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Sibylle Lewitscharoff, geboren 1954 in Stuttgart, lebt in Berlin. Für ihr Werk wurde sie mit
zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Ingeborg-Bachmann-Preis, dem Preis der Leipziger
Buchmesse und dem Kleist-Preis sowie 2013 mit dem Georg-Büchner-Preis. Zuletzt erschienen die
Erzählung Pong redivivus (2013) und die Romane Blumenberg (2011) und Apostoloff (2009) sowie
Vom Guten, Wahren und Schönen. Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen (2012).
Sibylle Lewitscharoff
Killmousky
Roman
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der
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Umschlagfoto: Eberhard Grames
eISBN 978-3-518-73448-3
www.suhrkamp.de
für Josephine Meckseper
I
Er lag im Bett. Bis vor kurzem hatte Killmousky neben ihm geschlafen. Es
war jetzt eine ganze Weile her, genauer gesagt, es hatte sich in einer
Sonntagnacht im Mai 2011 zugetragen: der Beginn einer wunderbaren
Freundschaft, wie es am Schluß von Casablanca heißt. Auch als eine Art
Filmfreundschaft hatte begonnen, was sich zwischen Killmousky und ihm
abspielte, und zwar an jenem Sonntag im Mai zehn Minuten nach
Mitternacht. Ellwanger hatte gerade die Austaste der Fernbedienung
gedrückt. Das in weißen Nebel gehüllte Bild mit dem orangefarbenen ZDF-
Zeichen erlosch. Eine englische Krimiserie hatte er angeschaut, die ihn
zuverlässig amüsierte – Inspector Barnaby. Diesmal war sie sogar sehr
lustig gewesen. Wie immer wimmelte es von absurden Morden in der
englischen Provinz. Ihm gefielen der kompakte Inspektor und sein treuer
Adlatus, vor allem gefielen ihm die umwerfend guten Schauspieler, die in
den ländlich robusten Kostümen der englischen Provinzler auftraten, nicht
zu vergessen das Innenleben der Herrenhäuser und Cottages mit den
kuriosen Gegenständen, den engen Treppen, die zu den winzigen
Dachkammern führten. Da fiel es nicht weiter ins Gewicht, daß die Morde
surreal und die Motive ziemlich verdreht waren, besonders in ihrer
Häufung. Mindestens drei oder vier Leichen gab es in jeder Folge. Alles
unwahr, aber heiter und entspannend.
Diesmal hatte es Inspector Barnaby mit einem kleinen schwarzen Kater
zu tun bekommen, den er sogleich Killmousky nannte. Barnaby hatte eine
Katzenallergie und war auch sonst ein Feind der Haustiere, jedenfalls wollte
er sie nicht in den eigenen vier Wänden dulden. Obwohl Killmousky an der
geröteten Nase des Inspector Schuld trug, schien es so, als dürfe er bleiben,
was sich in den weiteren Folgen allerdings nicht bewahrheiten sollte.
Der witzige Name des Katers ging Ellwanger nicht aus dem Kopf. Wer
da warum gestorben war, entschwand hingegen schnell aus seinem
Gedächtnis. Amüsiert hatte er sich gerade die letzte Zigarette vor dem
Schlafengehen angesteckt, da maunzte und greinte es draußen auf der
Terrasse. Er öffnete die Tür, und herein spazierte eine kleine schwarze
Katze mit hochgerecktem Schwanz. Allen Ernstes: Killmousky war zu ihm
gekommen! Höchstens zehn Minuten nach Ablauf der Sendung.
Er war ein ebensolcher Haustierverächter wie Barnaby und dachte nicht
im Traum daran, das Viech bei sich aufzunehmen. Aber er war so
überrascht, daß er es nicht sofort hinausscheuchte. Wenig später stellte sich
sogar heraus, daß seine Katze gar keine Katze war, sondern ein Kater.
Tatsache, ein echter Killmousky!
Der inspizierte erst mal die Räume, gründlich, aber offenbar ohne jede
Scheu, dann rieb er den schwarzen Kopf am Bein des rechtmäßigen
Bewohners.
Es dauerte nicht lange, da goß der Hausherr ein wenig Milch in eine
Schüssel und holte einen Rest Leberwurst aus dem Kühlschrank. Schon
zwei Tage später wußte er, daß man Katzen die Milch nicht pur, sondern
besser etwas Wasser mit ein paar Tropfen Milch servierte; er lernte rasch
dazu. Killmousky wirkte ausgehungert. Er war klein, zierlich gebaut und
extrem dünn, schwarz von Kopf bis Fuß. Sein Fell glänzte. Killmousky
machte keinerlei Anstalten, sich nach der Mahlzeit wieder zu entfernen,
mehrfach wurde ihm die Terrassentür geöffnet, um ihn wieder zu entlassen.
Aber jedesmal zögerte das Katerchen auf der Schwelle und wandte sich
wieder um. Es endete damit, daß er schon in der ersten Nacht im Bett des
Hausherrn schlief. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft eben.
Killmousky war witzig. Eine Schauspielernatur. Ellwanger war es
inzwischen unmöglich, sich ein Leben ohne Kater vorzustellen. Ja, die
Liebe zu Killmousky ging so weit, daß beim eigentlichen Herrn im Haus
von Herrschaft nicht mehr die Rede sein konnte – der hatte sich alsbald den
Ticks und Gewohnheiten seines neuen Genossen völlig untergeordnet.
Gegen sechs Uhr in der Früh im Sommer, gegen halb acht im Winter
beliebte es Killmousky, ihn zu wecken. Er ging dabei sanft zu Werke, strich
mit dem Pfötchen ein bißchen auf seiner Brust herum, knabberte und riß
dann etwas entschiedener an den Haaren hinter seinem Ohr. In der Früh
hieß das gemeinsame Programm: auf zur fröhlichen Jagd im Garten!
Ellwanger im Pyjama mit Hausschuhen – bei warmem Wetter. Im Winter,
wenn Schnee lag, mit Mantel über dem Pyjama, dicken Socken an den
Füßen, die in Gummistiefeln steckten. Sommers wie winters tat Killmousky
seine Imponiersprünge im Garten mit aufgeplustertem, gesträubtem
Schwanz und gab (es war schwer zu entscheiden, wen nun genau) den
Löwen, den Panther oder den Tiger. Die Aufgabe des Herrn war es, ihn
dabei zu jagen. Höhepunkt war jedesmal, wenn Killmousky wie ein Blitz
den Baum hochschoß und in den Ästen herumturnte, während Ellwanger
unten seine erste Zigarette rauchte und den Kater dabei anspornte. Nicht
ganz so rasch, wie er hinaufgeschossen war, kam Killmousky dann wieder
herunter und verschwand im Nachbargarten, ohne sich nach ihm
umzudrehen. Ellwanger drückte die Zigarette aus, schloß die Terrassentür
und legte sich noch einmal ins Bett.
Nach dem ersten Auftauchen des Katers hatte er auf den Straßen von
Solln Ausschau nach Zetteln an den Bäumen gehalten, auf denen manchmal
nach entflogenen Wellensittichen, entlaufenen Katzen oder Hunden gesucht
wurde. Killmousky wurde offenbar von niemandem vermißt. Schon nach
einer Woche hatte Ellwanger begonnen, sich wie der rechtmäßige Halter
aufzuführen, hatte einen Transportkorb gekauft und Killmousky zum
Tierarzt geschafft, hatte ihn impfen und sich einige Ernährungstips geben
lassen. Jesus! Was für eine Aktion, den Kater in den Korb hineinzustopfen.
Killmousky ließ aus seinem Gefängnis ein tiefes verstörtes Grollen hören
und war hinterher stundenlang beleidigt.
Danach hätte er Killmousky nicht mehr freiwillig herausgerückt. Der
Kater gehörte jetzt zu ihm.
Wobei sich diese Zugehörigkeit in großer Freiheit bewährte, denn
während er ins Büro ging, verlebte Killmousky den Tag draußen, war aber
jedesmal pünktlich zur Stelle, sobald der Hausherr das
Gartentörchen aufklinkte, und geleitete ihn maunzend hinein. Abends hatte
Killmousky Hunger, da durfte nicht lange gefackelt werden. Aber der Kater
war kein großer Fresser, er leerte seinen Napf immer nur halb. Wenn ihm
das Futter nicht paßte, rührte er es gar nicht erst an.
Eigentlich hatte Ellwanger es gut getroffen in seinem Häuschen in Solln,
einstöckig, mit fünf Zimmern, die bis auf Küche und Bad alle auf den
Garten hinausgingen. Der Garten war wirklich zauberhaft, weil er mit dem
Garten der Hausbesitzerin verschmolz beziehungsweise nur durch ein paar
großgewachsene Buchsbaumkugeln von ihm getrennt war. Sie wohnte
weiter hinten in einem geräumigen Haus. Auf seiner Terrasse waren
Solnhofener Schieferplatten verlegt, die Bäume spendeten Schatten.
Ellwanger hatte es gut. Gut auch deshalb, weil er sich mit der Besitzerin der
beiden Häuser und des Gartens vorzüglich verstand. Eine ungewöhnliche
Frau seines Alters, Mitte Fünfzig, einerseits eine Münchnerin, wie sie im
Buche stand, die sich nicht zu schade war, hin und wieder in ein Dirndl zu
schlüpfen, zum anderen war die Frau weltläufig und zugleich exzentrisch.
Obwohl sie keine habhaften erotischen Beziehungen unterhielten, hätte er
sich nicht gescheut, zu sagen, er liebe Frau Kirchschlager. Er konnte sich
nicht erinnern, je mit einer Frau bekannt geworden zu sein, mit der er sich
auf eine diskrete und zugleich gewitzte Art so gut verstand. Wochenlang
war sie immer wieder unterwegs, arbeitete als Restauratorin im
Metropolitan Museum of Art oder für andere international bedeutende
Museen. Sie kannte die Welt viel besser als er und war in bürgerlichen
Verhältnissen aufgewachsen. Er hingegen war auch in München immer ein
Provinzler geblieben, der seine gedrückte Herkunft aus dem
Hohenlohischen niemals hatte abstreifen können. An Frau Kirchschlager
bewunderte er den freizügigen Umgang mit allem und jedem, ihre
Generosität und nicht zuletzt den zutiefst bayerischen Witz.
Heute morgen war alles anders.
Killmousky hatte sich redliche Mühe gegeben, ihn in den Garten zu
locken, aber Ellwanger beschränkte sich darauf, den Kater hinauszulassen,
und legte sich sofort wieder ins Bett. Heute war Donnerstag, ein Werktag
wie jeder andere auch, für Ellwanger aber eine neue, noch unbekannte Art
von Donnerstag. Gestern hatte er seine Sachen gepackt, den Schreibtisch
geräumt und war – wie man so schön sagte – auf eigenen Wunsch aus dem
Amt geschieden. Mit ausgiebigem Händeschütteln und vielen guten
Wünschen seitens der Kollegen, die darauf bestanden hatten, am
Wochenende noch richtig zu feiern. Frau Reidemeister hatte sogar geweint.
Ellwanger fiel kein Grund ein, warum sie seinen Abgang feiern sollten.
Dem Abschied lag nichts Ehrenwertes zugrunde, sondern etwas Vertracktes.
Mit der Pension würde er wohl auskommen, bescheiden wie er war,
zumindest solange es Frau Kirchschlager gab, die ihm das Häuschen zu
einem sehr günstigen Preis überlassen hatte, äußerst günstig für Münchner
Verhältnisse.
Aber sonst? Wie um Gotteswillen sollte er die Zeit hinbringen? Womit
denn? Er hatte keine Hobbys, er verachtete Hobbys aus tiefstem Herzen.
Sein Vater war so ein Hobbywerker gewesen, ein Kellergeschöpf der
mürrischen und gewalttätigen Sorte, der regelmäßig die Mutter verprügelte.
Ellwanger haßte Keller. Gottlob gab es in seinem Häuschen nur einen Raum
im Untergeschoß, der zur Aufbewahrung von Lebensmitteln diente, weil es
da unten ziemlich kühl war.
Was nun? Frauen? Zigaretten? Fernet Branca? Den lieben langen Tag?
Mit Killmousky konnte er sich jedenfalls nicht stundenlang im Garten
herumtreiben, der ging immer schleunig seiner Wege. Zeitunglesen, dachte
Ellwanger, ich werde ab jetzt jeden Morgen zwei Stunden lang Kaffee
trinken und die Süddeutsche lesen, und schlief bei dem Gedanken sofort
wieder ein.
Als er erwachte, war es halb elf und das Problem immer noch da.
Ellwanger erhob sich schwerfälliger als sonst. Es kam ihm so vor, als
schlurfe er schon wie ein uralter Rentner in die Küche, um die
Kaffeemaschine anzuwerfen und den Toast in den Röster zu stecken.
Offenbar hatte es geschneit. Auf dem Fenstersims lag eine dicke weiße
Haube.
Ich darf nicht verkommen. Putzen, waschen, Ordnung halten, dachte
Ellwanger und beschloß, gleich nach dem Frühstück die Bettwäsche
abzuziehen und eine Waschmaschine laufen zu lassen. Bei dem über Nacht
gefallenen Schnee konnte er jedenfalls nicht mit Hausschuhen zur Tür
hinaus, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen. Andere Schuhe
anzuziehen, sich gar in die Gummistiefel zu zwängen, dazu hatte er keine
Lust.
Er stellte das Radio an. Bißchen Musik. Nachrichten aus Stadt und Land.
Er hörte gar nicht recht hin, so sehr war er damit beschäftigt, sich zu fragen,
was er nun tagein, tagaus tun solle. Er hatte immer gearbeitet, war immer
ein Arbeitstier gewesen, fuhr so ungern in Urlaub wie Inspector Barnaby,
nur hatte Barnaby Frau und Tochter und seinen ergebenen Sergeant Troy; er
hingegen hatte niemanden. Zumindest jetzt niemanden mehr. Seine direkten
Untergebenen, Pilz und Schott, würden ab sofort ohne ihn auskommen
müssen, und wer weiß, vielleicht rückte einer von ihnen nach, Schott
vielleicht, aber das ging ihn nichts mehr an.
Da fiel sein Name. Im Radio. Er stand auf und stellte den Apparat lauter.
Eine kurze Meldung: »… Kriminalhauptkommissar Ellwanger hat nach den
gegen ihn erhobenen Vorwürfen heute den Dienst quittiert. Mit einem
Strafverfahren ist nicht zu rechnen. Für weitere Auskünfte stand er der
Presse nicht zur Verfügung.«
Das war's also. Es dürfte eine der letzten Meldungen in der
Angelegenheit gewesen sein. Ab jetzt würde wahrscheinlich Ruhe
einkehren. Sicher, er hatte x Angebote bekommen, von Radio- und
Fernsehsendern landauf, landab, er hätte die große Talkshowtour abreißen
und dabei mit einer gewaltigen Zustimmung rechnen können. Paar heikle
Fragen von Anwälten, die sich künstlich aufmaschelten, mehr war an
Widerstand nicht zu erwarten gewesen. Trotzdem, er war froh, jedes dieser
Angebote abgelehnt zu haben. Ein Mann redete nicht stundenlang darüber,
warum er etwas getan hatte. Ellwanger jedenfalls nicht. Das war etwas für
Frauen, die alles breitschwätzen mußten, wie zum Beispiel seine
Ehemalige, die zuletzt stundenlang am Telephon gesessen hatte. Vielleicht
war's aber auch ein Fehler, so stur gewesen zu sein. Jetzt hockte er in Solln
herum und wußte nicht, was tun. Die Fernsehauftritte hätten ihn sicher erst
einmal beschäftigt, wer weiß, vielleicht einen ansehnlichen Strom Frauen in
sein Bett gelenkt, welches er derzeit nur mit Killmousky teilte. Anders als
früher hätte er jetzt ja alle Zeit der Welt gehabt, sich den Frauen zu widmen.
An Zuschriften, auch von Männern übrigens, die meisten enthusiastisch und
ihn als Helden feiernd, mangelte es jedenfalls nicht. Und wenn er sich im
Spiegel betrachtete, fand er sich immer noch ganz in Ordnung. Etwas
mager, sehnig, mit scharfem Blick, die Haare so ziemlich alle noch auf dem
Kopf, inzwischen allerdings ergraut.
Aber es grauste ihn schlicht, aller Welt erklären zu sollen, was in seinem
Kopf vor vier Monaten vorgegangen war, als er Granitza zum ersten Mal
gegenübersaß. So langsam wußte er selbst nicht mehr genau, was da
passiert war. Er erinnerte sich intensiv an die hellen Augen und die
unnatürlich weiße Haut, die lässige Pose und das zugleich Gespannte, wie
der Kerl auf der anderen Seite des Tisches gesessen hatte. Viel zuviel war
darüber schon vermutet und geredet worden. Die Leute quasselten eh viel
zuviel über sich selbst. Ellwanger hatte das immer schon gehaßt, obwohl er
ein Spezialist darin war, sich in seinen Verhören den Quasseltrieb der
Menschen zunutze zu machen.
Er strich Butter auf den Toast. Als er hineinbiß, horchte er auf das krosse
Geknacks in seiner Mundhöhle. Ja, die Leute quasselten und quasselten und
verrieten sich dabei zunehmend selbst, aber nur, wenn auf der anderen Seite
des Tisches einer saß, der sich darauf verstand, den Mechanismus in Gang
zu setzen. Was das anlangte, war Ellwanger ein Könner, ein ganz großer
sogar. Immer wieder war ihm bescheinigt worden: Richard Ellwanger, unser
Verhör-As! Auch Kollegen, die ihn kaum kannten, hatten vom Verhör-
Ellwanger schon mal gehört. Er war eine allseits anerkannte
Verhörbegabung, wahrscheinlich die größte in ganz München. Nicht nur
das: sein Dezernat war das mit der höchsten Aufklärungsquote bei
Schwerverbrechen in ganz Bayern, weit über Bayern hinaus.
Der Toast war inzwischen in ihm verschwunden. Die erste Tasse Kaffee
getrunken. Er zündete sich eine Zigarette an. Vor der zweiten Tasse rauchte
er immer eine Zigarette. Das würde er wahrscheinlich die nächsten Jahre
über beibehalten. Aber vielleicht änderten sich seine Gewohnheiten ab jetzt
radikal. Er war ja nun gezwungen, ein ganz anderes Leben zu führen.
Rundherum gab es niemanden, den er hätte verhören können. Frau
Kirchschlager zu verhören war jedenfalls keine plausible Aufgabe.
Seine Technik war eigentlich nicht besonders trickreich, zumindest
kamen keine Tricks zur Anwendung, mit denen man ein Lehrbuch hätte
füllen können. Vielleicht besaß er einfach die Gabe, sich in Leute
hineinzuversetzen. Er trat den Verdächtigen immer sehr korrekt gegenüber,
verzichtete auf böse Spielchen, war nicht kleinlich, wenn sie zu rauchen
oder etwas zu trinken wünschten, ließ schon mal ein alkoholfreies Bier
kommen, wenn er das Gefühl hatte, sein Gegenüber brauche dringend etwas
Alkoholähnliches, um überhaupt ein bißchen aufzutauen. Ellwanger fixierte
sein Gegenüber auch nicht durchgehend, sondern ließ immer wieder von
ihm ab und sah zum Fenster hinaus.
Hinhören, das konnte er allerdings genau. Ellwanger war mit
Fledermausohren zur Welt gekommen. Kleine Unschärfen, das
Brüchigwerden der Stimme, Gehüstel, Räuspern – er registrierte alles mit
gespannter Aufmerksamkeit, blieb dabei äußerlich ruhig. Ellwanger war das
Wohlwollen in Person, das wandelnde Verständnis auf zwei Beinen. Alles
andere als ein scharfer Hund. Aber da täuschten sich die Leute, mit denen er
es zu tun bekam. In ihm loderte eine Aufklärungsenergie, die er bei seinen
Kollegen oft vermißte. Er wollte die Kerle einbuchten. Und zwar möglichst
rasch und für eine möglichst lange Zeit. Apropos Kerle – mit Frauen hatte
er zwar auch öfter gesprochen, aber selten waren sie als Hauptverdächtige
verhört worden, jedenfalls nicht bei den schweren Delikten, mit denen er es
zu tun bekommen hatte.
An der Terrassentür hörte er es maunzen. Das war ungewöhnlich.
Killmousky trieb sich ja sonst tagsüber draußen herum. Selbst an den freien
Tagen, an denen Ellwanger zu Hause war, zeigte sich der Kater selten. Er
öffnete ihm die Tür. Killmousky spazierte herein, etwas zögernd, als wisse
er nicht warum, sah zu ihm hoch – eher wie ein Hund und nicht wie eine
Katze, dachte Ellwanger –, dann drehte er sich um und wollte wieder raus.
Ellwanger war gerührt. Der Kater hatte offenbar bemerkt, daß sich etwas
geändert hatte, und war nur hereingekommen, um zu schauen, ob noch alles
in Ordnung war. Killmousky liebt mich, er ist mein einziger Freund, dachte
Ellwanger in einem Anflug von Selbstgerührtheit, von Selbstmitleid nur
schwer zu unterscheiden. Sofort kam ihm der Gedanke reichlich überspannt
vor. Killmousky hätte sich wahrscheinlich jedem gegenüber anhänglich
gezeigt, der ihm sein Futter servierte und der bereit war, das beliebte
Gartenspiel frühmorgens mit ihm zu treiben.
Ellwanger tat es leid, daß er heute nicht Killmouskys Wintervorführung
erlebt hatte. Sobald der erste Schnee gefallen war, geriet der Kater immer
groß in Form. Er inspizierte den Schnee, testete bei den ersten Schritten
vorsichtig, wie weit er einsank, wurde urplötzlich von einer Hupf- und
Springlust gepackt – ein weiß bestäubter Irrwisch mit gesträubtem
Schwanz, der den Baum hochschoß und dabei den Schnee von den Ästen
fegte, was derart komisch aussah, daß Ellwanger, der einzige wache
Mensch weit und breit in der dunklen, schneeüberglänzten Früh, laut
lachend in seinem Garten stand.
Hatte er etwas falsch gemacht? Etwas Fundamentales? Würde er, wenn er
die Konsequenzen gekannt hätte, wieder so gehandelt haben? Yes, he would.
Natürlich hatte er sich in einer gefährlichen Grauzone bewegt, wofür er aus
gutem Grund vom Dienst ausgeschlossen worden war. Ellwanger
bemitleidete sich deswegen nicht. Sein Vorgesetzter hatte gehandelt, wie er
hatte handeln müssen. Das Dienstrecht tat gut daran, einen Übergriff, wie er
ihn sich geleistet hatte, nicht zu dulden. Sonst wären willkürlichen
Verheerungen jeder Art Tür und Tor geöffnet und der Wahrheitsfindung
keineswegs gedient.
Trotzdem. Es war die Entscheidung weniger Augenblicke gewesen.
Nicht langatmig durchdacht, mögliche Konsequenzen nicht sorgfältig
erwogen. Ellwanger hatte urplötzlich beschlossen, von seiner sanften,
insistenten Art abzuweichen und den jungen Mann zu bedrohen. Natürlich
aus Not. Ellwanger hatte zum damaligen Zeitpunkt davon ausgehen können,
daß die beiden Mädchen noch am Leben waren. Mit ihrem Verschwinden
mußte der Mann zu tun haben. Zwei glaubwürdige Zeugen hatten gesehen,
wie sie zu ihm ins Auto gestiegen waren. Die Zeugen hatten sich nichts
dabei gedacht, weil alles friedlich zugegangen war. Granitza war ein
Nachbar. Die Mädchen kannten ihn gut und hatten ihm wohl vertraut.
Vielleicht hatte er behauptet, von der Mutter beauftragt worden zu sein, sie
von der Schule abzuholen.
Seine Arroganz war unerträglich. Er studierte Philosophie. Behauptete, er
beschäftige sich mit Nietzsche und gebe sich nicht mit kleinen
Schulanfängerinnen ab, räumte aber ein, sie aus der Ferne schon einige
Male gesehen zu haben. Immerhin, es seien ja Zwillinge, und die fielen auf.
Daß er ihn, Ellwanger, sofort beleidigt hatte, war nicht der Grund für den
Groll, den der Kommissar rasch in sich wachsen spürte. Ein kleiner
Kriminaler wie er habe ja wohl von Nietzsche keinen blassen Schimmer.
Man könne von Glück sagen, wenn er schon mal dessen Namen gehört
habe. Ellwanger hatte diese Bemerkungen ruhig hingenommen. Aber
wieder und wieder war das Photo vor seinem inneren Auge aufgetaucht.
Die Zwillinge waren hübsch, sehr sogar. Wie Verschwörerinnen standen sie
mit ihren großen Schultüten nebeneinander, auf eine geheime Art innig
verbunden. Sie waren schlau, das sah man sofort. Sie waren hinreißend, wie
es nur Kinder sein können, die den Erwachsenen weder schöntun wollen
noch etwas von ihnen fordern.
Ellwanger war von dem Photo regelrecht verzaubert, ja, ergriffen. Er
hatte schon viele Bilder von Opfern gesehen, einige anziehende Frauen
waren auch darunter gewesen, aber noch nie war ihm der Anblick einer
Photographie so zu Herzen gegangen. Gewiß, selbst als routinierter
Polizeibeamter war er niemals unempfänglich dafür gewesen, welche
Leiden den Opfern zugefügt worden waren. Es hatte dafür allerdings immer
eine Grenze gegeben, denn zuviel an Mitleid trübte den Blick. Als Ermittler
brauchte man einen klaren Verstand, um nicht mit vorschnellen
Überzeugungen, die mehr dem Herzen gehorchten als dem Hirn, die
eigenen Nachforschungen zu gefährden.
Aber dieses Photo hatte ihn gepackt. Unerklärlicherweise empfand er
Trauer darüber, nicht selbst der Vater dieser Kinder zu sein. So etwas war
ihm noch nie widerfahren. Auch die Eltern der Zwillinge waren ihm auf
Anhieb sympathisch. Sie wohnten in Garching, er arbeitete als Ingenieur,
sie als Zahntechnikerin. Natürlich wußten sie vor Verzweiflung nicht mehr
aus noch ein, waren völlig erschöpft, weil sie nicht schlafen konnten. Aber
kein vorschnelles Wort der Anschuldigung gegen die Polizei oder sonstwen.
Er hatte ihnen versprochen, alles, wirklich alles zu unternehmen, um die
Mädchen zu finden. Und die Eltern hatten ihm vertraut. Zitternd gab ihm
die Mutter beim Abschied ihre Hand und barg kurz den Kopf an seiner
Schulter.
Ellwanger war entschlossen, die Mädchen den Eltern lebendig
zurückzugeben, und zwar möglichst rasch. Mit Hochdruck hatte er die
Ermittlungen vorangetrieben – und schon nach einem Tag: Volltreffer!
Granitza mit der weißen Haut und dem aasigen Benehmen saß ihm am
Verhörtisch gegenüber und beleidigte ihn.
Was er noch nie getan hatte: urplötzlich stand Ellwanger auf, schob den
Stuhl zurück an den Tisch, umfaßte die Lehne mit beiden Händen und
verkündete mit kalter, ruhiger Stimme, er werde Granitza jetzt in den Keller
schleifen und ihn dort so zurichten, daß er vor Schmerzen nur noch brüllen
könne. Keiner werde ihn da unten hören. Und er, Ellwanger, wisse genau,
wie er zuschlagen müsse, damit auf der Haut keine sichtbaren Spuren
zurückblieben. Und wenn das nicht reiche, werde er ihn an einen Apparat
anschließen, auf daß ihm Hören und Sehen vergehe.
Paar Sekunden lang hatte ihn Granitza eher verwundert als frech
angeschaut. Offenbar war er auf eine so jähe Wendung nicht gefaßt
gewesen. Dann knickte er ein. Wurde zum Jammerlappen, legte schützend
die Hände vors Gesicht und begann zu wimmern.
In weniger als fünf Minuten war er soweit. Er gab den Ort preis, an dem
er die Mädchen gefangenhielt, flehte nur darum, nicht geschlagen zu
werden.
Ellwanger hatte ihn nicht angefaßt.
Aber natürlich war seine Drohung von einer Kamera aufgezeichnet
worden. Für Ellwanger, Pilz und Schott gab es nur eins: sie fuhren an den
bezeichneten Ort bei Wolfratshausen, einen Schuppen nahe der
Isar. Währenddessen fing sich Granitza wieder, man besorgte ihm einen
Anwalt, dem er sofort erzählte, wie er durch die Androhung von Folter zu
einem Geständnis gezwungen worden war. Die Aufzeichnung wurde
konfisziert. Alles ging seinen Gang.
Ellwanger legte das Toastbrot zurück in den Kasten, stellte die
Kaffeetasse ins Spülbecken und steckte sich eine neue Zigarette an. Der
Anblick der toten Mädchen war in sein Gedächtnis gebrannt. Sie lagen in
einer engen Holzkiste, Kopf an Kopf, aneinandergeklammert waren sie
erstickt. Als Pilz und Schott die Kiste öffneten – Pilz hatte mit einer
Beißzange die Nägel herausgezogen –, war Ellwanger ein tiefer
Seufzer entfahren. Die Leichen der Mädchen waren nicht verstümmelt, und
sie waren bekleidet, trotzdem war der Anblick herzzerreißend. Ellwanger
mußte sich abwenden, damit seine Kollegen nicht sahen, wie ihm die
Tränen in die Augen schossen.
Mit der brennenden Zigarette im Mund öffnete Ellwanger die
Terrassentür, die immer ein wenig klemmte. Draußen schneite es. Ein
dichtes Flockenheer strudelte herab, das alles weiß überdeckte. Auch an der
reinen Schneeluft konnte Ellwanger keine Schuld empfinden. Im
entscheidenden Moment hatte er richtig gehandelt. Was in einem
Augenblick richtig schien, konnte als Prinzip dennoch fatal sein, daran
zweifelte er nicht. Ihn beschäftigte viel mehr, warum die Drohung, Granitza
in den Keller zu schleppen, so überzeugend, warum seine Stimme, seine
Haltung so echt gewirkt hatten. Warum er selbst daran geglaubt hatte.
Jäh überkam ihn ein Schmerz, so stark, daß ihm die Zigarette in den
Schnee fiel und er sich zusammenkrümmte.
Zarte Flocken landeten auf seinem Kopf und seinen Schultern. Der
Keller. Sägen, Zangen, Hämmer, Schnitzmesser, Feilen, Schraubenzieher.
Mit System an der Wand aufgehängt. Eine Werkbank mit Schraubstock. Es
war genau der Schmerz, der ihn als Kind durchfahren hatte, wenn er vom
Vater Prügel bezog. Methodische Prügel. Nach Plan ausgeteilte Schläge.
Ordentlich verabreicht. Mit blitzblanken Geräten als stummen Zeugen, die
in Reih und Glied an der Wand hingen.
II
Viel zu erregt war er, um gleich einzuschlafen. Statt einer Minibar in einem
kleinen muffigen Kühlschrank, der vor sich hin rottete, gab es ein von innen
beleuchtetes Glasgehäus, das seine Schätze stolz herzeigte. Ellwanger
entnahm ihm ein Fläschchen Scotch, den er normalerweise nicht gern trank.
Aber in Amerika sollte er sich besser an den Whisky gewöhnen, und
tatsächlich schmeckte er ihm ganz gut. In seinem Kopf rannten Ameisen
auf und ab. Ob er in Gegenwart von Howard Clayton Trevillyan einen
einzigen vernünftigen englischen Satz zustande bringen würde? Bißchen
mehr als so einen Stuß wie nice to meet you, Mr. Trevillyan?. Ob der ihn
gleich feuerte und der Kirchschlager Vorwürfe machte, weil sie einen
Trottel angeschleppt hatte? Nach einiger Zeit beruhigte er sich. Ein
Luxuszimmer im Pierre war nicht der Ort, um unter einem Haufen Sorgen
zu ersticken.
Wunschgemäß wurde er um neun Uhr geweckt. Er war in eine so tief
gelegene Schlafhöhle geklettert, daß er eine Weile brauchte, um
herauszukommen, den Hörer zu greifen und sich zu erinnern, daß er nicht in
Solln in seinem Bett lag, sondern in einer Bettanlage, in der zehn Kerle eine
Kissenschlacht hätten veranstalten können. Er schlug den schweren
Vorhang zurück und trat auf den Balkon. Es hatte aufgehört zu schneien.
Kalt war es immer noch. Durch die milchige Decke des Himmels spürte
man, daß es darüber eine Sonne gab.
Ellwanger putzte sich heraus, so gut es ging. Tipptopp rasiert war er.
Haare gekämmt. Fingernägel sauber. Auch die Socken saßen straff. Für
seine Verhältnisse war das eine ziemliche Takelage. Nur das Jackett vertrug
sich schlecht mit der Gediegenheit des Pierre. Es hatte aufgesetzte Taschen
und paßte eher zu einem Bubi als zu einem Mann von siebenundfünfzig
Jahren. Warum um Gotteswillen hatte er ausgerechnet dieses Jackett
mitgenommen. An den Ellenbogen war der Stoff schon leicht
aufgescheuert.
Der Frühstücksraum befand sich auf der Vorderseite im Erdgeschoß mit
Blick auf die 5th Avenue. Ein langgezogener Schlauch. Man setzte sich
nicht einfach irgendwohin. Ein weißbefrackter Kellner wies ihm einen
Tisch am Fenster an und fragte nach seinen Wünschen. Yes, yes, coffee
please and some eggs. Bei der Nachfrage, wie er denn die Eier genau haben
wolle, kam Ellwanger ins Schleudern, obwohl seine Eingangssätze
einigermaßen ordentlich geklungen hatten. Er wußte schließlich nicht mehr,
wozu er genickt und was er damit bestellt hatte, und wartete einfach ab.
Ellwanger sah sich nach einem Frühstücksbuffet um. Vielleicht in einem
Nebenraum? Er war schon drauf und dran loszutigern, da kam ein anderer
Kellner mit einem riesigen Servierwagen an seinen Tisch gefahren.
Ellwanger machte normalerweise kein Trara ums Essen. Er haßte Leute,
die ständig davon redeten, sich wichtig taten mit Restauranttips und sich als
Kenner aufspielten. Aber was auf ihn zugerollt kam, haute ihn doch
ziemlich um. Er wußte teilweise gar nicht, was es genau war, was ihn da aus
zierlichen Schüsseln aufforderte, doch bitte seine Wahl zu treffen. Es endete
damit, daß er eine mißverständliche Handbewegung machte und ein
Kännchen Milch und ein Schälchen mit müsliartigen Flocken und Obst
hingestellt bekam. Wenn Ellwanger eines nicht aß, dann Müsli. Damit hatte
ihn schon seine Ehemalige sinnlos gequält. Dummerweise war er zu
eingeschüchtert, um es zurückzuweisen. Lustlos senkte er den silbernen
Löffel in das Zeug – aber, o Wunder, es schmeckte vorzüglich. Mit den
Spiegeleiern und dem hauchdünn geschnittenen, kroß gebratenen Bacon
gab es eh nicht das mindeste Problem.
Bevor er abgeholt wurde, ging er noch einmal auf sein Zimmer und gab
sich den letzten Schliff, fuhrwerkte mit der ausgefransten Zahnbürste so
intensiv in seinem Mund herum, als erwarte ihn der Zahnarzt. Was er sonst
nie tat – er feuchtete seine Haare an, um sie etwas in Form zu bringen, was
völlig sinnlos war, denn seine Haare standen gleich wieder auf und taten,
was sie wollten. Wiederum pünktlich um halb elf stellte sich Frau
Kirchschlager ein. Durch den Suppenhimmel tasteten sich vorsichtig einige
Sonnenstrahlen, die Schneeberge am Rand der 5th Avenue waren über
Nacht gewachsen. Ellwanger war ziemlich aufgeregt, suchte es zu
verbergen, stieß auf ihrem kurzen gemeinsamen Weg den Rauch seiner zwei
Zigaretten aber ziemlich theatralisch in die Luft. Sie schien seine Sorgen zu
erraten. »Wenn es mit dem Englisch nicht gleich so flott geht, machen Sie
sich nichts draus. Ich springe für Sie ein. Außerdem sind die Amerikaner
diesbezüglich großzügig. Aber wenn Sie hier weiter so ungeniert auf der
Straße rauchen, landen Sie bald im Gefängnis.«
»Was? Auf der Straße auch nicht? Sind sie verrückt, die Amerikaner?«
»Diesbezüglich sind sie es.«
Ellwanger warf die halb aufgerauchte Zigarette in den Schnee. Dann
standen sie vor einem breiten Eingang mit gläsernen Türflügeln. Ein Portier
öffnete ihnen. Die Kirchschlagerin meldete sie beide an, der Portier blickte
in ein Buch, nickte und geleitete sie zum Aufzug, drückte auf einen Knopf,
und sie fuhren in den sechsten Stock.
Die Aufzugstür öffnete sich in einen fast quadratischen Empfangsraum.
Der Portier hatte offenbar einen anderen Bediensteten informiert, denn sie
wurden von einem schwarzen Riesen erwartet, in perfekter grauer Uniform
mit scharf gebügelten Hosen. Er begrüßte sie mit tiefer, sanfter Stimme,
nahm ihnen die Mäntel ab und gab ihnen einen Wink, ihm zu folgen. Zwei
Vasen, in denen man zwei chinesische Kaiser hätte verstecken können,
standen auf zwei Tischen, dahinter hing ein mehrere Meter langer
Wandteppich. »Das ist der, den ich restauriert habe«, sagte Frau
Kirchschlager mit gedämpfter Stimme. Es blieb keine Zeit, den Teppich zu
würdigen. Der Butler klopfte an eine Tür, horchte und ließ sie dann ein.
Der Raum war groß. Nicht allzu üppig möbliert. Fast den gesamten
Boden bedeckte ein Perserteppich mit floralen Mustern. An der rechten
Seite wuchs eine Bibliothek bis an die Decke. Ölgemälde aus älteren Zeiten
hingen an den freien Wänden, davor jeweils ein Lämpchen. Der Mann im
Rollstuhl saß nahe am Kamin, in dem ein Feuer brannte. Ein Teetisch, ein
Sofa, zwei Sessel. Der Riesenraum eine Zone des Schweigens, in dem man
das Knacken des Holzes im Kamin hörte und die sich entfernenden Schritte
des Butlers, der die Tür leise hinter sich schloß.
Aus einem der Sessel erhob sich eine schlanke, große Brünette Anfang
Vierzig. Sie begrüßte die Kirchschlagerin mit einem Lächeln, bei dem man
nicht sicher sein konnte, ob das ein Eisenbeißerlächeln war oder ein
wirkliches. Sie bot ihr das Sofa an und wandte sich dann ihm zu. »Mister
Ellwanger, I suppose«, sagte sie und bat ihn ebenfalls, sich zu setzen. Der
Mann im Rollstuhl sagte nichts. Aber er ließ Ellwanger nicht aus den
Augen. Die Tür öffnete sich wieder, und der Butler rollte einen Teewagen
herein, nicht ganz so groß wie der, von dem aus Ellwanger gerade im Pierre
versorgt worden war. Es gab schwarzen Tee und Gebäck. Die Brünette goß
den Tee ein, an ihrem Handgelenk blitzte ein Armband, das ein Vermögen
gekostet haben mußte. Frau Kirchschlager legte etwas von dem Gebäck auf
ihre Untertasse. Ellwanger und der alte Mann rührten davon nichts an.
O Wunder! Es stand auch ein Aschenbecher auf dem Tisch. Da ihm über
die Empfindlichkeit der Amerikaner, was das Rauchen anlangte, eben erst
eine Lektion erteilt worden war, traute sich Ellwanger aber nicht, sein
Zigarettenpäckchen aus der Tasche zu ziehen.
Catherine eröffnete die Konversation, wobei sie ein Zuckerstück
verrührte und dabei andächtig in ihre Tasse schaute. Ellwanger verstand sie
erstaunlich gut, vielleicht sprach sie aus Rücksicht auf ihn langsam.
Trevillyan war im Vergleich zu seiner groß geratenen Tochter ein eher
zarter Mann. Kein Muskel regte sich an ihm. Nicht am Körper, nicht im
Gesicht. Seine Gesichtshaut wirkte hell und wächsern, die Hände, die auf
seinen Beinen lagen, waren mit Altersflecken besät. Von seinen weißen
Haaren hatte er noch ordentliche Büschel auf dem Kopf. Die Augen lagen
tief vergraben im Gesicht. Schwarz. Eierkohlen im Kopf eines
Schneemannes, dachte Ellwanger. Darunter Tränensäcke in drei
Abteilungen. Die Weste, die Trevillyan trug, füllte er nicht aus, zumindest
jetzt nicht mehr. An seiner Krawatte war eine Nadel mit einem emaillierten
Abzeichen befestigt. Vielleicht gehörte er irgendeinem Geheimclub an, den
Ellwanger niemals kennenlernen würde.
Er saß einfach da und sagte nichts. Es war eindeutig, daß Trevillyan
Ellwanger ebenso scharf musterte wie umgekehrt Ellwanger ihn, nur ging
Ellwanger etwas diskreter dabei vor. Mit dem Sprechen ließ sich der Mann
Zeit. Aber als seine Tochter eine Frage an Frau Kirchschlager richtete,
unterbrach er sie. Catherine verstummte auf der Stelle und nahm einen
Schluck Tee. Für einen schwerreichen Mann hatte Trevillyan eine
erstaunlich dünne Stimme, mit der er sich bei der Kirchschlagerin
erkundigte, wie es ihr gehe, eine Antwort aber gar nicht erst abwartete,
sondern Ellwanger fragte, ob er mit dem Hotel zufrieden sei.
Ellwangers »Yes, I am very content« kam vorsichtig heraus, als müsse er
bei jedem Wort erst die Grammatik überprüfen. Trevillyan hörte kaum hin,
aber er erlaubte ihm zu rauchen, weil er früher selbst geraucht habe und den
Geruch immer noch möge, und kam dann schneller zur Sache, als
Ellwanger seine Zigarette anzünden konnte. Er sprach erstaunlich klar,
nichts von wegen should, could, would. Obwohl bei der Obduktion keine
Auffälligkeiten erkannt worden waren, wußte er mit Bestimmtheit, daß
dieser Bastard von einem Schwiegersohn seine Tochter ermordet hatte. Sie
sei nicht der Typ gewesen, der eine hohe Dosis Schlaftabletten zu sich
nimmt und dann aus dem zweiten Stock springt. Ellwanger lag die Frage
auf der Zunge, was für seine Tochter denn die wahrscheinlichste Methode
gewesen sein könnte, sich umzubringen, aber dafür reichte sein Englisch
gottlob nicht aus. Also fragte er Trevillyan nur, weshalb er dieser Ansicht
sei. Gerade noch rechtzeitig war ihm das Wort opinion eingefallen, er war
aber unsicher, ob es nicht seltsam klang, als er fragte: »What leads you to
this opinion?«
Trevillyan war bestimmt nicht der Mann, den irgend etwas leitete. Er
warf Ellwanger einen scharfen Blick zu und beantwortete die Frage nicht.
Catherine glättete die Situation. Dafür habe es keine Anzeichen gegeben,
Selbstmörder brächten sich in der Regel nicht Knall auf Fall um, sondern
sendeten vorher Warnsignale aus. Sie betonte, daß sie in einem engen
Kontakt zu ihrer Schwester gestanden habe und entsprechende Zeichen
bestimmt nicht übersehen hätte.
Ob sie glücklich mit Larson gewesen sei? Ob der sie betrogen habe?
Irgendwelche Hinweise auf Affären? Weil Ellwanger mit den Sätzen ins
Stolpern geriet, sprang Frau Kirchschlager rechtzeitig ein und vollendete
die Fragen. Trevillyan schwieg. Plötzlich hob er die Hände und legte die
Fingerspitzen aneinander, als ob er etwas Kompliziertes zu sagen hätte.
Aber dann hatte er genug von seinen Fingerspitzen, legte die Hände wieder
auf seine Oberschenkel und sagte nichts.
Seine Tochter antwortete nach einigem Zögern, das wüßten sie nicht
genau. Aber als glücklich habe man die Ehe nicht bezeichnen können.
Vicky kapselte sich mehr und mehr ab und lebte ihr eigenes Leben.
Ellwanger hakte bei dieser Auskunft nicht nach, denn sie enthielt sehr wohl
das Motiv für einen Selbstmord. Als hätte Trevillyan seine Gedanken
erraten, betonte er, deswegen hätte sich seine Tochter aber nicht
umgebracht. Schließlich sei es heutzutage kein allzu großes Drama mehr,
sich scheiden zu lassen, anders als zu seiner Zeit. Ein größeres Stück Holz
im Kamin brach entzwei, und die Teile fielen prasselnd zu beiden Seiten
des gußeisernen Aufsatzes nieder.
Ob eine Scheidung dem Schwiegersohn eine ansehnliche Summe
eingebracht hätte, wollte Ellwanger wissen und drückte seine Zigarette aus.
Trevillyan maß ihn mit einem kalten Blick. Nein, um sich vor so etwas zu
schützen, gebe es schließlich Eheverträge. Aber ihr Tod? Exakt. Durch
Victorias Tod hatte Larson ein gewaltiges Vermögen geerbt. Immerhin ein
glasklares Motiv. Und die glasklaren Motive waren die häufigsten bei
gutgeplanten Mordfällen, darauf brauchte man einen Kriminalkommissar a.
D. nicht extra hinzuweisen.
Ellwanger wurde darüber informiert, daß es morgen hier einen Empfang
geben werde, zu dem auch Larson komme. Dort würde Ellwanger mit ihm
bekannt gemacht werden. Vermutlich würde der Schwiegersohn keinen
Verdacht schöpfen. Sie hätten alles dafür getan, sich nichts anmerken zu
lassen. Ellwanger faßte das als Signal auf, daß er den Auftrag nunmehr
definitiv bekommen habe. Aber was Larson anging, hegte er seine Zweifel.
Trevillyan war kein behaglicher Schwiegervater, erst recht kein Tölpel,
sondern ein Mann, der scharf hinsah und seine Gefühle nicht preisgab. Das
mußte Larson klar sein, falls er tatsächlich ein Mörder war.
Allerdings wäre da noch die Honorarfrage zu klären. Trevillyan schien
wirklich Gedanken lesen zu können. Er schicke ihm morgen früh um neun
seinen Sekretär ins Hotel, um das Finanzielle zu regeln.
»And when I find out that your son-in-law is innocent?«
»Innocent?« Trevillyans Stimme klang plötzlich sehr scharf. Er schickte
einen Satz hinterher, den Ellwanger nicht verstand. Vielleicht war es ein
Fluch.
Die angespannte Situation löste sich dadurch auf, daß Catherine
Ellwanger bat, sie auf ihr Zimmer zu begleiten, damit sie ihm Photos zeigen
könne. Ellwanger erhob sich und merkte, daß eines seiner Beine
eingeschlafen war. Frau Kirchschlager blieb bei Trevillyan, und ihr
Gespräch wandte sich, wie der langsam sich entfernende Ellwanger noch
hörte, schnell von der verstorbenen Tochter ab und schöneren Dingen zu,
wie zum Beispiel der Dame mit dem Einhorn, sechs Tapisserien aus dem
15. Jahrhundert, in denen ein sehr artiger Löwe seine Pranken um eine
Fahnenstange legt, leider nicht im Besitz von Trevillyan, sondern im Musée
de Cluny aufbewahrt, da sie zum französischen Nationalerbe zählten.
Ellwanger vermutete, Trevillyan werde Frau Kirchschlager gegenüber mit
keiner Silbe erwähnen, wie der deutsche Expolizist auf ihn gewirkt hatte.
Inzwischen wieder etwas flotter auf den Beinen, wanderte er neben
Catherine durch die Wohnung, die sich über die gesamte Grundfläche des
Hauses erstrecken mußte. Vielleicht war die Frau nur anderthalb Zentimeter
größer als er, aber Ellwanger kam sich neben ihr vor wie ein Zwerg. Sie
trug helle Hosen und darüber eine Art offenen Mantel aus Seide. Innen mit
weißem Futter, wie man an den aufgeschlagenen Ärmeln sah, außen
schwarzglänzend mit winzigen Stickereien, ebenfalls in Schwarz, kaum
größer als Briefmarken, die über den gesamten Stoff verteilt waren.
Unterwegs gab sie dem Butler eine Anweisung, der nickte nur und
verschwand.
Das Zimmer war ebenfalls groß, jedenfalls größer als jedes seiner
Zimmer in Solln, aber neben dem Raum, den sie gerade verlassen hatten,
wirkte es winzig. Eine blaßgraue Tapete und üppige Vorhänge in einem
etwas weniger blassen Blaugrau, die von dickgewirkten goldfarbenen
Kordeln gehalten wurden, gaben dem Zimmer das Flair eines intimen
Salons. Ein großer alter goldgerahmter Spiegel mit schwarzen
Silbersulfidflecken hing an der Wand, darunter eine Konsole, auf der
gerahmte Photographien standen, nicht in Reih und Glied, sondern locker
verteilt, aber offenbar mit Bedacht. Die Sessel und das Sofa waren nicht
ganz so ausladend wie im Kaminraum. Auf dem Tisch lag schon eine
Mappe bereit.
Der Butler kam und stellte ein Tablett auf den Tisch. Eiswürfel in einer
Silberschale mit eingehängter Zange, eine Flasche Bourbon und zwei
Gläser. Ob er sich nicht einen genehmigen wolle, fragte ihn Catherine, für
sie sei das jetzt genau die richtige Zeit. Vormittags war er eine harte Ladung
nicht gewohnt, aber Ellwanger nickte nur, sagte nichts. Sie schenkte die
Gläser ziemlich voll, schnappte sich zwei Eiswürfel mit den Fingern und
hob ihr Glas auf sein Wohl.
In dem Riesenraum hatte sie etwas zackig auf ihn gewirkt. Sie war dünn,
und ihre Züge hatten nichts einschmeichelnd Verbindliches. Aber Mund
und Augen waren schlicht hinreißend. Der Mund elegant gewellt wie bei
Charlotte Rampling, die Augen fast so dunkel wie die ihres Vaters. Die
halblange Frisur, links gescheitelt, schloß genau mit dem Kinn ab. Sie
umrahmte ihren schmalen Kopf vorzüglich. Ellwanger hatte natürlich schon
gutaussehende Frauen kennengelernt, in München waren sie ja häufiger
anzutreffen als anderswo in Deutschland, aber dieses Kaliber, das, lässig
gegen die Kissen gelehnt, ihm schräg gegenübersaß und, während es die
Eiswürfel klirren ließ, eine Musterung vornahm, fiel in eine ihm
unbekannte Kategorie.
Sie musterte ihn ohne Scham, aber nicht unfreundlich. Ob ihre Schwester
ihr ähnlich gesehen habe, fragte Ellwanger oder wollte sie das jedenfalls
gefragt haben, denn bei dem Blödsinn, den er zusammenredete, war er sich
nicht sicher, ob er sich aus Versehen danach erkundigt hatte, wo sich das
Klo befand.
Er solle lieber selber sehen, sagte sie und öffnete die Mappe, in der ein
dicker Packen Photos lag. Sie reichte ihm das erste Bild.
Eine Maus. Das war der erste Gedanke, der Ellwanger durch den Kopf
schoß. Die junge Frau auf dem Bild war so sehr das Gegenteil ihrer
Schwester, daß schwer zu glauben war, sie stammten beide aus derselben
Familie. Das nächste Bild verstärkte den Eindruck sogar. Eine Maus. Nichts
weiter als eine verhuschte graue Maus in aufwendigem Fummel, der nicht
darüber hinwegtäuschen konnte, daß sie nicht zu den Frauen zählte, für die
ein Mann den Eiffelturm hochkletterte. Von Bild zu Bild ging das so weiter.
Als Mädchen war Vicky ein bißchen pummelig gewesen, später wurde sie
dünn, was aber nicht half. Dann ein anderes Bild. Ein blonder Strahlemann
à la Robert Redford, nur jünger und bestimmt ohne Toupet.
»This is …?« fragte Ellwanger ein klein wenig entgeistert. Jawohl, das
war er. Paul Henrik Larson himself, wie er die blonden Locken warf und
dabei mit blitzenden Zähnen lächelte, als wäre die Welt ein Zehn-Billionen-
Dollar-Geschenk. Und dann gab es noch jede Menge Hochzeitsphotos, auf
denen Vicky wie verkleidet aussah, glücklich, verschämt und trotzdem
mickrig, als würde sie am Arm dieses Strahlemannes jeden Augenblick aus
ihren Pumps kippen. Ellwanger hatte keine Mühe, sich ihre Qualen beim
Hochzeitsball vorzustellen. Bestimmt hatte sie wie ein vor Aufregung
schwitzendes Bündel um ihren funkelnagelneuen Mann herumgehangen.
Wahrscheinlich las Catherine in Ellwangers Miene, was er dachte. Sie
ließ die Eiswürfel in ihrem Glas immer schneller zirkulieren und hob zu
einer wortreichen Verteidigung ihrer Schwester an. Vicky mußte der
liebenswürdigste Mensch unter der Sonne gewesen sein. Nein, natürlich
wirkte sie nicht auf den ersten Blick, aber dafür um so intensiver auf den
zweiten, dritten, vierten, fünften. Es lag ihm auf der Zunge, Catherine zu
fragen, warum sie ihm einen solchen Stuß erzählte. Aber er fand die
passenden Wörter nicht, zündete sich, ohne um Erlaubnis zu bitten, eine
weitere Zigarette an, denn auf dem Tisch stand ebenfalls ein Aschenbecher,
und sagte bloß: »Yes.«
In Gedanken nahm er einen langen Anlauf, bis er seine Sätze halbwegs
verständlich formulieren konnte: er verstehe, daß sie ihre Schwester liebe,
aber hier gehe es auch um Fakten, und die Bilder erzählten ihm nun mal,
daß Larson ein äußerst attraktiver Mann sei, den man sich nur schwer an
der Seite ihrer Schwester vorstellen könne. Dann stand er auf, nahm ihr das
Glas aus der Hand und stellte es auf dem Tisch ab, weil ihn das
Herumgejage der Eiswürfel verrückt machte.
Offenbar ziemlich geärgert, griff sie nach dem Glas, stellte es dann aber
selbst wieder auf die Tischplatte, lehnte sich mit einem Ruck zurück und
sagte: »Dad couldn't love her. That's the problem.«
Ellwanger schaute sie verblüfft an. Und dann erzählte sie ihm, daß ihre
Mutter bei der Geburt von Vicky gestorben war. Es kam heutzutage zwar
selten vor, erst recht nicht bei reichen Leuten, aber in diesem Falle eben
leider doch. Und ihr Vater hatte das Vicky offenbar nie verziehen. Vicky
hatte es ihm immer recht machen wollen, aber sie konnte ihm nichts recht
machen. Und dann hatte sie sich irgendwann doch gegen ihn aufgelehnt und
einen Mann geheiratet, der nichts taugte, erst recht nicht in den Augen ihres
Vaters.
Eine Aschenflocke seiner Zigarette landete auf der Tischplatte,
interessant gezackt.
Ob der Mann in ihren Augen zu irgend etwas taugte? Catherine zuckte
die Achseln und gab ihm eine ausweichende Antwort. Ja, er habe Charme,
und vordergründig habe er Vicky nicht schlecht behandelt. Jedenfalls hatte
sie sich nicht lauthals über ihn beklagt. Aber da gab es etwas, das sie stutzig
gemacht hatte. Einmal, im letzten Juni, war sie allein mit ihm in einem
Restaurant auf Long Island gewesen, da näherte sich ein Deutscher
ungefähr im Alter von Larson ihrem Tisch und sprach ihn auf deutsch an.
Larson tat so, als kenne er den Mann nicht, und wollte ihn möglichst rasch
loswerden, was nicht so einfach vonstatten ging, denn der Mann war
ziemlich hartnäckig. Mehr als das, er wurde regelrecht lästig. Catherine
verstand zwar kein Deutsch, aber nachher, als sie auf die Toilette ging, traf
sie den Mann im Flur und sprach ihn auf englisch an. Der Mann versicherte
ihr, Larson sei ein alter Schulkamerad. Er war felsenfest davon überzeugt,
sie stammten beide aus Gerabronn. Sie sprach die Anfangssilbe wie Schera
und das Weitere so langgezogen aus, daß Ellwanger etwas brauchte, um zu
verstehen. Das Gespräch mit dem Deutschen war kurz und hektisch
verlaufen, da sie nicht zu lange ausbleiben und Larson mißtrauisch machen
wollte. Später hatte sie einen deutschen Bekannten ihres Vaters gefragt und
ihm vorgemacht, wie der Name des Ortes ungefähr geklungen hatte. Und
der war auf Gerabronn gekommen. Leider hatte sie nicht richtig behalten,
wie der Nachname des Schulkameraden geheißen hatte. Nur an den
Vornamen konnte sie sich erinnern: Anton. Der Nachname war eher kurz
gewesen, zwei oder drei Silben. Das war alles, was sie wußte.
Ellwanger fragte, ob die Begegnung Larson irgendwie aufgeregt habe.
Catherine verneinte. Larson hatte sich nichts anmerken lassen, sondern war
mit einem Witz darüber hinweggeglitten. Aber er hatte sich immer gut im
Griff. Larson brachte man nicht so leicht aus der Fassung. Daß er sich
nichts anmerken ließ, bedeutete überhaupt nichts. Und sie selbst hatte das
Vorkommnis heruntergespielt und war nicht mehr darauf zurückgekommen,
weil sie sich darüber im klaren war, wie brisant die Entdeckung sein konnte,
falls ihr Verdacht zutraf.
Es lag Ellwanger auf der Zunge, sie zu fragen, ob sie sich öfter allein mit
Larson getroffen hatte. Vielleicht würde er da irgendwann einmal
herumbohren müssen. Aber jetzt noch nicht, wo sie so schön in Schwung
kam, sich nervös die Haare zurückstrich, wobei eine Strähne immer wieder
nach vorn fiel, und zwischen kräftigen Whiskeyschlucken vom rätselhaften
Larson erzählte. Der Mann schien bei der Geburt vom Mond herabgefallen
zu sein. Verwandte waren niemals aufgekreuzt. Geschwister schien er nicht
zu haben, die Eltern waren tot, wie er behauptete. Da gab es einfach nichts
und niemanden, und auch das war zumindest merkwürdig. Normalerweise
zeigte sich doch irgendein Verwandter, wenigstens ein Vetter, eine Tante
oder eine Cousine. Aber nein, niemand. Zur Hochzeit waren nur paar
Freunde von ihm in Erscheinung getreten, die eher flüchtige Bekannte zu
sein schienen. Keiner kannte ihn länger als ein, maximal zwei Jahre.
Und der alte Herr hatte keine Erkundigungen über den künftigen
Schwiegersohn einziehen lassen, bevor es zur Hochzeit kam? Nein, hatte er
nicht. Vicky und ihr Vater hatten damals kaum miteinander gesprochen, und
sie hätte Larson so oder so geheiratet, selbst wenn der gerade frisch aus
Folsom geflohen wäre. Der alte Herr gab sich darüber keinerlei Illusionen
hin. Und letztendlich war es ihm recht, sie los zu sein. Wen sie heiratete,
war ihm ziemlich egal. Vicky hatte er längst abgeschrieben. Er sorgte nur
dafür, daß sein künftiger Schwiegersohn bei einer Scheidung nicht allzu viel
in die Finger bekam. Damit hatte er seiner Vaterpflicht genügt. Außerdem
war Vicky erwachsen. Bei ihrer Heirat war sie neunundzwanzig. Seiner
Meinung nach sollte man in dem Alter allmählich wissen, was man tat.
Und sie selbst? Hatte sie ihrer Schwester davon abgeraten, den Mann zu
heiraten? Die Antwort kam mit einiger Verzögerung, gedehnt, als müsse
dazu erst werweißwas überlegt werden: »No, not really.«
Vicky schien offenbar glücklich zu sein wie nie zuvor in ihrem Leben.
Durfte man da den Spielverderber spielen? Gegenüber der eigenen
Schwester? Ellwanger hatte so einen Fall nie in der eigenen Familie gehabt
und wußte darauf keine Antwort. Als Kriminalist hätte er unschöne
Verwicklungen vorausgesehen und sich Sorgen gemacht, aber durfte man
deshalb eine Beziehung stören, in der ein Mensch glücklich war,
womöglich zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt? Ellwanger kam der
böse Gedanke, daß dieses eine Jährchen Glück, welches der Frau vergönnt
gewesen sein mochte, vielleicht sogar ihren frühen Tod aufwog. Er legte
den Gedanken schnell beiseite und konzentrierte sich auf Catherines
Ausführungen, die nun ziemlich sprunghaft durch die Gegend kreuzten und
wenig zur Erhellung des Falles beitragen konnten. Falls es überhaupt einen
Fall gab. Vielleicht überbot sie nur ihr Soll an Zerstreutheit, um ihn von
etwas abzulenken.
Für seinen Geschmack trank die Frau zuviel, sie vertrug offenbar eine
ganze Menge. Ihm war nach dem einen Glas zu dieser frühen Stunde schon
leicht schwammig zumute. Aber attraktiv war sie, höllisch attraktiv sogar.
Inzwischen hatte sie die Schuhe ausgezogen und rekelte sich auf dem Sofa
wie eine Filmdiva. Sie fragte ihn, ob er sich auf all das einen Reim machen
könne. Er sagte, er versuche es. Aber er tat es nicht, sondern starrte auf die
Wand über ihr.
Er stand auf. Ob er zwei von den Photos vorübergehend behalten dürfe?
Den Ort auf Long Island würde er sich gern näher ansehen, sagte er. Wenn
es dort nicht zu viele Hotels gab, konnte man nachforschen und vielleicht
herausbekommen, wer der Deutsche war, der sie angesprochen hatte.
Vorausgesetzt, der Mann hatte in einem Hotel übernachtet. Catherine nickte
eifrig. Sie bestand darauf, ihn nach Southampton zu fahren und die Hotels
zusammen mit ihm abzuklappern. Aber dann schien sie zu zögern, zwei,
drei Sekunden nur. Vielleicht hielt sie es plötzlich doch für keine so gute
Idee. Vielleicht bildete er sich das Zögern aber nur ein.
IV
Das Wetter war dasselbe wie tags zuvor. Grauer Himmel. Kalt, aber nicht
eisig. Ellwanger hatte noch während der Nacht das Zimmer gewechselt,
lautlos, um Catherine nicht zu wecken. Im Grunde war soviel Rücksicht
überflüssig. Catherine schnarchte, schlief tief und fest, als könnte nicht
einmal der Feueralarm sie wecken. Im eigenen Bett schlief Ellwanger
besser, obwohl er zunächst überhaupt nicht zur Ruhe kam. Die Ereignisse
der letzten Stunden geisterten durch sein Hirn. Er war aufgekratzt, jede
Faser seines Körpers vibrierte vor Lebendigkeit. So eine Nacht hatte er
noch nie erlebt. War es unklug, mit der Schwester der Ermordeten etwas
anzufangen? Mit jemandem, der vielleicht tiefer in den Fall verstrickt war,
als er bisher wußte?
Eigentlich hatte er gar nichts mit ihr angefangen, sondern sie mit ihm. Sie
hatte ihn sich regelrecht geschnappt, hatte ihn ausgezogen, als er
unschlüssig, jedenfalls völlig überrascht, in ihrem Zimmer stand, hatte ihn
zwar nicht aufs Bett geworfen (das hätte noch gefehlt!), aber immerhin
dahin gelenkt. Erst war er irritiert gewesen, dann hatte er es sich gern
gefallen lassen, zweifellos. Aber was jetzt? Es graute ihm davor, mit
Catherine zu frühstücken. Sollten sie vielleicht so tun, als wäre gar nichts
geschehen? Bißchen Frühstück-Small-Talk? War sie vielleicht so betrunken
gewesen, daß sie sich am Morgen an gar nichts mehr erinnerte? Oder,
absurder noch, es einfach leugnete, ausgerechnet ihn, einen hergelaufenen
Provinzler, der in ihrer Welt so unbedeutend war wie ein Domestik, in ihr
Bett verfrachtet zu haben? Mit superreichen Frauen kannte er sich nicht aus.
Früher hätte man gesagt, sie sei nicht seine Kragenweite, oder vielmehr er
nicht ihre. Aber was besagte das schon? Die Nacht war herrlich gewesen.
Er war so aufgetummelt, daß er am liebsten mit nackten Füßen draußen
herumgerannt wäre, im Schnee.
Der alte Trevillyan hätte diese Aktion wohl nicht gutgeheißen, und die
Kirchschlagerin auch nicht. Aber die beiden mußten nichts davon erfahren.
Catherine war nicht der Typ Frau, der überall herumerzählte, mit wem er
gerade im Bett gewesen war. Sie schien ihm verschwiegen. Eine Qualität,
die er schätzte, besonders da sie bei Frauen eher selten anzutreffen war.
Eindeutig, sie gehörte zu den Charakteren, die möglichst wenig von sich
preisgaben. Nicht einmal der Alkohol hatte sie zum Quasseln verführt. Über
ihre Schwester hatte sie ihm nur das Nötigste mitgeteilt, keine ausufernden
Geschichten jedenfalls. Für den Kriminalisten war das zwar wenig ergiebig,
aber als Mann schätzte er eine solche Zurückhaltung. In diesem Punkt war
sie ihm sogar ziemlich ähnlich. Und ja, er mochte sie. Irgendwie.
Es wurde ein bißchen heller draußen, aber die Sonne zeigte sich nicht.
Ellwanger drehte sich auf seine Schlafseite.
Irgenwann wurde er von Catherine am Telephon geweckt. Sie schien
ziemlich munter zu sein und erwartete ihn unten zum Frühstück. Um sich
wieder ein bißchen zu versammeln, rauchte er zuerst mal eine Zigarette an
der kalten grauen Winterluft auf dem Balkon, obwohl er sonst vor dem
Frühstück nie rauchte. Ihre Stimme hatte geklungen, als sei sie guter Dinge,
kein bißchen schuldbewußt oder gar verstimmt. Und sie hatte ihn Rick
genannt.
Catherine sah blendend aus. Sehr erholt. Nicht gerade wie eine Frau, die
furchterregend schnarchte und damit ihre Liebhaber in andere Zimmer
trieb. Sie trug wieder, wie bei ihrer ersten Begegnung, so was Japanisches,
Dunkles, Kleingemustertes. Nachdem er sich gesetzt hatte, fuhr sie mit dem
rechten Handrücken ganz zart über seinen linken Handrücken hin.
Ellwanger liebte diese Geste, und er begann sich daran zu gewöhnen, daß er
fortan nicht mehr Richard hieß, sondern Rick.
Es fiel kein Wort über die letzte Nacht, aber man brauchte auch keins
darüber zu verlieren, denn es ging ihnen beiden gut.
Heute waren die Hotels abzuklappern, in denen der geheimnisvolle
Deutsche vielleicht abgestiegen war. Catherine hatte sich bereits eine Karte
besorgt und darauf die Adressen markiert, die ihnen der Kellner im Lokal
letzte Nacht genannt hatte. Sie schien sich damit bestens auszukennen,
wußte genau, wie man hinkam.
Obwohl Ellwanger sich vorgenommen hatte, diese Frau nie wieder ans
Steuer zu lassen, ließ er sich an diesem Morgen erneut von ihr
herumkutschieren. Und siehe da, sie fuhr bedeutend sicherer als tags zuvor.
Weniger hektisch jedenfalls.
Beim ersten Hotel hatten sie kein Glück. Das Orphiry Palace hatte
geschlossen, und es war auch in der Nähe niemand aufzutreiben, den sie
etwas hätten fragen können. Wie ein Palast wirkte der hölzerne Kasten
wirklich nicht. Vielleicht wurde er gerade saniert. Mit seinem abgeblätterten
Außenanstrich sah er jedenfalls so aus, als könne er eine Renovierung
vertragen. Ellwanger ging einmal um das Haus herum, paffte eine Zigarette
vor dem geschlossenen Eingang, dann fuhren sie weiter.
Mit seinem Giebeldächlein über der Pforte sah Hampton's House of
Gardens einladend aus. Genau das Richtige für einen aus Gerabronn, dachte
Ellwanger. Catherine wurde wie ein Gast begrüßt, der schon öfter hier
logiert hatte, und Ellwanger wunderte sich, warum sie ihm während der
Fahrt nicht erzählt hatte, daß sie das Hotel kannte. Auch hier wurden sie
enttäuscht. Obwohl die Frau an der Rezeption Catherine nur zu gern
behilflich gewesen wäre – einen deutschen Touristen, auf den die
Beschreibung paßte, hatten sie während der Sommermonate bestimmt nicht
gehabt. Trotzdem beschlich Ellwanger ein vages Gefühl, daß hier vielleicht
etwas an Informationen zu holen sei. Er überredete Catherine, auf der
Veranda einen Kaffee zu trinken. Sie sträubte sich ein wenig dagegen, gab
aber nach, als er mit einer weit ausholenden Geste deklamierte: »A kingdom
for another fine black coffee!«
Vorher war sie entspannt gewesen, jetzt wirkte sie urplötzlich wieder
nervös. Ellwanger konnte sich den Stimmungsumschwung nicht erklären.
Warum war sie so versessen darauf gewesen, sofort weiterzufahren? Als
Catherine sich entschuldigte, weil sie die Toilette aufsuchen wollte, hatte
Ellwanger eine Eingebung. Ein junger Kellner kam vorbei, um sich zu
erkundigen, ob er noch einen Wunsch habe, da zeigte er dem jungen Mann
ein Photo von Larson. Freudige Überraschung huschte über das Gesicht des
jungen Mannes. Offenkundig war Larson ein spendabler Trinkgeldgeber. O
yes, of course, he has been here with … Urplötzlich besann sich der Mann
auf das Diskretionsgebot, verbeugte sich und entfernte sich eilends vom
Tisch.
Ellwanger hatte genug gesehen. Für einen Augenblick hatte der Kellner
auf den leeren Platz an seiner Seite geschaut und dann das Gespräch abrupt
abgebrochen.
Er war sich seiner Sache sicher. Die beiden kannten sich viel besser, als
Catherine zugegeben hatte. Vielleicht waren sie sogar schon ein Liebespaar
gewesen, bevor Larson Vicky geheiratet hatte. Ellwangers Stimmung
verdüsterte sich. Vielleicht hatte die Frau, mit der er soeben eine rasante
Nacht verbracht hatte, sogar selbst den Tod ihrer Schwester befördert, oder
sie hatte deren Tod zumindest nicht verhindert. Warum aber hatte sie dann
die Ermittlungen ins Rollen gebracht? Nur auf Geheiß des Vaters, oder um
einem Verdacht zuvorzukommen? Oder weil sich in ihr das schlechte
Gewissen meldete? Gehörte sie zu den Frauen, die sich im geheimen gerne
selbst bestraften?
Es war nicht ratsam, sie sofort mit seinem neuen Wissen zu
konfrontieren. Ellwanger spürte eine schwere Beklemmung. An den
Umgang mit Verdächtigen war er gewöhnt. Es fiel ihm leicht, eine neutrale
Miene zu bewahren, wenn er einen von ihnen im Verhörraum vor sich
sitzen hatte. Aber hier lagen die Dinge anders. Ganz anders.
Als Catherine von der Toilette zurückkehrte, winkte er den Kellner an
den Tisch und zahlte. Er konnte jetzt nicht seelenruhig neben ihr sitzen.
Draußen, an der kalten Winterluft, ließ sich seine Erregung
besser verbergen; draußen wich er auf ein scheinlustiges Schlottermanöver
aus, schlug sich wechselweise auf die Arme, stöhnte und seufzte und
nestelte mit betont steifen Fingern an seiner Zigarettenpackung herum. Der
New Yorker Winter schien ihm plötzlich so zugesetzt zu haben, als stünde
er kurz vor dem Erfrieren. Catherine betrachtete sein Gehampel
zurückhaltend, schöpfte aber wohl keinen Verdacht.
Da Catherine ihm während der Fahrt nicht direkt ins Gesicht sehen
konnte, fühlte sich Ellwanger sicher. Seine Gedanken kreisten immer um
denselben Punkt: hatte er die Nacht mit der Komplizin eines
Mörders verbracht? Einer ausgepichten Lügnerin, die ihn mit einem
Bettmanöver hatte einlullen wollen? War er von allen guten Geistern
verlassen, daß ihn seine Menschenkenntnis dermaßen im Stich ließ? In
einem Punkt war er sich allerdings sicher: vorerst würde sich eine solche
Nacht nicht wiederholen.
Das Southampton Escape hatte geöffnet. Aber der Empfang war gerade
nicht besetzt. Um Catherine wenigstens für ein paar Minuten los zu sein,
ging Ellwanger auf Inspektionstour, einmal um die Anlage herum. Das
Hotel lag nicht weit vom schneebedeckten Strand entfernt und hatte einen
eigenen Swimming-pool, der jetzt im Winter allerdings mit einer Plane
überzogen war, auf der ebenfalls Schnee lag. Die Gästewohnungen
befanden sich wie in einer kleinen Reihenhaussiedlung eine nach der
anderen in einer hölzernen Zeile. Blaugrüner Anstrich, Giebeldächer. Alles
machte einen sehr gepflegten Eindruck. Hier hätte er auch gern für eine
Weile gewohnt.
Als Ellwanger von seinem Rundgang zurückkehrte, hatte Catherine
bereits einen Mann aufgetrieben, der für den Empfang zuständig war. Sie
unterhielten sich angeregt. Ein älterer Mann, ein richtiger Herr mit
kräftigem weißen Haarschopf, stahlblauen Augen und perfekten Manieren,
der eine randlose Brille in Händen hielt. Er wirkte nicht wie ein
Angestellter, sondern wie der Besitzer des Hotels. Ein kurzer Blick des
Großgewachsenen streifte den hinzutretenden Ellwanger und taxierte ihn
als zweitklassiges Wesen an der Seite einer erstklassigen Frau. Der
weißhaarige Häuptling setzte die Brille auf und sah das Gästebuch mit den
Anmeldungen durch, um sich zu vergewissern, wer hier im letzten Juni
genächtigt hatte. Mit einer königlichen Gebärde legte er die
zusammengesteckte Brille wieder auf den Tisch und fixierte Catherine.
Leider nein, kein einziger Deutscher habe im fraglichen Zeitraum hier
gewohnt. Er bedauere es sehr, nicht weiterhelfen zu können. Allerdings
erinnere er sich, daß im Sommer hier in der Nähe jemand vermißt worden
war. Vielleicht ein deutscher Tourist? Aber er wisse leider nichts Genaues
über den Vorfall, auch nicht, wo der Mann gewohnt hatte. Wahrscheinlich
müßten sie sich bei der örtlichen Polizei erkundigen. Ob er ihnen vielleicht
etwas zu trinken anbieten oder jemand ihnen die Anlage zeigen könne?
Während er mit dem Dezernat telephoniere, um in Erfahrung zu bringen, an
wen sie sich wenden könnten?
Nun war es Catherine, die hier unbedingt ihren ersten Whiskey trinken
wollte. Ellwanger bestellte ein Mineralwasser – sparkling –, und sie setzten
sich in zierliche Korbstühlchen, die auf den abgedeckten Pool hinaussahen.
Ellwanger starrte vor sich hin. Das Knarren seines Korbsessels und das
Klirren ihrer Armreifen waren die einzigen Geräusche, die sich zu hören
gaben. Ihm geisterte die Zeile aus dem Struwwelpeter durch den Kopf: und
die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum. Mit dem einzigen
Unterschied, daß Catherine kein Suppenkasper war und er keine Mutter, die
ihr unerzogenes Kind davon abhielt, morgens um elf das erste Glas
Whiskey, zu leeren.
Sie merkte nun doch etwas. Besorgt fragte sie ihn, was denn mit ihm los
sei. Ellwanger sah wie auf Knopfdruck noch bekümmerter drein und hob zu
einer dramatischen Lüge an. Keine knappe Ausrede, sondern eine nach
allen Regeln der Kunst ausgefeilte Lügengeschichte. Bevor sie losgefahren
seien, habe er mit seiner ehemaligen Sekretärin in München telephoniert
und dabei erfahren müssen, daß ein Kollege, mit dem er viele Jahre
zusammen im Einsatz gewesen war, tödlich verletzt worden sei. Bei einem
Schußwechsel während einer Drogenfahndung. Im Krankenhaus habe man
ihn nicht mehr retten können. Herzschuß. Der Kollege hinterlasse eine Frau
und zwei halbwüchsige Kinder. Einen wahren Freund habe er verloren. Auf
ihn habe er sich bei gefährlichen Einsätzen immer verlassen können. Einer
sei für den anderen stets dagewesen. Traurig starrte Ellwanger vor sich hin,
seufzte ein bißchen, drehte sein Glas in der Hand, während er fieberhaft
überlegte, wer von den beiden – Pilz oder Schott – auf diese Weise zu Tode
gekommen war. Weder Pilz noch Schott hatten Kinder, Schott wenigstens
eine Frau. Aber er mußte sich gottlob nicht festlegen. Catherine fragte nicht
nach dem Namen des Kollegen, sondern ergriff nur seine Hand, um ihn zu
trösten.
Ellwanger kannte sich selbst kaum wieder. Zwar war es keine allzu
schwere Übung, einen Verdächtigen im Verhörraum anzulügen, aber privat
hatte er damit weniger Erfolg gehabt. Seine Frau hatte er selten angelogen,
eher herumgedruckst oder geschwiegen, wenn sie ihm zusetzte und es
unangenehm wurde. Am meisten wunderte er sich darüber, daß ihm die
Lügen in einem so flotten Englisch über die Lippen gingen. Wahrscheinlich
war es einfacher, sich in einer fremden Sprache als anderer Mensch zu
fühlen und sich ganz neu zu erfinden.
Catherines Mitgefühl war nicht gespielt. Ellwanger kam sich ein bißchen
schäbig vor, daß er sie so hinterging. In dieser Situation war es unmöglich,
sie sich als eiskalte Schwestermörderin oder Komplizin des Ehemannes
vorzustellen. Aber sicher konnte er sich nicht sein, und für die Ermittlung
war es garantiert klüger, noch eine Weile damit hinterm Berg zu halten, daß
er von ihrer Affäre mit Larson wußte.
Der weißhaarige Herr näherte sich geraden Schrittes und überreichte
Catherine einen Zettel mit der Adresse des Police Department und dem
Namen eines Detective, mit dem er gerade gesprochen hatte. Nein, er wollte
von ihnen partout kein Geld annehmen. Die Getränke gingen aufs Haus.
Sie fuhren gleich los. Das Police Department von Southampton war nicht
sonderlich schwer zu finden. Etliche Polizeifahrzeuge parkten vor dem
Klinkerbau. Man erwartete sie schon in einem engen Kabuff mit vielen
Abzeichen und Medaillen an der Wand. Ein viel zu großer Schreibtisch für
den kleinen Raum. Die amerikanische Flagge als Tischständer. Detective
George W. Weiner stand auf einem Täfelchen zu lesen, das akkurat darunter
plaziert war. Namenstäfelchen hin oder her, dachte Ellwanger, in München
hatte er ein wesentlich größeres Büro zur Verfügung gehabt, in so einem
Käfig hätte er es nur schwer all die Jahre ausgehalten.
Weiner war fett, sein Bauch quoll aus der geöffneten Anzugjacke hervor.
Es war heiß in dem Raum. Der Detective schwitzte. Sein spärliches Haar
klebte am Schädel. Aber der Mann war ausnehmend freundlich und bat sie
beide, sich zu setzen.
An dem Schreibtisch hockten sie nun einander gegenüber. Wie üblich
übernahm Catherine die Verhandlung und stellte Ellwanger als einen
Kommissar aus Deutschland vor, der einem verschwundenen Landsmann
auf der Spur sei. Ob es sich bei dem im Sommer als vermißt gemeldeten
Feriengast denn um einen Deutschen gehandelt habe?
Weiner bejahte sofort. Er schien hoch erfreut, einen deutschen Kollegen
in seinem Büro sitzen zu sehen, der denselben Fall bearbeitete, und wollte
den beiden gleich einen Kaffee bringen lassen, aber Catherine wehrte
dankend ab.
Der Deutsche habe sich nichts zuschulden kommen lassen, erklärte
Weiner, bei ihnen jedenfalls nicht, auch das Hotel, in dem er abgestiegen
sei, war ordentlich bezahlt worden, der Mann sei einfach nur
verschwunden. So etwas komme in den Vereinigten Staaten öfter vor. Die
deutschen Behörden hätten sich vor einigen Monaten schon einmal nach
ihm erkundigt. Anton Bilfinger – er sprach den Namen des Mannes kurios
aus, es hörte sich an wie Anton Beefeater, öffnete die Mappe, die vor ihm
auf dem Tisch lag, und reichte Ellwanger die Unterlagen.
Vier Photos steckten in der Mappe, die wahrscheinlich aus Deutschland
zugeschickt worden waren. Darauf zu sehen war ein Mann mittleren Alters
mit gutmütigem Gesicht. Nicht gerade der Typ des Streuners, der in der
Ferne ein nagelneues Leben unter falschem Namen beginnt. Eher ein
gemütvoller Familienmensch. Aber bei Bildern konnte man sich täuschen.
Auf Stimme und Gebärden kam es viel mehr an, das wußte Ellwanger aus
Erfahrung, und die waren einem Bild nun mal nicht zu entnehmen. In der
Personenbeschreibung war seine Größe mit 1.96 angegeben. Er wog 97
Kilo. Ein großer Mann also. Jemand hatte die deutschen Maße in Inches
umgerechnet und 77.16 mit Bleistift danebengekritzelt. Anton Bilfinger,
geboren in Gerabronn, angestellt bei der Firma Poelzig & Koch als
Sicherheitsberater. Verheiratet mit Andrea Bilfinger, zwei Kinder.
In den letzten Jahren mochte dieser Anton Bilfinger etwas zu üppig
gegessen haben, aber fett war er nicht. Ellwanger zückte sein Notizbuch
und schrieb sich einige Daten auf, unter anderem die Adresse Bilfingers in
Gerabronn und den Namen des Hotels, in dem er zuletzt genächtigt hatte.
Weiner wunderte sich, daß Ellwanger so viel notierte, sein Büro hatte die
entsprechenden Unterlagen ja bereits nach Deutschland geschickt.
Ellwanger versicherte ihm, es geschehe nur aus … aus – aber für so etwas
wie doppelt gemoppelt hält besser hatte er keinen englischen Ausdruck zur
Verfügung. Catherine sprang ein und erklärte dem Detective, daß Mister
Ellwanger immer alles sehr genau nehme und sich lieber zwei Notizen
zuviel mache als eine zuwenig.
Ellwanger fragte, ob umfangreiche Nachforschungen eingeleitet worden
seien. Weiner bot die gutgepolsterten Handinnenflächen dar und legte die
Hände wieder auf den Tisch. In den Vereinigten Staaten verschwanden Jahr
für Jahr Tausende von Menschen, manche, weil sie etwas zu verbergen
hatten, andere nur deshalb, weil sie mit ihrem alten Leben nicht mehr
zurechtkamen und ein neues anfangen wollten. Wenn keine Anzeichen für
ein Verbrechen vorlagen, konnte man keine aufwendigen Ermittlungen
einleiten. Wer wußte es schon, vielleicht lebte der Deutsche jetzt vergnügt
an einem anderen Ort, in Südamerika oder Florida oder sonstwo. Und falls
tatsächlich ein Verbrechen geschehen war, dann vielleicht nicht hier,
sondern ganz woanders.
Immerhin war das ein Anfang, allerdings keiner mit handfesten Indizien.
Wenn er übermorgen zurückflog, hatte Ellwanger erste Anhaltspunkte im
Gepäck. Photos von Larson, die Catherine ihm gegeben hatte und die er in
Gerabronn herumzeigen würde. Dazu die Adresse der Familie, aus deren
Mitte der rätselhafte Mann verschwunden war, welcher geglaubt hatte,
Larson zu kennen. Sie verabschiedeten sich von George W. Weiner, der
trotz seines weichen Körpers einen erstaunlich festen Händedruck hatte,
und machten sich wieder auf den Weg.
Als nächstes fuhren sie zu dem Hotel, in dem Anton Bilfinger fünf Tage
lang Gast gewesen war. Catherine kannte es nicht und mußte sich auf der
Karte vergewissern, wo es lag. Das Southampton Inn war nicht besonders
groß, lag aber nicht weit vom Strand und hatte einen großzügigen Park, der
unter einer dicken Schneedecke verborgen war. Es stand etwas
zurückgezogen da, winterliche Ruhe herrschte. Flackernde Kerzen in
großen gläsernen Behältern am Eingang. Dort trafen sie auf ein kleines
Grüppchen, das sich gerade zu einer Schneewanderung Richtung Strand
aufmachte.
Catherine ging direkt auf die Empfangsdame zu und versuchte, sie nach
dem verschwundenen deutschen Gast auszufragen. Die Frau mit dem
schweren dunklen Haarknoten und den exakt manikürten Nägeln verdrehte
nur ein ganz klein wenig die Augen, blieb aber höflich. O ja, natürlich – sie
war schon einige Male deswegen befragt worden. Aber da gab es weiter
nichts Interessantes zu erzählen. Ein ruhiger, freundlicher Mann, der hier
offensichtlich Urlaub gemacht hatte. Großzügig, ordentlich, bescheiden.
Nein, ein Auto hatte er nicht dabeigehabt. Offensichtlich hatten ihn
Privatleute, an die sich aber niemand erinnern konnte, hergefahren. Und
offensichtlich war er auch wieder abgeholt worden. Von wem, wußte sie
nicht. Wahrscheinlich von denselben Leuten, die ihn hergebracht hatten.
Während der Tage, in denen er im Hotel einquartiert gewesen war, war er
abends ebenfalls ein- oder zweimal abgeholt worden. Vielleicht wieder von
denselben Leuten, aber auch das wußte hier niemand. Nein, das Zimmer
konnte sie ihnen nicht zeigen, weil es derzeit belegt war. Die örtliche
Polizei hatte es aber genauestens untersucht und keinerlei Hinweise
gefunden, wo der Mann geblieben sein könnte. Keine Zettel im Papierkorb,
keine Notizen, nichts. Gegen elf Uhr vormittags hatte er ausgecheckt, alles
völlig normal. Zwei Koffer hatte er dabeigehabt, beide waren
verschwunden. Alles in allem ein angenehmer Mann, den sie gern öfter bei
sich gesehen hätten. Er war aber kein Stammgast gewesen, sondern hatte
das Southampton Inn zum ersten Mal aufgesucht. Nein, die
Zimmermädchen und Kellner wüßten auch nicht mehr. Sie alle seien
ausführlich befragt worden. Die Dame erzählte das flüssig herunter, als
hätte sie ihr Sprüchlein schon öfter aufgesagt, trotzdem gab es nicht den
geringsten Grund, an der Wahrheit ihrer Aussage zu zweifeln. Dann stellten
sich zwei weitere Gäste an den Tresen, und die Dame ließ Catherine mit
einem abschließenden Nicken wissen, daß die Fragestunde nun vorüber sei.
Offensichtlich hatte der Mann keine Spuren hinterlassen, und es war
müßig, hier weiter nachzuforschen.
VII
Ihre Fahrt zurück verlief ziemlich ruhig. Es gab viel Verkehr, und sie kamen
nur langsam voran. Im Tunnel überraschte ihn Catherine mit der Frage, ob
er in München mit jemandem zusammenlebe, mit einer Frau, mit Kindern.
Nein, nur mit Killmousky. Catherine lachte. Sie begriff ziemlich schnell,
daß es sich um eine Katze handeln mußte. Ellwanger wollte nun unbedingt
präzisieren, daß Killmousky ein Kater war, aber es fehlte ihm der richtige
Begriff. Das Wort male wollte ihm partout nicht über die Lippen. Er fing
an, herumzufuchteln, schwatzte von einem he cat und einem tom cat und
wollte nun unbedingt erklären, welche Spiele er und sein he cat jeden
Morgen im Garten aufführten. Dabei geriet er derart in Fahrt, daß ihm ein
völlig chaotisches Wortgebirge entfuhr, in dessen Zentrum die Aussage
stand, daß Killmousky der witzigste Kater unter der Sonne war – most witty
tom cat in the whole universe. Was für ein grauenhafter Stuß! Er
verstummte. Die Frau mußte ihn für einen Vollidioten halten, daß er beim
Thema he cat derart in Ekstase geriet. Aber nein. Catherine schien höchlich
amüsiert über den abstrusen Wortschwall, der urplötzlich aus ihm
herausgebrochen war. Ellwanger verabschiedete sich von ihr mit »We'll
keep in touch. Do we?«. Was ihm schon nach zwei Sekunden angesichts der
Tatsache, daß er mit dieser Frau eine Nacht im Bett verbracht hatte, völlig
blödsinnig erschien.
Die nächste Nacht schlief er wieder im Pierre, allein. Es war nicht weiter
schwer gewesen, Catherine zu entgehen, wahrscheinlich wollte auch sie
lieber ohne ihn zu Hause übernachten. Aber sein Schlaf war durchlöchert,
von schlimmen Phantastereien wurde er heimgesucht, ja, ohne daß er sich
dagegen wehren konnte, regelrecht von ihnen überwältigt. We'll keep in
touch. Touch. Touch. Touch. In einer seiner Phantasien schlug er Catherine
einige Male ins Gesicht, bis alles aus ihr heraussprudelte, was sie wußte.
Nein, er wurde dafür keineswegs zur Verantwortung gezogen, sondern vom
alten Trevillyan sogar belobigt, daß endlich mal ein Mann gekommen sei,
der es seiner Tochter richtig gezeigt hatte. Und klar: den Fall hatte er damit
in Null Komma nichts aufgeklärt. Auch klar: der alte Trevillyan
verdoppelte das Honorar daraufhin umgehend.
In ruhigen Momenten schämte er sich für den Schwachsinn, den er sich
da zusammenphantasierte, aber er kam nicht dagegen an, we'll keep in
touch, paar Sekunden später ging die Prügelei wieder von vorn los. Er war
sogar fast gleichzeitig in der Lage, zu analysieren, wo er das herhatte.
Natürlich vom Vater, der die Mutter schier totgeprügelt hatte. Jedenfalls
hatte nicht viel dazu gefehlt. Sie starb mit vierundfünfzig an einem
Herzinfarkt, er mit achtundsechzig an irgendwas. Den Alten hatte er nach
dem Tod der Mutter nie mehr gesehen, hatte ihn in einem Armengrab, will
heißen in einem anonymen Massengrab, verscharren lassen und war nicht
mal bei der Beerdigung gewesen.
Trotzdem, er hatte sich immer im Griff gehabt, hatte seine Ehemalige nie
geschlagen, obwohl sie ihn manchmal bis aufs Blut gereizt hatte. Den einen
oder anderen Verdächtigen hatte er zwar hart anfassen müssen, allein, um
die Schläge nicht selbst abzukriegen, aber übers Ziel war er so gut wie nie
hinausgeschossen. Vielleicht hatte er in der Wut mal nachgetreten, das war's
aber auch schon gewesen. Warum um Gotteswillen brachte ihn eine
ziemlich fremde Frau, die ihn in ihr Bett eingeladen hatte, so auf Touren,
daß er sie schlagen wollte? Er wußte es nicht, schlief wieder ein, und als er
aufwachte, wußte er es erst recht nicht.
Es gab einiges zu erledigen. Um elf Uhr war er mit Trevillyan verabredet,
um einen ersten Bericht abzustatten. Der Portier begrüßte ihn wie einen
alten Bekannten mit leichtem Nicken. Catherine zeigte sich während dieses
Besuches nicht. Dafür war Arrowsmith anwesend. Der Alte machte heute
einen noch schwächeren Eindruck in seinem Rollstuhl. Er schien Mühe zu
haben, den Kopf aufrecht zu halten, sprach mit tonloser Stimme. Mehr ein
Flüstern als ein Sprechen. Seine Hände zitterten. Ellwanger suchte nach
Merkmalen, die den alten Mann mit seiner Tochter in Verbindung bringen
konnten, fand aber keine, von den dunklen Augen einmal abgesehen. Er
erstattete einen kurzen Bericht in halbwegs verständlichem Englisch.
Arrowsmith lenkte mit kleinen schlauen Nachfragen das Gespräch und
ergänzte Wörter, nach denen Ellwanger suchen mußte.
Natürlich war es nicht viel, was Ellwanger in so kurzer Zeit hatte
herausbringen können, aber er gab sich zuversichtlich, in Gerabronn mehr
über den verschwundenen Deutschen zu erfahren, vor allem mehr darüber,
ob es dort einen Schuljungen gegeben hatte, auf den die Beschreibung
Larsons paßte. Trevillyan nickte nur und wünschte ihm mit schwächlicher
Stimme und wackeligem Kopf good luck.
Doch bevor Ellwanger das Zimmer verließ, hatte er eine Eingebung. Im
Gehen wandte er sich um und fragte, ob Larson öfter auf Long Island
gewesen sei. Die Antwort besorgten beide Herren gleichzeitig, woraufhin
Arrowsmith verstummte, um dem Chef das Wort zu überlassen. Ja, Larson
war häufig dort gewesen, während des letzten Sommers sogar besonders
häufig. Er besaß ein Segelboot, das ihm Vicky zur Hochzeit geschenkt
hatte. Der Liegeplatz war in Southampton. Inzwischen hatte er es allerdings
verkauft. Insoweit Trevillyans dünne Stimme überhaupt ironisch klingen
konnte, tat sie es jetzt: der Schwiegersohn habe nach dem Tod seiner Frau
behauptet, es nicht mehr ertragen zu können, allein mit dem Boot
hinauszufahren (er machte eine Kunstpause, seine schwarzen Augen
blitzten) – because it meant so goddamn much to them! Dann senkte er den
Kopf. Seines Wissens war Vicky so gut wie nie mitgesegelt.
Der alte Mann schwieg. Die Sitzung war beendet. Arrowsmith geleitete
Ellwanger hinaus und sicherte ihm seine Hilfe zu. Die Adresse vom
Liegeplatz des Bootes könne er ihm besorgen. Vielleicht sogar in Erfahrung
bringen, wer es gekauft hatte. Wirklich, ein grundsympathischer Mann.
An diesem Tag gab es für Ellwanger nichts mehr zu tun. Die Wintersonne
stach zwischen den grauen Wolken durch. Während der Nacht hatte es
wieder ein bißchen geschneit. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen, als
er durch den Central Park ging. Eifrige Jogger rannten an ihm vorüber,
Apparätchen mit weißen Schnüren um den Kopf, dazwischen auch
rennende Väter oder Mütter, Kinderwagen in flotter Fahrt vor sich her
schiebend, die frische Räderspuren in den Schnee zogen. Ellwanger
verstand die freiwillige Rennerei nicht. Wenn sie aus dem Kindesalter
heraus waren, sahen die Leute lächerlich dabei aus. Er rannte bloß, wenn es
unbedingt sein mußte, wenn es galt, einen Verdächtigen einzufangen oder
mit Hilfe von Kollegen einzukesseln. Obwohl er rauchte, war er für sein
Alter immer noch ziemlich schnell.
Aber es tat gut, nicht im Auto zu sitzen, sondern sich an der klaren Luft
zu bewegen. Die Zweige der Bäume waren mit weißen Häubchen bedeckt.
Flog ein Vogel ins Gezweig und ließ sich darauf nieder, fiel pudriges Pulver
herab. Ansonsten blieben die Bäume starr und stumm. Bäume tuschelten
nur ab dem Frühjahr miteinander, sobald das Laub aus ihren Ästen brach.
Die Hunde, die hier im Park herumflitzten, waren in ihrem Element. Ein
gefleckter Terrier schleppte erhobenen Hauptes einen Ast an, der eigentlich
zu schwer für ihn war. Ellwanger fühlte sich leichter. Sobald sie Catherine
berührten, waren seine Gedanken von dem drückenden Nachtalp befreit.
Keine Prügelszenen mehr. Die Frau, die ihm ein großes Abenteuer beschert
hatte, war eine kuriose Mischung aus weltläufiger Eleganz, der Gewohnheit
zu herrschen und plötzlichen Anfällen von Schüchternheit. Ihre nervöse
Art, die gefüllten Whiskeygläser mit den Eiswürfeln zu traktieren, kam ihm
in den Sinn. Gut möglich, daß sie in wenigen Jahren von einer Klinik in die
andere wanderte, um sich vom Alkohol zu befreien. Hatte sie tatsächlich
mit dem Tod Vickys zu tun, oder war es ihr bloß peinlich, mit dem Mann
der Schwester eine Affäre gehabt zu haben? Warum hatte sie nicht erwähnt,
daß Larson ein Boot besaß? War sie selbst öfter mit ihm hinausgesegelt,
während Vicky, die ihm das Boot sicher nicht zu diesem Zweck geschenkt
hatte, in New York geblieben war?
Den Tag hatte er zu seiner Verfügung. Allerdings fühlte er sich dabei
etwas unbehaglich. Wenn er an einem Fall dran war, gab es für ihn
eigentlich keine freie Zeit. Wäre er noch in seiner Münchner Dienststelle
gewesen, hätte er jetzt die Kollegen aufscheuchen und mit
Nachforschungen beauftragen können. Er selbst hätte alle Informationen
zusammengetragen, die sich bisher angesammelt hatten, und eine
strategische Übersicht erstellt. Er war daran gewöhnt, Direktiven zu geben
und einen Apparat in Schwung zu halten, selbst wenn dieser Schwung
manchmal zu nichts führte. Wenn es bei Ermittlungen einen Leerlauf gab,
konnte man sich wenigstens mit bürokratischem Zeug beschäftigen,
Berichte schreiben, alte Fälle durchsehen. Ohne seinen Apparat kam er sich
amputiert vor, selbst in einer so neuen Umgebung. New York betrachtete er
schon nicht mehr mit dem verwunderten Blick des Neulings. Jetzt war er im
Amt. Zwar nur als Amtsträger seiner selbst mit einem kleinen schwarzen
Notizbuch in der Tasche, das er herauszog, um etwas hineinzukrakeln,
während er in einer Bar ein Sandwich aß und einen zweiten Kaffee trank.
Aber das tat er bloß, um überhaupt etwas zu tun. Die spärlichen
Informationen, die es bisher gab, hatte er alle im Kopf.
Der Abend verlief ruhig. Keine Nachricht von Catherine. Frau
Kirchschlager hatte einen Tisch im Restaurant bestellt. Diesmal waren sie
nur zu zweit, Sepp hatte andere Verpflichtungen. Ellwanger liebte den
abendlichen Spaziergang durch die Winterstadt. Schnee fiel wieder in
zarten Flocken. Die Straßengeräusche waren gedämpft. Das italienische
Restaurant in Soho, in dem sie reserviert hatte, war dagegen laut und voll
und warm, aber es wirkte alles andere als mondän. Kein staunenswertes
Publikum verkehrte dort. Ellwanger fühlte sich sofort wohl. Das Essen war
ausgezeichnet. Er hatte die Auswahl der Kirchschlagerin überlassen und
war drauf und dran, zu schnurren wie sein Kater, wenn der rundum
zufrieden war. Es ging ihm kurz durch den Kopf, ob er erzählen sollte, was
er bezüglich Catherines und Larsons vermutete, dann behielt er es lieber für
sich. Aber er fragte sie, ob sie von dem Segelboot wußte, das Larson in
Southampton liegen hatte.
»Ein wirklich schönes Boot, nicht klein, nicht riesig, sehr edel von den
Materialien her. Vicky hat es mir einmal gezeigt.«
»Aber sie ist wohl kaum damit gesegelt.«
»Das stimmt. Aber sie konnte segeln, sogar sehr gut, ich glaube, besser
als ihr Mann. Sie hat es ihm geschenkt, aber schnell die Lust daran
verloren. Warum, weiß ich nicht.«
Ellwanger tupfte die letzten Reste der Fleischsoße, die ein bißchen nach
Zitrone schmeckte, mit etwas Brot auf. »Merkwürdig. Eine passionierte
Seglerin schenkt ihrem Mann ein Boot zur Hochzeit, benutzt es aber selber
nicht.«
Frau Kirchschlager füllte ihre beiden Gläser wieder auf. »In den letzten
Jahren hat sie sich sehr verändert. Wirkte verschlossen. Ziemlich in sich
gekehrt. Ein bißchen so, als lebte sie nur noch auf Sparflamme.«
»Was eher für einen Selbstmord spricht.«
»Das tut es. Ich bin sowieso nicht davon überzeugt, daß er sie unbedingt
umgebracht haben muß. Eher so etwas wie schleichend ausgelaugt. Aber
wer weiß das schon so genau. Vielleicht war ihre depressive Verstörung
stärker, als ich es vermutet habe. Und vielleicht hatte sie schon vor ihrer
Ehe damit zu kämpfen. Die Schwester ist ja auch nicht ganz frei davon.
Sonst müßte sie nicht solche Quanten Alkohol in sich hineinschütten.
Haben Sie gemerkt, wieviel sie trinkt?«
Ellwanger fingerte an einem letzten Stückchen Brot herum. »Ist mir
aufgefallen. Sie schluckt ziemlich was weg. Jedenfalls erheblich mehr als
ich.«
Die Kirchschlagerin hob ihr Glas: »Dann wollen wir mal sehen, wer jetzt
was wegschluckt«, und leerte es in einem Zug. »Und sonst?« fragte sie,
»wie war die Reise? Haben Sie schon was rausgekriegt?«
»Nicht viel. Aber immerhin ein Anfang. Ein Name, eine Adresse und ein
Haufen Vermutungen, lauter unbewiesenes Zeug.« Und er erzählte ihr jedes
Fitzelchen, das er über den verschwundenen Anton Bilfinger in Erfahrung
gebracht hatte.
»Merkwürdig«, sagte Frau Kirchschlager, »ein braver deutscher
Familienvater aus der Provinz verschwindet doch nicht einfach so.«
»Sehen Sie. Da ist Ihr treuer Mieter gefragt. Der morgen zurückfliegt und
sich die Familie des Verschwundenen vorknöpfen wird, natürlich erst,
nachdem er sich ausgiebig seinem Kater gewidmet hat.«
»Der Sie womöglich schon abgeschrieben hat und mit theatralischem
Katzbuckel zur kleinen Nachbarin übergelaufen ist.«
Ellwanger lachte. »Das glaube ich kaum. Sein beliebtes Morgenspiel
kann nur ich ihm bieten.« Dann senkte er die Stimme zu einem säuselnden
Verschwörerton: »Killmousky ist der einzige, der mich liebt.«
»Was Sie nicht sagen! Und was ist mit der Damenwelt?«
Ellwanger mauzte ein bißchen und machte eine wägende Bewegung mit
der rechten Hand. Ob die Damenwelt ihm zugetan war oder nicht, ließ er
lieber offen.
Als er am nächsten Nachmittag im Flugzeug saß, war er zwar nicht so
komfortabel untergebracht wie auf der Hinreise, aber er hatte dennoch
Glück. Der Platz neben ihm blieb frei, ein wahres Geschenk, das er zu
würdigen wußte, indem er schon nach einer halben Stunde dankbar
einschlief und während des gesamten Fluges nur sehr selten die Augen
öffnete, nicht einmal, als die Stewardessen die Wagen mit den Getränken
und dem Essen durch den Korridor rollten. Nach dem fabelhaften späten
Frühstück im Pierre hatte er einfach keine Lust, irgendwelches Zeugs mit
Plastikgabel und Plastikmesser in einer Plastikschale zu traktieren. Aber er
schlief natürlich nicht einfach so die Stunden durch, sondern wälzte im
halben Wachen und halben Schlummer seinen Fall immer wieder hin und
her. All die Leute, die ihm während der letzten Tage begegnet waren,
geisterten durch sein Hirn. Trevillyan tauchte immer wieder auf. Das alte
schlaue Reptil, dieses Rollstuhlmonster hatte was! Auch in jungen Jahren
mußte Trevillyan die Menschen in seinen Bann gezogen haben. Das
zierliche Männchen war nicht der Typ des jovialen, großgewachsenen
amerikanischen Helden, aber ganz sicher jemand, den man nicht so schnell
vergaß. Der Blick aus seinen kohlschwarzen Augen, der versehrte und
zugleich analysierte, wirkte lange nach. Ellwanger fühlte ihn sogar jetzt,
über dem Atlantik, weit entfernt in über zehntausend Metern Höhe.
Auch sein Gegenspieler, Larson, der schöne blonde Larson, machte ihm
zu schaffen. Weckte männliche Schönheit anders als die weibliche
Schönheit grundsätzlich das Mißtrauen, insbesondere bei Schwiegervätern?
Bei fast allen heterosexuellen Männern, und vielleicht zu Unrecht? Larson
mochte berechnend und zugleich verlogen sein, und sehr wahrscheinlich
hatte er die Frau nur geheiratet, um ein bequemes Leben führen zu können,
aber das machte ihn noch nicht zum Mörder. Mit den Fingern trommelte
Ellwanger auf seinen Oberschenkeln herum, als wolle er sich etwas
einschärfen. Und die Lektion hieß: hüte dich davor, einem Schönling etwas
anzudichten, nur weil du mit derselben Frau geschlafen hast und vielleicht
ein klein wenig eifersüchtig bist. Die Augen hielt er dabei geschlossen.
VIII
Als er im Auto saß, nahm er das Photo noch einmal zur Hand. Drei der
Kinder waren schwer zu erkennen, zwei davon Buben, eines wahrscheinlich
ein Mädchen. Man hätte Adleraugen dafür gebraucht. Vielleicht zeigte die
Vergrößerung, ob einer der verdeckt stehenden Buben Larson sein konnte.
Auf den zweiten Blick war der kleine Anton links außen in der zweiten
Reihe mit dem großen Anton etwas besser in Übereinstimmung zu bringen.
Er fuhr zu seiner alten Schule, die auch ein Gymnasium beherbergte.
1973 war er einer der ersten gewesen, die im neuen Zweckbau unterrichtet
worden waren und dort Abitur gemacht hatten. Erstaunlich, wie schwer es
ihm fiel, etwas wiederzuerkennen. Die Schule kam ihm jetzt viel kleiner
und schäbiger vor als damals. Die Böschung, die es zum vorderen Einlaß
hinaufging, war ihm früher wie eine Anhöhe erschienen. Ungehindert
gelangte er hinein. Es war gerade Pause, die Schüler standen in Grüppchen
herum, ziemlich diszipliniert, keine fidele Rennerei, kein allzu großes
Gelärme. Zum Rektorat mußte er sich durchfragen, so fremd war ihm das
Gebäude geworden. An den Wänden hingen Kinderzeichnungen und von
Schülern gestaltete Plakate, jeder Buchstabe in einer anderen Farbe. In den
Vitrinen waren klobige Bastelarbeiten ausgestellt. Das hatte es zu seiner
Zeit nicht gegeben, dachte er jedenfalls. Aber vielleicht hatte er es einfach
nur vergessen. Viele Gerabronn-Erinnerungen waren inzwischen gelöscht.
Nur Wolpertinger war davon verschont geblieben. Der war aber bereits seit
mehr als zwanzig Jahren tot.
Beate Schneider stand auf dem Schildchen an der Tür. Die Sekretärin mit
den flammend roten Hennahaaren empfing ihn freundlich. Unter ihrem
gelben Mohairpullover zeichnete sich der Busen ziemlich deutlich ab.
Dünne Zierpälmchen und Kakteen standen auf dem Fensterbrett.
Glückwunschkarten hingen an der Wand. Eine kleine Sammlung
gummiartiger Tierformen lag auf dem Schreibtisch: Radiermaus,
Radierkrokodil, Radierbär. Als sie die Hände hob, klirrten die vielen
Armreifen an ihren Handgelenken.
Was, ein ehemaliger Schüler! Und noch dazu ein Kriminalkommissar aus
München, so was! Sie spitzte sofort die Ohren, als er von Anton Bilfinger
sprach. Aber er konnte nur berichten, daß es um den Verschwundenen ging
und vielleicht um einen seiner Schulkameraden. Das heißt, es sei noch nicht
einmal sicher, ob es sich bei dem betreffenden Mann überhaupt um einen
ehemaligen Schüler aus Gerabronn handelte.
Vom Verschwinden Bilfingers hatte sie natürlich erfahren. »Das war in
Gerabronn ja Stadtgespräch. Ein Familienvater verschwindet einfach so,
das gibt's sonst bloß im Fernsehen. Soviel ich weiß, hatte der weder
Schulden noch eine zerrüttete Familie. Seine Kinder gehen hier zur Schule,
die sind in Ordnung, sagen die Lehrer, jedenfalls sind es keine
Problemkinder. Eine Riesentragödie!«
Aber sie hatte Bilfinger nicht persönlich gekannt, erst recht nicht als
Schüler. In der Schule arbeitete sie erst seit sechs Jahren. Ein freundlicher
Ort, sie war gern hier. Bislang gottlob keine Halbwüchsigen, die mit
Messern oder noch gefährlicheren Waffen herumfuchtelten.
Natürlich gab es noch eine alte Schülerdatei, aber wenn er den Namen
des Schülers nicht wußte, konnte sie ihm leider nicht weiterhelfen.
Allerdings, vor ihrer Zeit habe es einmal einen Brand gegeben, und dabei
sei ein gut Teil der alten Kartei vernichtet worden. Um welche Jahre ging es
denn?
»Die Geburtsjahre neunundsechzig bis einundsiebzig.«
»O je, o je, gerade von den Jahren ist so ziemlich alles weg. Es wurde
zwar schnell gelöscht, aber was gerettet wurde, war vom Wasser so
verklebt, daß man es nicht mehr lesen konnte. Wurde alles weggeworfen.«
»Und sonst? Gibt es vielleicht jemanden, der über die alten Zeiten
Auskunft geben könnte?«
»Ja, da wäre noch so ein Fräulein – Fräulein darf man ja jetzt nicht mehr
sagen, aber ein altes Fräulein ist Hedwig Gumbrecht nun mal, wissen Sie,
so eine mit Dutt. Ich glaube, sie würde sich sogar selbst so nennen. Die ist
als einzige von der alten Garde noch übrig. Lebt hier in der Stadt. Ziemlich
alt inzwischen, um die Neunzig, aber geistig noch auf Zack.«
Ellwanger hatte Mühe, sich an das Fräulein Gumbrecht zu erinnern.
Seine Lehrerin war sie jedenfalls nicht gewesen. Beate Schneider betätigte
mit Flammenfingernägeln ein Adreß-Apparätchen, das sich um eine
Trommel drehte.
»Hier. Ahornweg 3. Telefon 424 55.«
Ellwanger schrieb alles mit, schrieb sich auch die Nummer des
Sekretariats auf und bedankte sich.
»Man sieht, die Pflanzen haben es bei Ihnen gut«, sagte er zum Abschied
und erntete dafür ein breites Lächeln.
Er beschloß, gar nicht erst anzurufen, sondern sein Glück unangemeldet
bei Fräulein Gumbrecht zu versuchen. Der Ahornweg war ungefähr so, wie
man sich den Ahornweg in einer Kleinstadt vorstellte, viele Bäume in den
Gärten, wenn auch nicht unbedingt Ahornbäume, bis auf die Nadelbäume
alle kahl. Er klingelte an der Gitterpforte eines zweigeschossigen Hauses.
Die Namensschilder waren etwas verwischt, gerade noch lesbar. Das
Fräulein wohnte offenbar im Erdgeschoß.
Lange tat sich nichts. Ellwanger wollte sich schon zum Gehen
umwenden, da sah er, wie sich eine Gardine bewegte. Er drückte noch
einmal auf die Klingel, diesmal etwas länger. Ein Summer ertönte, das Tor
ließ sich öffnen.
Eine winzige Frau stand in der Haustür, sehr alt. Sie hielt sich etwas
gebückt, was sie noch kleiner machte. Ellwanger stellte sich vor und gab ihr
seinen Ausweis. Sie schaute lange darauf und bedachte die Person, die da
unangemeldet vor ihr stand, mit einem prüfenden Blick. Dann erst durfte er
eintreten. Vom Flur aus ging es linker Hand in ihre Wohnung.
Ellwanger entschuldigte sich dafür, daß er sie so mir nichts, dir nichts
überfalle. Aber er sei gerade in ihrer alten Schule gewesen und habe dort
erst ihren Namen erfahren.
Offenbar hatte er sie beim Mittagessen gestört. Ein Suppenteller stand
auf dem Tisch und ein Glas Wein. »Um Gotteswillen, bitte essen Sie in
Ruhe erst einmal zu Ende, ich möchte nicht, daß es kalt wird. Es ist ja
eh sehr unhöflich, daß ich einfach so hereinschneie.«
»Sie sagen es. Aber gut. Sie sind von der Polizei. Da macht man eine
Ausnahme.« Sie stellte den halbvollen Teller auf eine Kommode. »Das
kann ich nachher wieder aufwärmen. Trinken Sie ein Glas Wein?«
»Ja, ein kleines sehr gern. Ich muß heute noch zurück nach München
fahren.«
Sie holte ein Glas aus dem Schrank und schenkte ihm ein. Alles wirkte
sauber, sonderlich aufgeräumt wiederum nicht. Stapel von Büchern und
Zeitschriften lagen auf dem Tisch. Außerdem war es ziemlich dunkel. Die
Fenster waren unterteilt in Sprossen, winzig und leicht schief wie in einem
Hexenhäuschen. Im Sommer, wenn die Bäume wieder belaubt waren,
mußte es hier drinnen stockfinster sein.
»Soso, der Herr Kommissar kommt also aus der Hauptstadt. Was wollen
Sie hier bei mir? Sie erlauben, daß ich mir eine Zigarette anzünde. Nach
dem Essen rauche ich immer eine. Nur eine. Seit über fünfundsechzig
Jahren.«
Ellwanger war überrascht. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit
einer rauchenden Neunzigjährigen. »Vielleicht darf ich Ihnen eine
anbieten.« Er öffnete seine Schachtel und reichte sie ihr.
»Jesus, eine Nil! Gibt's die überhaupt noch? Die habe ich ja seit ewigen
Zeiten nicht mehr gesehen.« Mit leicht zittrigen Fingern nahm sie sich eine
heraus. Ellwanger gab ihr Feuer. »Sie erlauben, daß ich mir selber eine
anzünde?«
»Aber bitte, nur zu.«
Das Eis war gebrochen. Fräulein Gumbrecht musterte ihn aufmerksam,
während sie die Zigarette wie eine Kostbarkeit zwischen den Fingern hielt
und genüßlich den Rauch ausblies. Sie trug ein schwarzes Kleid mit
weißem Kragen, der von einer Brosche zusammengehalten wurde. Und ja,
sie hatte einen Dutt. Wahrscheinlich war die Frisur in früheren Jahren straff
nach hinten gekämmt gewesen. Aber jetzt hatte das Fräulein dafür wohl
nicht mehr die Kraft und die Beweglichkeit in den Armen. Der Dutt war
herabgesunken, und einzelne Strähnen hatten sich gelöst. Sie gehörte zu
denen, die in jungen Jahren nicht sonderlich hübsch sind, aber dafür mit
einem guten Alterskopf entschädigt werden. Sie hatte feine Falten um den
Mund und auf der Stirn, der Mund war zwar etwas eingefallen, aber ihr
Blick war noch immer scharf und von einiger Intensität. Gut und gern hätte
sie die ältere Schwester von Trevillyan sein können, sie war ebenso klein
und zart, allerdings hatte sie nicht seine kohlschwarzen Augen. Ihre waren
braun. Auf dem Tisch stand ein schwerer Aschenbecher, den sie jetzt
betätigte. Wenn man oben auf den Knopf drückte, ging eine Klappe auf und
versenkte die Asche im Bauch.
»Ich bin hier, weil ein ehemaliger Schüler Ihrer Schule in den USA
verschwunden ist. Vielleicht haben Sie davon gehört.«
»Ich muß ihn sogar unterrichtet haben. Bilfinger. Der Name sagt mir
etwas. Die Geschichte war ja in der Zeitung. Allerdings kann ich mich nicht
allzu genau an ihn erinnern. Zu viele Schüler im Lauf der Zeit, wissen Sie.
Alle kann man sich nicht merken. Und das Gedächtnis, es läßt nach, kein
Kraut dagegen gewachsen.«
Ellwanger reichte ihr das Gruppenphoto der damaligen Drittkläßler.
Hedwig Gumbrecht brachte es nah vor die Augen und sah es lange an. »So
ungefähr kann ich mich an die Klasse erinnern, aber nicht an jedes einzelne
Kind, das geht einfach nicht, nach so langer Zeit und so vielen Schülern.«
Ellwanger beugte sich zu ihr hinüber und tippte mit dem Finger auf
Anton. »Das ist der kleine Bilfinger, ich habe ihn auch nicht auf Anhieb
erkannt. Er ist zu einem Riesen herangewachsen, etwas beleibt, aber nicht
fett.«
»Soweit ich mich erinnere, war der Anton ein freundliches Kind. Keiner
von denen, wegen denen man sich die Haare rauft. Alles in allem war das
eher eine ruhige Klasse. Damals waren die Kinder noch friedlich und
zappelten weniger herum. Ich kann Ihnen sagen, das ist heute kein
Zuckerschlecken mehr, diese unkonzentrierten Kinder zu unterrichten.
Gottlob bin ich ja schon lange aus dem Rennen.« Dünn und brüchig
gluckste sie vor sich hin; es klang, als würde ein Streifen Pergamentpapier
zu lachen anfangen.
Ellwanger stand auf und stellte sich neben sie. »Es geht mir aber weniger
um Anton Bilfinger, sondern um einen seiner Schulkameraden, vielleicht
einer von denen, die hier verdeckt in der Reihe stehen. Sehen Sie, der oder
vielleicht der da.«
»Du meine Güte, die sind ja überhaupt nicht zu erkennen. Wer soll das
denn sein?«
»Ich kenne ihn nur als Erwachsenen, ein sehr gutaussehender blonder
Mann, schlank, intelligent, mittelgroß, der in Amerika lebt, vielleicht unter
falschem Namen.« Ellwanger erzählte ihr, was er über Larson wußte und
welchen Eindruck dieser auf ihn gemacht hatte. Sie hörte ihm aufmerksam
zu, unterbrach ihn an keiner Stelle. Als er geendet hatte, antwortete sie nicht
sofort, sondern überlegte.
Sie nahm einen Schluck Wein. »Ich bin mir nicht sicher, Menschen
können sich im Lauf der Jahre sehr ändern, von einem kleinen Buben auf
einen erwachsenen Mann zu schließen, der in der Mitte des Lebens steht, ist
schwierig.«
»Das ist mir klar. Aber vielleicht …«
»Nun, es gab da einen Jungen, ich bin nicht mehr sicher, ob in Antons
Klasse oder in einer anderen, aber vom Alter her dürfte es hinkommen.
Ziemlich aufgeweckt, sehr intelligent. Er erzählte immer
Märchengeschichten, man könnte auch sagen, er log. Aber so einfach war
das nicht. Das gibt es ja manchmal, daß Kinder auch in dem Alter noch eine
blühende Phantasie haben. Ich hatte aber immer den Eindruck, daß er sich
von etwas wegschwindelte. Vielleicht, weil es zu Hause unerträglich war.
Er lebte mit seiner Mutter allein. Arme Leute jedenfalls. Ich weiß das alles
nicht mehr so genau, ich glaube, sie war ein bißchen verrückt, vielleicht war
er ein uneheliches Kind, aber das weiß ich nicht mit Sicherheit.« Dann gab
sie sich einen Ruck, und es brach aus ihr heraus: »Heiner hieß er, jawohl,
das Heinerle! Das Heinerle war blond, ein hübscher Junge, sehr hübsch
sogar.«
»Können Sie sich vielleicht noch an den Nachnamen erinnern?«
Sie fiel in sich zusammen und begann zu brüten. »Nein, leider nicht.«
Dann kam sie wieder in Schwung, drückte ärgerlich die Zigarette aus und
ließ den Deckel des Aschenbechers zuschnappen. Sie klopfte sich mit der
Faust an den Schädel. »Wenn's einmal, ein einziges Mal darauf ankommt,
daß man sich erinnert, kommt gar nichts mehr. Ein durchlöchertes Sieb da
drin, eine hohle Nuß!«
Ellwanger suchte sie zu beruhigen. »Aber Ihr Gedächtnis ist
ausgezeichnet, das ist doch alles schon eine Ewigkeit her. Ich glaube, mein
eigenes Gedächtnis ist längst nicht so gut.«
»Ein schwacher Trost«, sagte sie sarkastisch und tappte auf der
Tischplatte herum auf der Suche nach einer neuen Zigarette. Ellwanger bot
ihr wieder seine geöffnete Schachtel an und gab ihr Feuer. »Sehen Sie, jetzt
haben Sie mich so aufgeregt, daß ich noch eine rauchen muß. So weit ist es
mit mir gekommen!«
»Wie war der Junge in der Klasse? Hat er sich mit seinen Kameraden
vertragen?«
»Das weiß ich nicht mehr. Wissen Sie, solche Kinder sind schwierig und
meistens nicht sehr beliebt. Sie beanspruchen die gesamte Aufmerksamkeit
für sich allein. Die man ihnen natürlich nicht geben kann, die anderen sind
ja auch noch da. Aber so war der Heiner, ein Nimmersatt, einer, den man
dämpfen mußte, sonst wäre von den anderen keiner mehr zu Wort
gekommen.«
»War er laut? Unruhig?«
»Nein, laut eigentlich nicht. Aber er meldete sich immer.«
»Wissen Sie vielleicht noch, wo er gewohnt hat?«
Das wußte sie nicht mehr. Aber sicher nicht in einer gutbürgerlichen
Gegend. Das Kind war wie gesagt in armen Verhältnissen aufgewachsen.
»Ist die Mutter vielleicht mal zu Ihnen in die Sprechstunde gekommen?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern, wahrscheinlich nicht.«
Sie redeten noch ein bißchen über Gerabronn, wie es sich verändert hatte
im Lauf der Jahre, redeten darüber, daß das Alter kein Zuckerschlecken sei,
so schlimm aber auch wieder nicht, wie manche behaupteten. Sie, Hedwig
Gumbrecht, beklage sich jedenfalls nicht. In ihrer Familie war es verboten
gewesen, sich zu beklagen, an diesen eisernen Grundsatz habe sie sich ein
Leben lang gehalten. Dann verabschiedete sich Ellwanger, ließ aber als
Gastgeschenk das angebrochene Päckchen Nil auf dem Tisch liegen.
»Das wäre aber nicht nötig, gar nicht nötig«, sagte sie und begleitete ihn
zur Haustür. Sie verabschiedeten sich wie gute alte Bekannte. Als sich
Ellwanger gerade von ihr abwenden wollte, schlug sie sich vor den Kopf:
»Jetzt hab' ich's! Blaschke hieß er. Ich wußte es doch, so ein
Allerweltsname, der aber nicht hier aus der Gegend stammt – Blaschke!
Heiner Blaschke!« Ihre Augen blitzten. Aufrecht stand sie vor ihm wie ein
kleiner Feldwebel.
Mehr aus Routine denn aus Notwendigkeit griff Ellwanger wieder nach
seinem Notizbuch, eine überflüssige Maßnahme. Den Namen hätte er
bestimmt nicht vergessen.
Als er im Auto saß, kamen ihm Zweifel. Ob dieser Heiner Blaschke mit
Paul Henrik Larson identisch war, das wußten bloß die Götter und, wenn er
Glück hatte, vielleicht das Einwohnermeldeamt. Er beschloß, dem Amt
einen Besuch abzustatten.
Mittagspause. Das Amt hatte geschlossen. Ellwanger ging in ein Café an
der Blaufeldener Straße, das es zu seiner Zeit noch nicht gegeben hatte.
Eine Glasfront zum Bürgersteig hin. Kein gemütliches Sofa-Etablissement
für ältere Damen, die hier auf ein paar Stündchen zu Kaffee und Kuchen
zusammenkamen, sondern ein kalter Schuppen, hauptsächlich von Schülern
frequentiert. Die maulfaule Art und die abgehackten Gesten einer
mürrischen Bedienung ließen ihn wissen, daß man hier tunlichst keine
Wurzeln schlagen sollte. Mit einem Lappen, der sicher schon einige Monate
in Gebrauch war, wischte sie den Tisch ab. Bei ihrer Wiederkehr knallte sie
das Omelette vor ihm auf die Platte. Im Brotkorb befanden sich zwei
gipserne Brötchen, von denen Ellwanger eines zur Hälfte aß. Mit dem
Trinkgeld hatte er allerdings weniger Probleme als in New York. Zur Strafe
ließ er nur fünfzig Cent auf dem Tisch liegen.
Das Amt lag ebenfalls in der Blaufeldener Straße. Es ging ziemlich ruhig
zu, kaum Publikumsverkehr. Ein linoleumbelegter Flur, wie er auf vielen
Ämtern üblich war, führte ihn zu Zimmer 22 im ersten Stock. Er klopfte.
Eine dünne Stimme ertönte. Ellwanger hielt sie für eine Frauenstimme, aber
es war ein Mann, der ihn empfing. Er fühlte sich offenbar gestört, sah
ungehalten von seinem Schreibtisch auf. Einige dünne Strähnen langer
schwarzer Haare waren von vorn nach hinten über den schon ziemlich
kahlen Schädel geklebt. Er trug eine zickige Wichtigtuerbrille auf der Nase,
rahmenlos. Erst als Ellwanger ihm seinen Ausweis zeigte, wurde er
freundlich, sogar ein wenig beflissen.
»Wie kann ich helfen?« Salopp überkreuzte er die Arme im Nacken, und
ohne die mühsame Frisur zu touchieren, lehnte er sich in seinem
Schreibtischstuhl zurück.
»Ich suche nach Unterlagen zu einem Heiner Blaschke, der in Gerabronn
vielleicht gelebt hat, auf jeden Fall hier Ende der siebziger Jahre zur Schule
gegangen ist. Vielleicht lebt seine Mutter noch. Deren Vorname ist mir
allerdings nicht bekannt.«
»Darf ich fragen, worum es geht?«
»Es könnte sich – ich betone, es könnte so sein, vielleicht stimmt das
aber nicht, ich muß Sie also bitten, das alles streng vertraulich zu
behandeln –, es könnte sich um einen Mann handeln, der in New York unter
falschem Namen lebt und in einen Mordfall verwickelt ist.«
»Oha! Das hat man nicht alle Tage!«
Sofort wurde der Mann hinter dem Schreibtisch aktiv. Er brachte seine
Arme nach vorne und sprang mit einem Ruck auf, so daß sein Stuhl einen
Meter zurückschnellte. »Dann wollen wir mal!«
Er lief in den angrenzenden Raum. Ellwanger folgte ihm. Der Mann
machte sich an einem Metallschrank zu schaffen. Mit flinken Fingern
durchforstete er die Karteikarten.
»Siebziger Jahre, sagen Sie?«
»1979 war er in der dritten Klasse Grundschule. Muß also um 1970
herum geboren sein.«
Der Mann betätigte seine Finger noch einmal. Dann warf er die
Schublade mit einem lauten Rums wieder zu. »Nichts zu machen. Der ist
hier nicht registriert. Wissen Sie, die älteren Daten sind noch nicht ins neue
System übertragen. Außerdem …«
Er legte den Finger an die Nase und grübelte. »Es gab hier vor einigen
Jahren einen Einbruch, allerdings lang vor meiner Zeit. Was eigentlich
geklaut worden war, wurde nie so ganz klar. Ein bißchen von der
persönlichen Habe eines ehemaligen Mitarbeiters wurde gestohlen. Seinen
Schrank hat man durchwühlt. Vielleicht wurden auch Karteikarten geklaut.
Der Schaden war jedenfalls gering. Es fehlte nichts Wesentliches. Die
Sache wurde nie aufgeklärt. Man hielt das damals für einen
Dummejungenstreich.« Sie kehrten in das Dienstzimmer mit dem
Schreibtisch zurück und setzten sich wieder hin.
»Wissen Sie noch, wann der Diebstahl stattgefunden hat?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls vor meiner Zeit. Ich habe erst 2005 hier
angefangen zu arbeiten.«
»Waren Sie zufällig auch in Gerabronn auf der Schule?«
Nein, das war er nicht. Der Sachbearbeiter Johannes Päschel – den
Namen entnahm Ellwanger der Aufschrift einer Aktenmappe, die auf dem
Schreibtisch lag – stammte aus Schwäbisch Hall und war dort auch zur
Schule gegangen.
So kam man hier nicht weiter. Ellwanger hatte die phantastische Idee,
daß Larson alias Blaschke inkognito in Gerabronn aufgekreuzt war, einen
Brand in der Schule verursacht und die Karteikarte im Einwohnermeldeamt
gestohlen hatte, um die Spuren seines früheren Lebens ein für allemal aus
der Welt zu schaffen. Er sah ihn vor sich: verkleidet, mit schwarzgefärbten
Haaren. Aber dann erschien ihm die Idee doch allzu phantastisch. Und was
war mit der Mutter? War sie noch irgendwo zu finden?
»Vielleicht lebt seine Mutter noch, wer weiß, vielleicht in irgendeinem
Altersheim.« Ellwanger hatte das mehr so vor sich hin gesagt, aber Päschel
griff den Gedanken sofort auf.
»Einen Moment, das läßt sich nachprüfen!«
Er entpuppte sich als hilfreicher Geist. Es war bestimmt das erste Mal,
daß er – wie er fälschlicherweise glaubte – an einer polizeilichen Ermittlung
teilnahm. Ellwanger hatte ihn von einem faden Dienstagnachmittag erlöst.
Urplötzlich war der Sachbearbeiter Johannes Päschel ein wichtiger Mann.
Und nun widmete er sich mit Leib und Seele seiner neuen Aufgabe. Er
schleppte einen Packen Telefonbücher an. Sie kehrten in den Raum mit den
Karteischränken zurück. Päschel legte die Telefonbücher auf den Tisch,
nahm einen Telefonapparat und schloß ihn an.
»Hier sind Sie ungestört und können bei den Heimen anrufen. Soll ich
Ihnen einen Kaffee bringen lassen?«
Ellwanger zeigte sich gerührt. »Sie sind sehr zuvorkommend! Wenn man
mich bei meiner Arbeit immer so unterstützen würde. Und ja, ein Kaffee
wäre jetzt genau das richtige.«
Päschel telephonierte mit ausladender Geste und wichtiger Miene. Bald
darauf erschien ein pickelübersätes Bürschle, wahrscheinlich ein Lehrling,
mit einem Kaffee, einem Milchkännchen, einer Zuckerdose und einer
Papierserviette, alles ordentlich angerichtet auf einem kleinen Tablett.
»Der Kaffee ist ausgezeichnet«, lobte Ellwanger die milchige Brühe,
»wenn es bei uns auf der Dienststelle doch auch einen so guten gäbe! Und
einen dienstbaren Geist, der ihn mir bringt, den könnte ich auch
gebrauchen.«
Päschel nickte würdevoll. »Dann will ich Sie nicht weiter stören – wenn
Sie mich brauchen, ich bin ja nebenan.«
Ellwanger nahm sich das Branchenbuch vor. Er begann mit den
Altersheimen von Gerabronn, das waren nur drei. Im Seniorenwohnheim
Azurit meldete sich eine forsche weibliche Stimme, nein, eine Frau
Blaschke gab es hier nicht. Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden. Im
Seniorenheim Bürger hatte er ebenfalls kein Glück. Auch in der
Seniorenwohnanlage kannte man die Frau nicht. Ellwanger erweiterte
seinen Suchradius. Im Crailsheimer Wolfgangsstift bekam er eine
freundliche weibliche Stimme an den Apparat, die wortreich bedauerte, ihm
nicht weiterhelfen zu können, aber leider, leider nein, eine Dame namens
Blaschke sei ihr gänzlich unbekannt. »Ein Name, den man schließlich nicht
vergißt!« sagte sie noch, obwohl das sehr wohl ein Name war, den man
vergessen konnte, dann war das Gespräch zu Ende.
In Blaufelden und Ilshofen – ebenfalls Fehlanzeige. Er probierte es in
Schwäbisch Hall, hier gab es eine ganze Menge von Einrichtungen, die in
Frage kamen. Aber nein. Im Altenwohnheim Rudolf Popp wurde er recht
unwirsch abgefertigt, weder Am Gänsberg kannte man die Dame noch im
Nikolaihaus, noch im Seniorenhaus Hessental. Im Evangelischen
Diakoniewerk war irgendein Wurm in der Leitung. Ellwanger mußte ein
zweites Mal anrufen, bis die Verbindung klappte. Und – o Wunder – jawohl,
sie hatten eine Heimbewohnerin namens Blaschke. Was er denn von ihr
wolle? »Am besten, ich komme vorbei und erkläre es Ihnen«, sagte
Ellwanger und legte auf.
Bevor er ging, schärfte er Johannes Päschel ein, daß er zu keiner Seele
etwas sagen dürfe, man wolle die Ermittlungen in diesem frühen Stadium
keineswegs an die große Glocke hängen. Päschel grinste und hob die Hand
zum Schwur: »Großes Indianerehrenwort, ich schweige wie ein Grab!«
Ellwanger grüßte leicht militärisch, mit der Hand an einem nicht
vorhandenen Képi, und schloß sanft die Tür.
X
Als er vier Tage später im Pierre wieder dieselbe Suite bezog, hatten sich
drei Dinge verändert. Eine neue schwarze Tasche stand auf der
Kofferablage, im Zahnputzglas steckte eine tadellose Bürste mit strammen
Borsten und stromlinienförmigem Astronautengriff, das Jackett für den
Abend, so ein graubraunblauschwarz gemustertes Ding aus feinem Stoff,
saß tadellos. Ellwanger war nicht mehr ganz derselbe Ellwanger von
vorletzter Woche, auch wenn sich an seinen Prinzipien nichts geändert
hatte. Morgen vormittag würde er Trevillyan einen Bericht abstatten, ihm
empfehlen, einen amerikanischen Detektiv zu beauftragen, um das
Verschwinden von Anton Bilfinger aufzuklären, und eventuell eine
argentinische Agentur zu Rate zu ziehen, um mehr über Enrique Fernando
Lightowler-Stahlberg in Erfahrung zu bringen. Seine, Ellwangers, Mission
war hiermit beendet. Nein, das große Honorar würde er auf keinen Fall
annehmen, die Erstattung der Auslagen und insgesamt acht Tagessätze zu
jeweils vierhundert Dollar, die ja.
Für den Abend war er wieder mit Frau Kirchschlager und ihrem Sepp
verabredet. Diesmal wurde er nicht vom Hotel abgeholt, den Weg zu ihrer
Wohnung fand er allein, ging aber nicht quer durch den Park, sondern außen
herum. Eine sternenklare Nacht mit magerem Mond, kein Schneefall von
oben, aber Schneeberge noch immer am Rand der Gehsteige. In der
Wohnung mit der mondbeschienenen Akropolis fühlte er sich inzwischen
wie zu Hause. Sepp hatte wieder vorzüglich gekocht, beim Essen erzählte
Ellwanger der Reihe nach haarklein, was er in Erfahrung gebracht hatte
oder vielmehr nicht in Erfahrung hatte bringen können. Sepp machte den
berühmten Ausruf eines deutschen Fußballreporters im Radio der siebziger
Jahre nach: »Das ist aber wenig wenig!« Ror Wolf hatte ihn auf einer
Schallplatte verewigt. In der Tat, das war weniger als wenig. Das war bloß
ein dürftiges Nichts.
Sepp gab sich damit nicht zufrieden. »Weißt was, mir fahr'n morgen
z'sammen nach Long Island 'naus und schau'n mal, ob wir über das Boot
was rausfinden.«
Die Idee war Ellwanger auch schon gekommen, aber er hatte sie wieder
ad acta gelegt, vielleicht weil ihm der Gedanke unbehaglich war, eine
zweite Fahrt mit Catherine unternehmen und dabei mehr unangenehme
Dinge aufrühren zu müssen, als ihm lieb war, Dinge, die er ihrem Vater
nicht würde berichten können. Sein eigentlicher Auftrag hatte ja auch darin
bestanden, in seiner Heimat zu recherchieren und nicht in der Umgebung
von New York. Den Termin mit Trevillyan würde er für morgen absagen
müssen.
Frau Kirchschlager begrüßte die Idee. Sie wäre am liebsten selbst
mitgefahren, war morgen im Museum aber nicht abkömmlich.
Als sie beim Birnendessert angelangt waren, wurde die Stimmung ein
klein wenig komplizierter. Ellwanger hatte sich dazu entschlossen, seine
Vermutung zu erwähnen, daß Catherine vielleicht, aber nur vielleicht, eine
Affäre mit Larson gehabt haben könnte, und das machte sie natürlich auch
zu einer Verdächtigen, falls man tatsächlich weiterhin von einem
gewaltsamen Tod der Schwester ausgehen wolle. Er drückte sich sehr
umständlich aus, gab gleich dreifach zu verstehen, daß dies wahrscheinlich
alles Unsinn sei und zu nichts führe. Auf die Verschwiegenheit derer hier
am Tisch müsse hierin absolut Verlaß sein. Nichts, rein gar nichts sei
bewiesen. Falls sich ein so ungeheuerlicher Verdacht aber bewahrheiten
sollte, sei er jedenfalls nicht derjenige, der dies dem alten Trevillyan
beibringen wolle.
Sepp sagte nur: »Complicado! Complicadissimo!« Frau Kirchschlager
stand auf und suchte etwas im Sekretär, der nahe am Fenster stand.
Ellwanger ärgerte sich über sich selbst, daß er mit all dem unbewiesenen
Zeug über Catherine herausgerückt war. In München hätte er so etwas
niemals getan. In München wäre er einem Catherine ähnlichen Geschöpf
niemals begegnet. Und eine Fallbesprechung wäre über den kleinen Kreis
an Kollegen, die damit betraut waren, nicht hinausgelangt. Aber in der
fremden Stadt war Ellwanger ein anderer Mensch. Mit irgend jemandem
mußte er über mögliche Fährten und Komplikationen sprechen. Und bei
Frau Kirchschlager konnte er sicher sein, daß sie den Mund halten würde,
ihr Sepp wahrscheinlich auch.
Sie kramte eine ganze Weile im Sekretär herum. Mit einem Photo kehrte
sie an den Tisch zurück und überreichte es Ellwanger.
»Da sind sie alle beisammen, so ziemlich alle jedenfalls.«
Es war ein Hochzeitsphoto, keines, das ein bestellter Photograph schießt,
wenn das Paar aus der Kirche kommt. Es zeigte das Ende des Fests. Die
Leute sahen schon ziemlich derangiert aus. Vicky verschwitzt. Catherine
wie abwesend auf einen Stuhl gesackt, wahrscheinlich betrunken, einige
Unbekannte drum herum, Arrowsmith etwas vornübergebeugt im
Hintergrund stehend, mit einem Glas in der Hand. Der alte Trevillyan war
nicht darauf zu sehen. Dafür Larson. Larson beherrschte die Szene. So ein
Fest und etliche Gläser Alkohol, die wahrscheinlich in ihn hineingeflossen
waren, konnten ihm gar nichts anhaben. Er sah aus wie frisch geduscht,
frisch mit Rasierwasser benetzt, frisch gekämmt und frisch gebürstet. Das
Hemd tadellos in Form. Kein Knitterfältchen auf dem Anzug. Ein
Vorzeigegeschöpf, dem nichts und niemand etwas anhaben konnte, auch
nicht die Heirat mit einer reizlosen Frau, die ihm wahrscheinlich soviel
bedeutet hatte wie die Bürste, mit der er seine Schuhe auf Hochglanz
brachte, falls er derart profane Dinge überhaupt selbst erledigte.
Am nächsten Morgen bat er den Butler von Trevillyan, seinem Herrn
auszurichten, daß er heute nicht kommen könne. Eine neue Spur habe sich
ergeben, die er noch verfolgen wolle.
Die Fahrt nach Long Island gestaltete sich deutlich ruhiger als beim
ersten Mal. Sepp war der geborene Autofahrer. Er fuhr ruhig, überholte
zügig und redete kaum, was Ellwanger nur recht sein konnte. Als sie kurz
im Stau steckenblieben, verschränkte Sepp die Arme und wartete geduldig.
Kein Gehampel, kein Lenkradgeklopfe, kein Geseufze, keine Prognosen.
Als es weiterging, nickte Ellwanger ein bißchen ein. Das war der höchste
Vertrauensbeweis, den er einem anderen Autofahrer zollte.
In Southampton angelangt, gingen sie erst mal einen Kaffee trinken in
einem kleinen Laden, der etwas tantenhaft wirkte. Nach dem üppigen
Frühstück im Pierre nahm Ellwanger mit einem ziemlich starken Kaffee im
Becher vorlieb, der aus einer Kanne mit Blumendekor ausgeschenkt wurde.
Aber Sepp war mit leerem Magen losgefahren und brauchte unbedingt
etwas Habhaftes zwischen die Zähne. Zwei Spiegeleier mit Bacon.
Ellwanger nahm das Photo, das Frau Kirchschlager ihm mitgegeben
hatte, aus seiner Jacke und ließ Sepp die Frau hinter der Theke, die die
gebratenen Eier servierte, fragen, ob eine der Personen ihr bekannt
vorkomme. Sie deutete auf Arrowsmith – der vielleicht, aber sicher sei sie
sich nicht.
»Wieso ausg'rechnet Arrowsmith? Der hat hier eigentlich nix verloren.«
Sepp sagte das mehr zu sich selbst.
Ellwanger mahnte zur Vorsicht. »Erstens hat sie ihn nicht eindeutig
erkannt. Und zweitens: warum soll der Bursche nicht mal hier gewesen
sein? Es gibt doch sicherlich massenhaft New Yorker, die am Wochenende
mal nach Southampton rausfahren.«
Sepp nickte. »Da spricht der Kriminalist. Ich hab' in solchen Dingen
keine Ahnung.«
»Man muß auch das Wahrscheinliche berücksichtigen. Das ganz und gar
Unwahrscheinliche kommt ziemlich selten vor. Außerdem haben wir
Arrowsmith ja nicht als Verdächtigen auf der Liste.«
»Wär' möglich, daß er in die Vicky verliebt war. Ich meine, wirklich
verliebt, net bloß als Heiratsschwindler.«
»Tatsächlich?«
»Möglich wär's. Sicher bin ich mir da net. Er hat mir jedenfalls sein Herz
net ausg'schüttet. Aber die paar Mal, die ich Vicky gesehen habe, war er
immer in der Nähe und hat sie verfolgt … na ja, mit sorgenvollen Blicken,
könnte man sagen. Ob da was dran ist, keine Ahnung.«
»Immerhin ein interessanter Aspekt, der aber nicht unbedingt dafür
spricht, daß er sie mit Schlafmitteln vollgepumpt und über die
Terrassenbrüstung geworfen hat.«
Sepp lachte. »Das wollt' ich damit au' net behauptet haben.«
»Aber vielleicht weiß er mehr, als er zugibt.« Ellwanger faßte den
Entschluß, Arrowsmith ein wenig auf den Zahn zu fühlen, bevor er mit
Trevillyan redete.
Er nahm aus seinem Becher einen bedächtigen Kaffeeschluck, der längst
nicht so gut schmeckte wie das, was ihm der Ober heute früh im Pierre aus
einem Silberkännchen in eine zarte Tasse gegossen hatte. Unvergeßlich, wie
der Ober mit einem Zänglein ein Stück Würfelzucker gepackt und es
ballettartig durch die Luft geschwenkt hatte, bis Ellwanger ihm erlaubte, es
in seiner Tasse zu versenken. »Mir erscheint das ganze Todesmanöver
ziemlich dick aufgetragen. Erst die volle Ladung Schlafmittel, die vielleicht
schon allein ausgereicht hätte, und dann noch springen.«
»Vielleicht war die Frau besonders entschlossen.«
»Mag sein. Mir kommt's trotzdem reichlich übertrieben vor. Oder war sie
theatralisch veranlagt?« Ellwanger schob seinen Becher unschlüssig auf der
Theke hin und her, weil er sich nicht recht überwinden konnte, weitere
Schlucke daraus zu nehmen.
»Keine Ahnung. Ich weiß viel zuwenig über sie, hab' sie höchstens vier-,
fünfmal g'sehen, kaum mit ihr g'sprochen. Ich hab' aber mal eine Frau
gekannt, die ist von einer Brücke g'sprungen und hat sich dann noch
zusätzlich von einem Schwerlaster überfahren lassen. Die Brücke allein
hätt' schon genügt.«
Ellwanger zog dazu nur die Stirn in Falten und murmelte: »Klingt
extrem, ziemlich extrem. Sind aber schon ganz andere Dinge
vorgekommen.« Er wollte lieber nicht wissen, ob die Brückenspringerin
Sepps Freundin gewesen war.
Angenehm war so ein Ausflug, wenn man sich um nichts kümmern
mußte. Ellwanger brauchte sich um gar nichts zu kümmern. Offenbar war
Sepp schon öfter am Hafen von Southampton gewesen. Jedenfalls hatte er
keine Karte nötig, um sich zu orientieren. Das Gelände war menschenleer.
Winterlich, schneebefallen, vom Meer her nur kleines Wassergeschiebe,
leises Gemurmel und sanftes Aufschlagen am Strand, Gesäusel einer
machtlosen Gischt, darüber Möwengeschrei. Nur wenige Boote lagen, mit
Planen abgedeckt, im Wasser. Die kleineren waren wohl in die Schuppen
gezogen worden, die an den Strand grenzten.
Sie stapften gut zehn Minuten herum. Ellwanger hatte zwar etwas
solidere Schuhe angezogen als bei seinem ersten Strandabenteuer, aber zum
Einsinken in den Schnee waren auch sie nicht gemacht. Die beiden folgten
den Fußspuren, die zu einem hölzernen Gebäude mit einer weit
ausschwingenden Veranda führten, in dem offensichtlich so etwas wie die
Verwaltung über die Anlage der Liegeplätze untergebracht war.
Bei ihrem Eintritt läutete ein Glöckchen über der Tür, aber es zeigte sich
zunächst niemand. Fischernetze und Rettungsringe ringsum an den
Wänden, dazu kolorierte Stiche mit Fischen und anderen
Meeresbewohnern. Ein Schaukasten, in dem verschiedenfarbige Köder zum
Angeln ausgestellt waren, faszinierte Ellwanger. Die Dinger waren hübsch,
teilweise waren es ausgeklügelt exzentrische Gebilde, einige mit
knallbunten Federchen. Die hätten ihn nun aber nicht dazu verleiten
können, stundenlang auf einem Boot zu hocken und darauf zu warten, bis
sich an der Angel ein Zucken bemerkbar machte. Sein Sport bestand darin,
in die Gesichter von Verdächtigen zu schauen, ob da vielleicht etwas
zuckte.
Nach zwei, drei Minuten kam hinter dem Vorhang ein dicklicher Latino
hervor. Ein blauer Pullover mit aufgesticktem Anker umspannte seinen
Bauch. Er war noch jung, war mürrisch, sagte kurzangebunden etwas, das
Ellwanger nicht verstand. Vielleicht hatten sie ihn beim Verdauungsschlaf
gestört. Seine geölten Löckchen lagen ihm etwas wirr um den Kopf,
geradeso, als hätte er diesen Kopf vor kurzem noch in ein Kissen
verwurstelt.
Sepp war die Zuvorkommenheit in Person. Der geborene Diplomat. Er
wußte offenbar, wie man mit schwierigen Kandidaten umging, stellte
Ellwanger als einen bedeutenden Kommissar aus Deutschland vor, der für
Ermittlungen in einer enorm diffizilen Sache extra in die Vereinigten
Staaten gereist war. Der Mann zögerte, fühlte sich dann aber sichtlich
geschmeichelt, daß sein Rat in einer so hochwichtigen Angelegenheit
gefragt war. Sie zeigten ihm das Hochzeitsphoto, das Frau Kirchschlager
ihnen mitgegeben hatte, zeigten ihm andere Aufnahmen von Larson und
eine von Anton Bilfinger.
Das Photo von Bilfinger schob er gleich beiseite. Den hatte er ganz
bestimmt noch nie gesehen. Aber Larson schien er gut zu kennen, sehr gut
sogar, was weiter nicht verwunderlich war. Der Mann, der in eine reiche
Familie eingeheiratet hatte, war hier offenbar ein angesehener Kunde.
Vicky war ihm unbekannt. Aber er tippte mit dem Finger auf Catherine –
good looking lady –, die anscheinend mehrfach mit Larson auf dem Boot
gewesen war. Und Arrowsmith, den hatte er auch schon öfter in der Anlage
gesehen, obwohl er kein Boot hier liegen hatte.
Er wußte auch, wann und an wen Larsons Boot verkauft worden war, an
einen Kanadier, der in Sydney lebte, hier in Southampton aber keinen
Liegeplatz hatte. Das Boot war sofort nach dem Verkauf weggeführt
worden, wahrscheinlich nach Kanada. Seitdem hatten sich weder Larson
noch Catherine, noch Arrowsmith hier blicken lassen.
Ob er davon gehört hatte, daß Larsons Frau gestorben war? Der Mann
steigerte sich in eine kleine Ekstase hinein. O yes, yes, natürlich hatte er.
Das war hier ja über einige Wochen Thema gewesen. Als er erfuhr, daß
Larson eine andere Frau gehabt hatte, war er sehr überrascht gewesen. Er
hatte immer Catherine für dessen Frau gehalten. Abschließend ließ er einige
philosophische Bemerkungen über die Seelen von Männern und Frauen
vom Stapel, in denen das Wort human being gut zwanzigmal vorkam – man
lerne nie aus (beim human being), obwohl er selbst ein Menschenkenner sei
(über das human being durch und durch Bescheid wisse), jawohl, da könne
man sagen, was man wolle, die menschliche Existenz sei ein Rätsel
(obwohl man ihm, was das human being betraf, nichts vormachen könne),
wer hätte das gedacht (er denke viel über das human being nach), es gebe
viel Böses im Menschen (auch da könne man ihm nichts vormachen, denn
das human being sei nun mal eher böse als gut), er habe da so seine
Erfahrungen (was das human being betraf), die könne ihm keiner nehmen.
Ganz kurz ging Sepp dazwischen, um ihm zu versichern, daß sie
keinesfalls vorhätten, ihm seine Erfahrungen zu nehmen.
Der Mann ließ sich nicht beirren. Abschließend hatte er den Kopf
gesenkt und zu flüstern begonnen, hatte den rechten Arm auf die
Empfangstheke gestützt, den fleischigen Zeigefinger gehoben und die Stirn
in sorgenvolle Falten gelegt, geradeso, als hätte ihm das Universum eine
bedeutsame Denkaufgabe gestellt. Wenn Ellwanger ihn richtig verstand,
war das human being für so manche Überraschung gut. Wohl wahr. Dazu
konnten die beiden Fragesteller nur andächtig nicken und mit mokant
verzogenen Ironiemündern einander heimlich zublinzeln.
Auf dem Rückweg zum Auto konnten sie nur schwer an sich halten. Sepp
war ein hervorragender Komödiant. Immer wieder hob er den Zeigefinger
gen Himmel. »Drr Mensch is dös Rätsel, drr Mensch, dös human being!«
Ellwanger war zwar guter Stimmung und genoß den Ausflug mit Sepp,
aber das Ganze hatte nicht allzu viel gebracht. Eine weitere Verbindung
zwischen Bilfinger und Larson konnte nicht nachgewiesen werden. Daß
Larson mit Catherine ein Verhältnis gehabt hatte, wußte er. Es war
allerdings wohl sehr viel intensiver gewesen, als sich Ellwanger das bisher
vorgestellt hatte. Neu im Spiel war nur Arrowsmith. Aber warum sollte der,
wenn er tatsächlich in Vicky verliebt gewesen war, sie umgebracht haben?
Hatte er Larson hinterherspioniert? Um Vicky davon zu erzählen? Wenn das
der Fall war, so gab es tatsächlich einen massiven Grund, von Selbstmord
auszugehen. Oder hatte Vicky scharf reagiert und Larson gedroht, sich
scheiden zu lassen, und der hatte sie daraufhin umgebracht? Lauter
unbewiesenes Zeug, reine Spekulation, mit der sich keine klaren Aussagen
treffen ließen. Er nahm sich vor, danach zu fragen, ob es in Vickys Haus
Personal gegeben hatte, das vielleicht mehr über die Verstörung der
Hausherrin wußte. Wollte man Larson nicht davon in Kenntnis setzen, daß
Ermittlungen gegen ihn im Gange waren, war das allerdings kein leichtes
Unterfangen.
Sein Bericht an Trevillyan würde sich schwierig gestalten. Ihm konnte er
nicht davon sprechen, daß seine ältere Tochter mit Vickys Mann eine Affäre
unterhalten hatte, erst recht nicht, seitdem er selbst mit Catherine eine
Nacht verbracht hatte.
Aber mit Arrowsmith sollte er ein Wörtlein reden. Als sie nach New
York zurückkehrten, war es gegen fünf Uhr. Sepp lieferte ihn vor dem
Eingang des Pierre ab und versprach, nachher bei ihm anzurufen und ihm
die Handynummer von Arrowsmith durchzugeben. Ellwanger war zwar im
Besitz von Arrowsmith' Visitenkarte gewesen, hatte sie aber offenbar in
Solln vergessen. Die Kirchschlagerin besaß die Nummer, weil sie während
der Arbeit an Trevillyans Wandteppich einige Male mit dem Sekretär
telephoniert hatte.
Ellwanger rief Arrowsmith vom Hotel aus an. In ziemlich tadellosem
Englisch brachte er heraus, daß er sich gern mit ihm treffen würde. Es
hätten sich da ein paar Fragen ergeben. Arrowsmith war reserviert am
Telephon, ein etwas anderer Mann als der hilfsbereite, den Ellwanger bisher
kennengelernt hatte. Seine Stimme hatte einen härteren Klang als sonst.
Eine Verabredung noch an diesem Abend schien ihm nicht recht in den
Kram zu passen. Aber dann gab er sich einen Ruck und fand zu seiner
verbindlichen Art zurück. Gut. Wenn Ellwanger wolle, könnten sie sich
für später zum Essen verabreden. Das war Ellwanger zwar nicht unbedingt
recht, denn beim Essen ließ sich schlecht eine Befragung, gar etwas, was
einem Verhör näher kam, durchführen, aber er willigte ein, weil es ihm auf
englisch zu kompliziert schien, einen anderen Weg des Treffens zu
vereinbaren.
XIII
Damit hatte er nicht gerechnet. Er erkannte die Stimme sofort, der Mann
hätte nicht mal seinen Namen nennen müssen. Eine angenehme Stimme,
nicht aufdringlich, nicht hektisch, sondern überlegen, freundlich, ruhig. Die
Seelentrösterstimme begann sich dafür zu entschuldigen, daß sie ihm
neulich abends keine Zeit habe widmen können. Aber nun wolle sie das
gerne nachholen, wenn der deutsche Freund der Frau Kirchschlager es
gestatte.
Ellwanger war viel zu verblüfft, um eine annehmbare Antwort
herauszubringen. Am Telephon war sein Englisch noch schlechter als sonst.
Der Mann am anderen Ende der Leitung schlug ein Treffen vor – falls
Ellwanger für diesen Abend noch nichts vorhabe, könne es auch gern heute
sein. Ellwanger willigte ein, einfach weil er nicht recht wußte, wie ihm
geschah. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, die Verabredung auf
morgen zu verschieben, aber es ging alles so schnell. Ellwanger notierte die
Adresse, dann war das Gespräch auch schon zu Ende. Er hatte sich nicht
einmal mehr für die Einladung bedanken können.
Vor lauter Aufregung warf er sich wieder aufs Bett, hielt es dort aber
nicht lange aus, sondern lief im Zimmer auf und ab. Weshalb dieser Anruf?
Was sollte das? Er konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf
machen. Um seiner Erregung Herr zu werden, wählte er die Nummer der
Kirchschlagerin, legte aber sofort wieder auf, weil es ihm verfrüht schien,
ihr von der seltsamen Einladung zu erzählen.
Er beschloß, zu Fuß zu gehen. Es hatte wieder zu schneien begonnen,
und er lieh sich vom Hotel einen Schirm, denn als Schneepudel wollte er
bei Larson nicht aufkreuzen. Der Portier unter dem Baldachin hob die Arme
und murmelte etwas, das sich wahrscheinlich aufs Wetter bezog. Die
Flocken fielen in dichten Reihen, als wären sie bestrebt, in dieser Nacht
ganz New York unter sich zu begraben. Wegen des weißen Getreibes waren
die Straßen verstopft. Die Taxis kamen nur langsam voran, sie schlichen
mehr durch die Winternacht, als daß sie fuhren; einige von ihnen hatten
bereits eine ziemliche Ladung Schnee auf dem Dach, und ihre
Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren. Ellwanger liebte dramatische
Wetterlagen, er liebte das Knirschen des Schnees unter seinen Schuhen, er
war aufgekratzter Stimmung und schritt kräftig aus. Störend war nur, daß er
alsbald feuchtkalte Füße bekam, als er es diesmal wagte, quer durch den
Central Park zu gehen. Der Schnee lag auf den Wegen schon ziemlich hoch.
Er hatte Schwierigkeiten, in der Neunundsechzigsten Straße die
Hausnummern zu erkennen. Zuerst war er auf der falschen Seite marschiert,
mußte umkehren und ein Stück zurücklaufen. Es dauerte, bis er vor dem
richtigen Haus stand. Es war nicht allzu groß, jedenfalls kein
mehrgeschossiges Mietshaus. Dem Namensschild war zu entnehmen, daß
hier nur eine Partei wohnte. Aus einigen der Fenster drang warmes,
diskretes Licht. Kleiner Vorgarten mit kugeligen Büschen unter einer
weißen Decke, davor ein elegant geschwungenes Tor mit weißem Besatz
auf den gebogenen Eisenstreben. Ellwanger klingelte, es dauerte eine Weile,
bis der Summer ertönte. Dann stand Larson im beleuchteten Eingang und
winkte ihn herein.
Ellwanger klopfte an der Schwelle den Schnee von seinen Schuhen. Der
Hausherr half ihm aus dem Mantel, schüttelte die Flocken davon ab und
versorgte seinen Schirm.
»That's quite some weather we're having, isn't it?« sagte er freundlich
und ließ Ellwanger ins Wohnzimmer vorausgehen. Ein Raum mit zwei
Abteilungen, in dem man sich sofort wohl fühlte, nicht klein, nicht allzu
groß. Im Kamin brannte ein Feuer. Larson bot ihm einen Sessel davor und
einen Drink zum Aufwärmen an. Eine interessante Flasche erregte
Ellwangers Interesse – ein Meukow Extra Old Cognac mit springendem
Raubtier auf dem Etikett. Ein echter Aufmerksamkeitsfänger, wie er da so
als Prachtstück neben zwei Gläsern auf dem Beistelltisch stand. Weil
Ellwanger zunächst einen klaren Kopf behalten wollte, bat er jedoch um ein
Glas Wasser. Das Wetter habe ihn etwas durstig gemacht. Ein alkoholisches
Getränk würde er später allerdings gern zu sich nehmen.
Wahrlich, in so einem Gehäus ließ es sich leben. Für einen Augenblick
dachte Ellwanger an seine niedrigen Zimmerchen in Solln und empfand
Neid. Obwohl exquisite Antiquitäten und auch einige moderne Möbel
herumstanden, wirkte der Raum nicht überstopft. Besonders schön war ein
chinesischer Schrank mit kleinen quadratischen Schubfächern, lackiert in
Dunkelgrün und Braun, versehen mit Schriftzeichen auf jeder Lade. Larson
paßte perfekt in diese Umgebung. Er war heute leger gekleidet, trug einen
dunkelgrauen Pullover über dem Hemd und eine dunkle Hose. Der Saum
seines blonden Haares leuchtete, als würden sämtliche Glühbirnen speziell
für ihn ihr Licht spenden. Es war schwer, den Blick von ihm abzuwenden.
Die modernen Gemälde an den Wänden waren von ganz anderer Qualität
als das, was Ellwanger bei den Parkers gesehen hatte. Das sommerflirrende
Porträt einer lasziven Frau in einem Korbstuhl begeisterte ihn. Ellwanger
stand auf und bat um die Erlaubnis, das Bild näher betrachten zu dürfen. Sie
hatte ein helles Kleid an, saß mit schlanken entblößten Armen im Garten
und trug einen Strohhut auf dem Kopf. Ihre braunen Augen blickten ein
wenig skeptisch, trotzdem schien die Frau mit sich im reinen zu sein, und
der Maler hatte offenbar Vergnügen daran gehabt, ihre Schönheit zur
Geltung zu bringen.
Larson erklärte ihm, daß es sich um die Mutter seiner verstorbenen Frau
handele. Er habe sie leider nicht mehr kennengelernt, Vicky sei ja als
Halbwaise aufgewachsen, aber dem Porträt nach zu urteilen, müsse sie
sympathisch gewesen sein. Dem konnte Ellwanger beipflichten. Catherine
war dunkler geraten als ihre Mutter, Haare und Augen der Frau im Bild
waren heller als diejenigen Catherines.
»Sah Ihre Frau ihrer Mutter ähnlich?« fragte Elwanger.
»Nicht ganz. Beide Töchter sind anders, sie haben beide auch etwas vom
Vater. Im Falle meiner Frau muß ich wohl leider sagen: sie hatte.«
»Jedenfalls ist das ein sehr schönes Bild«, sagte Ellwanger, »ich wundere
mich, daß Trevillyan es Ihnen überlassen hat.«
Larson lachte. »Nun, er besitzt mehrere Porträts seiner Frau, und sie sind
alle ziemlich gut. Da konnte er auf eines verzichten und es seiner Tochter
schenken. Aber falls er es wiederhaben möchte, gebe ich es ihm natürlich
zurück.«
Die Herren setzten sich wieder an den Kamin, Larson gab sich ganz als
der zuvorkommende Schwiegersohn, der dem alten Trevillyan keinen Ärger
bereiten wollte. Dann driftete das Gespräch in eine andere Richtung. Larson
fragte Ellwanger, ob er häufiger in New York sei. Nein, zum ersten Mal,
und zwar auf Einladung seiner Vermieterin. Eine Vermieterin, wie man sie
sich nur wünschen könne – zugewandt, herzlich, er scheue sich nicht zu
sagen, Frau Kirchschlager sei ein guter Mensch. Das mit dem guten
Menschen kam etwas komisch heraus, denn Ellwanger sprach von einem
good fellow, merkte aber den Unsinn, den er da zusammenredete, und
entschuldigte sich für sein miserables Englisch.
Larson antwortete sehr verbindlich, daß er selbst überhaupt kein Deutsch
könne, die Amerikaner seien leider ziemlich sprachfaul, und er sei auch so
ein sprachfaules Exemplar. Sein Vater sei Norweger gewesen, und einige
norwegische Wörter seien deshalb bei ihm hängengeblieben, aber keine
Rede davon, daß er das Norwegische beherrsche. Ein klein bißchen
Französisch könne er, aber ebenfalls sehr schlecht, und einige Brocken
Spanisch, weil man es hier oft mit spanisch sprechenden Hausangestellten
zu tun habe. Er war so höflich, Ellwangers Englisch zu loben, das so
fürchterlich gar nicht sei, wie er, Ellwanger, tue; wenn er ein bißchen länger
hier wäre, würde es sicher bald recht flott damit gehen.
Mit solchen Nichtigkeiten vertrieben sie sich die Zeit. Ellwanger trank
aus seinem Wasserglas.
Dann fragte ihn Larson nach seinem Beruf. Ellwanger antwortete
wahrheitsgemäß, daß er Kriminalkommissar sei, vielmehr gewesen sei,
denn derzeit sei er außer Dienst. Larson zeigte sich interessiert, das sei
sicherlich ein sehr spannender Beruf.
»Selten«, sagte Ellwanger, »die meiste Zeit verbringt man in einem
muffigen Büro und hat einen Berg Papier vor sich liegen.«
»Aber Sie müssen doch ein guter Menschenkenner sein, um so einen
Beruf auszuüben.«
»Darauf verläßt man sich besser nicht. Allein damit kann man einem
Verbrecher nicht beikommen.« Ellwanger sagte only with that you can't
come along with a criminal, und er wußte sofort, daß das grottenfalsch sein
mußte, aber Larson schien zu verstehen, was er meinte.
»Und was führt Sie nach New York?«
»Meine Vermieterin hat mich hierher gelockt, und ich bin ihr sehr
dankbar, daß sie so hartnäckig gewesen ist.«
»Es war nicht zufällig mein Schwiegervater, der alles arrangiert hat?«
»How did you come to this idea?« Das war reinstes Lübke-Englisch,
Ellwanger war sich im klaren darüber, aber das war nun seine geringste
Sorge.
Larson lächelte und schaute gedankenverloren auf sein Glas mit dem
bernsteinfarbenen Meukow. Dann sah er Ellwanger direkt in die Augen:
»He thinks that I killed his daughter.«
In Ellwanger Kopf ging ein Blitzgewitter nieder. Die widersprüchlichsten
Antworten schwirrten in seinem Kopf. Der Kerl wußte also genauestens
Bescheid. Mit Ausreden war hier nichts zu gewinnen.
»Und, haben Sie es getan?« fragte Ellwanger zurück. Es klang hart und
klar.
Larson senkte den Kopf und sah wieder auf seinen Cognac. Er sprach
etwas stockend, mit einer melancholischen Note. Daß ein so schwerreicher
Mann wie sein Schwiegervater einen solchen Verdacht hege, könne er
verstehen. Aber nein, er habe Vicky nicht getötet. Impossible. Dieses
impossible wiederholte er gleich mehrfach, drehte das Glas in seiner Hand
und wiegte dazu den Kopf hin und her.
Dann blickte er wieder auf. Er müsse sich vorwerfen, daß Vicky mit ihm
vielleicht nicht sonderlich glücklich gewesen sei und er ihre tiefe
Verzweiflung nicht erkannt habe. Er gebe auch zu, das Geld habe bei der
Heirat für ihn eine gewisse Rolle gespielt. Im Vergleich zu seiner Frau sei er
ja ein armer Schlucker gewesen. Aber trotz allem – er habe Vicky sehr
gemocht, vielleicht nicht unbedingt heiß begehrt, das wohl weniger, aber sie
sei ein äußerst freundlicher, großzügiger Mensch gewesen, völlig
undenkbar, ihr etwas anzutun.
»I miss her, I really miss her, I owe her so much, it's difficult to explain.«
Das klang überzeugend. Es wurde auch nicht wie am Schnürchen
heruntergespult, dazwischen machte Larson Pausen, einige Worte hingen in
der Schwebe – kind, friendly, generous –, weil es ihm offenbar schwerfiel,
die Sätze korrekt zu beenden. Seine Stimme war belegt, er redete wie
jemand, der intensiv über etwas nachgrübelte, ohne die passende Antwort
zu finden; als müsse er sich über etwas klarwerden und sehe doch nur alles
verschwommen, fast, als wäre da außer ihm selbst niemand im Raum.
Ellwanger war sich sicher: der Mann trauerte um seine Frau. Daß er sie
umgebracht haben könnte, rückte in weite Ferne.
Dann riß sich Larson zusammen und sah Ellwanger an. Er sprach wieder
mit klarer Stimme. Daß alle Leute um seinen Schwiegervater herum ihm
gegenüber mißtrauisch seien, wisse er, auch habe er mal im Vorbeigehen
von dessen Sekretär eine Bemerkung aufgeschnappt, die klarmachte, daß
man ihn für den Mörder seiner Frau hielt und Erkundigungen über ihn
einzog. Wahrscheinlich habe Trevillyan mehrere Leute auf ihn angesetzt. Er
hoffe nur, daß dieser Alptraum bald vorüber sei.
»Gab es denn Anzeichen dafür, daß Ihre Frau vorhatte, sich
umzubringen? Hat sie solche Absichten jemandem gegenüber geäußert?«
»Mit mir hat sie jedenfalls nicht darüber gesprochen. Ich merkte schon,
daß sie bedrückt war. Aber ich hielt es für eine leichte Verstimmung.
Generell kam sie sich wohl ziemlich nutzlos vor. Sie suchte nach etwas, das
ihrem Leben einen Sinn hätte geben können.«
»Hätte sie gern Kinder gehabt?«
»Ja, das hätte sie. Aber Vicky konnte nicht schwanger werden. Wir haben
schon überlegt, vielleicht ein Kind zu adoptieren.«
Larson wirkte immer noch ruhig, sehr besonnen, ein Mann, der grübelte,
was er falsch gemacht haben könnte. Keine Spur von Ärger darüber, daß ein
Kriminalkommissar, den er selbst als Gast hergebeten hatte, ihn in seinem
eigenen Haus einem kleinen Verhör unterzog. Ellwanger vermutete sogar,
daß er ganz gern mit einem Fremden darüber redete. Ein allzu
vertrauensseliger Typ war er normalerweise gewiß nicht. Daß sein
Kinderwunsch besonders heftig ausgeprägt gewesen war, konnte Ellwanger
allerdings nicht feststellen.
Larson stellte sein leeres Glas auf dem Beistelltisch ab: »Ich könnte jetzt
was zu essen gebrauchen. Ich habe uns eine Kleinigkeit vorbereitet,
kommen Sie, setzen wir uns an den Tisch, dann können wir uns weiter
unterhalten.«
Im hinteren Bereich des Wohnzimmers ging es eine Stufe empor. Dort
stand ein einfacher Holztisch mit schöner Maserung. Der Tisch war für
zwei Leute gedeckt. Eine Salatschüssel und etwas Brot standen schon da.
Eine Flasche dekantierten Rotweins lag etwas schräg in einem Ständer.
Larson bat Ellwanger, an der Stirnseite Platz zu nehmen.
»Sie nehmen doch Rotwein? Oder soll ich etwas anderes holen?«
Ellwanger war mit Rotwein sehr zufrieden. Nach dem Etikett zu
schließen wahrscheinlich ein edler kalifornischer Wein, aber Ellwanger
verstand nichts von Weinen, deshalb unterließ er es, danach zu fragen.
Larson füllte die bauchigen Gläser, füllte auch die französischen
Bistrogläser mit Wasser, leerte eine kleine Schüssel mit Soße über dem
Salat aus und wendete die Blätter um. Er hob das Glas auf ihr beider Wohl,
kehrte dann nochmals in die Küche zurück, um nach dem Fleisch zu sehen.
Als er wieder ins Wohnzimmer kam, hatte er seinen Wein schon zur Hälfte
getrunken.
Larson schob die Salatschüssel und das Brot in die Nähe seines Gastes.
»Greifen Sie bitte zu. Sie müssen natürlich keinen Salat essen, wenn Sie
nicht wollen. Manche Männer mögen ja keinen Salat. Aber ich kann Ihnen
versichern, es gibt nachher noch etwas Handfesteres.«
»Kochen Sie selbst?«
»Ein bißchen. Hin und wieder. In dem Fall hat meine Haushälterin den
Braten für uns vorbereitet. Und sie versteht etwas vom Kochen. Wir haben
sie von meinem Schwiegervater übernommen, als wir hierher gezogen sind.
Vicky wollte gern eine Person um sich haben, die sie von klein auf kannte.«
»Sie wohnt hier im Haus?«
»Nein, aber sie kommt viermal die Woche und sieht nach dem Rechten.
Im Moment hat sie mit mir allein nicht allzuviel zu tun. Als Vicky noch am
Leben war, haben wir öfter abends Gäste eingeladen.«
Obwohl Ellwanger tatsächlich kein großer Freund des Grünzeugs war,
schmeckte der Salat ziemlich gut. Der Rotwein kam ihm etwas herb vor,
aber da erlaubte er sich kein Urteil. Seine Ehemalige hatte sich weidlich
Mühe gegeben, ihn zu einem Weintrinker zu erziehen, weil sie das für
feiner hielt. Aber damit war sie ebenso gescheitert wie mit ihren anderen
Versuchen, aus ihm ein Wesen zu machen, das einer höheren Klasse
zuzuordnen war.
Larson verschwand wieder, um nach dem Braten zu sehen. Ellwanger
leerte sein Weinglas und lehnte sich zurück. In seinem Kopf begann es zu
flimmern, die Gedanken strudelten wild durcheinander, als er nach dem
Wasserglas greifen wollte, merkte er, daß sein Arm ihm nicht gehorchte. Er
schien schwerer geworden zu sein, schien ihm nicht mehr ganz zu gehören.
Larson kehrte mit einer Schüssel zurück ins Zimmer.
»I'm … I'm …« Das war so ziemlich alles, was Ellwanger herausbrachte.
Er hatte sagen wollen, es gehe ihm nicht so gut, ob er vielleicht ein Aspirin
haben könne oder etwas in der Art, denn schon das Wort Aspirin brachte er
gedanklich nicht ordentlich zuwege. Dann konnte er seine Augen nicht
mehr offenhalten und sackte zusammen.
Als er wieder aufwachte, war der Tisch leer bis auf eine Flasche und ein
Glas. Ellwanger konnte seine Beine nicht bewegen und seine Arme
ebensowenig. Er konnte den Kopf etwas drehen, aber auch das nur mit
Mühe. Irgend etwas hämmerte in seinem Schädel, zugleich wurde jeder
Schlag von etwas Wattigem erstickt. Vielleicht wurde da drin aber auch
bloß ein Lappen immer wieder aufs neue ausgewrungen.
Allmählich konnte er wieder so klar denken, daß er wußte, wo er war.
Dann erst merkte er, daß er Arme und Beine deshalb nicht regen konnte,
weil sie am Stuhl festgeschnürt waren. Dort, wo die Küche sein mußte,
summte jemand fröhlich vor sich hin. Nach einer Weile kehrte Larson ins
Zimmer zurück. Er hatte eine Küchenschürze umgebunden und trug
Gummihandschuhe, die er aber auszog und beiseite legte. Er goß sich ein
Glas Wein ein, beugte sich nieder und näherte sich Ellwangers Gesicht.
»So … let's see … are we awake yet?«
Ellwanger sagte nichts. Er versuchte krampfhaft, sich darauf zu besinnen,
was vorgefallen war. Wahrscheinlich herrschte immer noch Nacht. Das
elektrische Licht war angeschaltet; soweit er sehen konnte, waren die
Vorhänge fast alle zugezogen. Das Licht kam ihm greller vor als zuvor.
Langsam, mit schwerer Zunge und etlichen Pausen schlug er nach einiger
Zeit vor: »Den englischen Krampf können wir jetzt sein lassen.«
»Wo Sie recht haben, da haben Sie recht«, antwortete Larson in
tadellosem Deutsch. Inzwischen saß er entspannt auf seinem Stuhl.
»Sie machen einen schweren Fehler.« Noch immer sprach Ellwanger
gedehnt, als müsse jedes Wort erst gefunden und geformt werden. »Ich
hatte Sie schon vom Haken gelassen, von mir hatten Sie nichts mehr zu
befürchten.« Seine Handgelenke schmerzten, eines seiner Beine war
eingeschlafen. Die Gedanken krochen immer in dieselbe Richtung: gab es
irgendeine Chance, von diesem verdammten Stuhl wegzukommen?
»Das kann man auch anders sehen. Meine Mutter haben Sie jedenfalls
ausfindig gemacht, damit hatten Sie schon einiges gegen mich in der Hand.
Und das – nun ja, das konnte ich nun nicht auf sich beruhen lassen, das
werden Sie doch verstehen.« Sehr ruhig, sehr geduldig klang Larsons
Stimme, als müsse er einem Kind erklären, daß es ein kleines bißchen im
Unrecht war.
»Woher wissen Sie das?«
»Als Catherine mich Ihnen vorgestellt hat, habe ich den Braten gerochen.
Es war nicht schwer, in Erfahrung zu bringen, daß im Heim meiner Mutter
ein Mann aufgekreuzt ist, auf den Ihre Beschreibung haarscharf paßt.«
»Aus Ihrer Mutter war nichts herauszubekommen, jedenfalls nichts, was
Sie beide miteinander in Verbindung gebracht hätte.«
»Sie hätten es früher oder später rausgekriegt, so oder so.«
Ellwangers Handgelenke waren stramm an die Lehnen des Stuhls
gefesselt. Ihm waren nur winzige Bewegungen erlaubt. Zum Beispiel
konnte er den Kopf drehen und die Finger oder Zehen ein klein wenig
anheben. Mehr aber auch nicht. Kein schöner Gedanke, was alsbald auf ihn
zukommen mußte. Er würde irgendwo im amerikanischen Boden verscharrt
werden oder in einem amerikanischen See verschwinden oder im Atlantik.
Vielleicht entsorgte ihn Larson aber auch auf irgendeiner
heruntergekommenen New Yorker Straße und ließ es nach Raubmord
aussehen. Schußwaffe? Eher nicht. Der Knall konnte von den Nachbarn
gehört werden, und es gab eine Sauerei mit dem Blut. Messer? Auch nicht,
ebenfalls wegen der Sauerei. Wahrscheinlich würde Larson ihn mit dem
Stuhl nach hinten kippen und ersticken. Das wäre jedenfalls die sauberste
Methode.
So langsam war er wieder klar im Kopf, und das Sprechen fiel ihm
leichter.
»Ich hatte mir auf dem Münchner Waldfriedhof schon einen Platz
besorgt. Ich schätze es nicht, wenn man meine langfristigen Pläne
durchkreuzt.«
Larson lachte. Es klang gar nicht unangenehm, dieses kleine Lachen.
»Der Taxifahrer hat mich vor Ihrem Haus abgesetzt. Er wird sich an mich
erinnern und aussagen, wo ich ausgestiegen bin.«
»Nonsense. Sie sind gar nicht mit dem Taxi gekommen, Sie waren zu
Fuß. Und sind auf der falschen Seite entlanggelaufen.«
»Da müssen Sie mich ja mit dem Feldstecher beobachtet haben.«
»Exakt.« Und wieder erklang dieses kleine, gar nicht mal unangenehme
Lachen.
»Sie überlassen wohl nichts dem Zufall.«
»In solchen Fällen besser nicht.«
»Wie haben Sie das mit Vicky eigentlich hingekriegt? Aus der Oper
verschwinden und wieder rechtzeitig zurück sein? Oder haben Sie
jemanden dafür bezahlt, daß er Ihre Frau von der Terrasse wirft?«
»Nur ein Idiot läßt sich auf Mitwisser ein. So was nimmt man besser
selbst in die Hand. Es war nicht schwer, mich nach dem ersten Akt zu
entfernen und vor dem dritten wieder dort zu sein, um mit den Parkers ein
kleines Wichtigtuergespräch über den Tannhäuser zu führen.«
»Ich nehme an, bei Ihrem Englisch hat die Stirn des alten Parker sich
nicht in Falten geworfen.«
»Wieso sollte sie?«
»Meines ist so schlecht, daß seine Stirn dabei jedesmal aussieht wie bei
diesen chinesischen Hunden mit den Speckfalten. Sobald ich die Klappe
halte, ist sie wieder ganz glatt.«
Und wieder lachte Heiner Blaschke alias Paul Larson sein kleines
harmloses Lachen. Er nahm einen Schluck Rotwein.
»Der schmeckt übrigens tadellos. Schade, daß ich Ihren ein klein wenig –
na, sagen wir – mit was anderem versetzen mußte. Ich schätze, der war
deshalb nicht ganz so gut.«
»Ich trinke meistens Bier. Daß aus Ihrer Mutter nichts Vernünftiges
herauszubekommen war, habe ich ja schon erwähnt. Die lebt inzwischen
auf einem anderen Planeten. Nur beim Stichwort Heinerle ist sie kurz in
unserer Welt wiederaufgetaucht.«
Blaschke verzog keine Miene. Zu seiner Mutter wollte er sich
offenkundig nicht äußern.
»Ich habe mich übrigens gewundert, weshalb in Gerabronn kein
gescheites Photo von Ihnen aufzutreiben war, keine Karteikarte, nichts.«
»Das war alles andere als einfach. Vor einigen Jahren bin ich mal
inkognito zurückgekehrt und habe mich darum gekümmert. Für den Besuch
mußte ich ein bißchen mehr verändern als nur die Haare färben. Und meiner
Mutter durfte ich dabei nicht über den Weg laufen.« Von einem Augenblick
auf den andern sah der blonde Schönling nicht mehr strahlend aus, er
bekam etwas Bekümmertes und hockte weniger selbstgewiß auf seinem
Stuhl.
»Und was war mit Lightowler-Stahlberg?«
Die Frage belebte den Mann sofort wieder: »Wußt' ich's doch! Sie waren
mir auf den Fersen. Wie haben Sie das rausgekriegt?«
»Der Treuhänder, der das Vermögen Ihrer Mutter verwaltet, konnte sich
an die Überweisung und an den Namen des Argentiniers erinnern. Was
hatten Sie mit ihm zu tun?«
»Ich habe ein, fast zwei Jahre in Buenos Aires gelebt und war ganz gut
mit ihm bekannt, habe mit dem alten Herrn Schach gespielt und mal die
eine oder andere Besorgung für ihn erledigt.«
»Es ehrt Sie in gewisser Weise, daß Sie dabei an Ihre Mutter gedacht
haben.«
»Sonderlich schwer war es nicht, seine Unterschrift zu fälschen und eine
Überweisung auf den Weg zu bringen. Ein nettes Mädchen bei der Bank hat
ein bißchen geholfen. Die Argentinier sind bei so was ziemlich eigen. Bei
größeren Überweisungen wird's ganz kompliziert. Bürokratie hoch zehn.
Fehlte nur noch das Theater mit den Fingerabdrücken. Bei allem und jedem
verlangen sie gleich sämtliche davon. Von beiden Händen. Sogar von den
kleinen Fingern. Ist ihr Nationalsport. Ich wundere mich, daß sie nicht auch
noch die Zehenabdrücke nehmen. Wußten Sie, daß es ein Argentinier war,
der das Zeug erfunden hat? Die sind da drüben ganz versessen darauf.
Stahlberg hatte übrigens einen leichten Tod. Paar Minuten ein Kissen aufs
Gesicht gedrückt, das war's. Ist jedenfalls besser, als an Krebs oder sonst
irgendeinem Scheiß zu sterben.«
»Und das alles nur für Ihre Mutter?«
»Ich kam durchaus auch auf meine Kosten. Der Alte hatte Goldbarren bei
sich gehortet. Stücker sechs – sechs nette, handliche Dinger, klein, aber
schwer. Das hat er mir mal verraten, als er reichlich einen in der Krone
hatte. Dumm war nur, ich mußte die komplette Wohnung auf den Kopf
stellen, bis ich sie gefunden hatte. Sechs Zimmer voll mit Büchern! Und das
Ganze mußte ja wieder ordentlich zurückgeräumt werden. Schließlich habe
ich die Dinger gefunden, ein jedes in einem sauberen netten
Plastiktäschchen – mit Druckknopf! –, hinter einer Ausgabe von Jorge Luis
Borges. Darauf hätte ich eigentlich gleich kommen können. Der Alte war
mit Borges persönlich bekannt, das hat er mir oft genug erzählt.«
»Was haben Sie denn sonst in Argentinien so getrieben?«
»Alles mögliche. Bißchen gekellnert, mich auf dem Golfplatz nützlich
gemacht, gutbetuchte ältere Damen ausgeführt. Aber so langsam ist unsere
Fragestunde zu Ende. Wir haben ja schließlich noch was vor.«
»Etwas würde ich aber noch ganz gern wissen. Wie haben Sie das mit
Bilfinger gedreht?«
Blaschke, inzwischen wieder zum selbstsicheren Larson geworden, nahm
einen Schluck Rotwein und ließ die Fingerchen auf der Tischplatte spielen.
Dabei glänzten die beiden übereinandergesteckten Ringe an seiner linken
Hand. »Der Kerl hat einfach nicht lockergelassen. Hat mir regelrecht
nachspioniert. Da mußte ich was unternehmen. Und der brave Anton war ja
so gutgläubig. Jesusmariaundjosef, war der gutgläubig. War er übrigens
schon in der Schule. Manchmal bißchen schwer von Begriff. Er hat überall
seine Visitenkarten verstreut und die Leute gebeten, sich bei ihm zu melden.
Da hab' ich mich eben selbst bei ihm gemeldet. Und wissen Sie, mit
welcher Story?«
»Hm.«
»Na los doch, raten Sie mal.«
»Keine Ahnung.«
»Mit der Detektiv-Nummer. Die kam dabei zum Einsatz. Ich habe allen
Ernstes behauptet, ich sei als Privatdetektiv unter falschem Namen
unterwegs gewesen, in heikler Mission, versteht sich, und der Kerl hat's
gefressen. Er wurde sogar richtig neugierig, und es war ein Kinderspiel, ihn
auf das Boot einzuladen und eine kleine Fahrt mit ihm zu unternehmen. Ich
mußte nur darauf achten, daß uns die Leute am Hafen nicht zusammen
sahen. Hat hingehauen. Hat eins a hingehauen. Na ja, und da draußen
machte es dann irgendwann plumps. Die Details sind nicht weiter von
Belang. Jedenfalls habe ich dafür gesorgt, daß er so schnell nicht wieder
auftaucht. Und jetzt ist unser nettes kleines Gespräch an seinem Ende
angelangt.«
»Sie sind zu selbstgefällig. Ein selbstgefälliger Mörder hält sich nicht
lang auf der Piste. Die bescheidenen, unscheinbaren sind viel schwerer zu
fassen. Die selbstgefälligen laufen einem irgendwann von selbst vor die
Flinte. Sie könnten ein bißchen Nachhilfe vertragen.«
Larson war nicht beleidigt, im Gegenteil, er zeigte sich höchlich
amüsiert. »Zum Beispiel von Ihnen?«
»Zum Beispiel von mir.«
»Und was würden Sie mir beibringen?«
»Daß man die Finger besser von der Schwester seiner Frau läßt, wenn
man mit dem Gedanken spielt, die Frau umzubringen.«
»Ach, was Sie nicht sagen!«
»Warum haben Sie nicht einfach Catherine geheiratet? Warum der
komplizierte Umweg über eine reizlose Frau?«
»Für gewisse Zwecke braucht's eine dümmere Frau. Außerdem war
Catherine schon zweimal verheiratet und nicht sonderlich scharf auf einen
dritten Versuch.«
»Wie haben Sie es nur fertiggebracht, so lange bei Vicky auszuharren?«
Larson verdrehte die Augen und gab einen theatralischen Seufzer von
sich. Dann fing er an, wortreich sein Leid zu klagen und dazu mit den
Händen in der Luft herumzufahren. Und er hörte überhaupt nicht mehr
damit auf. Wahrlich, Gott sei sein Zeuge, das seien vielleicht Strapazen
gewesen. Du meine Güte! So gesehen hart verdientes Geld. Ob Ellwanger
sich schon mal mit einer Frau habe näher befassen müssen, die er nicht
riechen könne, und zwar im wörtlichen Sinne nicht riechen? Vicky habe die
teuersten Parfüme benutzt, und trotzdem – dieser abgestandene,
verschwitzte Unglücksgeruch sei immer wieder durchgekommen. Gräßlich!
Eine wahre Pein! So jemanden ins Bett verfrachten zu müssen sei eine
grauenhafte Übung. Und hinterher sei es erst richtig losgegangen.
Stundenlang habe er darüber reden müssen. Wie's gewesen sei, ob vielleicht
was gefehlt habe, ob zu schnell, ob zu langsam, ob weiß der Teufel was.
Zum Davonrennen! Und dann dieser Sozialtick! Diese reichen Frauen
wüßten einfach nicht, wohin mit ihrem Geld, und kämen auf die
sonderbarsten Ideen – Obdachlose beglücken, Kinder mit Herzfehlern
beglücken, hungernde Afrikaner beglücken, Flutopfer, Erdbebenopfer,
streunende Hunde und wer weiß noch wen alles beglücken, rauf und runter,
der ganze Sozialstuß, ein Charity-Dinner nach dem andern, man könne
allein schon davon ganz krank werden. Und dann dieser schauerliche Alte
in seinem Rollstuhl, ihm werde schon schlecht, wenn er an die grauenhaften
Einladungen in der Park Avenue denke, eine wahre Folter – das Geschwätz,
das Getue, das Herumgestehe am Kamin, alles, wirklich alles entsetzlich!
So was sei kein Vergnügen, das sei Schwerstarbeit! Sauer verdientes Geld!
»Mir kommen die Tränen. Als kleiner Provinz-Gigolo mit wechselnden
Provinz-Bräuten wären Sie vielleicht besser dran gewesen.«
»Unwahrscheinlich. Ich wollte immer schon weg. Nichts wie weg aus
diesem fürchterlichen Gerabronn. Ansonsten hatte ich als Kind etwas
andere Pläne. Beim Räuber-und-Gendarm-Spiel wollte ich immer der
Gendarm sein.«
»Ach was.«
»Tatsache! Sie glauben mir nicht? Ich wäre für mein Leben gern mit so
'nem Polizeiwagen mit Tatütata herumkutschiert.«
»Jetzt fahren Sie mit einem Bentley oder so was Ähnlichem durch die
Gegend –«
»Nein, bloß einem kleinen Angeber-Porsche. Bißchen was Spritziges
braucht der Mann.«
»– da sollte man sich nicht beklagen.«
»Sie haben ja keine Ahnung. Fünf Jahre Fron liegen hinter mir. Ich
brauche dringend Erholung.«
So ging das noch eine ganze Weile hin und her. Larson schien zeitweise
vergessen zu haben, daß er eigentlich vorgehabt hatte, hier kurzen Prozeß
zu machen. Mitten in ihrem Geplänkel bemerkte Ellwanger plötzlich, daß
sich die Tür zum Flur einen Spalt breit geöffnet hatte. Ein Windstoß war
bestimmt nicht die Ursache gewesen. Um Larsons Aufmerksamkeit nicht zu
erregen, mußte er sich allerdings bezwingen und durfte nicht in Richtung
Tür starren. Hin und wieder ein flüchtiger Blick aus den Augenwinkeln,
mehr nicht, und – Tatsache! – die Tür öffnete sich etwas mehr.
»Ich frage mich nur, wie Sie das in der Oper hingekriegt haben. Während
der Vorstellung verschwinden und dann wieder unbemerkt zurückkehren.
So einfach kann das eigentlich nicht sein.«
»Wenn man eine Loge für sich hat, schon, und außerdem was zum
Verkleiden in einer Tasche dabei. Ein anderes Jackett zum Beispiel.
Ursprünglich was Farbigeres, dann was Gedecktes. Und mit einer Glatze
erkennt einen keine Sau, jedenfalls nicht die Leute, die draußen während
der Vorstellung Däumchen drehen. Um das Ding auf den Kopf zu kriegen
und dann abzuhauen, muß man allerdings den Moment abpassen, in dem
wirklich alle Leute auf die Bühne starren. Dafür muß man sich natürlich in
den Hintergrund zurückziehen. Und vielleicht vorher mit der Glatze üben,
damit jeder Handgriff sitzt. Ist in einer Loge ein Kinderspiel, sollten Sie mal
probieren!«
Er schenkte sich noch ein bißchen Wein ein. Paar Schlückchen nur, die
nicht allzu lange vorhalten würden. Allmählich hatte er wohl genug vom
Reden. Obwohl sich der Mann gern selbst reden hörte. Und dabei
erstaunlich vulgär wurde. Langsam blätterten so ziemlich alle
Lackschichten von ihm ab. Darunter kam immer mehr Blaschke zum
Vorschein. Blaschke, der Bubi aus Gerabronn, der mit dem gewandten
Strahlemann Larson nicht mehr viel zu tun hatte. Eigentlich überhaupt
nichts. Die Tür war inzwischen weiter aufgegangen, aber Ellwanger konnte
bei seinen flüchtigen Blicken nicht erkennen, was sich dahinter abspielte.
Er versuchte mit allen Mitteln, noch ein bißchen Zeit zu schinden.
»Hat Ihre Frau eigentlich nie mitgekriegt, daß Sie mit ihrer Schwester ins
Bett gingen? So was nimmt eine Frau im Ernstfall ziemlich übel.«
»Hat sie. Das war ja das Scheißproblem! Der blöde Sekretär meines
Schwiegervaters war hinter ihr her. Der hat sie immer wieder besucht. Und
mich regelrecht ausspioniert. Den hätte ich gleich flachmachen sollen.
Konnte ihn aber nie zu fassen kriegen. Zweimal hat er mich und Catherine
zusammen gesehen und ist dann jedesmal zu Vicky gelaufen und hat ihr
brühwarm davon erzählt. Sie hat mir schon wegen der Scheidung in den
Ohren gelegen. Und dann das widerliche Versöhnungsgetue, wieder mal
Schwerstarbeit im Schlafzimmer – please, darling, please – please believe
me, it will never happen again –, dieser ganze Schwachsinn, einfach zum
Kotzen!« Er legte eine kleine Pause ein und nahm wieder einen Schluck
Wein. Dann schien er ins Grübeln zu geraten. »Dumm an der ganzen Sache
ist nur, daß ich sie vielleicht gar nicht extra hätte entsorgen müssen. Die
Menge an Schlafmitteln, die sie genommen hatte, hätt's wahrscheinlich von
alleine getan. Das war erheblich mehr als ihr übliches Quantum.«
»Und wie ging's mit der Schwester? Ich hoffe, die Affäre hat Sie ein
klein wenig für die Mühen entschädigt, die Sie sich ansonsten mit der
Familie aufgeladen haben.«
»Paarmal war's recht nett, das muß ich zugeben. Aber dann wurde es öde.
Ist ein anstrengendes Mädchen, nicht mehr ganz taufrisch. Hat die besten
Tage längst hinter sich. Die Sauferei und das ewige Schuldgejammer gingen
mir auf die Nerven. Und dann veranstaltete sie auch so einen Affenzirkus
im Bett. Come on, darling, satisfy me, give me a big bang, give me another
kick, give me more … more … more … Gar nicht zu reden von dem
widerlichen Geschnarche hinterher. Krrrrrrrrrrchch. Ein Ohropax hat da
nicht gereicht. Man hätte sich eine ganze Ladung davon in die Ohren
stopfen müssen. Reiche Amerikanerinnen sind übrigens entweder frigide,
oder sie sind Nymphomaninnen. Die geben einfach keine Ruhe. Dieses
blöde Come on, darling …! Ich konnt's nicht mehr hören. Wirklich, ich
hatte die Faxen dicke, hatte von der Scheißfamilie die Nase gestrichen
voll.«
»Tja«, sagte Ellwanger, »ich glaube, ich kann Sie ganz gut verstehen. Bis
zu einem gewissen Grade jedenfalls. Reiche Amerikaner können ziemlich
anstrengend sein. Irgendwann wächst einem so etwas …«
Weiter kam er nicht. Catherine stand mitten im Raum. Einen Revolver in
der rechten Hand. Larson drehte sich um. Er stand auf, ging ihr entgegen,
hob hilflos die Arme – »Darling, what a surprise!« –
Zwei Schüsse fielen. Schallgedämpft. Er knickte ein, ging langsam in die
Knie und lag gekrümmt auf dem Boden. Ganz still. Und urplötzlich sehr für
sich allein. Das Ganze hatte weniger als vier Sekunden gedauert.
XV
Catherine schien ganz ruhig. Eine Schlafwandlerin. Sie legte den Revolver
auf den Tisch und betrachtete Ellwanger, als säße da bloß ein verschnürtes
Paket. Dann besann sie sich, ging in die Küche und kam mit einem Messer
zurück. Immer noch stumm. Mit dem Messer mußte sie ziemlich an ihm
herumsäbeln, bis sie die erste Schnur durchtrennt hatte; dabei stellte sie sich
ungeschickt an und schnitt ihm in den Arm.
»Sorry!« Es war das erste Wort, das ihr entfuhr. Dann ging die Sache
etwas schneller. Nach fünf Minuten konnte Ellwanger wieder die Arme
bewegen, aber die Hände waren noch so steif, daß er auch das
Losschneiden der Beinfesseln Catherine überlassen mußte. Als er endlich
befreit war, stand er auf und versuchte einen ersten Schritt, wäre dabei aber
hingefallen, wenn sie ihn nicht aufgefangen und wieder auf den Stuhl
verfrachtet hätte.
Beim nächsten Versuch stützte er sich am Tisch auf, bis er die Beine
besser unter Kontrolle hatte und wieder frei gehen konnte. Er fragte
Catherine, wie sie hereingekommen sei.
»I had a key.« Inzwischen wirkte sie weniger beherrscht. Ihre Hände
zitterten. Im Moment konnte er sich aber kaum darum kümmern. Hier gab
es einiges zu tun, und es mußte überlegt dabei vorgegangen werden.
Methodisch, akribisch, kalkuliert. Ellwanger vergewisserte sich auf seiner
Uhr, wieviel Zeit blieb, zog Larsons Handschuhe an – gottlob waren es
keine dickwulstigen Küchenexemplare, sondern feine, wie sie auch die
Chirurgen benutzten –, holte aus der Küche ein frisches Glas, füllte es zu
einem Drittel mit dem Meukow und bat Catherine, sich zu setzen, ihre
Handschuhe weiterhin anzubehalten und bis auf das Glas nichts mehr
anzufassen. Sein Plan stand inzwischen fest. Er würde aufräumen, und zwar
gründlich, nach allen Regeln der Kunst; seine Erfahrung als Ermittler würde
dabei zum Einsatz kommen.
Die Vorhänge waren geschlossen. Gut. Er schaute durch einen Spalt auf
die Straße. Die Schüsse hatte offenbar niemand mitbekommen. Keine
Polizeisirenen draußen, die Straße lag friedvoll unter dem anhaltend
fallenden Schnee.
Er sah sich den Raum ganz genau an, besonders die Fensterfront und die
zweiflüglige Tür, die hinten auf die Gartenterrasse führte. Einfache
Scheiben. Kein Sicherheitsglas. Man hatte sich offenbar auf die
Alarmanlage verlassen, die derzeit aber nicht eingeschaltet war. Dann
inspizierte er die Küche. Larson hatte gründlich aufgeräumt. Alles
blitzblank. Kein dreckiges Geschirr, der Rest Salat war im Mülleimer
entsorgt worden. Vier leere Flaschen standen auf dem Boden, darunter die
eine, in der der kontaminierte Rotwein gewesen war. Sie rochen alle nach
Wein. Ellwanger war sich sicher, daß Larson die besagte Flasche bereits
gründlich gespült und wieder mit Wein aufgefüllt hatte, den er dann in den
Ausguß gekippt hatte, damit alles völlig normal wirkte. Da er
Gummihandschuhe getragen hatte, waren seine Fingerabdrücke aber
vielleicht noch nicht drauf. Ellwanger ging mit der Flasche zu Larson und
legte die toten Finger von dessen linker Hand verschiedentlich an das Glas.
Die rechte Hand war blutverschmiert und kam dafür nicht in Frage. Larson
war aber ohnehin Linkshänder gewesen. Wie er so gekrümmt auf dem
Boden lag, sah der Mann nicht mehr so gut aus, vor allem nicht mit
geöffnetem Mund. Der eine Schuß war wahrscheinlich in sein Herz
gedrungen, der zweite etwas tiefer. Catherine saß im Mantel da und sagte
kein Wort, aber sie sah ihm bei der Prozedur zu.
Dann nahm er Catherine das inzwischen geleerte Glas ab – nur die
angebrochene Flasche Wein und Larsons Glas ließ er unberührt auf dem
Tisch stehen –, bückte sich nach dem Messer, mit dem sie ihn
losgeschnitten hatte und das immer noch auf dem Boden lag, und spülte
beides in der Küche sorgfältig ab. Das Glas stellte er zurück in den Schrank,
das Messer legte er in die Schublade. Unter der Spüle fand er Plastiktüten
und einen Lappen. Er ging damit die Treppe hinauf in die oberen
Stockwerke, wo die Lichter teilweise ebenfalls brannten und die Vorhänge
zugezogen waren. Die meisten Türen standen offen. Bei denen, die nicht
offen waren, faßte er mit dem Lappen die Klinken an. Verwüstungen, die
typisch für Diebe waren, die nicht sonderlich planvoll vorgingen, richtete er
auf beiden Stockwerken in jedem der insgesamt neun Zimmer an, nahm
Bilder von den Wänden, öffnete die Kleiderschränke und durchwühlte sie,
warf Bücher aus den Regalen, fand eine Kassette mit Schmuck, den er in
eine der Tüten leerte. Eine Armbanduhr, die in einem mit Blumenmuster
tapezierten Raum im obersten Stockwerk auf einer Kommode lag, packte er
ebenfalls in die Tüte. In diesem Raum, einem kleinen Salon, gab es eine
Tür, die auf eine ins Dach eingeschnittene Terrasse hinausführte. Von dort
mußte Larson seine Frau über die Brüstung geworfen haben. Ellwanger sah
sich den Tatort nicht genauer an. Auf der zugeschneiten Terrasse wollte er
keine Spuren hinterlassen. Er nahm noch eine Vase mit und einen Laptop.
Damit war seine Tätigkeit oben fürs erste beendet.
»Messing up the whole house like a professional«, murmelte Catherine
leise vor sich hin, so leise, daß er sie kaum verstand. Ellwanger ließ sich
davon nicht beirren, er fragte sie, ob es hier irgendwo einen Safe gebe. Sie
deutete auf die Wand, an welcher der kleine chinesische Apothekenschrank
stand. Es war leicht, ihn von der Stelle zu rücken, denn unter einer Blende,
die die Farben des Schranks perfekt imitierte, trug er Rollen, die man auf
Anhieb nicht sah; dahinter befand sich tatsächlich ein Safe.
Irgendwo mußte es einen Keller geben. Im hinteren Teil des Flurs, neben
der Treppe, die nach oben führte, war eine kleinere Tür, von der aus es ins
Untergeschoß ging. Ellwanger schaltete das Licht ein und stieg hinab. Der
perfekteste Keller, den er je zu Gesicht bekommen hatte! Gut beleuchtet,
alles ordentlich aufgeräumt, so gut wie kein Staub. Rechter Hand standen
die Weinregale, zur Hälfte gefüllt, in einer weiteren Abteilung eine
Waschmaschine, ein Trockner und ein abgedecktes Gerät, das nach einer
Wäschemangel aussah. An der weiß geschlemmten Mauer stand ein langer
Tisch mit einem Bügeleisen, darauf zwei große Plastikkörbe, einer leer, der
andere gefüllt mit Schmutzwäsche. Ein Staubsauger befand sich in der
Ecke.
Linker Hand führte eine Tür in einen weiteren Raum. Als er dort das
Licht einschaltete, war er verblüfft. Der Hobbykeller sah fast so aus wie der
seines Vaters, nur war dieser Raum größer. Auch hier hingen die Werkzeuge
ordentlich aufgereiht an der Wand, allerdings nach einem anderen System,
oben die großen, unten die kleinen. Bei seinem Vater war es umgekehrt
gewesen. Daneben stand ein Regal mit Farbdosen und allerlei praktischem
Kleinzeug. Kein Durcheinander. Alles vorbildlich in Reih und Glied. Der
Alte hätte seine helle Freude daran gehabt.
Ellwanger nahm einen großen Schraubenschlüssel mit und einen
schweren Hammer. Catherine saß wie angeklebt auf ihrem Stuhl. Ellwanger
bedeutete ihr, daß sie bitte auch weiterhin da sitzen bleiben solle, und
machte sich an dem Safe zu schaffen. Es ging ihm nicht darum, das Ding
aufzukriegen, das war mit solchem Werkzeug gar nicht möglich, aber es
sollte danach aussehen, als hätten sich Dilettanten daran zu schaffen
gemacht. Er sorgte für die nötigen Kratzspuren und Dellen. Dann packte er
einige kleinere Wertgegenstände, die im Wohnzimmer herumstanden, in
eine Plastiktüte, nahm alle Tüten, die inzwischen gefüllten und die leeren,
mit, ebenso die Werkzeuge, den Laptop, die Vase und auch den Revolver,
und schleppte das ganze Zeug in den Keller.
Aus dem Korb mit der Schmutzwäsche fischte er ein Geschirrtuch. Bevor
er sich an die Werkbank setzte, überlegte er einige Sekunden, bereitete dann
alles fachmännisch vor. Zuerst mußte er sich mit dem Revolver befassen. Er
wischte sorgfältig die Fingerabdrücke weg, schraubte den Schalldämpfer
ab, nahm den Revolver auseinander und feilte die Seriennummer herunter,
wobei er zwei Feilen ausprobieren mußte, weil er mit der erstbesten, nach
der er gegriffen hatte, nicht zurechtkam. Sein Vater hätte natürlich auf einen
Blick erkannt, welche Feile sich dafür eignete und welche nicht.
Sobald er damit fertig war, legte er nach und nach die anderen
Gegenstände auf die Werkbank, breitete das Geschirrtuch darüber und
schlug mit dem Hammer alles kurz und klein. Es tat ein bißchen weh, eine
kostbare Patek Philippe zu zertrümmern, die einem Genfer Uhrmacher viel
Konzentration und Fingerspitzengefühl abverlangt hatte, aber darauf konnte
er jetzt keine Rücksicht nehmen. Beim Laptop riß er die Tastatur heraus und
zerlegte das Innere in möglichst viele Einzelstücke. Dann steckte er das
herausgerissene und zerbrochene Zeug, auch die Teile des Revolvers, in die
fünf Tüten, möglichst so, daß die Bruchstücke eines Objekts auf alle Tüten
verteilt wurden. Das Geschirrtuch, das er noch brauchen würde, schüttelte
er sorgfältig aus und legte es obenauf in eine der Tüten. Mit Handfeger und
Schaufel, die in der unteren Abteilung des Regals gelegen hatten, kehrte er
alles zusammen und kippte den Kehricht in eine andere Tüte. Dem Alten
hätte das konzentrierte Vorgehen seines Sohnes gut gefallen.
Für die letztendliche Reinigung mußte er wieder hinaufsteigen. Er nahm
die gefüllten Tüten gleich mit. Aus der Küche besorgte er sich erneut den
Lappen und einen Eimer voll Spülwasser, wobei Catherine inzwischen
etwas mehr aus ihrer Trance erwacht war. Ob seiner emsigen Geschäftigkeit
sah sie ihn verwundert an. »What the hell are you doing?« fragte sie leise,
immer noch eingeschüchtert. Er ließ sich von ihr nicht aus dem Konzept
bringen, sondern ging zurück in den Keller, wischte dort den Boden feucht
auf und putzte die Werkbank. Er vergewisserte sich noch einmal ganz
genau, ob er vielleicht ein Bruchstück auf dem Boden übersehen hatte.
Nichts sollte darauf hindeuten, daß hier Dinge zerschlagen worden waren.
Vielleicht war es jetzt da unten aber zu sauber, vielleicht sogar verdächtig
sauber. Auch dafür sollte es eine Lösung geben. Ellwanger machte sich am
Staubsauger zu schaffen und entnahm dessen Eingeweide den zur Hälfte
gefüllten Beutel. Mit der rechten Gummihandschuhhand griff er in die
Öffnung und holte etwas Staub heraus, den er auf die Werkbank streute.
Nachdem er einige größere Flocken mit den Fingern auseinandergezogen
hatte, pustete er sachte, sehr sachte, von verschiedenen Richtungen aus,
damit nicht alles restlos verflog, den Staub in die Gegend.
Unter der Kellertreppe standen ein paar grüne Gummistiefel in
Herrengröße. Die kamen ihm jetzt sehr gelegen. Beim Hinaufgehen nahm
er Eimer und Lappen und auch die Stiefel mit und löschte das Licht. Den
Keller konnte er damit abhaken. Eimer und Lappen kehrten, nachdem sie
sorgfältig gereinigt worden waren, an ihre Plätze unter der Küchenspüle
zurück. Aber dann besann er sich anders, nahm den Lappen wieder heraus
und legte ihn auf den Heizkörper. Die schwierigere Aktion hatte er sich bis
zuletzt aufgespart. Ellwanger erklärte Catherine, sie möge sich nicht
beunruhigen, er müsse jetzt hinaus und einen Einbruch fingieren.
Das Sicherheitssystem war nicht eingeschaltet, darum brauchte er sich
also nicht zu kümmern. Er nahm Larsons Stiefel mit und das Geschirrtuch,
ging zur Haustür hinaus und bis zum Tor, zog Larsons Stiefel dort an und
nahm seine Schuhe in die Hand. Den Weg trampelte er zurück bis zum
Eingang, bewegte sich ab da aber sehr vorsichtig – womöglich gab es eine
Anlage im Garten, die schon auf Flutlicht schaltete, sobald eine Maus mit
einer Schneeflocke in Berührung kam –, stapfte, als nichts dergleichen
geschah, durch den hohen Schnee etwas beherzter rund ums Haus zur
hinteren Gartenterrasse, umwickelte seine rechte Faust mit dem Tuch und
schlug die Scheibe der Tür ein.
Catherine saß immer noch am Tisch, inzwischen nicht mehr ganz die
Ruhe selbst, denn ihre Handschuhhände kneteten aneinander herum. »You
are a very inspired thief«, sagte sie zu ihm, aber er konnte sich jetzt nicht
mit komplizierten englischen Antworten befassen. Mit den
schneematschigen Stiefeln tappte er überall herum, ging zur Sicherheit
damit auch noch in die oberen Räume.
Es war nun alles soweit geklärt. Sie konnten gehen. Da läutete das
Telephon, der Anrufbeantworter mit Larsons Stimme ertönte, Ellwanger
war sofort alarmiert. Ein Anrufer mitten in der Nacht? Ob das vielleicht
doch einer der Nachbarn gewesen war, der etwas von den Umtrieben im
Haus mitbekommen hatte? Eine weibliche Stimme ertönte: »Hi, this is
Sandy« – diese Sandy war offensichtlich betrunken, zerdehnt, aber
wortreich beschuldigte sie ihren Paul, daß er sich nicht bei ihr gemeldet
habe, dann bekam sie einen Wutanfall, weil er nicht abnahm, und legte auf.
Nun, die beiden würden sich allenfalls im Himmel oder in der Hölle
wiedersehen, aber damit kannte sich Ellwanger nicht allzu genau aus.
Catherine hatte bei dem Geklingel irritiert den Kopf gehoben, vom Anruf
selbst schien sie völlig unbeeindruckt. Sie sagte etwas, das er nicht
verstand, und hatte dabei Trockeneis in der Stimme.
Jetzt sollten sie sich besser beeilen. Als sie aufstand, wischte Ellwanger
mit dem Geschirrtuch ihren Stuhl sorgfältig ab, besonders die Stellen, an
denen seine Hände gefesselt gewesen waren. Zur Sicherheit auch die
Tischplatte, an der sie beide gesessen hatten. Er ging noch einmal in die
Küche, nahm den Lappen von der Heizung und spannte ihn über den Eimer
unter der Spüle. Dann zog er seinen Mantel an und griff nach seinem
Schirm, drückte Catherine vier Tüten in die Hand, nahm seine Schuhe und
die restlichen Tüten und zog mit dem Tuch über den Fingern die Haustür
zu. Auf dem Weg zum Gartentor ließ er Catherine vorausgehen und machte
extra viele Schritte, um ihre Spuren nach Möglichkeit zu verwischen. Der
neue Schnee würde das meiste sowieso zudecken, aber falls das Schneien
jetzt aufhören sollte, war es besser so. Manchmal schafften sie es sogar,
unter dem Neuschnee liegende Spuren, die festgefroren waren,
auszuwerten. Aber morgen oder spätestens übermorgen würden die
Haushälterin und der Postbote neue Spuren legen und eine Horde
Polizeibeamte den Weg zum Eingang entlangtrampeln.
Auf der Straße war niemand zu sehen. Die Häuser lagen im Dunkeln.
Catherine hatte etwas weiter weg in einer Nebenstraße geparkt. So
besonnen war sie immerhin gewesen. Vielleicht war es aber auch ein bloßer
Zufall. Ellwanger versorgte die Tüten auf der Rückbank, zog die Stiefel aus
und seine eigenen Schuhe wieder an. Es war wohl besser, wenn er diesmal
fuhr. Catherine sagte keinen Ton zu seinen letzten Manövern, sie übergab
ihm den Autoschlüssel, saß dann stumm und unbeweglich auf dem
Beifahrersitz. Aber nun brauchte er ihre Hilfe. Bevor der Morgenverkehr
losging, hatten sie noch einiges zu erledigen. Größtmögliche Verteilung
hieß die Devise. Nicht nur eine, sondern besser zwei Brücken über den
Hudson wären nicht schlecht, um die meisten Tüten und die Stiefel
loszuwerden. Den Rest konnten sie in irgendwelchen Mülltonnen entsorgen,
in der Bronx oder sonstwo.
Catherine löste sich aus ihrer Starre. Jetzt hatte sie eine Aufgabe
zugewiesen bekommen. Sie mußte Ellwanger den Weg zeigen, und das tat
sie nun ohne Zögern. Er schärfte ihr ein, daß sie den Mantel und auch das,
was sie darunter getragen hatte, gleich morgen in die Reinigung geben
müsse wegen der Schmauchspuren, er sprach von gun shot rests, was
wahrscheinlich nicht so genau hinhaute. Ihre Handschuhe mußte sie sofort
ausziehen. Er entsorgte sie unterwegs in einem Mülleimer.
Ellwanger fuhr konzentriert, die Straßen lagen ausgestorben im
nächtlichen Schneetreiben, es gab kaum Verkehr. Die Scheibenwischer
hatten kräftig zu tun. In das Geschiebe und Gesurre hinein fragte Ellwanger,
weshalb Catherine mit einer Pistole ins Haus ihrer Schwester eingedrungen
sei. Der Scheibenwischer kam ihm jetzt noch lauter vor. Catherine sprach
leise, aber Ellwanger verstand sie trotzdem, jedenfalls das meiste davon. Sie
habe vor einiger Zeit ein paar Sachen von Vicky mitgenommen, darunter
einen Morgenmantel. Erst gestern habe sie bemerkt, daß darin ein kleines
Notizbuch steckte. Alle Notate in Vickys winziger Handschrift. Sie war
wohl ziemlich verzweifelt gewesen, wollte sich scheiden lassen und dafür
gleich in der Woche darauf einen Termin mit ihrem Anwalt vereinbaren.
Das war die letzte Aufzeichnung. Am Freitag. Am Samstag war sie tot.
Damit sei alles klar gewesen. Larson müsse mit Vickys Tod zu tun gehabt
haben. Mit dem Revolver habe sie ihn zu einem Geständnis zwingen
wollen. Ihr Plan sei nicht gewesen, ihn zu töten. Aber beim Anblick des
gefesselten Ellwanger habe sie einfach geschossen. »It was easy to shoot
him, very easy. Best thing I've ever done.«
Mit keinem Wort erwähnte Catherine ihre Affäre mit Larson, und
Ellwanger stocherte auch nicht weiter darin herum. Weil ihm die richtigen
Worte dafür auf englisch nicht einfielen. Weil sie ihn gerettet hatte. Aber er
fragte sich, wieviel Catherine von Larsons Gerede mitbekommen haben
mochte. Ob sie kapiert hatte, in welchem Ton Larson über sie sprach.
Ihre gemeinsame Aktion dauerte anderthalb Stunden. Gerade noch
rechtzeitig, bevor der Morgenverkehr richtig losging, in der Nähe des
Pierre, aber nicht direkt vor dessen Eingang, übergab Ellwanger Catherine
die Autoschlüssel und öffnete die Tür an seiner Seite. Das Schneien hatte
inzwischen aufgehört. Sie hielt ihn zurück. »Would fifty thousand be enough
for your services?«
Ellwanger sagte nichts.
»Or perhaps more?«
Ellwanger wurde so wütend, daß er mit lautem Knall die Autotür
zuschlug. Dann machte er, daß er endlich davon und ins Bett kam.
XVI
Bevor er sich ins Bett legte, spülte er in der Badewanne den ganzen Dreck
runter. Eine Befreiung. Danach schlief er tief und fest bis drei Uhr am
Nachmittag. Er beschloß, Trevillyan einen unangekündigten Besuch
abzustatten. Vor seiner Tür drehte er das Do-not-disturb-Schild um und
machte sich auf den Weg. Wieder hatte es zu schneien begonnen, allmählich
versank ganz New York unter ungeheuren Massen von Schnee.
Der Portier mußte erst nach oben telephonieren, dann durfte Ellwanger
den Aufzug besteigen. Arrowsmith empfing ihn und geleitete ihn zu
Trevillyan. Der saß diesmal nicht vor dem Kamin, sondern hinter einem
Schreibtisch mit lederner Auflage, in einem kleineren Raum, der wohl sein
Arbeitszimmer war. Auch hier Bücher an den Wänden, bis oben an die
Decke. Aber wegen der Bücher war Ellwanger nicht gekommen.
Er machte gleich klar, daß er diesmal Trevillyan allein zu sprechen
wünsche. Der hob die Augenbrauen, und Arrowsmith, der ziemlich
verblüfft und verunsichert dreinblickte, schloß hinter sich leise die Tür.
Ohne eigens dazu aufgefordert worden zu sein, setzte sich Ellwanger
dem Alten gegenüber in einen Stuhl und legte los. In einem erheblich
besseren Englisch als dem, das bei ihren ersten beiden Begegnungen zur
Anwendung gekommen war. Nichts deutete darauf hin, daß Trevillyan vom
Tod des Schwiegersohnes wußte. Ellwanger konfrontierte ihn sofort damit,
daß er ihn habe erschießen müssen. Und dann lieferte er einen längeren
Monolog, in dem sich Halbwahres, Wahres und einige Lügen mischten.
Ordnungsgemäß berichtete er davon, was er in Deutschland hatte erfahren
können. Über einen Jungen namens Heiner Blaschke. Er sprach über Anton
Bilfinger und den toten alten Herrn in Argentinien und über Blaschkes
Mutter im Seniorenheim. Trevillyan stellte keine Zwischenfragen, seine
Miene blieb völlig unbeweglich, nur seine kohlschwarzen Augen blickten
ihn interessiert an.
Zu seiner Überraschung habe Larson ihn für den gestrigen Abend in sein
Haus eingeladen. Dort habe Ellwanger ihn vorsichtig mit den Ergebnissen
seiner Recherche konfrontiert, aber Larson habe längst Bescheid gewußt,
daß man ihm auf die Spur gekommen war. Larson habe einen Revolver
gezogen, Ellwanger habe ihm diesen entreißen können und ihn dabei in
Notwehr erschossen. Ihn, Trevillyan, als seinen Auftraggeber habe er nicht
kompromittieren wollen und deshalb alle Spuren verwischt.
Der Name Catherine fehlte vollständig in diesem Bericht.
Trevillyan hatte ihn bisher nicht unterbrochen. Anton Bilfinger und
Enrique Fernando Lightowler-Stahlberg schienen ihn nicht sonderlich zu
interessieren. Aber er wollte wissen, wie Larsons Mutter im Altersheim
gewirkt habe, dabei sprach er von Mrs. Blaschke, und das hörte sich
sonderbar an. Es war für Ellwanger nicht allzu kompliziert, von einer
desorientierten alten Frau zu berichten, die allenfalls noch den Kosenamen
ihres Sohnes kannte, mehr aber auch nicht. Er war stolz darauf, daß ihm das
Wort nickname rechtzeitig eingefallen war, es klang kurios, dieses nickname
Heinerle.
Damit war der Rapport zu Ende. Ellwanger war einen Moment lang
unsicher, was nun käme, ob er sofort gehen sollte oder nicht. Immerhin
hatte er einem alten Herrn, den er kaum kannte, soeben ein Tötungsdelikt in
Notwehr gebeichtet. Trevillyan schaute ihn ganz ruhig an. Nach einer
Pause, in der Ellwanger glaubte, den Schnee draußen fallen zu hören, sagte
der Mann im Rollstuhl: »You are a fine fellow, a real gentleman«, streckte
ihm quer über den Schreibtisch die Hand zum Abschied hin und bedankte
sich.
Im Gang wartete ein nervöser Arrowsmith auf ihn. Aber mit dem sich zu
befassen, hatte Ellwanger nun wahrlich keine Lust. Er bat ihn nur darum,
ihm für morgen einen Rückflug nach München zu buchen. Catherine zeigte
sich gottseidank nicht.
Als er wieder im Pierre anlangte, fand er zwei Nachrichten vor. Frau
Kirchschlager bat um Rückruf. Arrowsmith hatte einen Flug für ihn am
nächsten Tag um achtzehn Uhr fünfundvierzig gebucht. Um fünfzehn Uhr
dreißig würde man ihn vom Hotel abholen.
Seine reizende Vermieterin und ihren sympathischen Galan würde er
leider enttäuschen müssen. Vielleicht würden sie in wenigen Tagen eine
Ahnung davon bekommen, weshalb er sich eine gewisse Zurückhaltung
hatte auferlegen müssen. Vorläufig stand er für keine weiteren Auskünfte
zur Verfügung. Und wahrscheinlich mußte das ein Leben lang so bleiben.
Er rief deshalb nicht zurück.
Inzwischen hatte er einen Wolfshunger. Auf dem Weg zu einem
geeigneten Restaurant, das er erst noch finden mußte, fiel diesmal kein
Schnee. Der Mond schien, einige wenige Sterne blitzten, und es war
saukalt.
Am folgenden Nachmittag holte ihn Arrowsmith persönlich mit dem
Wagen ab. Sie kamen nur langsam voran. Noch immer lag in den Straßen
viel Schnee, und an ihren Rändern türmten sich die weißen Berge, obwohl
es seit letzter Nacht nicht mehr geschneit hatte. Irgendwann fragte
Ellwanger seinen Fahrer, warum er sich eine Schwester mitsamt Segelboot
erfunden habe. Arrowsmith schien erleichtert, endlich darüber reden zu
können. Das sei ihm dummerweise gerade so als Ausrede eingefallen.
Natürlich habe er Larson und Catherine am Hafen von Southampton
beobachtet.
Er seufzte tief und verstummte. Als sie bei der nächsten roten Ampel
anhalten mußten, redete er weiter. Wahrscheinlich sei er selbst schuld am
Tod von Vicky, die er tatsächlich geliebt habe. Zumindest mitschuldig.
Vicky sei ein feiner Mensch gewesen, der etwas Besseres verdient gehabt
habe als einen Ehemann, der sie von Anfang an nach Strich und Faden
betrogen habe und nur hinter ihrem Geld hergewesen sei. Er müsse sich das
vorwerfen, ja, inzwischen sei kein Tag vergangen, an dem er sich nicht
Vorwürfe gemacht habe. Vicky davon zu erzählen, daß sich Larson und
Catherine regelmäßig auf dem Boot trafen, sei ein Fehler gewesen.
Wahrscheinlich habe sie Larson zur Rede gestellt, und da habe der
beschlossen, sie zu töten.
Das war keine einfache Hypothek. Ellwanger konnte Arrowsmith nur
damit ein wenig trösten, daß er sich sicher sei, Larson habe eh den Plan
gefaßt, seine Frau zu töten. Und zwar von Anfang an. Was er über den
Mann herausbekommen habe, deute alles in diese Richtung. Vicky hätte
sich nur retten können, wenn sie sich rechtzeitig vor ihm in Sicherheit
gebracht hätte. Arrowsmith seufzte nur noch tiefer. Er habe ihr angeboten,
sie aus dem Haus zu holen, alles zu arrangieren, damit sie die Scheidung
einreichen könne. Aber sie habe leider die Gefahr nicht richtig eingeschätzt.
Sie sei dem Mann regelrecht verfallen gewesen – head over heels in love
with him. Und er fügte bitter hinzu: »And he knew bis business thoroughly.«
Zum Abschied übergab ihm Arrowsmith einen Umschlag.
Wegen der Schneeprobleme hatte es einige Verspätungen gegeben.
Ellwanger mußte geschlagene vier Stunden warten, bis der Flieger endlich
abhob. Er war erschöpft, stopfte den angebotenen Fraß in sich hinein,
schlief ein bißchen, schaute sich zerstreut einen faden Film mit Julia
Roberts an und ertappte sich dabei, daß er im Geiste immer wieder mit
Catherine redete. Und dabei brachte sein Hirn einen ziemlichen Stuß
zuwege, wie etwa – Killmousky hätte sich bestimmt mit Kill-Larsky
vertragen because of their murderous instincts. Oder, noch idiotischer, sein
he cat sei's gewohnt, sich mit einer komplizierten she cat zu befassen. Das
ratterte und ratterte und ratterte. Und er konnte den Blödsinn nicht stoppen,
obwohl er ganz genau wußte, daß sie niemals einen Fuß nach München
setzen würde und er sie dort auch gar nicht haben wollte. Jedenfalls nicht
nach den Sätzen, die sie im Auto zu ihm gesagt hatte. Aber vielleicht war er
zu harsch mit ihr umgesprungen. Vielleicht nahm er alles zu schwer.
Immerhin hatte sie ihm das Leben gerettet, und mit dem Tod ihrer
Schwester hatte sie nichts zu tun, sonst hätte Larson damit geprahlt. Auch
die letzten Sätze, die Trevillyan zu ihm gesagt hatte, geisterten ihm im Kopf
herum. Wußte der alte Herr erheblich mehr von dem wahren Vorgang, als er
hatte zugeben wollen? Sonst hätte es eigentlich keinen Grund gegeben, ihn,
Ellwanger, einen Gentleman zu nennen. Er würde es nie herausbekommen.
Vielleicht war es auch bloß eine Floskel gewesen, die der Alte ohne
Hintergedanken verwendet hatte.
Als sie über Grönland flogen, öffnete Ellwanger den Umschlag, den ihm
Arrowsmith gegeben hatte. Es befand sich ein Scheck darin, mit einer
Summe, die das vereinbarte Honorar bei weitem überstieg. Davon sollte
Killmousky auch etwas haben. Damit ihre Beziehung wieder ins Lot kam,
würde er seinen Kater mindestens eine Woche lang mit Gourmet-Futter
verwöhnen, mit feingehackter Leber oder Fisch oder Herz.