die Forscher in der gewohnten mit-
menschlichen Einstellung zum anderen Bewußtsein haben,
die Rationalität des Forschungsbetriebs hängt.

Die Wissenschaft: ein Kampf um Aufmerksamkeit

Wiewohl wir wissen, daß wir eigentlich keinen Zugang zu


anderen Erlebnissphären haben, wissen wir, daß wir in der
eigenen nicht allein sind. Wir hielten es in der eigenen
Sphäre nämlich allein gar nicht aus. Wir bevölkern sie,
noch bevor wir überhaupt lernen zu denken, in unserer
Vorstellung mit bewußten anderen Wesen. Kinder, die zu
diesem Bevölkern unfähig sind, erkranken im pathologi-
schen Sinn. Die Unfähigkeit, zwischen Gegenständen zu
unterscheiden, die eigenes Bewußtsein haben, und sol-
chen, die vermutlich keines haben, macht autistisch. Men-
schen, die an Autismus leiden, leben in einer tatsächlich
fensterlosen Monade. Für andere ist die Frage, ob und wie
sie Zugang zu anderem Dasein haben, immer eine retro-
spektive. Sie kommen auf diese Frage überhaupt erst,
wenn die Selbstverständlichkeit des Umgangs mit ande-
rem Bewußtsein durch ungewohnte Schwierigkeiten oder
nachfragende Reflexion unterbrochen wird. Das nachträg-
liche Scheitern, nicht das erstmalige Glücken des Ein-
blicks läßt aufhorchen.
Gleichwohl bleibt der Einblick, den wir in fremdes Erle-
ben nehmen, indirekt. Weder die Zuwendung der Auf-
merksamkeit, die uns meint, noch die Gefühle, aus denen
heraus sie erfolgt, können wir direkt erfahren. Wir können
sie immer nur aus dem äußeren Verhalten erschließen.
Und es ist nie auszuschließen, daß wir getäuscht werden
oder eigenen Projektionen aufsitzen. Was wir aus dem
anderen Verhalten herausinterpretieren, interpretieren wir
zuvor hinein. Theoretisch sind daher stets Zweifel – auch
und gerade Zweifel grundsätzlicher Natur – erlaubt. Wel-
che Kriterien haben wir denn zur Überprüfung unserer
Interpretation? Welche Belege haben wir für die Phäno-
menalität des anderen Erlebens? Welchen Unterschied
würde es machen, wenn hinter dem anderen Verhalten
kein sinnhaftsubjektives Erleben stecken würde?
Die Fragen sind theoretisch, werden als solche aber sehr
ernst genommen. Ein großer Teil der wissenschaftstheore-
tischen Debatte dieses Jahrhunderts dreht sich um den
Status, der der sinnverstehenden Interpretation fremden
Verhaltens als Form der Erkenntnis zugebilligt werden
kann. Hat sie Anspruch auf wissenschaftliche Anerken-
nung oder ist sie im besten Fall ein kontrolliertes Raten?
Darf die Erforschung des Verhaltens, das wir im alltägli-
chen Umgang einem gemeinten Sinne nach verstehen,
einen subjektiven Innenaspekt unterstellen oder begibt sie
sich damit in haltlose Spekulation? Ist die Wissenschaft
dazu verdammt, den Innenaspekt zu übergehen oder darf
sie ihn wenigstens in heuristischer Absicht unterstellen?
Die Debatte wurde unter wechselnden Titeln geführt: Dua-
lismus von Natur- und Geisteswissenschaften, Verstehen
versus Erklären, Positivismusstreit, Logik versus Psycho-
logie der Forschung. Der einerseits ausgeschlossene und
andererseits unverzichtbare Zugang zum anderen Bewußt-
sein zog sich wie ein roter Faden durch die Debatten. Im-
mer wieder konnte mit derselben Stringenz gezeigt wer-
den, daß wissenschaftliche Objektivität die Anerkennung
von Phänomenen als wirklich ausschließt und daß der or-
ganisierte Forschungsbetrieb gar nicht umhin kann, Phä-
nomene als wirklich anzuerkennen.
Was diese nicht enden wollende Debatte zum Ausdruck
bringt, ist der unvermittelte Sprung zwischen dem eigenen
und dem anderen Erleben. Es ist da etwas, das nicht nach-
gewiesen werden kann, und wovon wir gleichwohl nicht
Abstand nehmen können. Es ist Wunschdenken, das den
Zusammenhang herstellt; das Wunschdenken herrscht aber
unumschränkt. Wir alle leben mutterseelenallein in unse-
rer Monade und leben zugleich, als ob wir überhaupt nicht
allein wären. Es ist tatsächlich eine Art Gottvertrauen, das
den Kosmos der Monaden zusammenhält. Nur ist es eben
ein Gottvertrauen, das trägt. Es hat den gewünschten Ef-
fekt, weil alle mitmachen. Es funktioniert nach dem Mu-
ster einer perfekten Lügengeschichte: Alle tun so, als sei
der Kaiser angezogen. Oder richtiger: Die Frage nach den
fehlenden Kleidern hat keinen praktischen Effekt. Sie
bleibt rein theoretisch. Die Wissenschaft erlaubt sich den
Zweifel an der Wirklichkeit phänomenalen Bewußtseins,
schottet ihn aber mit der größten Selbstverständlichkeit
gegen praktische Folgen ab.
Zu den im primitivsten Sinne selbstverständlichen An-
forderungen an die soziale Kompetenz eines Wissen-
schaftlers gehört, daß er zwischen der Rolle der Versuchs-
person und der Rolle des Kollegen unterscheiden kann.
Der Unterschied ist nicht, daß man über den Kollegen kei-
ne Untersuchungen anstellen könnte. Der Unterschied ist,
daß das Bewußtsein der Versuchsperson als inexistent
behandelt werden darf, das des Kollegen aber nicht. Es
geht eben nicht an, zu zweifeln, ob der Kollege überhaupt
da ist. Niemand nähme den Verdacht wirklich ernst, daß
es unter den Wissenschaftlern bewußtlose Zombies gibt.
Hätte der Wissenschaftler nämlich kein phänomenales
Bewußtsein oder wäre dieses Bewußtsein funktionslos,
dann wäre er auch nicht verantwortlich für seine wissen-
schaftliche Leistung. Wenn der physische Organismus mit
phänomenalem und ohne phänomenales Bewußtsein ge-
nau gleich funktioniert, dann kann die Person, die im Falle
des Daseins dieses Bewußtseins da ist und sonst nicht,
absolut nichts dafür, was da in ihrem Namen geschieht.
Deshalb können nur Versuchspersonen und nicht etwa
auch Wissenschaftler biologische Automaten sein. Zweifel
an dieser Wahrheit würden sofort als billige Polemik zu-
rückgewiesen.
Der Wissenschaftsbetrieb ist der wandelnde Beweis für
die außersinnliche Macht, die den Kosmos der Monaden
zusammenhält. Und mehr noch: Er demonstriert deren
magische Kraft. Die Wissenschaft ist ein einziger Tanz um
die Aufmerksamkeit. Es ist nämlich keineswegs nur das
eigene Staunen und die eigene Neugierde, die einen zum
Wissenschaftler werden lassen. Es ist auch das Staunen,
das man bei anderen Menschen zu erregen, es ist auch das
Interesse, das man auf die eigene Person zu lenken hofft.
Nicht die Aussicht auf ein hohes finanzielles Einkommen
gibt den Ausschlag, die Forschung als Beruf zu wählen.
Wenn es ein Einkommen ist, das die Berufswahl des Wis-
senschaftlers motiviert, dann ist es das an Aufmerksam-
keit. Es gehört sogar zur Berufsehre des Forschers, daß
ihm Reputation wichtiger ist als Geld. Reputation ist das
konsolidierte Einkommen an kollegialer Aufmerksamkeit.
Wenn es schon nicht die göttliche Aufmerksamkeit ist,
die die Wahrheitssuche des Forschers begleitet, so hat
doch das Bad in der Aufmerksamkeit der Fachwelt etwas
Göttliches für ein Forscherleben. Es ist diese Substanz, um
die sich alles dreht. Die Aussicht auf ihren Gewinn lohnt
jede Anstrengung. Sie ist das höchste der irdischen Güter.
Um sie geht der tägliche Kampf im Geschäft des For-
schens. Die Wahrheitssuche genügt mitnichten. Man muß
publizieren. Nur wer publiziert, tritt hervor. Nur wer gut
publiziert, macht Karriere. Die Publikation ist aber gerade
nicht nur die Mitteilung an die Fachwelt. Die Publikation
ist die Art und Weise, an ihre Aufmerksamkeit zu kom-
men. Darum genügt es nicht, überhaupt zu publizieren.
Man muß in Zeitschriften und Schriftenreihen publizieren,
die Renommee haben. Wer an renommierter Stelle publi-
ziert, wird erstens gelesen und partizipiert zweitens an der
Reputation derer, die dem Organ zu seinem Renommee
verholfen haben.
Man hat vom Forschungsbetrieb wenig verstanden, wenn
man ihn nur als organisierte Suche nach Wahrheit begreift.
Ginge es nur um die Wahrheit, wozu dann das Gezänk um
die Autorenschaft, die die Debatte der Ideen und Entdek-
kungen so notorisch begleitet? Wozu dann das große Ren-
nen um die Erstpublikation? Der Forschungsbetrieb zeigt
noch nicht einmal sein wahres Gesicht, wenn man ihn als
organisierte Produktion technisch oder pädagogisch ver-
wertbaren Wissens ansieht. Wozu dann die Bildung von
Schulen und warum die erbitterten ideologischen Graben-
kämpfe? Wozu die hektische Suche nach dem Anschluß
an spektakuläre Debatten? Das Bild, wie der Laden so
läuft, rundet sich erst, wenn man im Forschungsbetrieb
den organisierten Kampf um die Aufmerksamkeit erblickt.
In die Wissenschaft fließt viel Herzblut. Sie fordert Lei-
denschaft für die Sache. Ohne eigenen Eros bleibt das
Denken schwach. Den Eros beflügelt die Leidenschaft für
die Sache zwar auch und zunächst, aber nicht nur und
nicht endlos. Es muß noch etwas hinzukommen. Zumin-
dest muß man davon träumen können, daß auch die andern
Augen machen. Selbst das Größte, was ein Mensch für
sich im stillen erreicht, bleibt klein, wenn es nicht die Be-
achtung anderer Menschen findet. Wohl erhebt auch das
stille Glück des Gelingens, aber nur kurz. Wenn ihm keine
äußere Bewunderung zu Hilfe kommt, ist bald wieder alles
gewöhnlich. Schon ein Achtungserfolg bringt aber Licht in
den grauen Alltag des Forschern. Freilich sollte ein biß-
chen Bewunderung schon auch dabei sein. Bloß registrie-
rendes Abgefertigtwerden reicht nicht. Wie die eigene
Hingabe, so soll auch die Reaktion der anderen aus dem
Herzen kommen. Die Gemüter sollen sich erhitzen. Begei-
sterung und Betroffenheit sollen sich ausbreiten. In aller
Munde will man sein. Und die Münder sollen sich zerrei-
ßen.

Zur ökonomischen Rationalität des Forschungsbetriebs

Die seelenfremde Wissenschaft ist nicht so seelenlos, wie


ihre Theorien und die Theorien über sie glauben machen.
Sie hat sehr wohl mit Fragen zu tun, die die Seele bewe-
gen. Wer träumt nicht von der Bewunderung des staunen-
den Publikums? Wer versteht nicht den Ehrgeiz, den die-
ser Traum entfacht? Wem ist der Neid ob des Erfolgs der
auch nicht besseren Kollegen fremd? Wer kann die Verbit-
terung über die anhaltende Ungerechtigkeit nicht nach-
vollziehen, mit der die Fachwelt bisweilen ihre Gunst ver-
teilt? All diese seelisch bewegenden Fragen haben eng-
stens mit dem operativen Geschäft der Forschung zu tun.
Auf der Ebene des forschungspraktischen Miteinander
geht es nun einmal nicht wertfrei zu. Hier wird offen, ja
demonstrativ über Wert und Unwert gestritten. Hier wird
mit allen Mitteln um Aufmerksamkeit gekämpft. Hier zäh-
len nicht nur Wahrheit, Triftigkeit und Relevanz. Hier
spielt die Schau und die Verblüffung des staunenden Pu-
blikums eine nicht zu unterschätzende Rolle. Hier wird
Propaganda und Politik gemacht, hier spielen Intrigen und
Händel unter der Hand. Hier geht es so zu, als wollte die
Praxis der Forschung selber die Rolle der von ihrer Dok-
trin so stiefmütterlich behandelten Seele demonstrieren.
In der Wissenschaftstheorie wird diese Seite des Betriebs
ausgegrenzt und nach Möglichkeit verschwiegen. Sie
könnte ja den hohen Anspruch der Wissenschaft an Objek-
tivität und Rationalität untergraben. Die Wissenschafts-
theorie war und ist immer noch bemüht, die subjektiven
und politischen Einflüsse zu isolieren und als unmaßgeb-
lich nachzuweisen. Sie trennt zu diesem Zweck zwischen
einem Entdeckungs- und einem Rechtfertigungszusam-
menhang. Die menschlichen und allzu menschlichen Züge
werden dem tastenden und probierenden Entdeckungszu-
sammenhang zugerechnet. Zur Sicherung der Rationalität
und Objektivität reicht es hin, wenn es im Rechtferti-
gungszusammenhang streng nach den Regeln der, wie
Karl Popper sie benannt hat, »Logik der Forschung« zu-
geht. Im Rechtfertigungszusammenhang wird peinlich
verlesen und nach härtesten Kriterien ausgelesen, was der
Entdeckungszusammenhang liefert.
Der Rechtfertigungszusammenhang begründet die Wis-
senschaftlichkeit der Wissenschaft. Im Entdeckungszu-
sammenhang mögen chaotische und sogar irrationale
Momente mitspielen, sie sind unschädlich, weil sie ledig-
lich mit der Lieferung des Materials zu tun haben. Im Ent-
deckungszusammenhang mögen Verkaufsstrategien und
politisches Taktieren ihre Rolle spielen. Solange über die
Geltung von Theorien allein der Rechtfertigungszusam-
menhang entscheidet, kommt es auf Hygiene im Entdek-
kungszusammenhang eben nicht so an.
Um den Kampf um die Aufmerksamkeit insgesamt zu
neutralisieren, müßte sich der Schnitt zwischen Entdek-
kungs- und Rechtfertigungszusammenhang nun freilich
messerscharf ziehen lassen. Spätestens seit Thomas Kuhns
Buch über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
wächst nun aber die Zahl der Stimmen, die an der Mög-
lichkeit dieser messerscharfen Trennung zweifeln. Sie
wenden ein, daß die Zusammenhänge weder in der Praxis
sauber getrennt noch analytisch scharf zu scheiden sind.
Die Spitzen dieser Kritik reichen bis zum Vorschlag, den
Anspruch an die Objektivität und sogar Rationalität der
Wissenschaft zu relativieren. Allerdings ist von der Bereit-
schaft, am Ideal der Rationalität zu rütteln, nun gerade bei
den Praktikern der Forschung wenig zu spüren. Die Frage,
wie die unsaubere Schnittstelle eigentlich zu interpretieren
sei, ist offen. Warum es also nicht umgekehrt probieren
und fragen, ob der Kampf um die Aufmerksamkeit tat-
sächlich nur abträglich für die Rationalität der Wissen-
schaft ist? Ist es denn plausibel anzunehmen, daß diesel-
ben Wissenschaftler, die bei der Prüfung vorgeschlagener
Theorien so ungemein rational vorgehen, plötzlich alle
Rationalität fahren lassen, wenn es um die begehrte Be-
lohnung geht? Haben wir nicht vielleicht mit zweierlei
Arten der Rationalität zu tun?
Bei der Prüfung von Theorien zählen Widerspruchsfrei-
heit, Tatsachengerechtigkeit und Reproduzierbarkeit der
Tatsachen, Reichweite, Einfachheit und Produktivität. Bei
der Beschaffung von Aufmerksamkeit zählen darüber hin-
aus Witz, Unterhaltungswert, modischer Sitz, richtiger
Stallgeruch und gute Beziehungen zu Herausgebern und
Rezensenten. Im ersteren Fall zählt nur der Umgang mit
Beobachtungen und Messungen; im letzteren zählt auch
der Umgang mit den Interessen anderer Menschen. Die
Funktion des Verstandes im ersteren Fall ist es, aus ein-
zelnen Messungen und scheinbar schlecht zusammenpas-
senden Beobachtungen ein kohärentes Bild der Wahrneh-
mungswelt aufzubauen. Die Funktion des Verstandes im
letzteren Fall ist es, die Interessen und Bedürfnisse anderer
Menschen in den Dienst der eigenen zu stellen. Dort geht
es um das Geschick im Umgang mit äußeren Wahrneh-
mungen und beobachteten Tatsachen, hier zählt auch die
Geschicklichkeit im Umgang mit den Gefühlen anderer
und mit dem, was andere insgeheim denken. Wäre es also
nicht sogar ein Zeichen verkürzter Rationalität, wenn das
Verhalten, zu dem sie hier, und das Verhalten, zu dem sie
dort anleitet, dasselbe wäre?
Tatsächlich läßt sich Gesamtrationalität des Erkenntnis-
fortschritts nicht auf die »Logik der Forschung« beschrän-
ken. Die Logik der Forschung besagt nämlich nichts über
die Verwendung knapper Ressourcen. Sie tut so, als ob
Forschung nichts kosten würde. Forschung ist aber sowohl
als originäre Entwicklung wie auch als Prüfung von Theo-
rien teuer. Und sie ist nicht nur in finanzieller Hinsicht
teuer. Geld ist zwar wichtig, die schlechterdings zentrale
Ressource für das Forschen ist aber die Aufmerksamkeit
der Forscher. Weil Forscher nicht durch Roboter ersetzt
werden können, ist Aufmerksamkeit sowohl als attention
wie auch als awareness gefragt. Menschen können nur
dann gezielt denken und handeln, wenn sie bei Bewußt-
sein sind. Die Aufmerksamkeit ist nun aber sowohl als
attention wie auch als awareness knapp. Der Forschungs-
betrieb kann als Wissensproduktion nur dann rational or-
ganisiert sein, wenn auch die Art und Weise, wie er mit
knappen Ressourcen umgeht, im Sinne des Erkenntnisfort-
schritts optimiert ist. Suboptimale Verwendung der for-
schenden Aufmerksamkeit ist Verschwendung und dem
Erkenntnisfortschritt so abträglich wie Mängel in der Me-
thode.
Wer oder was sorgt für die effiziente Verwendung der
Aufmerksamkeit, die im Dienste der Forschung steht? Es
gibt keine Aufseher. Die Wissenschaft muß sich selbst
organisieren. Alle Erfahrung lehrt, daß die Forschung inef-
fizient ist, wenn sie nicht frei ist. Wenn die Forschung frei
ist, zählen aber nur die individuellen Motive der Forscher.
Individuelle Motive haben zweierlei Gestalt: Pflichtgefühl
und Lust. Ist es Pflichtgefühl, das in der Wissenschaft für
die effiziente Widmung der Aufmerksamkeit sorgt? Zwei-
fellos spielt Pflichtgefühl in der Wissenschaft eine Rolle.
Die Wissenschaft ist eine Profession, in der die Berufsehre
noch etwas gilt. Das Pflichtgefühl hat nur den Nachteil,
daß es nicht sonderlich inspiriert. Was wir lediglich aus
Pflichtgefühl tun, ist wie Dienst nach Vorschrift. Die Lust
hingegen macht gewitzt. Worauf haben Wissenschaftler
Lust? Wie schon gesagt: auf die staunende Aufmerksam-
keit der Fachwelt. Gegen diese Lust hat es das Pflichtge-
fühl schwer. Wo beide in Konflikt geraten, wird die Lust
obsiegen.
Heißt das, daß man Effizienz von der forschenden Auf-
merksamkeit nur in dem Maß erwarten darf, in dem der
Wunsch nach der Einnahme fremder Aufmerksamkeit
dazu anleitet? Wer realistisch ist, sollte nichts anderes
erwarten. Ist die Wissenschaft damit aber nicht doch zu
partieller Irrationalität verdammt? Sie wäre es, wenn das
Streben nach fremder Aufmerksamkeit davon abhielte, die
eigene Aufmerksamkeit in den Dienst des kollektiven Er-
kenntnisfortschritts zu stellen. Warum soll das Streben
nach Beachtung hier aber vom kollektiven Ziel ablenken?
Der Verteilungsmechanismus der Aufmerksamkeit zwi-
schen Forschern ist ein Markt. Die Forscher beziehungs-
weise die Forschergemeinschaften einer Disziplin stehen
einerseits in Konkurrenz und andererseits in einem Ver-
hältnis wechselseitiger Zulieferung. Die Anbieter neuer
Vorschläge konkurrieren um die Bereitschaft der Kolle-
gen, ihre Produktion zur Kenntnis zu nehmen und zu prü-
fen. Die Kollegen nehmen das Angebot im Interesse der
eigenen Produktion wahr. Es hat nun einmal keinen Sinn,
Entdeckungen ein zweites Mal zu machen und verfügbare
Erkenntnisse im Eigenbau zu wiederholen. Deshalb gehört
auch die Wahrnehmung des Umfelds zum operativen Ge-
schäft der Forschung. Allerdings kann nun die Aufmerk-
samkeit, die zu diesem Zweck ausgegeben wird, von den
Anbietern als Einkommen verbucht werden. Also leitet
das Streben nach der Maximierung dieses Einkommens
die Anbieter von Vorschlägen dazu an, zunächst einmal
das Interesse in der Fachwelt zu wecken. Das Interesse an
diesem Interesse schränkt den Spielraum für Bluff und
hartes Verkaufen bereits ein. Wohl mag es einmal gelin-
gen, die kritischen Kollegen durch Imponiergehabe zu
überrumpeln. Das Spiel ist nach der ersten Runde aber
nicht zu Ende. Wer den Mund zu voll nimmt, handelt sich
Strafpunkte für die nächsten Runden ein. Auf Wiederho-
lung steht die härteste Strafe, die es für einen Wissen-
schaftler gibt: Er wird nicht mehr ernst genommen. Das ist
sein Ruin.
Auf dem Markt der Ideen herrscht zwar nicht vollkom-
mene, aber effektive Konkurrenz. Die Rezipienten der
Vorschläge geben ihre Aufmerksamkeit nicht nach Ab-
sprache oder Vorschrift, sondern in der ungebundenen
Suche nach dem eigenen Vorteil aus. So sind es nicht
Spenderlaune oder Gunst, ja nicht einmal bloße Neugier,
die die Verteilung bestimmen. Die soziale Verteilung der
Beachtung folgt dem Gebot des individuellen Interesses
am Fortkommen. Das individuelle Fortkommen bemißt
sich an der Beachtung, die ein jeder selber findet. Das
heißt nun aber, daß es im individuellen Interesse liegt, im
Interesse der Kollegen zu produzieren. Die Lust auf Be-
achtung setzt der eigenen Laune enge Grenzen. Wer reüs-
sieren will, muß die eigene Produktion an der Unterstüt-
zung der Produktivität anderer ausrichten. Wenn der
Kampf um die Aufmerksamkeit es nun aber in das indivi-
duelle Interesse stellt, die eigene Aufmerksamkeit so zu
verwenden, daß auch die Konkurrenz profitiert, dann er-
füllt der Markt der Ideen die entscheidende notwendige
Bedingung kollektiver Rationalität. Als hinreichende Be-
dingung fehlt dann nur noch, daß es in der Konkurrenz
insgesamt um den Fortschritt der Erkenntnis geht.
Wenn der Kampf um die kollegiale Aufmerksamkeit die
individuellen Forschungsinteressen in den Dienst des kol-
lektiven Erkenntnisinteresses stellt, woher dann der pene-
trante Ruch der Irrationalität, der ihn umweht? Wozu dann
die Schaukämpfe und die Anrufung von Autoritäten? Wo-
zu der Wind und das Rennen ums schnelle Glück? Recht
einfach: um die raren Chancen der Beachtung nicht zu
verpassen. Auch die Aufmerksamkeit, die zur Verteilung
als Beachtung ansteht, ist knapp. Es ist nicht im Sinne des
eigenen Fortkommens der Rezipienten, die Nachforschun-
gen in der Literatur und die Prüfung anderer Vorschläge
zu weit zu treiben. Es ist unsinnig, alles und jedes wahrzu-
nehmen. Das Angebot ist zu groß, um die Recherche bis
zum bitteren Ende zu treiben. Man muß scharf selegieren,
wenn man auch noch zum originären Forschen kommen
will. Also ist man, wenn man sich nicht auf allerengste
Gebiete beschränkt, zu einer gewissen Oberflächlichkeit in
der Rezeption verdammt. Und diese erzwungene Ober-
flächlichkeit auf Seiten der Rezeption bietet nun der An-
bieterseite die Chancen, die auf Märkten auch sonst durch
Verkaufsstrategien und Werbung genutzt werden. Weil die
Aufmerksamkeit der Rezipienten so knapp ist, lohnt es
sich für die Produzenten, einen gewissen Aufwand zu trei-
ben, um aufzufallen und sich vorzudrängeln.
Die Bedeutung, die die Publikumswirksamkeit in der
Forschung hat, zeigt sich noch deutlicher, wenn nach der
hinreichenden Bedingung für die Übereinstimmung des
individuellen Strebens nach Beachtung und der Arbeit am
kollektiven Erkenntnisfortschritt gefragt wird. Bedingung
für diese Übereinstimmung ist, daß die Konkurrenz der
einzelnen Forscher in die Konkurrenz der Disziplinen un-
tereinander eingespannt ist, und daß es in der Konkurrenz
zwischen den Disziplinen ebenfalls um die Attraktion von
Aufmerksamkeit geht. Die interdisziplinäre Konkurrenz ist
nun aber effektiv. Die Disziplinen stehen ihrerseits in ei-
nem Verhältnis der Konkurrenz und wechselseitigen Zu-
lieferung. Sie kämpfen wie die einzelnen Forscher um
Reputation und gewinnen sie dadurch, daß die anderen
Disziplinen etwas mit ihrem Angebot anfangen können.
Von dieser Reputation hängt ihre Attraktivität für Talente
und hängen ihre Chancen in der Konkurrenz um die Fi-
nanzmittel ab. Weil die Wissenschaft nun aber auch als
ganze nicht isoliert, sondern in die gesamtgesellschaftliche
Konkurrenz um die Aufmerksamkeit eingespannt ist, nutzt
es der Reputation einer Disziplin in der interdisziplinären
Konkurrenz, wenn sie auch außerhalb der Wissenschaft
Beachtung findet. Sie ist in einem gewissen Maß zur PR
und zur Sorge um eine gute Presse sogar verpflichtet. Ihre
Produktionsbedingungen leiden, wenn sie es nicht schafft,
sich in der Öffentlichkeit zu verkaufen.
Die Heroen einer Disziplin sind diejenigen Kollegen, die
Beachtung von außerhalb einfahren. Sie sind, wie man
weiß, nicht immer die besten. Nur hieße es, die Ausnahme
mit der Regel zu verwechseln, wollte man daraus auf Irra-
tionalität der Konkurrenz um Beachtung schließen. Die
Unvollkommenheiten des Markts der Ideen bewegen sich
im normalen Rahmen menschlicher Unvollkommenheit.
Er verstärkt diese Unvollkommenheiten nicht in dem Sinn,
daß die einzelnen im kollektiven Resultat ihre individuel-
len Ziele nicht mehr wiedererkennen. Dafür läßt der Sach-
verhalt, daß der Markt der Ideen überhaupt funktioniert,
von der Wissenschaft als rationaler Wissensproduktion
erst reden. Die Konkurrenz um Beachtung ist es, die die
individuellen Interessen ins Organisationsziel des kollek-
tiven Erkenntnisfortschritts einspannt.
Um diese Argumente zusammenzufassen: Vor dem Hin-
tergrund des Verhältnisses von individueller und kollekti-
ver Rationalität erscheint der Kampf um die Aufmerksam-
keit in völlig neuem Licht. Er erscheint nicht mehr als das
notwendige Übel, das den Anspruch an Objektivität unter-
gräbt, sondern als notwendige Bedingung für die rationale
(Selbst-) Organisation arbeitsteiliger Forschung. Das zen-
trale Problem dieser Organisation ist die effiziente Ver-
wendung der dem Forschungsbetrieb insgesamt zu Dien-
sten stehenden Aufmerksamkeit. Um dieses Organisati-
onsziel zu implementieren, reichen die Regeln, die die
Logik der Forschung expliziert, definitiv nicht hin. Also
reichen diese Regeln auch nicht, um die Rationalität der
Wissensproduktion zu sichern. Es muß noch etwas hinzu-
kommen. Es muß Anreize geben, die das individuell Ver-
lockende in den Dienst des kollektiven Erkenntnisfort-
schritts stellen. Das System dieser Anreize ist das Gratifi-
kationssystem der Reputation. Reputation ist das konsoli-
dierte Einkommen an Aufmerksamkeit seitens der Fach-
welt. Um Reputation zu gewinnen, muß die Leistung zwar
nicht unumstritten, sie muß mit relativer Einhelligkeit aber
für der Beachtung wert gehalten werden. Zur Konsolidie-
rung des Einkommens reicht es auch nicht, die Fachwelt in
einmaliges Staunen zu versetzen. Reputation steht auf Lei-
stungen, die zur verbindlichen Arbeitsgrundlage für die
Disziplin werden.
Das Gratifikationssystem der Reputation ist das notwen-
dige Komplement zur Logik der Forschung. Aber nicht
nur. Es ist auch ein Anreizsystem von eigenen Gnaden. Es
verkörpert eine Art der Belohnung, an die die sonst übli-
chen Gratifikationssysteme nicht herankommen. Der Reiz
an der Reputation ist es nicht, daß man nur irgendwie regi-
striert wird. Ihr Reiz ist es, eine Rolle im anderen Bewußt-
sein zu spielen. Die Aufmerksamkeit der Fachwelt sucht
man denn auch nicht, um Gegenstand der Datenverarbei-
tung in anderen Nervensystemen zu werden. Man sucht
sie, um eine Rolle in demjenigen anderen Bewußtsein zu
spielen, das man selber für das beachtlichste hält. Der un-
geheure und unersetzbare Reiz an diesem Rollenspiel ist
es, sich tatsächlich in andere Welten aufgenommen und
dort geschätzt, ja vielleicht sogar bewundert zu wissen.
Die Wissenschaftstheorie wird unfähig bleiben, den ge-
sellschaftlichen Erfolg des sozialen Systems Wissenschaft
zu verstehen, solange sie von der motivierenden Kraft des
Einkommens an Beachtung absieht. Der Erfolg, den die
Wissenschaft im Maß des ihr entgegengebrachten Interes-
ses und ihres kulturprägenden Einflusses hat, beruht kei-
neswegs nur auf der Lieferung von technisch und pädago-
gisch verwertbarem Wissen. Er beruht auch – nein zu-
nächst – auf ihrer Attraktivität für Talente und auf ihrer
Kraft zur Motivierung von Spitzenleistungen. Diese At-
traktivität und diese motivierende Kraft setzen ein Gratifi-
kationssystem von entsprechender Leistungsfähigkeit vor-
aus. Die Beschwörung idealischer Begeisterung reicht
nicht. Die Gratifikationen, die sonst zur Leistungsmotiva-
tion eingesetzt werden, sind Geldeinkommen und Macht-
zuwachs. Beide kommen die Gesellschaft teuer zu stehen.
Sie sind mit Ausbeutung und Herrschaft verbunden. Könn-
te die Wissenschaft ihre Talente nur mit Geld und Privile-
gien anlocken, dann wären die Kosten des Betriebs in sei-
nem heutigen Umfang prohibitiv.
Der Glücksfall, den die Reputation als Gratifikationssy-
stem für den Forschungsbetrieb bedeutet, beschränkt sich
aber noch nicht einmal darauf, daß die Rolle im anderen
Bewußtsein so ungeheuer reizt. Der Forschungsbetrieb
nutzt die Aufmerksamkeit, die die Forscher einander zu-
kommen lassen, keineswegs nur zur Motivation. Sie nutzt
sie zugleich zur Erledigung des operativen Geschäfts. Die
Widmung der Aufmerksamkeit wird dadurch zur Schöp-
fung von Einkommen, daß sie für die Rezeption und Prü-
fung der Produktion eingesetzt wird, die die Kollegen vor-
legen. Der Trick dieser Koppelung ist geradezu genial. Er
bedeutet, daß für die Aufgabe des Motivierens nichts von
der Aufmerksamkeit abgezweigt werden muß, die für pro-
duktive Zwecke zur Verfügung steht. Vielmehr werden
durch die Einbeziehung der Rezeption fremder Produktion
ins operative Geschäft die Einkommen der Kollegen still-
schweigend und ohne irgendwelchen Zusatzaufwand ge-
schöpft. Diese erzeugende und vergütende Doppelnutzung
der Aufmerksamkeit überragt alles an Witz, was sich Or-
ganisationsplaner und Betriebsberater je ausgedacht ha-
ben.
Zweites Kapitel

Aufmerksamkeit:
Die neue Währung?

Wir leben im Informationszeitalter und merken es daran,


daß wir uns vor Information nicht mehr retten können.
Nicht der überwältigende Nutzen der Information, sondern
ihre nicht mehr zu bewältigende Flut charakterisiert die
Epoche. Wir sind einem immer gewaltiger anwachsenden
Schwall von Reizen ausgesetzt, die eigens dazu hergerich-
tet sind, unsere Aufmerksamkeit in Beschlag zu nehmen.
Information ist nichts Festes und Fertiges, sondern der
Neuigkeitswert, den wir aus Reizen ziehen. Das Besonde-
re an den Reizen, die auf unsere Aufmerksamkeit ange-
setzt sind, ist, daß ihr Neuigkeitswert bewußte Zuwendung
erheischt.
Die Kapazität unserer Aufmerksamkeit zur Informati-
onsverarbeitung ist organisch begrenzt. Wir sind weder
datenverarbeitende Automaten, die anspruchsvolle Opera-
tionen ohne Bewußtsein erledigen, noch Götter, deren
Kapazität des bewußten Gewahrens unendlich ist. Wir
sind nur dann, wenn wir im phänomenalen Sinn bei Be-
wußtsein sind, auch zu anspruchsvoller Verarbeitung im
intentionalen Sinn fähig. Unser phänomenales Bewußtsein
ist nur da in den Grenzen der mit dem Wachen und Schla-
fen wechselnden Präsenz. Unser intentionales Bewußtsein
ist sowohl von der Anzahl und Komplexität der Gegen-
stände, auf die wir uns konzentrieren, als auch von der
Geschwindigkeit her, mit der wir sie auffassen, begreifen
und einordnen können, beschränkt. Wir können uns zwar
anstrengen und die Kräfte unseres Bewußtseins üben. Die
Grenzen der Fassungskraft selbst aber sind nur in Grenzen
flexibel. Unsere Auffassungsgabe ist plastisch und verfügt
über Reserven, die es zulassen, die normalen Kräfte auch
einmal zu überziehen. Ein enthemmtes Wachstum der
Reize, die auf unsere Aufmerksamkeit losgehen, läßt die
Grenzen bewußter Realisierung aber irgendwann zum
chronischen Engpaß werden.
Die Belastungsgrenzen der Aufmerksamkeit künden sich
durch typische Symptome an. Das Symptom der von zu
vielen Seiten mit zu hohem Nachdruck in Anspruch ge-
nommenen Verarbeitungskapazität heißt Streß. Das Sym-
ptom der nicht mehr nachkommenden Verarbeitung heißt
Hektik. Auch Streß und Hektik lassen sich aus dem zeit-
genössischen Lebensgefühl nicht wegdenken. Es ist zwar
nicht so, daß wir alle an den Grenzen der Belastbarkeit
dahintaumeln würden. Wir alle sind aber gezwungen, mit
unserer Aufmerksamkeit hauszuhalten. Niemand mit
halbwegs wachen Interessen kann es sich heute noch lei-
sten, alles im Informationsangebot wahrzunehmen, was
ihn interessiert. Wir alle sind gezwungen, scharf zu sele-
gieren und wegzulassen. Das fällt uns schwer. Lieber las-
sen wir uns auf zuviel ein. Dafür bezahlen wir mit Hektik
und Streß.
Ein anderer Ausdruck für den zunehmenden Zwang zum
Haushalten mit Aufmerksamkeit ist, daß sie zur grundsätz-
lich knappen Ressource geworden ist. Knappheit bezeich-
net die Asymmetrie zwischen der Verfügbarkeit einer Sa-
che und ihren Verwendungsmöglichkeiten. Knapp ist eine
Sache, wenn ihre interessanten, nach Realisierung rufen-
den Verwendungsmöglichkeiten weitergehen als ihr ver-
fügbares Aufkommen. Diese Asymmetrie bestand bei der
Aufmerksamkeit nicht immer und überall. Früher, so ist
der allgemeine Eindruck, war das Leben insgesamt ruhiger
und gleichförmiger. Auch heute ist das Leben noch weni-
ger aufregend und aufgeregt dort, wo sich traditionale
Strukturen erhalten haben. Natürlich kommt es auch in
traditionalen Gesellschaften einmal vor, daß sich die Men-
schen überfordert fühlen, das zu tun, was das eigene Inter-
esse, der höhere Auftrag oder der Druck der Situation ver-
langen. Grund ist dann aber ein situationsspezifischer
Mangel an Aufmerksamkeit und nicht das notorische Ge-
fühl, sich mit lauter Sekundärem zu beschäftigen, weil es
sich quengelnder vordrängt, frecher den Blick fängt oder
raffinierter sich einschleicht als das eigentlich Wichtige.
Knappheit darf nicht mit Mangel verwechselt werden.
Mangel meint das Fehlen nötiger – um nicht zu sagen
überlebenswichtiger – Mittel der Bedürfnisbefriedigung.
Die Knappheit hingegen kann schon zunehmen, wenn sich
die Verwendungsmöglichkeiten der Sache vermehren. Das
unentwegte Wachstum ihrer reizenden, sich interessant
machenden, lohnenden und verpflichtenden Verwen-
dungsmöglichkeiten ist das, was unsere Aufmerksamkeit
als Informationsflut erlebt. Je höher die Flut steigt, um so
nachdrücklicher wird die Erfordernis, mit der Aufmerk-
samkeit hauszuhalten. Dem Steigen der Flut wohnt die
Tendenz inne, die Aufmerksamkeit in eine Rolle hinein-
wachsen zu lassen, die bisher das Geld spielt. Das Geld ist
das immer noch wichtigste Rationierungsmittel. Seine
Verfügbarkeit schneidet am schärfsten das praktisch
Machbare aus dem Raum des theoretisch Möglichen aus.
Geld ist chronisch knapp. Man braucht es zu allem und
kann es für alles mögliche ausgeben. Es ist aber nicht dort
besonders knapp, wo ein Mangel an Waren und Ver-
dienstmöglichkeiten herrscht. Seine Knappheit wächst
vielmehr mit der Fülle der Angebote. Bei zu geringem
Angebot büßt das Geld seine Rationierungsfunktion sogar
ein. So auch die Aufmerksamkeit. Deren rationierende
Funktion kommt erst zum Tragen, wo das Verhältnis zwi-
schen den Verwendungsmöglichkeiten und dem Aufkom-
men asymmetrisch wird. Sobald sich diese Asymmetrie
verschärft, wird aber noch etwas anderes bedeutsam.
Aufmerksamkeit braucht man für nicht nur fast, sondern
restlos alles, was man erleben will. Man kann Aufmerk-
samkeit auch für restlos alles ausgeben, was es überhaupt
zu erleben gibt. Die Aufmerksamkeit übertrifft in dieser
Universalität das Geld. Zugleich ist ihre Verfügbarkeit
schärfer begrenzt. Ihr energetisches Aufkommen ist nahe-
zu konstant. Deshalb existiert ein Punkt, von dem an die
Aufmerksamkeit dem Geld den Rang des überlegen wich-
tigsten Rationierungsmittels abläuft.

Blick auf die Historie der Informationsflut

Die Verwendungsmöglichkeiten der Aufmerksamkeit


wachsen nicht erst seit gestern. Wir erleben die späten
Folgen eines schon lange anhaltenden und sich jüngst nur
rasch beschleunigenden Wachstums. Die Ausbreitung der
zur Attraktion hergerichteten Dinge, die Gelegenheiten zu
Ablenkung und Unterhaltung, die Aufforderungen zum
Unterrichtet- und Eingeweihtsein, die Zumutungen des
Sich-Auskennens nehmen im Zug des wirtschaftlichen
Wachstums und der kulturellen Entwicklung wie von
selbst zu. Wir erleben sie als die Aufdringlichkeit des Wa-
renangebots, als den Kampf um Aufmerksamkeit in den
Medien, als Aufforderung zum modischen Mitmachen, als
Wunsch oder Zumutung, sich laufend fortzubilden, als
wachsende Mobilität und Verstädterung, als Verdichtung
der Kommunikationsnetze, als Globalisierung der Echt-
zeitkommunikation. Diese Expansion läßt sich inzwischen
überall beobachten, wo die wirtschaftlichen und kulturel-
len Interessen halbwegs frei sind, sich zu entfalten. Wir
haben uns so sehr an sie gewöhnt, daß wir rasch auch im
Klagen über Stagnation und Kulturstarre sind, wo wir den
Eindruck ihres Nachlassens haben.
So vielfältig die Gründe für dieses Wachstum im einzel-
nen sind, sie lassen sich auf zwei Hauptquellen zurückfüh-
ren. Da ist erstens die Eigenschaft der technischen Hilfs-
mittel zur Verarbeitung von Information, auch den Wir-
kungsgrad bei der Erarbeitung von Information zu stei-
gern. Da ist zweitens der Sachverhalt, daß das Einnehmen
fremder Aufmerksamkeit mit dem Aussenden von Reizen
für diese beginnt.
Technische Hilfsmittel der Informationsverarbeitung
gibt es so lange wie die Menschheit. Das älteste und im-
mer noch mächtigste dieser Mittel ist die natürliche Spra-
che. Mit der Sprache hat sich die Evolution unserer Spe-
zies von der Ebene biologischer Emergenz auf die Ebene
der bewußten Schöpfung von Neuem verlagert. Die Spra-
che bewaffnet die Aufmerksamkeit mit einem so reichhal-
tigen Instrumentarium zur Erarbeitung, Verarbeitung, Mit-
teilung und Überlieferung von Information, daß wir die
Steigerung des Wirkungsgrads noch nicht wirklich ermes-
sen haben. Einen vollen Begriff vom Potential der Spra-
che, Neuigkeitswert zu schöpfen, könnte erst eine entwik-
kelte Ökonomik des Denkens geben. Diese Ökonomik gibt
es, wie gesagt, noch nicht. Was aber auch fehlt, ist eine
umfassende Theorie der Sprache. Es gibt zwar viele Theo-
rien zu Teilaspekten der Sprache, aber keine Theorie, die
das, was Sprache ist, als solches erklären würde.
Der Strom an sprachlich verfaßtem Neuigkeitswert ent-
springt nicht nur dem ursprünglichen, gesprochenen Ge-
brauch der Sprache. Hinter dem so mächtigen Anschwel-
len des Stroms im Lauf der Menschheitsgeschichte stek-
ken auch Zurüstungen und Erweiterungen der Sprache.
Die erste dieser Zurüstungen war die Schrift. Die Schrift
ist diejenige Technologie sprachlicher Verfassung, die von
der Last des Auswendiglernens befreit. Mit der Schrift
kommen zum internen Gedächtnis externe Speichermedi-
en für sprachlich verfaßte Information hinzu. Die Erfin-
dung der Schrift entkoppelt die Größe des kollektiv ver-
fügbaren Kenntnis- und Wissensschatzes von den Kapazi-
tätsgrenzen individueller Erinnerung. Zudem erschließt die
Schrift Erweiterungen der Sprache im engeren Sinn. Die
Schrift macht es möglich, Symbolismen zu entwickeln,
mit deren Hilfe mechanische geistige Tätigkeiten nach
außen verlagert werden. Die erste und immer noch wich-
tigste Art dieser Symbolismen war die Notation, die das
mechanische Rechnen ermöglicht. Mit ihr war der Anfang
zur Formalisierung geistiger Operationen gemacht. Durch
Formalisierung kann die Geistesmechanik nicht nur entla-
stet, sondern auch verstärkt und geschärft werden. Das
herausragende Beispiel ist die Mathematik. Die Mathema-
tik stellt die folgenreichste Entäußerung, Verstärkung und
Präzisierung der Geistesmechanik dar.
Mit der Einführung der Schrift und den Anfängen der
Mathematik waren die ersten Dämme im historischen
Quellgebiet des Stroms gebrochen, den wir heute als In-
formationsflut erleben. Mit ihnen waren über den ur-
sprünglich energiesparenden Effekt hinaus die Bedingun-
gen für neuartige technische Möglichkeiten zur Steigerung
des Wirkungsgrads der denkenden, kommunizierenden,
Wissen nutzenden und Kenntnisse mehrenden Aufmerk-
samkeit geschaffen. Interessanterweise steht ihr Aufkom-
men in engem Zusammenhang mit den ersten Stadtbildun-
gen. Städte sind das klassische Beispiel für die zweite
Hauptquelle der Informationsflut. Mit der Bildung von
Städten hatte sich eine Lebensform herausgebildet, in der
sich die Menschen vor allem miteinander beschäftigen.
Das Leben in der Stadt ist ein Leben mit vielen andern und
in den Augen vieler anderer. Das Leben in der Stadt läßt
die Selbstdarstellung zum selbstverständlichen und selbst-
verständlich zentralen Lebensinhalt werden. In Städten
gibt es immer etwas zu sehen. Die Menschen ziehen sich
dort für andere an, zeigen her, was sie haben, treiben den
erstaunlichsten Aufwand, damit die andern Augen ma-
chen. In der Stadt wird die Differenz zwischen öffentlicher
Schauseite und abgeschirmter Privatsphäre zu einem Ge-
staltungsprinzip des Lebens. Die Schauseite – ob der Per-
sonen, Kutschen oder Gebäude – ist zum Repräsentieren.
Die private Sphäre ist der Rückzugsraum hinter der Büh-
ne. Draußen ist ständig Theater, drinnen darf man sich
vom Auftritt erholen und auf das Auftreten vorbereiten.
Theater ist die gezielte Produktion starker Reize. Das
Leben auf der Bühne der Öffentlichkeit ist es, was urbane
Formen des Lebens von vornherein aufregender und auf-
reizender macht als ihre Vorgänger. Das spezifische Reiz-
klima der großen Städte ist bis heute ein Teil der Informa-
tionsflut geblieben. Zu den Faktoren, die das Reizklima
zur Reizflut verstärkt haben, gehört die nahezu vollkom-
mene Verstädterung der Gesellschaft. Ein anderer dieser
Faktoren ist der Wandel der öffentlichen Sphäre zur Sphä-
re der Veröffentlichung. Die Veröffentlichung ist der pro-
fessionell betriebene Kampf um Aufmerksamkeit. Damit
dieser Kampf zum täglichen Geschäft so vieler Menschen
werden konnte, mußte zur Erfindung der Schrift allerdings
noch eine weitere hinzukommen. Das Geschriebene mußte
massenhaft unter die Leute gebracht werden. Das wurde
möglich durch die mechanische Reproduktion der Schrift.
Mit der Erfindung des Buchdrucks sind wir zurück bei
der ersten Quelle der Informationsflut. Die Druckerpresse
war zunächst nicht mehr als ein Mittel zur Überwindung
des Engpasses in der bestehenden Informationsverbrei-
tung. Das Abschreiben von Hand kam der Nachfrage nicht
mehr nach. Erst in zweiter Linie regte der Buchdruck die
Produktivität in Sachen Information auch an. Dieser se-
kundäre Effekt war dann aber überwältigend. Die Druk-
kerpresse läutete die industrielle Phase der Informations-
produktion ein. Mit ihrer Einführung war auch schon der
nächste Damm im historischen Vorlauf der Informations-
flut gebrochen. Der ursprüngliche Zweck wurde mit einer
Macht und Geschwindigkeit von der sekundären Wirkung
überholt, die von nun an für alle weiteren Zurüstungen der
sich und andere informierenden Aufmerksamkeit typisch
werden und ständig weiter gesteigert werden sollte. Der
entlastende Effekt wird durch die neu erschlossenen Mög-
lichkeiten alsbald wettgemacht und in der Folge bis zur
Unkenntlichkeit überkompensiert.
Die mechanische Vervielfältigung der Schrift bedeutete
auch für die andere Hauptquelle des Informationsstroms
eine ungeahnte Verstärkung. Mit ihr entstanden reguläre
Märkte für die literarische Produktion. Die mechanische
Reproduktion ließ ein Verlagswesen aufkommen, das den
Vertrieb des Geschriebenen als eigene Dienstleistung an-
bot und für die Erschließung eines Marktes sorgte. Be-
merkenswert an der ökonomischen Realisierung der neuen
technischen Möglichkeiten ist die Geschäftsidee des Pu-
blikationswesens. Das kommerzielle Ergebnis zählt hier
nämlich nicht allein. Kommerziell muß sich der Verkauf
nur für den Verleger lohnen. Der Autor ist mit der Auf-
merksamkeit zufrieden, deren Einkommen die Auflagen-
höhen und Verkaufszahlen messen. Wenn der Autor auch
noch reich und wenn der Verleger selber berühmt wird,
dann ist das eigentlich Surplusprofit: Es wäre zur Auf-
rechterhaltung des Geschäfts gar nicht nötig.
Die literarische Landschaft sähe – ob im künstlerischen
oder gelehrten Fach – anders als die bestehende aus, wenn
die Autoren nur angeboten hätten, was kommerziellen
Erfolg versprach. Die getrennte Rechnung nach einge-
nommenem Geld und eingenommener Beachtung ist die
Voraussetzung literarischer Kultur. Ihretwegen lohnt sich
die Anstrengung des Schreibens auch ohne pekuniäre Ent-
lohnung. Die getrennte Rechnung ist, um es paradox aus-
zudrücken, die Geschäftsgrundlage für den zweckfreien
Dienst am Wahren und Schönen. Die eigenartige Ver-
schränkung von Geld und Aufmerksamkeit erschließt der
Beschäftigung mit Dingen, mit denen es sich nur um ihrer
selbst willen zu beschäftigen lohnt, den Zugang zu einem
Publikum. Was sonst Privatsache oder etwas für exklusive
Zirkel bliebe, wird durch das Verlagswesen Gemeingut.
Auch die Produktion für den höheren Lohn erscheint als
Informationsangebot. Nur wäre in diesem Fall die kultur-
kritische Subsumption unter die Informationsflut verfehlt.
Vielmehr gilt es festzustellen, daß die beiden Quellen der
Informationsflut auch zwei Quellen der Kultur sind. Kul-
tur ist Beschäftigung mit der Aufmerksamkeit als solcher.
Es gibt keine Kultur ohne Arbeit der Aufmerksamkeit an
sich selbst. Keine Kultur ohne Bildung, keine Kultur ohne
die Verfeinerung des Umgangs mit der anderen Aufmerk-
samkeit und ohne die Beschäftigung mit der Art auskri-
stallisierter Aufmerksamkeit, die als geistiges Kapital
überliefert wird. Bildung ist die Investition von Aufmerk-
samkeit in sich selbst. Sie ist die Urform der Art von Zu-
rüstungen, die den Wirkungsgrad der Er- und Verarbei-
tung von Information steigern. Auch die Verfeinerung des
Umgangs ist mit einem Informationswachstum verbunden.
Die Verfeinerung des Umgangs besteht im Erlernen des
Aussendens einnehmender Reize.
Bildung und Umgangsformen tragen auf ihre Weise zum
Wachstum interessanter Verwendungsmöglichkeiten der
Aufmerksamkeit bei. Sie kommen aber erst in Verbindung
mit der Nutzung und Akkumulation geistigen Kapitals so
recht zur Geltung. Geistiges Kapital besteht aus erarbeite-
tem Wissen, bewährten Methoden, beispielhaften Pro-
blemlösungen, Vorbildern für Findigkeit und Kreativität.
Zu geistigem Kapital werden diejenigen Produkte geistiger
Arbeit, die in die geistige Produktion wieder als Produkti-
onsmittel eingehen. Die Bildung geistigen Kapitals ist ein
anderer Ausdruck für geistige Umwegproduktion. Wie
interessant und gewinnbringend es für sich genommen
auch sein mag, sich mit Erkenntnissen, Erfindungen und
Künsten zu beschäftigen, so ist doch das Interessanteste an
ihnen der Zugewinn, den die Fassungskraft und Produkti-
vität der eigenen Aufmerksamkeit aus der Beschäftigung
mit ihnen zieht. Wissen, Methoden, beispielhafte Lösun-
gen und Vorbilder sind für die geistige Produktion, was
Maschinen, Verfahrenstechniken und technische Stan-
dards für die materielle sind. Sie sind Formen auskristalli-
sierter toter Arbeit, die die Produktivität der lebendigen
Arbeitskraft steigern. Zugleich sind sie, was von den histo-
rischen Phasen der Kultur übrigbleibt. Geistiges Kapital ist
das produktive Potential des kulturellen Erbes.

Die Kultur der Intentionalität

Was immer wir sonst noch unter Kultur verstehen, wir


verstehen auch die Veranstaltung darunter, größeren Ge-
winn aus der Aufmerksamkeit zu ziehen, als sie ohne be-
sondere Zurüstung hergäbe. Gemäß der zwieschlächtigen
Bedeutung von Aufmerksamkeit sind die historisch kon-
kreten Ausformungen der Kultur in einem grundsätzlichen
Sinne darin verschieden, ob sie sich stärker auf die phä-
nomenale Eigenwirklichkeit des Erlebens oder stärker auf
die intentional erlebte Wirklichkeit konzentrieren. Kultu-
ren, die die eigene Wirklichkeit des bewußten Daseins in
den Mittelpunkt stellen, sind solche der Selbstaufmerk-
samkeit und meditativen Praxis. Kulturen, die die gegen-
ständliche Seite des Erlebens in den Vordergrund stellen,
sind solche der objektivierenden Welterfahrung und ex-
pansiven Entfaltung des Wissens. Es gibt wahrscheinlich
keine Kultur, die rein dem einen oder dem anderen Typus
zuzuordnen wäre; alle Kulturen kultivieren sowohl die
eine wie die andere Seite des aufmerksamen Daseins.
Charakteristisch ist das relative Gewicht der beiden Seiten
und das besondere Verhältnis zwischen den Arten, auf die
die Aufmerksamkeit sich mit sich selbst beschäftigt.
Welche Seite der Erlebnisfähigkeit kultiviert wird, ist
nicht nur entscheidend für das Wie, sondern auch für das
Was des Erlebens. Weil die Fassungskraft der Aufmerk-
samkeit so beschränkt ist, hängen Art und Umfang dessen,
was wir erleben können, ganz entscheidend von den ei-
gens ausgebildeten Fähigkeiten und von dem aktivierbaren
Fundus an Wissen ab. Wir erleben nicht einfach, was uns
die Umwelt oder die Hintergrundtätigkeit der Assoziation
präsentieren; wir erleben, worauf wir achten beziehungs-
weise zu achten gelernt haben. Sowohl das, was wir im
stärkeren Eingehen auf die phänomenale Seite des Be-
wußtseins erleben, als auch das, was wir durch die Stär-
kung seiner Intentionalität erleben, ist kulturell erschlos-
sen. Nicht in der tragenden Rolle, die das kulturelle Erbe
überhaupt spielt, sondern in den Techniken, die bei der
Steigerung der Erlebnisfähigkeit zum Zug kommen, liegt
der fundamentale Unterschied zwischen den Kulturen be-
ziehungsweise Kulturkreisen. Die meditativen Techniken
sind solche des Rückzugs aus der gegenständlichen Erleb-
niswelt. Die Techniken der Objektivierung sind expansiv.
Die Schwierigkeit des Zusich-Kommens der phänomena-
len Seite des Bewußtseins liegt im Absehen von der in-
haltlichen Fülle und der Zurücknahme der gegenständli-
chen Orientierung. Die Schwierigkeit der objektivierenden
Erkenntnis liegt in der analytischen Durchdringung des
Dickichts und der umfassenden gedanklichen Synthese.
Beide Wege sind beliebig anspruchsvoll und schwierig.
Eine Kultur wird sich aber von Grund auf anders entwik-
keln, je nachdem, welchem der beiden Wege sie die Lö-
sung der Menschheitsprobleme zu- und anvertraut.
Diejenige Kultur, die sich in der Schöpfung von Neuig-
keitswert verausgabt, hat sich mit aller Entschiedenheit
dem Weg der Objektivierung verschrieben. Der vielleicht
deutlichste Ausdruck für diese Entschiedenheit ist die Rol-
le, die sie der Wissenschaft einräumt. Die Wissenschaft ist
nicht nur rigoros objektivierende Erkenntnis, ihr Pro-
gramm schließt auch die rigorose Befreiung der Wissens-
produktion von allen traditionalen Bindungen ein. Die
Wissenschaft sucht keine letzte Erkenntnis und behauptet
nicht, im Besitz der Wahrheit zu sein. Sie bekennt sich zur
grundsätzlichen Vorläufigkeit des Wissensstandes, sie ist
ihrem selbstverstandenen Wesen nach dynamisch. Ihre
Zielrichtung ist die ständige Erweiterung der Geltungsbe-
reiche und die immer weiter gehende Präzisierung der
Theorien. Sie veranstaltet eine Konkurrenz von Vorschlä-
gen zur Verbesserung, die keine Gnade mit dem Überhol-
ten kennt. An sie hat die okzidentale Kultur die Gestaltung
des »offiziellen« Weltbilds und schließlich sogar die Aus-
wahl dessen übertragen, was überhaupt als wirklich gelten
darf.
Die Bedeutung dieser Delegation dürfte schwer zu über-
schätzen sein. Ihre Folgen sind noch lange nicht abgese-
hen. Deutlich ist jedoch, daß sie mit einer Entfesselung
geistiger Produktivkräfte einhergeht, die nur noch mit der
Entfesselung der materiellen Produktivkräfte im Zug der
Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse
vergleichbar ist. Das Prinzip der Dynamisierung ist die
Vorläufigkeit des Wissens und die Vorwärtsgewandtheit
des Forschens nicht allein. Das treibende Prinzip liegt in
der Struktur der Anreize und Zwänge, die von dem veran-
stalteten Wettbewerb der Ideen ausgehen. In der Wissen-
schaft wird nicht die Bewahrung des Erbes und nicht die
Bewältigung vorweg definierter Prüfungen honoriert. Die
Preise stehen auf schöpferische Zerstörung des Überkom-
menen und auf das Vollbringen des noch nicht Dagewese-
nen. Beachtung findet, was mit weniger Aufwand mehr
erklärt als das Eingeführte. Überlegene Theorien sind ei-
nerseits umfassender und präziser, andererseits effektiver
in der Nutzung der knappen Kräfte der Aufmerksamkeit.
Der Fortschritt der Wissenschaft bezieht sich auf die Er-
kenntnis und die Produktivität der forschenden Aufmerk-
samkeit zugleich.
Zwei der zentralen Voraussetzungen, die für die Durch-
setzung wissenschaftlicher Normen des Erkennens erfüllt
sein mußten, waren aufmerksamkeitsökonomischer Natur.
Die erste betrifft die technische Unterstützung der Denk-
ökonomie. Wissenschaft im Sinne experimenteller Natur-
forschung wurde historisch erst von dem Moment an mög-
lich, in dem eine hinreichend leistungsfähige Mathematik
für die Modellierung der Beobachtungszusammenhänge
zur Verfügung stand. Die mathematische Präzisierung
baut ihrerseits auf die Terminologisierung der Sprache
durch deren Anwendung auf sich selbst. Die terminologi-
sche Schärfung der Begriffiichkeit und die Definition ma-
thematischer Beschreibungssprachen stellten hochleisten-
de Zurüstungen der Denkökonomie dar. Allerdings waren
sie nur notwendig und noch nicht hinreichend für den Sie-
geszug der westlichen Wissenschaft. Hinreichend war das
Entstehen einer kommunizierenden Gemeinschaft von
Forschern. Mit kommunizierender Forschergemeinschaft
ist ein funktionierender Markt der Ideen gemeint. Die
zweite der aufmerksamkeitsökonomischen Voraussetzun-
gen für die Durchsetzung wissenschaftlicher Normen der
Erkenntnis war also die, daß die theoretische Produktion
marktgängig wurde. Märkte für die theoretische Produkti-
on funktionieren, sobald ein leistungsfähiges und kosten-
günstiges Publikationswesen das Angebot allgemein zu-
gänglich macht.
Beide Voraussetzungen waren – ob Zufall oder nicht – in
just demjenigen historischen Moment erfüllt, in dem auch
die Voraussetzungen für die Industrialisierung der materi-
ellen Produktion gegeben waren. Die Durchsetzung wis-
senschaftlicher Normen des Erkennens und der Einzug
industrieller Produktionsweisen verliefen zeitlich parallel
und unter starker Wechselwirkung. Der Siegeszug der
einen schob den der anderen an und wurde von ihm ge-
schoben. Industrialisierung und Verwissenschaftlichung
zusammen stellen denn auch die nächste Stufe in der Ex-
pansion des Informationsstroms dar. Der Zustrom neuer
Entdeckungen und Erkenntnisse setzt zwar eine ganz an-
dere Art von Information frei als der wachsende Strom
von Gütern und Dienstleistungen, die Übersicht über das
Angebot und erst recht die Wahrnehmung der gebotenen
Möglichkeiten kosten aber hier wie dort Aufmerksamkeit.
Wir befinden uns auf einer neuen Stufe der Expansion,
weil erstens die Breite des Angebots eine neue Größen-
ordnung erreicht, zweitens der zeitliche Wechsel und die
Dynamik der Ausweitung eine bis dahin unbekannte Be-
schleunigung erfährt, drittens die Verwissenschaftlichung
der Produktion und die technische Umsetzung des theore-
tisch erschlossenen Grads an Naturbeherrschung einen
eigenen Sektor der Informationsverarbeitung begründet,
und schließlich die Beherrschung der technischen Zivilisa-
tion eine neue Klasse von Ansprüchen an die Aufmerk-
samkeit stellt. Wir befinden uns auf der Stufe, auf der die
Asymmetrie zwischen dem energetischen Aufkommen
und den Ansprüchen an die Aufmerksamkeit alltäglich
und für sämtliche Mitglieder der Gesellschaft spürbar
wird. Die Industrialisierung beschert neuartige, bis dahin
unbekannte Schübe der Verstädterung und Mobilisierung.
Mit ihr tritt die kontinuierliche Veränderung an die Stelle
der konsolidierenden Anpassung an das Neue. Die Mode
wird zur allgegenwärtigen und schließlich alles durchdrin-
genden Erscheinung.
Der kombinierte Effekt von Verwissenschaftlichung und
Industrialisierung bestand im Übergang von der sich zwar
stetig, aber langsam verstärkenden Vermehrung zur lawi-
nenartig anschwellenden Expansion interessanter und in-
teressant gemachter Verwendungsmöglichkeiten der Auf-
merksamkeit. Was als Verstärkung der Geistesmechanik,
als Bewaffnung der beobachtenden Sinne und als Mecha-
nisierung der körperlichen Arbeit begann, mündet in ein
künstlich entfachtes Reizklima für die denkende, wahr-
nehmende und genießende Aufmerksamkeit. Die Klima-
veränderung markiert einen qualitativen Wendepunkt. War
Information bis dahin etwas zweifellos Wertvolles, war
der Neuigkeitswert ein eindeutig positives Gut, so macht
sich von nun an bemerkbar, daß Information auch einen
negativen Wert annehmen kann. Das Zuviel des Neuen
wird zur Belästigung, wenn es die Selektion des eigentlich
Wichtigen zu überfordern beginnt. Diese drohende Über-
forderung ist nun aber, was das Reizklima ausmacht. Die
neue Qualität besteht im heraufziehenden Konflikt zwi-
schen Informationsökonomie und Informationsökologie.

Das Massengeschäft der Information

Mit der Industrialisierung wird neben den beiden Haupt-


quellen ein dritter Verstärker der Informationsflut aktiv.
Die Flut nimmt Ausmaße an, die weder mit der wachsen-
den Erarbeitungskapazität der Information erarbeitenden
Aufmerksamkeit noch mit dem sich durchsetzenden
Wunsch nach der Einnahme fremder Aufmerksamkeit zu
erklären ist. Seit der Industrialisierung trägt auch die
Geldwirtschaft – und zumal der materielle Kapitalismus –
gehörig zum Sozialprodukt an Information bei. Die Infor-
mationsökonomie entwickelt sich zu einer gemischten
Ökonomie der Aufmerksamkeit und des Gelds.
Das Geld wird zum Hauptmotiv der neu aufkommenden
Formen des Massengeschäfts mit Information. Dieses
Massengeschäft hat zwei Seiten: die innerindustriellen
Informationsumsätze und den Dienst am Endkunden. Die
Stichworte für die wachsende Rolle der Informationsver-
arbeitung innerhalb der Wertschöpfung sind Tertiarisie-
rung und Quartiarisierung der Wirtschaft. Tertiarisierung
steht für den wachsenden Anteil planender, kontrollieren-
der, verwaltender, vermittelnder, beratender, verkaufender
– kurz: dienstleistender – Tätigkeiten an der wirtschaftli-
chen Wertschöpfung. Mit Quartiarisierung wird der Vor-
marsch der informations- und kommunkationstechnischen
Berufe bezeichnet. Das Massengeschäft mit der Informati-
on, die auf den Endkunden losgelassen wird, besteht in der
bezahlten Herstellung von Attraktoren für die Lenkung
und Umlenkung massenhafter Aufmerksamkeit. Die
Stichwörter hier sind die Transformation der klassischen
Publikationsmedien in die modernen Massenmedien und
das Heranwachsen der Werbung zur eigenen Industrie.
Tertiäre Dienstleistungen sind Produktionsmittel bezie-
hungsweise Waren in der Form gewidmeter Aufmerksam-
keit. Sie galten den älteren Ökonomen als unproduktiv,
weil sie nichts Materielles, nichts, wovon man satt wird,
herstellen. Erst die spürbare Entlastung der körperlichen
Arbeit durch Maschinen und die wachsenden Ansprüche
an die Organisation von Produktion und Absatz machten
klar, daß von der dienstleistenden Aufmerksamkeit sowohl
ein eigener produktiver Beitrag als auch die zentrale
Durchsetzungsleistung betrieblicher Rationalität ausgeht.
Heute überwiegt ihr Beitrag zur Wertschöpfung den der
körperlichen Arbeit in allen entwickelten Volkswirtschaf-
ten bei weitem. Längst sind nun aber auch Dienstleistun-
gen zum Gegenstand der maschinellen Substitution
menschlicher Arbeitskraft geworden. Mit der Substitution
von geistiger durch elektrische Energie befaßt sich der
quartäre Sektor. Computer automatisieren gewisse Teile
der Geistesmechanik, ihre Vernetzung automatisiert die
entsprechenden Teile des Informationsaustauschs. Die
Wertschöpfung im quartären und tertiären Sektor zusam-
men stellt den Beitrag der Informationsverarbeitung zum
geldwerten Sozialprodukt dar.
Industrielle Produktionsweisen sind Produktionsweisen,
die nicht nur Maschinen- und Automatenkraft, sondern
auch Vorteile der Massenproduktion nutzen. Sie haben
rentable Mindestgrößen und nutzen den größeren Maßstab
der Produktion als eigenen Produktionsfaktor. Diese zu-
nehmenden Skalenerträge, wie sie genannt werden, haben
die Form degressiver Stückkosten. Von der Degression der
Stückkosten geht ein spezifisch erhöhter Druck auf die
Verbreiterung des Absatzes aus. Dieser Druck äußert sich
in der Nachfrage nach Verfahren zur Bearbeitung der
kaufentscheidenden Aufmerksamkeit. Die Herstellung
solcher Verfahren hat sich als Werbung, PR, Produktde-
sign und Imagepflege etabliert. Werbung ist die als käufli-
che Dienstleistung angebotene, professionell betriebene
Attraktion anonymer Aufmerksamkeit. Das Geld, das sie
mit ihrem Verkauf als Werbefläche einnehmen, hat die
Massenmedien groß gemacht.
Mit der Informatisierung der Berufswelt, dem Ausufern
der Werbung und dem massenmedialen Kampf um die
Aufmerksamkeit haben die Zeiten ein Ende gefunden, in
denen das Leben mit überdosierter Information nur wenige
Spezialisten betraf. Von nun an gehört die ständige Über-
forderung des Achtgebens zur Normalität. Weil Not erfin-
derisch macht und weil sich die Menschen an fast alles
gewöhnen, lernen sie es, auch im Trommelfeuer der At-
tacken auf ihre Aufmerksamkeit zu leben. Fortan ist es
nun aber die Beschaulichkeit, die eine Sache nur noch für
Spezialisten ist.
Die Penetranz und Aggressivität, mit der die Überdosis
trifft, hat ein schlichtes Motiv. Es geht mittelbar um die
Aufmerksamkeit, direkt aber ums Geld. Die Aufmerksam-
keit ist einerseits zum wichtigsten Faktor der Geldwert
schöpfenden Produktion geworden. Diese Produktion hat
andererseits ein Aktivitätsniveau erreicht, auf dem im
Verkauf nichts mehr ohne die Umwerbung der kaufent-
scheidenden Aufmerksamkeit geht. Die materielle und die
immaterielle Überproduktion heizen einander wechelseitig
an mit dem Erfolg, daß wir ein doppeltes Überweidungs-
problem natürlich begrenzter Ressourcen haben. Die mate-
rielle Produktion macht die in der Biosphäre verkörperten
Absorptions- und Regenerationskräfte zum Flaschenhals
des Überlebens. Die immaterielle Produktion läßt die
Kräfte, die der subjektiven Erlebnissphäre Gestalt und
Qualität schenken, zu Engpaßfaktoren werden.
Mißt man sie an diesem Erfolg, dann ist die gemischte
Ökonomie der Aufmerksamkeit und des Geldes eine Kata-
strophe. Als ob ein Umweltproblem nicht reichte, wird
noch ein zweites entfacht. Die industrielle Verwertung
macht das Gefahrenpotential einer Wissenschaft akut, die
immer tiefer in den Aufbau der Materie und in die Bau-
steine des Lebens vordringt. Zur Absicherung ihrer Ex-
pansion verfällt sie dann auch noch auf die Idee der groß-
technischen Produktion von Wegwerfinformation. Je deut-
licher absehbar wird, daß sich die Ausbeutungsrate der
natürlichen Absorptions- und Regenerationskräfte nicht
auf Dauer wird halten lassen, um so aufwendiger wird die
Bearbeitung der öffentlichen Meinung und die Betörung
der individuellen Konsumneigung betrieben. Der Ver-
schmutzung der Biosphäre folgt die Eutrophierung der
Erlebnissphäre.
Allerdings ist diese katastrophische nun nicht die einzig
mögliche Lesart der sich mischenden Ökonomien des
Gelds und der Aufmerksamkeit. Das Trittfassen einer im-
materiellen Ökonomie auf dem angestammten Terrain der
Geldwirtschaft sollte auch zu beobachten sein, wo eine
Gesellschaft sich auf dem Rückzug aus der exzessiven
Materialwirtschaft befindet. Es ist – bei aller Achtung vor
der Lernfähigkeit der Menschen – nämlich nicht zu erwar-
ten, daß das Streben nach materiellem Reichtum einfach
so, ohne einen Ersatz für die Begierde, schwindet. Das
über Jahrhunderte eingeübte und durch die Macht des Fak-
tischen eingebleute Streben dürfte nur dann von seiner
Voreingenommenheit für das Geldwerte lassen, wenn es
die Überlegenheit alternativer Formen der Bereicherung
entdeckt. Die hoffnungsvolle Lesart der gemischten Öko-
nomie wäre also die, daß sich in der wachsenden Bedeu-
tung der Information und Attraktion auch ein Geländege-
winn für eine Wirtschaftsweise abzeichnet, in der das Geld
nicht mehr die erste Rolle spielt.

Die finale Entgrenzung der Informationsflut

Die Frage nach dem Geländegewinn einer postpekuniären


Wirtschaftsweise ist spätestens seit dem Erfolg nicht mehr
aus der Luft gegriffen, den der Großversuch eines alterna-
tiven Informationsmarkts unter dem Namen Internet ver-
zeichnet. Im Internet werden nur noch die Benutzungsge-
bühren für die technische Infrastruktur in Geld bezahlt.
Die Wahrnehmung des Informationsangebots selber ist bis
auf Ausnahmen frei. Die große Mehrzahl der Informati-
onsanbieter hat es nur noch auf die Aufmerksamkeit der
Teilnehmer abgesehen. Was zählt, sind die Zahlen der
Zugriffsstatisitik und die inhaltlichen Reaktionen aus dem
Publikum. Weil kein Geld fließt, gilt das Internet der eta-
blierten Geschäftswelt nicht als richtiger Markt. Aller-
dings hat kein Informationsmarkt je solche Wachstumsra-
ten verbucht wie das Internet. Die Wachstumszahlen der
Anbieter und erst recht der Nachfrager sind atemberau-
bend. Und die Netzgemeinde wehrt sich vehement dage-
gen, dem Internet ein allgemeinverbindliches pekuniäres
Zahlungssystem einzuziehen.
Es ist, als ob die technisch avancierten Sparten der In-
formationsökonomie auf den neuen Typ von Markt nur
gewartet hätten. Endlich, so könnte die Erfolgsbotschaft
des Internet gelesen werden, gibt es sowohl die Kommu-
nikations- als auch die Transaktionstechnik, die der Infor-
mationsflut spezifisch angemessen ist. Allerdings wäre es
nun verfrüht, im Siegeszug des Internet auch den Triumph
einer alternativen Ökonomie zu erblicken. Erstens ist das
Internet bisher nur Nebenschauplatz des Massengeschäfts,
zweitens ist die Art und Weise, wie die Aufmerksamkeit
als Zahlungsmittel in Internet fungiert, nicht die am höch-
sten entwickelte. Das atemberaubende Wachstum sollte
zwar denen zu denken geben, die sich einen Markt ohne
Geld nicht vorstellen können. Bevor Rückschlüsse über
die Systemkonkurrenz zwischen der Geld- und der Auf-
merksamkeitsökonomie gezogen werden, muß die mögli-
che Währungsfunktion der Aufmerksamkeit aber grund-
sätzlich untersucht werden.
Eines ist mit dem Erfolg des Internet klargeworden: Die
klassischen aufmerksamkeitsökonomischen Quellen der
Informationsflut haben die Oberhand zurückgewonnen.
Die Globalisierung des Informationsangebots überwindet
einen Engpaß in der Informationsverarbeitung mit der
Folge, daß das Angebot in gigantischem Umfang wächst.
Und es wächst nicht länger in erster, sondern nur mehr
zweiter Linie aus kommerziellem Interesse. Selbst dort
nämlich, wo es letztlich um Geld geht, geht es zunächst
einmal darum, im Kampf um die Aufmerksamkeit zu be-
stehen. Es reicht nicht mehr, nur auf das Geld zu achten.
Der Königsweg zum Erfolg führt über den Bekanntheits-
grad.
Was könnte die Macht, mit welcher der entlastende Ef-
fekt in einen neuen Wachstumsschub mündet, besser illu-
strieren als die räumlichen und zeitlichen Barrieren der
Informationsflut, die mit der globalen Vernetzung fallen?
Die Kombination von globalisiertem Informationsangebot
mit globalisierter Echtzeitkommunikation verwandelt ört-
liche Märkte auf einen Schlag in Weltmärkte. Was als
lokale Konzentration der Angebote in den Städten begann,
findet in der räumlichen Entgrenzung der Märkte seinen
Abschluß. Je mehr die Vor- und Nachteile der besonderen
räumlichen Lage egalisiert werden, um so härter wird auch
der Kampf um zeitliche Vorsprünge. Was nicht auf der
Höhe der Zeit ist, genießt auch keinen örtlichen Schutz
mehr. Die Halbwertzeit der Produktdesigns und techni-
schen Standards schrumpft schneller denn je. Mit der Zu-
nahme des Entwicklungstempos schrumpft auch die
Halbwertzeit der betreffenden Kenntnis- und Wissens-
stände. Noch nie war Information so leicht verderblich wie
heute. Noch nie war auch das Wissen, das den Neuig-
keitswert erst realisieren läßt, so kurzlebig wie heute. Die
räumliche Entgrenzung der Informationsflüsse mündet in
eine Beschleunigungswelle, die die Verarbeitungskapazi-
tät a fortiori in die Zange nimmt.
Dieser Zangengriff deutet auf eine neue Dimension, in
der sich die Kapazität bewußter Verarbeitung von Infor-
mation verknappt. Weil Information nichts Festes und
Fertiges, sondern der Neuigkeitswert ist, den ein Empfän-
ger aus Reizen beziehungsweise Signalen zieht, ist sie
relativ zu einem Stand vorgängiger Informiertheit. Dieser
Stand hängt neben der strukturellen Empfindlichkeit des
Empfängers davon ab, was dieser aus früherem Input an
Neuigkeitswert gezogen hat. Information ist eine rekursive
Funktion der Zeit. Die Fassungskraft ihrer Verarbeitung ist
Ausdruck der Fähigkeit, auf Unterschiede im Zustrom
durch kontrollierte und für die künftige Leistung folgen-
reiche Veränderung des eigenen Systemzustands zu rea-
gieren. Die Bewegung am Rande dieser Kapazität setzt die
bewußte Verarbeitung einer doppelten Zumutung aus.
Zum einen soll der Neuigkeitswert durch präsumptives
Beiseitelassen des Allermeisten mit gleichwohl zielsiche-
rer Findigkeit für das unerwartet Triftige herausgezogen
werden. Zum anderen soll der Kenntnis- und Wissensstand
für Veränderung grundsätzlich offengehalten, alle Verän-
derungen jedoch, die sich irgendwann nachteilig auswir-
ken könnten, gemieden werden.
Das Leiden an diesen Zumutungen wurde einmal Mana-
gerkrankheit genannt. Heute wirkt die Bezeichnung fast
rührend. Managerkrank sind Leute mit schlechtem Auf-
merksamkeits-Management. Sie haben noch nicht begrif-
fen, daß die Aufmerksamkeit zu derjenigen Ressource
geworden ist, nach deren Verfügbarkeit sich der Rest zu
richten hat. Was ihnen fehlt, ist die rettende Distanz zu
den beiden Zumutungen. Sie machen den Fehler zu mei-
nen, die Herausforderung durch immer noch größere An-
strengung annehmen zu sollen. Mit dieser Meinung ver-
harren sie auf schon verlorenem Posten. Es ist vergebens
und wird immer absurder, der Informationsflut durch noch
größeren Fleiß Herr werden zu wollen. Die Lösung liegt in
der anderen Richtung. Sie liegt darin, daß man sich zu-
nächst um die Verfassung seines aufmerksamen Daseins
kümmert. Es gilt, diejenigen Kräfte zu pflegen und zu
päppeln, die dort weiterhelfen, wo der geradlinige
Verstand versagt. Diese intuitiven Kräfte lassen sich nicht
befehlen. Sie lassen sich nur von den Randbedingungen
her beeinflussen. Gilt die Sorge aber einmal den Randbe-
dingungen der aufmerksamen Präsenz, dann behauptet
sich das Aufmerksamkeits-Management bereits neben
dem sachlichen. Die Aufmerksamkeit ist dann nicht mehr
nur Mittel zum Zweck. Sie wird endlich als Selbstzweck
behandelt.

Auf der Kippe

Die Zeiten sind vorbei, da Knappheit noch mit pekuniärer


Kostspieligkeit gleichgesetzt werden durfte. Nicht einmal
mehr im materiellen Konsum ist das Geld das ausschließ-
liche Rationierungsmittel. Grund ist die Fülle des Ange-
bots. Die Fülle des Angebots macht seine Wahrnehmung
anstrengend. Also geht der rationale Konsument dazu
über, das Angebot nur mehr oberflächlich wahrzunehmen.
Sobald nun aber mit einer gewissen Oberflächlichkeit sei-
tens der Nachfrager zu rechnen ist, wird die gezielte At-
traktion von deren Aufmerksamkeit zum verpflichtenden
Geschäft für die Anbieter. Wer – eben aus Gründen der
Kostendegression – um Marktanteile kämpft, darf die
Auswahl dessen, worin sich die Aufmerksamkeit der po-
tentiellen Kunden verfängt, nicht mehr dem Zufall über-
lassen. Es wird zum geschäftlichen Gebot, sich auf das
Geschäft der Lenkung dieser Aufmerksamkeit einzulassen.
Nach der klassischen Theorie des rationalen Konsumen-
ten dürfte es die Werbung eigentlich nicht geben. Die
Theorie nimmt nämlich an, daß die ökonomisch rationale
Entscheidung nicht selber noch knappe Ressourcen in An-
spruch nimmt. Sie macht diese Annahme, um die Kalku-
lierbarkeit der Entscheidung zu sichern. Wenn rationales
Entscheiden selber noch knappe Aufmerksamkeit in An-
spruch nimmt, wie soll die Verwendung dieser knappen
Ressource dann selber noch rational entschieden werden?
Weil die Frage in einen infiniten Regreß führt, geht die
Theorie davon aus, daß sich der rationale Konsument aus-
schließlich von seiner Präferenz und seinem Informations-
stand über Preis und Beschaffenheit des Angebots leiten
läßt. Auf die Werbung hört er entweder gar nicht oder nur
deswegen, weil sie die Kosten der Informationsbeschaf-
fung senkt. Die Sache sieht nun aber ganz anders aus,
wenn die Knappheit der Aufmerksamkeit eben doch eine
Rolle spielt. Wenn Aufmerksamkeit knapp wird, dann ist
das Achtgeben zwangsläufig selektiv. Was immer in den
Sinn kommt, ist dann schon vorentschieden oder, um es
noch deutlicher zu sagen, voreingenommen. Wenn jeder
bewußten Entscheidung nun aber eine vorbewußte – damit
intuitive beziehungsweise emotionale – Auswahl voraus-
geht, dann hat die Rationalität der ökonomischen Ent-
scheidung eine – wie immer kleine, so doch systematische
– Lücke.
Diese Lücke ist unbedenklich und darf vernachlässigt
werden, wo Zeit und Anlaß genügen, um die Entscheidung
gründlich zu überdenken. Sie gewinnt aber Bedeutung, wo
die Aufmerksamkeit zu knapp wird, um es noch rational
erscheinen zu lassen, die Entscheidung gründlich und in
aller Ruhe zu fällen. Wo diese Knappheit spürbar und ef-
fektiv wird, ist es um die Geschlossenheit der ökonomi-
schen Rationalität – aus selber ökonomischen Gründen –
geschehen. Die ökonomische Theorie hält aus verständli-
chen Gründen am Konzept der geschlossenen Rationalität
fest. Der Geschäftssinn hat sich jedoch mit großer Findig-
keit über die Lücke hergemacht. Er nutzt die Instabilität,
um den Blick von der intuitiven beziehungsweise emotio-
nalen Voreingenommenheit her zu lenken. Einen Begriff
davon, was aus dieser Instabilität herauszuholen ist, läßt
die Beobachtung machen, daß sich eine regelrechte Tech-
nologie zur Ausbeutung der Lücke in der Rationalität ent-
wickelt hat. Die Werbung macht es inzwischen möglich,
Aufmerksamkeit mit kalkulierbarem Aufwand und Erfolg
für Beliebiges anzuziehen.
Die Existenz der Werbung war immer schon ein Hin-
weis, daß an der Theorie des rationalen Konsumenten et-
was nicht stimmt. Nur konnte der Hinweis gar zu unauffäl-
lig hinter idealisierenden Standardannahmen versteckt
werden. Was stillschweigend mit aus dem Blick ver-
schwand, war der relative Bedeutungsverlust des Geldes.
Inzwischen ist es nun aber so weit, daß dieser Bedeu-
tungsverlust nicht mehr zu übersehen ist. Nicht nur, daß
die Werbung zur ansehnlichen Industrie und der Massen-
konsum zum Konsum von Marketingprodukten geworden
ist. Ohne Werbung, PR, Imagepflege und Produktdesign
läuft in der Wirtschaft überhaupt nichts mehr. Man sehe
sich nur um: Unsere ganze Umwelt mutiert zum Werbe-
träger. Wo wir stehen und gehen, stoßen wir auf Dinge,
deren einziger Sinn und Zweck es ist, uns am Ärmel zu
zupfen und zu sagen: schau her! Man kann der Belästi-
gung nicht mehr entrinnen. Es sind kaum noch unkonta-
minierte Ecken zu finden. Ganze Landstriche sind durch
Werbung verstellt. Beim Fahren, beim Reisen, wo immer
ein paar Menschen vorbeikommen, geht das Gerangel um
die Aufmerksamkeit schon los.
Es ist keine Beruhigung und schon gar kein Ende des
Gerangels abzusehen. Vielmehr ist abzusehen, daß ihr
Prinzip auf den Konsum selber immer mehr übergreift.
Was Thorstein Veblen zu Beginn des Jahrhunderts noch
als den »Stil der feinen Leute« beschrieben hat,2 ist längst
zum Volkssport geworden: der ostentative Konsum. Wa-
ren es einst die Häuser, die man dem Namen nach kannte,
die um ›conspicuous consumption‹ konkurrierten, so ist es
inzwischen schwer, überhaupt noch ohne Schaueffekt zu
konsumieren. Wenn es nun aber ganz normal geworden
ist, um des Imponierens willen zu konsumieren, dann stellt
der Konsum auch noch einmal neue Anforderungen an die
Werbung. Der Konsum im Dienst der Attraktivität ver-
langt nach bewährten und schon vorab mit Renommee
geladenen Attraktoren. Markenpflege und Produktdesign
haben dann nicht mehr nur die simple Aufgabe, die Kund-
schaft zu überrumpeln, sondern auch die subtile, die Ware
für den Blickfang spezialtauglich zu machen. Die Dinge
selber müssen dann mit dem Versprechen versehen wer-
den: Ich bin etwas ganz Besonderes und wirke unwider-
stehlich. Dafür wiederum genügt es nicht, schön und auf-
fällig zu sein.
Es muß auch auffallen, daß sie auffallen. Oder anders:
Der Eindruck muß eigens noch inszeniert werden, daß die
Sache auf alle Eindruck machen wird.
Also wird die Werbung selber schon nicht mehr nur zu
dem Zweck betrieben, den Leuten das Geld aus der Tasche
zu ziehen. Sie hat auch die hybride Aufgabe übernommen,
die Konsumenten zum Blickfang herzurichten. Schon des-
halb wird sie weiter expandieren. An dieser hybriden
Funktion wird nun aber deutlich, daß es auch in Sachen
Einkommen einen Kipppunkt zwischen der Maßgeblich-
keit des Geldes und der Maßgeblichkeit der Aufmerksam-
keit gibt. Es ist nicht nur die Rolle des selektiveren Ratio-
nierungsmittels, es ist auch die des begehrteren Einkom-
mens, in die die Aufmerksamkeit hineinwächst. Ungewiß
ist, ob der Kippunkt schon erreicht ist. Gewiß ist aber, daß
die Entwicklung noch nicht am Ende ist. Auch wer sich
zurückhält beim Auszeichnen angebahnter Entwicklungs-
linien, tut sich schwer bei der Ausschau nach Kräften, die
der Dynamik Einhalt gebieten.

Die neue Währung?

Heißt das, daß die Aufmerksamkeit dabei ist, dem Geld


den Rang abzulaufen? Nun, so einfach ist das nicht. Ein
Wechsel der lebenspraktischen Leitwährung steht zwar an.
Ein knappes Gut wird aber nicht schon dadurch zur Wäh-
rung, daß es als Rationierungsmittel und Form des Ein-
kommens sich durchsetzt. Um als Währung zu fungieren,
muß es mindestens drei weiteren Anforderungen genügen.
Zu seinem bemessenden und belohnenden Gebrauchswert
muß erstens ein universeller Tauschwert hinzukommen.
Das Gut muß, anders gesagt, marktgängig werden. Sein
Tauschwert muß zweitens ein homogenes und allgemein
verbindliches Maß annehmen. Es muß einen Charakter
annehmen können, bei dem es nur noch aufs Quantum
ankommt. Ein Gut, das zur Währung taugen soll, muß sich
drittens zur Schatzfunktion eignen. Es muß sich horten
und als Form des Reichtums akkumulieren lassen.
Aufmerksamkeit kann man einnehmen, die eingenom-
mene kann man aber nicht weitertauschen. Der Weiter-
tausch ist das Prinzip, das hinter dem universellen
Tauschwert steckt. Die eingenommene Aufmerksamkeit
kann nicht wie Waren die Hand wechseln. Hinzu kommt,
daß die äußeren Zeichen der Beachtung nur zählen, wenn
sie auf etwas anderes schließen lassen. Die Signale müs-
sen als Botschaft aus einem anderen Dasein und als Hin-
weis auf eine Rolle aufgefaßt werden, die der Empfänger
dort spielt. Daraus folgt, daß es bei der Beachtung auf die
Individualität und den persönlichen Charakter des auf-
merksamen Daseins ankommt, welches die Beachtung
schenkt. Also kann die Beachtung, um die es geht, nicht
als homogenes Gut behandelt werden. Nicht einmal die
Beachtung, die ein und dieselbe Person schenkt, ist homo-
gen. Die Beachtung, die von Bewunderung hingerissen ist,
zählt anders als eine, die aus bloßem Respekt gezollt wird;
und diese zählt noch einmal anders als eine, die aus Feind-
seligkeit oder gar Abscheu herrührt. Als Beachtung neh-
men wir andere Aufmerksamkeit immer in Verbindung
mit einer bestimmten Wertschätzung für unsere Person
ein. Also zählt auch die emotionale Qualität der Zuwen-
dung. Wie soll nun aber ein Gut, das derart inhomogen ist,
zur Währung werden?
Und mehr noch: Wie soll es möglich sein, Beachtung zu
horten und zu Reichtümern anzuhäufen? Der Gedanke
scheint so absurd, daß die Frage kaum ernst genommen
werden kann. Allerdings gilt es, nun genauer zu schauen.
Aufmerksamkeit kann zwar als solche nicht weiterge-
tauscht werden, sie kann aber sehr wohl einen Tauschwert
annehmen. Ihr Tauschwert hängt unter anderem von dem
Einkommen an Beachtung ab, das die beachtende Person
bezieht. Zweitens ist die Aufmerksamkeit, die von promi-
nenter Seite und in den publikumsorientierten Berufen
eingenommen wird, durchaus anonym. Für den Grad der
Prominenz und den Erfolg beim Publikum ist das Quan-
tum ausschlaggebend. Wo es auf die bloße Zahl der Ein-
zahlenden ankommt, wird die bezogene Aufmerksamkeit
tatsächlich auf ein homogenes Maß reduziert. Schließlich
gibt es den Reichtum an eingenommener Beachtung nicht
nur in Gestalt des momentan gefeierten Publikumslieb-
lings, sondern auch in Gestalt der gereiften Prominenz.
Irgendwie funktioniert es mit der Akkumulation also doch.
So unwahrscheinlich es denn auf den ersten Blick er-
scheint, daß die Aufmerksamkeit Währungsfunktion an-
nehmen könnte, so erstaunlich ist die bereits erfolgte An-
näherung.
Um den Tausch der Aufmerksamkeit nun eingehend zu
untersuchen, ist ein Wechsel der Betrachtungsebene erfor-
derlich. Bisher bewegten wir uns auf einer Ebene, die ma-
kroökonomisch genannt werden kann. Es ging um Aggre-
gate wie Dienstleistungssektor, Werbung, Massenmedien,
ostentativer Konsum. Die Untersuchung im Detail ver-
langt einen Wechsel auf die mikroökonomische Ebene. Es
gilt, das Spiel des Austauschs aus der Sicht der individuel-
len Teilnehmer zu rekonstruieren. Es gilt, den Zusammen-
hang zwischen der getauschten Beachtung und der Wert-
schätzung herauszuarbeiten, den die Partner einander ent-
gegenbringen beziehungsweise im Tausch der Beachtung
aushandeln. Dafür muß zunächst einmal geklärt werden,
worum es im Spiel »Aufmerksamkeit tauschen« eigentlich
geht.
Drittes Kapitel

Zur Ökonomie der Selbstwertschätzung

Es hat keinen Sinn, die Jagd nach Aufmerksamkeit als


bloße Äußerlichkeit abzutun. Wohl hat sie als Eitelkeit
einen nicht unverdient schlechten Ruf. Das Verlangen
nach Zuwendung kann als solches aber nichts Verwerfli-
ches sein. Bedenklich ist die Wahllosigkeit, zu der das
Verlangen hinreißt. Auch die Gier nach Beachtung ist aber
keine gewöhnliche Unart. Wie das Verlangen, überhaupt
eine Rolle im Seelenleben anderer zu spielen, so ist uns
auch der Herzenswunsch angeboren, in dieser Rolle zu
gefallen. Es ist dieser Wunsch, der so leicht in Gier ausar-
tet. Aber noch nicht einmal er kann so einfach als Gefall-
sucht abgetan werden. Er ist nämlich nicht zu trennen von
dem Wunsch, gut vor sich selbst dazustehen. Auch und
gerade unsere Selbstwertschätzung genügt sich nicht
selbst. Was wir von uns selbst halten dürfen, hängt in emi-
nentem Maße von der Wertschätzung ab, die wir von an-
deren empfangen. Weil wir Wertschätzung immer in
Aufmerksamkeit verpackt empfangen, hat die Unersätt-
lichkeit des Verlangens nach Zuwendung einen guten
Grund. Die Sorge um den Selbstwert ist nämlich gerade
nicht verwerflich. Die höchsten und edelsten Ziele hier auf
Erden lassen sich in den Auftrag zusammenfassen, dieje-
nige Wertschätzung zu maximieren, die die eigene Person
selbstkritisch und guten Gewissens für sich in Anspruch
nehmen darf.
Nicht erst die Eitelkeit, schon das Selbstwertgefühl hält
uns an, für reichliche Beachtung unserer Person zu sorgen.
Die ursprüngliche und immer noch gängigste Art und
Weise, sich Beachtung zu verschaffen, ist es, das Bedürf-
nis anderer nach Beachtung zu bedienen. Wir nehmen
Aufmerksamkeit dafür ein, daß wir acht auf andere geben.
Das Achtgeben, um beachtet zu werden, ist nun aber mehr
als nur eine Beschaffungspraxis. Es ist die elementare
Form der Zwischenmenschlichkeit. Unser täglicher Um-
gang mit anderen Menschen ist neben alldem, was er noch
ist, ein fortlaufender Tausch von Beachtung. Also ist die
Sorge um den Selbstwert gerade nicht nur selbstbezogen.
Vielmehr macht sie uns zu sozialen Wesen im selbst- und
zielbewußten Sinne des Worts.
Die bewußte und gezielte Sorge um den Selbstwert läßt
uns das Geben und Nehmen als ein Spiel betreiben, in dem
wir eigene Aufmerksamkeit einsetzen, um an die Einsätze
anderer zu kommen. Sie macht den Tausch zu einem Spiel
von Angebot und Nachfrage. Dieses Spiel ist uns derart in
Fleisch und Blut übergegangen, daß es uns als Form der
Geschäftstätigkeit selten zu Bewußtsein kommt. Der Auf-
trag, für reichliche Beachtung unserer Person zu sorgen,
verlangt nun aber, in diesem Tauschgeschäft erfolgreich
zu sein.
Betrachtet man das Einkommen an Beachtung von seiner
Entstehung im Austausch her, dann erscheint die Sorge
um den Selbstwert als gar nicht so verschieden von der um
den wirtschaftlichen Erfolg. Die Arten des Einkommens
sind verschieden; die Rationalität des Beschaffens kann
aber nicht völlig verschieden sein. Die Maximierung des
Selbstwerts nimmt im Tausch der Beachtung die Rolle ein,
die die Maximierung des Nutzens im Tausch dinglicher
Güter einnimmt. Sowenig wie wir umhin können, auf op-
timale Bedürfnisbefriedigung und Wunscherfüllung aus zu
sein, sowenig können wir umhin, möglichst gut vor uns
selbst dastehen zu wollen. Man mag sogar fragen, ob die
beiden Ziele nicht auf dasselbe hinauslaufen. Von der
Nutzenmaximierung als Generalziel des Lebens zu reden
klingt zwar entsetzlich. Die Maximierung des Nutzens ist
in der Theorie aber ganz untendenziös als die Herbeifüh-
rung desjenigen Weltzustands definiert, der von den
machbaren Zuständen das Maximum an Wohlbefinden
verspricht. Zum Wohlbefinden reicht materieller
Wohlstand nicht. Sobald die materiellen Grundbedürfnisse
befriedigt sind, wird es für das Wohlbefinden sogar wich-
tiger, wie man vor sich selbst dasteht. Das Selbst gehört
mit zur Welt; ja es ist derjenige Teil der Welt, von dessen
Verfassung die Vorzüglichkeit des fraglichen Weltzu-
stands vor allem anderen abhängt. Wenn Nutzenmaximie-
rung als Herbeiführung des vorzüglichsten der machbaren
Weltzustände definiert ist, dann sollte die Maximierung
der Selbstwertschätzung eigentlich eingeschlossen sein.
Wenn Nutzenmaximierung die Maximierung des
Selbstwerts einschlösse, dann wäre dies von entscheiden-
dem Vorteil für unsere Untersuchung. Es hieße nämlich,
daß der Tausch der Aufmerksamkeit mit den bewährten
Methoden der theoretischen Ökonomie analysiert werden
kann. Diesen Vorteil kann man schwer überschätzen. Es
ist kein Verfahren zur Untersuchung sozialer Zusammen-
hänge in Sicht, das es mit der ökonomischen Modellierung
an analytischer Schärfe und synthetischer Kraft aufneh-
men könnte. Die Methode hat sich von der Enge ihres ur-
sprünglichen Anwendungsgebiets längst emanzipiert. Es
gibt, um nur Beispiele zu nennen, die ökonomische Theo-
rie der Politik und des Rechts, die Spieltheorie und die
Theorie der Verhandlung, die ökonomischen Theorien der
Ehe und der Clubs. Die normative Ökonomie spielt inzwi-
schen eine nicht unwesentliche Rolle in der philosophi-
schen Ethik. Es wäre für unsere Frage nach der neuen
Währung von allergrößter Bedeutung, wenn sich das An-
wendungsfeld auch nach dem Tausch der Aufmerksamkeit
hin weiten ließe.
Leider scheitert diese Hoffnung an einer nicht wegzude-
finierenden Eigenheit der Selbstwertschätzung. Mögen die
Maximierung des Nutzens und die Maximierung des
Selbstwerts in einem umfassenden Begriff der Wunscher-
füllung auch konvergieren, so haben sie doch unterschied-
liche Quellen der Wertigkeit. Der Nutzen kennt nur einen
Ursprung des Bewertens: das je eigene Werturteil. Die
Selbstwertschätzung schöpft hingegen aus zweierlei Quel-
len: aus der unmittelbaren Selbstachtung und aus dem
durch äußere Wertschätzung vermittelten Selbstwertge-
fühl. Die Selbstachtung ist die Instanz der Selbstkritik und
des Gewissens. Das Selbstwertgefühl ist die Instanz, die
die empfangene Wertschätzung in das Gefühl umsetzt, das
das Selbst von sich hat. Ironischerweise ist es also nicht
die größere Innerlichkeit, die den Selbstwert vom Nutzen
trennt, sondern die wesentliche Äußerlichkeit einer seiner
Quellen. Es ist die unmittelbare Selbstachtung, die sich der
Nutzenmaximierung am ehesten einverleiben ließe. Die
Selbstachtung schöpft, wie die Nutzenmaximierung, aus
dem eigenen Werturteil. Ausgerechnet die der Gefallsucht
so nahe Maximierung des Selbstwertgefühls ist es, die den
Rahmen der Nutzenmaximierung sprengt. Sie ist es, an der
die Rückführung der Selbstwert- und der Nutzenmaximie-
rung auf eine gemeinsame Quelle des Bewertens scheitert.
Am Selbstwertgefühl liegt es, daß zwar die Nutzenmaxi-
mierung als Unterfall der Selbstwertmaximierung durch-
gehen könnte, daß auf keinen Fall aber die Selbstwertma-
ximierung der Nutzenmaximierung subsumiert werden
darf.
Der ausschließlich in der eigenen Werthaltung begründe-
te Maßstab des Nutzens wird in der ökonomischen Theorie
eigens betont. Zu ihren Standardannahmen zählt die Un-
abhängigkeit der individuellen Nutzenfunktionen. Mit der
Unabhängigkeit der individuellen Nutzenfunktionen ist
gemeint, daß in die Präferenzordnungen der Individuen
nicht eingeht, wie die Präferenzordnungen ihrer Mitmen-
schen aussehen. Der Grund für die Annahme dieser Unab-
hängigkeit ist technischer Art. Es ist bisher nicht gelungen,
das Zusammenspiel vorteilsuchender Individuen bei ab-
hängigen Nutzenfunktionen zu modellieren. Für die Mo-
dellierung des Spiels der Selbstwertmaximierung wäre die
Annahme nun aber absurd, daß es den Spielern gleichgül-
tig ist, wie die Präferenzordnungen ihrer Mitspieler ausse-
hen. Die Sorge um den Selbstwert schließt ein wesentli-
ches Interesse daran ein, daß die Mitmenschen, auf die es
einem ankommt, Präferenzen haben, die den eigenen ent-
gegenkommen. Konkret bedeutet dies, daß Selbstwertma-
ximierer die Partner, mit denen sie Aufmerksamkeit tau-
schen, nicht nur nach eigener Sympathie, sondern auch
nach Gegensympathie aussuchen. Es zählt nicht nur, wie
hoch sie den Partner schätzen, sondern auch, wie hoch er
sie schätzt. Die Abhängigkeit des Selbstwerts von fremder
Wertschätzung bedeutet, daß beide Richtungen des Wert-
schätzens zählen. Nur die Einnahme von Aufmerksamkeit,
die mit Gefühlen der Wertschätzung oder zumindest des
Respekts geladen ist, mehrt das Selbstwertgefühl.
Den für die Selbstwertschätzung wesentlichen Dualis-
mus der Wertquellen kennt die ökonomische Theorie
nicht. Es ist auch kein Weg zu sehen, wie er in ihren Ap-
parat eingebaut werden könnte. Folglich können wir den
Tausch der Aufmerksamkeit nicht durch einfache Übertra-
gung bewährter Methoden rekonstruieren. Wir können
nach der Währungsfunktion der Aufmerksamkeit nicht
einfach fragen, indem wir an die Stelle des Geldes die
Beachtung, an die Stelle ökonomischen goodwills das per-
sönliche Ansehen, an die Stelle des Nutzens den Selbst-
wert setzen. Das macht die Sache schwierig. Eine alterna-
tive Methode läßt sich nicht aus dem Boden stampfen. Der
Ausweg liegt in einer Art kontrastierender Rekonstruktion:
kontrastierend in dem Sinn, daß das Besondere am Tausch
der Aufmerksamkeit vor dem Hintergrund des Bildes ent-
wickelt wird, das die ökonomische Theorie von der
Tauschwirtschaft hat.

Der Wunsch nach Beachtung


und die Sorge um den Selbstwert

Die Sorge um den Selbstwert und der Wunsch nach Be-


achtung hängen zusammen, sind aber nicht gleich. Ihr Zu-
sammenhang ist mehrfach gebrochen. Die Sorge um den
Selbstwert schließt den Wunsch nach Beachtung ein, aus
dem Wunsch nach Beachtung spricht aber nicht notwendig
die Sorge um den Selbstwert. Der Wunsch nach Beach-
tung kann auch aus bloßer Gefallsucht oder Lust am Auf-
fallen herrühren. Nicht einmal dort, wo die Sorge um den
Selbstwert das Streben nach Beachtung anleitet, ist das
Verhältnis direkt. Der Zusammenhang ist durch das Stre-
ben nach äußerer Wertschätzung vermittelt. Und dieser
Zusammenhang hat noch einmal zwei Zwischenglieder.
Erstens kommt die äußere Wertschätzung der Selbstwert-
schätzung nicht direkt zugute, sondern vermittelt über die
Wertschätzung, die wir selber für die Person, die uns
schätzt, hegen. Zweitens reicht die Wertschätzung, die wir
bei geschätzten Personen finden, nicht schon als solche
hin, um unser Selbstwertgefühl zu festigen. Sie muß auch
der Kritik der unmittelbaren Selbstachtung standhalten.
Der Zusammenhang zwischen dem Wunsch nach Beach-
tung und der Sorge um den Selbstwert trägt nur in einer
Richtung. In der anderen Richtung ist er nicht
beanspruchbar. Der Zusammenhang ist dreifach gebro-
chen. Machen wir, um die Brüche zu verdeutlichen, die
Probe an den fraglichen Stellen.
1. Die Selbstwertschätzung der Person knickt ein, sobald
der Entzug von Beachtung eine bestimmte Schwelle über-
schreitet. Umgekehrt kommt die bezogene Beachtung
nicht notwendig der Selbstwertschätzung zugute. Der Zu-
sammenhang zwischen eingenommener Beachtung und
empfangener Wertschätzung trägt nur einseitig in dem
Sinn, daß der Genuß von Wertschätzung zwar stets mit
dem Empfang von Beachtung verbunden ist, daß Beach-
tung aber nicht notwendig Wertschätzung einschließt.
Wohl gilt, daß wir nichts wirklich schätzen, das wir nicht
auch beachten. Der Umkehrschluß gilt aber nicht. Etwas
zu beachten heißt nicht schon, es zu schätzen. Wir müssen
auf vieles achten, was uns nicht gefällt. So hohl denn die
beteuerte Wertschätzung bleibt, wenn sie nicht durch
sichtbar gezollte Aufmerksamkeit erfüllt wird, so wenig
darf gezollte Beachtung schon mit Wertschätzung gleich-
gesetzt werden. Die Beachtung kann alle möglichen Moti-
ve haben. Auch Bespitzelung beachtet genau, auch Furcht
macht achtsam, auch Abwehr läßt genau hinschauen.
Neid, Mißgunst, Eifersucht sind von ihrem Opfer so gefes-
selt wie die Liebe. Wut und Haß sind hingerissen wie Fas-
zination. Schließlich will der Feind so genau beachtet sein
wie der Freund. Wie von wahrer Freundschaft die Rede
nicht sein kann, wenn die Partner nicht aufeinander acht-
geben, so ist eine Feindschaft keine wirkliche, in der die
Gegner einander nicht scharf im Auge behalten.
2. Selbst die Beachtung, die durch Wertschätzung moti-
viert ist, kann nicht umstandslos auf das Konto der
Selbstwertschätzung gebucht werden. Was zählt, ist die
Wertschätzung, die wir in der Beachtung durch solche
Menschen erfahren, die wir unsererseits schätzen. Schätzt
uns jemand, den wir unsererseits nicht schätzen, dann soll-
ten wir uns darauf gerade nichts zugute halten. Es sollte
uns eher peinlich berühren und zur Überprüfung unserer
Einstellung veranlassen. Jedenfalls ist es im schlechten
Sinne eitel, sich in solcher Wertschätzung zu sonnen. Und
es ist eitel genau deswegen, weil die Wertschätzung sei-
tens derer, die wir nicht auch unsererseits schätzen, zur
Beglaubigung der Selbstwertschätzung nicht taugt. Unsere
Selbstwertschätzung darf nur wachsen, wenn wir von
Menschen geliebt, verehrt, bewundert werden, die auch
wir lieben, verehren, bewundern.
3. Zu einem dritten Bruch zwischen dem Wunsch nach
Beachtung und der Sorge um den Selbstwert kommt es,
weil auch die Wertschätzung, die wir bei geschätzten Per-
sonen finden, nur notwendig und nicht schon hinreichend
ist als Stütze des Selbstwertgefühls. Unsere Selbstwert-
schätzung bedarf nicht nur der äußeren, sondern auch ei-
ner inneren Stütze. Innen muß sie von unmittelbarer
Selbstachtung getragen werden. Die unvermittelte Selbst-
achtung bestimmt, wofür das Selbst sich im Spiegel seiner
Selbstkritik und seines Gewissens achten darf. Sie hat das
letzte Wort. Sie ist in gewissem Sinn sogar unbestechlich.
Der Selbstbetrug bestraft sich selbst durch die Selbstach-
tung, die er kostet. Dennoch ist die Selbstachtung alles
andere als unfehlbar. Der Verzicht auf absichtlichen
Selbstbetrug bringt die Verlockungen des Wunschdenkens
noch nicht zum Schweigen. Auch das kritische Selbstbild
ist offen für Verblendung. Darum bedarf es seinerseits der
äußeren Stütze. Unsere Selbstachtung ist sogar so sehr auf
äußere Abstützung angewiesen, daß sie ohne Verbindung
zum äußeren Dafürhalten noch nicht einmal von Einbil-
dung zu unterscheiden wäre. Nur dadurch, daß Selbstkritik
und äußere Kritik, daß Selbstachtung und äußere Wert-
schätzung einander ergänzen, gewinnt die Selbstwert-
schätzung Halt und Festigkeit. Die unvermittelte Selbst-
achtung ist in dem Sinne allerdings die Letztinstanz, daß
alle äußere Wertschätzung nichts nützt, wenn das Selbst-
bild der eigenen Kritik und Gewissenhaftigkeit nicht
standhält.
Wiewohl er gebrochen ist, hat der Zusammenhang zwi-
schen dem Wunsch nach Beachtung und der Sorge um den
Selbstwert eine unverzichtbar tragende Funktion. Unser
Selbstwertgefühl besteht auf der Beglaubigung durch äu-
ßere Wertschätzung; und äußere Wertschätzung gibt es
nun einmal nur in geleistete Beachtung verpackt. Unser
Selbstwertgefühl verlangt sogar, daß wir die Beschaffung
mit größtmöglichem Geschick und mit dem Ziel betreiben,
die Selbstwertschätzung so groß wie möglich wachsen zu
lassen. Es gibt wahrlich weniges, von dem die Qualität
unseres Lebens so entscheidend abhängt wie davon, was
wir vom eigenen Selbst halten dürfen. Es ist das Streben
nach Glück in seiner ersten und unmittelbaren Bedeutung,
das unser rationales Handeln und Planen dem Oberziel der
Maximierung der Selbstwertschätzung unterstellt.
Daß die unmittelbare Selbstachtung das letzte Wort hat,
lockert den Auftrag zur Beschaffung äußerer Wertschät-
zung nicht. Im Gegenteil. Wir sind nämlich noch nicht
einmal in der Lage, ein ungestörtes Verhältnis zu uns
selbst zu entwickeln, wenn wir nicht von Kind an mit Be-
achtung wohl versorgt werden. Wer als Kind hier darben
mußte, wird wahrscheinlich sein Leben lang – auch und
gerade – mit seiner Selbstachtung kämpfen. Aus gutem
Grunde ist die erste Lektion, die wir hier auf Erden lernen,
die, daß gut ist, was Zuwendung verschafft, und schlecht,
was sie abspenstig macht. In dieser ersten Lektion lernen
wir uns zu holen, was unbedingte Voraussetzung für die
spätere Festigkeit des Selbstwertgefühls ist. Aber auch
dann, wenn ein stabiles Selbstwertgefühl einmal aufgebaut
ist, bleibt es auflaufende Bestätigung angewiesen. Die
Selbstwertschätzung wird dann nur nicht so leicht ein-
knicken, wenn die äußere Anerkennung hinter dem inne-
ren Anspruch zurückbleibt. Eine gewisse Robustheit ist
hier entscheidend, da Diskrepanzen die Regel sind und
nicht einmal im besten Falle ganz verschwinden. Im be-
sten Fall wachsen die Ansprüche der Erfüllung nach.
Bleibt andererseits die Erfüllung aus und hilft auch noch
so große Anstrengung nicht, dann bleibt nur die Wahl zwi-
schen dem Senken des eigenen Anspruchs und dem Sen-
ken des Werts, den wir auf die anerkennungsunwilligen
Mitmenschen legen. Beides, die Resignation und der Ha-
der, verursacht langwieriges Leid. Beide vergällen die
Grundstimmung des Lebens.
Der Auftrag, den die Selbstwertschätzung zur Beschaf-
fung äußerer Wertschätzung erteilt, ist also ernst. Es reicht
nicht, der Versündigung an der unvermittelten Selbstach-
tung zu widerstehen. Es gilt vielmehr, diejenige Wert-
schätzung in diejenige Beachtung verpackt zu gewinnen,
die die Selbstwertschätzung maximieren. Wir sind an-
gehalten, die Beachtung derjenigen Menschen zu finden,
die wir unsererseits am meisten schätzen, und diese Men-
schen dazu zu bringen, möglichst große Sympathie und
Hochachtung für unsere Person zu entwickeln. Der Auf-
trag, das Tauschspiel der Aufmerksamkeit erfolgreich zu
spielen, zerfällt also in drei Teilprobleme. Es gilt erstens,
möglichst viel und möglichst geneigte Aufmerksamkeit
von denjenigen Menschen einzunehmen, die wir selbst am
meisten schätzen. Es gilt zweitens, den Wert der eigenen
Aufmerksamkeit in den Augen derer zu maximieren, auf
die es uns ankommt. Es gilt drittens, dieses Geschäft so
abzuwickeln, daß die Selbstachtung keinen Schaden
nimmt.
Dieses Geschäft ist von Natur aus kompliziert. Es ist um
ein Grundsätzliches komplizierter als das der Nutzenma-
ximierung. Es hat, wie das Geschäft mit dem Geld, die
Form eines Spiels. Das Spiel ist die Verallgemeinerung
des Tauschs. Wir tauschen Aufmerksamkeit nicht einfach
gegen Aufmerksamkeit, sondern setzen Aufmerksamkeit
ein, um sowohl an Aufmerksamkeit als auch an Wert-
schätzung zu kommen. Spiele im terminologischen, spiel-
theoretischen Sinne des Begriffs sind Verhandlungsspiele.
Wird der Tausch ausgehandelt, dann geht es nicht nach
dem einfachen Schema »wie du mir, so ich dir« zu, son-
dern sind taktische Finessen und strategische Züge im
Spiel.
Das Spiel »Aufmerksamkeit tauschen« ist ein Verhand-
lungsspiel im eigentlichen Sinn. Wir verhandeln in aller
Regel zwar nicht offen, dafür aber ständig unter der Hand.
Es ist das große Spiel der stillschweigenden, impliziten
Verhandlung. Wir verhandeln, indem wir uns vielsagend
verhalten, in Andeutungen unsere Vorlieben und Abnei-
gungen äußern, durch Tun und Lassen Dinge ausplaudern,
durch Mitmachen Einverständnis signalisieren. Das Ver-
handlungsspiel, das wir beim Tauschen von Aufmerksam-
keit spielen, ist – als eben typisches Spiel – sowohl takti-
scher als auch strategischer Natur. Es ist taktischer Natur,
weil ein wesentlicher Teil des Spiels darin besteht, den
Partner aus der Reserve zu locken und dazu zu bringen,
Farbe zu bekennen. Es ist ein strategisches Spiel, weil wir
im Tausch von Aufmerksamkeit die Zwecke des Partners
zum Mittel für die Verfolgung der eigenen Zwecke ma-
chen.

Wie erfahren wir von


unserer Rolle im anderen Bewußtsein?

Das Spielen eines Spiels, in dem wir Aufmerksamkeit


einsetzen, um an die Aufmerksamkeit und Wertschätzung
des Partners zu kommen, setzt voraus, daß wir erfahren,
was im Bewußtsein unseres Partners vorgeht. Aufmerk-
samkeit zu beziehen heißt, eine Rolle in anderem Bewußt-
sein zu spielen. Wir können in das andere Bewußtsein
jedoch nicht hineinsehen. Wir können nicht nachsehen,
wie häufig wir dort auftauchen, mit welchen Gefühlen wir
dort empfangen werden, wie intensiv die Beschäftigung
dort mit uns ist, vor wem uns der Vorzug und wem vor
uns der Vorzug gegeben wird. Die Wertschätzung, die wir
genießen, ist ein anderer Ausdruck für die Beliebtheit oder
den Rang der Rolle, die wir im anderen Bewußtsein spie-
len. Die Bühne des Bewußtseins kennt aber keine Zu-
schauerplätze. Wir können, was im anderen Bewußtsein
vorgeht und welche Rolle wir dort spielen, nur aus dem
äußeren Verhalten der anderen Person erschließen. Von
der Unterstellung des anderen Daseins zur Feststellung,
was es meint und fühlt, führt nur die Deutung äußerer An-
zeichen.
Die beredtsten, zugleich aber auch unzuverlässigsten
dieser Anzeichen sind die sprachlichen Berichte, die uns
aus dem anderen Innenleben erreichen. Die wörtlich gege-
benen Schilderungen und Rechtfertigungen sind so vielsa-
gend, weil die wörtliche Sprache das reichste und präzise-
ste Ausdrucksmedium seelischer Zustände ist. Auf die
wörtlichen Berichte ist so wenig Verlaß, weil es mit Wor-
ten so einfach ist, sich zu verstellen. Worte kosten nichts.
Was sie von Taten unterscheidet, ist, daß sie so wohlfeil
sind. Andererseits sprechen sie viel differenzierter und
nuancenreicher als Taten. Wir wären arm dran, wenn wir
keine Worte hätten, um uns über seelische Belange zu
verständigen. Wir wären allerdings auch arm dran, wenn
die sprachliche Äußerung die einzige Informationsquelle
über die andere Seele wäre.
Um die Worte nach Glaubwürdigkeit zu wägen, versu-
chen wir, die Begleitumstände der Äußerung und diejeni-
gen Züge am Verhalten des Äußernden mitsprechen zu
lassen, die Kosten verursachen. Erstens fragen wir nach
dem allgemeinen Eindruck der Stimmigkeit und prüfen
ihre Plausibilität anhand der Kenntnis, die wir von der
Person, ihrer besonderen Situation und den näheren Um-
ständen haben. Zweitens bringen wir unser implizites Wis-
sen um die Knappheit und rationelle Verwendung der
Aufmerksamkeit in Anschlag. Wir wissen nämlich, daß
die Wahrscheinlichkeit, durch subjektive Berichte ge-
täuscht zu werden, unter anderem dadurch begrenzt ist,
daß es für den Äußernden nicht völlig kostenlos ist, sich
zu verstellen. Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß sich
Einstellungen und Gefühle – ja nicht selten auch Absich-
ten und sogar Hintergedanken – unwillkürlich äußern.
Verstellung bedarf der ausdrücklichen Selbstkontrolle.
Ausdrückliche Selbstkontrolle kostet Aufmerksamkeit.
Verstellung – ob durch Reden oder Tun – verursacht also
Kosten, die die unverstellte Ehrlichkeit nicht verursacht.
Deshalb ist es unter sonst gleichen Bedingungen ökonomi-
scher, ehrlich zu sein. Das Leben wird anstrengend, wenn
man nicht mehr reden kann, wie einem der Schnabel ge-
wachsen ist, sondern ständig überlegen muß, was man
wem bei welcher Gelegenheit erzählt hat. Die Verstellung
kann sogar ziemlich kostspielig werden, wo ausführliche
Lügengeschichten memoriert und konsistent weitergespielt
werden müssen. Schließlich sind die Kosten des Risikos
nicht zu unterschätzen, daß die Sache auffliegt. Das Er-
tapptwerden kann ruinös teuer werden, was die genossene
Achtung und – nicht zuletzt – die Selbstachtung betrifft.
Das Wissen, daß wir diese Kostenrechnung unterstellen
dürfen, erlaubt es uns, im Fall fehlender Hinweise auf das
Gegenteil von der Glaubwürdigkeit der Worte auszuge-
hen. Das ist einiges. Nur verträgt sich die Kostenrechnung
mit dem Vorkommen recht vieler Situationen, in denen
das Heucheln eben doch opportuner scheint als die Ehr-
lichkeit. Gerade die wörtlich versicherte Wertschätzung ist
ein weites Feld pflichtschuldiger Lüge. Wir machten uns
selbst zu Narren, schenkten wir den schönen Worten zu
leicht Glauben. Allerdings läßt sich die geäußerte Wert-
schätzung nun noch eingehender an Taten messen. Wie
schon gesagt, die noch so versicherte Wertschätzung bleibt
hohl, wenn sie durch tätige Beachtung nicht belegt wird.
Beachtung ist nicht so wohlfeil, wie es Worte sind. Wie
wir jede eingenommene Mark und jede Minute Lebenszeit
nur einmal ausgeben können, so können wir auch jeden
Augenblick Aufmerksamkeit nur einmal ausgeben. Und
wie niemand viel Geld und Zeit für Dinge ausgibt, die ihm
nicht wichtig sind, so läßt auch niemand seine Aufmerk-
samkeit von Dingen in Beschlag nehmen, die in seiner
Prioritätenliste nicht weit oben stehen – oder sich, durch
diese Vereinnahmung, an die Spitze stellen. Mit jeder be-
stimmten Ausgabe – ob von Geld, Zeit oder Aufmerksam-
keit – verzichten wir auf die Realisierung alternativer
Möglichkeiten.
Durch den Verzicht, den sie auf die Realisierung alterna-
tiver Möglichkeiten kosten, sprechen unsere Ausgaben
wie ein Lügendetektor. Das Heucheln von Wertschätzung
wird witzlos, wo der Beleg durch Beachtung leicht einzu-
fordern ist. Die Verwendung unserer Aufmerksamkeit
plaudert mehr aus, als tausend Worte abstreiten können.
Der Gatte mag der Gattin tausendmal versichern, daß sie
sein ein und alles ist; wenn er nie Zeit hat und auch den
Hochzeitstag vergißt, dann gibt es eben mehr als nur das
eine Alles. Realist in Sachen beteuerter Wertschätzung ist,
wer ungerührt auf die geäußerte Zahlungsbereitschaft hört.
Die Äußerung von Zahlungsbereitschaft ist eine offene,
ja rücksichtslos ehrliche Sprache. Es lohnt sich nicht, in
ihr zu lügen. Wer in ihr lügt, zahlt drauf. Er verzichtet auf
die Realisierung der eigentlich präferierten Alternative.
Wir alle sprechen und verstehen diese Sprache. Durch das
gleichzeitige Hören auf die Sprache der Worte und auf die
Sprache der Zahlungsbereitschaft wird praktisch möglich,
was theoretisch ausgeschlossen erscheint: Wir erfahren
von unserer Rolle im anderen Bewußtsein. Wir erhalten
den Einblick, der nötig ist, um unterrichteterweise den
eigenen Selbstwert zu pflegen. Wir müssen das andere
Verhalten nur ausführlich und genau genug beobachten.
Die geäußerten Worte und die geäußerte Zahlungsbereit-
schaft enthüllen, wenn wir sie nur recht interpretieren, den
Rang, den wir im anderen Bewußtsein einnehmen. Wenn
wir nur unsererseits genügend achtgeben, bekommen wir
auch die Wertschätzung heraus, die in die eingehandelte
Aufmerksamkeit verpackt ist. Und mehr noch. Wir können
uns nicht nur schlau machen, indem wir auf beide Spra-
chen hören, wir können uns durch das Sprechen beider
auch mitteilen. Wir können durch betonte Beachtung si-
gnalisieren, daß der Wert, den wir auf die Person des
Adressaten legen, weiter geht, als es opportun wäre, wört-
lich zu äußern. Durch versicherte Wertschätzung können
wir Vorschüsse an Beachtung an die Frau beziehungswei-
se an den Mann bringen, die sonst wegen mangelnder Dar-
stellbarkeit verschenkt blieben. Die Möglichkeit, in beiden
Sprachen gleichzeitig zu sprechen, öffnet Anbahnungs-
möglichkeiten, die sonst blockiert blieben, läßt Feinab-
stimmungen zu, die bei nur einem Kanal ausgeschlossen
wären, macht eine Unzahl von Absicherungsverfahren im
Sinne des »Doppelt genäht hält besser« verfügbar, erwei-
tert die Reparaturmöglichkeiten von Versäumnissen und
Mißverständnissen ungemein. Das Spiel »Aufmerksamkeit
tauschen« ist weder ein Rate- noch ein Blindekuhspiel.
Wir bekommen mit, ob unser Vorschuß an Beachtung die
beabsichtigte Wirkung auf die Wertschätzung unserer Per-
son hat; wir können den Tauschwert unserer Aufmerk-
samkeit in den Augen der anderen gezielt pflegen; wir
können sehenden Auges den Wert der eingehandelten
Aufmerksamkeit maximieren.

Ökonomischer Preis und intrinsischer Wert

Die Offenbarung der Präferenzen durch Zahlungsbereit-


schaft ist ein bekanntes Theorem der theoretischen Öko-
nomie.3 Auch diese hat mit der Schwierigkeit zu kämpfen,
daß das Werten subjektiven Ursprungs ist. Alles Werten
geht zurück auf – je nachdem angenehme oder unange-
nehme – Gefühle. Gefühle sind aber phänomenaler Natur.
Sie sind nur ihrem eigenen Subjekt zugänglich. Deshalb
ist auch »Nutzen« eine durch und durch subjektive Kate-
gorie. Nutzen ist weder empirisch meßbar noch intersub-
jektiv vergleichbar. Er ist ein Maß für das Potential, Be-
dürfnisse zu befriedigen und Wünsche zu erfüllen. Wie
sollen nun aber soziale Zusammenhänge aus dem Zusam-
menspiel nutzenmaximierender Individuen erkärt werden,
wenn Nutzen weder empirisch meßbar noch intersubjektiv
vergleichbar ist? Man kann die Wünsche und Bedürfnisse
ja nicht einfach abfragen. Weil Worte nichts kosten, wer-
den die Bedürfnisse nach Erfolgsaussicht, die Wünsche
nach Opportunität dargestellt. Was also tun, um die kol-
lektiven Resultate der individuellen Vorteilsuche rational
zu verstehen? Die Lösung liegt in der Interpretation der
individuellen Verwendung knapper Ressourcen als Wahl-
handlung und in der Interpretation der getroffenen Wahl
als Offenbarung der Präferenz.
Durch diese Interpretation geht die theoretische Ökono-
mie mit dem Problem um, daß alles Werten phänomenalen
Ursprungs ist. Ihre herrschende neoklassische Schule baut
auf eine subjektive Wertlehre. Gegenstand der ökonomi-
schen Erklärung ist das Mengen- und Preissystem der auf
Märkten getauschten Güter. Das Mengen- und das Preis-
system der auf Märkten getauschten Güter sind unter-
schiedliche Ausdrücke des einen Sachverhalts, daß nut-
zenmaximierende Wirtschaftssubjekte die Güter, die sie
herstellen und besitzen, so lange tauschen und weitertau-
schen, bis die Möglichkeiten vorteilhaften Handels er-
schöpft sind. Im System der in diesem Gleichgewichtszu-
stand gehandelten Güter sind die getauschten Mengen und
die sich einspielenden Preise unterschiedliche Seiten der-
selben Medaille. Die Preise sind nicht als Geldsummen,
sondern als die Relationen definiert, in denen die Güter
gegeneinander getauscht werden. Ökonomische Preise
sind relative Preise. Sie werden zu gleichnamigen Sum-
men erst dadurch, daß ein bestimmtes Gut beziehungswei-
se Güterbündel zum Standard gemacht wird. Der Standard
ist zwar nicht zweitrangig, er ändert aber (unter den Stan-
dardannahmen) am System der Tauschrelationen nichts.
Das System der relativen Preise ist das Resultat der kol-
lektiven, nämlich durch Tausch und Weitertausch abge-
stimmten Bewertung der marktgängigen Güter. Die sub-
jektiven Einzelbewertungen sind in ein gesellschaftlich
objektives Wertsystem übergegangen.
Auch die zwischen Menschen getauschte Aufmerksam-
keit stellt ein Mengensystem dar. Wie der Tausch markt-
gängiger Waren, so erfolgt der Tausch der Aufmerksam-
keit freiwillig, nach Maßgabe der Zahlungsbereitschaft
und im Rahmen meist stillschweigender Vereinbarung.
Die sich einstellenden Tauschrelationen drücken die Be-
reitschaft auf beiden Seiten aus, eigene Aufmerksamkeit
hinzugeben, um an die Aufmerksamkeit des Partners zu
kommen. Das System der Tauschrelationen ist sozial ab-
gestimmt in dem Sinn, daß jeder Tauschende zwischen
verschiedenen potentiellen Tauschpartnern wählt. Wenn
die soziale Abstimmung über den Wert eines Guts durch
dessen freiwilligen und nach mehreren Seiten hin mögli-
chen Tausch seinen Marktpreis bestimmt, was spricht
dann dagegen, auch in den Relationen, in denen Aufmerk-
samkeit getauscht wird, ein System von Marktpreisen zu
erblicken?
Dagegen spricht zunächst einmal, daß sich alle Fasern
des Sprachgefühls sträuben. Preise drücken Äquivalenz-
verhältnisse aus. Wird, wenn persönliche Wertschätzung
ein Preis ist, nicht auch die Person nach Maßgabe des
Äquivalenzverhältnisses austauschbar? Schlösse ein preis-
licher Charakter der persönlichen Wertschätzung nicht ein,
daß die Individualität der geschätzten Person auf eine nur
noch quantitativ besondere Größe zusammenschrumpft?
Abstrahiert die Gleichsetzung der Wertschätzung mit ei-
nem Preis nicht von aller Einzigartigkeit des Bewerteten?
Liefe die Gleichsetzung nicht sogar auf die Gleichbehand-
lung des unveräußerlich Innersten der Person mit einer
veräußerbaren Ware hinaus?
Die Vorstellung, daß die Wertschätzung, die meine Per-
son genießt, einen Marktpreis darstellt, ist noch unerträgli-
cher als die, daß meine Arbeitskraft eine Ware ist. Arbeit
ist nicht das ganze Leben. Die Wertschätzung, die wir
persönlich erfahren, betrifft aber die ganze Person. Sie
betrifft nicht nur, was wir nach außen hin gelten; sie be-
trifft auch, was wir von uns selbst halten dürfen. Die Ab-
hängigkeit unserer Selbstwertschätzung von der empfan-
genen Wertschätzung geht so weit, daß der preisliche Cha-
rakter der empfangenen Wertschätzung auch auf unsere
Selbstwertschätzung abfärben müßte. Hätte nun aber auch
die Selbstwertschätzung die Eigenschaft eines Marktprei-
ses, dann wäre das Individuum in einem wahrlich totalen
Sinne vergesellschaftet. Wir wären dann bei der genauen
Antithese zur monadischen Exklusivität der subjektiven
Erlebnissphäre angelangt. Die Gleichsetzung des individu-
ellen Bewußtseins mit einer ganzen Welt wäre umge-
schlagen in das andere Extrem, in dem das Individuum
nichts und die Gesellschaft alles ist.
Man sieht hier, was auf dem Spiel steht, wenn es um die
Währungsfunktion der Aufmerksamkeit geht. Zur Wäh-
rung könnte die Aufmerksamkeit nämlich nur durch tat-
sächliche »Vermarktung« werden. Gegen die Vorstellung,
daß ihr Tausch wie ein Markt funktioniert und daß ihr
Wert die Eigenschaft eines regulären Marktpreises an-
nimmt, wehren sich unsere mitmenschlichen Gefühle, un-
ser Selbstwertgefühl und unsere Selbstachtung gleicher-
maßen. Wären wir gezwungen, sie als realistisch anzuer-
kennen, dann käme dies einer Entzauberung unseres
Selbstbildes gleich, die der nicht viel nachstünde, die uns
auf informationsverarbeitende Automaten reduziert. Wenn
wir uns sicher sind, daß wir keine seelenlosen Zombies
sind, können wir dann nicht auch wissen, daß wir im In-
nersten keine homines oeconomici sind?
Wir können uns insofern ganz sicher sein, als der homo
oeconomicus die besondere »Substanz« nicht kennt, die
beseelte Lebewesen tauschen. Seine Nutzenfunktion hat,
wie gesagt, keinen Platz für etwas wie den intrinsischen
Wert einer Sache. Alles Werten geht von seinen eigenen
Gefühlen aus. Die Aufmerksamkeit, die wir tauschen, ist
nun aber aus sich selbst heraus wertend. Ihre Zuwendung
erfolgt aus wertenden Gefühlen und in wertender Einstel-
lung. Sie ist selber wohlwollend oder ablehnend, angetan
oder angewidert, liebend oder hassend. Schon dieser ihr
intrinsischer Wert enthebt die getauschte Aufmerksamkeit
dem Vergleich mit einer Ware.
Hat die Aufmerksamkeit nun aber nicht als geistige Ar-
beitskraft Warencharakter? Hat ihre dienstleistende Wid-
mung nicht einen Preis, der ganz unabhängig von den ein-
geschlossenen Gefühlen in Tarif- und Anstellungsverträ-
gen geregelt ist? Die Aufmerksamkeit hat als Arbeitskraft
tatsächlich Warencharakter, nur spricht dies nicht gegen
ihren intrinsischen Wert, sondern dafür, daß es in Tarif-
und Anstellungsverträgen um etwas anderes geht als im
zwischenmenschlichen Tausch von Beachtung. Die Ware
Arbeitskraft wird ob der sachlichen Widmung der Auf-
merksamkeit und nicht um der wertschätzenden Gefühle
willen gehandelt, die sie transportiert.
Das Beispiel der geistigen Arbeit macht zweierlei klar.
An ihm wird erstens deutlich, daß die Immaterialität und
die besondere Art ihrer Übertragung noch nicht hinrei-
chen, um die Aufmerksamkeit vor der Behandlung als
Ware zu schützen. Das Beispiel der geistigen Arbeit macht
zweitens klar, daß nicht jede Art Zuwendung mit der Be-
stätigung persönlicher Wertschätzung zu tun hat. Die
Aufmerksamkeit, die einem seitens der Steuerprüfung
oder der Polizei zuteil wird, zählt nicht. Auch die in Ar-
beitszusammenhängen oder als Dienstleistung getauschte
Beachtung zählt nur, wenn das persönliche Interesse der
beachtenden an der beachteten Person überwiegt. Also
zählt auch für das Verhältnis der Wertschätzung in beiden
Richtungen die Tauschrelation nur derjenigen Aufmerk-
samkeit, die aus Interesse der jeweils anderen Person zu-
gewandt wird. Die bloß geschäftsmäßige und in dem Sin-
ne neutrale Beachtung, daß sie aus anderen Motiven als
persönlicher Wertschätzung erfolgt, geht in die Tauschre-
lation, deren preislicher Charakter zur Debatte steht, gar
nicht erst ein.
Zur Debatte steht die Relation, in der die Aufmerksam-
keit getauscht wird, die selbst am anderen interessiert, die
in Zuneigung, Freundschaft und Liebe zugetan ist, die
Mitgefühl überträgt und menschliche Wärme spendet.
Auch die Gesamtheit dieser Aufmerksamkeit bildet nun
aber ein Mengensystem. Auch in diesem Mengensystem
ist ein System von Tauschrelationen verkörpert. Es ist
sogar das System dieser Tauschrelationen, daß die genaue-
ste Auskunft über die Verteilung der mitmenschlichen
Gefühle in der Gesellschaft gibt. Allerdings wäre es
schlicht sinnentstellend, dieses System als ein System blo-
ßer Äquivalenzbeziehungen zu beschreiben. Als Liebe und
Freundschaft bezeichnen wir die Beziehungen, in denen
das Äquivalenzdenken nicht mehr – jedenfalls nicht mehr
alleine – das Sagen hat. Während ökonomische Preise
nichts anderes als Äquivalenzbeziehungen ausdrücken,
haben Mitgefühl und mitmenschliche Wärme ihre Qualität
gerade darin, daß sie nicht nur um des Nehmens willen
gegeben werden. So beschränkt sich auch der Wert der
Aufmerksamkeit, durch die sie übertragen werden, nicht
auf ihren Tauschwert. Was wir in Liebe und Freundschaft
tauschen, sind im buchstäblichen Sinne Werte in sich. Es
sind Werte, die den Menschen als solche heilig sind. Und
sie sind den Menschen heilig, weil sie die höchsten der
irdischen Güter verkörpern. Die höchsten irdischen Güter
sind die Gefühle anderer, die unserer Person zugetan sind.
Die Aufmerksamkeit, die diese Gefühle überträgt, ist in
dem ganz konkreten und zugleich ungeheuerlichen Sinne
ein Wert in sich, daß ihre Einnahme die Präsenz der eige-
nen Person in anderen, ihr an und für sich unzugänglichen
Bewußtseinssphären bedeutet. Liebe und Freundschaft
werden geheiligt, weil sie die intensivst erlebten und
höchst willkommenen Arten der Einwohnerschaft in die-
sen anderen Sphären sind. Dabei sind sie in ganz uneinge-
schränktem ja sogar eminentem – Sinne Formen des Tau-
sches. Der überwältigende Effekt der Einwohnerschaft im
anderen Bewußtsein beruht auf Wechselseitigkeit. Durch
die Wechselseitigkeit dieser Einwohnerschaft wird die
monadische Einsamkeit unseres bewußten Daseins aufge-
brochen und relativiert.
Ist damit die Frage nach dem preislichen Charakter der
Relationen, in denen Aufmerksamkeit getauscht wird, end-
lich vom Tisch? Sie ist es nicht. Wohl stellt die fühlende
Mitmenschlichkeit einen Bereich dar, der sich erst im Ab-
sehen von kleinlichem Äquivalenzdenken konstituiert;
was wir durch Hingabe der eigenen Aufmerksamkeit ein-
handeln können, ist aber zu großartig, um sie einfach weg-
zuschenken. Es wäre ein Frevel an diesen hohen Gütern,
wollten wir mit ihr nicht mindestens so sorgsam und so
wohlüberlegt umgehen wie mit Geld. Diese Sorgfalt und
Überlegung schließt ein, daß wir sehr wohl auf den Wert
achten, den die hingegebene Aufmerksamkeit durch das
Interesse an und auf der anderen Seite annimmt. Tatsäch-
lich achten wir auf diesen anderen Wert sogar ganz genau.
Es ist uns überhaupt nicht gleichgültig, von wem wir be-
achtet werden. Wir verteilen unsere eigene Aufmerksam-
keit durchaus mit dem Ziel, den Wert der eingehandelten
Aufmerksamkeit zu maximieren. Bei aller Freundschaft
und Liebe – und gerade ihretwegen – achten wir auf den
Tauschwert, den unsere eigene Aufmerksamkeit in den
anderen Augen hat.

Persönliche Wertschätzung und soziale Geltung

Es wäre haarspalterisch, diesen Tauschwert keinen Preis


zu nennen. Wir können es uns gar nicht leisten, auf das
Äquivalenzdenken zu verzichten. Wir sind nicht nur an-
gehalten, möglichst viel Wertschätzung in möglichst viel
Beachtung verpackt einzuhandeln, sondern auch, sie von
denen einzuhandeln, auf die wir den größten Wert legen.
Damit sind wir auch angehalten zu vergleichen. Im Ge-
samtwert, auf den es ankommt, ist der Maßstab zur Ver-
gleichung des eigentlich Unvergleichlichen immer schon
angelegt. Intrinsischer Wert und beigemessener Wert wer-
den darin, ob uns das klar ist oder nicht, gleichnamig ge-
macht. Wir verrechnen die Wertschätzung, die uns entge-
gengebracht wird, mit der Wertschätzung, die wir selbst
entgegenbringen. Damit kann nicht ausbleiben, daß wir
auch die Werte, die wir verschiedenen Partnern zuordnen,
miteinander vergleichen. Wie unvergleichlich das Werten
in den beiden Richtungen und im Hinblick auf die Indivi-
dualität unserer Partner auch immer sein mag, wir scheren
es über einen Kamm. Wir stehen immer schon mit einem
Bein auf der Bahn, die in die alles mit allem vergleichende
Bildung von Marktpreisen mündet.
Ist es also eine Illusion zu meinen, in der Sprache der
Zahlungsbereitschaft sprechen zu können, ohne von der
Grammatik der Marktpreisbildung Gebrauch machen zu
müssen? Die Antwort liegt wieder einmal im Unterschei-
den zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingun-
gen. Preise sind nicht notwendig schon Marktpreise. Jede
eingespielte Tauschrelation stellt einen Preis dar. Nicht
jedes System eingespielter Tauschrelationen ist aber ein
System von Marktpreisen. Das Besondere an Marktpreisen
ist, daß die Tauschrelationen, die sie darstellen, transitiver
Natur sind. Wenn die Güter x und y im Verhältnis 1:2 und
die Güter y und z im Verhältnis 1:3 getauscht werden,
dann werden auch die Güter x und z auf dem Markt im
Verhältnis 1:6 getauscht. Diese Transitivität macht, daß
Marktpreise homogene Preise sind: Sie sind nach allen
Richtungen des Tauschens hin gleichwertig. Wie kommen
sie zu dieser Eigenschaft? Recht einfach: Marktgängige
Güter können nicht nur getauscht, sondern auch weiterge-
tauscht werden. Sie werden, wenn keine Unvollkommen-
heiten des Marktes im Wege stehen, so lange weiterge-
tauscht, bis alle Preisdifferenzen für Güter gleicher Art
und Güte ausgeglichen sind. Die im Marktgleichgewicht
sich einstellenden Preise sind definitiv, weil ihnen – durch
unterlassenes Weitertauschen – alle zustimmen. Alle Teil-
nehmer am Markt haben ihre Stimme – sei es durch Kau-
fen oder entschiedenes Nichtkaufen – abgegeben.
Der Schrecken, den die Vorstellung des preislichen Cha-
rakters der persönlichen Wertschätzung verbreitet, rührt
vom Bild dieses Scherbengerichts her. Marktpreise geben
das Werturteil der Gesellschaft rücksichtslos wider. Wie
die Sprache der Zahlungsbereitschaft, so ist die Sprache
der Marktpreise unumwunden und gnadenlos. Die Ab-
stimmenden haben keinen Grund, sich zu verstellen. Wenn
durch die Zahlung von Aufmerksamkeit (anstatt von Geld)
abgestimmt wird, dann sind sogar die Stimmen unter den
Abstimmenden gleich verteilt. Wäre die persönliche Wert-
schätzung ein Marktpreis, dann gäbe es kein Schlupfloch
mehr fürs Selbstwertgefühl. Die zwischenmenschliche
Anerkennung ginge dann hart und unvermittelt in eine
Abstimmung über die gesellschaftliche Geltung der Person
über. Wir wären in dem, was wir von uns selbst halten
dürfen, nicht mehr nur gesellschaftlich abhängig, sondern
gesellschaftlich versklavt.
Nun, ein Stück weit sind wir ja Sklaven der Gesellschaft.
In gewissen Zügen ähneln sich Marktpreise und gesell-
schaftliche Geltung. Nur unterscheidet sich die Aufmerk-
samkeit, die wir tauschen, von marktgängigen Gütern
doch darin, daß sie nicht – jedenfalls nicht ohne weiteres –
weitergetauscht werden kann. Es ist mehr als nur ihr in-
trinsischer Wert, wodurch sie dem Warencharaker enträt.
Aufmerksamkeit können wir empfangen, aber nicht um-
setzen. Wo das Weitertauschen unterbunden bleibt, ist
auch das Einspielen transitiver Tauschrelationen blockiert.
Zwischen den Relationen, in denen wir Aufmerksamkeit
mit unseren verschiedenen Partnern tauschen, findet kein
Abgleich statt. Dieser fehlende Abgleich verhindert das
Übergehen des zwischenmenschlichen Aushandelns in die
soziale Abstimmung über den Tauschwert. Der
Tauschwert der Aufmerksamkeit wird lediglich individuell
geschätzt, nicht sozial gemessen. Wir haben mit einem
Mengensystem getauschter Aufmerksamkeit, aber keinem
System von Marktpreisen zu tun. Die im Mengensystem
verkörperten Tauschrelationen gehen nicht in ein System
gleicher Preise für persönlich gleiche Aufmerksamkeit
über. Vielmehr wird die persönlich identische Aufmerk-
samkeit in so vielen verschiedenen Relationen getauscht,
wie die Person Tauschpartner hat.
Nicht der Markt, der einfache Naturalientausch ist die
ökonomische Form des mitmenschlichen Tauschs der
Aufmerksamkeit. Der Naturalientausch hat etwas Gemüt-
liches, weil der durchrationalisierende Effekt der Markt-
preisbildung noch nicht greift. Auch Naturalien werden in
so vielen verschiedenen Relationen gegen Naturalien ge-
tauscht, wie persönliche Tauschbeziehungen existieren.
Wer wieviel wovon wofür bekommt, bleibt hier von her-
gebrachten Bindungen, individuellen Vorlieben, besonde-
ren Umständen und persönlichen Verhandlungspositionen
abhängig. Im Naturalientausch kommt es zwar zur Bil-
dung von Preisen, spielt sich aber noch kein einheitliches
Maß für den ökonomischen Wert der Sachen ein. So kenn-
zeichnet es den Naturalientausch, daß er noch ohne Wäh-
rung vonstatten geht.
Zur Ausbildung einer Währung kommt es, indem eines
der Handelsgüter bevorzugt zum Zweck des Weitertau-
schens eingetauscht wird. Das Gut wird zum gültigen Zah-
lungsmittel, wenn die Bevorzugung allgemein und da-
durch besiegelt wird, daß man es eintauscht, weil die an-
deren es bevorzugen. Indem es sich als Zahlungsmittel
durchsetzt, wird es zugleich zum verbindlichen Maßstab,
mit dem der Wert tauschbarer Güter gemessen wird. Eben
dieser Maßstab ist es, der im zwischenmenschlichen
Tausch der Beachtung fehlt. Sein Fehlen verhindert, daß
die Verschiedenheit der Wertschätzung, die meine Auf-
merksamkeit von andern erfährt, in einen einfachen, sozial
abgestimmten Wert kollabiert. Am Fehlen einer geeigne-
ten Währung bricht sich die Neigung zum Äquivalenzden-
ken. So mag es zwar in einem jeden der Köpfe ein Preis-
system für fremde Aufmerksamkeit geben, das System
schaut dann aber in jedem Kopf wieder anders aus. Die
verschiedenen Preissysteme existieren – in, wenn man so
will, Superposition – nebeneinander, ohne daß es zum
Kollaps der sozialen Messung käme.

Ansehen und Gesicht

Hat es angesichts dieser Heterogenität noch Sinn, die Fra-


ge nach der Währungsfunktion der Aufmerksamkeit wei-
terzuverfolgen? Ist die zwischenmenschliche Sphäre nicht
bestens gegen die Homogenisierung geschützt, die für
diese Funktion Voraussetzung wäre? Stellt die Individuali-
tät der Zuwendung, die als Aufmerksamkeit getauscht
wird, nicht sogar den größtmöglichen Gegensatz zu der
anonymen Gleichgültigkeit dar, die das einzelne Exemplar
einer Währungseinheit kennzeichnet?
Der Gegensatz ist in der Tat extrem. Aufmerksamkeit
wird in so vielen ungleichen Sorten getauscht, wie da Be-
ziehungen des Austauschs sind. Bei n Teilnehmern am
Tauschgeschehen liegt diese Zahl zwischen n und nn. Die
Sorten sind individuell sowohl, was die meinende, als
auch, was die gemeinte Person betrifft. Im Gegensatz zu
anderen Gütern kommt es bei der getauschten Aufmerk-
samkeit auf diese Individualität auch an. Es kommt darauf
an, von wem wir beachtet werden und aus welchen Gefüh-
len heraus. Ist die Aufmerksamkeit also nicht dasjenige
der überhaupt getauschten Güter, das dem Geld am aller-
wenigsten Konkurrenz machen kann?
Zwei Beobachtungen geben Anlaß zur Skepsis. Erstens
nehmen wir Aufmerksamkeit nicht nur durch direktes
Einhandeln, sondern auch dadurch ein, daß Dritte über uns
reden. Zweitens sind die Übergänge zwischen dem un-
vermittelten Naturalientausch und dem geldvermittelten
Warentausch gleitend. Die Aufmerksamkeit, die zum Bei-
spiel durch Reputation zufließt, wird fast auschließlich auf
indirektem Weg eingenommen. Neben dem direkt zwi-
schenmenschlichen Tausch sind also noch andere Formen
des Austauschs von Bedeutung. Das Nebeneinander direk-
ter und indirekter Formen des Tauschs war auch und gera-
de für die historische Herausbildung von Märkten charak-
teristisch. Wenn ein für allemal ausgeschlossen sein soll,
daß der Tausch der Aufmerksamkeit eine ähnliche Ent-
wicklung nimmt, dann muß sich zeigen lassen, daß der
unterbundene Weitertausch auch jede Art mittelbarer Be-
wertung verhindert.
Ein solcher Nachweis ist aus dem einfachen Grund nicht
möglich, daß Dritte als Beobachter im zweiseitigen Aus-
tausch mitspielen. Sobald wir im Austausch beobachtet
werden, bekommt der zweiseitige Tausch eine öffentliche
Schauseite. Es wird dann bekannt, wer uns beachtet, wer
um unsere Beachtung buhlt und um wessen Beachtung wir
buhlen. Nicht nur von denen, auf die wir uns beziehen,
werden unsere Spielzüge dann interpretiert und unsere
Präferenzen erschlossen. Es kommt zutage, was wir ver-
dienen, ja wir finden uns, ehe wir uns versehen, einer Ein-
kommensklasse eingereiht. Mit dem Einkommen wird die
soziale Wertschätzung taxiert, die unsere Person genießt.
In die Taxierung geht sogar die Einkommensklasse derer
ein, von denen wir Beachtung beziehen. Die Beachtung
seitens der Bezieher hoher Einkommen zählt anders als die
von unbekannter Seite. Alles in allem wird die von Dritten
registrierte Beachtung zu dem Ansehen verrechnet, das
unsere Person als Mitglied der Gesellschaft genießt.
Daß Dritte ins Spiel kommen, ist unvermeidlich. Es gibt
zwar das monadische Ich, es gibt aber nie nur das eine Du.
Wir bleiben nicht unter uns, sobald wir überhaupt Beach-
tung tauschen. Es gibt immer noch andere. Die Rolle des
Dritten ist persönlich nicht fixiert. Aus jedem Dritten kann
ein Zweiter werden und umgekehrt. Auch ist der Wechsel
vom Dritten zum Zweiten keiner von der Reservebank ins
aktive Spiel. Dritte sitzen förmlich mit am Tisch, wenn
wir uns zu zweit austauschen. Auf unser Ansehen achten
wir nämlich auch und gerade im direkten Tausch. Wir
überlegen es uns gut, ob wir uns auf Händel einlassen, die
unserem Ansehen schaden könnten. Wir haben eine
gleichsam natürliche Präferenz für Partner, mit denen wir
uns sehen lassen können. Im zweiseitigen Tausch behalten
wir sogar mehr als diesen oder jenen Dritten im Auge. Wir
denken an all die andern in der Gestalt eines generalisier-
ten Dritten, dessen Ansicht unserer Person deren gesell-
schaftliches Ansehen repräsentiert. Die Ansicht, die wir
diesem generalisierten Dritten zuschreiben, ist bestim-
mend für den Geltungsanspruch, mit dem wir im zweisei-
tigen Tausch auftreten.
Die Ansicht, die wir dem generalisierten Dritten über
unsere Person zuschreiben, ist unpersönlich. Sie betrifft
unsere Selbstwertschätzung aber im Kern. Sie ist der gene-
relle Ausdruck des Selbstwertgefühls, das uns der Umgang
mit anderen vermittelt, und sie verkörpert zugleich den
Geltungsanspruch, den wir glauben, im konkreten Um-
gang aufrechterhalten und verteidigen zu sollen. Sie hat
mit der Selbstwertschätzung insgesamt, nicht nur einseitig
mit dem Selbstwertgefühl zu tun. Sie betrifft nämlich auch
das Gesicht, das wir zu wahren haben. Dieses Gesicht ist
etwas anderes als das, was rot wird, wenn es peinlich be-
rührt ist. Es besteht im Anspruchsniveau der Selbstach-
tung, die aufrechtzuerhalten und durchzusetzen von der
Person erwartet wird. Dieses Gesicht gehört zur Person; es
gehört ihr aber nicht allein. Es wird sozial hergestellt und
muß sozial unterhalten werden. Es ist ein Gemeinschafts-
produkt der an der Situation Beteiligten. Damit es gewahrt
wird, muß erstens die Person selber den gesetzten Ansprü-
chen nachkommen und müssen zweitens die Beteiligten
auf diese Ansprüche eingehen. So geht es denn auch verlo-
ren, wenn entweder die Person selber die von ihr gesetzten
Ansprüche desavouiert oder die Beteiligten diese Ansprü-
che nicht mehr mittragen.4
Das zu wahrende Gesicht stellt die innigste Koppelung
von Selbstwertschätzung und sozialer Geltung dar. An ihm
wird klar, daß wir sogar für die uns nächst Stehenden nicht
einfach wir selbst, sondern auch die sind, als die wir in
den Augen noch vieler anderer gelten. Das Gesicht, das
wir zu wahren haben, ist vom Selbst, das wir beanspru-
chen zu sein, nicht zu trennen. Beim Gesichtsverlust
kommt immer auch ein Stück Selbst abhanden. Nur mit
dem Selbst, das sein Gesicht wahrt, ist denn auch ein nor-
maler zwischenmenschlicher Umgang möglich. Das Ge-
sicht gehört aber dem System des Ansehens an. Es wirkt
nur in die Sphäre der im engeren Sinne verstandenen Zwi-
schenmenschlichkeit hinein. Das System des Ansehens ist
der Zusammenhang, in dem die Ansichten, die die Men-
schen voneinander haben, in einem ungefähren und groben
Sinn übereinstimmen. Diese Übereinstimmung wiederum
ist kein Zufallsprodukt. Sie ist aktiv durch Abstimmung
hergestellt. Das Ansehen der Person ist ein anderer Aus-
druck dafür, was und wieviel über sie geredet wird.

Der Markt des Ansehens

Der scheinbar so sichere Schutz, den der nicht mögliche


Weitertausch der eingenommenen Beachtung vor einer
sozialen Abstimmung über die Wertschätzung der Person
bietet, hat offene Flanken. Nicht nur, daß Dritte beim
zweiseitigen Tausch als Zaungäste und in den Hinterge-
danken mitspielen, die Dritten tauschen sich auch unter-
einander aus. Wenn sich nun aber Dritte über uns und dar-
über unterhalten, was von uns zu halten ist, dann kommt
es doch zur sozialen Abstimmung über die Geltung unse-
rer Person.
Die Unterhaltung über Dritte ist eine gängige, vielleicht
sogar die verbreitetste Form des Austauschs von Auf-
merksamkeit. Über nichts unterhalten wir uns lieber als
über andere Leute. Wenn wir nun aber Aufmerksamkeit
tauschen, indem wir uns über andere unterhalten, stimmen
wir über deren Geltung nicht nur im Sinne des Meinungs-
tauschs ab. Wir äußern unsere Meinung dann sowohl in
Worten als auch in Zahlungsbereitschaft. Es geht in dem
Gespräch ja um noch anderes als darum, wovon die Rede
ist. Wir tauschen nicht nur Information, sondern eben auch
Aufmerksamkeit. Also geht es stillschweigend auch dar-
um, die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners für die
eigene Person einzunehmen. Der Wert dieser Aufmerk-
samkeit kann wichtiger werden als der Neuigkeitswert der
getauschten Information. Wenn wir aber Meinungen tau-
schen, um dabei Beachtung zu beziehen, geraten die Mei-
nungen unter den Druck der Anpassung an diesen Zweck.
Der Druck steigt mit dem Wert, den wir auf die Person des
Partners legen. Wir werden den Partner durch abweichen-
de Meinungen nicht einfach vor den Kopf stoßen. Zwar
werden wir, wenn es denn sein muß, mit ihm streiten. Wir
werden uns aber, wenn der Rückzug offensteht und keine
anderen Interessen dagegensprechen, kompromißbereit
zeigen. Mit dem Meinungsstreit riskieren wir eine Distan-
zierung der Beziehung zu unserem Gesprächspartner und
damit nicht nur seine Zuwendung, sondern auch die Wert-
schätzung, die wir bei ihm genießen.
So eigenartig es also klingen mag: Auch unser soziales
Ansehen wird ausgehandelt. Es wird gar nicht so ver-
schieden von der Relation ausgehandelt, in der wir Auf-
merksamkeit direkter Weise tauschen. In beiden Fällen
werden die Worte der Wertschätzung an der Bereitschaft
zum Verzicht gemessen. Den wörtlichen Ausdruck der
Wertschätzung für unseren direkten Partner müssen wir
durch die Beachtung belegen, die wir ihm zukommen las-
sen. Unser wörtlicher Ausdruck der Wertschätzung für
Dritte findet an der Bereitschaft seine Bewährung, eine
Meinungsverschiedenheit zu riskieren und eine Quelle der
Zuwendung zu verspielen. Im ersteren Fall betrifft der
Verzicht die alternative Verwendung der eigenen Auf-
merksamkeit, im letzteren betrifft er die Einnahme frem-
der. In beiden Fällen werden die sonst so wohlfeilen Wor-
te kostspielig. Der Unterschied ist nur, daß uns der gefor-
derte Verzicht im ersteren Fall davon abhält und im letzte-
ren dazu verleitet, dem Gesprächspartner nach dem Mund
zu reden. Die angesprochene Zahlungsbereitschaft fördert
im ersteren Fall die Wahrhaftigkeit und im letzteren die
Konformität der Äußerung.
Das stillschweigende Aushandeln der Relation, in der
wir Aufmerksamkeit mit unserem Partner tauschen, kann
Nebenarme bekommen, über welche ausdrücklich das
Ansehen Unbeteiligter verhandelt wird. Die beiden Linien
der Verhandlung sind in der Durchführung nicht zu tren-
nen, im Resultat aber ganz verschieden. Im stillen verhan-
deln die Partner über den Tauschwert ihrer je eigenen Auf-
merksamkeit, ausdrücklich verhandeln sie über den
Tauschwert der Aufmerksamkeit Dritter. Nur die direkte
Linie des Handels gleicht dem Naturalientausch. Die ande-
re Linie besteht im Aushandeln einer Sache, die dem Ein-
handeln einer anderen dient.
Bereits hier zeigt sich, daß auch im Tausch der Auf-
merksamkeit direkte und indirekte Formen nebeneinander
existieren. Wie im Fall dinglicher Güter gibt es Mischfor-
men zwischen dem unvermittelten und dem vermittelten
Tausch. Wie dort existieren reine und gemischte Form
aber nicht einfach nebeneinander. Der direkte Tausch
nimmt Einfluß auf die Meinungen, auf die sich die Partner
einigen; der homogenisierende Einfluß dieser Einigung
wirkt auf die Heterogenität der Relationen des unvermit-
telten Tauschs zurück. Einerseits nimmt das Interesse der
direkten Partner an der Aufmerksamkeit des jeweils ande-
ren Einfluß auf die Meinung der beiden über Dritte. Ande-
rerseits geht das Ansehen, das ein jeder von dritter Seite
genießt, auch in die Wertschätzung ein, die die Partner
füreinander hegen. Die Anpassung wirkt in beide Richtun-
gen. Die direkten Partner passen ihre Ansicht über Dritte
an die Wertschätzung füreinander an; sie passen ihre
Wertschätzung füreinander aber auch an das Ansehen an,
das der Partner von dritter Seite genießt. Also fragt es sich,
wie weit der Tausch der Aufmerksamkeit eben doch schon
zum Markt gediehen ist. Hält der Damm des nicht mögli-
chen Weitertauschs die Flut der allseitigen Vermittlung
tatsächlich auf?
Faßt man den Blickwinkel eng, könnte das Bild von der
Abstimmung über das Ansehen beruhigen. Es zeigt zur
einen Seite das System der getauschten Aufmerksamkeit
und zur anderen den Zusammenhang der Unterhaltungen
über Dritte. Das System der getauschten Aufmerksamkeit
erscheint als Mengensystem, das keine einheitliche Be-
wertung verkörpert; der Zusammenhang der Unterhaltun-
gen mündet in ein System relativ homogener Werte, stellt
aber kein einheitliches System von Austauschrelationen
dar. Die Abstimmung über das Ansehen erscheint als kei-
ne eigentliche Form des Weitertauschens. Allerdings ist
diese Erscheinung nun durch die Perspektive mitbedingt.
Die Sichtweise isoliert die Tauschakte in zeitlicher Hin-
sicht. Sie läßt außer acht, daß die Rollen des Zweiten und
Dritten nicht fixiert, sondern stetem Wechsel unterworfen
sind. Weil aus Dritten Zweite werden können und umge-
kehrt, ist von Dritten regelmäßig als gewesenen und noch
künftigen Zweiten die Rede. Das Bild ändert sich noch
einmal, wenn wir das Reden über Dritte unter dem Blick-
winkel der Erfahrungen betrachten, die der eine oder ande-
re Gesprächspartner mit ihnen als zweite Person gemacht
hat oder noch zu machen hofft beziehungsweise fürchtet.
In unserem Reden über Dritte spielt es sehr wohl eine
Rolle, ob wir von ihnen auch direkt Aufmerksamkeit be-
ziehen, und wenn, in welcher Proportion. Wir reden an-
ders über die, die uns verwöhnen, als über die, die uns
abblitzen lassen. Wir preisen unsere Anhänger und rächen
uns an denen, die uns die ersehnte Zuwendung verwei-
gern. Es ist zwar nicht so, daß wir nur über die gut reden,
mit denen die Handelsbilanz positiv, und über die
schlecht, mit denen sie negativ ist. Wir reagieren aber auf
offene Rechnungen. Wir lassen uns von der Schuld in die
Pflicht nehmen, in der wir uns fühlen, und klagen die
Schulden ein, die die Schuldner nicht so recht ernst zu
nehmen scheinen. Gut über andere zu reden ist eine Kom-
pensation für nicht voll erwiderte Beachtung; schlecht
über sie zu reden ist die ultima ratio gegen Zahlungsunwil-
ligkeit. Bereits in dieser Hinsicht zeigt sich das Reden
über Dritte als ein Weitertauschen eingenommener bezie-
hungsweise schuldig gebliebener Aufmerksamkeit.
Dieser rückwärtsgewandte Ausgleich ist aber nicht der
einzige. Wir nehmen auch Erwartetes vorweg und bauen
für Eventualitäten vor. Wir preisen unserem Partner dieje-
nigen an, die Grund haben, gut von uns zu reden; wir krat-
zen am Lack derer, die sich vermutlich abfällig über uns
äußern. Im Reden über andere treiben wir Politik in eige-
ner Sache. Wir versuchen die Gewichte so zu verteilen,
wie wir glauben, daß sie dem eigenen Einkommen am
besten tun. Wir suchen diejenigen zu beeindrucken, auf
deren Stimme die hören, denen wir zu gefallen suchen.
Wir halten uns denen gegenüber zurück, die diejenigen
nicht mögen, die uns mögen. Wir treiben aktive Handels-
politik, ja wir nehmen Übertragungen vor, die man fast als
direkte Formen des Weiterhandelns ansprechen kann. Wir
handeln eingenommene Aufmerksamkeit weiter, wenn wir
die Höhe des eigenen Einkommens herausstellen, um noch
mehr Aufmerksamkeit einzunehmen. Die einschlägigen
Praktiken reichen vom platten Angeben bis zum raffinier-
ten namedropping. Wenn wir unsere Bekanntschaft einset-
zen, um anderen zu imponieren, dann schmücken wir uns
nicht nur mit fremden Federn, sondern spekulieren regel-
recht mit ihnen. Und die Spekulation baut nicht nur Luft-
schlösser. Zieht der Trick, dann kann man sehr ordentlich
daran verdienen.
Das Reden über Dritte ist also tiefer in das Tauschsystem
der Aufmerksamkeit eingelassen, als die isolierende Be-
trachtung der einzelnen Gesprächssituation ahnen läßt. Es
bleibt nicht dabei, daß die geäußerte Meinung unter den
Druck der Interessen am direkten Gesprächspartner gerät.
Mit der geäußerten Meinung wird umgekehrt auch Druck
auf den Gesprächspartner ausgeübt. In diesem Druck ma-
chen sich die Erfahrungen mit und die Interessen an der
Person Luft, von der die Rede ist. Wir tauschen im Reden
über Dritte Aufmerksamkeit, um andere Tauschgeschäfte
fortzusetzen und vorzubereiten. Die Interessen, die wir
dabei verfolgen, beziehen sich weder nur auf unseren di-
rekten Partner, noch beschränken sie sich auf den Partner
und die Person, von der die Rede ist. Der gemeinsame
Nenner der Interessen ist kein kleinerer als die Sorge um
das eigene Einkommen an fremder – beziehungsweise um
den Tauschwert der eigenen -Aufmerksamkeit. Diese Sor-
ge kennt keine Unvergleichlichkeit der individuellen Quel-
len beziehbarer Aufmerksamkeit. Dabei bleibt es noch
nicht einmal beim subjektiv internen Vergleich. Auch auf
intersubjektiver Ebene kommt es zum effektiven Ver-
gleich. Wir stehen durch die Bereitschaft, direkt oder indi-
rekt für die Einnahme der besonderen anderen Aufmerk-
samkeit mit eigener zu bezahlen, auch für die Wertschät-
zung ein, die die Person, von der die Rede ist, als Ansehen
genießen soll. Dieses Ansehen kommt als Nebenprodukt
aus dem Zusammenhang der individuellen Tauschgeschäf-
te heraus, wie die Marktpreise aus dem Zusammenhang
des Tauschens und Weitertauschens dinglicher Güter he-
rauskommen.

Lokale Märkte und komparative Gefühle

Bevor wir auf die Entwicklung zu sprechen kommen, die


die Tauschökonomie der Aufmerksamkeit in jüngerer Zeit
genommen hat, gilt es festzuhalten, daß der eigentlich
nicht mögliche Weitertausch die Ausbreitung marktnaher
Formen des Tauschens nie wirklich unterbunden hat. Der
Damm gegen die Flut der allseitigen Vermittlung hatte
immer schon Löcher. Sobald Wesen, die Beachtung tau-
schen, der indirekten Rede fähig wurden, wurde das Reden
über Dritte zum festen Bestandteil des Beachtungstauschs.
Und sobald nun von dritten als gewesenen und/oder künf-
tigen zweiten Personen die Rede ist, kommt es zu Formen
des indirekten Tauschs, die mehr als nur oberflächliche
Ähnlichkeit mit dem Weitertauschen haben. Zumindest
der Teil der persönlich genossenen Wertschätzung, der auf
das gesellschaftliche Ansehen zurückgeht, ist dann nur
noch graduell von einem Marktpreis verschieden. Und
dieser Teil ist vom Rest nicht isoliert. Das System der Re-
lationen, in denen Aufmerksamkeit direkt getauscht wird,
und das System des gesellschaftlichen Ansehens stehen in
Wechselwirkung.
Die Angst, daß der Selbstwert Züge eines Marktpreises
annehmen könnte, kam schon immer zu spät. Der Tausch
der Aufmerksamkeit hat etwas von einem Markt, seit
Menschen sich über Menschen unterhalten. Seit Menschen
sich über andere unterhalten, hängt die Wertschätzung, die
sie genießen, nicht nur von der direkt eingehandelten Zu-
wendung, sondern auch vom indirekt ausgehandelten An-
sehen ab. Wenn die äußere Wertschätzung in einen sozia-
len Abstimmungsmechanismus eingespannt ist, dann ist es
auch das Selbstwertgefühl. Die Sorge um das Ansehen hat
dem inneren Streben schon immer etwas Auswendiges
verpaßt. Schon immer ließ sich denn auch von Entfrem-
dung reden. Im Ansehen tritt uns eine fremde Macht ge-
genüber, die uns gleichwohl im Innersten berührt. Wäh-
rend wir es im direkten Austausch noch einigermaßen in
der Hand haben, wie wir uns schlagen, können die Wege,
die die Abstimmung über das Ansehen nimmt, von nie-
mand mehr verfolgt, geschweige denn kontrolliert werden.
Gleichwohl erkennen die Menschen im Ansehen den Leit-
stern ihres Strebens.
Bei aller Annäherung des immateriellen Tauschs an die
Marktform gilt es allerdings auch, die fortwährenden Un-
terschiede zwischen der Ökonomie der Aufmerksamkeit
und der materiellen Ökonomie im Auge zu behalten. Die
Vermarktung des immateriellen Tauschs ist fern von der
Totalisierung, die die Vermarktung des materiellen kenn-
zeichnet. Für den Tausch der Aufmerksamkeit bleibt das
Nebeneinander von direktem Austausch und indirektem
Handel charakteristisch. Charakteristisch bleibt damit auch
das Nebeneinander der Tendenzen zur Heterogenität und
Homogenität. Ein kombinierter Effekt dieser entgegenge-
setzten Tendenzen ist die Bildung begrenzter Abstim-
mungskreise über das Ansehen. Durch das Gerede bilden
sich Bezugsgruppen, die einerseits über die Kreise der
direkten Bekanntschaft hinausreichen, andererseits aber
klein bleiben im Verhältnis zur Gesellschaft als ganzer.
Nur außergewöhnlicher Reichtum an Beachtung, nur Pro-
minenz und Ruhm lassen diese charakteristische Differenz
verschwinden. Für normale Einkommen ist typisch, daß
eine eng begrenzte Bezugsgruppe für das Ansehen zustän-
dig ist, deren Mitglieder wechselseitig füreinander die
maßgebliche Meinung repräsentieren.
Diese Bezugsgruppen stellen lokale Märkte dar. Der
subjektive Ausdruck des Partikularismus sind starke Zu-
gehörigkeitsgefühle zu und Heimatgefühle in der Bezugs-
gruppe. Die Homogenität innerhalb der heterogenen
Gruppen erzeugt soziale Nestwärme. Die engen Bezugs-
gruppen bieten Schutz vor dem schattenlosen Licht, das
die Preisbildung auf globalen Märkten wirft. Sie lassen
diesen Schutz sogar aktiv organisieren. Ein wichtiges Bin-
demittel der Gruppen ist die selektive Abwehr der Maß-
geblichkeit fremder Gruppenmeinungen für das Ansehen
der eigenen Mitglieder. Mit den vereinten Kräften der
Gruppe lassen sich ungünstige Meinungen ganz anders
parieren als aus einsamer Position. Umgekehrt stärkt die
Abgrenzung nach außen den inneren Zusammenhalt der
Gruppe.
Die abwechslungsreiche Nischenlandschaft vernetzter
Beziehungen ist die soziale Umgebung, an die unsere zwi-
schenmenschlichen Gefühle seit je – um nicht zu sagen,
von Natur aus – angepaßt sind. Dies wird deutlich, sobald
wir darauf achten, daß es nicht nur die großen, vorbehalt-
losen Gefühle gibt. Es gibt auch kleinere, die nicht so ein-
deutig und ausschließlich gerichtet sind, die den Seiten-
blick pflegen und zum Vergleichen neigen. So kennen wir
nicht nur die unbedingte Liebe, sondern auch die bedingte
Gunst, nicht nur den brennenden Haß, sondern auch die
gehässige Mißgunst, nicht nur den hochfahrenden Stolz,
sondern auch den hochnäsigen Dünkel, nicht nur die di-
rekte Verachtung, sondern auch das diffuse Ressentiment,
nicht nur die nagende Eifersucht, sondern auch den rech-
nenden Neid, nicht nur das höhere Streben, sondern auch
den gesellschaftlichen Ehrgeiz. Der Unterschied zwischen
den großen und kleinen Gefühlen ist nicht, daß die kleinen
schwächer sein müßten. Der grundlegende Unterschied
liegt in der Bezüglichkeit und Manifestation. Die großen
Gefühle beziehen sich direkt auf die andere Person, die
kleinen sind im Reden hinter dem Rücken in ihrem Ele-
ment. Die großen Gefühle schauen nicht links und rechts,
die kleinen können das Schielen nicht lassen. Die großen
kennen nur das eine Du, die kleinen kennen sich im Ver-
hältnis zwischen Ich, Du und Bezugsgruppe genau aus.
Die großen Gefühle neigen zum leidenschaftlichen Be-
kenntnis, die kleinen toben sich aus in Klatsch und
Tratsch.
Wenn unser Gefühlskostüm etwas natürlich Gewachse-
nes ist, dann sind wir von Natur aus an das Zusammenle-
ben in Gruppen von abwechselnd Zweiten und Dritten
angepaßt. Es stimmt dann nicht, daß das soziale Verglei-
chen etwas Künstliches, unserer Natur eigentlich Fremdes
wäre. Es stimmt dann vielmehr, daß wir uns seit je ver-
gleichend, messend und an den Maßen manipulierend auf
unsere Mitmenschen beziehen. Die komparativen Gefühle
sind Äquivalenzdenken avant la lettre. Gunst, Mißgunst,
Dünkel, Ressentiment, Neid, Ehrgeiz urteilen sehr wohl;
sie nehmen genau wahr und rechnen genau. Sie stellen den
Vergleich sogar an, wo die Überlegung lieber wegsehen
würde. Sie eröffnen von sich aus und an der rationalen
Überlegung vorbei das Gesellschaftsspiel um den Selbst-
wert. Sie sind prompte und durchsetzungskräftige Ratge-
ber in Sachen Ansehen und Gesicht. Sie sind, trotz ihres
messenden Blicks, aber echte Gefühle. Sie sprechen nicht
durch Schlußfolgerung und Einsicht, sondern stechen
schmerzlich und peitschen durch Verlangen. Es ist ausge-
sprochen schwierig, ihrem Drang zu wehren. Sie überfal-
len uns – nur eben nicht von ungefähr. Sie lassen uns hei-
ßen Begehrens und peinigenden Vergleichs wissen, wie
wir vor anderen dazustehen hätten.
Die großen Gefühle stehen immer schon auf der Probe
durch die kleinen. Die kleinen Gefühle nehmen das Äqui-
valenzdenken unter anderem darin vorweg, daß sie den
Spieß umkehren, wo auf geradem Weg kein Durchkom-
men ist. Sie sind ihrem Wesen nach relativierend, um
nicht zu sagen opportunistisch. Die Gunst verläuft nach
Günstigkeit; die Mißgunst macht schlecht, woran nicht
heranzukommen ist; den Dünkel macht die Gelegenheit,
sich abzusetzen; das Ressentiment dreht die eigenen Un-
terlegenheitsgefühle nur um; im Neid tritt Bewunderung
als Verachtung auf; dem gesellschaftlichen Ehrgeiz ist
jeder Weg zu einem Platz an der Sonne recht. Nicht erst
die kühle Berechnung, auch schon die Rührigkeit der
komparativen Gefühle machen das Spiel um den Selbst-
wert politisch. Sie ziehen der zwischenmenschlichen
Wertschätzung taktische und strategische Momente ein.
Sie gehen aber noch weiter. Sie bringen auch die Eintei-
lung in Freund und Feind ins Spiel. Die Einteilung der
Mitmenschen in Freund und Feind ist das schärfste Mittel
der von Sympathie und Antipathie Relativierung, um sie
im Sinne gezielter Selbstwertmaximierung zu funktionali-
sieren.
Wir alle neigen dazu, unsere Sympathie an die empfan-
gene Zuneigung, unsere Antipathie an die Vorbehalte,
denen wir ausgesetzt sind, anzupassen. Weil der Wert der
eingenommenen Aufmerksamkeit nicht nur von der Wert-
schätzung abhängt, die in sie verpackt ist, sondern auch
von derjenigen, die der Empfänger für den Absender hegt,
ist diese Anpassung der einfachste Trick, um das Ein-
kommen aufzubessern. Die komparativen Gefühle spielen
alle auf dieser Klaviatur. Allerdings läßt sich die Anpas-
sung des eigenen Wert- und Geringschätzens an die emp-
fangene Wert- und Geringschätzung nun nicht umstands-
los auf die Ebene des indirekten Austauschs transponieren.
Die direkte Anpassung reicht hier nicht, da sich die ver-
schiedenen Partner untereinander austauschen. Die Auf-
wertung der Stimmen derer, die einen schätzen, und die
Abwertung der Stimmen derer, die einen geringschätzen,
verlangt im Fall der Abstimmung über das Ansehen eine
Parteiung der Stimmkreise, Die freundlich und die un-
freundlich Gesonnenen müssen aussortiert und nach Mög-
lichkeit getrennt werden. Das wiederum bedeutet, daß man
sich mit denjenigen zusammentun muß, bei denen man
erstens Anerkennung findet und mit denen man zweitens
das Leiden unter der Ablehnung von dritter Seite teilt. Die
Patentlösung für diesen Fall ist die Politik der sauren
Trauben. Man kann das Leiden unter Mißachtung und
Geringschätzung auf probate Weise dadurch unterdrücken,
daß man sich selbst und anderen einredet, daß diejenigen,
die einem die begehrte Zuwendung verweigern, der Wert-
schätzung eigentlich gar nicht wert sind. Diese Politik ist
in hohem Maß koalitionsfähig. Erstens wird die Politik
subjektiv um so glaubwürdiger, je mehr andere da sind,
denen man die Revision einreden kann; zweitens ver-
spricht auch das Einreden um so mehr Erfolg, je mehr
Partner ansprechbar sind und je fester der Zusammenhalt
in der Gruppe ist.
Wo komparative Gefühle das Sagen haben, wird die Bil-
dung abgegrenzter Bezugsgruppen selber zum Gegenstand
der Abstimmung über das Ansehen. Weder verwandt-
schaftliche und nachbarliche Bindungen noch die ur-
sprüngliche Verteilung von Sympathie und Antipathie
reichen dann noch hin, um die Einteilung der Bezugsgrup-
pen zu erklären. Die Art und Anzahl der Gruppen, der
Grenzverlauf und die Schärfe der Abgrenzung werden
dann zu endogenen Variablen des Spiels. Es gilt dann
nicht länger, daß das Gefühlskostüm nur der sozialen Ni-
schenlandschaft angepaßt ist, die Landschaft wird dann
auch ihrerseits durch die Gefühle profiliert.
Der Schutz, den diese Profilierung bietet, ist nun freilich
eine zweischneidige Sache. In der Nestwärme der Wagen-
burg kann, muß es aber nicht gemütlicher sein als in der
Kälte des ungeschützten Markts. Aufreibender als das Ge-
zerre in der enthemmten Abgrenzungs- und Verfeindungs-
politik kann auch das Eingespanntsein in einen anonymen
Abstimmungsmechanismus kaum werden. Man mag sich
sogar fragen, ob der frische Wind des ungeschützten
Markts nicht das rechte Mittel gegen den muffigen Parti-
kularismus war – und immer noch ist. Jedenfalls empfiehlt
es sich, die Entwicklung des Beachtungstauschs zu derje-
nigen Ökonomie, die inzwischen der Geldwirtschaft Kon-
kurrenz macht, zunächst ganz wertneutral und ohne die
Unterstellung zu untersuchen, daß sie mit einem Ausver-
kauf des den Menschen Innersten einhergegangen sein
müsse.
Viertes Kapitel

Das Kapital

Der stärktste Motor ökonomischer Entwicklung ist wach-


sender Reichtum. Wachsender materieller Reichtum ließ
aus dem gelegentlichen Naturalien tausch den regelmäßi-
gen Handel, aus dem Handel mit dem Produktionsüber-
schuß die Produktion für den Markt hervorgehen. Die
Produktion für den Markt ist die Produktion zum Zweck
des Gelderwerbs. Mit dem Gelderwerb wird der Reichtum
abstrakt. Der Tausch gegen Geld bedeutet den Tausch
gegen Tauschmöglichkeiten. Auch die Akkumulation von
Geld ist mehr als nur die Ansammlung nützlicher Güter.
Angesammeltes Geld kann »arbeiten«, wenn man es als
Kapital investiert. Der Kapitalismus ist die höchstentwik-
kelte Form der Tauschökonomie. Er macht die größten
Reichtümer möglich. Die Frage, ob der Tausch der Auf-
merksamkeit die voll entwickelte Stufe der Marktwirt-
schaft erreicht hat, läßt sich daher in der Form stellen, ob
auch Beachtung zu Reichtümern akkumuliert und zu
Reichtum heckendem Reichtum kapitalisiert wird.
Auf den ersten Blick scheint die Akkumulation und Ka-
pitalisierung von Beachtung ausgeschlossen. Die Beach-
tung, die wir genießen, beziehen wir von bestimmten Per-
sonen und schätzen wir der besonderen Gefühle wegen,
aus denen die Zuwendung erfolgt. Vor allem: Wir »ver-
zehren« sie sofort. Aufmerksamkeit existiert nur im Akt
der Zuwendung beziehungsweise nur in der aktuellen Prä-
senz. Man kann sie nicht aufbewahren und ansammeln wie
eingenommenes Geld. Wer im Mittelpunkt steht,
schwimmt nicht in gehorteter Beachtung, sondern badet in
lebendiger Zuwendung. Der Gedanke einer Kapitalisie-
rung eingenommener Aufmerksamkeit scheint auf den
ersten Blick geradezu absurd.
Die Absurdität schwindet allerdings beim näheren Zuse-
hen.
Sie schwindet, wenn nach der Möglichkeit tatsächlichen
Reichtums an Beachtung gefragt wird. Zu tatsächlichem
Reichtum an Beachtung hat es nur gebracht, wer ständig
sehr viel mehr an Aufmerksamkeit einnimmt, als sie oder
er selbst hingeben könnte. Reich ist nur, wer in sehr vieler
Munde ist, also am Austausch zwischen Dritten tüchtig
mitverdient. Wer in sehr vieler Munde ist, der bleibt auch
vielen im Gedächtnis. Wer vielen Menschen im Gedächt-
nis ist, genießt einen hohen Bekanntheitsgrad. Der hohe
Bekanntheitsgrad ist das Wahrzeichen des Reichtums an
Beachtung. Dieser Bekanntheitsgrad stellt nun allerdings
sehr wohl eine Form akkumulierter Beachtung dar. Das
flüchtigste aller Einkommen wird im Gedächtnis der Mit-
menschen verbucht und kann in dieser verbuchten Form
aufgehoben und angehäuft werden. Im Bekanntheitsgrad
der Person nimmt die eingenommene Beachtung, entgegen
dem ursprünglichen Anschein der Unmöglichkeit, eben
doch Schatzfunktion an.
Der Bekanntheitsgrad der Person ist sogar noch mehr als
ein Schatz. Ab einem gewissen Grad der Bekanntheit wirft
der Schatz von sich aus Einkommen ab. Wer hinreichend
bekannt ist, findet schon allein aufgrund des Grads seiner
Bekanntheit Beachtung. Der Schatz rentiert sich. Er wirft
Zinsen ab in der Form, daß seine Beachtlichkeit selber
zum Faktor der Wertschöpfung wird. Die Aufmerksam-
keit, die die Großverdiener in Sachen Aufmerksamkeit
einnehmen, gilt nicht nur ihrer erbrachten Leistung, son-
dern immer auch dem Faktum ihrer Bekanntheit selbst.
Auch die höheren Bekanntheitsgrade der Person sind
Formen des Reichtum heckenden Reichtums.
Damit sind wir bei der Antwort auf die Frage nach der
Währungsfunktion der Aufmerksamkeit angekommen. Ein
Gut, dessen Reichtum sich als Kapital verzinst, erfüllt
ganz unwillkürlich die im zweiten Kapitel gestellten Be-
dingungen. Es hat rationierende Funktion, es stellt einen
universellen Tauschwert dar und hat die Eigenschaft eines
homogenen Quantums angenommen. Es übernimmt
Schatzfunktion, wird gehortet und zu Reichtum akkumu-
liert. Wir können nun zur Probe aufs Exempel übergehen.
Wir können die noch weiter gehende Frage stellen, ob sich
die Tauschverhältnisse der Aufmerksamkeit auch zu ei-
nem regelrechten Kapitalismus entwickelt haben.

Ruhm, Prominenz, Reputation, Prestige

Sobald zum direkten Tausch der Aufmerksamkeit die


Unterhaltung über Dritte hinzukommt, kommt auch ein
Zählwerk in Gang, welches registriert, wieviel die andern
verdienen. Im Reden über Dritte ist, offen oder versteckt,
immer auch die Rede davon, ob zuviel oder zu wenig
Aufhebens um sie gemacht wird, ob sie die Beachtung
verdienen, die sie finden, oder ob ihnen schon zuviel der
Ehre zuteil wird, wenn man über sie spricht. So wenig das
Reden über Dritte vom zweiseitigen Beachtungstausch zu
trennen ist, so wenig sind die ausgetauschten Meinungen
von Einkommensvergleichen freizuhalten. Wir verglei-
chen, wenn wir uns über Dritte unterhalten, ganz unwill-
kürlich deren Einkommen mit unserem eigenen. Und es ist
nun dieser Vergleich, wo die Eitelkeit und die komparati-
ven Gefühle in ihrem Element sind. Wir klagen, wenn wir
in dem Vergleich schlecht abschneiden; wir streichen es
heraus, wenn uns der Vergleich schmeichelt; wir suchen
Rückhalt für unser Gefühl, ungerecht behandelt zu wer-
den; wir wollen, daß auch die Zweiten mitkriegen, wenn
Dritte uns beachten. Sehr viel des Geredes – und jedenfalls
mehr, als man ihm unmittelbar ansieht – ist ein Beurteilen
der Einkommensverhältnisse. Die Taxierung ihrer Ein-
kommensklasse spielt immer mit, wenn ausgehandelt
wird, was von einer Person zu halten ist. Daß dieses Ta-
xieren implizit geschieht, spricht gerade nicht gegen das
effektive Arbeiten des Zählwerks.
Die Taxierung der Einkommensklasse gehört zur Ab-
stimmung über das Ansehen, fällt mit dieser aber nicht
zusammen. Das Feststellen des Einkommens ist in einem
anderen Sinne objektivierend als das Aushandeln des An-
sehens. Im Aushandeln des Ansehens werden subjektive
Werthaltungen im Sinne einer Preisbildung verrechnet, bei
der Taxierung der Einkommensklasse werden individuelle
Beobachtungen zu einem Gesamtbild zusammengetragen.
Wenn Wertschätzung und Beachtung auch aufs engste
zusammenhängen, ja nicht einmal unabhängig voneinan-
der festzustellen sind, so fallen sie doch nicht zusammen.
Der Bekanntheitsgrad einer Person ist etwas, das durch
Beobachtung und nicht nur durch die Offenbarung von
Präferenzen festgestellt wird. Es ist keine Frage des Mö-
gens oder Nichtmögens, wie bekannt jemand ist. Es ist
eine Frage des eigenen Auskennens, ob man weiß, wie
bekannt diejenigen sind, die ihn oder sie kennen, wie illu-
ster die Kreise sind, in denen sie oder er verkehrt.
Daß der Bekanntheitsgrad einer Person mit höherer Ob-
jektivität feststellbar ist als ihre Beliebtheit, heißt nicht,
daß die Taxierung der Aufmerksamkeitseinkünfte eine
einfache Sache wäre. Schon nicht ganz – aber noch relativ
– einfach ist festzustellen, wer auf wen achtet, wer wen
kennt, wer mit wem Umgang pflegt. Die spezifische
Komplikation bei der Taxierung stellt der Umstand dar,
daß es bei der Beachtung, die bezogen wird, nicht gleich-
gültig ist, von wem sie kommt. Vom Zusammenhang zwi-
schen dem Wert der eingenommenen Aufmerksamkeit und
der Wertschätzung des Empfängers für den Absender war
schon ausführlich die Rede. Neben und zunächst – unab-
hängig von dieser persönlichen Wertung fällt aber noch
ein anderer Faktor ins Gewicht. In den Buchwert der Auf-
merksamkeit, die ich von jemandem beziehe, geht auch
ein, wieviel die bezogene Seite ihrerseits bezieht. Die Be-
achtung seitens derer, die reich an Beachtung sind, zählt
mehr als die Beachtung seitens derer, die unscheinbar
bleiben. Wenn ein Prominenter Augen macht, dann rea-
giert das Zählwerk anders, als wenn irgend jemand schaut.
Daß hier etwas registriert wird, das nicht einfach auf
subjektives Wertlegen zurückgeht, wird deutlich, wenn
wir den Blick zurück zur Machart wissenschaftlicher Re-
putation wenden.
Wissenschaftliche Reputation ist der Gegenwartswert
des Einkommens an Beachtung, das der Wissenschaftler in
seiner bisherigen Karriere von kompetenten Kollegen be-
zogen hat. Als kompetent gelten die Kollegen, die ihrer-
seits Reputation genießen. Was die Beachtung seitens ei-
nes Kollegen für die eigene Reputation bringt, hängt kei-
neswegs nur vom Tenor der Erwähnung, sondern auch und
vor allem davon ab, wie bekannt der fragliche Kollege ist.
Wer von prominenten Kollegen besprochen – und sei es
nur ausführlich kritisiert – wird, gewinnt dadurch selbst
ein Stückchen Prominenz. Selbst dort also, wo die subjek-
tiven Momente der Bewertung offiziell keine Rolle spie-
len, wird die Einkommensklasse des Beachtenden auf den
Buchwert der bezogenen Beachtung angerechnet. Und es
verträgt sich sowohl mit dem Ziel des Erkenntnisfort-
schritts als auch mit der Ehre des Forschens, wenn Wis-
senschaftler darauf achten, an möglichst reputierter Stelle
zu publizieren und von möglichst prominenten Kollegen
zitiert zu werden. Das individuelle Streben nach Reputati-
on und der soziale Bildungsmechanismus der Prominenz
sind sogar Voraussetzungen für die effiziente Allokation
der forschenden Aufmerksamkeit.
Die Anrechnung des Einkommens der beachtenden Per-
son auf das Einkommen der Person, die die Beachtung
bezieht, ist ökonomisch von weitreichender Bedeutung.
Die Anrechnung bedeutet zunächst, daß sich der Buchwert
bezogener Aufmerksamkeit ähnlich wie die Produktions-
kosten von Gütern berechnet, die mit Hilfe produzierter
Produktionsmittel hergestellt wurden. Auf jeder Stufe der
Produktion gehen nicht nur die Einkommen der unmittel-
baren Produzenten, sondern auch die Einkommen der Zu-
lieferer in die Herstellungskosten ein. Formell kommt es
zu einem unendlichen Regreß. In das Einkommen der be-
zogenen Person gingen schon die Einkommen der Perso-
nen ein, von denen sie beachtet wurde, und auch in deren
Einkommen gingen schon die Einkommen der sie Beach-
tenden ein usw. Der Regreß bedeutet nicht, daß der Buch-
wert unendlich wird, er bedeutet aber, daß in der Ökono-
mie der Aufmerksamkeit die Tradition eine spezifische
Rolle spielt. Obwohl der Bekanntheitsgrad der Person kein
erbliches Vermögen ist, gibt es auch in Sachen Beachtung
alten und neuen Reichtum. Neu ist Reichtum, der auf
schlicht massenhafte Beachtung zurückgeht, älter ist der-
jenige, der sich der Beachtung seitens besonders beachte-
ter Personen verdankt, alt ist der Reichtum an solcher Be-
achtung, in die schon Generationen vielbeachteter Beach-
tung eingegangen sind. Je älter der Reichtum, um so di-
stinguierter ist er. Eines der Unterscheidungsmerkmale der
verschiedenen Abteilungen der immateriellen Ökonomie
sollte daher sein, ob die Schicht ihrer Reichen eher alten
oder eher neuen Reichtum verkörpert.
Daß der »Kapitalismus im Geist« insgesamt keine neue
Erscheinung ist, belegen schon die Ausdrücke, die die
Sprache für seine Erscheinungsformen bereithält. Die
höchste Form des rentierlichen Reichtums an Beachtung
ist der Ruhm. Wer berühmt ist, ist allen bekannt und wird
es lange bleiben. Als Ruhm bezeichnen wir die Vermögen
in der Größenordnung, die eine »ewige Rente« verspre-
chen. Der Ruhm macht unsterblich in dem Sinne, daß der
Strom der bezogenen Beachtung nie versiegt. Das An-
wachsen von Kapitalen in diese Größenordnung setzt vor-
aus, daß auch diejenigen Beachtung schenken, die nicht
genau wissen oder verstehen, wofür die Beachtung ur-
sprünglich gezollt wurde. Berühmt ist nur, wer so bekannt
ist, daß die Bekanntheit für sich genommen schon hin-
reicht, um für fortdauernde Beachtung zu sorgen.
Die dem Ruhm nächste, aber schon etwas vergänglichere
Form des rentierlichen Reichtums ist die Prominenz. Mit
Prominenz meinen wir weniger die einsamen Spitzen als
die Klasse der Großverdiener. Die Prominenten sind die
klassischen Kapitalisten in der Ökonomie der Aufmerk-
samkeit. Die Prominenten stellen die Klasse derjenigen
Personen dar, von denen allgemein bekannt ist, wer sie
sind. Der ursprüngliche Grund für die Bekanntheit ist
zweitrangig. Entscheidend ist, daß sie nicht nur Großver-
diener sind, sondern als Großverdiener auch ins öffentli-
che Bewußtsein eingegangen sind. Ein erheblicher Teil
ihres Einkommen muß auf diesen öffentlichen Status zu-
rückgehen. Wie die Besitzer von Geldkapital, so beziehen
Prominente auch dann noch ein Einkommen, wenn die
Quellen des ursprünglichen Einkommens versiegt sind.
Durch ihren öffentlichen Status bedingt sind Prominente
Bezieher massenhaft gespendeter Aufmerksamkeit. Ihr
Reichtum ist im typischen Fall neu. Eben darin – und nicht
nur von der Größenordnung her – unterscheidet sich die
Prominenz von der Reputation. Reputation ist Reichtum –
oder genauer: Wohlhabenheit – an Beachtung, die von
ihrerseits beachteten Personen gezollt wird. Im Vergleich
zur Prominenz ist das Kapital, das die Reputation darstellt,
spezifisch alt. Weil die Beachtung seitens ihrerseits beach-
teter Personen nicht so leicht in rauhen Mengen zu haben
ist, bedeutet Reputation eine der Art nach zwar feine, im
Umfang jedoch eher bescheidene Form des Reichtums.
Wächst die Reputation, dann wächst sie eher in die Rich-
tung des Ruhms als der Prominenz. Auch in ihren be-
scheidenen Formen aber muß sich die Reputation aber
rentieren. Reputation hat nur, wer Beachtung auch dafür
einnimmt, daß er dafür bekannt ist, in den einschlägigen
Kreisen bekannt zu sein.
Die unspezifische Form kapitalisierter Beachtung ist das
Prestige. Das Prestige ist dem Ansehen nächst verwandt,
ja es stellt den Anteil am Ansehen dar, der auf eingenom-
mene Beachtung zurückgeht. Prestige hat, wer im Wissen
oder in der Annahme beachtet wird, daß viele auf ihn ach-
ten. Um Prestige zu haben, muß man lediglich etwas über
dem Durchschnitt bekannt sein. Prestige ist die Prominenz
in kleiner Münze. Daß es in kleiner Form vorkommt, heißt
allerdings nicht, daß das Prestige eine ausgesprochene
Kleinform ist. Das Prestige kann enorm sein; es ist das
Attribut alten Adels. Der Begriff des Prestiges enthält nur
eben keine Bestimmtheit, was die Größenordnung und das
Alter betrifft. Es ist ganz einfach das Ansehen, das der
Bekanntheitsgrad verschafft. Unter das Prestige fällt auch
noch derjenige Grad an Bekanntheit, der gerade hinreicht,
um von sich aus Aufsehen zu erregen. Ein gewisses Pre-
stige haben alle, die gesellschaftlich, wie man so sagt, kei-
ne Niemande sind.
Trotz beziehungsweise wegen seiner fehlenden Spezifik
ist das Prestige die soziologisch wichtigste Form kapitali-
sierter Aufmerksamkeit. Sie ist so unspezifisch, weil sie
die ursprüngliche Form der Kapitalisierung eingenomme-
ner Aufmerksamkeit ist. Zu Prestige kommt man dadurch,
daß andere sich darüber unterhalten, wem man auffällt,
wen man kennt, in welchen Kreisen man verkehrt. Auch
sachliche Leistungen und Errungenschaften sind prestige-
trächtig; Voraussetzung ist nur, daß sie auffallen und zum
Gesprächsstoff werden. Fürs Prestige bringt nur das etwas,
worüber man redet. Umgekehrt bildet sich Prestige fast
unwillkürlich, wo über Dritte geredet wird. Wo über Dritte
geredet wird, ist nämlich fast immer die Rede auch davon,
was über diese Dritten sonst geredet wird. Dieses Reden
über das Reden ist die ursprüngliche Akkumulation des
Kapitals, das dann einmal als Prestige, Reputation, Promi-
nenz oder Ruhm Früchte trägt.
Prestige, Reputation, Prominenz und Ruhm sind Formen
genuinen Kapitals. Sie sind keineswegs nur, was der So-
ziologe Pierre Bourdieu als »symbolisches«
Kapital bezeichnet.5 Symbolisches Kapital ist eine Gel-
tung, die lediglich kapitalartige Züge trägt. Der sich ren-
tierende Bekanntheitsgrad der Person stellt hingegen ein
Kapital in dem wörtlichen Sinne dar, daß er aus akkumu-
lierter Beachtung besteht, die sich in der Form leistungs-
frei bezogener Beachtung verzinst. Der Reichtum, um den
es hier geht, verschafft nicht nur soziale Geltung. Er ist ein
Reichtum, der aus demselben »Stoff« besteht, wie das
Einkommen, das er abwirft. Der Stock und die Zinsen sind
in derselben Währung gemessen. Prestige, Reputation,
Prominenz und Ruhm sind so wenig nur Formen symboli-
schen Kapitals wie die Währung, die ihre Größe mißt, ein
Maß nur im übertragenen Sinne ist.
Der Markt der Beachtung
und der Kurswert der Beachtlichkeit

Das Prestige ist der Aspekt am Ansehen, der hervortritt,


wenn man es unter rein quantitativen Gesichtspunkten
betrachtet. Das Prestige ist hoch oder niedrig, wie eben ein
Einkommen. Das Ansehen selber ist nicht bloß groß oder
klein, sondern auch gut oder schlecht. Es hat außer dem
quantitativen einen qualitativen Aspekt. Betrachtet man
das Ansehen unter qualitativen Gesichtspunkten, dann tritt
hervor, was der Ruf genannt wird.
Das Ansehen, wie wir es bisher betrachtet haben, war
nicht nach Prestige und Ruf differenziert. Das Ansehen ist
auch nicht von vornherein differenziert, da seine Machart
nicht notwendig zwischen den Aspekten unterscheidet.
Das in den zweiseitigen Tausch der Aufmerksamkeit ein-
gelassene Aushandeln dessen, was von Dritten zu halten
ist, unterscheidet nur in bestimmten Fällen zwischen der
Wertschätzung, die auf persönliche Zu- oder Abneigung,
und derjenigen, die auf den Bekanntheitsgrad der Person
zurückgeht. Zur Charakteristik der lokalen Märkte des
Ansehens gehört die starke Gefühlsbetontheit des Redens
über Dritte. Das Gerede in den Kreisen der persönlichen
Bekanntschaft verarbeitet direkt zwischenmenschliche
Erfahrungen und rechnet moralisch ab. Auch das Aushan-
deln der Meinung über Dritte steht zwar unter einem ge-
wissen Druck zur Homogenisierung, dieser Druck geht
aber vom Interesse am direkten Gesprächspartner aus.
Wenn in dieses Interesse außer der ursprünglichen Sympa-
thie und Antipathie auch das Interesse eingeht, das der
Partner einem zeigt, so reagiert die Anpassung des eigenen
Wertschätzens an die empfangene Wertschätzung doch auf
die direkt eingehandelte Aufmerksamkeit. Für diese selber
bleibt die individuelle Besonderheit und emotionale Fär-
bung maßgeblich. Deshalb bleibt das Gut, das auf den
lokalen Märkten getauscht wird, von grundsätzlich hetero-
gener Qualität.
Das Bild ändert sich erst, wenn die Abstimmungskreise
erheblich wachsen. Die Abstimmungskreise wachsen,
wenn immer mehr Menschen mit immer mehr anderen zu
tun haben. Sie vergrößern sich maßgeblich, wenn die Drit-
ten, über die sich die Leute unterhalten, nicht mehr nur
persönliche Bekannte sind. Wenn Meinungen über Leute
ausgehandelt werden, über die man spricht, geht es nicht
mehr darum, daß man persönliche Rechnungen mit denen
begleicht, von denen die Rede ist. Es geht dann darum,
selbst mitzureden bei einem Thema von allgemeinem In-
teresse. Auch dieses Mitreden ist ein Mitmachen bei der
Abstimmung über das Ansehen. Auch bei ihm spielt das
Interesse am und die Rücksicht auf den direkten Ge-
sprächspartner eine bestimmende Rolle. Auch und gerade,
wenn sie sich über Personen unterhalten, über die man
spricht, reden die Leute einander nach dem Mund. Nur ist
die Wirkung dieses Mitredens von vornherein doppelter
Natur. Daß – wie auch immer – über die Person geredet
wird, erhöht ihr Einkommen an Beachtung. Wie gut oder
wie schlecht die Meinung ausfällt, ändert höchstens etwas
an ihrem Ruf. Auch abfälliges Gerede kann das Prestige
fördern, wenn nur genügend viele mitreden. Umgekehrt
verpufft auch höchstes Lob nur zu leicht, wenn es nicht
zum allgemeinen Gesprächsstoff wird.
Was auf das Konto des Rufs gebucht wird, muß fürs
Prestige nicht zu Buche schlagen, und umgekehrt. Aber
nicht nur die Konten sind verschieden, auch die Regeln
der Buchhaltung sind zweierlei. Als Ruf schlägt die mora-
lische Bewertung der Lebensführung an; der Ruf verrech-
net persönliche Werturteile zu einem sozialen Konsens.
Beim Prestige wird individuelle Beachtung in soziale Be-
achtlichkeit umgerechnet; was zählt, ist, wieviel geredet
wird, und nicht zunächst, was. Beim Ruf zählt nur das
Was des Geredes; ein einziger Verdacht genügt, um ihn
förmlich zu morden. Beim Prestige fällt das, was geredet
wird, nur deshalb nicht völlig unter den Tisch, weil eben
auch darüber geredet wird, ob die Beachtung verdient ist
oder nicht, weil über den Kurswert spekuliert wird, weil
auch Achtungserfolge herbeigeredet und zerredet werden
können. Beim Ruf zählt die Vergangenheit nur im konser-
vativen Sinn. Beim Prestige zählt sie als Akkumulations-
phase und Alterungszeit des Kapitals. Für den Ruf hat die
Zukunft keine spezielle Bedeutung. Das Prestige hingegen
ist der auf einen Bestandswert umgerechnete Erwartungs-
wert künftiger Einkommen. Ist der Ruf einmal ruiniert,
dann bleibt nur die Hoffnung auf ein kurzes Gedächtnis.
Vom Prestige kann man noch zehren, wenn der ursprüng-
liche Grund für die gesteigerte Beachtung längst vergessen
ist. Beim Ruf existiert das Konto selber nur im übertrage-
nen Sinn. Das Prestige selber ist Ausdruck eines regelrecht
geführten Geschäftskontos. Der gute Ruf ist der Trost für
die schlechten Geschäftsleute in Sachen Beachtung. Zu
Prestige können es auch sattsam bekannte Gauner bringen,
wenn sie nur ein Händchen im Geschäft der Attraktion
haben.
Mit der Weitung der Abstimmungskreise zerfällt das
Ansehen unaufhaltsam in sein qualitatives und sein quanti-
tatives Moment. Diese Weitung ist nun aber umgekehrt
die Voraussetzung für das Anwachsen wirklichen Reich-
tums. Wie in der materiellen, so kann man auch in der
Ökonomie der Aufmerksamkeit nicht mit der eigenen
»Hände«
Arbeit reich werden. Man muß andere für sich arbeiten
lassen. In der Tauschökonomie der Aufmerksamkeit arbei-
ten andere für einen, indem sie über einen reden. Wenn
man nur die Beachtung findet, die man direkt für eigene
eintauscht, bleibt man arm. Nur dadurch, daß man zum
Gesprächsstoff Dritter wird, kann man es zu Vermögen
bringen; nur dadurch, daß man zum allgemeinen Ge-
sprächsstoff wird, wird man reich. Zum allgemeinen Ge-
sprächsstoff wird man, indem sich die Kreise, in denen
von einem die Rede ist, entsprechend weiten. Selbst wer
Umgang mit Berühmtheiten hat, schlägt Kapital daraus
nur, wenn er dafür bekannt wird. Der Umgang mit be-
kannten Größen kann bekannt machen – aber freilich nur,
wenn er seinerseits Aufsehen erregt. Wirklicher Reichtum
entsteht erst, wenn eine Art Kettenreaktion einsetzt: Das
Aufsehen muß die Kreise, in denen über einen geredet
wird, vergrößern, und diese Vergrößerung muß ihrerseits
Aufsehen erregen.
An dieser Kettenreaktion wird deutlich, wie das Wach-
stum von Reichtum und die Entwicklung eines einheitli-
chen Markts einander befruchten. Mit wachsendem Reich-
tum differenzieren sich der quantitative und der qualitative
Aspekt des Ansehens immer deutlicher aus. Nur dann,
wenn der quantitative Aspekt für sich genommen Aufse-
hen erregt, kommt es zur effektiven Kapitalisierung des
Beachtungseinkommens. Kommt es zur Kapitalisierung
eingenommener Beachtung, dann werden auch Unter-
schiede im Tauschwert der Beachtung, die die Person zu
geben hat, zu solchen der Quantität. Die Kapitalisierung
hat den Effekt, daß all diejenigen persönlichen Unter-
schiede, die auf Einkommensunterschiede zurückgehen,
quantifizierbar werden. Sie bringt mit sich nicht nur, daß
der quantitative Aspekt des Ansehens als selbständige
Gestalt hervortritt, sondern auch, daß das Substrat, die
eingenommene Aufmerksamkeit, als homogenes Gut er-
scheint. Wo sich die Wertunterschiede eines getauschten
Guts auf Unterschiede im Einkommen an diesem Gut und
auf Kapitalisierungseffekte zurückführen lassen, haben wir
mit einem homogenen Handelsgut zu tun.
Wir sehen hier im Detail, wie die Kapitalisierung und
die Währungsfunktion der Aufmerksamkeit einander be-
dingen und ergänzen. Die Kapitalisierung beruht auf einer
Buch- und Kontenführung, die eine homogene Rech-
nungseinheit voraussetzt. Das Rechnen mit Zins und Zin-
seszins definiert die Rechnungseinheit implizit als Wäh-
rungseinheit. Daß die Rechnung keine Heller und Pfennige
kennt, tut nichts zur Sache. Daß sie nicht mit exakten Grö-
ßen, sondern nur in Größenordnungen rechnet, tut der
Funktion als Währung ebenfalls keinen Abbruch. Ob die
Rechnung noch funktioniert, wenn nur Größenordnungen
greifbar sind, ist eine Frage des geübten Umgangs mit
Vagheit. Der Umgang mit Vagheit will in der Umrech-
nung individueller Beachtung in soziale Beachtlichkeit
aber schon deshalb geübt sein, weil weder die Meinungen,
die wir über andere haben, besonders klar sind, noch die
Verhandlungsergebnisse des Meinungstauschs klar und
ausdrücklich festgehalten werden. Die Frage nach dem
Rechnungswesen ist nicht, wie man mit unscharfen Men-
gen rechnet, sondern wie es möglich ist, daß ein Rechnen
mit so vagen Größen zu einer so klaren Ordnung wie der
des Prestiges, der Reputation, der Prominenz und der Be-
rühmtheit führt.
Die Lösung des Rätsels dieser Ordnung liegt in der aus-
gebildeten Ökonomie. Bei der Machart von Prestige, Re-
putation, Prominenz und Ruhm haben wir nämlich mit
einer regelrechten Marktpreisbildung zu tun. Der Handel,
aus dem der Grad der Beachtlichkeit einer Person hervor-
geht, unterscheidet sich vom Aushandeln des Ansehens in
überschaubaren Bekanntenkreisen sowohl in seinem an-
onymen Charakter als auch in der Art des Weitertauschens
der eingenommenen Beachtung. Sobald der Grad allge-
meiner Bekanntheit zu zählen beginnt, wird bezogene Be-
achtung zunächst einmal in der Form des höheren
Tauschwerts der Aufmerksamkeit des Beziehers weiterge-
handelt. Dieser Aufschlag wird zweitens dadurch weiter-
gehandelt, daß die Beachtung seitens bekannter Personen
auch Dritten gegenüber mehr zählt als die seitens unbe-
kannter. Dieser reguläre Weitertausch wird drittens durch
eine hybride Endstufe ergänzt. Prestige, Reputation, Pro-
minenz und Ruhm nehmen ihre bestimmten Werte da-
durch an, daß der Bekanntheitsgrad der Person als Kurs-
wert gehandelt wird. Der Kurswert ist der Marktpreis ei-
nes Kapitals.
Wenn wir über das Ansehen von Personen verhandeln,
die als bekannt gelten, dann beginnen wir, ob wir wollen
oder nicht, mit einer Spekulation. Einen bestimmten Be-
kanntheitsgrad vorauszusetzen heißt, eine Annahme dar-
über zu treffen, wieviel Beachtung die Person schon direkt
oder in verpackter Form bezogen hat. Diese rückwärtsge-
wandte ergänzen wir im Aushandeln um eine vorwärtsge-
wandte Spekulation. Wir spekulieren, wiederum fast un-
willkürlich, darüber, wie sich das Einkommen entwickeln
wird: Wir verhandeln darüber, ob das Einkommen berech-
tigt ist oder nicht, wir machen Prophezeiungen, treiben
Flüsterpropaganda, stimmen entweder in den Chor der
vielen ein oder versuchen, unseren Partner für die abwei-
chende Meinung zu gewinnen. Die Art der zweiseitigen
Verhandlung ist dabei nicht anders als die über das Anse-
hen generell. Ist die fragliche Person nun aber bekannt und
kommt es, daß wir speziell über ihren Bekanntheitsgrad
verhandeln, dann geschieht mit diesem Bekanntheitsgrad,
was mit Kapitalwerten an der Börse passiert. Aus der Be-
obachtung beziehungsweise Annahme der bisherigen Ein-
kommensentwicklung und aus der Erwartung der künfti-
gen wird ein Gegenwartswert ermittelt. Dieser Gegen-
wartswert ist das Größenmaß des Kapitals als solchen. Er
ist es, der als der Kurswert des Prestiges, der Reputation,
der Prominenz und der Berühmtheit notiert wird.

Gesellschaftlicher Ehrgeiz

Es gibt also den regulären Markt der Beachtung. Es gibt


die regelrechte Marktpreisbildung für die Beachtlichkeit.
Es gibt den Handel mit kapitaler Aufmerksamkeit, der die
erwarteten Gewinne beziehungsweise Verluste in einen
Kurswert überführt. Heißt das nun nicht, daß auch der
Selbstwert der Person Eigenschaften eines Marktpreises
verpaßt bekommt?
Wieder einmal scheint die Antwort zunächst negativ.
Nicht nur ein intuitiver Vorbehalt, auch folgende Gründe
sprechen dagegen: Erstens hängt die Selbstwertschätzung
unmittelbar von empfangener Wertschätzung und nur mit-
telbar von empfangener Beachtung ab. Zweitens redet bei
der Selbstwertschätzung nicht nur das äußerlich vermittel-
te Selbstwertgefühl, sondern auch die unmittelbare Selbst-
achtung mit. Drittens bedeutet das Fungieren der Auf-
merksamkeit als Währung nicht, daß sie in der Funktion
des Zahlungsmittels aufginge. Die Zuwendung behält ih-
ren intrinsischen Wert und ihre seelische Qualität sehr
wohl, wo die Menschen einander als Menschen nahe-
kommen und persönlich schätzen. Schließlich ist die per-
sönliche Wertschätzung seitens derer, die auch wir persön-
lich schätzen, die immer noch wichtigste Nahrung unserer
Selbstwertschätzung.
Wieder gibt es nun aber den zweiten Blick, der das klare
Nein schwanken läßt. Spielt nicht auch die Beachtung, die
sie von dritter Seite beziehen, in unserer Wertschätzung
für andere Personen mit? Machen Prestige und Reputation
nicht auch beliebt? Zählt nicht die Wertschätzung seitens
einer prominenten oder gar berühmten Person für unser
Selbstwertgefühl anders als die von nur persönlich be-
kannter Seite? Gewiß, es gibt Menschen, die sich vom
Bekanntheitsgrad anderer überhaupt nicht beeindrucken
lassen. Es gib ihrer aber wenige. Wie materieller Reichtum
schon becirct, so kann erst recht der Reichtum an Beach-
tung betören. Er umgibt die Person mit einem Glanz, der
geradezu unwiderstehlich machen kann. Es ist ein Glanz,
wie ihn hinreißende Schönheit, außerordentliche Macht,
begnadete Begabung und klingender Name verleihen.
Oder gilt vielleicht sogar umgekehrt, daß diese Attribute
so glänzen, weil aller Blicke auf ihnen ruhen? Ist ihre Au-
ra vielleicht selber das Erstrahlen im Übermaß der Auf-
merksamkeit, die auf sich zu ziehen sie bekannt sind?
Die Rentierlichkeit des Reichtums an Beachtung hat den
einfachen Grund, daß das Wissen um die Anziehungkraft,
die die Person auf andere ausübt, ihre Attraktivität erhöht.
Daß es zur Kapitalisierung eingenommener Beachtung
kommt, ist Ausdruck des Sachverhalts, daß das Schauen
der andern ein Grund ist, selber Augen zu machen. Der
Reichtum »arbeitet« in eben dem Sinn, daß Prestige von
sich aus beliebt, Reputation selber noch einmal angesehen,
Prominenz als solche anziehend und Ruhm aus sich heraus
unwiderstehlich macht. Wenn aller Augen auf jemanden
gerichtet sind, dann muß doch etwas Besonderes an ihm
sein. Wenn man es selbst noch nicht sieht, sollte man sich
vielleicht anstrengen. Irgendwann muß man sich, schon
um mitreden zu können, um die Person kümmern. Schließ-
lich kann man im Abglanz des großen Kapitals selber
glänzen. Die Nähe zu Prominenten ist eine üppig spru-
delnde Quelle des kleineren Prestiges.
Selbst solcher Abglanz schmeichelt dem Selbstwertge-
fühl. Um wieviel mehr muß dem Selbstwertgefühl dann
der originäre Reichtum schmeicheln! Ist schmeicheln
überhaupt noch das richtige Wort? Sucht man Prestige,
Reputation, Prominenz, Berühmtheit nur aus Eitelkeit?
Wird der Reichtum an eingenommener Beachtung nicht
auch gesucht, weil man auf seinem Weg die Selbstwert-
schätzung gezielt maximieren kann? Ist die Akkumulation
solchen Reichtums nicht sogar der Weg, auf dem man die
Selbstwertmaximierung ganz geschäftsmäßig betreiben
kann? Pflegen die Großen in diesem Geschäft ihren
Selbstwert nicht selbst wie einen Kurswert? Verschmilzt
die Pflege dieses Kurswerts nicht mit der Sorge um den
Selbstwert? Kommt es nicht immer wieder vor, daß Men-
schen, die vom Sockel der Publicity stürzen, nicht mehr
wissen, was sie von sich selbst halten sollen?
Natürlich unterbricht die Akkumulation der eingenom-
menen Beachtung den inneren Dialog zwischen dem
Selbstwertgefühl und der Selbstachtung nicht. Natürlich
berührt es die Selbstachtung, wenn der Grund des Reich-
tums anrüchig ist. Natürlich kostet es Selbstachtung, wenn
man sich vor sich selbst – und erst recht vor anderen –
krumm macht, nur um möglichst viel Aufmerksamkeit zu
raffen. Natürlich bleibt es für die Selbstachtung unbehag-
lich, das Selbstwertgefühl als eine Art Marktpreis zu wis-
sen. Nur hat es der Reichtum eben auch an sich, dem Ein-
spruch der Selbstachtung Stück um Stück den Boden zu
entziehen. Mit wachsendem Reichtum wird der ursprüng-
liche Grund der Beachtung zunehmend durch die Attrakti-
vität, die die Beachtlichkeit von sich aus entwickelt, über-
deckt. Das Einkommen, das als Zins und Zinseszins an-
fällt, riecht nicht mehr nach dem Ursprung. Auch’ die
Verrenkungen, die man einmal unternahm, um im Mittel-
punkt zu stehen, sind vergessen, wenn sich die andern
krumm machen, um etwas von der beachtlich gewordenen
Aufmerksamkeit zu erhaschen. Schließlich steht der intel-
lektuellen Schmerzlichkeit des Bewußtseins um den preis-
lichen Charakter des Selbstwerts die kreatürliche Lust
gegenüber, sich an Beachtung reich zu fühlen. Wer an
Beachtung arm bleibt, dem bleibt die Schreckensvorstel-
lung erspart, daß seine Selbstwertschätzung die Züge eines
Marktpreises tragen könnte.
Das Unternehmertum der Selbstwertschätzung löst den
Naturalientausch der direkt persönlichen Zuwendung nicht
einfach ab. Es schluckt auch den Kleinhandel nicht um-
standslos. Der intim zwischenmenschliche Austausch und
die lokalen Märkte des Ansehens bleiben bestehen. Die
Schicht des regulären Marktgeschehens kommt zu den
älteren Schichten nur hinzu. Der mentale Kapitalismus
verfährt in dieser Hinsicht milder als sein materialistischer
Vorgänger. Er zersetzt die älteren Tauschformen nicht
rücksichtslos. Der Bereich, worin er unumwunden
herrscht, bleibt auf das Massengeschäft beschränkt. Das
Auseinandertreten von Prestige und Ruf bedeutet nicht,
daß das Prestige den Ruf ablösen würde; die Differenzie-
rung bedeutet auch nicht, daß das Ansehen in seiner undif-
ferenzierten Form unmaßgeblich würde. Niemand wird
zur Teilnahme an der Geschäftstätigkeit gezwungen, die
aus der Aufmerksamkeit eine anonyme Währung macht.
Was es schwierig macht, sich der Teilnahme zu verwei-
gern, ist der Verzicht, den die Verweigerung bedeutet. Die
Abstinenz stellt zwar ein Privileg für jene dar, die es nicht
nötig haben, auf den Bekanntheitsgrad ihrer Bekannten zu
achten. Die leider viel üblichere Form der Abstinenz ist
aber die Bescheidung derer, die es sich eben nicht leisten
können, darauf zu achten, daß ihre Bekannten möglichst
illustren Umgang haben.
Zum Kapitalisten der Beachtlichkeit muß man es erst
einmal bringen. Wer es allzuweit von sich weist, seinen
Selbstwert geschäftsmäßig zu maximieren, verschmäht
vielleicht nur allzu saure Trauben. Der Gedanke, daß das
Selbstwertgefühl die Machart eines Marktpreises hat, ist
kein schöner Gedanke, gewiß. Die Vorstellung aber, daß
man das Einkommen an Beachtung maximieren kann wie
Unternehmer den Profit, ist betörend. Natürlich macht das
Massengeschäft die qualitativ so besondere Aufmerksam-
keit gleich. Auch die Masse kann aber in eine neue Quali-
tät umschlagen. Die Vorstellung des sich selbst mehrenden
Reichtums an Beachtung muß zumindest die Ehrgeizigen
faszinieren. Und tatsächlich liegt das Kriterium dafür, ob
jemand an der kapitalistischen Schicht der Geschäftstätig-
keit teilnimmt, nicht zunächst in seiner gesellschaftlichen
Stellung, sondern in der Rolle, die der gesellschaftliche
Ehrgeiz in seinem Lebensplan spielt.
Nur wer völlig frei von gesellschaftlichem Ehrgeiz ist,
darf mit Fug und Recht behaupten, daß seine Wertschät-
zung für andere Menschen von deren Bekanntheitsgrad
unbeeindruckt ist. Nur solche Menschen, denen der Reich-
tum an Beachtung überhaupt nicht imponiert, nehmen am
System der kapitalen Beachtlichkeit nicht teil. Eben da-
durch nämlich, daß er Eindruck macht, verzinst sich der
zugeschriebene Reichtum. Und eben die Menschen, denen
der Reichtum Eindruck macht, sind auch vom Wunsch
befallen, reich zu werden. Sobald man sich den Eindruck
zu Herzen nimmt, keimt das Verlangen, ihn selbst zu ma-
chen. Er geht in das ein, was man von anderen hält, und er
entfaltet seine Wirkung in dem, was man von anderen
empfängt. Er wird, ehe man sich versieht, zum Mittel, das
man im Umgang mit anderen einsetzt; und er hat sich,
sobald er nur überhaupt vermerkt wird, auch schon als
Zweck des Umgangs eingenistet. Sobald sich nun aber der
Wunsch, durch eingenommene Beachtung zu imponieren,
eingenistet hat, ist auch der gesellschaftliche Ehrgeiz
schon geweckt.
Der gesellschaftliche Ehrgeiz und der mentale Kapita-
lismus sind gleichen Ursprungs. Ihr gemeinsamer Ur-
sprung ist die Wirkung, die die Beachtung, die seine Per-
son seitens Dritter bezieht, auf die Wertschätzung hat, die
wir unserem Gegenüber entgegenbringen. Sobald diese
Beachtung Eindruck macht, ist der Keim zu beidem ge-
legt. Er beginnt, das Spiel um den Selbstwert subtil zu
verändern. Er läßt es erstens erheblich werden, wieviel der
Partner, mit dem wir Aufmerksamkeit tauschen, sonst
noch an Aufmerksamkeit bezieht. Er läßt es zu einer ko-
gnitiven Nebenbedingung erfolgreichen Spielens werden,
daß die verschiedenen Bezugsquellen beachtet und das
Einkommen summarisch registriert wird. Er läßt es über-
haupt erst zu einem interessanten Gesprächsstoff werden,
wieviel jemand an Beachtung bezieht, ob das Einkommen
berechtigt ist, wie hoch das Einkommen derer ist, mit de-
nen jemand Umgang pflegt. Der Eindruck entfaltet seine
Wirkung früh und zunächst unbemerkt in der Abstimmung
über das Ansehen. Er schleicht sich auch viel zu leise ein,
als daß den Anfängen gewehrt werden könnte. Es ist un-
geheuer schwer zu unterscheiden, ob wir jemanden ob
seiner brillanten Gaben oder ob der Beachtung schätzen,
die diese Gaben auf sich ziehen. Das Ferment der Beacht-
lichkeit ist in ganz unterschiedlichen Dosen in die zwi-
schenmenschliche Wertschätzung eingewirkt, es dürften
sich aber wenige Beispiele persönlicher Wertschätzung
finden, in denen es gar nicht nachweisbar ist.
So leise und unscheinbar die Anfänge, so beachtlich
kann die Wirkung werden, wenn der Eindruck besprochen
wird, und so klar kann schließlich die Beachtlichkeit über
andere Gründe der Wertschätzung dominieren, wenn sie
von sich aus Aufsehen erregt. Ob ein Prominenter gut aus-
sehend, begabt, kompetent, originell, charmant ist, ist
schon zweitrangig geworden. Er sieht gut aus, kann etwas,
hat etwas zu sagen, ist unterhaltend, findet Gehör, wird
angehimmelt, weil er prominent ist. Auch Schwächen und
Fehltritte zählen bei Prominenten anders als bei anderen
Leuten. Ihre Schwächen werden als Enthüllungen, ihre
Fehltritte als Skandale gehandelt. Von der Person, wie sie
leibt und lebt, löst sich eine Art öffentlicher Institution ab,
die eigene Statur und Objektivität hat. Auch diese Ablö-
sung vollzieht sich leise und zunächst unscheinbar. Die
Institution kann die Person aber förmlich hinter sich lassen
und beginnen, ein Eigenleben zu führen. Die zuteil wer-
dende Beachtung und das Aufsehen, das diese Beachtung
erregt, schöpfen etwas von eigenen Gnaden. Das Geschöpf
verselbständigt sich von seinem Anlaß wie ein Kunstwerk
von seinem Sujet. Es wird zum Fetisch. Die eigene Objek-
tivität der Beachtlichkeit kann so weit gehen, daß das Ge-
schöpf das Irdische hinter sich läßt und zum Star aufsteigt.
Den Star umgibt der Glanz, den das Wissen verleiht, daß
unzählige andere Augen machen. Im Glanz, der einen Star
umgibt, können sich denn auch andere Leute sonnen. Im
Abglanz eines großen Stars kann ein ganzer Hofstaat er-
strahlen. Wer es schafft, etwas von diesem Abglanz auf
die eigenen Mühlen umzuleiten, kann es auch ohne eige-
nen Glanz zu einer glänzenden Karriere im Kapitalismus
der Beachtlichkeit bringen.

Das Gesellschaftsspiel um den Selbstwert

Der eigene Wert der Beachtlichkeit verändert die Ökono-


mie der Selbstwertschätzung in einem entscheidenden
Punkt. Er läßt aus dem gebrochenen Verhältnis von Be-
achtung und Selbstwertgefühl einen in beiden Richtungen
belastbaren Zusammenhang hervorgehen. Die Beachtung
mutiert vom Transportmittel und Beleg für die empfange-
ne Wertschätzung zu einem Wert in sich. Wenn nur genü-
gend Beachtung zusammenkommt, schlägt die Quantität
in eigene Wertigkeit um. Diese Wertigkeit wird zu einer
Art Äquivalent zum intrinsischen Wert. Sie wird geschätzt
wie die Wertschätzung, die als emotionale Färbung der
Beachtung übertragen wird. Ihr Ursprung ist aber nicht
Sympathie oder Antipathie, sondern das Achten darauf,
worauf die anderen Leute achten. Das Selbstwertgefühl
wächst, wenn so viele Leute Augen machen, daß darüber
andere Leute Augen machen. Durch den sich einstellenden
Selbstbezug der Beachtlichkeit wechselt die Beachtung
von der bloß notwendigen zur von sich aus hinreichenden
Bedingung wachsenden Selbstgefühls. Der Zusammen-
hang zwischen eingenommener Beachtung und Selbst-
wertgefühl wird direkt.
Die Wirkung der umgangenen Vermittlungsstufe ist so
subtil wie enorm. Subtil ist zunächst einmal die Art, wie
sich das Repertoire an Spielzügen weitet. Das ehedem
schon nicht einfache Problem der Wertmaximierung ein-
genommener Aufmerksamkeit erfährt eine weitere Bin-
nendifferenzierung. Weiterhin besteht das Problem, mög-
lichst viel Wertschätzung in möglichst viel Beachtung
seitens derjenigen Personen gepackt zu beziehen, die man
selbst am höchsten schätzt. Nur kommt nun ein weiterer
Aspekt hinzu. Man kann, wie bisher, die Bekanntschaft
mit Menschen, die man schätzt, suchen und vertiefen; man
kann auch weiterhin die eigene Werthaltung an die emp-
fangene Wertschätzung anpassen; man kann aber, und das
ist neu, auch direkt am Tauschwert, den die eigene Auf-
merksamkeit in den Augen der anderen hat, ansetzen. Man
kann nämlich andere Leute von diesem Tauschwert da-
durch überzeugen, daß man ihnen das Aufsehen vor Au-
gen führt, das die eigene Person in den Augen anderer
erregt. Man kann sogar bloß geliehene, auf Vorschuß ge-
währte Aufmerksamkeit arbeiten lassen, damit die eigenen
Pfunde wuchern.
Das Problem der neuen Strategie liegt weniger bei der
Auswahl der Partner als beim Startkapital und der richti-
gen Spekulation. Man braucht, wenn einem die Sinne und
Herzen der Mitmenschen nicht einfach so zufliegen, einen
gewissen Vorschuß an Beachtung, um erst einmal Ach-
tungserfolge zu erzielen. Wenn es stimmt, daß Menschen,
die angeben, mehr vom Leben haben, dann liegt der Grund
hier. Die direkte Arbeit am Tauschwert der eigenen Arbeit
schließt alle Arten und Weisen ein, sich mit fremden Fe-
dern zu schmücken. Ein geschicktes Händchen im
Einspannen geliehener Aufmerksamkeit kann Handicaps
in Herkunft und Aussehen durchaus kompensieren. Auch
ärgere Scharten in der natürlichen Begabung müssen kein
Hindernis sein, wenn man mit dem Startkapital aufs rich-
tige Pferd setzt. Alle Arten des Versilberns vorgeschosse-
ner Beachtung gehören zum Repertoire. Allerdings reicht
das Repertoire nun weit über die Arten persönlicher Ge-
schicklichkeit hinaus. Will man die Erweiterung, die das
Spiel um den Selbstwert durch die Differenzierung der
Ansatzpunkte erfährt, nicht zu eng fassen, dann muß man
das Geschäft des Leihens und Ausmünzens von Beachtung
bis hin zur Genese gesellschaftlicher Institutionen verfol-
gen.
Um die Betrachtung des Spiels um den Selbstwert auf
gesellschaftliche Institutionen auszuweiten, bedarf es einer
Anpassung des Begriffs beachtlichen Kapitals. Von Pre-
stige, Reputation, Prominenz und Berühmtheit war bisher
nur als Formen persönlichen Eigentums die Rede. Die
Formen rentierlichen Reichtums an Beachtung sind aber
nicht auf natürliche Personen beschränkt. Auch Institutio-
nen und sogar Veranstaltungen können Prestige genießen,
Reputation gewinnen und eventuell Ruhm erlangen. Al-
lerdings paßt das Prestige nun nicht als Oberbegriff für die
persönlichen und institutionellen Formen. Der Begriff, der
sich hier anbietet, ist das Renommee. Das Renommee ist
der allgemeinste und hinsichtlich der Zuschreibbarkeit
zugleich neutralste Begriff für den rentierlichen Reichtum
an Beachtung. Unter der Ordnung des Renommees seien
im folgenden daher die persönlichen und die institutionel-
len Formen des beachtlichen Kapitals zusammengefaßt.

Der Betrieb der Kultur und der Kapitalmarkt der Beacht-


lichkeit

Die etablierte Ordnung des Renommees deutet auf die


Funktion einschlägiger Kapitalmärkte hin. Sie stellt ein
System von Marktpreisen dar. Freilich können diese
Marktpreise nicht vom direkten Handel mit den Kapitalien
herrühren. Prestige und Reputation, Prominenz und Ruhm
sind fest mit ihren Inhabern verbunden. Wenn es Kapital-
märkte für das Renommee geben soll, dann können es nur
Finanzmärkte sein. Die Grundform des Finanzmarkts ist
der Handel mit Krediten.
Um die Funktion der Preisbildung, die hinter der eta-
blierten Ordnung des Renommees steckt, in ihrer institu-
tionell entwickelten Form zu studieren, sollten wir uns
nach demjenigen Sozialsystem umsehen, in dem Kredite
an akkumulierter Aufmerksamkeit vergeben werden. Was
ist unter einem Kredit an akkumulierter Aufmerksamkeit
nun aber zu verstehen? Es geht ja nicht um das Herleihen
von Kapital als produziertes Produktionsmittel, sondern
darum, eingenommene Aufmerksamkeit anderen zur Ver-
fügung zu stellen. Wieder einmal könnte es Schemen, als
sei diese Art Handel ausgeschlossen. Wie soll eingenom-
mene Aufmerksamkeit weiterverliehen werden? Kurzes
Nachdenken legt nahe, dort nachzusehen, wo massenhaft
gespendete Aufmerksamkeit zusammenkommt.
Die Kapitalisierung der Beachtlichkeit ist ein Massenef-
fekt. Nur mit großen Mengen an Beachtung wird der Ein-
druck gemacht, der sich selbst trägt. Große Mengen an
Beachtung kommen freilich nicht von selbst zusammen.
Damit die Leute sehen, daß viele andere Leute Augen ma-
chen, müssen erst einmal viele Leute zusammenkommen.
Damit viele Leute überhaupt zusammenkommen, müssen
Anlässe des Zusammentreffens und müssen Anlagen be-
stehen, die ein großes Publikum fassen. Es überrascht
nicht, daß uns die Frage nach der Genese solcher Bedin-
gungen zu den Anfängen des Städtewesens zurückführt.
Das Leben in der Stadt ist ein Zusammenleben mit vie-
len anderen Menschen auf engem Raum. Es ist ein Leben
in den Augen vieler anderer und für die Augen vieler an-
derer. Charakteristisch für urbane Lebensformen ist die
Differenz von öffentlicher Schauseite und geschützter Pri-
vatsphäre. Zum Wesen des Urbanen gehört aber nicht nur
die Bühne der Öffentlichkeit, zu ihm gehört auch die Art
von Kultur, die von einem Kulturbetrieb reden läßt. Kul-
turbetrieb und Urbanität gehören in ähnlicher Weise zu-
sammen wie Marktwirtschaft und Stadtwesen. Wohl war
der Kulturbetrieb in den alten und zumal ältesten Städten
kultischer Art und damit gerade kein Betrieb im ge-
schäftsmäßigen Sinn. Schon die Städte des Altertums
kannten aber das Theater und sportliche Großveranstal-
tungen. Und schon an diesen Vorläufern des geschäftsmä-
ßigen Kulturbetriebs lassen sich die Züge des Kreditwe-
sens ablesen, das im geschäftsmäßigen Veranstaltungs-
und Veröffentlichungswesen dann formell betrieben wird.
Wer die Chance bekommt, als Neuling im Theater auf-
zutreten, wer erstmals zum Wettkampf im vollbesetzten
Stadion zugelassen wird, erhält einen Kredit an gesicherter
Beachtung. Dieser Kredit ist ökonomisch formgleich dem
Startkapital, das Geldgeber Unternehmern zur Verfügung
stellen. Kommt der Neuzugang beim Publikum an, dann
macht nicht nur er selbst, sondern auch der Veranstalter
Gewinn. Tritt der Kandidat erfolgreich auf, verbucht auch
die Veranstaltung Renommee. Die Veranstalter überneh-
men die Rolle der Bank, die mitverdient und deren Ge-
schäft es ist, mit akkumulierten Einkommen neue Talente
zu finanzieren. Beide Seiten profitieren voneinander. Der
Profit, der dabei anfällt, ist ein Profit im genauen Sinn des
Worts. Er ist der Gewinn an Beachtung über das einge-
setzte Kapital an akkumulierter Beachtung.
Wie der materielle Kapitalismus erst eigentlich mit dem
Verleihen von Geld, so fängt der mentale erst eigentlich
mit dem Verleihen akkumulierter Aufmerksamkeit an. Als
kapitalistisch sollten noch nicht Verhältnisse bezeichnet
werden, in denen der reinvestierte Gewinn als Produkti-
onsmittel eingesetzt wird. Auch das abgezweigte Saatgut,
auch die mit vorgeschossener Arbeitskraft hergestellten
Werkzeuge, auch das mit freigestellter Aufmerksamkeit
erarbeitete Wissen sind Formen des Sachkapitals. Nur
berechtigen der vorsorgende Ackerbau, die Produktion mit
produzierten Produktionsmitteln und die Arbeit mit geisti-
gem Kapital noch nicht, von kapitalistischen Verhältnissen
zu reden. Der Kapitalismus beginnt mit dem Zusammen-
spiel von Sach- und Finanzkapital. Der entscheidende
Schritt ist die Reinvestition gehorteter Einkommen und
das Herleihen akkumulierten Reichtums zum Zwecke
fremd erarbeiteten Profits.
Ein solcher Schritt wurde vollzogen beim Übergang vom
gelegentlichen zum geschäftsmäßig organisierten Kultur-
betrieb. Die geschäftsmäßige Organisation des Kulturbe-
triebs erschöpft sich nicht darin, daß Versammlungsstätten
unterhalten und Einrichtungen aufrechterhalten werden,
daß das Veranstaltungswesen gepflegt und Literatur ver-
legt wird, daß die Kunstkritik und der Kunsthandel florie-
ren. Zu einem geschäftsmäßigen Kulturbetrieb gehört, daß
Talente rekrutiert werden, daß Veranstaltungen in der Öf-
fentlichkeit besprochen und gewertet werden, daß Verle-
ger erfolgversprechende Autoren entdecken und ihnen ein
Forum bieten, daß sich die Kunstkritik mit Fragen des
Rangs der Werke und der Einordnung der Künstler be-
schäftigt, daß ein Ausstellungswesen funktioniert, in dem
bekannte Institutionen ihr Renommee herleihen, um Be-
gabungen zum Durchbruch zu verhelfen, die wiederum
das künftige Renommee der Institution begründen.
Wer im kulturellen Milieu Karriere machen will, braucht
ein Startkapital. Aula, Laientheater oder Gesangsverein
genügen als Sprungbrett nicht. Es bedarf des Vorschusses
an gesicherter Beachtung von kulturell nicht nur interes-
sierter, sondern auch kompetenter Seite. Jemand, dessen
Urteil in der Sache zählt, muß aufhorchen. Um als kompe-
tent zu gelten, muß zum Kunstsinn Reputation hinzukom-
men. Der Kunstverständige muß, anders gesagt, auch ein
beträchtliches Einkommen an einschlägiger Beachtung
beziehen. Je größer dieses Einkommen, um so größer wird
das Gewicht seiner Stimme in der Sache. Freilich hat, wer
solches Gewicht zugelegt hat, auch etwas zu verlieren. Die
Reputation ist schnell verspielt, wenn man im Urteil kom-
petenter anderer Stimmen – wiederholt aufs falsche Pferd
setzt. Falsche Pferde sind solche, die nicht »ziehen«, die
aus dem Startkapital nichts machen. Die Reputation eines
Kunstkritikers und Kulturpublizisten hängt auch und gera-
de davon ab, wie sich die Pferde, die er ins Rennen ge-
schickt hat, schlagen. Für Impresarios, Verleger und Gale-
risten hängt auch der materielle Gewinn davon ab, wieviel
Beachtung ihre Pferdchen einfahren. Hier wie dort rangie-
ren vor den pekuniären Gesichtspunkten aber die Kurs-
werte der Beachtlichkeit, die für die Schützlinge notiert
werden.
Der Auswahlmechanismus künstlerischer Talente und
das Notierungssystem kultureller Beachtlichkeit fungieren
nach dem klassischen Schema einer Börse. Zunächst wird
akkumulierte Beachtung als Startkapital in Projekte bezie-
hungsweise Karrieren investiert, die für den Investor mehr
Beachtung einzuspielen versprechen, als er zunächst in
Form von Renommee riskiert. Der Kurswert der gehandel-
ten Titel hängt einerseits von dem Erwartungswert der
Einkünfte ab, die die Unternehmung verspricht, anderer-
seits vom tatsächlichen Betriebsergebnis, das in Form von
Besucherzahlen, Auflagenhöhen, dem Echo in der Presse
und gewonnenen Auszeichnungen kund wird. Der Erwar-
tungswert hängt seinerseits vom Betriebsergebnis ab,
rechnet dieses aber nicht umstandslos hoch. Wie an der
Aktienbörse spielen Insidertips, die allgemeine Stimmung
im Marktsegment und die wahrnehmbaren Avancen poten-
ter Investoren eine Rolle. Das ganze Geschäft ist hoch
spekulativ. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Spekulationen
deshalb aufgehen, weil ihre Prophezeiungen sich selbst
erfüllen, denn auch das Betriebsergebnis kann davon ab-
hängen, in welchem Umfang und mit welcher Zuversicht
investiert wird. Allerdings wäre es engstirnig, anzuneh-
men, das ganze Geschäft sei deshalb schon unsolid. Auf
längere Frist neigen die Windfalleffekte zum Ausgleich.
Auch wenn es stimmt, daß die Claque schon mancher Kar-
riere auf die Sprünge geholfen hat, und daß ein Verriß
bisweilen mehr als nur Strohfeuer löscht, so ist das Rang-
system, das aus dem Wabern emporsteigt, doch keines-
wegs zufällig.
Der Gang an die Börse

Das System kulturellen Rangs spielt sich ein durch den


Börsengang des Renommees. Der Kulturbetrieb ist ein
Kapitalmarkt der Beachtlichkeit. An ihm wird deutlich,
was es heißt, daß das Spiel um den Selbstwert zu einem
Gesellschaftsspiel im eigentlichen Sinne des Wortes wird.
Es bedeutet zunächst einmal, daß es auf gesamtgesell-
schaftlicher, nämlich auf der Ebene der Öffentlichkeit ge-
spielt wird. Der Abstimmungskreis der persönlichen Be-
kanntschaft wird unmaßgeblich. Entsprechend tritt die
persönliche Wertschätzung hinter sachliche Gesichtspunk-
te und hinter die Gesetzlichkeit eines spekulativen Mark-
tes zurück. Das Ergebnis der Abstimmung wird im gesell-
schaftlichen Sinne objektiv. Das System kulturellen Rangs
hat die Objektivität eines Systems von Marktpreisen, an
denen einzelne mit besonderer Position zwar rütteln kön-
nen, das im Grundsatz aber für alle verbindlich ist.
Die Ausweitung des Spiels um den Selbstwert zu einem
allgemeinen Gesellschaftsspiel ist Voraussetzung nicht nur
für die öffentliche Wirksamkeit der persönlichen Produk-
tion, sondern auch dafür, daß wirklicher Reichtum an Be-
achtung entsteht. Niemand wird zum Börsengang ge-
zwungen. Es muß aber nicht der gesellschaftliche, es kann
auch der Ehrgeiz in der Sache sein, der zu diesem Gang
rät. Der Gang in die Öffentlichkeit hat nun aber immer
auch persönliche Konsequenzen. Er bedeutet den Rückzug
– wenn nicht gar Ausbruch – aus einem lokalen Abstim-
mungskreis über das Ansehen. Das Spiel wird in einem
anderen Sinne ernst, als es bis dahin war. Es zählen von
nun an weniger die zwischenmenschlichen Gefühle als
sachliche Kriterien und die soziale Geschicklichkeit. Mit-
menschliche Emotionalität und ökonomische Rationalität
verabschieden sich voneinander. Gefühle können zwar
wieder ins Spiel kommen, aber erst auf höherer Stufe. Sie
gelten dann nicht mehr dem Menschen wie dir und mir,
sondern einem Idol oder einem öffentlichen Ärgernis.
Den außerordentlichen Chancen, die die Vergesellschaf-
tung des Spiels um den Selbstwert birgt, stehen Risiken
gegenüber. Der Kurswert des persönlichen Kapitals an
Beachtlichkeit kann hoch steigen, aber auch tief fallen.
Und es sind nicht immer persönlicher Verdienst oder per-
sönliches Verschulden, die den Ausschlag geben. Es gibt
die Launen des Publikums und es tun sich neue Dimensio-
nen des falschen Spiels auf. An den Launen des Publikums
hängt fortan das Selbstgefühl. Das Parkett der Öffentlich-
keit ist glatt. Es ist glatt nicht nur, weil Neider auf den
Plan ruft, wer sich exponiert. Es ist glatt auch, weil das
Echo des Publikums in einem so weitläufigen Netz indi-
rekter Transaktionen besteht. Je weiter und indirekter der
Beachtungstausch, um so leichter kommt es zu Formen
der Selbstverstärkung des Geredes. Wer in aller Munde ist,
ist auch allen möglichen Formen der Verdächtigung, des
Hochjubelns, Heruntermachens, Kolportierens und Intri-
gierens ausgesetzt.
Der Kulturbetrieb ist nur ein Ausschnitt aus dem System
der Kapitalmärkte der Beachtlichkeit. Er zeigt aber para-
digmatisch, wie ein allgemeiner Zusammenhang das In-
nerste der Beteiligten verbindet. Das System kulturellen
Rangs ist auch eines des persönlichen Reichtums an Be-
achtung. Auch wenn es denen, die sich zum Gang in die
Öffentlichkeit entschließen, nicht nur und nicht vorrangig
um das Selbstwertgefühl geht, hängt ihre Selbstwertschät-
zung fortan vom Kurswert ihres persönlichen Kapitals ab.
Der Zusammenhang ihres Wirkens tritt ihnen als fremde
Macht gegenüber, obwohl sich auch dieser Zusammen-
hang nichts anderem als dem Zusammenwirken einzelner
verdankt. Das System kulturellen Rangs ist ein Lehrbei-
spiel für die Repräsentanz eines gesellschaftlich Allge-
meinen im persönlich Besonderen.
Auch die neue Dimension der Risiken, die mit der Gene-
ralisierung des Spiels um den Selbstwert verbunden sind,
werden am Kulturbetrieb in beispielhafter Weise deutlich.
Es sind die Risiken, die mit der Funktion ungeschützter
Spekulationsmärkte verbunden sind. Gegen die Fehlspeku-
lation ist man nirgends geschützt. Die Abstimmung auf
unüberschaubaren Märkten birgt nun aber auch das gene-
relle Risiko der unlauteren Absprache bis hin zur regel-
rechten Korruption. Die Abstimmung wird zur Lotterie,
wo das Spielen unter der Hand den insgesamt größeren
Gewinn verspricht. Auch und gerade der Markt der kultu-
rellen Beachtlichkeit funktioniert nur so gut, wie die Ge-
wissenhaftigkeit es den Beteiligten von innen und wie die
Konkurrenz es ihnen von außen her nahelegen. Das Aus-
wahlverfahren kulturellen Rangs degeneriert, wenn sich
Verkauf und öffentliche Kritik absprechen, wenn es zum
Kurzschluß zwischen Werbung und Publizistik kommt.
Der Kulturbetrieb funktioniert nur so gut wie die Tren-
nung zwischen Kultur und Kommerz; die Preisbildung der
Beachtlichkeit ist nur so vertrauenswürdig wie das Berufs-
ethos von Kritikern und Kritisierten; die Selbstorganisati-
on ist zuträglich nur in Symbiose mit einem wachsamen
Publikum. Damit die Kultur blüht, muß der ganze Biotop
in Ordnung sein. Wird dieser Biotop gestört, sind immer
noch beachtliche Einzelleistungen möglich. Es werden
dann aber Talente vergeudet, das Niveau sinkt, Erschei-
nungsformen des kulturellen Niedergangs machen sich
breit.
Zu diesem Niedergang gehört die moralische Entwer-
tung der öffentlichen Notierung für die Selbstwertschät-
zung der Inhaber des beachtlichen Kapitals. Eine kulturel-
le ist deshalb immer auch eine persönliche und moralische
Krise. Zugleich wird deutlich, welch enorme Bedeutung
dem abstimmungstechnischen Funktionieren der einschlä-
gigen Märkte zukommt. Es liegt an den Mängeln des Ab-
stimmungsprozesses, wenn die Beteiligten im Resultat der
Abstimmung ihre Ziele nicht mehr wiedererkennen. Ab-
stimmungen sind zwar nicht dazu da, die Wünsche aller
Beteiligten zu befriedigen. Wo abgestimmt wird, gibt es
auch Überstimmte. Es macht aber einen großen Unter-
schied, ob man das Gefühl hat, in einem fairen Spiel zu
unterliegen, oder ob man sich des Eindrucks nicht erweh-
ren kann, daß das System verrückt spielt. Um Vertrauen in
die Notierung kulturellen Rangs zu bewahren, ist es nicht
nötig, die herrschende Meinung zu teilen. Worauf es aber
ankommt, ist das Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit
und in die Fairneß des Verfahrens. Um dieses Vertrauen
zu wahren, muß man die Abstimmung für sachbezogen
und nachvollziehbar halten können. Es muß der Verdacht
abgewehrt bleiben, daß andere als die anerkannten Kriteri-
en und andere Gründe als die offiziellen Argumente zäh-
len. Es muß der Eindruck vorherrschen, daß das Verdienst
und nicht das Gefälligkeitsurteil zählt. Das System ver-
trägt ein gerütteltes Maß an Abweichungen vom idealtypi-
schen Funktionieren eines Markts; es ist robust. Es gibt
aber eine Schwelle, von der an das System beginnt, sicht-
bar zu degenerieren: Die natürliche Autorität kapitalisier-
ter Beachtung schwindet; das Renommee des Kulturbe-
triebs als solches leidet; die Aufrechten beginnen, zwi-
schen Resignation und Rebellion zu schwanken.

Abstimmung und Widerspruch

Das Gesellschaftsspiel um den Selbstwert ist eine harte


Sache. Es verursacht auch im besten Fall seines Funktio-
nierens gravierende soziale Kosten. Es führt nämlich dazu,
daß ein System sozialer Klassen neben und unabhängig
von dem der herkömmlichen Einkommensklassen entsteht.
Wo Kapitalmärkte der Beachtlichkeit fungieren, gibt es
die Klasse der ausgesprochen Reichen, die Prominenz; es
gibt die Klasse der Wohlhabenden als der Schicht, die
Reputation und gehobenes Prestige genießt; es gibt den
Mittelstand, wo Prestige und Ruf das soziale Ansehen
gleichermaßen bestimmen; es gibt eine Unterschicht, de-
ren Merkmal es ist, daß sie beim Prestige leer ausgeht; und
es gibt ein Proletariat, das nichts mehr zu verlieren hat als
seine Unscheinbarkeit.
Interessanterweise regt sich nun aber kaum Widerstand
gegen das Kapitalverhältnis, solange keine unsauberen
Machenschaften unterstellt werden. Es scheint ganz und
gar vom Vertrauen in das Abstimmungsverfahren abzu-
hängen, ob sich die Beteiligten mit dem Resultat ihrer Ab-
stimmung identifizieren können. Wird das Verfahren als
fair empfunden, dann macht es den einzelnen offensicht-
lich keine Schwierigkeiten, das kollektive Ergebnis auch
dann anzuerkennen, wenn sie nicht zu den Gewinnern
zählen. Die Duldungsbereitschaft ist hier sogar außeror-
dentlich. Die Menschen nehmen selbst die krassesten Un-
gleichheiten in Einkommen beziehungsweise Reichtum an
Beachtung in Kauf, wenn sie nur Verdienst und nicht Ma-
chenschaft dahinter vermuten. Obwohl es leicht wäre, ei-
nen ausbeuterischen Charakter der Kapitalisierung zu de-
nunzieren, scheinen die Nettozahler Gefallen daran zu
finden, die Prominenz zu finanzieren. Gewiß, es gibt den
Neid auf die Großverdiener, und es äußert sich Mißgunst,
wenn einzelne Kurswerte zu hoch gejubelt werden. Das
Murren bleibt aber vereinzelt, der Protest folgenlos, wenn
das anonyme Marktgeschehen und nicht persönliche Pro-
tektion den Kurs bestimmt. Was am ungeschützten Markt
sich durchsetzt, scheint ausersehen, auch von den indivi-
duellen Werthaltungen breiten Besitz zu ergreifen.
Was nun aber, wenn es zu viele werden, die in der eta-
blierten Ordnung des Renommees ihre individuellen Ziele
nicht wiedererkennen? Was, wenn das Vertrauen in die
Machart der offiziell notierten Kurswerte auf breiter Front
einbricht? Was, wenn die Machenschaften eben doch zu
fadenscheinig und ausbeuterische Züge unübersehbar
werden?
Wer hofft, daß die soziale Ungleichheit dann den Wider-
stand gegen das System hervorrufe, wird enttäuscht. Der
mentale Kapitalismus ist nichts für Klassenkämpfer. Er ist
ein einziges Ärgernis für Revolutionäre. In seinem Reich
gibt es den organisierten Kampf ums Renommee, es
kommen auch Formen der Rebellion gegen die offizielle
Notierung der Kurswerte vor. Es kommt aber zu keinem
Zusammenschluß der Habenichtse zum Zweck der Macht-
übernahme. Selbst krasseste Unterschiede und offensicht-
liche Manipulation treiben die zu kurz Gekommenen nicht
in Fundamentalopposition. Von einer Sammelbewegung
des Proletariats, das sich aufmachte, die versteinerten
Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, ist nichts zu merken.
Der mentale Kapitalismus scheint als Form des Aufstands
nur die Palastrevolution zu kennen. Diejenigen, die aufbe-
gehren, sind selbst vom gesellschaftlichen Ehrgeiz getrie-
ben. Die Verschwörer sind wild entschlossene Aufsteiger.
Die Parteiungen innerhalb des Unternehmertums sind es,
die einander die Kämpfe liefern.
Wieder läßt sich die Eigenheit beispielhaft am Kulturbe-
trieb studieren. Die typische Folge des Vertrauensverlusts
in die offizielle Notierung kulturellen Rangs sind Sezessi-
onserscheinungen. Sezessionen sind Abspaltungen vom
kulturellen Hauptstrom mit dem Anspruch, diesem den
Rang streitig zu machen. Sie haben nichts mit der Erhe-
bung ausgebeuteter Massen gegen ausbeuterische Cliquen
zu tun, sie sind selber eine Bereicherung des Cliquenwe-
sens. Sie verbreiten im günstigen Fall das Angebot an kul-
turellen Szenen, sie fördern im schlechteren Fall die Ver-
einsmeierei. Ihr Nährboden sind die Machtspiele des Ein-
und Ausschlusses, ihr Element ist die Gruppenbildung
zum Zweck der Abwehr heterogener Gruppenmeinungen.
Die Chance, die der Sezessionismus birgt, liegt im wach-
senden Pluralismus des Kulturbetriebs; die Gefahr, die er
mit sich bringt, ist der Rückfall in den Provinzialismus
einander bekämpfender Kleingruppen. Wir sind, anders
gesagt, bei der kulturellen Entsprechung zu den lokalen
Märkten des Ansehens angelangt.
Die lokalen Märkte des Ansehens bieten denen eine
Chance, die von der offiziellen Notierung an den Börsen
des Prestiges, der Reputation usw. übergangen werden.
Auch der Schutz, den eingeschworene Bekanntenkreise
vor der Maßgeblichkeit heterogener Gruppenmeinungen
bieten, ist organisiert. Auch das Ansehen, das der kleine
Kreis verleiht, neigt zum Anspruch, die eigentlichen Wer-
te hochzuhalten. Hier wie dort ist das Einigeln der Zirkel
die Folge und der Nährboden eines Syndikatwesens, in
dem zum Zug kommt, wer die Machtspiele des Ein- und
Ausschließens besser beherrscht als den Konkurrenzkampf
auf dem anonymen Markt. Allerdings ist der Rückzug in
den kleineren Maßstab nun die einzige Alternative zum
Mitmischen bei der entwickelten Konkurrenz. Die Wahl
ist ausgesprochen eng. Die Gesellschaft – beziehungswei-
se unser eigener Anspruch an die Gesellschaft – hat uns
hart im Griff. Es gibt kein Auskommen. Nicht einmal uto-
pische Träume versprechen Linderung. Fragt man nach
der anarchistischen Alternative, dann stößt man auf bloße
Eigenbrötlerei; fragt man nach einer planwirtschaftlichen,
dann taucht sofort die Fratze des Großen Bruders auf. Al-
lenfalls die Regression hinter den Protektionismus zurück
zu traditionalen, durch Brauchtum, Herrschaft und Sitte
bestimmten Wertordnungen scheint auf gewisse Gemüter
Reiz auszuüben. Gegen solche Starre dürfte die schmale
Bewegungsfreiheit zwischen geschützter und offener
Konkurrenz nun aber doch einen entscheidenden Gewinn
darstellen.
Immerhin ist der frische Wind des ungeschützten Markts
die Rettung für alle, die den Muff in den Wagenburgen
nicht ertragen und den Binnendruck der Abschottung nicht
mehr aushalten. Immerhin bleibt jenen, denen dieser Wind
doch zu scharf ins Gesicht bläst, der Rückzug in den
Schutz der überschaubaren Bezugsgruppe. Der Mangel an
grundsätzlichen Alternativen zeigt sich aber noch darin,
daß der Gegensatz zwischen dem Kapitalmarkt und den
kleinen Märkten so tief nicht ist. Erstens sind die Über-
gänge gleitend, zweitens bestehen Alternativen nur, was
die Weite der Geltung und die Größenordnung des Ein-
kommens betrifft. Weder sind sie Alternativen, was die
Teilnahme am Tauschgeschehen betrifft, noch sind sie
grundverschieden, was das Maß ihrer Rationalität und was
ihre moralische Qualität anbelangt. Man kann zwar wirk-
lich reich an Beachtung nur werden, wenn man sich der
Abstimmung auf dem Kapitalmarkt der Beachtlichkeit
stellt. Man kann es aber auch zu respektablem Einkommen
bringen, wenn man sich in der überschaubaren Gruppe gut
schlägt. Zudem schließen der Anspruch, in der Öffentlich-
keit zu glänzen, und der Wunsch, im engeren Kreis Anse-
hen zu genießen, einander nicht aus. Vielmehr entlastet die
Koexistenz der Ebenen vom Zwang zur eindeutigen Ent-
scheidung für die eine oder andere. Auf beiden Ebenen
kann der Einklang zwischen der kollektiven Wertordnung
und der individuellen Werthaltung Lebensträume erfüllen,
auf beiden Ebenen kann der Konnex zwischen dem gel-
tenden Wertsystem und dem eigenen Werturteil denn auch
zerbrechen. Der Ausbruch aus der geschützten Enge kann
für ein Lebensglück so wichtig werden wie die Zuflucht in
die geschützte Nische. Wie in rationaler, so ist schließlich
auch in moralischer Hinsicht die eine nicht der anderen
Ebene überlegen. Auf beiden Ebenen sind die komparati-
ven Gefühle in ihrem Element, hier wie dort betreibt die
Politik der sauren Trauben das Geschäft der alltäglichen
Bosheit. Die Verfehlungen auf der beachtlichen Ebene
sind zwar spektakulärer. Daß sie als Skandale gehandelt
werden, heißt aber nicht, daß es im großen Geschäft ver-
ruchter zugehe als im kleinen. Mit der Größe des Ge-
schäfts wachsen gewiß auch die Verlockungen zum fal-
schen Spiel, im Halbschatten des kleinen Geschäfts ließ
sich aber von vornherein besser munkeln.
Wenn die untere der oberen Ebene nicht einmal mora-
lisch überlegen ist, ist der mentale Kapitalismus dann
überhaupt eine kritische Kategorie? Ist seine Art der Kapi-
talisierung vielleicht um ein Grundsätzliches sauberer und
legitimer als die beim Geld? Ist der pejorative Unterton,
der im Begriff des mentalen Kapitalismus mitschwingt,
am Ende sogar verfehlt? Eine Antwort wäre, in welchem
Sinn auch immer, an dieser Stelle verfrüht. Wir sind noch
nicht bei der Industrialisierung und den eigentlichen Groß-
formen des Geschäfts mit der Aufmerksamkeit angelangt.
Die Vorstellungswelt der Beispiele hat sich bisher in einer
Art vorindustrieller Idylle bewegt. Die Wissenschaft und
der Kulturbetrieb sind kleine, in sich geschlossene Mu-
sterökonomien. Der Handel wird hier noch im wesentli-
chen durch handwerkliche Publikationsmedien vermittelt.
Die Technologien der Vermittlung sind Versammlungs-
stätte und Buchdruck. Auf dieser Stufe der technischen
Entwicklung war sogar der materielle Kapitalismus noch
harmlos. Um diesem in Augenhöhe seiner Hochform ge-
genüberzutreten, gilt es nun, zu den Verhältnissen aufzu-
schließen, in denen der Gewinn an Beachtung mit dersel-
ben Professionalität und technischen Raffinesse betrieben
wird wie der Geldgewinn.

Vom Publikations- zum Massenmedium

Beachtungs- und Geldgewinn reichen einander beim Mas-


sengeschäft mit der Aufmerksamkeit die Hand. Das ei-
gentliche Massengeschäft mit der Aufmerksamkeit ist das
der Massenmedien. Mit dem Aufkommen der Massenme-
dien bricht die industrielle Ära des mentalen Kapitalismus
an. Dieser blieb und bleibt – vorindustriell, wo die Publi-
kationstechniken noch handwerklich und der rentierliche
Reichtum an Beachtung noch eine elitäre Angelegenheit
ist. Das Geschäft mit der Aufmerksamkeit hatte seine
frühindustrielle Phase in der Periode der analogen Infor-
mations- und Kommunikationstechniken. Mit Presse,
Rundfunk und Tonfilm kamen erstmals die für die Geburt
von Stars kritischen Mengen anonym gespendeter Auf-
merksamkeit zusammen. Der Starkult machte den Anfang
der Massenphänomene in der immateriellen Ökonomie.
Das Geschäft der Attraktion wurde in dieser frühen Phase
professionalisiert, die gezielte Jagd auf die Aufmerksam-
keit des allgemeinen Publikums entwickelte sich mit der
Werbung zur eigenen Industrie. Die hochindustrielle Pha-
se hielt Einzug mit dem Fernsehen. Erst mit dem Fernse-
hen beginnt die zweite, eigens zur Attraktion von Auf-
merksamkeit herausgebrachte Schauseite der Wirklichkeit
der ersten, unvermittelt angeschauten, Konkurrenz zu ma-
chen. Erst hier wird der überwiegende Teil der frei ver-
fügbaren, nämlich konsumierenden Aufmerksamkeit
durch die Medien geschleust; erst hier beginnt sich abzu-
zeichnen, daß das Einkommen an Aufmerksamkeit wich-
tiger werden könnte als das Geldeinkommen.
Was die Medien groß gemacht hat, war allerdings mehr
als die technische Reproduktion von Wort, Ton und Bild.
Was die Massenmedien über das traditionelle Veranstal-
tungs- und Publikationswesen hinauswachsen ließ, war
auch mehr als die rasant steigende Nachfrage nach Unter-
haltung und Information. Was aus Publikationsmedien
Massenmedien gemacht hat, das war die Geschäftsidee,
dem Publikum Information anzubieten, um an seine Auf-
merksamkeit zu kommen. Unter dieser Geschäftsidee
wurden die technischen Möglichkeiten der Reproduktion
und Multiplikation von Information erst zum Mittel, das
die Märkte der Beachtung bis an die Grenzen der über-
haupt bestehenden beziehungsweise verführbaren Zah-
lungsbereitschaft erschloß. Diese Expansion wäre den
Medien als bloßen Verschiebeplätzen von Information
nicht gelungen. Dazu mußten sie sich zu Kanalsystemen
entwickeln, die die Erlebnissphären bei der Versorgung
mit Information anzapfen, um Aufmerksamkeit aus ihnen
herauszuholen.
Damit den Veröffentlichungsmedien alten Stils der
Durchbruch zum Massenmedium gelang, bedurfte es einer
Umstellung in der Geschäftsgrundlage. Wie es Veranstal-
ter und Verleger schon immer taten, bieten die Medien
denen, die in ihnen auftreten, ein Forum. Die Medien ge-
ben in entsprechender Weise Vorschuß und fungieren wie
jene als Kreditgeber. Sie warten allerdings nicht darauf,
daß ihnen jemand anbietet, was sie präsentieren können,
sondern nehmen die Produktion der zu präsentierenden
Inhalte selbst in die Hand. Wohl arbeiten auch unabhängi-
ge Künstler und Autoren, um Beachtung zu finden. Sie
verquicken ihr Streben nach Beachtung aber eng mit dem
nach Selbstverwirklichung. Mit dem, was gut für die
Selbstverwirklichung ist, bringt man indessen selten
Massen auf die Beine. Massen bringt man zuverlässig nur
dann auf die Beine, wenn man sehr genau beachtet, was
das breite Publikum lesen, sehen, hören will. Will man die
Attraktion im großen Maßstab betreiben, dann muß gezielt
die Sensationslust bedient, dann müssen eigens Blickfänge
hergerichtet, dann müssen bewußt Ohrwürmer ausgesetzt
werden.
Ein Massenmedium darf nicht heikel in der Wahl der
Mittel sein, mit denen es Aufmerksamkeit einfängt. Den
unabhängigen Produzenten, die für den Lohn der Auf-
merksamkeit arbeiten, bleibt nichts anderes übrig, als hier
heikel zu sein. Als persönliches Einkommen – und so für
den Selbstwert – zählt nur die Aufmerksamkeit, die man
für etwas einnimmt, womit man sich persönlich identifi-
ziert. Diese persönliche Identifikation, diese Fixierung auf
den Selbstwert muß gelockert werden, wenn das Medium
selber groß herauskommen soll. Gewiß, auch zur Produk-
tion für den ermittelten Geschmack bedarf es kreativer
Geister. Es bedarf aber solcher, die bereit sind zum Dienst
an einer fremden Sache. Diese Bereitschaft kann nicht
wieder mit Aufmerksamkeit, sondern muß mit Geld ange-
sprochen werden.
Der Kompromiß verdient denn auch sein Geld. Von den
Gagen der Unterhaltungsindustrie läßt sich’s leben. Auch
der Journalismus ernährt seine Leute. Vor allem, und das
ist der Trick an der Mischkalkulation, läßt sich auch die
Beachtung, die man im Showgeschäft und in der Publizi-
stik verdienen kann, sehen. Nur steht in diesen Branchen
die eingenommene Aufmerksamkeit in klarer Proportion
zum Geldeinkommen. Und die Aufmerksamkeit, die das
Auftreten in Film, Funk, Fernsehen und Presse verschafft,
gilt zunächst einmal dem Medium als Institution bezie-
hungsweise Marke. Das Renommee der Institution ist
nicht mehr nur notwendige Nebenbedingung für den dau-
erhaften Erfolg. Die Marktpräsenz der Marke wird zum
eigentlichen Zweck der Veranstaltung. Das Medium kann
gar nicht genug Aufmerksamkeit absorbieren. Es muß das
breite Publikum an den regelmäßigen Konsum gewöhnen.
Die Zeitung muß gelesen werden, weil es die Zeitung gibt;
es muß ferngesehen werden, weil es das Fernsehen gibt.
Man kann es noch schärfer formulieren: Die Blätter und
die Bildschirme müssen soziale Wirklichkeit werden; sie
müssen der unvermittelten Sicht der Wirklichkeit Konkur-
renz machen; sie müssen sich eine feste Haushaltsstelle in
den Budgets der Aufmerksamkeit erobern. Das tun sie nur,
wenn das Medium zuverlässig bringt, was den Leuten ge-
fällt.
Wenn das Angebot den Geschmack trifft und wenn ge-
nügend Geld und Aufmerksamkeit darauf verwendet wer-
den, die Leute bei der Stange zu halten, dann wächst dem
Medium eine neue Qualität auch für diejenigen zu, die in
ihm auftreten. Es lockt dann nicht mehr nur das Geld.
Vielmehr wird das Medium dann zur Großbank, die die
Millionenkredite an Beachtlichkeit vergibt. Wenn alles
fernsieht, dann bedeutet die Chance, im Fernsehen aufzu-
treten, mehr, als ein Forum angeboten zu bekommen. Sie
bedeutet, in jede Wohnstube eingelassen zu werden, um
den Obolus an gespendeter Aufmerksamkeit abzuholen.
Das Fernsehen erlaubt, die Präsentation der Person tech-
nisch so zu multiplizieren, daß sie mit kalkuliertem Mas-
seneffekt an die Frau beziehungsweise an den Mann ge-
bracht wird. Der Auftritt im Fernsehen bedeutet die Chan-
ce, mit einem Schlag reich an Beachtung zu werden. Gesi-
cherte Auflagenhöhen und Einschaltquoten schöpfen einen
Fundus an erwartbarer Aufmerksamkeit, der alle her-
kömmlichen Größenordnungen sprengt. Deshalb drängt
alles, was von höheren Formen des gesellschaftlichen
Ehrgeizes getrieben ist, ins Fernsehen.
Von der Suggestivität des Abholdiensts, den das Fernse-
hen organisiert, lebt inzwischen eine ganze Klasse neuen
Reichtums. Es ist die Klasse derer, die es mit dem Startka-
pital zur Prominenz gebracht haben. Von der Suggestivität
des Abholdiensts lebt das Fernsehen auch selbst. Es lebt
davon sowohl als Institution beziehungsweise Marke, die
bei der direkten Attraktion mitverdient, wie auch als Bank
und Börse. Gesicherte Auflagenhöhen und Einschaltquo-
ten schöpfen einen Fundus an erwartbarer Aufmerksam-
keit, über den die Anbieter frei verfügen. Die Kontrolle
über die Kanäle schließt die Fähigkeit ein, die Kurswerte
der persönlichen Kapitale zu notieren. Man kann es noch
schärfer ausdrücken: Die offizielle Notierung des Kurs-
werts eines persönlichen Kapitals ist die Präsenz der Per-
son in den Medien. Die Auflagenhöhen und Einschaltquo-
ten belegen schwarz auf weiß das Beachtungseinkommen
der präsentierten Personen. Die mediale Präsenz der Per-
son selber, nach Dauer und Präsentationsfläche gerechnet,
mißt die Investition, die das Medium einsetzt. Der Umfang
dieses Einsatzes drückt den Erwartungswert der attrahie-
renden Kraft der Persönlichkeit für das Medium aus. Das
Verhältnis dieses Erwartungswerts zum Erfolg der Attrak-
tion ist ökonomisch kein anderes als das zwischen Aktien-
kurs und Betriebsergebnis. Und weil es nun zunächst die-
ser Erwartungswert ist, der die publizierte Präsenz der
Person bestimmt, sind die Medien selber nicht nur der
Umschlagplatz für das Massengeschäft mit der Aufmerk-
samkeit, sondern zugleich die Börse, an der die persönli-
chen Kapitale bewertet werden. Umgekehrt geht es im
Gerangel um einen Platz in den Medien, nie nur um den
erklecklichen unmittelbaren Gewinn an Beachtung, son-
dern stets auch um die Pflege des Kurswertes der eigenen
Aufmerksamkeit. Die Pflege ihres Kurswerts ist die
höchstentwickelte Form der Arbeit am Tauschwert der
eigenen Aufmerksamkeit.
Die Produktion der Prominenz

Die Medien haben es fertiggebracht, den härtesten Brok-


ken der ehemaligen Luxusgüter zu popularisieren: die
Prominenz. Prominent zu sein stellt eine durchaus distin-
guierende Eigenschaft dar. Anders als materieller Reich-
tum schien Prominenz eigentlich kein Massenphänomen
werden zu können. Und doch: Noch nie gab es so viel
Prominenz wie heute; noch nie gab es einen solchen
Rummel um die bekannten Gesichter. Prominent ist nicht
mehr nur, wer unterwegs ist zur Spitze des Ruhms und der
Macht; es bedarf nicht mehr der hohen Geburt, der genia-
len Leistung oder der großen Tat. Prominent wird man
heute durch standardisierte Karrieren. Am Anfang steht
nicht mehr und nicht weniger, als irgendwie in die Medien
zu finden. Weil es zunächst auf die Präsenz in den Medien
ankommt, sollte der Auftritt am besten mit Bild und am
allerbesten im Fernsehen erfolgen. Die Karriere nimmt
ihre erste Hürde, wenn der Eindruck beim Publikum
kommentiert, wenn der Auftritt besprochen wird. Hier
beginnt der Mechanismus des Förderbands zu greifen, das
den Aufstieg besorgen muß, wenn er denn klappen soll.
Der Neuzugang muß sich eben für das Medium selbst aus-
zahlen; er muß versprechen, sich günstig auf Auflagenhö-
hen und Einschaltquoten auszuwirken.
Auflagenhöhen und Einschaltquoten messen zunächst
einmal die Aufmerksamkeit, die das Medium als solches
einnimmt. Sie messen auch seinen finanziellen Erfolg; und
schon das finanzielle Motiv könnte hinreichen, um die
Prominenz all dessen, was die Attraktivität des Mediums
steigert, huckepack zu fördern. Man verpaßt aber die Poin-
te, wenn man den Blick auf die pekuniäre Seite be-
schränkt. Der finanzielle Erfolg hängt seinerseits von der
Verkäuflichkeit des Mediums als Werbefläche ab. Das
Angebot an Werbefläche ist das Angebot, Aufmerksam-
keit qua Dienstleistung anzuziehen. Es ist die Leistungsfä-
higkeit dieses Diensts, die in Auflagenhöhen und Ein-
schaltquoten gemessen wird. Deswegen kommt die einge-
nommene Aufmerksamkeit auch für das Medium selber
vor dem finanziellen Erfolg; deshalb wird alles, was für
die Beachtung des Mediums gut ist, in ihm gefördert, he-
rausgebracht und gepflegt. Alles, was in den Medien ge-
fördert, herausgebracht und gepflegt wird, ist eo ipso pro-
minent.
Und siehe da: Was ist für die Aufmerksamkeitseinkünfte
des Mediums das beste? Ganz einfach: möglichst viel
Prominenz. Nichts sehen die Leute lieber als Gesichter,
die im Hochglanz der Publicity strahlen. Kein Mittel ist
zur Steigerung der Auflage probater als möglichst viel
Klatsch aus der Welt der Stars. Nichts treibt die Einschalt-
quoten so in die Höhe wie der Starrummel selbst. Deshalb
gehen schon seriöse Feuilletons dazu über, Klatschspalten
einzuführen; deshalb ist es selbst in der Boulevardpresse
eine Meldung wert, wenn meistzitierte Wissenschaftler
ermittelt werden; deshalb sind aber auch die Fernsehstun-
den, in denen die ganze Familie guckt, mit Prominenz nur
so gespickt. Deshalb müssen schließlich Primadonnen für
das Produkt A und Fußballkaiser für das Produkt B wer-
ben – und gelten Fernseh- und Verlagsprogramme ohne
bekannte Gesichter schon wieder als elitär.
Nirgends zeigt sich so deutlich, was es mit der Kapitali-
sierung akkumulierter Aufmerksamkeit auf sich hat, wie
an dem Gewinn, den die Medien aus der Prominenz schla-
gen. Nirgends wird schlagender bewiesen, daß nichts so
sehr von einer Person einnimmt wie das Wissen, daß sie
selber unglaublich viel Aufmerksamkeit einnimmt. Die
Aufmerksamkeit, die die Medien umsetzen, läßt keinen
Zweifel daran, daß nichts die Zahlungsbereitschaft des
Publikums mehr anspricht als der zur Schau gestellte
Reichtum an Beachtung. Kein Fetisch, der die Werbeflä-
che mit höherer Attraktivität laden könnte als die bekann-
ten Gesichter. Die Medien müßten die Prominenz erfin-
den, wenn es sie nicht schon gäbe; sie müßten die Kandi-
daten aus dem Boden stampfen, wenn sie nicht ohnehin
vor der Tür drängelten. Wie man Geldkapital in Massen
braucht, um das Geldverdienen als Massengeschäft zu
betreiben, so benötigt man Prominente in Massen, wenn
man die Attraktion von Aufmerksamkeit als Massenge-
schäft betreiben will. Die Lösung des Rätsels von der
wunderbaren Vermehrung der Prominenz liegt in der Ka-
pazität der Medien, die kritischen Mengen für dieses Mas-
sengeschäft einzusammeln und abzuliefern.
In dieser Kapazität liegt die Lösung auch des spiegel-
bildlichen Rätsels: Wie konnten sich die Massenmedien
trotz ihrer Abhängigkeit vom Geld zur höchsten Stufe des
mentalen Kapitalismus entwickeln? Anders als die Wis-
senschaft und der ältere Kulturbetrieb sind die Medien
keine hochsubventionierte Branche. Keine Sphäre der
Aufmerksamkeitsökonomie kommt aber ohne Finanzquel-
le aus. Die Unternehmen der Beachtlichkeit können sich
von der Geldökonomie nur auf dem einen Weg emanzipie-
ren, daß sie sich aus den Zwängen des finanziellen Ver-
kaufs ihrer Produktion befreien. Sie können Autonomie
erlangen, indem sie Geldquellen erschließen, die ohne
Mitspracherechte heteronomer Interessen fließen. Die
Wissenschaft hat sich diese Autonomie errungen, der Kul-
turbetrieb nur halb. Die Hauptquelle der Finanzierung sind
bei der Wissenschaft Steuern, der Kulturbetrieb finanziert
sich zum Teil aus Subventionen, zum Teil aus dem Erlös
des direkten Verkaufs der Produktion. Die Massenmedien
machen sich durch die Finanzierung aus Werbeeinnahmen
frei vom finanziellen Verkauf der Information, die sie auf
Blickfang schicken. Das Zentralinstitut des mentalen Ka-
pitalismus, das private Fernsehen, finanziert sich nur noch
durch den Verkauf der Dienstleistung, Aufmerksamkeit
für Beliebiges einzufangen.
Die Anbieter dieser Dienstleistung verfügen dann frei
über die Aufmerksamkeit, die sie durch diese Finanzie-
rung vermittelt einfangen. Sie sind frei zu entscheiden, wie
die massenhaft angezogene Aufmerksamkeit verwendet
wird, für welche Zwecke sie ausgegeben und – vor allem –
an wen sie weitergeliehen wird. Die Anbieter können ent-
scheiden, wieviel des kostbaren Guts gleich wieder für
Werbung verheizt und wieviel in die Rekrutierung und
Ausbildung von Prominenten investiert wird. Sie verfügen
frei über das gesellschaftlich höchstbewertete Gut. Sie
können mit Prominenz adeln, wie einst erfolgreiche Ero-
berer durch die Überlassung von Lehen in den Adelsstand
erheben konnten. Sie sind die Königsmacher der postin-
dustriellen Gesellschaft. Niemand, der es zu Macht und
Bedeutung bringen möchte, kommt um die Medien noch
herum. Und wie einst Kaiser und Könige, so können die
Anbieter von Sendezeit heute ihre Macht auch noch aus-
bauen, indem sie die belohnten Gefolgsleute auf weitere
Eroberungszüge für das Medium schicken.

Der Kapitalismus im Geist

Wir haben den mentalen Kapitalismus auf einer Entwick-


lungsstufe hier vor uns, die der industriellen Hochform des
Geldkapitalismus nicht mehr nachsteht. Wir sehen, daß
sich im kulturellen Überbau eine Ökonomie herausgebil-
det hat, die die materielle Basis nicht einfach widerspie-
gelt, sondern wiederholt. Wie das Geldkapital einmal die
hergebrachten Ordnungen des materiellen Reichtums um-
wälzte, so wälzt der mediale Kapitalismus heute die her-
gebrachten Ordnungen des Renommees um. Wie die große
Industrie einst ins Zentrum der gesellschaftlichen Macht
rückte, so haben inzwischen die Massenmedien diese Stel-
lung erobert. Schade, daß die alte Widerspiegelungstheorie
so mausetot ist, daß sich niemand mehr über diese unver-
hoffte Bestätigung freuen kann.
Allerdings würden sich die alten Kämpen gleich zwei-
mal die Augen reiben. Nicht nur, daß der geistige Überbau
die materielle Basis bis in Detail wiederholt, der Überbau
verselbständigt sich auch noch von der Basis und macht
ihr sogar den Platz streitig. Nach der Marxschen Lehre ist
der geistige Überbau nur ein unselbständiger Reflex der
materiellen Verhältnisse. Die Lehre beansprucht, die idea-
listische Weltsicht vom Kopf auf die Beine gestellt zu
haben. Was machen die Verhältnisse aber? Sie stehen von
sich aus kopf. Die ideelle Ökonomie ist dabei, die Führung
zu übernehmen. Nicht nur, daß die Wertschöpfung der
geistigen Arbeit die der körperlichen in allen entwickelten
Volkswirtschaften bei weitem überrundet hat; nicht nur,
daß das Einkommen an Beachtung dabei ist, dem Geld-
einkommen den Rang abzulaufen; auch das Zentrum der
gesellschaftlichen Macht ist im Umzug begriffen. An den
Medien führt kein Weg mehr vorbei. Längst kann sich der
Einfluß, der von der Hochfinanz des mentalen Kapitalis-
mus ausgeht, an der Macht messen, die die Hochfinanz
des materiellen Kapitalismus noch ausübt.
Damit stellt sich die Frage nach dem ausbeuterischen
Charakter des mentalen Kapitalismus neu. Die Aufmerk-
samkeit, die die Medien einsammeln und umverteilen, ist
einseitig vom lesenden beziehungsweise zuschauenden
Volk gespendet. Das Volk zahlt in Aufmerksamkeit dafür,
daß die Anbieter herausfinden, was ihm gefällt. Das Ver-
hältnis der Aufmerksamkeit, das die Anbieter ihrerseits
aufwenden, zu derjenigen, die sie dafür einnehmen, ist
kraß asymmetrisch. Die Anbieter streuen Information
durch technische Reproduktion, die Abnehmer entrichten
für jede Kopie lebendige Aufmerksamkeit. Nur durch die-
se Asymmetrie kommt überhaupt die Masse der gespende-
ten Aufmerksamkeit zusammen, die den Reiz des Medi-
ums für die darin Auftretenden ausmacht und die es den
Medien erlaubt, eine ganze Klasse von Prominenten zu
ernähren.
Zwangsläufige Folge dieses asymmetrischen Tauschs ist
die soziale Umverteilung der Einkommen an Aufmerk-
samkeit. Die Medien machen eine kleine Schicht reicher
und beuten die breite Masse aus. Nicht, daß der Tausch
von Information gegen Aufmerksamkeit von vornherein
unfair wäre. Wenn der Tausch aber zum großen Geschäft,
wenn die Dienstleistung der Attraktion im industriellen
Maßstab betrieben wird, dann verschärft sich unwillkür-
lich das soziale Gefälle zwischen den an Beachtung Rei-
chen und Armen. Der Einfluß, den die Medien auf das
alltägliche Erleben der Massen nehmen, geht über die In-
halte und Gesichter, die sie promovieren, hinaus. Der Ein-
fluß, der jede Programmgestaltung bestimmt und nach
dessen Pfeife alle tanzen, ist die Selbstverstärkung der
Beachtlichkeit. Dem, der hat, dem wird gegeben: Wer
reich an Beachtung ist, wird allein deswegen reicher; wer
arm an Beachtung ist, ist schon deshalb arm an Chancen.
Es ist das Prinzip der Kapitalisierung in seiner reinsten
Form, das die gesellschaftliche Beachtung im großen Stil
und mit unerbittlicher Effektivität von Arm nach Reich
umverteilt.
Dennoch ist von klassenkämpferischen Aufrufen und so-
zialen Unruhen nichts zu hören. Obwohl der Mangel an
Zuwendung so schmerzlich sein kann wie materielle Not,
gibt es offenbar keinen Grund, gegen die mediale Ausbeu-
tung Widerstand zu organisieren. Vielmehr scheint’s dem
Volk zu gefallen. Endlich gibt es nicht nur Brot, sondern
auch Spiele im Überfluß. Gewiß, es sind da die krassesten
Gegensätze zwischen dem, was die auf dem Schirm und
wir hier davor an Zuwendung beziehen. Das Medium ver-
größert aber nicht nur die Unterschiede, es neutralisiert sie
auch. Es leitet die einwendenden und vorbehaltlichen Ge-
fühle von den Personen ab und auf sich als das Medium
um. Irgendwie geschieht es, daß wir Interesse, Sympathie
und Faszination den auftretenden Personen entgegenbrin-
gen, daß wir Ablehnung, Einspruch und Empörung aber
gegen das Medium erheben. Anstatt uns über das Mißver-
hältnis zwischen der Prominenz der Person und der Sub-
stanz ihrer Präsentation zu ärgern, finden wir das Fernse-
hen öd. Die Objektivität des Mediums ist von solcher
Übermacht über den zwischenmenschlichen Vergleich,
daß es geradezu lächerlich erschiene, mit Gefühlen wie
Neid oder Eifersucht auf die ungerechtfertigte Verteilung
der Aufmerksamkeit zu reagieren. Mit den Medien wird
die überpersönliche Regel der Verteilung zu einem so gut
wie vollkommen anonymen Mechanismus, in den alle
gleichermaßen eingespannt sind, und dessen Rechnungs-
wesen stillschweigend die Effektivität eines automatisier-
ten Zahlungssystems annimmt Karl Marx könnte nun aber
in einem anderen Sinn recht behalten. Er sprach nicht nur
vom ausbeuterischen Charakter der kapitalistischen Ver-
hältnisse, er sprach auch davon, daß alle bedeutenden Er-
eignisse in der Geschichte zweimal passieren, Das erste
Mal kommen sie als Tragödie, das zweite Mal als Komö-
die vor. Der Kapitalismus des Geldes war eine Tragödie
Der Kapitalismus der Aufmerksamkeit trägt zweifellos
närrische Züge. Nur gehört es zur Komödie, daß die Nar-
retei sehr ernst genommen wird.
Fünftes Kapitel

Attraktivität als Stil der Zeit

Der Kopfstand der Ökonomie läßt die Seele nicht unge-


rührt. Das intensive Verlangen, eine Rolle im anderen See-
lenleben zu spielen, findet sich ganz neuen Möglichkeiten
der Verwirklichung gegenüber. Noch nie lockten so breite
Wege zu einem größeren Publikum, noch nie standen dem
Geltungsdrang so vielversprechende Karrieren offen.
Noch nie durfte sich die Eitelkeit so in ihrem Element füh-
len, noch nie feierte der Kult um die Attraktivität ver-
gleichbare Feste, noch nie ließ sich der Tauschwert, den
die eigene Aufmerksamkeit in den Augen der anderen hat,
auf so geschäftsmäßige Weise maximieren. Es wäre ein
Wunder, wenn diese Erweiterung des Optionsraums, wenn
dieser Schwall an Zumutungen keine Wirkung auf das
Fühlen und Streben der Menschen hätte. Die kapitalisti-
sche Durchrationalisierung und die industrielle Organisa-
tion des Geschäfts mit der Aufmerksamkeit sollte sich
auch und gerade diesseits der professionell veranstalteten
Oberfläche bemerkbar machen. Es sollte ein Wandel des
allgemeinen Geschmacks, es sollten Verschiebungen in
den gewöhnlichen Relevanzordnungen, es sollte ein Stil-
wandel der Kultur als ganzer feststellbar sein.

Hohe und populäre Kultur

Im Kapitalismus der Beachtlichkeit werden die Grenzen


zwischen Kultur und Kommerz neu gezogen. Der alte Ge-
gensatz von Kultur und Ökonomie wird obsolet. Der einst
ausgrenzende Gegensatz polarisiert die Kultur inzwischen
selbst. Die Kultur differenziert sich schärfer als je zuvor in
eine hohe und eine populäre Sparte. Allerdings bedeutet
diese Differenzierung nicht, daß eine scharfe Grenze her-
vorträte. Charakteristisch ist vielmehr, daß die Übergänge
gleitend und die Gegensätze relativ werden. Gleichzeitig
wächst der Abstand zwischen den Extremen. Die Kultur
ist uneinheitlicher denn je zuvor, nicht nur, was den Plura-
lismus der Stile und die Vielfalt der Richtungen betrifft.
Sie wird auch immer heterogener im Hinblick auf den
Anspruch.
Es ist nach wie vor der Anspruch, der die hohe von der
populären Kultur unterscheidet. Nur: Welcher ist der An-
spruch eigentlich? Hoch hinaus wollen alle, die sich zur
Kultur berufen fühlen. Auch ist es keine Frage des guten
oder schlechten Geschmacks, in welchem Fach man tätig
ist. Schließlich kann es nicht an der Intention der Schaf-
fenden liegen, ob hohe oder populäre Kultur heraus-
kommt. In der Kultur zählt, wie in der Ökonomie, das Er-
gebnis. Der höchste Anspruch nützt nichts, wenn ihn die
Rezeption nicht aufnimmt.
Ist es die spürbare Rolle des Geldmotivs, das die Sparten
trennt? Für dieses Unterscheidungskriterium könnten
gleich drei Gründe sprechen. Erstens ist das Gewicht des
Geldmotivs ein kontinuierliches Maß; es würde den glei-
tenden Gegensätzen und relativen Unterschieden gerecht.
Zweitens wird nach gängiger Auffassung die hohe Kultur
um ihrer selbst willen, die populäre hingegen für den Ver-
kauf produziert. Drittens ist die Massenkultur das, was die
Massenmedien herausbringen. Im Unterschied zum klassi-
schen Kulturbetrieb bedienen die Massenmedien die
kommerziellen Interessen völlig ungeniert.
Dennoch wäre es eigenartig, wenn gerade das Geldmotiv
den Aussschlag gäbe. Gerade in den Massenmedien rückt
das Geschäft mit der Beachtung in den Vordergrund. Wie
im herkömmlichen Kulturbetrieb, so geht auch in den
Massenmedien die Kalkulation in Aufmerksamkeit der
finanziellen voraus. Zudem stimmt es nicht, daß die hohe
Kultur die Sparte ist, in der generell wenig, und das popu-
läre Fach dasjenige ist, womit generell viel Geld gemacht
wird. Nicht nur, daß das hohe Fach hier entschieden nach-
gezogen hat, auch die Formen des kommerziellen Mana-
gements gleichen sich immer mehr an. Wenn sich der Un-
terschied zwischen den Sparten hält, dann sollte das tren-
nende Maß auf der Seite der eingefahrenen Beachtung
gesucht werden. Weil nicht behauptet werden kann, daß
das hohe Fach nur mäßige Beachtung findet und das popu-
läre immer massenhafte, muß der Unterschied hier freilich
in etwas anderem bestehen als in der bloßen Quantität.
Die Rezeptionsseite ist nicht einfach das Publikum. Zu
ihr gehören auch die Fachleute und Mitproduzenten. Zu
ihr gehören ferner – oder vielleicht eher zunächst – die
Veranstalter, Verleger, Aussteller und Intendanten, die erst
einmal herausbringen müssen, was das Publikum errei-
chen soll. Innerhalb dieser Fachwelt beschäftigt man sich
mit der Produktion, den Dispositionen und Urteilen der
Kollegen beziehungsweise Konkurrenten ähnlich wie im
Wissenschaftsbetrieb. Um für kompetent zu gelten, muß
man zunächst einmal in der Szene Anerkennung finden.
Umgekehrt haben es alle, die in der Fachwelt für kompe-
tent gelten, zu einem gewissen Vermögen an Beachtlich-
keit gebracht. In diesem Vermögen ist nicht einfach Be-
achtung, sondern Beachtung, gewichtet nach Kompetenz
beziehungsweise Reputation der jeweils beachtenden Per-
son, akkumuliert. In die Beachtung, die zählt, ist Beach-
tung, die zählt, verschachtelt. Wenn es ein Unterschied auf
der Seite der rezipierenden Aufmerksamkeit ist, der die
Sparten trennt, dann ist es das Profil dieser Verschachte-
lung.
Kompetent in der Herstellung und Verbreitung populärer
Kultur ist, wer direkte Publikumserfolge vorweisen oder
glaubhaft versprechen kann. Kompetent im hohen Fach ist
nur, wer Anerkennung seitens derer findet, die ihrerseits
für kompetent gelten. Auch diese Anerkennung geht letzt-
lich auf die Aufmerksamkeit des Publikums zurück. Die
Publikumserfolge, die die Kompetenz in der hohen Kultur
begründen, liegen im Durchschnitt aber sehr viel weiter
zurück. Die Verschachtelung stellt eine Erbfolge über vie-
le Generationen dar. Das Durchschnittsalter der Beach-
tung, die die aktuelle Kompetenz begründet, ist im hohen
Fach hoch, im populären gering. Die populäre Kultur ist
ein Genre des Neubeginns, nicht der Auseinandersetzung
mit der Tradition.
Das Aller des Kapitals, das die Reputation begründet,
darf nicht verwechselt werden mit dem Alter des Kapitals,
das die überlieferten Werke darstellen. Die überlieferten
Werke sind geistiges Kapital im Sinne verfügbaren Wis-
sens. Sie stellen als solche noch kein beachtliches Kapital
im Sinne des Renommees dar. Sie werden zu einem Kapi-
tal dieser Art auch nicht dadurch, daß sie als Bildung an-
geeignet werden. Angeeignete Bildung ist Humankapital,
nicht schon Renommee. Auch Humankapital stellt kapita-
lisierte Aufmerksamkeit dar, jedoch Aufmerksamkeit, die
die zuwendende Person in die (Aus-) Bildung ihrer eige-
nen Aufmerksamkeit investiert. Das Renommee ist die
Kapitalisierungsform der von anderer Seite eingenomme-
nen Aufmerksamkeit. Die überlieferten Werke der Kultur
haben Renommee nicht, weil so viel Aufmerksamkeit in
ihre Produktion und in die Bildung ihrer Rezipienten ge-
flossen wäre, sondern weil sie so viel Beachtung bereits
gefunden haben und immer noch finden.
Das Renommee, das Werke der hohen Kultur genießen,
muß keineswegs höher sein als das von Schöpfungen der
populären. Der kennzeichnende Unterschied liegt im Zeit-
profil der Entstehung des Renommees. Dieses Profil ist im
populären Fach charakteristisch flacher. Weil die zeitliche
Tiefendimension weniger entwickelt ist, zählt im populä-
ren Fach der Publikumserfolg ohne Wenn und Aber. Hier
gibt keine Kaste von Kulturpäpsten und Hohenpriestern
den Ton an, die ihre Weihe von Vorgängern empfangen
haben, die ihrerseits von Vorgängern gesegnet waren usw.
Die populäre Kultur ist gerade nicht nur im historischen
Alter ihrer Existenz, sondern auch in diesem spezifischen
Sinne des Alters ihrer Beachtlichkeit jung. Dieser spezifi-
sche Altersunterschied und keine ungleich höhere Qualität
unterscheidet das hohe Fach vom populären. Auch dann,
wenn die Klassizität der hohen Kultur eine Qualität aus
eigenem Recht darstellen sollte, zählt sie nur als anerkann-
te. Die Kraft, die hinter der Weihe der Hohenpriester
steckt, ist keine höhere Macht, sondern letztlich nur wie-
derum die Zahlungsbereitschaft des Publikums. Dieses
macht nun aber einen Unterschied zwischen altem und
neuem Reichtum. Es räumt dem alten einen Vorrang ein.
Es läßt zwar mit sich reden, es hört nicht nur auf die Ho-
henpriester. Der Markt aber fordert einen Ausgleich. Er
fordert einen Zuschlag im quantitativen Umfang, wenn der
neue Reichtum so viel gelten soll wie der alte. Dieser Zu-
schlag hat die klassische Form eines Verzinsungsfaktors.
Verzinsung ist Umrechnung von Alter in Menge und um-
gekehrt. Der Ausgleich kommt zustande, ohne daß ihn
jemand festsetzen oder bewußt manipulieren würde. Der
Zins hat seinerseits die klassische Form eines Marktprei-
ses. Es ist ein Marktzins, um den die früher eingenomme-
ne Beachtung mehr zählt als die aktuelle. Der Anteil an
verzinster Beachtlichkeit in der maßgeblichen Beachtung
ist der kontinuierliche Faktor, der den Unterschied zwi-
schen populärer und hoher Kultur macht.
Weil sie von diesem immateriellen Zinsguthaben zehren,
müssen sich die Kulturpäpste, die ihre Autorität im Volk
nicht verspielen wollen, bei kommerziellen Verlockungen
zurückhalten. Sie dürfen sich zumindest nicht ertappen
lassen, wenn sie Dinge für geldwerte Gegenleistungen in
den Tempel schleusen. Sie müssen das Bemerkenswerte
hochhalten und dürfen sich nicht zu tief dem Gefälligen
neigen. Dies nicht, weil das Volk das Gefällige verachten
würde, sondern weil es etwas hochgehalten sehen möchte,
wofür die Anstrengung des Lesens, Hörens, Begreifens
lohnt. Man will wissen, was die Eingeweihten ohne Ne-
bengedanken respektieren. Man will es wissen auch und
gerade, wenn das eigene Verständnis noch nicht soweit ist.
Wehe also den Gurus, wenn sie sich allzu offensichtlich
für Silberlinge beugen. Sie desavouieren damit nicht nur
sich selbst, sondern auch die Sache. Deshalb passen die
Leute auch innerhalb der Zunft so scharf aufeinander auf.
Deshalb ist die Konkurrenz der Fachleute untereinander
unabdingbar für das Funktionieren des Kulturbetriebs.
Deshalb ist es nun umgekehrt aber auch wieder natür-
lich, daß die kommerziellen Interessen zum populären
Fach leichteren Zugang haben. Die größere Rolle des Gel-
des ist selber eine Folge der kleineren des Alters der Be-
achtlichkeit. Wo nur der momentane Publikumserfolg
zählt, lassen sich die kommerziellen Interessen sowohl
leichter einbauen wie auch leichter einspannen. Für das
Geschäft der Massenattraktion braucht man kreative Gei-
ster, die ihr Talent für Geld einbringen. Über Generationen
gepflegter Feinsinn würde hier mehr stören als nützen.
Also ist die größere Nähe der populären Kultur zum Geld
kein zusätzliches Unterscheidungskriterium, sondern ei-
nes, das im zeitlichen eingeschlossen ist.
Aura und Idol

Ist es nun aber speziell das Alter des beachtlichen Kapi-


tals, das die Sparten trennt? Ist es nicht einfach das Ge-
wicht der Tradition, das den Unterschied macht? Tatsäch-
lich könnte sich dem Blick auf das Alter des Kapitals die-
ser Eindruck aufdrängen. Es sind ja das beachtliche und
das geistige Kapital gleichermaßen, die im hohen Fach
spezifisch älter sind als im populären. Wozu also die Dif-
ferenzierung zwischen beachtlichem und geistigem Kapi-
tal?
Der Grund ist einfach. Wenn es nur das summarische
Gewicht der Tradition wäre, das die Sparten scheidet,
dann müßte ein Museum für Avantgarde-Kunst dem popu-
lären Fach zugerechnet werden. Die Avantgarde war die
entschiedenste Abkehr von der Tradition. Avantgardistisch
ist aber fast gleichlautend unpopulär. Es ist sogar ihre Tra-
ditionsfeindlichkeit, die für die anhaltende Unpopularität
der Avantgarde-Kunst sorgt. An ihr zeigt sich, daß das
summarische Gewicht der Tradition nicht hinreicht, um
den Unterschied zwischen hoher und populärer Kultur zu
erklären.
Es ist nun aber das Kennzeichen des Avantgardismus,
daß er das geistige Kapital der Überlieferung schmäht, die
Beachtung hingegen, die alten Reichtum an Beachtung
verkörpert, sucht. Er spricht zum heikelsten Kunstvers-
tand, reagiert am empfindlichsten auf Inflationierungser-
scheinungen. Er verschmäht das Alte nicht als Herge-
brachtes, sondern als Verbrauchtes. Er reagiert am schärf-
sten auf die Trivialisierung, die das Massengeschäft
zwangsläufig betreibt. Er stellt die Art und Weise dar, wie
der Kulturbetrieb alten Stils auf das Entstehen der Mas-
senmedien reagiert. Wenn seine Zeit inzwischen vorüber
ist, dann nicht, weil der trivialisierende Effekt des Mas-
sengeschäfts nachließe, sondern weil das Entlarven der
Trivialisierung selbst inflationär geworden ist.
Die hohe Kultur ist nicht die altehrwürdige, sondern die
mit dem höheren Anteil an Beachtlichkeit in der Beach-
tung, die ihr zuteil wird. Auch ihre Affinität zum Klassi-
schen liegt nicht am höheren Durchschnittsalter ihres gei-
stigen Kapitals. Klassisch ist nicht das Altere als solches,
klassisch wird das in die Jahre Gekommene, das der Tri-
vialisierung widersteht, obwohl es sich auf breiter Front
durchgesetzt hat. Klassisch wird, was sich trotz des
schwindenden Seltenheitswerts hält. Es ist seine Wider-
standskraft gegen die Inflationierung, die das Klassische
vom Originellen unterscheidet. Deshalb sind die Erschei-
nungsformen des Klassischen auch keineswegs auf das
hohe Fach beschränkt. Die Evergreens aller Sparten haben
etwas Klassisches. Aber sie haben das Klassische genau
deswegen, weil man sich an ihnen nicht so leicht satt liest,
sieht, hört.
Auf diesem indirekten Weg hat das Klassische nun doch
mit dem Altehrwürdigen zu tun. Daß man es immer wie-
der lesen, sehen, hören kann, ist die eine Seite. Die andere
ist die, daß es immer wieder gelesen, gesehen, gehört
wird. Es findet Beachtung, und die Beachtung, die es fin-
det, wird registriert. Es wird beachtlich auf seine Weise.
Es wird eben auch beachtet, weil es noch immer so viel
Beachtung findet. So nimmt das geistige Kapital auch sei-
nerseits die Kapitalform der Beachtlichkeit an. Und diese
hybride Attraktivität hat nun beim Kunstwerk einen be-
sonderen Namen. Sie wird die Aura des Kunstwerks ge-
nannt. Das auratische Kunstwerk erstrahlt im Glanz, das
ihm das Wissen um all die Beachtung verleiht, die es
schon auf sich gezogen hat. Als Aura des Kunstwerks ver-
ehren wir die Anziehungskraft, die es auf die Aufmerk-
samkeit all der anderen Menschen ausübt – und zwar da-
durch ausübt, daß wir alle zusammen um die tatsächlich
von unzähligen Seiten dargebrachte Aufmerksamkeit wis-
sen.
Warum nehmen nur Kunstwerke diese Aura an? Warum
wird wissenschaftliches Kapital nicht auratisch? Einer der
Gründe ist, daß wissenschaftliche Theorien eine spezifisch
begrenzte Lebensdauer haben. Sie werden als Stand des
Wissens, das sie verkörpern, nicht alt. Ihre Halbwertszeit
ist kurz und wird immer kürzer. Nicht durch Trivialisie-
rung, sondern ganz einfach durch den Erkenntnisfortschritt
wird das geistige Kapital in der Wissenschaft entwertet. Es
gibt alte – und es gibt auch altehrwürdige – Theorien. Sie
repräsentieren in aller Regel aber schon länger nicht mehr
den Stand des Wissens. Sie finden didaktische, pädagogi-
sche und historiographische Beachtung. Dabei zählen auch
ästhetische Qualitäten wie Eleganz und Geschlossenheit.
Allerdings sind diese Qualitäten aus der Sicht des Er-
kenntnisfortschritts sekundär. Sekundäre Qualitäten setzen
keine Aura an.
Der wohl wichtigere Grund dafür, daß Theorien keine
Aura ansetzen, liegt nun aber in ihrem Nutzwert. Theorien
werden aus anderen Gründen als dem interesselosen
Wohlgefallen beachtet. Nur die in interesselosem Wohlge-
fallen hingegebene Beachtung hat die Kraft der Weihe. Es
ist wie bei der Aufmerksamkeit, die wir persönlich ein-
nehmen. Nur jene hat höheren Wert, die dem Gefallen an
unserer Person entspringt. Die Beachtung, die uns aus
sachlichen Gründen oder aus Zwecken zuteil wird, die uns
nur mittelbar betreffen, wertet nicht auf. Weil das Kunst-
werk als solches keinen anderen Zwecken dient, kann sei-
ne Attraktivität auratische Qualität annehmen.
Daß die auratische Qualität diese Machart hat, mußte für
die Macher im großen Geschäft mit der Attraktivität zur
Herausforderung werden. Wer Massen auf die Beine brin-
gen will, kann kaum umhin, auf Mittel und Wege zum
Beschwören der magischen Kraft des Wissens um die all-
gemeine Aufmerksamkeit zu sinnen. Es wäre doch zu
dumm, wenn nur das Warten aufs Gelingen eines autono-
men Kunstwerks bliebe. Immerhin klappt der Trick ja bei
der Produktion der Prominenz. Wäre es nicht gelacht,
wenn die geballte Kraft der kulturindustriellen Produkti-
onsmittel es nicht auch im künstlerischen Fach vermöchte,
die Prophezeiung, daß alle schauen, in die Selbsterfüllung
zu treiben? – Tatsächlich, der Kraftakt gelingt. Es gibt die
gezielte Produktion des Glanzes, der im Wissen um seine
Unwiderstehlichkeit erstrahlt. Es ist der Glanz des Stars,
es ist die Machart des Idols.
Der Star ist das verkörperte Versprechen, daß aller Au-
gen auf ihn gerichtet sind. Sein Glanz ist derjenige, in den
das Wissen, daß alle schauen, taucht. Er ist keine Eigen-
schaft der Person, sondern wird von der Gemeinde der
Schauenden verliehen. Es ist aber ein Glanz, dem sonst
nichts Irdisches gleicht. Er verklärt im buchstäblichen
Sinne. Er entrückt, macht zum Idol. Er ist das höchste Gut
des Kultes um die Attraktivität der Person. Und er ist
gleichwohl eine technische Errungenschaft der mediati-
sierten Präsentation. Ein Star erstrahlt im Glanz von sehr
viel mehr Aufmerksamkeit, als über die Straße oder aus
dem Saal bezogen werden könnte. Er strahlt im Glanz der
Aufmerksamkeit, die eine Unzahl technischer Reproduk-
tionen auf sich zieht. Erst die Techniken der Reproduktion
lassen ihn überall aufgehen. Nicht umsonst ist die Urform
und der Inbegriff des Stars der Filmstar. Das Kino war das
erste Medium, das die zeitliche Ausführlichkeit attrahie-
render Darstellung mit der räumlich globalen Präsenz ver-
bunden hat. Mit Schallplatte und Radio rückte der Popstar
dem Filmstar auf die Fersen. Inzwischen sind die Models
vom Laufsteg nachgerückt.
Die kulturindustrielle Erfindung des Stars war ein derart
schlagender Erfolg, daß sie alsbald auch in der hohen Kul-
tur Nachahmung fand. Inzwischen müssen auch Operndi-
ven, Klaviervirtuosen, Erfolgsautoren und Kometen der
Kunstszene nach dem Muster des Stars aufgebaut werden.
Alles, was im Veranstaltungs-, Verlags- und Ausstel-
lungswesen auch alten Stils groß herauskommen soll, muß
durch massenmediale Großoffensiven in den Starhimmel
geschossen werden. Das Starwesen wird sogar zum Genre
der hohen Kultur. Ganz konsequent steht am Ende der Pop
Art der bildende Künstler als Popstar.

Die Kultur der Attraktivität

Mit der Geburt des Stars war ein neues Zeitalter angebro-
chen: das Zeitalter der Herstellung persönlicher Attraktivi-
tät im industriellen Maßstab. Die Kultur als Ganzes stellte
sich um. Kultureller Konsum ersetzte die Pflege von Tra-
dition und Brauchtum. Die Volkskunst starb, die Medien
der technisch reproduzierbaren Kultur wurden populär.
Kultureller Konsum meint nun aber mehr als nur den Kauf
reproduzierter Kultur. Kultureller Konsum meint auch,
daß man mit Aufmerksamkeit für industriell hergestellte
Ware bezahlt.
Der Starkult baut auf eine ausgetüftelte Ökonomie des
Nehmens und Gebens. Erste Bedingung seiner Möglich-
keit ist ein funktionierendes Sammelsystem für die zur
Herstellung der Aura unabdingbare Aufmerksamkeit. Stars
sind nicht nur fürs, sondern auch vom großen Publikum
gemacht. Das große Publikum spendet aber Aufmerksam-
keit nur, wenn es geboten bekommt, was es sehen und
hören will. Herauszufinden, was das große Publikum erle-
ben will, ist alles andere als einfach. Es fordert systemati-
sche Anstrengung, großen Einfallsreichtum und hohe
Kreativität. Es müssen die verbreitetsten der geheimen
Herzenswünsche erraten, es müssen Kandidaten ermittelt
und aufgebaut werden, die das Versprechen glaubhaft ver-
körpern, einmal im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerk-
samkeit zu stehen. Der Aufwand, der hier getrieben wer-
den muß, beschäftigt eine – zu Recht denn auch so ge-
nannte – Industrie.
Selbstverständlich gibt es hier Erfolgsrezepte. Was das
Publikum auch und gerade im Zeitalter des Starkults inter-
essiert, ist zunächst einmal die Attraktivität der eigenen
Person. Stars werden nicht – jedenfalls nicht nur – ange-
himmelt, weil die Leute Lust am Anhimmeln hätten, son-
dern weil sie sehen und lernen möchten, wie man es
macht, zu glänzen. Idole werden nicht aus Versehen zu
Vorbildern. Sie werden Vorbilder, indem sie vormachen,
wie man die Blicke auf sich zieht. Es ist naiv zu glauben,
die populäre Kultur sei bloß Unterhaltung. Ihr Publikum
will sehr wohl gebildet werden – nur eben nicht im Sinne
der alten Bildungskultur. Man will auf direktem Weg mit-
bekommen, wie man es macht, mit der eigenen Person
groß oder eben etwas größer – herauszukommen.
Nur dann, wenn sie den Wunschtraum der vielen nach
mehr eigenem Glanz bedienen, können die Stars im popu-
lären Fach glänzen. Deshalb sind sie nicht unter anderem,
sondern wesentlich und in jedem Fall taste leaders. Ein
Star, der nicht vormacht, wie man sich gibt und aufmacht,
womit man sich umgibt und in Szene setzt, was man anhat
und draufhat, kann keiner werden. Als taste leaders sind
sie die Volkserzieher in der Kultur der Auffälligkeit. Weil
zum aufsehenerregenden Auftritt stets die richtige Aufma-
chung gehört, bezieht sich tasteleadership immer auch auf
den Konsum an Mitteln zur Selbstdarstellung. Die Anlei-
tung zur Arbeit an der eigenen Attraktivität besteht vor
allem anderen in der Unterweisung zur Anschaffung der
Dinge, mit denen man sich umgibt, herrichtet und anzieht.
Wenn sich der Kreis zwischen dem Starkult und dem Kult
um die Attraktivität der eigenen Person schließt, dann hat
sich auch der Kreis zwischen Massenkultur und ostentati-
vem Konsum geschlossen. Wir haben dann nicht nur mit
einer geschlossenen Alltagskultur der Attraktivität, son-
dern auch damit zu tun, daß jenes neue Unternehmertum
des Selbstwerts zu der stilbildenden Kraft geworden ist,
die den verschiedenen Sparten der Kultur und der plurali-
stischen Richtungsvielfalt innerhalb der Sparten einen
einheitlichen Zeitstil aufdrückt.
Der permanente Kampf um die Aufmerksamkeit hat fil-
ternde, ja direkt gestaltende Kraft. Er macht allem das
Leben schwer, was nicht das richtige Image hat. Nicht nur,
was zum Anschauen und Herzeigen gemacht ist, alles, was
produziert und verkauft werden soll, muß sich in der
künstlich entfachten Reizflut halten. Die Flut steigt um so
höher, je mehr Dinge auftauchen, die sich darin halten. Sie
besteht schließlich in nichts anderem als Dingen, die er-
folgreich nach Aufmerksamkeit haschen. So hat sie eine
gleichsam natürliche Tendenz, sich selbst zu verstärken. Je
höher indessen die Flut steigt, um so stärker müssen die
Dinge einander überschreien. Es ist wie im Bierzelt. Wenn
alle schon laut reden, muß man auch selber brüllen, um
noch gehört zu werden.
Diese Tendenz zur Selbstverstärkung der Reizflut prägt
unseren Zeitstil nicht minder, als es einst Brauchtum,
Herrscherwunsch und der Kanon des Gottgeweihten taten.
Sie verfügt, daß nur mehr mitreden kann, was gegen das
Getöse ankommt. Sie begünstigt eine auftrumpfende
Ephemerität und verfügt eine immer weiter fortschreitende
Verkürzung der Halbwertszeit des noch Aktuellen. Sie
bedeutet zwar nicht, daß nur mehr ankommt, was sich
aufführt. Sie hat aber bereits zur Folge, daß wir in einer
Umgebung leben, die uns einerseits nicht in Ruhe läßt, die
wir andererseits aber immer schon bald nicht mehr sehen
können. Sie unterstützt als Stilmittel am Ende auch noch
die Ruhe, die ausdrücklich gelassen wird. Dieses Stilmittel
ist aber eines der ausnehmenden Weise. Der Hauptstrom
ist das immer Neue, immer noch Aufregendere, immer
noch näher am Rand zur Nerverei Tanzende.
Ein Zeitstil, den der Kampf um die Aufmerksamkeit der-
art formt, muß ein inniges Verhältnis zur Erotik haben.
Neben dem Neuen zählen nun einmal die Formen des an-
deren oder, je nach dem, eigenen – Geschlechts zu den
stärksten Blickfängen. Deshalb, und keineswegs nur, weil
es die Chancen von Liebesabenteuern steigert, ist es so
prima, sexy zu sein. Der Kult um die Attraktivität der ei-
genen Person kann nicht umhin, diesen Reiz zu kultivie-
ren. Er kennt kein schöneres Lebensgefühl als das des
wandelnden Blickfangs.
Konsequent, wie sie betrieben wird, macht die Stilisie-
rung der körperlichen Attraktivität beim Anziehen und
Ausstaffieren nicht halt. Der Körper selber wird geformt
und gestylt. Nicht nur werden Fitneßcenter und Solarium
zu üblichen Bildungsstätten gesunden Aussehens, auch
das Bodybuilding und spätere Lifting werden immer übli-
cher für beiderlei Geschlecht. Das Ideal des jugendlichen
Aussehens geht über die unverbrauchte Frische und sport-
liche Figur hinaus. Es ist auch und zuerst ein Ideal eroti-
scher Attraktivität. Der Körper soll nicht nur zeigen, wie
tüchtig er im sportlichen, sondern auch wie leistungsfähig
er im aufreizenden Sinne ist. Was dahintersteckt, ist gera-
de mehr als nur Gesundheitsvorsorge und Körperertüchti-
gung. Ziel ist ein Körperideal, wie es die Medien pausen-
los vorführen, weil es sich im Kampf um die Aufmerk-
samkeit des großen Publikums bewährt.
Attraktivität als Realitätsprinzip

Das Angebot der Medien wächst und wächst. Was mit


diesem Wachstum zunimmt, ist mehr als der Beitrag der
publikumsorientierten Branchen zum Sozialprodukt und
ihr Umsatz an Aufmerksamkeit. Die Expansion betrifft die
zur Attraktion von Aufmerksamkeit eigens herausgegebe-
ne Seite der Wirklichkeit. Es ist nicht mehr auszuschlie-
ßen, daß die aus Blättern und Bildschirmen gezogene
Wirklichkeit die unvermittelt angeschaute schon domi-
niert. Ein maßgeblicher Teil der sozial wahrgenommenen
Wirklichkeit ist im höchsten Maße synthetisch, nämlich
für den Einsatz im Kampf um Beachtung eigens herge-
stellt. Diese Machart wird weder verleugnet noch ver-
drängt. Die Leute wissen um den präformierten und fiktiv
durchsetzten Teil dessen, was ihnen die Medien vorsetzen.
Es ist nur naiv zu glauben, Fakt und Fiktion seien so ein-
fach voneinander zu scheiden.
Wirklich ist für uns aufmerksame Wesen, was unsere
Aufmerksamkeit bei sich hält. Das heißt nicht, daß wirk-
lich für uns alles ist, was wir uns vorstellen und woran wir
denken. Wir sind sehr wohl in der Lage, zwischen Wahr-
nehmung, Erinnerung und Vorstellung zu unterscheiden.
Wir sind nur nicht so leicht in der Lage, die Erinnerung als
wirkliches Geschehen und die Vorstellung als reale Macht
abzustellen. Jeder Verliebte weiß um die Eigenmächtigkeit
des Vorstellungsgeschehens, jeder Eifersüchtige um die
Unentrinnbarkeit von Erinnerungsbildern. Diese phäno-
menale Schicht ist es, worin die mediale Jagd nach Auf-
merksamkeit wildert.
Es gibt nichts Wirklicheres als Bilder, die nicht mehr aus
dem Sinn gehen. Nichts hat größere Macht über uns als
das, was aufmerksame Zuwendung erzwingt. Alles, wor-
auf wir unwillkürlich achten, hat unwillkürlich Wirkung
auf uns. Und alles, was unsere Aufmerksamkeit reizt, ist in
einem höheren Grade wirklich als der Hintergrund. Wohl
ist da wenig in den Medien, was nicht mehr aus dem Sinn
ginge. Zum Glück herrscht auch kein Zwang zur Beach-
tung. Es gibt aber genügend, was anzieht, was der Be-
quemlichkeit entgegenkommt, was nebenbei so leicht mit-
zunehmen ist. Und alles, in dem sich die Aufmerksamkeit
verfängt, ist zunächst einmal im subjektiven Sinne wirk-
lich.
Der Zwang, ein großes Publikum anzusprechen, ja gar
ein ganzes Fernsehvolk am Schirm zu halten, prägt und
formt. Alles, was in den Medien erscheint, muß durch ei-
nen hoch professionellen Formungs- und hochselektiven
Prüfungsprozeß hindurch. Mit diesem Prozeß entsteht eine
neue Machart der Realität, durchaus vergleichbar derjeni-
gen die einst mit den Fabriken entstanden war. Gewiß, der
neue Prozeß produziert nur Schein. Aber Schein und Sub-
stanz unterscheiden sich nicht darin, daß man letztere an-
fassen kann. Wir haben uns durch lange Gewohnheit dar-
auf eingelassen, die haptisch feste, im allgemein wahr-
nehmbaren Sinn öffentliche Welt als die eigentliche Wirk-
lichkeit anzusehen, die Welt der übertragenen Bilder und
publizierten Ansichten hingegen als phantomhafte
Scheinwelt. Wir übersehen zu oft, daß nicht das die unmit-
telbare Wirklichkeit ist, was wir als Ansammlung von
faßlich festen Dingen wahrnehmen, sondern das, was die
Aufmerksamkeit aus den Reizen macht, die unsere Emp-
findsamkeit anregen. Alles, was jenseits dieser elementa-
ren Schicht der Merksamkeit zutage kommt, ist immer
schon ausgewählt und unter Zutun geformt.
Diese Auswahl und dieses Zutun gelten als subjektiver
Anteil an der Wirklichkeitskonstitution. Sie verlieren spä-
testens dann aber ihren bloß subjektiven Charakter, wenn
Attraktivität gezielt, mit hohem technischem Einsatz und
professionellem Können hergestellt wird. Die gezielte
Herstellung von Attraktivität läßt es nicht beim Herrichten
dessen, was dann die Reize wieder als äußeren Gegen-
stand erscheinen lassen. Sie setzt an unserer Empfindsam-
keit und an den Wunschvorstellungen direkt an, die die
Zuwendung und Fokussierung unserer Aufmerksamkeit
lenken. Sie präsentieren nicht nur die Objekte der Begier-
den, sie laden die Bilder selber mit Attraktivität auf. Sie
stellen eine Art Hyperrealismus für die Stielaugen her.
Dieser Hyperrealismus der Darstellung kann Mängel der
Wiedergabe des Originals nicht nur kompensieren, son-
dern auch überkompensieren. Er kann überkompensieren
in dem Sinne, daß es der Replik gelingt, mehr Aufmerk-
samkeit aus dem Betrachter herauszuholen, als es dem
Original gelänge. Je mehr Aufmerksamkeit die Bilder nun
aber erobern, desto wirklicher werden sie im subjektiven
Sinn. Der subjektive Eindruck wird soziologisch objektiv,
sobald er sich in beträchtlichen Anzahlen von Subjekten
manifestiert und zwischen diesen kommuniziert wird. Daß
es gelingt, ihn bei sehr vielen Menschen zu erzeugen, ist
Bedingung der Möglichkeit seiner Produktion. Die Aufla-
dung der Bilder mit Attraktivität ist aufwendig und teuer.
Nur Medien, die zugleich für seine massenhafte Verbrei-
tung sorgen, lassen an die reguläre Herstellung des Ein-
drucks denken.

Medienästhetik

Der verbindliche Stil unserer Epoche ist die Medienästhe-


tik. Mit Medienästhetik ist allerdings nicht gemeint, daß
die Präsentationstechnik so wichtig wäre. Es kommt nicht
darauf an, ob Bildschirme, Cibachrom, Beamer oder Laser
zum Einsatz kommen. Die Präsentationstechniken zählen
nur insofern, als sie dem Präsentierten einen immer noch
technischen Einschlag verpassen. Dieser technische Ein-
schlag ist aber eher ein Mangel, der durch die technische
Entwicklung denn auch Schritt um Schritt zurückgedrängt
wird. Medienästhetik meint etwas ganz anderes als die
Ästhetik, die von den Verbreitungstechniken ausgeht. Me-
dienästhetik ist die Ästhetik der hochleistenden Attraktion.
Der verbindliche Stil unserer Epoche ist eine Medienäs-
thetik, weil alles, was öffentliche Geltung gewinnen will,
entweder durch die Medien hindurch muß oder in der
Konkurrenz mit der Attraktionskraft der Medien bestehen
muß. Die Ästhetik, die der organisierte Kampf um die
Aufmerksamkeit eines tendenziell weltweiten Publikums
hervorbringt, ist weniger ein Kunst- als ein Überlebensstil.
Er ist vergleichbar mit dem, der zum Beispiel der militäri-
schen Ausrüstung ein spezifisches Aussehen verpaßt.
Ganz unterschiedliche Gegenstände dienen dort sichtbar
dem einen Zweck. Dieser Zweck drückt dem Arsenal sei-
nen Stil auf. Den Stil unserer Zeit prägt nicht das Stahl-,
sondern das Blitzlichtgewitter. Und es ist keineswegs nur
die von den Medien selber präsentierte Kultur, die da ge-
formt, geschliffen und fit gemacht wird. Zu den Dingen,
die im Windkanal der medial entfachten Reizflut Gestalt
und Aussehen annehmen, gehören auch Kleider, Autos,
Architektur.
Kleidung war schon immer mehr als nur Verhüllung und
Warmhaltepackung. Sie symbolisiert seit je die gesell-
schaftliche Stellung der Person. Es kommt auch nicht von
ungefähr, daß Kleidung so eng mit Mode assoziiert wird.
Mode ist die Gesamtveranstaltung der Nutzung von Neu-
igkeitswert zur Steigerung persönlicher Attraktivität. Da-
mit die Kleidung hohes Einkommen und hohen Status
signalisiert, muß sie auch modisch auf der Höhe sein. Nur
ausgesprochen hoher Seltenheitswert kann von den Anfor-
derungen des modisch Aktuellen entheben. Umgekehrt hat
Neuigkeit immer auch Seltenheitswert. Nur was selten ist,
kann überraschen. Worauf es letztlich aber ankommt, ist
das Aufsehen, das die Kleidung erregt, und die Einschät-
zung der Person, die sie bewirkt. Dieser Wirkung gilt die
Stilisierung, von ihr geht der Zwang zur Entscheidung für
einen bestimmten Stil aus. Ihretwegen ist der Konnex zwi-
schen Mode, Werbung und Medienpräsenz so eng. Weil
die Lenkung der Aufmerksamkeit ihr Sinn und Zweck ist,
wachsen der Kleidungsmode durch den mediatisierten
Kampf um die Aufmerksamkeit denn auch neue Formen
der Symbolisierung zu.
Ein Symbolismus, der durch die Medien erst so recht
zum Zug kommt, ist der der Marken. Eine Marke symboli-
siert etwas über Sitz, Aussehen und Preisklasse hinaus. Sie
symbolisiert das Image. Die Marke gründet, wenn sie an-
kommt, eine Art Club. Durch die Wahl der richtigen Mar-
ken kann man gesellschaftliche Stellung auch nach dem
Verschwinden der verbürgten Herkunftszeichen noch
recht genau symbolisieren. Insofern ist es kein Wunder,
daß Marken zum Fetisch werden. Bemerkenswert ist je-
doch die Art und Weise, auf die es gelingt, Marken mit der
Kraft von Fetischen zu begaben. Marken werden zu Feti-
schen, indem Hersteller – als juristische Personen – zu
Stars aufgebaut werden. Wie können nun aber abstrakte
Personen zu Fetischen aufgebaut werden? Das Geheimnis
liegt in der Leistungsfähigkeit der massenmedialen Tech-
nologien zur Herstellung von Attraktivität. Um sich den
rechten Begriff von dieser Leistungsfähigkeit zu machen,
muß man sehen, daß es mit ihrer Hilfe sogar möglich ist,
Firmenlogos eine Art Aura zu verpassen. Der Effekt ist,
daß die Leute nicht nur die Kleider und Accessoires mit
den richtigen Labels kaufen, sondern wie Werbeträger die
Logos selber zur Schau tragen. Wie einst Helmbusch und
Wappen, so werden nun die Embleme der Nobelmarken
vorgeführt. Das mag auf den ersten Blick schier unglaub-
lich und geradezu komisch erscheinen. Beim näheren Hin-
sehen erscheint die Art aber ganz schlüssig, wie hier das
einstige Luxusgefühl des wandelnden Blickfangs soziali-
siert wird.
Wie die Kleider, so wurden auch die Kutschen immer
schon nach Attraktivität ausgewählt. Mit dem Wagen, mit
dem man vorfährt, läßt sich auch trefflich Aufmerksamkeit
einfahren. Es war mit Sicherheit nicht nur die Lust an der
Mobilität, die dem Siegeszug des Automobils seine unge-
heueren Ausmaße bescherte. Auch und gerade die Auto-
marke symbolisiert die Zugehörigkeit zu einem Club.
Nicht von ungefähr waren es Automobilmarken, die zu
den ersten Ikonen des Markenfetischismus wurden. Aller-
dings ist die Automobilmarke nun gerade nicht nur als
Logo ein Fetisch. Das ganze Auto wird zum Fetisch, so-
bald es verspricht, die richtigen Leute schauen zu machen.
Das Auto bedurfte der Medien nicht, um groß herauszu-
kommen. Das Design von Autos ist aber das Paradebei-
spiel dafür, wie Dinge aussehen müssen, damit sie im
Reizklima des entfesselten Blickfangs gedeihen.
Ganz direkt bekommt die Architektur zu spüren, was
Medienästhetik eigentlich heißt. Die Architektur unter-
scheidet vom gewöhnlichen Bauen, daß ihre bauliche Ma-
nifestation ein Monument ihres Erbauers ist. Wie Künstler
und Gelehrte, so arbeiten auch Architekten für den Lohn
der Beachtung. Die Architektur ist, ob sie will oder nicht,
in den öffentlichen Kampf um Beachtung involviert. Es
scheint im Rückblick daher ganz folgerecht, daß es die
Tauglichkeit für den Kampf um Beachtung war, die die
Funktionstauglichkeit als formbildendes Prinzip abgelöst
hat. Die pluralistische Vielfalt der nachmodernen Archi-
tekturstile hat den gemeinsamen Nenner, daß die Auffäl-
ligkeit wieder kultiviert wird. Wir haben inzwischen eine
regelrechte Unterhaltungsarchitektur. Ob neohistoristisch,
dekonstruktivistisch oder neomodern, Architektur ist wie-
der inszeniert. Selbst dort, wo sie sich betont zurückhal-
tend gibt, wird die Bescheidenheit eigens zelebriert. Mit
der geheiligten Schlichtheit der Moderne ist es endgültig
vorbei. Die Architektur orientiert sich an den Sehgewohn-
heiten, die durch die mediatisierte Informationsflut ge-
formt werden. Sie kämpft ganz betont um Beachtung. Le-
diglich den Beifall von der dezidiert falschen Seite gilt es
zu meiden. Ansonsten ist das Spektakuläre durchaus wie-
der erlaubt.
Diese Großzügigkeit geht so weit, daß selbst die Ästhe-
tik der massenmedialen Präsentationstechniken an Gebäu-
defassaden auftauchen darf. Architekten träumen laut von
Medienfassaden, die wie überdimensionale Bildschirme
funktionieren. Sprechend sind diese Träume in Hinblick
auf die Faszination, die von den Medien ausgeht. Weniger
interessant sind sie, was die Auffassung von Medienästhe-
tik betrifft. Interessant ist nicht die Ästhetik, die von den
Präsentationstechniken ausgeht, interessant ist die entwik-
kelte Technologie der Attraktion. Den eigentlichen
Durchbruch der Medienästhetik signalisiert in der Archi-
tektur der Umstand, daß es wichtiger geworden ist, wo die
Publikation des Hauses erscheint, als wo es steht.

Der »attraktive« Sektor

Die Priorität der öffentlich zugänglichen vor den veröf-


fentlichten Ansichten der Wirklichkeit besteht nur solan-
ge, wie Unterschiede der Wiedergabe sekundär gegenüber
dem grundsätzlichen Unterschied zwischen Bild und Ab-
gebildetem bleiben. Die Reproduktion wird aber konkur-
renzfähig, wenn Wiedergabequalität und Attraktivität ge-
zielt und mit kalkulierbarem Ertrag manipulierbare Para-
meter werden. Die Replik kann die Wirklichkeit sogar
ausstechen, wenn ihre Darstellungstechnik eine spezifisch
überhöhte Ladung mit Attraktivität erlaubt.
Schon dadurch, daß die massenhafte Attraktion von
Aufmerksamkeit eine eigene Industrie beschäftigt, muß
die veröffentlichte zu einer soziologisch erheblichen Seite
der Wirklichkeit werden. Wenn sich über die industrielle
Organisation hinaus auch noch ein Kredit- und Börsenwe-
sen in der Ökonomie der Aufmerksamkeit bildet, wird ein
weiterer Effekt soziologisch relevant. Es muß dann alles,
was in die veröffentlichte Seite der Wirklichkeit eingehen
will, eine bestimmte Mindestprofitabilität im Maß des
erregten Aufsehens versprechen. Voraussetzung für das
Erscheinen ist, daß eine bestimmte Proportion zwischen
der investierten und einzufahrenden Aufmerksamkeit er-
wartet wird. Die Ermittlung dieser Art Durchschnittsrendi-
te ist nicht die unwichtigste der Funktionen, die den Medi-
en als Börse zukommen.
Natürlich ist es schwierig, diesen Durchschnittsgewinn
in Zahlen zu belegen. An der Effektivität der Börse und an
der allgemeinen Regel ändert diese Schwierigkeit aber
nichts. Die Logik ist auch bei unscharfen Mengen in Kraft.
Und es ist nun diese Logik, die einem alten metaphysi-
schen Prinzip zu spürbarer Realität verhilft. Es ist das
Prinzip esse est percipi: Sein ist Wahrgenommenwerden.
Seit den Tagen des Bischofs Berkeley, der es aufgestellt
hat, wird dieses Prinzip als Spitze des Idealismus ver-
schrien. Man mag es in der Theorie nun aber noch so
scharf kritisieren, inzwischen ist ein Wirtschaftssektor mit
seiner Umsetzung in alltägliche Wirklichkeit befaßt. Es ist
die Herstellung des Gutes »Öffentlichkeit«, die genau
nach Berkeleys Prinzip verfährt.
Der Zwang zur Mindestattraktivität und die geforderte
Mindestrendite besagen erstens, daß die medial hergestell-
te Seite der subjektiven Erlebniswelten auch dann, wenn
keine Machtverhältnisse oder persönlichen Einflüsse mit-
spielen, in doppelter Weise gefiltert ist. Was erscheinen
soll, muß nicht nur überhaupt geeignet sein, Aufmerksam-
keit in erheblichem Maße auf sich zu ziehen, es muß sich
auch in einer brancheneigenen Verwertungskonkurrenz
durchsetzen. Die Geschäftslogik der Medien besagt zwei-
tens, daß beträchtliche persönliche Einkommen an Beach-
tung nur unter der Bedingung zustande kommen, daß auch
das Medium als Medium verdient. Es kommt zu einer
Verschränkung der persönlichen Einkommenschancen mit
den Gewinnchancen des Mediums. Die Logik besagt drit-
tens, daß alles, was öffentliche Erheblichkeit gewinnen
will, auf der medial hergestellten Seite der subjektiven
Erlebniswelten erscheinen muß. Dieser »attraktive«
Sektor (wie er in Anklang zum extraktiven genannt sei)
absorbiert und ersetzt die älteren Foren der Öffentlichkeit
bis auf museale Reste.
Eindrucksvoller Beleg für die Absorptionskraft des at-
traktiven Sektors ist die Politik. Es ist lange her, daß die
Politik in der Öffentlichkeit nur bekanntgegeben wurde.
Seit es die Medien im Sinne der Massenmedien gibt, sind
sie zu den eigentlichen Foren der Politik geworden. Die
Politik bezieht aus den Medien ihre Themen und will in
ihnen verkauft sein. Ja mehr noch: Sie wird in den und für
die Medien gemacht. Was in den Medien nicht ankommt,
hat in der Politik keine Chance mehr. Deshalb haben die
Politiker vor nichts so hohen Respekt wie vor den Medien.
Deswegen ist mediale Präsenz und Telegenität das A und
das O einer politischen Karriere. Deshalb verändern sich
politische Debatten schlagartig, sobald Vertreter der Me-
dien anwesend sind.
Auch hinter verschlossenen Türen bleiben die Medien
aber mit von der Partie. Die Türen werden verschlossen,
wenn es darum geht, wie man etwas – meist eben – Heik-
les in den Medien verkauft. Es gibt keine Politik mehr an
den Medien vorbei. So muß die Politik inzwischen auch
insgesamt durch jenen doppelten Filter hindurch. Die Poli-
tik muß sich erstens überhaupt für die Präsentation in den
Medien eignen und sie muß sich zweitens auch noch eig-
nen, Beachtung für das Medium einzufahren. Die medien-
interne Verwertungskonkurrenz betrifft auch die Präsenta-
tion von Parteien, Programmen und Sachthemen. Das be-
deutet, daß die öffentliche Debatte durch ihren Unterhal-
tungswert begrenzt ist. Weil von der Präsenz in den Medi-
en schließlich der Kurswert der politischen Goodwill-
Kapitale abhängt, kommt es zu systematisch verschwim-
menden Rändern zwischen Politik und Werbung.
Wie in der materiellen Ökonomie nichts mehr ohne die
Dienste des attraktiven Sektors geht, so auch in der Poli-
tik. Die öffentlich überhaupt mobilisierbare Aufmerksam-
keit ist professionell umkämpft und umworben. Über die
Verwertungskonkurrenz innerhalb der Medien hinaus ist
die Selbstdarstellung der Politik daher auch der direkten
Konkurrenz mit der Werbung und dem systematischen
Anreiz ausgesetzt, sich deren käuflicher Dienste zu bedie-
nen. Ist dieser Anreiz einmal wirksam geworden, dann
braucht auch die Politik das richtige Image und Design.
An die Stelle der richtigen Ideologie tritt die richtige
Aufmachung. Das hat weder mit Opportunismus noch
sonstiger Charakterlosigkeit der Politiker zu tun. Es folgt
aus den harten Zwängen der Aufmerksamkeitsökonomie.
Auch – nein, eben – demokratische Politik kann sich die-
sen Zwängen nicht entziehen.
Wir machen die eigenartige Beobachtung, daß die Öko-
nomie der Aufmerksamkeit zum Ausgang der Art syste-
matischer Zwänge geworden ist, wie sie einmal ganz den
materiellen Produktionsverhältnissen zugeschrieben wur-
de. So phantomhaft und nebulös sie auf den ersten Blick
erscheinen mag, so massiv erweist sich ihre gesellschaftli-
che Stellung und Funktion bei etwas näherem Zusehen.
Die Verhältnisse stehen buchstäblich auf dem Kopf. Sie
haben sich ganz von selber in den Kopfstand zurückbege-
ben, von dem aus Marx einst meinte, sie ein für allemal
auf die Beine gestellt zu haben. Nicht mehr das Sein be-
stimmt das Bewußtsein, sondern das Bewußtsein das Sein.
Und nicht nur Kultur und Politik sind von der Ökonomi-
sierung des Bewußtseins unterwandert, sondern auch die
materiellen Produktionsverhältnisse selbst.
Sechstes Kapitel

Die Wissenschaft:
ein intelligentes Sozialsystem?

Die Aufmerksamkeit, die wir anderen Menschen zuwen-


den, kann auch sachliche Dienste leisten. Als Einkommen
begehrt, ist sie als Ressource knapp. In der Ökonomisie-
rung des begehrten Einkommens besteht das Geschäft der
Attraktion, in der Ökonomisierung der knappen Ressource
besteht die Denk- und Wissensökonomie. Die Ökonomie
der Aufmerksamkeit umfaßt beide Linien der Rationalisie-
rung. Sie unterscheidet, anders formuliert, einen attrakti-
onsökonomischen und einen informationsökonomischen
Strang.
Beiden Linien der Ökonomisierung gemeinsam ist das
Steigerungsprinzip der Kapitalisierung. Der Umfang des
Geschäfts der Attraktion wächst mit der Akkumulation
eingenommener Aufmerksamkeit und ihrer Kapitalisie-
rung zu Renommee. Die Produktivität geistiger Arbeit
wächst mit der Akkumulation sachlich gewidmeter Auf-
merksamkeit und ihrer Kapitalisierung zu Wissen. Das
Renommee ist es, das dem materiellen Reichtum den Rang
streitig macht. Das Wissen ist zum wichtigsten Faktor
sowohl der geistigen als auch der materiellen Produktion
geworden.
Renommee verhält sich zu Wissen, wie sich Finanzkapi-
tal zu Sachkapital verhält. Erstere sind akkumulierte Ein-
kommen, letztere bestehen aus produzierten Produktions-
mitteln. Erstere sind homogene Größen, letztere sind An-
sammlungen heterogener Bestandteile. So unvollständig
das Bild des materiellen Kapitalismus ohne den Dualismus
von Sachkapital und Finanzkapital wäre, so unvollständig
bliebe das Bild des mentalen Kapitalismus ohne den Dua-
lismus von geistigem Kapital und beachtlichem Kapital.
Damit der Zusammenhang von geistigem und beachtli-
chem Kapital hervortritt, müssen drei Bedingungen erfüllt
sein. Erstens muß das Produkt geistiger Arbeit in weitere
Stufen geistiger Produktion eingehen, zweitens muß die
geistige Produktion um der Beachtung willen geschehen
und drittens muß die gefundene Beachtung ihrerseits Be-
achtung finden. Diese drei Bedingungen sind sowohl beim
Zusammenspiel zwischen künstlerischem Schaffen und
klassischem Kulturbetrieb als auch bei dem zwischen kul-
turindustrieller Produktion und massenmedialer Präsenta-
tion erfüllt. Das paradigmatische Beispiel für das Ineinan-
dergreifen der Kapitalformen ist nun aber die Wissen-
schaft. Die Wissenschaft ist von allen Abteilungen des
mentalen Kapitalismus die in sich geschlossenste Ökono-
mie der Aufmerksamkeit. Die Wissenschaft produziert
nicht nur Wissen, sondern verwertet auch die eigene Wis-
sensproduktion; Wissenschaftler arbeiten nicht aus ideali-
stischen, sondern aus Gründen der Karriere für den Lohn
der Beachtung; Wissenschaftler wird man nicht, um reich,
sondern wenn schon, dann um berühmt zu werden.
Die Wissenschaft ist, mit anderen Worten, keine wesent-
lich gemischte Ökonomie der Aufmerksamkeit und des
Gelds. Sie ist in einem viel höheren Maß autonom als die
Medien. Sie definiert das Organisationsziel selbst. Nie-
mand außerhalb der Wissensproduktion hat die Kompe-
tenz zu bestimmen, worin der kollektive Erkenntnisfort-
schritt bestehen soll. Die Wissenschaft kommt, was die
Marktform des fachlichen Austauschs betrifft, dem theore-
tischen Ideal perfekter Konkurrenz nahe. In der Geschich-
te des materiellen Kapitalismus waren es die Emanzipati-
on der wirtschaftlichen von der politischen Sphäre und die
Marktform der freien Konkurrenz, die zur sprichwörtli-
chen Entfesselung der Produktivkräfte führten. Ist es im
mentalen Kapitalismus ebenfalls die Abschirmung von
heteronomen Interessen und die Veranstaltung scharfer
Konkurrenz, die hinter der sprichwörtlichen Wissensex-
plosion stecken?

Geistiges und beachtliches Kapital

Sicher ist, daß die herausragende Stellung der Wissen-


schaft in der nachindustriellen Gesellschaft nicht allein auf
der Bedeutung beruht, die das Wissen als Produktionsfak-
tor gewonnen hat. Sie rührt auch von dem atemberauben-
den Erfolg, der speziell den Naturwissenschaften beschie-
den war. Zur Erklärung der Wachstumsraten, die der auto-
nome Forschungsbetrieb in diesem Jahrhundert verzeich-
nen konnte, und zur Erklärung des geradezu blinden Ver-
trauens, das die öffentliche Meinung in die Wissenschaft
setzt, reicht es jedenfalls nicht, auf die Nachfrage nach
technisch und organisatorisch verwertbarem Wissen zu
verweisen. Es muß das interne Erfolgsrezept des hochspe-
zialisierten Forschungsbetriebs hinzukommen. Die beson-
dere gesellschaftliche Stellung der Wissenschaft wird erst
klar mit der Klärung, was hinter dem erstaunlichen Wir-
kungsgrad der arbeitsteilig forschenden Aufmerksamkeit
steckt.
Ein hoher Wirkungsgrad in selbstorganisierten Berei-
chen der Produktion und Distribution läßt regelmäßig auf
ein zielkonformes System von Anreizen schließen. Die
Anreize, die die Wissenschaft zu bieten hat, sind die Be-
friedigung der Neugier und des Wunschs nach Beachtung.
Wenn sie über etwas wie ein inneres Erfolgsrezept ver-
fügt, dann muß es mit der Art zu tun haben, wie sie beide
Anreize kombiniert. Den kollektiven Erkenntnisfortschritt
fördert das Kollektiv der Wissenschaftler nicht, wenn alle
nur ihrer eigenen Neugier fröhnen. Sie müssen auch moti-
viert werden, im Sinne der Arbeitsteilung effektiv und
möglichst effizient zu forschen. Wie im ersten Kapitel klar
wurde, ist es das System der wissenschaftlichen Kommu-
nikation, das hier Erstaunliches leistet. Es reizt an, im Sin-
ne der Mitforscher zu forschen, indem es deren Beachtung
als Belohnung nutzt.
Die wissenschaftliche Kommunikation kombiniert den
Austausch von Information mit dem Austausch von Be-
achtung. Sie stellt, anders gesagt, einen funktionalen Zu-
sammenhang zwischen dem informations- und dem attrak-
tionsökonomischen Segment her. Einen ersten Hinweis
auf die ganz außergewöhnliche Kraft, die dieser Kontakt
hervorbringt, gab die Doppelnutzung der die kollegiale
Produktion rezipierenden Aufmerksamkeit. Forscher, die
sich mit der kollegialen Arbeit als Informationsquelle be-
schäftigen, lassen damit zugleich eine Einkommensquelle
sprudeln. Die Verwendung der Aufmerksamkeit für die
Schöpfung des begehrten Einkommens nimmt ihrer Ver-
wendung als knappes Produktionsmittel nicht nur nichts
weg, sondern stellt darüber hinaus noch einen Anreiz zur
Höchstleistung in der Informationsproduktion her.
Das Berufsziel des Wissenschaftlers ist die möglichst
hohe Reputation. Wissenschaftler maximieren nicht ein-
fach die bezogene Beachtung, sie müssen auch darauf ach-
ten, daß die Beachtung, die sie finden, bekannt wird. Ihre
Karriere hängt von der bekannt gewordenen, zu Reputati-
on kapitalisierten Beachtung ab. Deshalb lautet die Frage
nach der Förderung des kollektiven Erkenntnisfortschritts
nicht einfach, ob das Einkommen an Beachtung den rich-
tigen Anreiz setzt, sondern, ob die Kapitalisierung des
Einkommens zu Reputation die Wissensproduktion auch
richtig motiviert.
Bezeichnenderweise legt der erste Blick wieder einmal
eine negative Antwort nahe. Es scheint nämlich gerade
nicht im Sinne des kollektiven Erkenntnisfortschritts zu
sein, daß die Beachtung, die ein Wissenschaftler über die
Rezeption seines Werks bezieht, zu Reputation kapitali-
siert wird. Die Verzinsung der früheren Beachtung muß
nichts mit dem Wert seiner aktuellen Produktion zu tun
haben. Wer nur beachtet wird, weil er eben bekannt ist,
bezieht ein leistungsfreies Einkommen. Deshalb ist die
Aufmerksamkeit, die jemand lediglich seiner Bekanntheit
wegen bezieht, seitens der Rezipienten nicht optimal allo-
ziert. Hinzu kommt, daß der Wunsch nach kapitaler Be-
achtung von sich aus auf Abwege lockt. Reputation hat
fließende Übergänge zur Prominenz. Vom Wunsch, nicht
nur Reputation, sondern auch noch Prominenz zu gewin-
nen, gehen die Verlockungen zur Schau für das Publikum
aus. Es ist das publikumswirksame Spektakel, das dem
Markt der Ideen seine irrationalen Züge verpaßt.
Von der Frage, ob die Kapitalisierung des Beachtungs-
einkommens funktional oder dysfunktional ist, hängt eini-
ges ab. Nur dann nämlich, wenn der Austausch von In-
formation gegen Beachtung die richtigen Anreize auch auf
der Ebene der Kapitalformen setzt, wird die sich selbstor-
ganisierende Wissensproduktion mit der Tendenz zur Effi-
zienz arbeiten. Nur wenn die Wissensproduktion mit
nachweislicher Tendenz zur Effizienz arbeitet, verdient sie
das Vertrauen, das sie in der Gesellschaft genießt, die sich
den teuren Betrieb leistet. Und nur wenn die Relation von
Input und Output eine erkennbare Tendenz zu ständiger
Optimierung aufweist, ist an eine Begründung der ökono-
mischen Rationalität des Unterfangens Wissenschaft zu
denken. Ist die Kapitalisierung der eingenommenen Be-
achtung zu Reputation also auch auf den zweiten Blick
noch dysfunktional?
Um mit dem Schielen nach der Prominenz zu beginnen:
Wo Märkte sind, ist immer auch Spiel. Schau und Sub-
stanz sind nicht dadurch zu trennen, daß das Spektakel
unterdrückt wird. Sie trennen sich ganz von selbst im Lauf
der Zeit. Bisher war es noch immer die Substanz, die sich
durchgesetzt hat. Zudem sind Schaukämpfe nicht von
vornherein kontraproduktiv. Sie sind es nur dort, wo sie
den Erkenntnisfortschritt tatsächlich behindern. Es wäre
aber gewagt, zu behaupten, der Fortschritt ließe sich durch
ihre Unterdrückung beschleunigen. Eher noch läßt sich
behaupten, daß ihr Unterhaltungswert produktiv sei. Der
Tanz um die wissenschaftliche Prominenz hält das Interes-
se des allgemeinen Publikums an der Wissenschaft wach.
Das allgemeine Publikum zahlt mit seinen Steuern für die
Wissenschaft. Deshalb verdient es auch, mit etwas Spek-
takel bei Laune gehalten zu werden.
Noch einmal ganz anders sieht die Leistungsbilanz aus,
was die selber informierende Funktion der Reputation
betrifft. Zunächst einmal ist die Verteilung der Reputation
eine unerläßliche Orientierungshilfe bei systematischem
Überangebot an Information. Wer nichts liest, was keinen
reputierten Autor hat, der wird zwar so manches Neue
verpassen, wird sich aber auch viel Überflüssiges erspa-
ren. Die Reputation des Autors gibt ähnlich wertvolle
Hinweise wie die Reputation von Journalen, Schriftenrei-
hen und Verlagen. Noch wichtiger als die Frage nach der
Orientierung im Überangebot an Information ist nun aber
die, wie der Wert wissenschaftlicher Information gemes-
sen wird. Ohne die Messung ihres Outputs ist es überhaupt
müßig, nach der Effizienz der Wissensproduktion zu fra-
gen. Welches Maß könnte an diesen Output also gelegt
werden?
Der Wert wissenschaftlicher Tatsachen und Theorien be-
steht in ihrer semantischen und pragmatischen Informati-
on. Für semantische und pragmatische Information steht
kein Maß zur Verfügung, wie die Informationstheorie es
für syntaktische Information beziehungsweise für bedeu-
tungslose Muster definiert. Niemand weiß, wie semanti-
sche, und erst recht, wie pragmatische Information auf
syntaktische zu reduzieren wäre. Selbst dann jedoch, wenn
diese Reduktion im Grundsatz möglich wäre, bestünde
keine Hoffnung, den Informationsgehalt wissenschaftli-
cher Tatsachen und Theorien im Sinne der Informations-
theorie messen zu können. Was die semantische Informa-
tion betrifft, so verstehen nur Fachleute die Bedeutung
wissenschaftlicher Hypothesen, Messungen und Theore-
me. Im Falle der pragmatischen Information bemißt sich
der Wert des wissenschaftlichen Outputs an seiner Eig-
nung, als Input wieder anderer Produktion zu fungieren.
Die pragmatische Information des Outputs der Wissens-
produktion hat ihr inhärentes Maß in seiner Produktivität
als geistiges Kapital.
Für geistiges Kapital gilt wie für sachliches, daß es einen
objektiven Wert dann und nur dann hat, wenn es einen
Marktpreis hat. Ein Marktpreis ist objektiv in dem Sinn,
daß er die in der Gesellschaft vorhandene Zahlungsbereit-
schaft; mißt. Wie kann der wissenschaftliche Output nun
aber einen Marktpreis haben, nachdem er nicht verkauft,
sondern publiziert der Allgemeinheit zur Verfügung ge-
stellt wird?
Aus gutem Grund bezieht sich die freie Verfügung nur
auf die Kenntnisnahme. Die effektive Weiterverwendung
kostet eine Gebühr. Sie muß nämlich – wiederum öffent-
lich – bekanntgegeben werden. Die verbindliche Form
dieser Bekanntgabe ist das Zitat. Das Zitat ist mehr als
eine bloße Formalität. Der Zitierende äußert die Verzicht-
bereitschaft auf einen Teil der Aufmerksamkeit, die seine
eigene Produktion verdient. Er erklärt sich damit einver-
standen, daß der betreffende Teil auf das Konto des Zitier-
ten überwiesen wird. Das Zitat ist die Lizenz, die Über-
weisung ist das Entgelt für die Verwendung fremden gei-
stigen Eigentums. Wie entsteht geistiges Eigentum an wis-
senschaftlichen Tatsachen und Theorien? Ganz einfach:
durch Publikation. Die Publikation schöpft geistiges Ei-
gentum. Also hat auch die Publikation selber keinesfalls
nur informierenden Sinn. Sie hat auch den Sinn der Siche-
rung von Ansprüchen. Die Publikation sichert den An-
spruch auf die Aufmerksamkeit, den die eigene Produktion
als Mittel wieder anderer Produktion verdient.
Wir haben einen Markt für geistiges Kapital. Wir messen
die pragmatische Information des wissenschaftlichen Out-
puts. Gibt es nun auch ein Zählwerk, das die Häufigkeit,
mit der ein Wissenschaftler zitiert wird, registriert und
wiederum öffentlich bekannt macht? Ein solches Zählwerk
existiert. Es ist der Science Citation Index oder kurz SCI.
Im SCI werden die Zitate und Erwähnungen gesammelt,
die in einem ausgewählten Kreis von Fachpublikationen
vorkommen. Das Konto im SCI ist der konzise Ausdruck
für die Produktivität eines Wissenschaftlers. Es mißt den
Marktwert seiner Produktion an geistigem Kapital. Es
mißt diesen Marktwert nun aber in der Währung des be-
achtlichen Kapitals. Die Sammlung der Zitate gibt nicht
nur Auskunft über die Aufmerksamkeit, die ein Wissen-
schaftler indirekt einnimmt, sondern mißt auch direkt sei-
ne Reputation. Sie belegt, ja begründet seinen Bekannt-
heitsgrad. Das Konto im SCI ist damit zugleich der konzi-
se Ausdruck für die Reputation eines Wissenschaftlers.
Ein Wissenschaftler kann für den kollektiven Erkennt-
nisfortschritt nichts Besseres tun, als sein Konto im SCI zu
füllen. Es gibt kein besseres Maß für seine Produktivität
als die Sammlung der Zitate. Also besteht auch nur dann
Aussicht auf ein effizientes Arbeiten der sich selbst orga-
nisierenden Wissensproduktion, wenn es zum selbstver-
ständlichen Berufsziel der Wissenschaftler wird, daß sie
ihre Reputation maximieren. Der Wunsch nach kollegialer
Beachtung reicht für sich genommen noch nicht. Es muß
der Wunsch hinzukommen, auch die Kapitalform des Ein-
kommens zu maximieren. Erst die Umsetzung des geisti-
gen Kapitals in beachtliches Kapital unterstellt die indivi-
duelle Rationalität zuverlässig der kollektiven Rationalität.
Jene negativen Effekte der Kapitalisierung weisen nun
allerdings auf Nebenbedingungen der Zuverlässigkeit hin.
Die Maximierung des beachtlichen Kapitals wird tatsäch-
lich kontraproduktiv, wenn Beliebtheit beim allgemeinen
Publikum wichtiger als die kollegiale Beachtung wird.
Auch die Maximierung des Renommees in der Fachwelt
wird kontraproduktiv, wenn es für jene zu schwer wird,
Beachtung zu finden, die es noch nicht zu Beachtlichkeit
gebracht haben. Schließlich gibt die Sammlung der Zitate
nicht in jedem Fall zuverlässige Auskunft über die Pro-
duktivität eines Wissenschaftlers. Das Zitat sagt wenig,
wo die Moral des Zitierens niedrig ist. Es ist als Maß für
die pragmatische Information brauchbar nur, wo das Pla-
giat nicht lohnt und wo keine abgesprochenen Zitati-
onskartelle vermutet werden müssen.
Es gibt nun aber ein Mittel, das die Zuverlässigkeit in all
diesen Hinsichten absichert: scharfe Konkurrenz. Wo die
Konkurrenz den wissenschaftlichen Austausch beherrscht,
besteht keine Gefahr, daß die Beliebtheit beim allgemei-
nen Publikum wichtiger wird als die Reputation unter Kol-
legen. Wo der Mitbewerb wachsam ist, kann es sich auch
niemand leisten, nur die bekannten Kollegen wahrzuneh-
men. Schließlich ist Wettbewerb das beste Mittel gegen
Plagiat und Absprachen. Wo die Konkurrenz wachsam
und bissig ist, wird der Diebstahl an geistigem Eigentum
zu riskant. Je größer die Zahl der Mitbewerber ist, um so
mühsamer wird es, Zitationskartelle abzusprechen, und um
so größer wird der Anreiz für eventuelle Komplizen, sich
durch Bloßstellen der Mitverschwörer zu profilieren.

Eine ökonomische Theorie der Wissensproduktion?

Die Bedeutung, die der Zusammenhang von Wettbewerb


und Effizienz annimmt, läßt ahnen, daß wir uns auf dem
Weg zu einer regulären ökonomischen Theorie der Wis-
sensproduktion befinden. Die ökonomische Theorie ist in
ihrem Element, wo kompetitive Märkte einen klaren Zu-
sammenhang zwischen Produktivität und Belohnung her-
stellen. Es kommt nicht auf die sachliche Besonderheit des
Produkts und nicht auf die Art der Währung an, in der die
Belohnung anfällt. Es muß aber ein Produkt sein, das
Tauschwert hat, und ein Standard, der die Zahlungsbereit-
schaft einheitlich mißt. Weil die ökonomische Theorie des
fraglichen Markts in der Simulation der individuellen Ent-
scheidungen der Marktteilnehmer besteht, muß es möglich
sein, idealisierende Annahmen hinsichtlich der Markt-
form, der Form der Präferenzordnungen und des Stils der
rationalen Entscheidung zu treffen. Die Chancen für eine
ökonomische Theorie stehen günstig, wo vollkommene
Konkurrenz, intersubjektiv unabhängige Präferenzordnun-
gen und Geschlossenheit der Logik rationaler Entschei-
dung unterstellt werden können.
Was sich im Fall der Wissensproduktion abzeichnet, ist
die Haltbarkeit der ersten beiden Prämissen. Die Märkte
der Ideen sind tatsächlich hoch kompetitiv. Auf ihnen
steht eine sehr große Zahl von Anbietern einer sehr großen
Zahl von Abnehmern gegenüber. Die Kapitalakkumulation
führt weder beim geistigen noch beim beachtlichen Kapi-
tal zu marktbeherrschenden Positionen. Der Markt für
geistiges Kapital ist ein Käufermarkt. Niemand ist in der
Lage, das Angebot in manipulativer Weise zu verknappen.
Wenn es einmal zu einer Vormachtstellung kommt, ist sie
stets heftigen Kräften der Auflösung ausgesetzt. Aber auch
beim beachtlichen Kapital fehlt die Möglichkeit, den
Wettbewerb zu unterlaufen. Reputation kann man nicht
erben. Sie kann nicht über Generationen hinweg akkumu-
liert werden. Alle, die über beachtliches Kapital verfügen,
haben es mit des eigenen Kopfes Arbeit verdient. Deshalb
fehlt sowohl die Basis für regelrecht ausbeuterische Ver-
hältnisse als auch das dynastische Moment, das den Wett-
bewerb im materiellen Kapitalismus so häufig zur Farce
macht. Kurz: Der Wettbewerb auf dem Markt der Ideen
wird nicht immer die idealtypische Form vollkommener
Konkurrenz annehmen, es gibt aber wenige realtypische
Märkte, die dem Ideal näher kommen.
Sogar die Interdependenz der Präferenzordnungen ist
neutralisiert, wo das Berufsziel des Wissenschaftlers auf
die Maximierung der Zitatensammlung reduziert ist. Sein
Streben gilt dann zwar weiterhin der Einnahme kollegialer
Beachtung. Ausgeschaltet ist aber dasjenige Wertmoment
an der eingenommenen Aufmerksamkeit, das auf zwi-
schenmenschliche Wertschätzung und auf das Wechsel-
spiel persönlicher Vorlieben zurückgeht. Wissenschaftler,
die ihr Konto im SCI maximieren, maximieren ein Quan-
tum, bei dem es auf die besondere Qualität nicht mehr
ankommt. Sie maximieren Zitate wie Geschäftsleute den
Profit, wie Unternehmer den Wert der Firma, wie Politiker
Wählerstimmen maximieren. Der SCI unterscheidet weder
nach dem Tenor noch nach dem zustimmenden oder ab-
lehnenden Wortlauf der Zitate. Die Aufmerksamkeit, die
der SCI mißt, hat de facto die anonyme Homogenität einer
Währung.
Wie steht es aber um die dritte Annahme, um die ge-
schlossene Logik rationaler Entscheidung? Mit der Ge-
schlossenheit einer Logik ist gemeint, daß sie freigehalten
ist von Quellen möglicher Inkonsistenz und Unentscheid-
barkeit. Die Logik rationaler Entscheidung ist geschlossen,
wenn gewährleistet ist, daß die Entscheidung stets kalku-
lierbar bleibt. Es versteht sich, daß diese Annahme nicht
so leicht aufgegeben werden kann, wenn die Entscheidung
theoretisch simuliert werden soll. Ein Modell des Zusam-
menspiels vorteilsuchender Individuen bricht rasch zu-
sammen, wenn deren Entscheidungsfunktionen Inkonsi-
stenzen und Unentscheidbarkeiten bergen. Allerdings hat
sich nun im zweiten Kapitel gezeigt, daß die ökonomische
Rationalität der Entscheidung nicht zu schließen ist, wenn
die Entscheidung selber noch knappe Aufmerksamkeit in
Anspruch nimmt. Daß die Aufmerksamkeit knapp ist,
heißt, daß ihre Verwendung zwangsläufig selektiv ist. Auf
etwas Bestimmtes zu achten, heißt dann immer, etwas
anderes, das gleichfalls erheblich sein könnte, außer acht
zu lassen. Die rationale Entscheidung setzt die immer
schon rationale Vorentscheidung darüber voraus, worauf
geachtet wird. Diese Voraussetzung führt in einen unend-
lichen Regreß. Dessen Unabschließbarkeit bedeutet, daß
die Rationalität der Entscheidung dort nicht zu schließen
ist, wo die Entscheidung selbst knappe Ressourcen ver-
braucht.
Spielt diese Unabschließbarkeit eine Rolle in der Ent-
scheidung, wie Wissenschaftler ihre Aufmerksamkeit
verwenden? Die Knappheit der Aufmerksamkeit spielt
zweifellos eine Rolle, wo es gilt, sich im Überangebot der
Information zurechtzufinden. Wie der Konsument im
Überangebot der Waren, so ist der rezipierende Wissen-
schaftler im Überangebot der Publikationen zu einer ge-
wissen Oberflächlichkeit verdammt und auf ein »Händ-
chen« bei der intuitiven Vorauswahl angewiesen. Weil
diese Vorauswahl nicht immer selber schon rational sein
kann, ist hier die Stelle, wo die Strategien des Marketing
und des suggestiven Verkaufens greifen. Spielt die offene
Stelle der ökonomischen Rationalität nun aber auch in der
originären Forschung eine Rolle? Gehört es nicht vielmehr
zum Metier des Wissenschaftlers, die Ergebnisse der eige-
nen Arbeit erst nach langem Durchdenken und wiederhol-
ter selbstkritischer Prüfung unter die Leute zu bringen? Ist
die Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheidungen
nicht sogar die allererste Voraussetzung für die theoreti-
sche Rationalität wissenschaftlicher Produktion?
Über die Relevanz oder Irrelevanz der offenen Stelle in
der Logik rationaler Entscheidung läßt sich nur vom kom-
binierten Effekt der methodischen Annahmen her befin-
den. Machen wir also die Probe. Nehmen wir an, daß alle
drei Annahmen erfüllt seien. Was folgt, wenn Wissen-
schaftler auf einem Markt mit vollkommener Konkurrenz
miteinander kommunizieren, wenn Interdependenzen zwi-
schen subjektiven Präferenzen für ihr Verhalten tatsäch-
lich keine Rolle spielen, und wenn sie von sich aus darauf
achten, keine unkalkulierbaren Entscheidungen zu treffen?
Die drei Annahmen laufen auf die eine hinaus, daß sich
Forscher in der Verwendung knapper Ressourcen und in
der Verfolgung ihres Berufsziels wie homines oeconomici
entscheiden. Die Rationalität und Interaktionsweise des
homo oeconomicus sind genau nach den Anforderungen
ausgelegt, die die Modellierbarkeit des Zusammenspiels
vorteilsuchender Individuen stellt. Welches Bild des For-
schungsbetriebs folgt also, wenn der homo oeconomicus
in die Rolle des Forschers schlüpft?
Das Bild, welches folgt, ist eine interessante Karikatur.
Die Annahme der vollkommenen Konkurrenz sorgt dafür,
daß das Problem der Messung des wissenschaftlichen
Outputs mit akribischer Perfektion gelöst wird. Es wird
korrekt und angemessen zitiert, alle Absprachen unterblei-
ben, es gibt keine Gefälligkeitszitate. Niemand kann es
sich leisten, verfügbare Tatsachen außer acht zu lassen
oder verfügbare Theorien noch einmal zu entwickeln. Das
geistige Kapital unterliegt einer idealen Verwertungskon-
kurrenz. Seine potentielle Produktivität kommt voll zur
Geltung, sofern keine andere der Annahmen solches ver-
hindern.
Die Annahme, daß sich Forscher ausschließlich und oh-
ne Rücksicht auf die zwischenmenschliche Wertschätzung
auf die Sammlung der Zitate konzentrieren, sorgt für abso-
lute Sachlichkeit in der Forschung. Sie sorgt für die Art
Unpersönlichkeit, wie die »Logik der Forschung« sie for-
dert. Sie schließt aus, daß Interessen, die nichts mit dem
Erkenntnisfortschritt zu tun haben, in die Forschung hin-
einspielen. Da es kein intersubjekives Zusammenspiel
subjektiver Vorlieben und Abneigungen mehr gibt, hängen
die Zitate, die die eigene Produktion einfährt, ausschließ-
lich von deren sachlicher Qualität ab. Da heteronome In-
teressen keine Rolle spielen, zählen tatsächlich nur noch
Produktivität, Reichweite, Einfachheit, Widerspruchsfrei-
heit, Tatsachengerechtigkeit und Reproduzierbarkeit der
Tatsachen. Alles, was nach diesen Kriterien unerheblich
ist oder ihnen gar widerspricht, fällt unter den Tisch. Die
Wissenschaft realisiert ihr Maximum an Autonomie. Da
die Belange des anderen Bewußtseins keine Rolle spielen,
werden sogar ethische Gesichtspunkte in der Forschung
gegenstandslos. Weil es die Konkurrenz übernimmt, Über-
flüssiges gar nicht erst aufkommen zu lassen, bleiben auch
Skrupel, die in Konflikt mit den Zielen des Erkenntnisfort-
schritts bringen könnten, von vornherein unterdrückt.
Bis hierher weicht das Bild, das aus den ökonomischen
Annahmen folgt, nicht von dem Ideal ab, das die Wissen-
schaftstheorie vom Forschungsbetrieb zeichnet. Könnte es
also sein, daß die Wissenschaftstheorie immer schon still-
schweigend unterstellt, daß sich die Forscher im Idealfall
wie homines oeconomici verhalten? Der homo oeconomi-
cus verhält sich so, daß sein Verhalten lückenlos rekon-
struierbar ist. Sein Daseinszweck ist es, das Zusammen-
spiel rationaler Agenten in die Form eines Gleichungssy-
stems mit vorab gesicherter Lösung zu übersetzen. Sein
Verhalten muß also schlüssig aus den Anfangsbedingun-
gen folgen. Wo nun aber alles aus den Anfangsbedingun-
gen folgt, kann nichts Neues entstehen. Neu ist nur das
Unerwartete. Wesentlich neu ist nur, was nicht absehbar
war und nicht vorausberechnet werden konnte.
Die Abneigung des homo oeconomicus gegen alles Un-
kalkulierbare macht einen Strich durch die Gleichung des
ökonomischen mit dem wissenschaftstheoretischen Ideal.
Seine Entscheidungen sind determiniert, denn sie müssen
determinierbar sein. Das Wesentliche an der Wissenspro-
duktion ist jedoch, daß ihr Output nicht von vornherein
feststehen darf. Forscher suchen zwar nach Bestimmtem;
wo man aber weiß, was herauskommt, wird etwas anderes
als Forschung getrieben. Voraussagen sind in der For-
schung nur als Hypothesen erlaubt, deren Funktion es
wiederum ist, prinzipiell unsicher zu sein. Eine ökonomi-
sche Theorie, die diese prinzipielle Unsicherheit übergeht,
kann keine Theorie der Wissensproduktion sein.
So ist das Bild vom homo oeconomicus in der Forscher-
rolle doch nur eine Karikatur. Es ist allerdings keine
schlechte. Es trifft die verbreitete Erscheinung des smarten
Aufbereiters bekannter Tatsachen, der durch Umgehung
von Unsicherheiten seine Karriere macht. Es zeichnet
haarscharf den Typ des Forschungsbeamten, dessen Akti-
vität sich im Kampf für die orthodoxe Lehre und gegen die
Ethikkommission erschöpft. Im Wissenschaftsbetrieb, in
dem der homo oeconomicus das Sagen hat, wurde For-
schung durch Verwaltung ersetzt. Dieses Bild ist gar nicht
so unrealistisch. Es hat nur eben nichts mit dem wissen-
schaftstheoretischen Ideal zu tun, sondern zeigt, am Zuviel
welcher Art des Kalküls der administrierte Forschungsbe-
trieb krankt.
Heißt es also, die Hoffnung auf eine Theorie der Wis-
sensproduktion zu begraben? Ist die Begründung der öko-
nomischen Rationalität wissenschaftlichen Forschens eine
Utopie? Sicher ist, daß diese Rationalität nicht von jenem
Typ sein kann, wie ihn die ökonomische Theorie übli-
cherweise unterstellt. Sicher ist, daß die Logik der Ent-
scheidung über die Verwendung der forschenden Auf-
merksamkeit keine geschlossene sein kann. Sie muß eine
Öffnung für den Einfall des Neuen, Unerwarteten, noch
nie Dagewesenen lassen. Sie muß dem Sachverhalt Rech-
nung tragen, daß man den guten Forscher nicht nur am
Scharfsinn, sondern auch am guten »Riecher« erkennt.
Das Kalkül darf die Intuition nicht ersetzen, sondern nur
nachträglich absichern und kontrollieren. Also darf der
Zirkel, in den die rationale Verwendung der knappen
Aufmerksamkeit verwickelt, gerade nicht unterbunden
werden. Es ist dieser Zirkel, mit dem die intuitive Findig-
keit ins Spiel kommt, auf die es beim Forschen so sehr
ankommt. Er ist es, der Unbestimmtheit ins noch so
scharfsinnige Kalkül bringt. Mit ihm öffnet sich das Ein-
fallstor für das nicht Ausrechenbare, den Denkenden sel-
ber Überraschende. Effizient kann die Verwendung der
forschenden Aufmerksamkeit nur sein, wenn sie auch die-
se Lücke in der Rationalität noch optimal nutzt.
Es ist zuviel von einer Theorie verlangt, diese Paradoxie
zu modellieren. Allerdings stellt die Voraussetzung der
Determinierbarkeit nun ein schweres Handicap nicht nur
für eine eventuelle Theorie der Wissensproduktion, son-
dern auch schon für das dar, was als Informationsökono-
mik so heftig gefordert wird. Wo nichts Neues entsteht,
entsteht auch keine Information. Wo alles aus den An-
fangsbedingungen folgt, steckt auch alles, was an Informa-
tivem folgen könnte, schon in den Anfangsbedingungen.
Um der Entstehung von Information Rechnung zu tragen,
müssen nicht determinierte oder zumindest nicht determi-
nierbare Prozesse zugelassen werden. Es müssen Prozesse
eingeführt werden, in denen es zu Instabilitäten und Bifur-
kationen kommen kann. Prozesse der Informationsproduk-
tion sind nicht prognostizierbar, nicht wiederholbar und
grundsätzlich irreversibel. Ohne ein Aufgeben der Unter-
stellung, daß ökonomische Prozesse strikt determiniert
und jederzeit wiederholbar sind, wird es eine Informati-
onsökonomik, die den Namen verdient, nicht geben.
Bei allen Schwierigkeiten, die mit der Einführung nicht-
bestimmter Prozesse in die nun einmal bestimmende
Theorie verbunden sind, wird es sich die Wirtschaftswis-
senschaft nicht leisten wollen – und können! – die Infor-
mationsökonomie links liegen zu lassen. Sie wird sich auf
das scheinbar paradoxe Unterfangen einlassen müssen,
Prozesse mit offenen Freiheitsgraden in die Theorie einzu-
führen. Sie wird sich diesem Unterfangen um so weniger
entziehen können, als bereits eine Disziplin existiert, die
die Entstehung von Neuem mit Hilfe formaler Verfahren
modelliert. Gemeint ist die nichtlineare Dynamik komple-
xer Systeme. Es ist eine offene Frage, wie weit es gelingen
wird, das Zusammenspiel von Marktteilnehmern mit Hilfe
dieser Dynamik zu modellieren. Es ist aber bemerkens-
wert, daß sich einer der Anwendungsbereiche der nichtli-
nearen Dynamik komplexer Systeme Informationsdyna-
mik nennt.6 Die Informationsdynamik ist ein Ansatz für
die Beschreibung der Produktivität in Sachen Neuigkeits-
wert in dem Sinn, daß sie es erlaubt, die Unbestimmtheit
der erzeugenden Prozesse zu bestimmen. Sie erlaubt eine
Klassifikation von Prozessen etwa danach, wie sich die
Unbestimmtheit im zeitlichen Verlauf entwickelt. In die-
sem Zusammenhang spielt sogar der Begriff der Bedeu-
tung eine Rolle. Wenn auch völlig offen ist, wie weit sich
dieser Begriff für sozialwissenschaftliche Anwendungen
eignet, so geht es in der Informationsdynamik doch um
jene Art rekursiver Prozesse, die in die ökonomische Mo-
dellwelt eingeführt werden müssen, wenn Aufmerksam-
keit als knappe Ressource des ökonomisch rationalen Ent-
scheidens berücksichtigt werden soll.
Hoffnungslos ist der Fall einer Theorie der Wissenspro-
duktion also nicht. Vielmehr ist damit zu rechnen, daß die
ökonomische Theorie um Teile der Aufmerksamkeitstheo-
rie erweitert wird. Erstens wird es eine Informationsöko-
nomik in der einen oder anderen Form geben, zweitens
wird diese in der einen oder anderen Form Anleihen bei
der Attraktionsökonomie machen. Die Informationsöko-
nomik wird kaum umhin können, auf die attrahierte Auf-
merksamkeit als Maß für semantische beziehungsweise
pragmatische Information zurückzugreifen. Allerdings
wird sich die Erweiterung strikt an den Rahmen halten, der
durch jene zweite Prämisse vorgegeben ist. Es ist nämlich
kein Weg zu sehen, wie die Interdependenz zwischen den
Präferenzordnungen berücksichtigt werden könnte. Im
Gegensatz zur Öffnung des Rationalitätsbegriffs für den
Umgang mit der knappen eigenen Aufmerksamkeit ist an
eine Öffnung für den Umgang mit der geschätzten anderen
Aufmerksamkeit vorerst nicht zu denken. Letztere würde
das Kalkül förmlich sprengen.
Mit der Einbeziehung der zwischenmenschlichen Wert-
schätzung kommen Präferenzen für die Eigenschaften
fremder Präferenzordnungen ins Kalkül. Wo mit Präferen-
zen für die Eigenschaften anderer Präferenzordnungen
gerechnet werden muß, tut sich abermals ein unabschließ-
barer Regreß auf. Muß mit Präferenzen für Eigenschaften
anderer Präferenzordnungen gerechnet werden, dann muß
auch mit Präferenzen für den Wert gerechnet werden, der
in den anderen Präferenzordnungen auf die Eigenschaften
wieder anderer Präferenzordnungen gelegt wird. Anders
als der Regreß, in den die rationale Verwendung der eige-
nen Aufmerksamkeit verwickelt, läuft der Regreß der In-
terdependenz auf mehr als einen nichtverschwindenden
Rest an Unbestimmtheit hinaus. Er löst eine kombinatori-
sche Explosion aus. Die Verflechtung der Präferenzord-
nungen kennt – theoretisch – keine Grenzen. Meine Präfe-
renz für das Aussehen deiner Präferenzordnung schließt
nicht nur deine Präferenzen für das Aussehen der Präfe-
renzordnungen Dritter ein, sondern möglicherweise auch
Präferenzen dritten, vierten und höheren Grads an Indi-
rektheit. Es ist zwar unrealistisch, anzunehmen, daß die
Präferenzordnungen tatsächlich in dieser ausufernden
Komplexität verflochten sind, denn diejenigen unserer
Beziehungen, in denen indirekte Präferenzen noch zählen,
sind auf wenige Menschen begrenzt. Im theoretischen
Modell muß jedoch offen bleiben, wie sich diese Bezie-
hungen – oder genauer: wie sich die Werte, die in den Be-
ziehungen auf die Werthaltungen der jeweils anderen ge-
legt werden – im Lauf der Interaktion entwickeln. Es ist
nicht zu sehen, wie diese Komplexität theoretisch soll
kontrollierbar werden. Erst recht ist nicht zu sehen, wie
die Unabschließbarkeit in der intersubjektiven Dimension
gleichzeitig mit der Unbestimmtheit in der intrasubjekti-
ven Dimension in den Griff zu bekommen sei.
Die Erweiterung der ökonomischen Theorie wird sich
wohl oder übel auf den unpersönlichen, versachlichten
Teil der Aufmerksamkeitsökonomie beschränken. Es ist
nicht damit zu rechnen, daß das Wechselspiel der zwi-
schenmenschlichen Wertschätzung und daß die Ökonomie
der Selbstwertschätzung so rasch in einem Modell auftau-
chen werden. Wenn, dann wird die Theorie den professio-
nellen, geschäftsmäßigen Umgang mit der Aufmerksam-
keit herauspräparieren. Sie wird die Art von Einkünften
herausgreifen, die von den anonymen Zählwerken erfaßt
werden. Wie von selbst wird sich eine Abgrenzung jenes
Teils der Aufmerksamkeitsökonomie, der mit »Wirt-
schaft« assoziiert wird, von demjenigen ergeben, der an
Psychologie und Sozialpsychologie denken läßt. Bemer-
kenswerterweise folgt diese Grenzziehung jedoch keiner
vorgefundenen Abgrenzung von Tätigkeitsbereichen, son-
dern lediglich der methodischen Ausklammerung formal
nicht bewältigbarer Komplexität.

Soziale Intelligenz

Der Effekt, den diese Ausklammerung für die Definition


des Gegenstands der Theorie hat, ist nun allerdings schla-
gend. Mit der Präferenz für andere Präferenzen werden
alle Vorlieben und Abneigungen ausgeklammert, die sich
auf die Vorlieben und Abneigungen anderer Menschen
beziehen. Mit den Vorlieben und Abneigungen, die sich
auf die Vorlieben und Abneigungen anderer Menschen
beziehen, fällt das gesamte Geflecht der mitmenschlichen
Gefühle unter den Tisch. Die Ausklammerung der Präfe-
renz für andere Präferenzen hat den Effekt, daß nur noch
solche Gefühle in die ökonomische Bewertung eingehen,
die mit den Gefühlen der Mitmenschen nichts zu tun ha-
ben. Da es subjektive Präferenzen nur gibt, wo angenehme
oder unangenehme Gefühle den Vorzug geben, können
Gefühle nicht überhaupt ausgeklammert werden, wo von
ökonomischer Rationalität die Rede sein soll. Die Aus-
klammerung der Präferenz für andere Präferenzen zieht
nun aber einen scharfen Schnitt zwischen ökonomischer
Rationalität und mitmenschlicher Emotionalität.
Seltsamerweise reproduziert diese Rettungsaktion aus
theoretischer Not genau jenen Bruch zwischen Verstand
und Gefühl, der praktisch als die größte Selbstverständ-
lichkeit gehandelt wird. Ökonomische Rationalität, so will
es der common sense, hat mit mitmenschlichen Gefühlen
nichts zu tun. Nicht Mitgefühl, sondern mitmenschliche
Kälte gilt als rational im ökonomischen Sinne. Das Küm-
mern um die Gefühle anderer ist Sache der Ethik, aber
nicht der Klugheit.
Es wäre einer ausführlichen Untersuchung wert, wie es
zu dieser Meinung kommen konnte. Der für selbstver-
ständlich gehandelte Bruch zwischen Verstand und Gefühl
versteht sich nämlich keineswegs von selbst. Wer im Um-
gang mit anderen Menschen auf die anderen Gefühle nicht
achtet, verhält sich alles andere als klug. Die scharfe
Trennung zwischen ökonomischer Rationalität und mit-
menschlicher Emotionaltät ist plausibel einzig und allein
aus der künstlich verengten Sicht der Nutzenmaximierung.
Sobald diese theoretisch verordnete Engstirnigkeit aufge-
geben wird, spielen die Gefühle anderer eine ganz ent-
scheidende Rolle für die Verfolgung des eigenen Vorteils.
Rational ist es nur für das Kunstprodukt des homo oeco-
nomicus, auf die Gefühle anderer zu pfeifen. Dieses fikti-
ve Wesen kennt weder Liebe noch Freundschaft, weder
Symphathie noch Gunst, weder Eitelkeit noch Stolz. Was
die soziale Geschicklichkeit anbelangt, ist der homo oeco-
nomicus ein Idiot. Er fragt weder, wie er vor sich selbst,
noch, wie er vor anderen dasteht. Sein Gefühlsleben ist
das eines selbstzufriedenen Autisten. Menschen wie du
und ich sind von anderer Art. In ihrem Fühlen spielen die
Gefühle anderer eine ganz entscheidende Rolle. Ihre ganz
großen wie auch ihre ganz kleinen Gefühle beziehen sich
aufs andere Fühlen. Menschen aus Fleisch und Blut sind
klinisch krank, wenn sie auch nur an Anflügen von Autis-
mus leiden. Gesunde Menschen haben ausnehmend starke
Präferenzen für die Eigenschaften der Präferenzordnungen
ihrer Mitmenschen. Sie wünschen sich von ganzem Her-
zen solche Präferenzordungen, in denen sie selbst mög-
lichst gut dastehen. Sie müssen gut im anderen Bewußt-
sein dastehen, um vor sich selbst bestehen zu können. Sie
sind im Grundsatz Selbstwertmaximierer und nur in Aus-
nahmesituationen bloße Nutzenmaximierer. Wie kommt es
also, daß sich der common sense auf die artifizielle Sicht
der Nutzenmaximierung kapriziert?
Der Grund für diese eigenartige Verkürzung liegt in der
stillschweigenden Identifikation der ökonomisch maßgeb-
lichen Belange mit den Belangen des materiellen Reich-
tums und des physischen Komforts. Haben Geld und die
leiblichen Bedürfnisse das Sagen, dann sind die Gefühle
anderer Menschen tatsächlich zweitrangig. Die Ausklam-
merung der mitmenschlichen Gefühle hat umgekehrt den
Effekt, die nur sachlich bezogenen Vorlieben und Abnei-
gungen herauszupräparieren. Wer aber nimmt schon mit
dem rein Sachlichen vorlieb? Wem reicht es zu seinem
Glück, daß die leiblichen Bedürfnisse befriedigt werden?
Wem reicht es schon, reich zu sein, ohne auch vor anderen
gut dazustehen? Wer will nicht geliebt und geschätzt, ge-
mocht und bewundert werden? Die Voreingenommenheit
für den materiellen Reichtum und den physischen Komfort
muß in Verbohrtheit umschlagen, damit das Wechselspiel
der zwischenmenschlichen Wertschätzung tatsächlich in
den Hintergrund tritt. Solche Verbohrtheit mag vorkom-
men, sie darf aber nicht mit einer natürlichen Einstellung
verwechselt werden. Überdies ist sie auf dem Rückzug,
wo sie am ehesten noch zu finden war. Der krude Materia-
lismus ist inzwischen sogar in der Geschäftswelt out. Wä-
re es also nicht an der Zeit, den vermeinten Gegensatz von
ökonomischer Rationalität und mitmenschlicher Emotio-
nalität einer gründlichen Revision zu unterziehen?
Die Revision, wie wohl sie auch motiviert sein mag,
wird auf ein Bollwerk stoßen. Sie rennt, ob sie es will oder
nicht, gegen das Weltbild der Wissenschaft an. Die im
ökonomischen Sinn materialistische Grundeinstellung ist
eine Sache. Eine andere ist die materialistische Weltsicht
der Wissenschaft. Die Belange des anderen Bewußtseins
haben auch und gerade in der wissenschaftlichen Welt-
sicht keinen Stellenwert. Der ökonomische und der wis-
senschaftliche Materialismus ergänzen einander auf wun-
dersame Weise. Das – zumindest offizielle – Selbstver-
ständnis der Wissenschaft verschlösse sich dem Gedanken
seiner ökonomischen Effizienz sofort, wenn mit den Ge-
sichtspunkten ökonomischer Rationalität zwangsläufig
auch solche der mitmenschlichen Emotionalität einge-
schleppt würden. Erstens darf das Gebot der Sachlichkeit
nicht wanken und zweitens käme die Wissenschaft mit
ihrer eigenen Ontologie in Konflikt, würde sie dem Phä-
nomen des Fremdseelischen einen Stellenwert in ihrem
Selbstverständnis einräumen. Aus wissenschaftlicher –
oder genauer: aus wissenschaftstheoretischer – Sicht ist
die Blindheit fürs Fremdseelische kein Makel, sondern
mühsam durchgesetzte Norm.
Wissenschaftstheoretisch ist die Seelenblindheit des ho-
mo oeconomicus korrekt. Entsprechend hat die Reduktion
des Berufsziels des Wissenschaftlers auf das bloße Sam-
meln von Zitaten den nicht nur wirtschaftstheoretisch,
sondern auch wissenschaftstheoretisch gewünschten Ef-
fekt. Wissenschaftler arbeiten im Sinne der Wissenschafts-
theorie, wenn sie ihr Konto im SCI maximieren wie Ge-
schäftsleute das auf der Bank. Der Wissenschaftsbetrieb
läuft nach den Regeln der »Logik der Forschung«, wenn
die wissenschaftliche Kommunikation nach dem Muster
vollkommener Konkurrenz verläuft. Indem sie Zitate
sammeln, achten Wissenschaftler zwar irgendwie auf die
Rolle, die sie im Bewußtsein der Kollegen spielen. Auf
dem Konto der Zitate erscheint die eingenommene Auf-
merksamkeit jedoch nur noch als abzählbares Quantum.
Diese praktische Reduktion auf die Währungsfunktion hat
verblüffenderweise genau denselben Effekt wie die me-
thodische Ausklammerung des Interdependenzproblems.
Auf beide Fälle, auf den praktischen wie auch auf den
theoretischen, trifft es nun allerdings zu, daß die Redukti-
on bloß einschränkend ist. Der Blickwinkel verengt sich,
der Blick selber aber entdeckt keinen Bruch. Die Redukti-
on legt einen Schnitt, stößt aber auf keinen Graben. Sie
härtet einen fließenden Übergang zum Kontrast, begründet
aber keinen fundamentalen Unterschied in der Sache. Sie
verweist vielmehr indirekt auf den Zusammenhang, der
zwischen ökonomischer Rationalität und mitmenschlicher
Emotionalität besteht. Die methodische Reduktion klam-
mert nur aus und führt nicht zurück. Die Karikatur des
forschenden homo oeconomicus macht klar, wie weit die
Reduktion der Aufmerksamkeit auf die reine Währungs-
funktion von der Praxis entfernt ist. Die Ausklammerung
des Interdependenzgeflechts persönlicher Vorlieben und
Abneigungen bleibt künstlich auch dann, wenn Sachlich-
keit im wissenschaftlichen Austausch die Regel ist. Das
Bild des seelenblinden Maximierers von Zitaten bleibt
karikierend auch und gerade dann, wenn dem forschenden
homo oeconomicus Findigkeit und Kreativität zugestan-
den werden. Kurz: Der tatsächliche Graben liegt zwischen
der Theorie und der Praxis der Wissenschaft.
Die künstliche Polarisierung zwischen ökonomischer
Rationalität und zwischenmenschlicher Emotionalität ist
eine Aktion zur Rettung der Theorie. Praktisch gäbe es
keine Rationalität im attraktionsökonomischen Sinn, wenn
ökonomische Rationalität und mitmenschliche Emotionali-
tät unverträglich wären. Also wäre es auch höchst ver-
wunderlich, wenn die scharfe Trennung eine notwendige
Voraussetzung für die Effizienz der Wissensproduktion
sein sollte. In Wirklichkeit ist sie denn auch weder not-
wendig noch hinreichend für ein effizientes Arbeiten ar-
beitsteiliger Forschung. Die Annahme, daß Forscher ihr
Einkommen an Aufmerksamkeit ausschließlich in der
Form von Zitaten maximieren, erlaubt es zwar, die Wis-
sensproduktion mit den Mitteln der theoretischen Ökono-
mie anzugehen. Sie ist aber nicht notwendig zur Sicherung
der Effizienz, da auch vollkommene Konkurrenz im wis-
senschaftlichen Austausch schon hinreicht, um Produktivi-
tät als Maßstab der Produktion durchzusetzen. Sie reicht
auch nicht hin, um den kollektiven Erkenntnisfortschritt zu
optimieren, denn dieser Fortschritt wird nur optimiert,
wenn die Wissenschaft außer ehrgeizigen auch brillante
Köpfe anzieht.
Die Wissenschaft wäre sehr viel ärmer an Höchstleistun-
gen, wenn sie nicht mit dem besonderen Anreiz kongenia-
ler Beachtung locken könnte. Kongenial ist die Beachtung,
die von Leuten mit Sinn für die Sache, also hohem An-
spruch und kompetentem Urteil stammt. Es ist etwas ande-
res, ob man überhaupt Beachtung oder die Aufmerksam-
keit von jemandem findet, mit dem das besondere Interes-
se und das gleiche Berufsethos verbindet. Hinter der auf-
opfernden Hingabe und der außerordentlichen Frustrati-
onstoleranz, die bedeutende Leistungen in der Wissen-
schaft abverlangen, steckt mehr als nur Neugier und die
Vorstellung eines dicken Kontos an Zitaten. Dahinter
steckt auch der Wunschtraum, in jenem Bewußtsein Auf-
sehen zu erregen, zu dem man selber aufblickt. Es ist der
besondere Vorzug der Aufmerksamkeit der Miteingeweih-
ten, der Wissenschaftler davon abhält, nach dem breiten
Publikum zu schielen. Ginge es ums reine Quantum an
Beachtung, dann wäre eine Karriere in der Unterhaltungs-
branche oder in der Publizistik einer wissenschaftlichen
Laufbahn jederzeit vorzuziehen. Nur dadurch, daß sie mit
ausnehmend hoch begabter und hoch motivierter Auf-
merksamkeit belohnen kann, kann die Wissenschaft über
so viel begabte und motivierte Aufmerksamkeit verfügen.
Die Wissenschaft ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die
motivierende Kraft, die vom zwischenmenschlichen Ein-
klang der Vorlieben und Abneigungen ausgeht. Ein reali-
stisches Bild ihres Betriebs darf die intersubjektive De-
pendenz der subjektiven Präferenzen so wenig vernachläs-
sigen, wie es jene Öffnung außer acht lassen darf, durch
die das Neue einfällt. Ohne Rückgriff auf die Interdepen-
denz der Präferenzen läßt sich noch nicht einmal das Kri-
terium der Effizienz an die Realität der Wissensproduktion
legen. Effizient arbeitet das Kollektiv der Forscher näm-
lich erst dann, wenn diese aus individueller Sicht ihr Be-
stes geben. Auf individueller Ebene bedeutet die optimie-
rende Verwendung der verfügbaren Aufmerksamkeit et-
was ganz Besonderes. Die Fähigkeit zur optimierenden
Verwendung der eigenen Aufmerksamkeit ist ein anderer
Ausdruck für Intelligenz. Im uneingeschränkten Sinne
effizient arbeitet ein sich selbst organisierender Betrieb
arbeitsteiliger Forschung dann und nur dann, wenn es ihm
gelingt, die Intelligenz der einzelnen Forscher aus der letz-
ten Reserve zu locken.
Die Intelligenz ihrer Mitglieder kann eine Organisation
aus der letzten Reserve locken nur, wenn sie deren
Selbstwertgefühl von der richtigen Seite her anspricht. Die
richtige Seite für das Ansprechen des Selbstwertgefühls ist
die, von deren wertschätzender Zuwendung es seine Stär-
ke bezieht. Wer so kritisch, nachdenklich, sachlich be-
wandert und anspruchsvoll ist, wie es zum Metier des For-
schers gehört, wird die Stärke seiner Selbstwertschätzung
nur aus ihrerseits kritischer, nachdenklicher, in der Sache
bewanderter und derselben Höhe des Anspruchs verpflich-
teter Anerkennung ziehen. Bloß anonyme Beachtung und
bloß sachliche Anerkennung lohnen noch nicht jede An-
strengung. Wirklich jede Anstrengung lohnt nur die Wert-
schätzung seitens derer, auf die wir selbst den größten
Wert legen. Eine Organisation allerdings, die über das
Gratifikationssystem dieser Art Wertschätzung verfügt,
hat die Chance, sogar als soziales System intelligent zu
agieren.
Intelligenz besteht, wie immer sie sonst noch definiert
werden mag, in der Gabe zur effizienten Verwendung der
verfügbaren Aufmerksamkeit. Intelligenz haben Wesen,
die ihre Aufmerksamkeit nicht nur konzentriert, sondern
auch überlegt verwenden können. Damit die verfügbare
Aufmerksamkeit in überlegter Weise verwendet werden
kann, muß die Selbstbestimmung einen Spielraum haben.
Intelligenz setzt damit einen Freiheitsgrad wie jenen vor-
aus, der sich im Regreß der selber noch rationalen Ver-
wendung der verfügbaren Aufmerksamkeit auftut. Als in
selbstbestimmter Weise optimierte ist die intelligente Ver-
wendung von Aufmerksamkeit andererseits nicht auf das
Individuum beschränkt. Auch eine Organisation, die die
ihr zu Diensten stehende Aufmerksamkeit effizient im
Sinne des Organisationsziels verwendet, kann nach diesem
Kriterium als intelligent gelten.
Weil sie über das Gratifikationssystem der kongenialen
Beachtung verfügt, hat die Wissenschaft die theoretische
Chance, sich im Sinne einer kollektiven Intelligenz des
Fortschritts der Erkenntnis anzunehmen. Sich im Sinne
einer kollektiven Intelligenz des Erkenntnisfortschritts
anzunehmen bedeutet einerseits, sich dieses Fortschritts
als eines selbstbestimmten Zieles anzunehmen. Intelligent
wird ein Wesen andererseits nicht schon dadurch, daß es
eine vorgegebene Zielfunktion optimiert. Intelligenz be-
steht in der Gabe zur überlegten und damit zur autonom
bestimmten Verwendung der verfügbaren Aufmerksam-
keit. Über die Autonomie eines Individuums verfügt ein
soziales System nun allerdings nicht. Ein soziales System
hat keinen Selbstwert, den es maximieren könnte. Es ist
allenfalls in der Lage, die Wertschätzung, die es in der
öffentlichen Meinung genießt, zu maximieren. Damit sie
ihre Wertschätzung in der öffentlichen Meinung maxi-
miert, muß die Wissenschaft nun allerdings mehr liefern
als nur technisch und organisatorisch verwertbares Wis-
sen. Es gibt außerhalb der Wissenschaft niemanden, der
kompetent wäre zu definieren, worin der kollektive Er-
kenntnisfortschritt bestehen soll. Also wird die Wissen-
schaft nur dann als intelligentes Sozialsystem gelten kön-
nen, wenn ihr die Kompetenz zur Selbstdefinition ihres
Organisationsziels zugetraut wird.
Kann man einem Berufsstand, der sich aus kanonischen
Nutzenmaximierern zusammensetzt, die Bestimmung dar-
über anvertrauen, worin der kollektive Erkenntnisfort-
schritt bestehen soll? Doch eher nicht. Der kanonische
Nutzenmaximierer hat nämlich keinerlei Kompetenz in
moralischen Fragen. Die Nutzenmaximierung ist mora-
lisch neutral. Die Frage jedoch, worin der kollektive Er-
kenntnisfortschritt besteht, ist moralisch brisant. Die Wis-
senschaft dürfte als intelligentes Sozialsystem also nur
dann angesprochen werden, wenn erstens ihre Mitglieder
kompetent sind, moralisch zu urteilen, und wenn ihr Grati-
fikationssystem diese Kompetenz zweitens für die Selbst-
definition des Organisationsziels nutzbar macht.
Kann man Selbstwertmaximierer Kompetenz in Sachen
Moral zutrauen? Man kann es insofern, als sie keine sturen
Egoisten sind. Das Selbstwertgefühl ist abhängig von
empfangener Wertschätzung. Die empfangene Wertschät-
zung zählt sowohl, was die Gefühle der anderen für einen,
als auch, was die eigenen Gefühle für die anderen betrifft.
Sobald diese Gefühle ins Spiel kommen, hört der eigene
Vorteil auf, nur von den eigenen Wünschen und Abnei-
gungen, Hoffnungen und Befürchtungen, Sehnsüchten und
Ängsten abzuhängen. Der Selbstwert geht auf den intrinsi-
schen Wert der empfangenen Wertschätzung zurück. Re-
den nun aber die anderen Gefühle mit, dann werden altrui-
stische Gesichtspunkte für die Suche nach dem eigenen
Vorteil erheblich. Ja mehr noch: Es kommt dann eine In-
tuition ins Spiel, von der gemeinhin angenommen wird,
daß sie der individuellen Vorteilsuche widerspricht. Unser
intuitiver Sinn – um nicht zu sagen: Scharfsinn – für das
andere Spüren ist das Gewissen.
Das Gewissen ist die Vertretung des anderen Spürens im
eigenen. Das Gewissen spricht weder ausschließlich intel-
lektuell noch ausschließlich emotional, es urteilt aber so
scharf wie der Verstand und kann so beißen wie die Eifer-
sucht. Sein Sprechen macht, daß die Gefühle anderer mit
Sitz und Stimme in der Kabinettrunde der eigenen Gefühle
vertreten sind. Diese Vertretung ist irrational aus der Sicht
der Nutzenmaximierung. Sie ist aber alles andere als irra-
tional, wo sich die Rationalität an der Fähigkeit bemißt,
die dem Anspruch der Selbstwertschätzung gemäße Rolle
im anderen Bewußtsein zu spielen. Wo es statt des Nut-
zens den Selbstwert zu maximieren gilt, wird das Gewis-
sen zu einem unverzichtbaren Organ der sozialen Intelli-
genz. Wer begriffen hat, was es bedeutet, eine eigene Rol-
le im anderen Fühlen zu spielen, kann gar nicht umhin, das
andere Fühlen im eigenen zu repräsentieren. Für sie oder
ihn ist die Sorge um das andere Fühlen kein Auftrag einer
abstrakten Moral, sondern eine Forderung der Klugheit.
Diese Art Klugheit reicht völlig aus, um in moralischer
Hinsicht kompetent darüber zu urteilen, worin der kollek-
tive Erkenntnisfortschritt bestehen soll. Man braucht keine
christliche oder islamische oder hinduistische Ethik, um
beurteilen zu können, wo das Fortschreiten im Forschen
moralisch bedenklich wird. Es genügt, die Organe der so-
zialen Intelligenz zu derjenigen Umsicht und Urteilskraft
heranzubilden, wie sie in der Wissenschaft sonst auch zum
Metier gehören.
Um zusammenzufassen: Die Frage nach der eigenen In-
telligenz des Sozialsystems Wissenschaft wäre aus der
Luft gegriffen, hätte ihr Gratifikationssystem nicht die
Potenz, sowohl das Wissen als auch das Gewissen anzu-
sprechen. Diese Potenz bedeutet umgekehrt, daß auch der
Begriff der Effizienz in der Wissensproduktion so lange
nur eingeschränkte Bedeutung beanspruchen kann, als er
nicht auf der Höhe des Anspruchs sozialer Intelligenz
formuliert ist. Soziale Intelligenz hat den Doppelsinn von
sozialer Geschicklichkeit auf der individuellen und sozial
verkörperter Intelligenz auf der organisatorischen Ebene.
Im uneingeschränkten Sinne effizient arbeitet die Wis-
sensproduktion erst auf dem Niveau, wo beide Bedeutun-
gen einander voraussetzen und ergänzen – oder anders: wo
bestes Wissen und bestes Gewissen zusammenfinden.
Dieses hohe Ideal steht in einem unüberbrückten Gegen-
satz zu der reduktionistischen Einstellung, die die Wissen-
schaft aus methodischen Gründen dem Fremdseelischen
gegenüber einnimmt. Solange dieser Gegensatz nicht ir-
gendwie überbrückt ist, ist es verfrüht, die Wissenschaft
als intelligentes Sozialsystem anzusprechen. Immerhin
macht das Ideal nun aber klar, mit welch hohen Kosten der
Reduktionismus für die Wissenschaft selbst verbunden ist.
In der Perspektive des hohen Anspruchs an die Effizienz
des Wissenschaftsbetriebs dreht sich die Beweislast um. In
dieser Perspektive wird deutlich, daß nicht nur der Ein-
schluß der eigenen Wirklichkeit des Fremdseelischen
kostspielig wäre, sondern auch der Ausschluß empfindlich
teuer kommt. Für ihre reduktionistische Einstellung be-
zahlt die Wissenschaft mit Blindheit sowohl für ihre po-
tentielle Intelligenz als auch für die Möglichkeit einer ra-
tionalen Ethik.

Rationalität und Moralität

Im Kontext der Attraktionsökonomie ist es eine Frage


des Anspruchs an die Rationalität selbst, wie weit ökono-
mische Rationalität und mitmenschliche Emotionalität
zusammenfinden. Bei einem Anspruch auf der Höhe des
Wortsinns sozialer Intelligenz ist eine Trennung ausge-
schlossen. Die zusammenführende Kraft des hohen An-
spruchs reicht hier sogar noch weiter. Sie reicht hin, um
die Trennwand zwischen Rationalität und Moralität durch-
lässig zu machen.
Im Tausch der Aufmerksamkeit ist es gerade kein Zei-
chen idealtypischer Rationalität, wenn sich die Partner im
idealtypischen Sinne egoistisch verhalten. Im Gegenteil.
Auf der zwischenmenschlichen Ebene fährt nur gut, wer
über Einfühlungsvermögen verfügt und es walten läßt, wer
großzügig im Vorschießen wohlmeinender Beachtung ist,
wer moralisches Vertrauen genießt. Menschen, die ihren
eigenen Vorteil zu eng sehen, sind im Umgang mit ande-
ren arme Schlucker. Die Häßlichkeit, mit welcher der
sichtbare Egoismus zeichnet, mag überstrahlt werden
durch gutes Aussehen oder andere Talente. Das beste aus
der Beziehung zu anderen Menschen macht aber nur, wer
sich auch das andere Leid und die andere Lust etwas an-
gehen läßt. Seinen Selbstwert maximiert nur, wer sich
mitfühlenderweise im Geflecht der intersubjektiven Ab-
hängigkeiten der subjektiven Vorlieben und Abneigungen
zurechtfindet.
Es war einer der schlechteren Ideen der abendländischen
Philosophie, die Ethik als die Lehre vom Sollen zu
bestimmen. Die Lehre vom Sollen behauptet, daß es Impe-
rative gibt, die in einem Jenseits der individuellen Einsicht
gründen. Die Ethik als Lehre vom Sollen erblickt in der
Moral ein transzendentes Gebot und im Gewissen eine
Verinnerlichungsform auswendiger Regeln. Vom Bären-
dienst, den ihr diese Auffassung geleistet hat, hat sich die
Moral nicht wieder erholt, seitdem die Religion als die
vermeintlich nötige äußere Stütze zerfallen ist. Ohne diese
Auffassung wäre kaum jemand auf den Gedanken verfal-
len, Rationalität und Moralität in jenem scharfen Sinne zu
trennen, wie er in der Folge ins allgemeine Bewußtsein
eingesickert hat. Ohne diese Auffassung wäre es vielmehr
natürlich gewesen, die Aufgabe der philosophischen Ethik
in der rationalen Explikation der intuitiven Gabe des Ge-
wissens zu erblicken.
Das Gewissen ist kein Organ des Intellekts, es verfügt
aber über eine schlagende Urteilskraft. Das Gewissen ist
auch kein eigentliches Gefühl, es hat aber den sprichwört-
lichen Biß. In der Präzision der Wahrnehmung und in der
spontanen Sicherheit des Urteils ist es gleichen Rangs mit
dem Sprachgefühl und dem ästhetischen Sinn. Unser
Sprachgefühl bezieht sich gerade nicht nur auf die formale
Wohlgeformtheit des Ausdrucks, sondern auch auf die
inhaltliche Stimmigkeit des Gesagten; sein Urteilen ist
intuitives Denken. Unser ästhetischer Sinn ist gerade nicht
auf das bloße Geschmacksurteil beschränkt, sondern
schließt die Kompetenz in künstlerischen und gestalteri-
schen Urteilen ein; das Urteilen über kulturellen Rang ist
ästhetisch. Das Gewissen äußert sich gerade nicht nur in
der Gewissenhaftigkeit, mit der wir unseren Pflichten
nachkommen, sondern darin, daß uns die Belange desjeni-
gen Bewußtseins kümmern, in dessen Spiegel wir unser
Selbstbild betrachten; das Gewissen urteilt aus der Logik
der Selbstwertschätzung.
Anders als Erkenntnistheorie und ästhetische Theorie
sah die Ethik keinen Grund, die vorgefundenen Gaben der
Intuition rational zu ergründen. Vielmehr ist es in der
Ethik üblich, das Gewissen als die »nur« psychologische
Erscheinungsform des von höherer Warte gebotenen Sol-
lens anzusehen. Ist es jedoch plausibel, die schlafwandle-
rische Sicherheit und die prompte Schlagkraft des Gewis-
sens von einer bloß verinnerlichten Form auswendiger
Regeln zu erwarten? Ist diese Annahme nicht so absurd
wie etwa die Unterstellung, daß das Denken in der An-
wendung auswendig gelernter logischer Regeln und die
ästhetische Urteilskraft in der Anwendung eingetrichterter
Geschmacksregeln besteht? Ist es nicht umgekehrt so, daß
die Auswendigkeit der Regeln selber von ihrem bloß re-
konstruierten Charakter herrührt? Vollziehen diese Regeln
nicht lediglich nach, was die Intuition immer schon be-
herrscht?
Gewiß, sowohl das Denken wie der Geschmack als auch
das Gewissen können durch die Beschäftigung mit expli-
zierten Regeln gebildet und geschärft (wenn freilich auch
verbildet) werden. Die Annahme aber, daß das Gewissen
nach keiner inneren Logik urteile, ist so unplausibel wie
die, daß das Denken nur konventionelle Formen der
Schlüssigkeit kenne und das ästhetische Urteil nur gesell-
schaftlich zugemuteten Regeln folge. Von den Gaben der
Intuition hat wenig verstanden, wer von ihrer inneren Lo-
gik nichts versteht. Die Logik, nach der das Gewissen ur-
teilt, ist die der Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von
empfangener Wertschätzung. Wo diese Abhängigkeit be-
steht, wird es inkonsequent, der anderen Gefühle nicht zu
achten. Sie können nämlich nur in dem Maße zählen, in-
dem sie auch für wert gehalten werden. Die Abhängigkeit
des Selbstwertgefühls relativiert den Unterschied zwi-
schen den eigenen und den anderen Gefühlen. Das Gewis-
sen rächt die Verletzung derjenigen Gefühle, von denen
die Selbstwertschätzung tatsächlich oder der Möglichkeit
nach abhängt.
Das Gewissen bedarf keiner äußeren Gebote, um aktiv
zu werden. Es ist ein natürliches Organ der Selbstachtung.
Es hat Sitz und Stimme in der inneren Kabinettrunde, so-
bald das Selbst sich schätzen mag. Die Selbstachtung ge-
bietet: Was du nicht willst, daß man dir tu’, das füg auch
keinem andern zu! Sobald der Wunsch nach Selbstwert-
schätzung erwacht, ist auch dieses Gebot in Kraft. Das
Gewissen hält uns nicht im Namen eines höheren Sollens,
sondern im Namen dessen von der Mißachtung dieses Ge-
bots ab, was wir von uns selbst halten dürfen.
Es ist die Logik der abhängigen Selbstwertschätzung, die
dem Gewissen seine so prompte und schlagende Urteils-
kraft verleiht. Sein Biß bestätigt noch indirekt die Substan-
tialität der Abhängigkeit. Nur folgerichtig, wenn es mit
dem Entzug von Selbstwertschätzung straft. Seine War-
nung läßt spüren, was auf dem Spiel steht. Seine Strafe ist
furchtbar, weil sie uns zwingt, uns selbst zu verachten.
Das Gewissen läßt sich ohne nachhaltige Wirkung für das
Selbstgefühl nicht unterdrücken. Man kann es zwar, wie
alle intuitiven Gaben, stumpf machen. Man kann es aber
nicht abstumpfen, ohne die gesamte Ökonomie der
Selbstwertschätzung zu stören – um nicht zu sagen: zu
zerstören.
Die Ökonomie der Selbstwertschätzung stellt einen An-
satz dar, der es ermöglicht, die Urteilskraft des Gewissens
nach den Beispielen der intellektuellen und ästhetischen
Urteilskraft zu explizieren. Sie erlaubt nach den Gründen
der Triftigkeit des Gewissensurteils und danach zu fragen,
warum das Gewissen so und nicht anders spricht. Die
Ökonomie der Selbstwertschätzung läßt, um es kurz und
bündig zu sagen, das Projekt einer rationalen Ethik ins
Auge fassen. Eine rationale Ethik ist, wessen die Wissen-
schaftstheorie bedarf, will sie das Unterfangen wissen-
schaftlicher Erkenntnis als in einem unverkürzten Sinne
rational ausweisen.
Siebtes Kapitel

Moralische Eleganz

Die Moral ist eine wirkliche Macht. Es gibt das im sozio-


logischen Sinn wirkliche Gute. Dieses wirkliche Gute setzt
entscheidende Differenzen für die Qualität des Zusam-
menlebens in einem Gemeinwesen. Unter Menschen mit
moralisch hohem Standard läßt es sich gut leben, unter
Menschen mit einem niederen kaum. In der Ökonomie der
Aufmerksamkeit übernimmt das Niveau der allgemeinen
Moral sogar die Rolle, die der Wohlstand in der materiel-
len spielt. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit kann näm-
lich nur wachsen, indem das Niveau der zwischenmensch-
lichen Wertschätzung steigt. Das Quantum an Aufmerk-
samkeit, die es in einem Gemeinwesen zu verteilen gibt,
ist mehr oder weniger konstant. Es kann umverteilt, es
kann aber nicht wesentlich gesteigert werden. Was gestei-
gert werden kann, ist der Wert, den die Menschen auf die
eingenommene Aufmerksamkeit legen. Das quantitativ
konstante Aufkommen kann ökonomisch wachsen, indem
das Niveau der zwischenmenschlichen Wertschätzung
steigt. Der knappste Ausdruck für die wirkliche Macht der
Moral ist der Einfluß, den der moralische Standard des
Umgangs auf die Wertschätzung nimmt, die aus dem Um-
gang resultiert.

Ökologischer Hedonismus

Moralisch ist der mentale Kapitalismus dem materiellen


nicht von vornherein überlegen. Vielmehr teilt er mit dem
materiellen das soziale Klassensystem. Er steht ihm in der
Rücksichtslosigkeit nicht nach, mit der die Kapitalverhält-
nisse durchgesetzt werden. Im massenmedialen Kampf um
die Aufmerksamkeit, im professionellen Geschäft der At-
traktion und im Getöse öffentlicher Schaustellung ist von
einem Bewußtsein um die besonders Qualität des um-
kämpften Guts wenig zu spüren.
Allerdings wäre das moralische Urteil Über den menta-
len Kapitalismus nun verkürzt ohne die Einbeziehung des
Unterschieds, den der Kampf um die Aufmerksamkeit und
der Kampf ums Geld in ökologischer Hinsicht machen. Es
ist ebenfalls ein moralisch begründetes Anliegen, aus der
Materialschlacht gegen die – beziehungsweise gegen unse-
re eigene -Natur auszusteigen. Ohne natürliche Lebens-
grundlage hat auch die Moral keine Grundlage. Der men-
tale Kapitalismus ist nun aber nur deshalb in der Lage,
dem materiellen auf so breiter Front Konkurrenz zu ma-
chen, weil er derselben Geschäftsmäßigkeit und derselben
Art Unternehmertum Betätigungsfelder bietet. Wenn öko-
logische als moralische Gründe zählen, dann ist es noch
nicht einmal selbstverständlich, daß eine mehr egalitäre
Verteilung der kapitalisierten Beachtung moralisch gebo-
ten ist.
Anlaß zur Hoffnung auf einen Friedensschluß mit der
Natur gibt die Entmaterialisierung des Wirtschaftsprozes-
ses noch nicht. Es reicht nicht, material- und energieinten-
sive Prozesse durch informationsintensive zu substituie-
ren.
Nicht einmal die Angleichung der Geldpreise an die
ökologischen Knappheitsverhältnisse wird die Kehre ohne
weitere Hilfe bewirken können. Soll wirklich an eine öko-
logische Umkehr des Wirtschaftens zu denken sein, dann
muß sich das wirtschaftliche Streben auch von der subjek-
tiven Seite her ändern. Das Geldverdienen darf dann nicht
länger die Hauptrolle im Leben spielen.
Es ist illusorisch, diese Umorientierung von einer mas-
senhaft einkehrenden Bereitschaft zur Abstinenz zu erwar-
ten. Wenn es einen Ausweg aus der Fixierung aufs Mate-
rielle gibt, dann nur innerhalb der hedonistischen Grund-
orientierung. Es müssen dann andere als jene Zielvorstel-
lungen in Mode kommen, die ums große Geld und den
physischen Komfort kreisen. Es muß neuartige Karriere-
möglichkeiten geben. Auch und gerade das ehrgeizige
Streben muß dann etwas Neues zu beißen bekommen. Es
müssen sich neue Realisierungschancen für das aggressive
Kämpfen um große Ziele auftun. Dieser Wandel der Ziel-
vorstellungen kann nur von einer Ökonomie kommen, die
sich in Augenhöhe der alten als Alternative anbietet. Die
neue Ökonomie muß die direkte Verfolgung der Ziele an-
bieten, die mit dem Geldverdienen schon indirekt verfolgt
wurden. Sie muß den Umweg über den materiellen Auf-
wand als überflüssig und sogar als unelegant erscheinen
lassen.
Ungleich verteilter Reichtum – sei es an Geld, an
Machtbefugnissen oder an Beachtung – ist leider auch ein
Preis für das Angebot an Karrieren, das die Gesellschaft
für Talente bereithält. Ganz unabhängig davon, ob das
Angebot von den Talentiertesten auch realisiert wird, muß
eine Gesellschaft Chancen für diejenigen offenhalten, die
der Ehrgeiz treibt, etwas Außergewöhnliches zu leisten.
Man muß sich, wenn man an den Wandel von Wertsyste-
men denkt, vor Augen halten, daß das historisch bei wei-
tem verbreitetste Angebot dieser Art die Einladung zu
kriegerischen Heldentaten war. Das ganze Feudalsystem
gründete auf die Bereitschaft, für die höhere Ehre das Le-
ben aufs Spiel zu setzen. Es war eine der entscheidenden
Zivilisierungsleistungen des materiellen Kapitalismus, daß
er Karriereziele anbieten konnte, die mit den militärischen
konkurrierten. Diese wirtschaftlich domestizierten Karrie-
reziele sind es, die heute den Korpsgeist auf den Feld-
herrnhügeln im Krieg gegen die Natur bestimmen. Will
man, daß dieser Krieg aufhört, dann müssen die wirt-
schaftlichen Ziele ernstzunehmende Konkurrenz bekom-
men.
Vielleicht löst sich das Problem von selbst durch den
Zusammenbruch der paternalistischen Wertordnung. Viel-
leicht aber wird es auch einmal als Zeichen der endgülti-
gen Wende in den Geschlechterrollen in die Geschichte
eingehen, daß der Reichtum an Beachtung generell wich-
tiger wurde als der an Geld und Macht. Es widerspräche
jedenfalls allem, was wir aus der Geschichte lernen kön-
nen, wollten wir annehmen, daß ein grundlegender Wer-
tewandel ohne ein Konkurrenzangebot möglich sei, das
dem wachsten, intensivst suchenden und zum Aufstieg
entschlossensten Teil der Gesellschaft attraktiver erscheint
als der Dienst am Hergebrachten. Ein solches Konkur-
renzangebot hat zur Zeit, wenn nicht alles täuscht, nur der
mentale Kapitalismus zu bieten.
Die soziale Ungleichheit ist nicht nur im materiellen,
sondern auch im mentalen Kapitalismus erschreckend. Die
gangbare Alternative zum Kapitalismus des Geldes besteht
aber nicht in der Gleichverteilung der Beachtung. Sie be-
steht in einem Gratifikationssystem, das auch und gerade
in der möglichen Differenzierung mit dem System der
Geldeinkommen mithalten kann. So nett die Vorstellung
einer egalitären Verteilung der in einer Gesellschaft ge-
tauschten Beachtung auf den ersten Blick erscheinen mag,
so unfreundlich erweist sich diese Vorstellung, wenn man
an die Durchsetzung eines entsprechenden Verteilungs-
schlüssels denkt. Was würde es helfen, wenn alle das
Recht hätten, einmal im Fernsehen aufzutreten, wenn nicht
gleichzeitig die Vorschrift erlassen würde, daß alle zu-
schauen müssen? Die Vorstellung seiner gesellschaftlich
durchgesetzten Gleichverteilung macht das alternative
Einkommen nicht attraktiver, sondern entwertet es über-
haupt.
Das Klassensystem der Beachtlichkeit hat nichts mit
Ketten zu tun, die in kollektiver Erhebung abzuschütteln
wären. Es hat mit unserer Konstitution als zugleich füh-
lende und denkende Wesen zu tun. Es hat damit zu tun,
daß wir mit Eitelkeit geschlagen beziehungsweise begabt
sind. Es folgt aus dem kollektiv hochentwickelten Vers-
tandesgebrauch im Spielen des Spiels »Aufmerksamkeit
tauschen«.
Dieses Spiel ist ein hartes Spiel. Es ist hart, weil es um
so viel geht. Und es ist hart, weil es ein Nullsummenspiel
ist, was das Quantum der zu verteilenden Aufmerksamkeit
betrifft. Es brächte nun aber das größte Unglück über die
Menschen, wollte man es dieser Härte wegen unterbinden.
Das Spiel folgt Regeln, die niemand ausgedacht und nie-
mand auferlegt hat.
Sie sind selber Ergebnis des Spielens. Wenn es möglich
sein soll, sie zu ändern, dann nur, indem die Spieler selber
ihren Vorteil besser erkennen.

Ordinärer und nobler Reichtum

Das Fehlen einer überlegenen Alternative ist kein Grund,


sich mit der kruden Form des mentalen Kapitalismus zu-
friedenzugeben. Krad ist die Konkurrenz um Beachtung,
die nur den Tausch- beziehungsweise Kurswert der jeweils
eigenen Aufmerksamkeit im Auge hat. Krud ist das Sy-
stem der Eitelkeit, in dem statt Geld nun eben Beachtung
gescheffelt wird. Weder moralisch noch ästhetisch ist der
Kapitalismus der Beachtlichkeit dem des Geldes überle-
gen, wo es rein geschäftsmäßig um Auflagenhöhen und
Einschaltquoten geht, wo sich der gesellschaftliche Ehr-
geiz um die Abwärme der prominenten Kapitale rangelt,
wo der neue Reichtum an Beachtung im Rummel der Pub-
licity auftrumpft.
Allerdings gehört es zu den Zeichen für den hochent-
wickelten Stand der Aufmerksamkeitsökonomie, daß sich
der beachtliche Reichtum bereits deutlich in ordinäre und
verfeinerte Formen differenziert. Es ist ja nicht so, daß alle
es genießen würden, in Talk-Shows vorgeführt zu werden,
in Klatschspalten zu prangen und von der Regenbogen-
presse hofiert zu werden. Es gibt auch jene, die auf ihr
Publikum achten und unter dem Beifall von der falschen
Seite leiden. Nicht alle zieht es ins Fernsehen, nicht alle
träumen von der Titelseite, nicht allen ist die Bestsellerli-
ste die Leiter zum Himmel. Manchen ist es wichtiger, von
denen ein bißchen bewundert zu werden, für die sie selbst
Bewunderung hegen. Nicht alle lassen sich vom Schein-
werferlicht der Öffentlichkeit blenden. Es gibt auch sol-
che, denen kritische Anerkennung wichtiger ist als der
Jubel der Massen.
Verfeinerung besteht beim beachtlichen Reichtum – wie
sonst auch – im Luxus der Selektivität. Sie beginnt, wo die
Wahllosigkeit des Buhlens um Beachtung endet. Sie ist
keineswegs das Privileg derer, die sich vor Zuspruch nicht
retten können. Sie hat ihren Platz, wo die Empfindlichkeit
aus Gründen zunimmt, die nichts mit der Säure zu hoch
hängender Trauben zu tun haben. Es sind zweierlei Trieb-
federn, die sie befördern: Snobismus und Adäquanz. Sno-
bismus ist kein schlechter Ratgeber in Fragen des ihrem
Wesen angemessenen Umgangs mit Aufmerksamkeit.
Dieser Umgang kann gar nicht selektiv genug sein. Zuge-
wandte Aufmerksamkeit verkörpert, als intrinsischen
Wert, die Wertschätzung, die die zuwendende Person für
die adressierte hegt. Selektivität im Umgang mit empfan-
gener Aufmerksamkeit bedeutet zunächst einmal, es mit
diesem intrinsischen Wert genau zu nehmen. Es ist eine
Art von Schummelei, ihn unbesehen aufs Konto der
Selbstwertschätzung zu buchen. Vornehm und tadellos im
Sinne der Selbstachtung ist nur, wer ihn genau mit derje-
nigen Wertschätzung verrechnet, die aus unabhängigen
Gründen auf die Person des Absenders gelegt wird. Wer
die Beachtung, die ihm oder ihr zufliegt, unbesehen in
Selbstwertgefühl umsetzt, verrät, daß er oder sie auf sich
selbst zu wenig hält. Dieser Mangel an Selbstachtung mag
noch so verständlich sein, er hat etwas im abträglichen
Sinne Gewöhnliches. Snobismus schützt vor diesem ordi-
nären Zug.
Die konsequente Spitze des Snobismus ist es, die ganze
Kapitalisierung der eingenommenen Aufmerksamkeit zu
verachten. Kern der Kapitalisierung ist der Effekt, daß alle
schauen, weil alle anderen schauen. Die Neigung zu
schauen, weil die anderen schauen, gehört nicht zu den
höheren Weihen der menschlichen Natur. So sollte auch
die Wertschätzung, die nur darauf beruht, daß all die ande-
ren Wertschätzung bekunden, kein Grund sein, die
Selbstwertschätzung ungeheuer wachsen zu lassen. Nichts
zeichnet die gewöhnlichen Kapitalisten des Geists jedoch
mehr als das sichtlich geschwollene Ego aus. Gegen diese
Breitbeinigkeit ist Snobismus ein gutes Mittel. Nichts hilft
gegen Überheblichkeit besser als die Über-
Überheblichkeit. Der Snobismus allerdings leidet seiner-
seits an einer kleinen Ungenauigkeit. Er macht nämlich
ein eigentlich moralisches Problem zu einem ästhetischen.
Was den Umgang mit fremder Aufmerksamkeit vom
Umgang mit allem anderen, was uns lieb und teuer ist,
unterscheidet, ist die Abhängigkeit ihres Werts nicht nur
von unseren eigenen, sondern auch von den Gefühlen der
anderen Seite. Genauigkeit in diesem Umgang verlangt
daher Adäquanz sowohl im Sinn des eigenen als auch im
Sinn des anderen Fühlens. Sie ist, anders gesagt, ein mora-
lischer Auftrag. Die Stimme der Moral ist die Stimme, die
das andere Fühlen im eigenen vertritt. Moralische Ad-
äquanz meint, dem schlichten Sachverhalt gerecht zu wer-
den, daß wir in unserem Dasein nicht allein und in unse-
rem Fühlen abhängig von den Gefühlen anderer sind. Die-
se moralische Adäquanz deutet der Snobismus in eine nur
noch ästhetische um. Er nimmt es mit dem anderen Fühlen
nicht als anderer Instanz des eigenen, sondern nur in dem
Vergleich genau, ob das andere auch gut genug für das
eigene Fühlen ist. Snobismus ist gut als Gegengift gegen
die wahllose Gier nach schmeichelhaften Gefühlen. Es
schützt vor der unappetitlichen Gewohnheit, alles aufzu-
saugen, was nach Zuwendung aussieht. Er macht sich aber
selbst einer uneleganten Nachlässigkeit schuldig. Er läßt
einen Egoismus zum Vorschein kommen, der auf seine
Weise ausplaudert, wie schwierig es ist, im Namen der
Selbstwertschätzung mit der Abhängigkeit vom anderen
Fühlen zurechtzukommen.
Angemessener Umgang mit der Aufmerksamkeit anderer
zählt zum Schwierigsten, was uns Menschen aufgegeben
ist. Nichts fordert unsere Intelligenz so sehr wie der Um-
gang mit der Intelligenz anderer, nichts das Feingefühl so
sehr wie der Umgang mit anderen Gefühlen, nichts den
Takt so sehr wie der Umgang mit der wechselseitigen Ab-
hängigkeit der Selbstwertschätzung. Diese Art Umgang
kennt keine Patentlösungen, die ihn vereinfachen könnten,
sie kennt kaum Vorteile, die nicht auch Nachteile hätten,
sie kennt immer nur lokale Optima, aber so gut wie nichts,
was nur lokale Bedeutung hätte.
Alle, die diesen Umgang halbwegs beherrschen, sind
Künstler im wahren Sinne des Worts. Sie verstehen sich
auf etwas, das sehr viel technisches und spielerisches
Können voraussetzt, das aber weit über die Beherrschung
einer Technik und die kompetente Anwendung von Re-
geln hinausgeht. In allen Künsten gibt es ein technisches
Grundkönnen, das gelernt werden kann. So gibt es auch
im Umgang mit der anderen Aufmerksamkeit Umgangs-
formen und Anstandsregeln, die man beigebracht bekom-
men und einüben kann. Nirgends in der Kunst reicht die
Beherrschung des Handwerks aber schon hin. Im Umgang
mit anderer Aufmerksamkeit wirkt die Förmlichkeit sehr
schnell abgerichtet und seelentot. Es gibt keine Kunst oh-
ne gewaltige Unterschiede in der Höhe des Strebens und
im Grad des Gelingens. Im Umgang mit anderer Aufmerk-
samkeit geschieht es ganz unwillkürlich, daß sich ein be-
stimmtes Niveau einstellt und ein bestimmtes Format zum
Tragen kommt.
Daß wir uns, ob wir wollen oder nicht, in einer Kunst
üben, wenn wir mit der Einnahme anderer Aufmerksam-
keit befaßt sind, hat einschneidende Folgen für den Reich-
tum an Beachtung. Es genügt nicht, Beachtung wie Geld
zu scheffeln. Man muß auch Persönlichkeit zeigen. Wer
nur auf seinem Sachgebiet etwas zu bieten hat, mag reich
im Sinne der Buchhaltung werden, reich im Sinne jenes
Wertes, der die Prominenz dem materiellen Reichtum
überlegen macht, wird sie oder er nicht. Je mehr Beach-
tung man bezieht, um so schärfer wird das Licht, in dem
das Niveau des Umgangs mit der anderen Aufmerksam-
keit erscheint. Man kann nicht im Rampenlicht stehen,
ohne auch das Format auszustellen, das man füllt. Daß mit
den steigenden Einkommen an Beachtung der Wunsch
nach Verfeinerung einhergeht, ist alles andere als ein Zu-
fall. Man kann den Reichtum nicht genießen, wenn das
Können des Umgangs nicht mithält. Wie man den materi-
ellen Reichtum nicht herzeigen kann, ohne Auskunft über
die Güte seines Geschmacks zu geben, so kann man das
öffentliche Interesse an der eigenen Person nicht bedienen,
ohne auszuplaudern, wie es um die Eleganz seiner Manie-
ren bestellt ist.
Natürlich ist auch diese Eleganz etwas, das in gewissem
Umfang gelernt werden kann. Man kann sie ausbilden, wie
man den Geschmack bilden kann. Nur gehört eben mehr
dazu als das Einüben von Formen und Regeln. Es reicht
nicht, daß der Verstand etwas kapiert. Die Intuition will
gebildet werden. Dafür braucht man gute Berater, wenn
man kein Naturtalent ist. Kein Wunder, daß im materiellen
Wohlstand die Beratung in Geschmacksfragen zum bedeu-
tenden und teils wichtigsten Faktor des Konsumgeschäfts
wurde. Man braucht sich denn auch nicht zu wundern,
wenn in der Mediengesellschaft das personality building
und Publicity Coaching rasant an Bedeutung gewinnt.
Auch die beste Beratung aber kann mangelnde Intuition
nicht ersetzen. Sie kann der Intuition lediglich Hilfestel-
lung geben und versuchen, deren eigener Intelligenz auf
die Sprünge zu helfen.
Die Intuition, die gebildet sein will, wenn der Umgang
mit der anderen Aufmerksamkeit Eleganz annehmen soll,
ist mit Einfühlungsvermögen unvollständig beschrieben.
Es geht nicht nur darum, zu merken, was im anderen Be-
wußtsein vor sich geht, es geht auch darum, einen Sinn für
die ontologische Würde des anderen Daseins zu entwik-
keln. Ohne diesen Sinn bleibt das dem anderen Bewußt-
sein zugeschriebene Geschehen flach. Damit sich hinter
den äußeren Anzeichen die Dramatik eines Seelenlebens
auftut, bedarf es eines Sinns wie dessen, der aus Ölfarbe
Kunst und aus Tönen Musik macht. Dieser Sinn ist in uns
angelegt. Es ist derselbe Sinn, der uns zu moralischen und
für das andere Dasein verantwortlichen Wesen macht. Er
kann es an Urteilskraft mit dem ästhetischen Sinn leicht
aufnehmen. Das Gewissen ist schon deshalb mehr als die
verinnerlichte Form auswendiger Regeln, weil seine intui-
tive Intelligenz viel weiter geht als alles, was an Regel-
werk für den Umgang mit dem anderen Fühlen je aufge-
stellt wurde. Es hat mit verfaßten Geboten der Moral so-
viel zu tun wie Takt mit Anstandsregeln. Es berät uns auch
keineswegs nur in sogenannten Gewissensfragen. Viel-
mehr hat es das Sagen, wenn wir uns tatsächlich taktvoll
verhalten. Die Höhe seiner Intelligenz gibt das Niveau im
Umgang mit der anderen Aufmerksamkeit vor. Ohne Ge-
wissen wüßten wir nicht, was Erlesenheit und Vornehm-
heit in diesem Umgang meint.
Besteht Verfeinerung im Umgang mit der anderen Auf-
merksamkeit also in der Gewissensbildung? Ist Eleganz in
diesem Umgang am Ende eine moralische Kategorie? Es
wird höchste Zeit, daß unser intuitiver Sinn für das andere
Dasein als Organ der Intelligenz gebildet statt nur als inne-
re Anstandsperson respektiert wird. Und es wird höchste
Zeit, die Moral selber als etwas anderes anzusehen denn
als saure Pflicht. Wenn es befremdlich erscheint, von Ver-
feinerung als Gewissensbildung zu reden, dann kommt in
dem Befremden eine tatsächliche Verkümmerung zum
Ausdruck. Wenn moralische Eleganz als ein Widerspruch
in sich erscheint, dann dürfte Moral mit Triebverzicht und
Bußfertigkeit verwechselt werden. Was das Gewissen in
seiner spontan sich rührenden Form verlangt, ist nur, daß
die grundsätzliche Abhängigkeit des eigenen vom anderen
Fühlen um eine ebenso grundsätzliche Verantwortung für
das andere Fühlen ergänzt wird. Es bezieht seine ganze
Präzision und Schlagkraft aus der sich selbst erklärenden
Forderung nach dieser Symmetrie. Die Moral ist nur ein-
fach die Handlungslogik, die die Rekonstruktion dieser
Forderung ergibt. Ohne die Richtschnur, die durch die
Forderung nach Symmetrie zwischen der Abhängigkeit
von und der Verantwortung für das andere Fühlen aufge-
spannt wird, ist nun aber nicht daran zu denken, eine höhe-
re Gefühlskultur aufzurichten.
Die Verfeinerung der Gefühlskultur trägt sich dem
Reichtum an Beachtung auf, wie sich die ästhetische Ver-
feinerung dem materiellen Reichtum aufgetragen hatte.
Wie der Unterschied von Ordinär und Fein beim materiel-
len Reichtum ein zunächst ästhetischer ist, ist er beim
Reichtum an Beachtung ein zunächst moralischer. Ein
hoher Bekanntheitsgrad trägt ordinäre Züge genau solan-
ge, wie die Abhängigkeit des zur Schau getragenen
Selbstwertgefühls von der eingenommenen Beachtung
penetrant vorschmeckt. Es ist nicht fein, sich im Bad der
zuströmenden Aufmerksamkeit zu räkeln, ohne sichtbar
auch die Verpflichtung anzunehmen, die einem aus den
glücklichen Umständen erwächst. Diese Verpflichtung
kann nicht zum Vorschein kommen, solange die Beach-
tung vorbehaltslos und gleichgültig von welcher Seite ein-
genommen wird. Auch Selektivität, und sei sie die heikel-
ste, reicht noch nicht hin. Damit der Vorgeschmack der
Abhängigkeit verschwindet, muß sich die Selbstachtung
neben dem Selbstwertgefühl behaupten. Ein ausgewoge-
nes Verhältnis von vermitteltem Selbstwertgefühl und
unmittelbarer Selbstachtung ist nun aber ein anderer Aus-
druck für die Symmetrie zwischen dem Selbstgefühl, das
aus der empfangenen Beachtung gezogen wird, und der
Verantwortung, mit der der Empfänger auf die Einnahme
antwortet. Moralische Eleganz meint, daß dieses Verhält-
nis nicht nur ausgewogen ist, sondern sichtbar und in ho-
hem Maße glückt.
Der Zirkel der Abfälligkeit
und der Zirkel der Wohltätigkeit

Moralische Eleganz ist kein Privileg des hohen Bekannt-


heitsgrads. Sie ist ganz einfach das Beste, was wir aus der
Abhängigkeit unseres Selbstwertgefühls machen können.
Sie ist die höchste der aus der Not geborenen Tugenden
und das der Zeit gemäße Ideal der Herzensbildung. Sie ist,
um es genau zu formulieren, die Art des Zurechtkommens
im mehrfach gebrochenen Zusammenhang zwischen dem
Wunsch nach Beachtung und der Sorge um den Selbst-
wert, die in keiner Weise krumm macht. In diesem auf-
rechten Gang besteht die Kunst des angemessenen Um-
gangs mit der anderen Aufmerksamkeit. Was ihn so
schwierig macht, ist, daß er den gebrochenen Zusammen-
hang in beiden Richtungen beansprucht, während dieser
nur in einer Richtung trägt. Die Sorge um den Selbstwert
hält zwar an, für reichlich Beachtung zu sorgen, der
Wunsch nach Beachtung ist aber der Eitelkeit hörig und
nicht der Selbstachtung. Die Eitelkeit ist eine der gewöhn-
lichen, kunstlosen Formen der Abhängigkeit des Selbst-
werts. Sie macht krumm, weil es ihr an Selbstachtung und
Stolz mangelt. Aber auch Stolz ist nicht die Art der Auf-
richtigkeit, die moralisch elegant ist. Dem Stolz fehlt es an
Geschmeidigkeit, ihn macht hysterische Selbstachtung
steif. Moralisch elegant ist die Art Aufrichtigkeit im Um-
gang mit der anderen Aufmerksamkeit, die aus Einfühlung
und Verantwortung heraus die Fährnisse der Eitelkeit und
des Stolzes meistert.
Es wäre moralisch ausgesprochen unelegant, moralische
Eleganz von denen zu fordern, die darben. Auch bei der
Versorgung mit Beachtung kommt das Fressen vor der
Moral. Nur heißt das nicht, daß das Leiden unter dem
Mangel an Beachtung frei von moralischen Problemen
wäre. Die Probleme bleiben nur undeutlich, solange man
das Wesen der Moral mit dem Gegenstand etablierter Mo-
rallehren verwechselt. Sobald man die Ethik als eine im
weiteren Sinne verstandene Klugheitslehre auffaßt, wird
deutlich, daß der Mangel an Beachtung mit einem eminent
moralischen Problem kämpft. Er läßt nicht nur an Ent-
zugserscheinungen leiden, er birgt auch die Gefahr einer
Art Selbstverdummung. Er legitimiert nämlich eine sonst
zutiefst unmoralische Finte als Notwehr. Wer gar nicht an
die Beachtung kommt, auf die er nicht umhin kann aus zu
sein, darf versuchen, denen die Wertschätzung zu entzie-
hen, die sie ihm verweigern. Er darf – als Ultima ratio –
sich und anderen einreden, daß die seines Verlangens
nicht würdig sind, die es mißachten.
Es zeugt von moralischem Hochmut, sich über diesen
Selbstbetrug zu entrüsten. Die Selbstwertschätzung darf
sich der Abhängigkeit von äußerer Wertschätzung mit fast
allen Mitteln erwehren, bevor sie an ihr zugrunde geht.
Allerdings ist die Rettung, wenn sie im Heruntermachen
derer besteht, die man eigentlich schätzt, teuer erkauft.
Nicht nur, daß wir hier am Ursprung der verbreitetsten
Form des alltäglich Bösen stehen. Die Rettung läßt auch
die Geretteten nicht ungeschoren.
Erstens hat die Revision der Wertschätzung offene
Grenzen zum gewöhnlichen Opportunismus der Saure-
Trauben-Politik, zweitens läßt sie den besten der Sinne für
das Geschehen im anderen Bewußtsein verkommen. Die
mögliche Revision der ursprünglich empfundenen Wert-
schätzung lädt dazu ein, diese überhaupt nach Opportuni-
tät zu verteilen. Der beste unserer Sinne für das Geschehen
im anderen Bewußtsein ist das zähe Festhalten an der An-
nahme, daß es gute Gründe sind, die hinter dem äußeren
Verhalten stecken. Das rettende Heruntermachen begibt
sich auf eine in zweierlei Hinsicht schiefe Ebene. Erstens
neigt das Heruntermachen dazu, sich als Prophezeiung
selbst zu erfüllen; zweitens neigt der Zirkel von Mißach-
tung und Heruntermachen zur Selbstverstärkung.
Das Leiden unter zu wenig Beachtung schmerzt nicht
nur, sondern entstellt auch noch. Es treibt die grundsätz-
lich richtige Bereitschaft zu einer gewissen Anpassung des
eigenen Wertschätzens an die empfangene Beachtung in
die Prostitution. Die Verkehrung des ursprünglichen Wert-
schätzens in angestrengtes Heruntermachen ist eine Form
der Selbstvergewaltigung. Auch und gerade dann, wenn
sie das Selbstwertgefühl rettet, ist sie Gift für die Selbst-
achtung. Sie setzt das Wertvollste aufs Spiel, das die Per-
son selber zu geben hat. Sie entwertet die Gefühle, die die
eigene Zuwendung transportiert – erst für einen selbst,
dann aber, wenn sie ruchbar wird, auch in den Augen der
anderen. Sie gibt im nachhinein den ablehnenden Gefüh-
len recht, die zu desavouieren doch ihr ganzer Sinn und
Zweck ist.
Aber nicht genug damit. Die willfährige Anpassung des
eigenen Wertschätzens an die Opportunität stumpft auch
den Sinn für das Geschehen im anderen Bewußtsein ab.
Weil wir keinen direkten Einblick in die Intentionen und
Motive anderer haben, sind wir darauf angewiesen, sie aus
äußeren Anzeichen zu erschließen. Aus äußeren Anzei-
chen erschließt sich ein komplexes Innenleben nur unter
der Annahme, daß das Verhalten insgesamt sinnvoll ist.
Unser Sinn für das Geschehen im anderen Bewußtsein
geht genau so weit, wie wir mit dieser Annahme umzuge-
hen wissen. Wir kommen nicht weit, wenn wir bei Ver-
ständnisschwierigkeiten unseren Partner für dumm oder
nicht ganz bei Sinnen verkaufen. Über eigentliche Triviali-
täten kommen wir erst hinaus, wenn wir uns angewöhnen,
bei anscheinender Unverständlichkeit deren Ursache nicht
auf der andern Seite, sondern bei uns selbst zu suchen. Zu
subtileren Formen des Verstehens – und damit auch der
Verständigung – gelangen wir nur durch zähes Festhalten
an der Annahme, daß nicht die anderen, sondern wir selbst
die Dümmeren sind, wenn wir nicht verstehen. Nichts
schärft unseren Sinn für das Geschehen im anderen Be-
wußtsein so sehr wir das großzügige Vorschießen an Ver-
trauen in dessen Intelligenz.
Auch um diese Sinnesschärfung bringt sich, wer andere
heruntermacht. Er schafft sich die Ödnis selbst herbei, die
sein beleidigtes Wunschdenken unterstellt. Wer sich das
angewöhnt, macht sich selbst uninteressant als Tausch-
partner von Aufmerksamkeit. Er gibt nachträglich der
Mißachtung recht, auf die er so beleidigt reagiert. Der Zir-
kel von Mißachtung und Heruntermachen ist ein Teufels-
kreis. Er ist es, der die Armut an Beachtung ins Elend ab-
gleiten läßt. Und man sage nicht, daß dieses Elend nicht
grassiert. Man erkennt es von ferne schon an dem wegwer-
fenden Ton, in dem von Mitmenschen ganz generell gere-
det wird. Man hat ihn im Ohr, wo die anderen nur ein Pack
von Idioten sind. Nimmt man die Notorik der Abfälligkeit
im Reden über andere als Indikator, dann haben wir es im
Kapitalismus der Beachtlichkeit mit einem sozialen Elend
zu tun, das nicht nur von ferne an das erinnert, was die
Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse im Materiellen
mit sich brachte und bringt.
Ist es nicht zynisch, angesichts dieses Elends von mora-
lischer Eleganz zu reden? Es wäre vielleicht zynisch,
wenn der moralisch elegante Umgang mit anderer Auf-
merksamkeit reiner Luxus wäre. Tatsächlich stellt er aber
nur die konsequente Umkehrung des herunterziehenden
Umgangs dar. Der Zirkel der Selbstverstärkung kann nach
beiden Seiten hin schnappen. Er läßt sich ins genaue Ge-
genteil des Zirkels der Abfälligkeit verkehren. Die Um-
kehrung fängt damit an, daß das eigene Wertschätzen in
taktischer Absicht gehoben statt gesenkt wird. Dieses He-
ben statt Senken ist der erste und entscheidende Schritt in
Richtung Eleganz. Alle Eleganz fängt mit Großzügigkeit
an. Und Großzügigkeit kann im Umgang mit der anderen
Aufmerksamkeit weder heißen, mit der eigenen ver-
schwenderisch umzugehen, noch, Almosen zu verteilen.
Verschwendung der eigenen Aufmerksamkeit wäre ineffi-
zient und damit von vornherein unintelligent. Milde Gaben
in Sachen Zuwendung sind keine Wohltat, sondern eine
Zumutung. Großzügigkeit im Umgang mit der anderen
Aufmerksamkeit kann nur bedeuten, daß mit dem Vor-
schuß an zutrauender Beachtung nicht geknausert wird. In
der Form dieses Vorschusses läßt sich die taktische He-
bung der Wertschätzung für die andere Person ohne ungu-
tes Verbiegen plazieren. Es tut keiner Wahrhaftigkeit des
Fühlens und keiner Tadellosigkeit der Haltung Abbruch,
wenn an der Unterstellung der Sinnhaftigkeit und Intelli-
genz des Verhaltens festgehalten wird auch dort, wo der
äußere Anschein zunächst dagegen spricht.
Hält man an dieser Unterstellung fest, sind die Konse-
quenzen außerordentlich. Es ist schwer, sich dem Charme
und der Herausforderung großzügig unterstellter Intelli-
genz zu entziehen. Der Vorschuß an wohlmeinender Be-
achtung fordert nicht nur auf, sich von der besten Seite zu
zeigen, er ist auch das beste Mittel, den Empfänger unter
positiven Streß zu setzen. Er ist der einzige Trick, der zum
harten Verkaufen der eigenen Aufmerksamkeit taugt. Er
blamiert nämlich denjenigen, der die Zuvorkommenheit
schnöde an sich abgleiten läßt. Wer Herzen für sich ein-
nehmen will, sollte sich auf diesen Trick verstehen. Unse-
re Intuition beherrscht ihn allemal. Sie wendet ihn ohne zu
fragen an, wenn wir uns verlieben. Sich zu verlieben heißt,
sich in eine Orgie wohltätiger Interpretation zu stürzen.
Die Liebe zeigt, welche Kräfte der Vorschuß wohlmei-
nender Beachtung entfesseln kann. Die Höhe, auf die die
Euphorie trägt, wird durch einen Zirkel der Selbstverstär-
kung überwunden, welcher den der Abfälligkeit einfach
umkehrt.
Natürlich soll dies nicht heißen, daß die Alternative zur
grassierenden Abfälligkeit darin zu suchen ist, daß alle
einander in den Armen liegen. Die Liebe taugt nicht zur
Inflation. Es wäre mehr als nur naiv, dem Elend, in das die
Armut an Beachtung treibt, durch Anempfehlen von mehr
Freundschaft abhelfen zu wollen. Die Gefühle der Zunei-
gung dürfen überhaupt nicht gegängelt und manipuliert
werden. Nur umgekehrt gilt, daß es gegen die Gebote so-
wohl der Moral wie auch Effizienz verstößt, wenn mit den
Pfunden der wohltätigen Interpretation nicht nach Kräften
gewuchert wird. In dieser Hinsicht ist das öffentliche Be-
wußtsein keineswegs auf der Höhe der ökonomischen
Möglichkeiten. Wir haben ein blühendes Kreditwesen,
was die Finanzierung großer Projekte mit vorgeschossener
Beachtung betrifft. Im kleinen scheint der Tausch der
Aufmerksamkeit aber notorisch unterfinanziert. Unzählige
der alltäglichen Tauschgeschäfte laufen schief, weil zu
wenig darauf geachtet wird, wie nahe die Ursprünge der
sich zum Guten und Schlechten hin selbst verstärkenden
Zirkel beieinander liegen. Ungezählte Austauschbezie-
hungen könnten gerettet werden, wenn die Unterstellung
der Sinnhaftigkeit und Schlüssigkeit des anderen Verhal-
tens nicht so schnell aufgegeben würde. Unzählige Chan-
cen zur Schöpfung aufmerksamer Einkommen werden
vertan, weil die Vergabe vorgeschossenen Wohlwollens
aus schlechter Gewohnheit zu engstirnig erfolgt.
Es bedarf keiner Sehergabe, um zu sehen, daß beim Vor-
schuß wohlmeinender Beachtung gerade im kleinen Kre-
ditgeschäft gewaltige Entwicklungspotentiale schlum-
mern. Man mag sich sogar fragen, wo das größere Pro-
blem liegt: im hochentwickelten Finanzwesen des Mas-
sengeschäfts oder in der Unterfinanzierung des alltäglich-
zwischenmenschlichen Tauschs. Es ist jedenfalls nicht so,
daß wir nur ein Einkommensgefälle zwischen Reich und
Arm haben, wir haben auch ein Rationalitätsgefälle zwi-
schen den unterschiedlichen Maßstäben des Tauschs. Das
Geschäft im großen Maßstab ist bereits hoch entwickelt
und entwickelt sich dynamisch weiter. Der alltägliche
Tausch stagniert, was die Wortschöpfung überhaupt und
den Wirkungsgrad in Sachen Selbstwert betrifft. Gut mög-
lich, daß eine repräsentative Analyse des Geschäftsgeba-
rens das Bild einer regelrecht gespaltenen Ökonomie er-
gäbe: hier das hoch rationale, stark innovative und, gerade
was neue Formen der Vorfinanzierung betrifft, kreative
Massengeschäft; dort der nur fortgesetzte Verlauf der
Tauschgeschäfte ohne erkennbare Annäherung der Per-
formanz an die Chancen, die sich aus den energetischen
Ressourcen und emotionalen Bereitschaftspotentialen er-
gäben.
Könnte es nicht sein, daß den meistversprechenden Zu-
gang zur sozialen Frage die Arbeit am Bewußtsein für
diese Chancen bietet? Liegt die bessere Alternative zu
Mildtätigkeit und Umverteilung vielleicht in der besseren
Betriebsberatung des alltäglichen Tauschens und Haushal-
tens mit Aufmerksamkeit? Sollte der Appell, statt an das
Mitleid, einfach an die Klugheit ergehen?

Verstand und Gefühl

Das wohltätige Interpretieren stellt keine besonderen An-


forderungen, wo die Partner einander verstehen und zuge-
tan sind. Die großzügig unterstellte Sinnhaftigkeit und
Intelligenz ist hier das bewährte Mittel, um Verständnis
durch Freundschaft und Freundschaft durch Verständnis
zu vertiefen. Anforderungen stellt die wohltätige Interpre-
tation erst, wenn der Austausch nicht den Verlauf nimmt,
den man sich vorstellt. Hier ist das Festhalten an der un-
terstellten Sinnhaftigkeit und Intelligenz des anderen Ver-
haltens zwar bestens geeignet, die Situation vor dem Kip-
pen in einen abwärts drehenden Zirkel zu bewahren, der
Vorschuß an wohlmeinender Beachtung spielt der nicht-
kooperativen Seite aber taktische Vorteile zu. Das zähe
Festhalten an der Unterstellung kann an Dummheit gren-
zen. Im Extrem heißt es, die andere Backe hinzuhalten,
wenn die eine geschlagen wird.
Sobald es zu Störungen im Austausch der Beachtung
kommt, ist die Verlockung zur Stelle, sich auf Kosten der
anderen Seite schadlos zu halten. Es liegt so nahe, die
Schuld beim anderen zu suchen. Auch wenn von vornher-
ein klar ist, daß die Suche wenig bringt und als sicheren
Effekt nur den einen hat, daß der Partner nachzieht,
scheint sie geboten. Dabei ist nichts leichter, als sich im
Tausch der Aufmerksamkeit enttäuschen zu lassen. Es gibt
immer Gründe, sich den Austausch anders vorzustellen,
als er tatsächlich verläuft. Auch Gründe, zurückzuschla-
gen, sind so leicht parat. Wer ganz schlau sein will, teilt
gleich präventiv aus. Es schafft Ellenbogenfreiheit, die
andern als diejenigen hinzustellen, die nicht durchblicken.
Freilich ist es eine andere Frage, ob die Strategie rational
ist. Ellenbogen machen nicht sympathisch. Was nützt das
Drängeln, wenn man auf die wieder angewiesen sein wird,
die man wegdrückt? Was nützt es überhaupt, wenn alle
drücken? Das Gerangel auf der Überholspur schenkt allen-
falls denen freie Fahrt, die sich auf die Konkurrenz gar
nicht erst einlassen. Wenn es im individuellen Sinne ratio-
nal ist, sich auf Kosten der anderen schadlos zu halten,
dann gibt es noch eine andere Rationalität.
Wir bekommen Wind von dieser anderen Rationalität,
wenn wir es uns – ob aus Versehen, Nonchalance oder nur
einfach guter Laune – leisten, den eigenen Vorteil nicht so
eng zu sehen. Es bedarf nur eines kleinen Sprungs über
den eigenen Schatten. Wie ein Schatten folgt uns nämlich
die Tatsache, daß es immer nur unsere eigenen Empfin-
dungen und Gefühle sind, die unseren Vorteil bestimmen.
Wir spüren ganz einfach keine anderen. Es ist nicht Ver-
derbtheit, sondern unsere monadische Natur, die uns zu
Egoisten macht. Wir sind so geschaffen. Wir können aus
der eigenen Erlebnissphäre nicht heraus. Wir können gar
nicht anders, als den eigenen Vorteil zu verfolgen. Den
eigenen Vorteil nicht zu verfolgen hieße, gegen den Auf-
trag des eigenen Empfindens und Fühlens zu verstoßen.
An diesem Auftrag darf, ja kann sich die Rationalität nicht
versündigen. Auch wer sich umbringt, wählt die – mag
sein, vermeintlich – bessere Alternative.
Alle unsere Werthaltungen und Ziele gründen in letztlich
eigenen Empfindungen und Gefühlen. Was bleibt, ist ein
gewisser Spielraum in der Interpretation des Auftrags. Der
Auftrag wechselt mit der Situationsdeutung. Und gerade,
was die Situationsdeutung betrifft, gibt es im Umgang mit
anderen Menschen immer Alternativen. Hier wird die
Sichtweise des eigenen Vorteils mehrdeutig. Es gibt im-
mer eine Sicht, die verlangt, daß man sich auf die Konkur-
renz mit dem Vorsatz einläßt, die eigene Deutung durch-
zusetzen. Und es gibt immer eine andere, die es eher vor-
teilhaft erscheinen läßt, die Entscheidung hinauszuzögern
beziehungsweise die Konkurrenz zu unterlaufen. Typisch
ist allerdings auch, daß sich beide Sichtweisen nicht recht
vertragen. Es bedarf eines Sprungs, eines gewissen dis-
kontinuierlichen Schnappens, um den Stellenwert zu
wechseln. Beide Sichtweisen haben es an sich, daß sie
hinreichend begründet erscheinen. Beide neigen nämlich
dazu, die Annahmen, von denen die Situationsdeutung
ausgeht, von sich aus zu bestätigen. Der Angriff kommt
konkurrierenden Strategien der Gegenseite zuvor, das Zö-
gern leistet entgegenkommenden Strategien Vorschub. Die
eine wie die andere Wahl bekommt in dem Sinne recht,
daß es aus dem Wald heraushallt, wie man in ihn hinein-
ruft. Menschen, die ihren Vorteil forsch durchsetzen, se-
hen sich von strammen Egoisten umgeben. Menschen, die
eher zu kooperativem Verhalten neigen, erleben ihre Mit-
menschen auch eher kooperativ.
Das rationale Abwägen der Strategien macht zum einen
klar, daß es immer nur die eigenen Empfindungen und
Gefühle sind, die wir spüren. Je genauer die Optionen ab-
gewogen werden, um so deutlicher zeigt sich aber ein spe-
zifischer Unterschied zwischen der einfachen Empfindung
und dem bestimmten Gefühl. Empfindungen – man denke
an Wohlbefinden oder Übelkeit, Euphorie oder Niederge-
schlagenheit, Munterkeit oder Müdigkeit – sind rein sub-
jektiv: Sie fühlen sich in bestimmter Weise an, beziehen
sich aber auf nichts Bestimmtes. Gefühle hingegen fühlen
sich nicht nur bestimmt an, sondern beziehen sich auch auf
etwas Bestimmtes. Sie haben – man denke an Lust und
Schmerz, Freude und Trauer, Hoffnung und Furcht – nicht
nur ein Subjekt, sondern auch ein Objekt. Gefühle stellen
intuitive Werturteile über ihr Objekt dar. Lust verklärt
ihren Gegenstand; Weh spricht: Geh! Die zwischen-
menschlichen Gefühle haben sogar ganz besondere Ge-
genstände. Sie beziehen sich auf ein anderes Subjekt. Daß
auch die zwischenmenschlichen Gefühle immer nur eigene
Gefühle sind, besagt gerade nicht, daß es nur die eigenen
Gefühle sind, die den eigenen Vorteil bestimmen.
Wo außer den eigenen auch noch andere Werturteile
zählen, wird das Kalkül des eigenen Vorteils verwickelter,
als es die Vorstellung der individuellen Vorteilsuche zu-
nächst ahnen läßt. Was besagt es, daß ich immer nur mei-
ne eigene Lust und meinen eigenen Schmerz spüre, wenn
meine Lust an deinen Blicken und mein Schmerz an dei-
nen Lippen hängt? Auch mein Selbstwertgefühl ist immer
nur mein eigenes. Es lebt aber geradezu von den Wertur-
teilen, die die Gefühle darstellen, die andere für mich he-
gen. Schon deswegen nimmt das Kalkül der Selbstwert-
maximierung ganz andere Grade und Formen der Kom-
plexität an als die Nutzenmaximierung. Tatsächlich geht
die Komplikation aber noch weiter. Der Zusammenhang
zwischen meinem Selbstwertgefühl und den Gefühlen der
Wertschätzung, die meiner Person gelten, ist dadurch ge-
brochen, daß auch meine Wertschätzung für die Person
zählt, die die Gefühle für mich hegt. Diese meine Gefühle
fallen, wie die des andern, nicht vom Himmel. Sie mögen
in spontaner Sympathie oder Antipathie ihren Ursprung
haben. Sie sind aber – als Werturteile eben – nicht einfach
irrational. Sie hängen ab von unserer Interpretation des
anderen Verhaltens und von der Erfahrung, die wir auf-
grund dieser Interpretation machen.
Wo die Gefühle persönlicher Wertschätzung eine Rolle
spielen, kommen unwillkürlich Momente der Selbsterfül-
lung ins Spiel. Das Ziel der Selbstwertmaximierung läßt
hier eine grundsätzliche Auswahl an rationalen Strategien.
Die Wahl verengt sich erst, wenn die Rolle der Emotionen
kleiner, wenn der Tausch der Beachtung sachlicher wird.
Nicht, weil persönliche Wertschätzung etwas Irrationales
wäre, sondern weil im Wechselspiel der Gefühle eine
grundsätzliche Ambivalenz offenbleibt, scheinen emotio-
nal und rational betonter Umgang so verschieden.
Die Bandbreite des emotionalen Verhaltens, das dem ra-
tionalen Kalkül von individueller Warte aus gleichwertig
erscheint, umfaßt nun aber Optionen, die hinsichtlich ihrer
sozialen Güte gar nicht gleichwertig sind. Sie umfaßt im
Prinzip das ganze Spektrum zwischen wohltätiger und
abträglicher Interpretation. Ob es vorteilhafter ist, bei Stö-
rungen des Austauschs die Ursache beim Partner zu su-
chen oder die Suche mit einem augenzwinkernden Be-
kenntnis zu unterlaufen, mag aus individueller Sicht tat-
sächlich unentscheidbar sein. Aus gemeinschaftlicher
Sicht dürfte die Entscheidung aber leicht fallen. Im einen
Fall wird ein abwärtsdrehender Zirkel riskiert, im anderen
bekommt ein aufwärtsdrehender eine Chance. In der sozia-
len Summe wird der Unterschied ganz erheblich sein. Eine
Gesellschaft, deren Mitglieder aus Gewohnheit zu erste-
rem Verhalten neigen, wird tatsächlich mit dem Problem
der Unterfinanzierung des direkt zwischenmenschlichen
Austauschs der Aufmerksamkeit zu kämpfen haben. In
einer Gesellschaft hingegen, deren Mitglieder es sich an-
gewöhnt haben, im Zweifelsfall die zweite Option zu wäh-
len, wird der Austausch eleganter und ungestörter verlau-
fen.
Der Unterschied mag unauffällig bleiben, wo sich der
Austausch auf überschaubare Kreise beschränkt. Er wird
aber entscheidend, wenn es zur Bildung von Märkten der
Beachtung und zur deutlichen Differenzierung der Maß-
stabsebenen kommt. Je deutlicher sich eine Ebene der
Marktpreisbildung herausbildet, desto fühlloser wird das
Geschäft im größeren Maßstab und um so entscheidender
wird die Auffangfunktion des Tauschs im kleinen. Je
schärfer die Marktpreisbildung greift, um so größer wer-
den die Einkommensunterschiede und um so prekärer wird
die Lage der Übergangenen. Armut kippt in Elend ab,
wenn das Netz des Tauschs im kleinen Maßstab nicht hält.
Erst das Schnappen des direkt zwischenmenschlichen
Tauschs in die Abträglichkeit ist es, das der ungleichen
Verteilung den bösartigen Zug verpaßt. Die Armut an Be-
achtung ist wohl notwendige, aber noch nicht hinreichende
Bedingung für das soziale Elend des mentalen Kapitalis-
mus. Die Achtlosigkeit des Publikums und die abträgliche
Interpretation der Nahestehenden müssen zusammen-
kommen, damit das Elend akut wird.

Das Herz

Wenn es im direkten Austausch eine ganze Bandbreite


rationaler Strategien des Austauschs gibt, dann bedarf es
keiner Umverteilungsprogramme, um etwas gegen das
Elend zu unternehmen. Es steht dann – zumindest theore-
tisch – die Möglichkeit offen, an der Verschiebung des
Kippunktes zwischen wohltätiger und abträglicher Inter-
pretation zu arbeiten. Der Eindruck, daß der zwischen-
menschliche Austausch unterfinanziert ist, spricht dann für
die verbreitete Gewohnheit, eher abträglich denn wohltätig
zu interpretieren. Welches Kraut ist nun aber gegen eine
solche Gewohnheit gewachsen? Mit rationalen Argumen-
ten ist ihr ja nicht beizukommen. Woran, wenn die Ratio-
nalität indifferent ist, soll also appelliert werden? Am
nächsten liegt das Gewissen. Gerade das Gewissen hat
seinen Biß nun aber verloren, wenn die Abträglichkeit zur
Gewohnheit geworden ist. Das Gewissen warnt, spornt
aber nicht an. Es kommt zu spät, wo die abträgliche Situa-
tionsdeutung ihre Annahmen von sich aus bestätigt.
Schließich hat auch das Gewissen schon gesprochen, wenn
die rationale Überlegung am Ende ist. Das Gewissen hat
selber Sitz und Stimme in jener inneren Kabinettrunde.
Wenn ein Kraut gewachsen sein soll, dann muß es etwas
geben, das uns zum Sprung über den Schatten der ge-
wöhnlichen Abträglichkeit anhält. Es muß Gründe für das
wohltätige Interpretieren geben, die der Verstand nicht
versteht.
Es gibt etwas in uns, das Gründe hat, die der Verstand
nicht versteht. Pascal nennt es das Herz. Es ist etwas, das
wir für andere haben. Es ist eine Art Sinn, der urteilt, aber
nicht rechnet. So schwer es uns fallen mag, zu sagen, was
wir mit Herz genau meinen, so selbstverständlich wissen
wir, daß es herzlos ist, das Verhalten anderer aus Ge-
wohnheit abträglich zu interpretieren. Wer Herz hat, hat
auch Gewissen. Nur hat das Herz weniger mit der Selbst-
achtung als damit zu tun, wie das Selbstgefühl mit dem
anderen Fühlen zusammenhängt. Das Herz hält nicht zu-
rück, es hält offen. Es ist der spontane Sinn dafür, worauf
sich die zwischenmenschlichen Gefühle beziehen. Es ist
die eigene Art Urteilskraft, die in den zwischenmenschli-
chen Gefühlen steckt. Die zwischenmenschlichen Gefühle
beziehen sich auf das andere Fühlen, das Herz ist unser
Sinn für das andere Dasein. Der Verstand kann mit diesem
anderen Dasein sowenig anfangen wie mit dem eigenen.
Was da ist, wenn sich ein Spüren, Empfinden, Merken
rührt, ist mit den Kategorien des objektivierenden Den-
kens ganz einfach nicht zu fassen. Jeder Versuch, es als
Objekt vorzustellen, entfremdet es davon, was wir mit
Seele meinen und was zusammenfindet, wenn zwei Seelen
einander treffen.
Daß das Herz Gründe hat, die der Verstand nicht ver-
steht, heißt, daß unser Sinn für das andere Dasein weiter
geht, als rational nachvollziehbar ist. Er geht um so viel
weiter, wie die unkategoriale Selbstaufmerksamkeit weiter
als die begrifflichkategoriale Selbstreflexion geht. Die
Selbstreflexion kommt nie bei sich als awareness an, sie
bekommt mit sich immer nur als attention zu tun. In der
Selbstaufmerksamkeit kommt das Dasein jedoch erst dann
zu sich, wenn es glückt, alles Sich-Beziehen zu vergessen,
um sich seiner als reine Präsenz inne zu werden. In der
Selbstaufmerksamkeit spürt sich die Aufmerksamkeit als
awareness ohne attention. Und das Herz, das wir für ande-
re haben, ist nun dasjenige Organ, welches das Dasein, das
erst in Selbstaufmerksamkeit ganz zu sich kommt, auch im
anderen Erleben erblickt. Dieser Blick ist es, der uns über
den eigenen Schatten springen läßt. Er befreit aus der Be-
fangenheit in den immer nur eigenen Gefühlen. Nur löst
das Herz aus dieser Befangenheit nicht, indem es die Be-
züge zwischen den eigenen und den anderen Gefühlen
freilegt. Herz zu haben meint vielmehr, die so verwickel-
ten Bezüge zwischen dem Subjekt und dem Objekt der
Gefühle zu überspielen. Das Herz äußert sich nicht nur in
Herzlichkeit, sondern auch in Beherztheit. Es äußert sich
im Mut, den Abgrund zwischen dem eigenen und dem
anderen Fühlen in dem Vertrauen zu überspringen, daß
das andere Dasein nur durch die Umstände bedingt anders
fühlt als das eigene. Das Herz hat am rechten Fleck, wer
der Kippeligkeit der Situation und der Abhängigkeit der
Situationsdeutung von sich selbst erfüllenden Annahmen
dadurch zuvorkommt, daß er sich das andere Ergehen so
entschieden etwas angehen läßt, wie er nicht umhin kann,
sich das eigene Ergehen etwas angehen zu lassen.
Wiewohl sie für den Verstand nicht zwingend ist, hat das
Herz seine Logik. Es ist die Logik, die damit in die Welt
kommt, daß das andere Dasein trotz seiner Unzugänglich-
keit und trotz der Unbegreiflichkeit schon des Phänomens
überhaupt eine entscheidende Rolle in unserem Erleben
spielt. Weil wir gar nicht umhin können, uns das andere
Dasein etwas angehen zu lassen, ist es ein Mangel und
macht regelrecht häßlich, kein Herz zu haben. Im besten
Fall macht Herzlosigkeit nur dumpf. Im typischen Fall
macht sie ekelhaft. In jedem Fall haben Menschen, die an
Herzlosigkeit leiden, ein wirkliches Leiden. Sie müssen
sich durch die Verbreitung von Furcht und Schrecken ho-
len, was anderen ihrer Liebenswürdigkeit wegen zufliegt.
Herzlose Menschen müssen so tun, als ob sie nicht wüß-
ten, worum es im Tausch der Aufmerksamkeit geht. Das
intuitive Wissen, worum es in diesem Tausch eigentlich
geht, ist für das Zurechtkommen mit den Gefühlen, die wir
anderen Menschen gegenüber haben, viel wichtiger als das
Analysieren und Rekonstruieren der komplizierten Bezü-
ge. Wer das Herz am rechten Fleck hat, ist den scharfen
Rechnern in Sachen Selbstwertmaximierung voraus. So
gibt es denn auch nichts, was für die Lebensqualität in
einer Gesellschaft so wichtig ist wie das Herz, das ihre
Mitglieder füreinander haben. Es ist die Weitung der Her-
zen, wodurch die Unterfinanzierung des alltäglichen Be-
achtungstauschs kurierbar ist.

Unterwegs zur Selbstaufmerksamkeit

Die Weitung der Herzen ist nun freilich keine einfache


Kur. Am Sachverhalt, daß gerade diese Kur angezeigt ist,
zeigt sich vielmehr, wie schwierig es ist, etwas gegen die
Misere zu unternehmen. Plädoyers für mehr Herzlichkeit
sind noch eher peinlich als nutzlos. Daß wir nett zueinan-
der sein sollen, ist die Maxime der mitmenschlichen Plati-
tüde. Mit Sinn und Verstand läßt sich nur an die Fähigkeit
zur Einsicht appellieren. Die Einsicht, die das Herz zu
weiten in der Lage wäre, ist nun aber gerade die, die sich
dem rationalen Denken nicht erschließt. Es ist die Ein-
sicht, daß etwas in uns und in anderen da ist, das die Fas-
sungskraft der Verstandeskategorien übersteigt. Diese Ein-
sicht läßt sich weder durch Beweisen noch durch Predigen
übertragen. Wo nun aber ansetzen, wenn die Kategorien
des gegenständlichen Denkens abgleiten? Wie noch argu-
mentieren, wenn die rationale Analyse versagt? Wie bera-
ten, wenn nicht einmal die Selbsterfahrung des aufmerk-
samen Daseins in einem verstandesmäßigen Sinne anleit-
bar ist?
Trotz allem: Die Schwierigkeiten dieser Selbsterfahrung
werden von immer mehr Menschen überwunden. Immer
mehr Menschen lassen sich auf Anleitungen zur Erfahrung
des Daseins ein, die die Wege der verstandesmäßigen
Vermittlung verlassen. Auch und gerade in den westlichen
Gesellschaften ist es zur Bewegung auf dem Weg der
Selbstaufmerksamkeit gekommen. Es ist die Bewegung
des Zuspruchs, den die Praktiken der meditativen und kon-
templativen Versenkung erfahren. Meditative und kon-
templative Versenkung sind Formen der unkategorialen
Selbstaufmerksamkeit. Es sind Formen, die in der Art des
Exerzitiums weit voneinander abweichen können, die aber
in dem Ziel vereint sind, das Dasein als Dasein zu sich
kommen zu lassen.
Man versteht den Wertewandel, der sich in der Ablösung
des Geldes als lebenspraktischer Leitwährung manifestiert,
nur zum Teil, wenn man den Blick auf die verrechenbare,
akkumulierbare und kapitalisierbare Seite der Aufmerk-
samkeit beschränkt. Ein Wertewandel vollzieht sich auch
in einer Dimension hinter der spektakulären Oberfläche.
Er geht in einem buchstäblichen Sinn in die Tiefe. Er geht
in die Tiefe der Versenkung in die Präsenz. Der Wandel in
dieser Dimension besteht im Wandel der Einstellung, die
die Aufmerksamkeit zu sich selbst gewinnt. Es ist kein
Hobby, das die Menschen betreiben, die sich allen Ernstes
und mit der ernsthaftesten Anstrengung östlichen Weis-
heitslehren zuwenden. Immer mehr Menschen in den Ge-
sellschaften des mentalen Kapitalismus entscheiden sich
aber dafür. Nicht nur die Rezeption, auch das Verständnis
dieser Lehren hat ein Ausmaß angenommen, das für unse-
re Kultur als Ganzes erheblich ist. Nicht nur, daß das Vo-
kabular in immer breiteren Subkulturen heimisch wird, es
sickert auch immer mehr ins akademisch etablierte Den-
ken ein. Die philosophische Reflexion und wissenschaftli-
che Operationalisierung haben ihre Monopolstellung als
gängige Arten der Welterfahrung verloren.
Die Suche nach dem Dasein ist zur Volksbewegung ge-
worden. Es gibt eine regelrechte Popularisierung östlicher
Weisheitslehren im hochzivilisierten Westen. Dabei
kommt es zweifellos zu entstellenden Mißverständnissen
und haarsträubenden Vergröberungen. Die Bewegung
zeigt – als echte Volksbewegung – alle Facetten des
Menschlichen und Allzumenschlichen. Es gibt nicht nur
heilige, sondern auch unheilige und gar kriminelle Gurus.
Weil die Sache so schwierig ist, lädt sie ein zu Bluff und
Scharlatanerie. Wo keine Kriterien der Objektivierung
greifen, greifen auch keine der leichten Überprüfung. Es
liegt schließlich in der Natur der Sache, daß nicht alle, die
sich der Meditation und Kontemplation verschreiben, so
genau wissen, was sie eigentlich suchen. Es heißt jedoch
etwas, daß sich die Menschen von dem ganzen Dilettan-
tismus, durch den der Neuanfang des bewußten Umgangs
mit der eigenen und der anderen Seele hindurch muß, von
dem schwierigen Unterfangen nicht abbringen lassen. Und
es spricht Bände über intuitive Intelligenz, daß die Suche
nach dem eigenen Sein des aufmerksamen Daseins in der-
jenigen gesellschaftlichen Situation zu genau dem histori-
schen Moment in eine Volksbewegung mündet, da die
Aufmerksamkeit hinter dem Rücken des theoretischen
Begreifens einen lebenspraktisch neuen Rang erklommen
hat.
Im Zusammentreffen des entwickelten Kapitalismus der
Beachtlichkeit mit der östlichen Kultur der Selbstaufmerk-
samkeit kommen die beiden extremen Gegensätze des
Umgangs mit der Aufmerksamkeit in Berührung. Die
westliche Art und Weise, die Aufmerksamkeit zu ökono-
misieren und zu monetarisieren, ist die höchstentwickelte
Stufe des Umgangs mit der Aufmerksamkeit als knapper
Ressource und begehrtem Einkommen. Der Weg der me-
ditativen Einkehr und des kontemplativen Zusich-
Kommens ist die am weitesten entwickelte Form des Um-
gangs mit der Aufmerksamkeit als Präsenz. Der westliche
Umgang ist an einem Ideal der Effizienz, der östliche ist
an einem Ideal der Adäquanz orientiert. Effizienz kann nur
die intentionale Seite der Aufmerksamkeit betreffen, denn
nur deren Verwendung als zuwendbare Energie läßt von
etwas wie einem Wirkungsgrad reden. Die Adäquanz des
Umgangs muß sich zunächst auf die phänomenale Seite
beziehen, denn das Überhaupt-da-Sein von etwas, das
empfindet, spürt und merkt, ist, was die Aufmerksamkeit
vor allem, was es sonst noch gibt, auszeichnet. Die Kulti-
vierung der intentionalen Seite und die Kultivierung der
phänomenalen Seite folgen zwangsläufig ganz unter-
schiedlichen Leitsternen. Die Kultur der Intentionalität ist
der Rationalität und dem kategorialen Denken verpflichtet,
die Kultur der Phänomenalität ist der Praxis arationaler
Verfahren und der Realisierung akategorialer Bewußt-
seinszustände hingegeben. Zu den höheren Stufen beider
Kulturen führt die bestimmte Vernachlässigung der je-
weils anderen Seite. Die Ausbildung eines regelrechten
Kapitalismus der Beachtlichkeit vollzieht sich unter Ver-
nachlässigung eben der Eigenschaften der Aufmerksam-
keit, die für die Realisierung äußerer Zwecke unerheblich
sind. Die Ausbildung der meditativen und kontemplativen
Techniken des Zusich-Kommens besteht im Herausfinden
der Möglichkeiten, wie von all demjenigen abgesehen
werden kann, das die Präsenz von ihrem eigenen Sein ab-
lenkt. Die Hochkultur der Intentionalität ist aus innerer
Folgerichtigkeit eine der Entfremdung. Die Hochkultur
der Phänomenalität hat natürliche Neigung zur Weltver-
leugnung. Es könnte geradezu unmöglich erscheinen, daß
beide Kulturen zusammenfinden. Um so bedeutsamer ist,
daß östliche Weisen des Umgangs mit der Aufmerksam-
keit immer mehr Menschen in gerade den Gesellschaften
beschäftigen, die den entfremdeten Umgang mit der Auf-
merksamkeit auf die Spitze treiben. Hier bricht ein Damm
zwischen zwei Kulturen, die nicht nur in ihrem Ursprung
und ihrer Entwicklungsgeschichte getrennt waren, sondern
sich auch nur getrennt voneinander zur Hochform entwik-
keln konnten.
Es tut der Sache keinen Abbruch, daß die Praktiken der
Selbstaufmerksamkeit nicht nur auf den Wegen der kon-
templativen Einkehr, sondern auch in therapeutischer Ab-
sicht zur Anwendung kommen. Es gibt nämlich ein Leiden
an der Entfremdung noch vor demjenigen an der Armut an
Beachtung. Die Entfremdung vom Dasein bringt die
Selbstwertschätzung in eine verzweifelte Lage. Ohne Sinn
für und Bezug auf das Dasein neigt die Heteronomie von
Selbstwertgefühl und Selbstachtung dazu, sich zum ant-
agonistischen Gegensatz zu spreizen. Das Selbstwertge-
fühl stellt eine Abhängigkeit von etwas her, das nicht nur
unverstanden bleibt, sondern auch dem Anspruch der
Selbstachtung auf Autonomie in die Quere kommt. Die
Abhängigkeit erweist sich als regelrechtes double bind im
Auftrag der Selbstwertschätzung. Auch die Selbstachtung
ist nämlich nur stark, wenn das Selbstwertgefühl nicht
leidet. Ab einem gewissen, rational nicht genau bestimm-
baren Moment beginnt der Anspruch auf Autonomie die
Basis der Selbstbehauptung zu untergraben. Noch bevor
der Auftrag zu Selbstwertmaximierung im Hinblick auf
die Außenbeziehungen undeutlich wird, kommt es schon
im Binnenverhältnis zu Instabilitäten. Je mehr sich die
abhängige und die unabhängige Seite der Selbstwertschät-
zung auf ihre je eigene Weise anstrengen, um so mehr
gerät die wechselseitige Kontrolle zum wechselseitigen
Würgegriff.
Nicht das intellektuelle Unbehagen, das seelische Leiden
an der Paradoxie, in die die Vergessenheit des Daseins
verwickelt, hat das Interesse an den Praktiken der Selbst-
aufmerksamkeit so mächtig wachsen lassen. Die Entfrem-
dung von der phänomenalen Seite der Aufmerksamkeit hat
den Nebeneffekt, daß die Abhängigkeit vom anderen Füh-
len zu etwas ebenfalls Befremdendem wird. Sie wird zur
Abhängigkeit von etwas Heteronomem, im System nicht
Vorgesehenem. Sie scheint sogar irrationale Züge anzu-
nehmen. Wo der arationale Zugang zum Dasein fehlt, wird
die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von fremder
Wertschätzung zu etwas Unverständlichem, ja Bedrohli-
chem. Die zwischenmenschlichen Gefühle treten dem
Verstand dann als nicht nur undurchschaubar, sondern
schon feindlich gegenüber. Es kommt zu der paradoxen
Situation, daß die Gefühle, deren Bewertungsfunktion dem
Verstand erst Ziel und Richtung gibt, als Bedrohung der
Rationalität und als Anfechtung der Autonomie des Ich
erscheinen.
So erstaunlich es ist, daß dieses antinomische Verhältnis
so lange als gleichsam naturgegeben hingenommen wurde,
so wenig erstaunlich ist es, daß diese Selbstverständlich-
keit unter der Zuspitzung der Entfremdung einknickt. Der
Wertewandel, der in der Währungsfunktion der Aufmerk-
samkeit zum Ausdruck kommt, drückt sich auch im Posi-
tionswechsel zwischen Nutzen- und Selbstwertmaximie-
rung aus. Dieser Positionswechsel bleibt mit Blindheit
geschlagen, wenn nicht die Augen dafür aufgehen, was
hinter der Abhängigkeit des Selbstwertgefühls denn ei-
gentlich steckt. Deshalb erreicht die Entfremdung in der
Währungsfunktion der Aufmerksamkeit nicht nur die Spit-
ze, sondern auch einen Anfang vom Ende. Je größer die
Rolle, die der Tauschwert der getauschten Aufmerksam-
keit spielt, um so stärker macht sich auch das Leiden an
der Durchrationalisierung des Tauschs bemerkbar. Je här-
ter der Kampf um die Zuwendung, um so größer wird die
Empfänglichkeit für diejenige Seite der Aufmerksamkeit,
die im Kampf untergeht. Die Triumphe der Rationalisie-
rung im informationsverarbeitenden Gebrauch der Auf-
merksamkeit und im Geschäft ihrer Attraktion lassen deut-
licher denn je die Schranken der siegreichen Rationalität
hervortreten. Die Mediatisierung und industrielle Organi-
sation des Austauschs verstellen nicht einfach den tieferen
Blick, sie steigern auch dessen Dringlichkeit. Daß das In-
teresse an der phänomenalen Seite der Aufmerksamkeit in
der Kultur der Intentionalität gerade zu dem historischen
Moment wach wird, in dem diese Kultur ihre Hochblüte
erreicht, kann kein Zufall sein.

Die Verantwortung der Selbstaufmerksamkeit

Die Vergessenheit um das Dasein hinter all dem Seienden,


das im eigenen Erleben vorkommt, und der Schein der
Irrationalität, der die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls
von äußerer Wertschätzung umgibt, hängen unmittelbar
miteinander zusammen. Ohne stillschweigende Unterstel-
lung, daß hinter dem anderen Verhalten noch so ein Da-
sein steckt, wäre die Abhängigkeit in der Tat nicht a-, son-
dern irrational. Der Schein der Irrationalität löst sich auf,
wenn das Dasein aus seiner, wie Heidegger sie nennt,
»Seinsvergessenheit« erwacht. Die Abhängigkeit wird zu
etwas ganz Natürlichem, sobald der Umgang als einer von
Dasein zu Dasein erlebt wird. Freilich muß, damit der
Umgang als einer von Dasein zu Dasein erlebt wird, die
Bedeutung von da Sein dem Erleben schon recht nahege-
gangen sein.
Der Kontakt von Dasein zu Dasein besteht in mehr als
der Reziprozität einer Unterstellung. Jedes Dasein bedeu-
tet die Gegenwart einer eigenen Welt. Die Anerkennung
des anderen Daseins ist nicht zu trennen vom Innewerden
der Rolle, die das Selbst in der anderen Welt spielt. Der
Kontakt von Dasein zu Dasein ist mit einer Art Botschaf-
teraustausch verbunden. Das eigene Dasein ist fortan im
anderen Erleben repräsentiert wie das andere im eigenen.
Die Anerkennung ist keine, wenn sie keine von Gleich zu
Gleich ist. Daß die eigene Präsenz in einer gleichartigen
anderen repräsentiert ist, kann aber nicht kalt lassen, so-
fern die Bedeutung von »Präsenz« nur schon nahegegan-
gen ist.
Das Zusich-Kommen der Präsenz bedeutet trotz – oder
vielleicht sogar wegen – der monadischen Geschlossenheit
der Erlebniswelt eine Relativierung zwischen eigenem und
anderem Erleben. Erstens ist das Innewerden des Daseins
nicht wirklich zu trennen von dem, daß dieses Sein in der
Vielzahl da ist. Zweitens bedeutet Vielzähligkeit beim
Dasein etwas anderes als das Vorkommen mehrerer Ex-
emplare derselben Gattung. Das Gewärtigsein des Daseins
kennt den Standpunkt des unbeteiligten Beobachters nicht.
Das Dasein ist immer nur in der Perspektive der ersten
Person bei sich. Die Perspektive der ersten Person wird in
der Anerkennung des anderen Daseins lediglich umge-
kehrt. Wird die Perspektive der dritten Person eingenom-
men, dann kommt das Dasein schlicht und einfach nicht
mehr vor. Das andere Dasein ist nicht nur meinesgleichen,
sondern auch das nur gespiegelte eigene. Es ist für mich
immer nur in derjenigen Bedeutung phänomenalen Be-
wußtseins da, die ich von mir aus verstanden habe. Des-
halb hängt es von diesem Verständnis ab, ob die Abhän-
gigkeit der Selbstwertschätzung nur als Heteronomie erlit-
ten oder als Beweis dafür verstanden wird, daß wir auch
als Monaden nicht allein sind.
Das Zusich-Kommen der Präsenz ist das natürliche Mit-
tel zur Lockerung der Verspannung zwischen abhängigem
Selbstwertgefühl und unmittelbarer Selbstachtung. Im
Zusich-Kommen der Präsenz kommt auch das Spüren zu
sich, das sich sonst nur als Angebundenheit bemerkbar
macht. Das Zusich-Kommen hebt die Abhängigkeit nicht
auf, aber transformiert sie. Es transformiert sie zur Ver-
antwortung in dem großen Sinne, wie der Philosoph Em-
manuel Lévinas das Wort gebraucht. Lévinas geht so weit,
zu behaupten, daß den Sinn der Rede vom anderen Dasein
nur verstanden hat, wer die Bereitschaft spürt, dafür zu
sterben. Er geht damit über die östlichen Lehren hinaus,
die jedoch ihrerseits in dem Punkt übereinstimmen, daß
die Bewegung der Selbstaufmerksamkeit erst dann ganz
angekommen ist, wenn sie in ozeanisches Mitgefühl mün-
det.
Nicht von ungefähr kommt, daß das wohltätige Interpre-
tieren – ob es im einzelnen so genannt wird oder nicht –
zum Standardrepertoire der praktischen Übungen der zu
sich kommenden Präsenz gehört. Es kommt nämlich nicht
darauf an, ob der Zugang vom Eingehen auf das andere
oder von der Versenkung in das eigene Dasein her gesucht
wird. Es kommt nur ganz entschieden darauf an, daß die
Selbstaufmerksamkeit im Eigenen nicht befangen bleibt.
Weil es diese Befangenheit gibt, muß die Philosophie
Emmanuel Lévinas’ erwähnt werden. Lévinas korrigiert in
diesem Punkt Heidegger. Heidegger ist der wichtigste
westliche Denker des Daseins. Er hat die Entfremdung, die
die Vergessenheit ums Dasein bedeutet, wortgewaltig her-
ausgestellt. Bei Heidegger bleibt das Dasein aber im Eige-
nen als dem vorgeblich Eigentlichen befangen. Sein Den-
ken stellt den eigenartigen Fall dar, daß die Selbstauf-
merksamkeit zwar ankommt, die Mehrzähligkeit der Prä-
senz aber gerade nicht nahegeht. Bei Heidegger bleibt
sowohl die Ethik ein unbeschriebenes Blatt als auch die
Eitelkeit etwas völlig Unverstandenes. Heideggers Philo-
sophie ist im wahren Sinne des Worts herzlos.
Lévinas rettet den großartigen Anfang bei Heidegger,
indem er dessen Denkweise aus dieser Befangenheit he-
rausführt. Lévinas’ Philosophie ist Ausdruck des überwäl-
tigenden Zu-Bewußtsein-Kommens, daß auch im anderen
Erleben ein Sein hinter all dem Seienden da ist. In seinem
Denken tritt die Ethik ganz von selbst in den Vordergrund.
Er macht auch deutlich, daß für die Präsenz, die ohne Be-
fangenheit bei sich ist, die Güte keine Frage des Sollens,
sondern der Adäquanz ist. Die Ethik, wie Lévinas sie ver-
steht, ist die Logik des Sinns für das andere Dasein.
Man kann die Philosophien Heideggers und Lévinas’ als
Hinweis lesen, daß in der Synthese zwischen der Kultur
der Intentionalität und der Kultur der Phänomenalität ein
Potential schlummert. Es gilt ja nicht nur, die Verspannt-
heiten der Selbstwertmaximierung zu lösen. Es gilt auch,
die Logik hinter dem Wunsch zu verstehen, eine Rolle in
anderem Bewußtsein zu spielen. Die Entwicklung, die die
intentionale Seite der Aufmerksamkeit im Kapitalismus
der Beachtlichkeit nimmt, ist auch für die andere Seite
nicht uninteressant. Wer hätte gedacht, daß es ausgerech-
net der Wunsch nach der Rolle im anderen Bewußtsein ist,
der dem älteren Typus wirtschaftlichen Strebens Konkur-
renz macht? Man darf wirklich gespannt sein, was das
nachspürende Erfassen des entfremdeten Beziehungsreich-
tums an Einsichten und Umgangsweisen noch bescheren
wird.
Die Annäherung der beiden Kulturen läßt den Gedanken
einer Kreditreform des alltäglichen Umgangs in einem
neuen Licht erscheinen. Der Gedanke ist keine gute Idee,
wenn man sich die Reform als ein Projekt vorstellt, das
durch Aufklärungskampagnen und bessere Psychobera-
tung voranzubringen wäre. Die Scheuklappen, mit denen
die Menschen aus der Bandbreite der rationalen Strategien
zur Selbstwertmaximierung wählen, können nicht durch
Aufklärung abgenommen werden. Die mangelnde Frustra-
tionstoleranz beim Festhalten an der unterstellten Sinnhaf-
tigkeit und Intelligenz des anderen Verhaltens ist kein
Mangel, der nach Therapie riefe. Es wäre unsinnig, für
wohltätiges Interpretieren Propaganda machen zu wollen.
Man könnte dann gleich für mehr Herz werben. Schließ-
lich würde man sich an der Philosophie Lévinas’ und an
den Weisheitslehren geradezu vergehen, wollte man sie
missionarisch unter die Leute bringen. Als gesellschafts-
politischer Auftrag wäre die Kreditreform ein grobes Miß-
verständnis. Schlüssigkeit nimmt der Gedanke erst an,
wenn man nach der Logik des Wertewandels fragt, der
sich im Siegeszug des mentalen Kapitalismus manifestiert.
Die Ökonomisierung und Monetarisierung der Aufmerk-
samkeit hat im Prioritätenwechsel der Einkommensarten
und in der Institutionalisierung des Finanzwesens der Be-
achtlichkeit einen vorläufigen Abschluß gefunden. Die
Durchrationalisierung hat zwar nur bedingt, aber doch
spürbar auf den alltäglichen Austausch durchgeschlagen.
Das System der gesellschaftlichen Geltung hat Eigen-
schaften eines Systems von Marktpreisen angenommen.
Mehr hätte von der Konkurrenz, die die Aufmerksamkeit
dem Geld macht, nicht erwartet werden können. Gleich-
wohl bleibt der Wertewandel, wenn er nur so weit kommt,
eine halbe Sache. Er betrifft die Aufmerksamkeit nur in
der Bedeutung, in der man sie zu- und verrechnen, einspa-
ren und umlenken, kanalisieren und weiterverleihen kann.
Die Aufmerksamkeit, die wir tauschen, hat nun aber einen
Wert jenseits dessen, der sich aus Knappheit und Zah-
lungsbereitschaft herleitet. Sie muß, um begehrt zu wer-
den, zunächst einmal selbst in der Lage sein zu begehren.
Die Zuwendung ist nur dann als Einkommen begehrt,
wenn es ein anderes Dasein ist, das sich zuwendet. Auf-
merksamkeit zählt nur in der doppelten Bedeutung von
attention und awareness als Einkommen. Deshalb braucht
man sich über das immer stärker werdende Interesse an
awareness nicht zu wundern. Es liegt in der Natur der Sa-
che, wenn nach dem Ausreizen der intentionalen Seite die
Kultivierung der phänomenalen Seite zum Zug kommt.
Die Frage ist nur, ob damit auch dem sozialen Elend
Selbstheilungskräfte zuwachsen.
An Potentialen, die verfügbar wären, mangelt es nicht.
Da ist zunächst die Bandbreite an Strategien der Selbst-
wertmaximierung, die individuell gleichwertig, sozial je-
doch ungleichwertig sind. Das stärkere Achten auf die
kooperativen Strategien im Umgang mit der anderen
Aufmerksamkeit würde bereits viel an Abträglichkeit aus
der Welt schaffen. Die Bandbreite der individuell gleich-
wertigen Strategien zur Selbstwertmaximierung ist aber
nicht die einzige Indifferenzzone, die im Tausch der Auf-
merksamkeit eine Rolle spielt. Eine andere steht bei der
Interpretation des anderen Verhaltens offen. Nur in raren
Ausnahmefällen hat das andere Verhalten eine einzige
plausible Interpretation. Regelmäßig steht ein ganzes
Spektrum von Deutungsmöglichkeiten offen, die alle mehr
oder weniger gleich plausibel sind, die aber Unterschiede
in der Figur machen, die die andere Person dabei macht.
Es gibt immer Deutungen, die den andern als gar nicht so
dumm, und solche, die ihn als nicht ganz gescheit erschei-
nen lassen. Wie gut die andere Person in dem Bild weg-
kommt, das wir uns von ihr machen, macht aus, wie wich-
tig sie für unseren Selbstwert ist.
Soziale Wohlfahrt, Logik und Ethik

Die Frage, ob zu- oder abträglich interpretiert wird, ist


nicht nur dort entscheidend, wo Armut in Elend zu kippen
droht. Sie ist für den Tausch der Aufmerksamkeit über-
haupt von entscheidender Bedeutung. Von ihr hängt näm-
lich ab, ob wir bei diesem Tausch mit einer Wertschöp-
fung zu tun haben oder nicht. Konsistent abträgliches In-
terpretieren würde aus dem Spiel um den Selbstwert ein
Null- oder gar Negativsummenspiel machen. Ab einem
gewissen Verbreitungsgrad der abträglichen Interpretation
bräche die soziale Wertschöpfung des Beachtungstauschs
zusammen. Das Prinzip der wohltätigen Interpretation ist
mehr als ein Prinzip der Menschenfreundlichkeit. Es ist
ein Prinzip sozialer Wohlfahrt, von dem die Lebensquali-
tät in einer Gesellschaft abhängt. Der Umfang, in dem es
in einer Gesellschaft normal ist, wohltätig zu interpretie-
ren, bestimmt das Niveau, auf dem das Bedürfnis nach
Zuwendung und der Wunsch nach Anerkennung befriedigt
werden. Je geringer der Umfang, um so häßlicher sind die
Menschen zueinander und um so niedriger ist das Niveau
der Selbstwertschätzung. Ohne ein Mindestmaß an wohl-
tätiger Interpretation wird das Zusammenleben buchstäb-
lich zur Hölle. Wohltätiges Interpretieren ist nicht weniger
als das Grundprinzip kultivierten Umgangs. Es ist für die
Tauschökonomie der Aufmerksamkeit so zentral, wie es
Ockhams Messer für die Denkökonomie ist.
Das Achtgeben, um Beachtung einzunehmen, ist immer
mit einer bestimmten Deutung des Verhaltens verbunden,
das der Partner an den Tag legt. Bei dieser Deutung steht
grundsätzlich ein Interpretationsspielraum offen. Die Ab-
sicht und der gemeinte Sinn des Verhaltens kann immer
nur aus äußeren Anzeichen erschlossen werden. Auf diese
Absicht und den gemeinten Sinn kommt es aber an. Wir
können Aufmerksamkeit weder absichtlich noch in sonst
sinnvoller Weise tauschen, ohne zu wissen, woran wir
sind. Weil sie so deutlich werden kann, ist die Sprache für
den Austausch so wichtig. Selbst sprachliche Äußerungen
haben nun aber kaum je nur eine einzige Deutungsmög-
lichkeit. Vielmehr ist auch für die Sprache ein Interpreta-
tionsspielraum charakteristisch. Was ein Satz bedeutet, ist
in anderen als trivialen Fällen nie allein durch den Wort-
laut, sondern stets auch durch die Umstände der Äuße-
rung, durch die – ausdrückliche oder stillschweigende –
Definition der Situation, die – unterstellte beziehungswei-
se unterstellbare – Rolle der Gesprächsteilnehmer be-
stimmt. Ob die Rede ernst oder ironisch, spitz oder platt,
ob sie wörtlich oder anspielend ist, ob gemeint ist, was
gesagt wird, oder ob nicht vielmehr das Gegenteil zu ver-
stehen ist, erschließt sich allein daraus, welche der mögli-
chen Auffassungen den insgesamt besseren Sinn ergibt.
Um den insgesamt besten Sinn zu erschließen, reicht das
wörtliche Verstehen nicht. Es muß die Interpretation nach
der Maxime hinzukommen: Halte, wenn dir der andere
unverständlich erscheint, nicht ihn, sondern erst einmal
dich selbst für den Dümmeren! Geize nicht mit dem Vor-
schuß an unterstellter Rationalität! Deute seine Äußerun-
gen so lange um, bis sie in der gegebenen Situation einen
Sinn ergeben! Diese Maxime begründet alle höheren For-
men des Verstehens. Sie ist nicht nur für die Interpretation
sinnhaften Verhaltens konstitutiv, sie ist sogar aus der
Logik der natürlichen Sprache nicht wegzudenken. Weil
jede formale und terminologische Definition auf die Erklä-
rung in natürlicher Sprache rekurriert, nimmt das Prinzip
der wohltätigen Interpretation inzwischen einen festen
Platz in der theoretischen Logik ein. Es wurde hier – in
lediglich abweichender Formulierung – von zwei ameri-
kanischen Philosophen eingeführt. Paul Grice7 nennt es
cooperation principle, Donald Davidson8 charity princi-
ple. Kooperative beziehungsweise wohltätige Interpretati-
on im Sinne dieser Prinzipien meint die Einengung des
offenen Interpretationsspielraums der natürlichen Sprache
durch bewußten Einsatz von Vertrauensvorschüssen in die
Intelligenz des Gesprächspartners.
Es gibt keine sinnvolle Verständigung ohne wohltätiges
Interpretieren. Man kann, wenn man es darauf anlegt, sei-
nen Partner immer mißverstehen. Umgekehrt kann man
niemanden zwingen, einen in genau der und keiner ande-
ren Weise zu verstehen. Wie man von Denken nicht reden
kann ohne ein Mindestmaß an Denkökonomie, so kann
man von Verständigung nicht reden ohne ein Mindestmaß
an Kooperativität. Was Grice und Davidson zeigen, ist ein
Prinzip, das logisch denselben Rang und Status hat wie
Ockhams Messer. Was sie damit auch zeigen, ist, daß die
Logik nicht nur eine, sondern zwei Schnittstellen zur
Ökonomie hat. Die Suche nach dem besten Sinn ist, wie
das Vermeiden von Überflüssigem, ein Effizienzprinzip.
Das eine betrifft die kommunikative, das andere die pro-
duktive Verwendung knapper Aufmerksamkeit. Daher ist
Ockhams Messer ein Kriterium individueller, das Koope-
rationsprinzip ein Kriterium kollektiver Effizienz. Das
Kooperationsprinzip läßt es zu, daß es aus individueller
Sicht effizient erscheint, abträglich zu interpretieren. Es
besagt aber, daß es im Kollektiv in jedem Fall ineffizient
ist, auf die Suche nach dem besten Sinn zu verzichten.
Eine Gesellschaft, die es unterläßt, das Maximum – bezie-
hungsweise eines der machbaren Maxima – an wohltätiger
Interpretation zu realisieren, verfehlt das objektiv mögli-
che Wohlfahrtsniveau.
Das Kooperationsprinzip stellt mehr als nur eine Schnitt-
stelle zwischen Logik und Ökonomie dar. Es stellt auch
eine solche zwischen Ökonomie und Ethik dar. Es besagt,
daß es zwischen verständigen Wesen keinen ethisch neu-
tralen Austausch von Aufmerksamkeit gibt. Je effizienter
der Austausch im Sinne der Wertschöpfung, nämlich im
Sinne des gemeinschaftlich realisierten Selbstwerts ist, um
so höher steht er – ceteris paribus – auch in moralischer
Hinsicht. Die einschränkende Klausel ist nötig, weil die
Verteilung der gemeinschaftlich realisierten Werte auf die
Beteiligten nicht unerheblich ist. Grundsätzlich besteht
aber der Zusammenhang zwischen Effizienz und Morali-
tät, weshalb der Idealtypus des Beachtungstauschs sowohl
ökonomischer als auch ethischer Natur ist.
Damit sind wir beim Ideal der moralischen Eleganz zu-
rück. Es ist ein Ideal, das nicht nur damit zu tun hat, daß
der Reichtum an Beachtung mit dem Wunsch nach Ver-
feinerung einhergeht. Es ist ein Ideal, das im Wesen des
Tauschs der Aufmerksamkeit gründet. Eleganz ist der
sichtbare Ausdruck der effizienten Nutzung des wert-
schöpfenden Potentials dieses Austauschs. Der Wert, der
in diesem Austausch geschöpft wird, ist ein doppelter. Es
ist erstens der Wert, den die Befriedigung zwischen-
menschlicher Bedürfnisse stiftet, und es ist zweitens der
Wert, der sich in der Pflege beziehungsweise dem Wach-
stum der Selbstwertschätzung niederschlägt. Beide zu-
sammen sind, was die Moralität ausmacht. Die effiziente
Nutzung des wertschöpfenden Potentials und die Förde-
rung der moralischen Güte des zwischenmenschlichen
Umgangs sind eins. Die Eleganz, die der Effizienz sichtba-
ren Ausdruck gibt, ist keine jedenfalls keine nur – ästheti-
sche, sondern hat selbst moralische Qualität.
Auch und gerade durch dieses ihr inhärente Ideal ruft die
Vervollkommnung des zwischenmenschlichen Austauschs
nach einer Synthese der Kultur der Intentionalität und der
Kultur der Phänomenalität. Die moralische Eleganz leidet
grundsätzlich – und grundsätzlich schwerwiegend – unter
dem entfremdeten Umgang mit der Aufmerksamkeit. Die
erste Voraussetzung moralischer Eleganz besteht im Feh-
len der Haltungsschäden, die vom verkrampften Verhält-
nis von Selbstwertgefühl und Selbstachtung rühren. Mora-
lische Eleganz ist die bestimmte Negation von Herzlosig-
keit. Sie verlangt Großzügigkeit im Vorschießen wohlwol-
lender Beachtung nicht nur im Sinne fehlenden Geizes,
sondern im Sinne spürbarer Generosität. Sie ist eine Form
praktizierter Nächstenliebe – allerdings keine, die sich
aufopfert, sondern eine, die sich gefällt im Entfalten von
Liebenswürdigkeit. Sie ist die Art von Nächstenliebe, die
es klug wird zu praktizieren, wenn der Grund für die Ab-
hängigkeit des Selbstwertgefühls in Selbstaufmerksamkeit
zu sich kommt.
Weil die Selbstaufmerksamkeit erst ganz ankommt,
wenn auch nahe geht, daß die Präsenz, zu der sie findet, so
oft da ist, wie überhaupt Wesen bei Bewußtsein sind, ist
die moralische Eleganz ein Ideal, das über die Ökonomie
der Aufmerksamkeit hinausweist. Der Einzug moralischer
Eleganz bedeutet einen dramatischen Wechsel in der Ein-
stellung zur Kreatur überhaupt. Es gibt nicht nur mensch-
liches Bewußtsein. Alle höheren Tiere und wohl auch
manche, die wir als nieder bezeichnen, haben Bewußtsein.
Moralisch elegant – ja überhaupt moralisch – ist nur das-
jenige Verhalten, das auch dieses andere Bewußtsein als
eigenes Dasein achtet. Moralische Eleganz ist der Idealty-
pus des Verhaltens, das dem Bild der Welt als eines Kos-
mos so vieler Erlebniswelten gerecht wird, wie überhaupt
da sind.
Anmerkungen

1
Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Leip-
zig 1883, Kap. IV.4
2
Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class,
Boston 1905; deutsch als: Theorie der feinen Leute, Frank-
furt/Main 1986.
3
Es geht zurück auf Paul A. Samuelson, »A note on the
pure theory of consumer’s behavior«, in: Economica, Bd.
18, 1938.
4
Vgl. Erving Goffman, »On facework: an analysis of ri-
tual elements in social interaction«, in: Psychiatry, Bd. 18
(1955), S. 213.
5
Siehe Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik
der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main 51.992,
S. 281 ff. und 441 ff.
6
Siehe Harald Atmanspacher, »Informationsdynamik als
formaler Ansatz für ein interdisziplinäres Wissenschafts-
verständnis«, in: Realitäten und Rationalitäten, Jahrbuch
Selbstorganisation, Bd. 6, Berlin 1996, S. 177-196 sowie
die Referenzen dort.
7
Paul Grice, Logic and conversation, William James
Lectures. Unveröffentlichtes Manuskript 1967. Gekürzte
Fassung in: P. Cole/J. L. Morgan (Hg.), »Syntax and Se-
mantics«, Bd. 3: Speach Acts, New York 1975, S. 41-58.
8
Donald Davidson, »Radical interpretation« (1973),
»Belief and the basis of meaning« (1974), »On the very
Idea of a conceptual scheme (1974); sämtliche abgedruckt
in: Donald Davidson, Inquiries into Truth and Interpreta-
tion, Oxford 1984.

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