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Was jetzt? Frauen? Zigaretten? Whiskey? Den lieben langen Tag?

Richard Ellwanger ist es ein


Rätsel, wie er von nun an seine Zeit verbringen soll. Den Dienst als Kriminalhauptkommissar hat er
quittiert, nachdem er, der »Verhör-Ellwanger«, die raffinierteste Verhörbegabung Münchens, einem
Verdächtigen gegenüber die Beherrschung verloren hat. Da winkt ein Auftrag im fernen New York:
Eine begüterte junge Frau ist zu Tode gekommen, und ihre Schwester und ihr Vater beschuldigen den
trauernden Ehemann, ein anderer zu sein, als er vorgibt. Sie beauftragen Ellwanger mit Ermittlungen.
Und das heißt für den Mann aus dem Hohenlohischen nicht nur, seinen schwarzfelligen
Hausgenossen Killmousky der Nachbarstochter anzuvertrauen. Es heißt auch, sich in einer Metropole
zurechtzufinden, in der ihm die Sprache nicht behagt, die Gepflogenheiten der oberen Zehntausend
fremd sind und ein möglicher Mörder lebt, der vielleicht aus Ellwangers Heimat stammt und dessen
Persönlichkeit den Exkommissar fasziniert.
Die Sprachvirtuosin Sibylle Lewitscharoff nimmt sich eines Genres an, das mit ihr Millionen
lieben: Killmousky ist ein grandioser Kriminalroman, in dem New York unter Schneebergen begraben
liegt und die süddeutsche Provinz ihre Geheimnisse birgt, und zugleich ein funkelndes sprachliches
Meisterwerk.

Sibylle Lewitscharoff, geboren 1954 in Stuttgart, lebt in Berlin. Für ihr Werk wurde sie mit
zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. ‌a. dem Ingeborg-Bachmann-Preis, dem Preis der Leipziger
Buchmesse und dem Kleist-Preis sowie 2013 mit dem Georg-Büchner-Preis. Zuletzt erschienen die
Erzählung Pong redivivus (2013) und die Romane Blumenberg (2011) und Apostoloff (2009) sowie
Vom Guten, Wahren und Schönen. Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen (2012).
Sibylle Lewitscharoff
Killmousky
Roman

Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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Umschlagfoto: Eberhard Grames

eISBN 978-3-518-73448-3
www.suhrkamp.de
für Josephine Meckseper
I

Er lag im Bett. Bis vor kurzem hatte Killmousky neben ihm geschlafen. Es
war jetzt eine ganze Weile her, genauer gesagt, es hatte sich in einer
Sonntagnacht im Mai 2011 zugetragen: der Beginn einer wunderbaren
Freundschaft, wie es am Schluß von Casablanca heißt. Auch als eine Art
Filmfreundschaft hatte begonnen, was sich zwischen Killmousky und ihm
abspielte, und zwar an jenem Sonntag im Mai zehn Minuten nach
Mitternacht. Ellwanger hatte gerade die Austaste der Fernbedienung
gedrückt. Das in weißen Nebel gehüllte Bild mit dem orangefarbenen ZDF-
Zeichen erlosch. Eine englische Krimiserie hatte er angeschaut, die ihn
zuverlässig amüsierte – Inspector Barnaby. Diesmal war sie sogar sehr
lustig gewesen. Wie immer wimmelte es von absurden Morden in der
englischen Provinz. Ihm gefielen der kompakte Inspektor und sein treuer
Adlatus, vor allem gefielen ihm die umwerfend guten Schauspieler, die in
den ländlich robusten Kostümen der englischen Provinzler auftraten, nicht
zu vergessen das Innenleben der Herrenhäuser und Cottages mit den
kuriosen Gegenständen, den engen Treppen, die zu den winzigen
Dachkammern führten. Da fiel es nicht weiter ins Gewicht, daß die Morde
surreal und die Motive ziemlich verdreht waren, besonders in ihrer
Häufung. Mindestens drei oder vier Leichen gab es in jeder Folge. Alles
unwahr, aber heiter und entspannend.
Diesmal hatte es Inspector Barnaby mit einem kleinen schwarzen Kater
zu tun bekommen, den er sogleich Killmousky nannte. Barnaby hatte eine
Katzenallergie und war auch sonst ein Feind der Haustiere, jedenfalls wollte
er sie nicht in den eigenen vier Wänden dulden. Obwohl Killmousky an der
geröteten Nase des Inspector Schuld trug, schien es so, als dürfe er bleiben,
was sich in den weiteren Folgen allerdings nicht bewahrheiten sollte.
Der witzige Name des Katers ging Ellwanger nicht aus dem Kopf. Wer
da warum gestorben war, entschwand hingegen schnell aus seinem
Gedächtnis. Amüsiert hatte er sich gerade die letzte Zigarette vor dem
Schlafengehen angesteckt, da maunzte und greinte es draußen auf der
Terrasse. Er öffnete die Tür, und herein spazierte eine kleine schwarze
Katze mit hochgerecktem Schwanz. Allen Ernstes: Killmousky war zu ihm
gekommen! Höchstens zehn Minuten nach Ablauf der Sendung.
Er war ein ebensolcher Haustierverächter wie Barnaby und dachte nicht
im Traum daran, das Viech bei sich aufzunehmen. Aber er war so
überrascht, daß er es nicht sofort hinausscheuchte. Wenig später stellte sich
sogar heraus, daß seine Katze gar keine Katze war, sondern ein Kater.
Tatsache, ein echter Killmousky!
Der inspizierte erst mal die Räume, gründlich, aber offenbar ohne jede
Scheu, dann rieb er den schwarzen Kopf am Bein des rechtmäßigen
Bewohners.
Es dauerte nicht lange, da goß der Hausherr ein wenig Milch in eine
Schüssel und holte einen Rest Leberwurst aus dem Kühlschrank. Schon
zwei Tage später wußte er, daß man Katzen die Milch nicht pur, sondern
besser etwas Wasser mit ein paar Tropfen Milch servierte; er lernte rasch
dazu. Killmousky wirkte ausgehungert. Er war klein, zierlich gebaut und
extrem dünn, schwarz von Kopf bis Fuß. Sein Fell glänzte. Killmousky
machte keinerlei Anstalten, sich nach der Mahlzeit wieder zu entfernen,
mehrfach wurde ihm die Terrassentür geöffnet, um ihn wieder zu entlassen.
Aber jedesmal zögerte das Katerchen auf der Schwelle und wandte sich
wieder um. Es endete damit, daß er schon in der ersten Nacht im Bett des
Hausherrn schlief. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft eben.
Killmousky war witzig. Eine Schauspielernatur. Ellwanger war es
inzwischen unmöglich, sich ein Leben ohne Kater vorzustellen. Ja, die
Liebe zu Killmousky ging so weit, daß beim eigentlichen Herrn im Haus
von Herrschaft nicht mehr die Rede sein konnte – der hatte sich alsbald den
Ticks und Gewohnheiten seines neuen Genossen völlig untergeordnet.
Gegen sechs Uhr in der Früh im Sommer, gegen halb acht im Winter
beliebte es Killmousky, ihn zu wecken. Er ging dabei sanft zu Werke, strich
mit dem Pfötchen ein bißchen auf seiner Brust herum, knabberte und riß
dann etwas entschiedener an den Haaren hinter seinem Ohr. In der Früh
hieß das gemeinsame Programm: auf zur fröhlichen Jagd im Garten!
Ellwanger im Pyjama mit Hausschuhen – bei warmem Wetter. Im Winter,
wenn Schnee lag, mit Mantel über dem Pyjama, dicken Socken an den
Füßen, die in Gummistiefeln steckten. Sommers wie winters tat Killmousky
seine Imponiersprünge im Garten mit aufgeplustertem, gesträubtem
Schwanz und gab (es war schwer zu entscheiden, wen nun genau) den
Löwen, den Panther oder den Tiger. Die Aufgabe des Herrn war es, ihn
dabei zu jagen. Höhepunkt war jedesmal, wenn Killmousky wie ein Blitz
den Baum hochschoß und in den Ästen herumturnte, während Ellwanger
unten seine erste Zigarette rauchte und den Kater dabei anspornte. Nicht
ganz so rasch, wie er hinaufgeschossen war, kam Killmousky dann wieder
herunter und verschwand im Nachbargarten, ohne sich nach ihm
umzudrehen. Ellwanger drückte die Zigarette aus, schloß die Terrassentür
und legte sich noch einmal ins Bett.
Nach dem ersten Auftauchen des Katers hatte er auf den Straßen von
Solln Ausschau nach Zetteln an den Bäumen gehalten, auf denen manchmal
nach entflogenen Wellensittichen, entlaufenen Katzen oder Hunden gesucht
wurde. Killmousky wurde offenbar von niemandem vermißt. Schon nach
einer Woche hatte Ellwanger begonnen, sich wie der rechtmäßige Halter
aufzuführen, hatte einen Transportkorb gekauft und Killmousky zum
Tierarzt geschafft, hatte ihn impfen und sich einige Ernährungstips geben
lassen. Jesus! Was für eine Aktion, den Kater in den Korb hineinzustopfen.
Killmousky ließ aus seinem Gefängnis ein tiefes verstörtes Grollen hören
und war hinterher stundenlang beleidigt.
Danach hätte er Killmousky nicht mehr freiwillig herausgerückt. Der
Kater gehörte jetzt zu ihm.
Wobei sich diese Zugehörigkeit in großer Freiheit bewährte, denn
während er ins Büro ging, verlebte Killmousky den Tag draußen, war aber
jedesmal pünktlich zur Stelle, sobald der Hausherr das
Gartentörchen aufklinkte, und geleitete ihn maunzend hinein. Abends hatte
Killmousky Hunger, da durfte nicht lange gefackelt werden. Aber der Kater
war kein großer Fresser, er leerte seinen Napf immer nur halb. Wenn ihm
das Futter nicht paßte, rührte er es gar nicht erst an.
Eigentlich hatte Ellwanger es gut getroffen in seinem Häuschen in Solln,
einstöckig, mit fünf Zimmern, die bis auf Küche und Bad alle auf den
Garten hinausgingen. Der Garten war wirklich zauberhaft, weil er mit dem
Garten der Hausbesitzerin verschmolz beziehungsweise nur durch ein paar
großgewachsene Buchsbaumkugeln von ihm getrennt war. Sie wohnte
weiter hinten in einem geräumigen Haus. Auf seiner Terrasse waren
Solnhofener Schieferplatten verlegt, die Bäume spendeten Schatten.
Ellwanger hatte es gut. Gut auch deshalb, weil er sich mit der Besitzerin der
beiden Häuser und des Gartens vorzüglich verstand. Eine ungewöhnliche
Frau seines Alters, Mitte Fünfzig, einerseits eine Münchnerin, wie sie im
Buche stand, die sich nicht zu schade war, hin und wieder in ein Dirndl zu
schlüpfen, zum anderen war die Frau weltläufig und zugleich exzentrisch.
Obwohl sie keine habhaften erotischen Beziehungen unterhielten, hätte er
sich nicht gescheut, zu sagen, er liebe Frau Kirchschlager. Er konnte sich
nicht erinnern, je mit einer Frau bekannt geworden zu sein, mit der er sich
auf eine diskrete und zugleich gewitzte Art so gut verstand. Wochenlang
war sie immer wieder unterwegs, arbeitete als Restauratorin im
Metropolitan Museum of Art oder für andere international bedeutende
Museen. Sie kannte die Welt viel besser als er und war in bürgerlichen
Verhältnissen aufgewachsen. Er hingegen war auch in München immer ein
Provinzler geblieben, der seine gedrückte Herkunft aus dem
Hohenlohischen niemals hatte abstreifen können. An Frau Kirchschlager
bewunderte er den freizügigen Umgang mit allem und jedem, ihre
Generosität und nicht zuletzt den zutiefst bayerischen Witz.
Heute morgen war alles anders.
Killmousky hatte sich redliche Mühe gegeben, ihn in den Garten zu
locken, aber Ellwanger beschränkte sich darauf, den Kater hinauszulassen,
und legte sich sofort wieder ins Bett. Heute war Donnerstag, ein Werktag
wie jeder andere auch, für Ellwanger aber eine neue, noch unbekannte Art
von Donnerstag. Gestern hatte er seine Sachen gepackt, den Schreibtisch
geräumt und war – wie man so schön sagte – auf eigenen Wunsch aus dem
Amt geschieden. Mit ausgiebigem Händeschütteln und vielen guten
Wünschen seitens der Kollegen, die darauf bestanden hatten, am
Wochenende noch richtig zu feiern. Frau Reidemeister hatte sogar geweint.
Ellwanger fiel kein Grund ein, warum sie seinen Abgang feiern sollten.
Dem Abschied lag nichts Ehrenwertes zugrunde, sondern etwas Vertracktes.
Mit der Pension würde er wohl auskommen, bescheiden wie er war,
zumindest solange es Frau Kirchschlager gab, die ihm das Häuschen zu
einem sehr günstigen Preis überlassen hatte, äußerst günstig für Münchner
Verhältnisse.
Aber sonst? Wie um Gotteswillen sollte er die Zeit hinbringen? Womit
denn? Er hatte keine Hobbys, er verachtete Hobbys aus tiefstem Herzen.
Sein Vater war so ein Hobbywerker gewesen, ein Kellergeschöpf der
mürrischen und gewalttätigen Sorte, der regelmäßig die Mutter verprügelte.
Ellwanger haßte Keller. Gottlob gab es in seinem Häuschen nur einen Raum
im Untergeschoß, der zur Aufbewahrung von Lebensmitteln diente, weil es
da unten ziemlich kühl war.
Was nun? Frauen? Zigaretten? Fernet Branca? Den lieben langen Tag?
Mit Killmousky konnte er sich jedenfalls nicht stundenlang im Garten
herumtreiben, der ging immer schleunig seiner Wege. Zeitunglesen, dachte
Ellwanger, ich werde ab jetzt jeden Morgen zwei Stunden lang Kaffee
trinken und die Süddeutsche lesen, und schlief bei dem Gedanken sofort
wieder ein.
Als er erwachte, war es halb elf und das Problem immer noch da.
Ellwanger erhob sich schwerfälliger als sonst. Es kam ihm so vor, als
schlurfe er schon wie ein uralter Rentner in die Küche, um die
Kaffeemaschine anzuwerfen und den Toast in den Röster zu stecken.
Offenbar hatte es geschneit. Auf dem Fenstersims lag eine dicke weiße
Haube.
Ich darf nicht verkommen. Putzen, waschen, Ordnung halten, dachte
Ellwanger und beschloß, gleich nach dem Frühstück die Bettwäsche
abzuziehen und eine Waschmaschine laufen zu lassen. Bei dem über Nacht
gefallenen Schnee konnte er jedenfalls nicht mit Hausschuhen zur Tür
hinaus, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen. Andere Schuhe
anzuziehen, sich gar in die Gummistiefel zu zwängen, dazu hatte er keine
Lust.
Er stellte das Radio an. Bißchen Musik. Nachrichten aus Stadt und Land.
Er hörte gar nicht recht hin, so sehr war er damit beschäftigt, sich zu fragen,
was er nun tagein, tagaus tun solle. Er hatte immer gearbeitet, war immer
ein Arbeitstier gewesen, fuhr so ungern in Urlaub wie Inspector Barnaby,
nur hatte Barnaby Frau und Tochter und seinen ergebenen Sergeant Troy; er
hingegen hatte niemanden. Zumindest jetzt niemanden mehr. Seine direkten
Untergebenen, Pilz und Schott, würden ab sofort ohne ihn auskommen
müssen, und wer weiß, vielleicht rückte einer von ihnen nach, Schott
vielleicht, aber das ging ihn nichts mehr an.
Da fiel sein Name. Im Radio. Er stand auf und stellte den Apparat lauter.
Eine kurze Meldung: »… Kriminalhauptkommissar Ellwanger hat nach den
gegen ihn erhobenen Vorwürfen heute den Dienst quittiert. Mit einem
Strafverfahren ist nicht zu rechnen. Für weitere Auskünfte stand er der
Presse nicht zur Verfügung.«
Das war's also. Es dürfte eine der letzten Meldungen in der
Angelegenheit gewesen sein. Ab jetzt würde wahrscheinlich Ruhe
einkehren. Sicher, er hatte x Angebote bekommen, von Radio- und
Fernsehsendern landauf, landab, er hätte die große Talkshowtour abreißen
und dabei mit einer gewaltigen Zustimmung rechnen können. Paar heikle
Fragen von Anwälten, die sich künstlich aufmaschelten, mehr war an
Widerstand nicht zu erwarten gewesen. Trotzdem, er war froh, jedes dieser
Angebote abgelehnt zu haben. Ein Mann redete nicht stundenlang darüber,
warum er etwas getan hatte. Ellwanger jedenfalls nicht. Das war etwas für
Frauen, die alles breitschwätzen mußten, wie zum Beispiel seine
Ehemalige, die zuletzt stundenlang am Telephon gesessen hatte. Vielleicht
war's aber auch ein Fehler, so stur gewesen zu sein. Jetzt hockte er in Solln
herum und wußte nicht, was tun. Die Fernsehauftritte hätten ihn sicher erst
einmal beschäftigt, wer weiß, vielleicht einen ansehnlichen Strom Frauen in
sein Bett gelenkt, welches er derzeit nur mit Killmousky teilte. Anders als
früher hätte er jetzt ja alle Zeit der Welt gehabt, sich den Frauen zu widmen.
An Zuschriften, auch von Männern übrigens, die meisten enthusiastisch und
ihn als Helden feiernd, mangelte es jedenfalls nicht. Und wenn er sich im
Spiegel betrachtete, fand er sich immer noch ganz in Ordnung. Etwas
mager, sehnig, mit scharfem Blick, die Haare so ziemlich alle noch auf dem
Kopf, inzwischen allerdings ergraut.
Aber es grauste ihn schlicht, aller Welt erklären zu sollen, was in seinem
Kopf vor vier Monaten vorgegangen war, als er Granitza zum ersten Mal
gegenübersaß. So langsam wußte er selbst nicht mehr genau, was da
passiert war. Er erinnerte sich intensiv an die hellen Augen und die
unnatürlich weiße Haut, die lässige Pose und das zugleich Gespannte, wie
der Kerl auf der anderen Seite des Tisches gesessen hatte. Viel zuviel war
darüber schon vermutet und geredet worden. Die Leute quasselten eh viel
zuviel über sich selbst. Ellwanger hatte das immer schon gehaßt, obwohl er
ein Spezialist darin war, sich in seinen Verhören den Quasseltrieb der
Menschen zunutze zu machen.
Er strich Butter auf den Toast. Als er hineinbiß, horchte er auf das krosse
Geknacks in seiner Mundhöhle. Ja, die Leute quasselten und quasselten und
verrieten sich dabei zunehmend selbst, aber nur, wenn auf der anderen Seite
des Tisches einer saß, der sich darauf verstand, den Mechanismus in Gang
zu setzen. Was das anlangte, war Ellwanger ein Könner, ein ganz großer
sogar. Immer wieder war ihm bescheinigt worden: Richard Ellwanger, unser
Verhör-As! Auch Kollegen, die ihn kaum kannten, hatten vom Verhör-
Ellwanger schon mal gehört. Er war eine allseits anerkannte
Verhörbegabung, wahrscheinlich die größte in ganz München. Nicht nur
das: sein Dezernat war das mit der höchsten Aufklärungsquote bei
Schwerverbrechen in ganz Bayern, weit über Bayern hinaus.
Der Toast war inzwischen in ihm verschwunden. Die erste Tasse Kaffee
getrunken. Er zündete sich eine Zigarette an. Vor der zweiten Tasse rauchte
er immer eine Zigarette. Das würde er wahrscheinlich die nächsten Jahre
über beibehalten. Aber vielleicht änderten sich seine Gewohnheiten ab jetzt
radikal. Er war ja nun gezwungen, ein ganz anderes Leben zu führen.
Rundherum gab es niemanden, den er hätte verhören können. Frau
Kirchschlager zu verhören war jedenfalls keine plausible Aufgabe.
Seine Technik war eigentlich nicht besonders trickreich, zumindest
kamen keine Tricks zur Anwendung, mit denen man ein Lehrbuch hätte
füllen können. Vielleicht besaß er einfach die Gabe, sich in Leute
hineinzuversetzen. Er trat den Verdächtigen immer sehr korrekt gegenüber,
verzichtete auf böse Spielchen, war nicht kleinlich, wenn sie zu rauchen
oder etwas zu trinken wünschten, ließ schon mal ein alkoholfreies Bier
kommen, wenn er das Gefühl hatte, sein Gegenüber brauche dringend etwas
Alkoholähnliches, um überhaupt ein bißchen aufzutauen. Ellwanger fixierte
sein Gegenüber auch nicht durchgehend, sondern ließ immer wieder von
ihm ab und sah zum Fenster hinaus.
Hinhören, das konnte er allerdings genau. Ellwanger war mit
Fledermausohren zur Welt gekommen. Kleine Unschärfen, das
Brüchigwerden der Stimme, Gehüstel, Räuspern – er registrierte alles mit
gespannter Aufmerksamkeit, blieb dabei äußerlich ruhig. Ellwanger war das
Wohlwollen in Person, das wandelnde Verständnis auf zwei Beinen. Alles
andere als ein scharfer Hund. Aber da täuschten sich die Leute, mit denen er
es zu tun bekam. In ihm loderte eine Aufklärungsenergie, die er bei seinen
Kollegen oft vermißte. Er wollte die Kerle einbuchten. Und zwar möglichst
rasch und für eine möglichst lange Zeit. Apropos Kerle – mit Frauen hatte
er zwar auch öfter gesprochen, aber selten waren sie als Hauptverdächtige
verhört worden, jedenfalls nicht bei den schweren Delikten, mit denen er es
zu tun bekommen hatte.
An der Terrassentür hörte er es maunzen. Das war ungewöhnlich.
Killmousky trieb sich ja sonst tagsüber draußen herum. Selbst an den freien
Tagen, an denen Ellwanger zu Hause war, zeigte sich der Kater selten. Er
öffnete ihm die Tür. Killmousky spazierte herein, etwas zögernd, als wisse
er nicht warum, sah zu ihm hoch – eher wie ein Hund und nicht wie eine
Katze, dachte Ellwanger –, dann drehte er sich um und wollte wieder raus.
Ellwanger war gerührt. Der Kater hatte offenbar bemerkt, daß sich etwas
geändert hatte, und war nur hereingekommen, um zu schauen, ob noch alles
in Ordnung war. Killmousky liebt mich, er ist mein einziger Freund, dachte
Ellwanger in einem Anflug von Selbstgerührtheit, von Selbstmitleid nur
schwer zu unterscheiden. Sofort kam ihm der Gedanke reichlich überspannt
vor. Killmousky hätte sich wahrscheinlich jedem gegenüber anhänglich
gezeigt, der ihm sein Futter servierte und der bereit war, das beliebte
Gartenspiel frühmorgens mit ihm zu treiben.
Ellwanger tat es leid, daß er heute nicht Killmouskys Wintervorführung
erlebt hatte. Sobald der erste Schnee gefallen war, geriet der Kater immer
groß in Form. Er inspizierte den Schnee, testete bei den ersten Schritten
vorsichtig, wie weit er einsank, wurde urplötzlich von einer Hupf- und
Springlust gepackt – ein weiß bestäubter Irrwisch mit gesträubtem
Schwanz, der den Baum hochschoß und dabei den Schnee von den Ästen
fegte, was derart komisch aussah, daß Ellwanger, der einzige wache
Mensch weit und breit in der dunklen, schneeüberglänzten Früh, laut
lachend in seinem Garten stand.
Hatte er etwas falsch gemacht? Etwas Fundamentales? Würde er, wenn er
die Konsequenzen gekannt hätte, wieder so gehandelt haben? Yes, he would.
Natürlich hatte er sich in einer gefährlichen Grauzone bewegt, wofür er aus
gutem Grund vom Dienst ausgeschlossen worden war. Ellwanger
bemitleidete sich deswegen nicht. Sein Vorgesetzter hatte gehandelt, wie er
hatte handeln müssen. Das Dienstrecht tat gut daran, einen Übergriff, wie er
ihn sich geleistet hatte, nicht zu dulden. Sonst wären willkürlichen
Verheerungen jeder Art Tür und Tor geöffnet und der Wahrheitsfindung
keineswegs gedient.
Trotzdem. Es war die Entscheidung weniger Augenblicke gewesen.
Nicht langatmig durchdacht, mögliche Konsequenzen nicht sorgfältig
erwogen. Ellwanger hatte urplötzlich beschlossen, von seiner sanften,
insistenten Art abzuweichen und den jungen Mann zu bedrohen. Natürlich
aus Not. Ellwanger hatte zum damaligen Zeitpunkt davon ausgehen können,
daß die beiden Mädchen noch am Leben waren. Mit ihrem Verschwinden
mußte der Mann zu tun haben. Zwei glaubwürdige Zeugen hatten gesehen,
wie sie zu ihm ins Auto gestiegen waren. Die Zeugen hatten sich nichts
dabei gedacht, weil alles friedlich zugegangen war. Granitza war ein
Nachbar. Die Mädchen kannten ihn gut und hatten ihm wohl vertraut.
Vielleicht hatte er behauptet, von der Mutter beauftragt worden zu sein, sie
von der Schule abzuholen.
Seine Arroganz war unerträglich. Er studierte Philosophie. Behauptete, er
beschäftige sich mit Nietzsche und gebe sich nicht mit kleinen
Schulanfängerinnen ab, räumte aber ein, sie aus der Ferne schon einige
Male gesehen zu haben. Immerhin, es seien ja Zwillinge, und die fielen auf.
Daß er ihn, Ellwanger, sofort beleidigt hatte, war nicht der Grund für den
Groll, den der Kommissar rasch in sich wachsen spürte. Ein kleiner
Kriminaler wie er habe ja wohl von Nietzsche keinen blassen Schimmer.
Man könne von Glück sagen, wenn er schon mal dessen Namen gehört
habe. Ellwanger hatte diese Bemerkungen ruhig hingenommen. Aber
wieder und wieder war das Photo vor seinem inneren Auge aufgetaucht.
Die Zwillinge waren hübsch, sehr sogar. Wie Verschwörerinnen standen sie
mit ihren großen Schultüten nebeneinander, auf eine geheime Art innig
verbunden. Sie waren schlau, das sah man sofort. Sie waren hinreißend, wie
es nur Kinder sein können, die den Erwachsenen weder schöntun wollen
noch etwas von ihnen fordern.
Ellwanger war von dem Photo regelrecht verzaubert, ja, ergriffen. Er
hatte schon viele Bilder von Opfern gesehen, einige anziehende Frauen
waren auch darunter gewesen, aber noch nie war ihm der Anblick einer
Photographie so zu Herzen gegangen. Gewiß, selbst als routinierter
Polizeibeamter war er niemals unempfänglich dafür gewesen, welche
Leiden den Opfern zugefügt worden waren. Es hatte dafür allerdings immer
eine Grenze gegeben, denn zuviel an Mitleid trübte den Blick. Als Ermittler
brauchte man einen klaren Verstand, um nicht mit vorschnellen
Überzeugungen, die mehr dem Herzen gehorchten als dem Hirn, die
eigenen Nachforschungen zu gefährden.
Aber dieses Photo hatte ihn gepackt. Unerklärlicherweise empfand er
Trauer darüber, nicht selbst der Vater dieser Kinder zu sein. So etwas war
ihm noch nie widerfahren. Auch die Eltern der Zwillinge waren ihm auf
Anhieb sympathisch. Sie wohnten in Garching, er arbeitete als Ingenieur,
sie als Zahntechnikerin. Natürlich wußten sie vor Verzweiflung nicht mehr
aus noch ein, waren völlig erschöpft, weil sie nicht schlafen konnten. Aber
kein vorschnelles Wort der Anschuldigung gegen die Polizei oder sonstwen.
Er hatte ihnen versprochen, alles, wirklich alles zu unternehmen, um die
Mädchen zu finden. Und die Eltern hatten ihm vertraut. Zitternd gab ihm
die Mutter beim Abschied ihre Hand und barg kurz den Kopf an seiner
Schulter.
Ellwanger war entschlossen, die Mädchen den Eltern lebendig
zurückzugeben, und zwar möglichst rasch. Mit Hochdruck hatte er die
Ermittlungen vorangetrieben – und schon nach einem Tag: Volltreffer!
Granitza mit der weißen Haut und dem aasigen Benehmen saß ihm am
Verhörtisch gegenüber und beleidigte ihn.
Was er noch nie getan hatte: urplötzlich stand Ellwanger auf, schob den
Stuhl zurück an den Tisch, umfaßte die Lehne mit beiden Händen und
verkündete mit kalter, ruhiger Stimme, er werde Granitza jetzt in den Keller
schleifen und ihn dort so zurichten, daß er vor Schmerzen nur noch brüllen
könne. Keiner werde ihn da unten hören. Und er, Ellwanger, wisse genau,
wie er zuschlagen müsse, damit auf der Haut keine sichtbaren Spuren
zurückblieben. Und wenn das nicht reiche, werde er ihn an einen Apparat
anschließen, auf daß ihm Hören und Sehen vergehe.
Paar Sekunden lang hatte ihn Granitza eher verwundert als frech
angeschaut. Offenbar war er auf eine so jähe Wendung nicht gefaßt
gewesen. Dann knickte er ein. Wurde zum Jammerlappen, legte schützend
die Hände vors Gesicht und begann zu wimmern.
In weniger als fünf Minuten war er soweit. Er gab den Ort preis, an dem
er die Mädchen gefangenhielt, flehte nur darum, nicht geschlagen zu
werden.
Ellwanger hatte ihn nicht angefaßt.
Aber natürlich war seine Drohung von einer Kamera aufgezeichnet
worden. Für Ellwanger, Pilz und Schott gab es nur eins: sie fuhren an den
bezeichneten Ort bei Wolfratshausen, einen Schuppen nahe der
Isar. Währenddessen fing sich Granitza wieder, man besorgte ihm einen
Anwalt, dem er sofort erzählte, wie er durch die Androhung von Folter zu
einem Geständnis gezwungen worden war. Die Aufzeichnung wurde
konfisziert. Alles ging seinen Gang.
Ellwanger legte das Toastbrot zurück in den Kasten, stellte die
Kaffeetasse ins Spülbecken und steckte sich eine neue Zigarette an. Der
Anblick der toten Mädchen war in sein Gedächtnis gebrannt. Sie lagen in
einer engen Holzkiste, Kopf an Kopf, aneinandergeklammert waren sie
erstickt. Als Pilz und Schott die Kiste öffneten – Pilz hatte mit einer
Beißzange die Nägel herausgezogen –, war Ellwanger ein tiefer
Seufzer entfahren. Die Leichen der Mädchen waren nicht verstümmelt, und
sie waren bekleidet, trotzdem war der Anblick herzzerreißend. Ellwanger
mußte sich abwenden, damit seine Kollegen nicht sahen, wie ihm die
Tränen in die Augen schossen.
Mit der brennenden Zigarette im Mund öffnete Ellwanger die
Terrassentür, die immer ein wenig klemmte. Draußen schneite es. Ein
dichtes Flockenheer strudelte herab, das alles weiß überdeckte. Auch an der
reinen Schneeluft konnte Ellwanger keine Schuld empfinden. Im
entscheidenden Moment hatte er richtig gehandelt. Was in einem
Augenblick richtig schien, konnte als Prinzip dennoch fatal sein, daran
zweifelte er nicht. Ihn beschäftigte viel mehr, warum die Drohung, Granitza
in den Keller zu schleppen, so überzeugend, warum seine Stimme, seine
Haltung so echt gewirkt hatten. Warum er selbst daran geglaubt hatte.
Jäh überkam ihn ein Schmerz, so stark, daß ihm die Zigarette in den
Schnee fiel und er sich zusammenkrümmte.
Zarte Flocken landeten auf seinem Kopf und seinen Schultern. Der
Keller. Sägen, Zangen, Hämmer, Schnitzmesser, Feilen, Schraubenzieher.
Mit System an der Wand aufgehängt. Eine Werkbank mit Schraubstock. Es
war genau der Schmerz, der ihn als Kind durchfahren hatte, wenn er vom
Vater Prügel bezog. Methodische Prügel. Nach Plan ausgeteilte Schläge.
Ordentlich verabreicht. Mit blitzblanken Geräten als stummen Zeugen, die
in Reih und Glied an der Wand hingen.
II

Drei Wochen waren inzwischen vergangen. Die Wohnung verkam


allmählich. In der ersten Woche hatte Ellwanger noch peinlich auf Ordnung
gehalten, dann war ihm die Kontrolle entglitten. Dreckiges Geschirr stapelte
sich in der Küche. Früher hatte da keine einzige gebrauchte Tasse
gestanden. Der Boden hätte auch mal wieder abgesaugt werden können.
Aus seinem Bademantel hatte Ellwanger kaum mehr herausgefunden. Nur
zweimal war er zum Einkaufen losgefahren, ansonsten hatte er sich draußen
kaum bewegt. Es war, als lastete ein Fluch auf ihm, den er mit zuviel
Alkohol ertränkte.
Letzten Donnerstag hatte er sich mit seiner Ehemaligen in einem Café
getroffen. Sie hatte von seiner Situation erfahren und plötzlich Mitgefühl
gezeigt. Ellwanger waren ihre gutgemeinten Reden so auf die Nerven
gegangen, daß er sich beherrschen mußte, um nicht mit der Faust auf den
Tisch zu schlagen. Verstockt war er vor seinem Kaffee gehockt, hatte zuviel
Zucker hineingeschüttet und mit der Gabel unbeherrscht am harten Boden
des Apfelkuchens rumgedrückt, bis der fast vom Teller geflogen wäre. Was
war bloß aus ihnen geworden? Als junges Paar auf seinem Motorrad, er oft
genug hintendrauf, hatten sie eine gute Zeit verlebt. »R« und »R«, Richard
und Renate, waren durch die Gegend geknattert und hatten das Leben
genossen. Damals hatte sie die Haare lang getragen. Jetzt hatte sie eine
praktische Kurzhaarfrisur, die ihr nicht stand, hatte eine
Gesprächstherapie, zwei Wochenenden mit Familienaufstellung hinter sich,
mehrere Ayurveda-Kuren und einen Feng-Shui-Kurs, obendrein ging sie
dreimal die Woche ins Fitneßstudio, was nichts daran änderte, daß sie
einsam war und unglücklich und keinen neuen Mann fand. Allen Ernstes,
sie bot an, seine Wohnung in Solln nach Feng-Shui-Koordinaten
einzurichten, damit sich sein seelisches Gleichgewicht wieder einpendelte.
Er lehnte dankend ab, mit etwas ins Säuerliche zerzogenem Mund. Einen
neuen Mann hätte er ihr von Herzen gegönnt, vielleicht wäre sie dann
wieder erträglicher geworden. Ellwanger hatte plötzlich Mühe, sich
vorzustellen, daß er mit dieser Frau einmal verheiratet gewesen sein sollte.
Zwölf Jahre lag es schon zurück, vielleicht waren es mehr. Aber es gab
keinen Grund, sich über sie zu erheben. Einsam war er schließlich auch.
Nur trieb ihn die Verzweiflung nicht dazu, pausenlos zu schwätzen.
Vielleicht mußte sie sich permanent selbst hören, um zu fühlen, daß sie
noch am Leben war.
Der Abend nach dem Treffen war schlimmer als die anderen Abende.
Ellwanger war so fertig, daß er schon um neun Uhr ins Bett ging. Wenig
später klingelte das Telephon. Frau Kirchschlager am Apparat, aus New
York. Ihre muntere Stimme beflügelte ihn sofort. War etwas mit dem Haus
nicht in Ordnung? Sollte er nachsehen? Nein, es ging nicht um ihr Haus. Sie
hatte gehört, was passiert war, und lud ihn nach New York ein. Tatsache,
nach New York! Nicht einfach so, sondern mit einem Auftrag in der
Tasche – speziell für ihn. Ellwanger glaubte für einen Moment, die
Phantasie sei mit ihm durchgegangen. Aber nein, Frau Kirchschlager
erklärte ihm seelenruhig, er könne von jetzt an als freier Detektiv arbeiten
und sie habe für ihn den ersten Auftrag an Land gezogen. Sie kicherte: er
sei ja so begabt! Ihn könne man nicht einfach so von der Fahne lassen. Ein
gutbezahlter Job warte auf ihn, vergeben von einem reichen New Yorker, zu
recherchieren sei aber in Deutschland. Schleunig solle er seine Sachen
packen und herfliegen, alles Weitere würde ihm dann erklärt.
Ellwanger kam sich komisch vor, wie er da im Pyjama am Schreibtisch
hockte, den Hörer in der Hand, während Killmousky um seine nackten Füße
strich. Er zögerte ein bißchen, wenn auch nicht lang. Die Sache kam ihm
hochgradig spinnert vor, aber die Stimme der Kirchschlagerin tönte so
angenehm, daß er ihr zuliebe auch die nächste Mondrakete bestiegen hätte.
Er versprach, sie morgen zurückzurufen, sobald er mit dem Nachbarskind
gesprochen haben würde, das sich immer um Killmousky kümmerte, wenn
er nicht da war.
Jetzt war er so aufgekratzt, daß an Schlaf nicht mehr zu denken war. Er
griff sich Killmousky, um sich zu beruhigen, aber Killmousky schätzte es
nicht, wenn er dazu herhalten sollte, als Batterie mit abzuführenden
Emotionen aufgeladen zu werden. Ellwanger ließ ihn wieder vom Schoß
und tigerte nun selbst in den Zimmern her und wieder hin. Nach New York!
Heilandzack, immer schon hatte er da mal hinreisen wollen, es aber nie
geschafft. Er hätte schreien und juchzen mögen vor Aufregung. Aber –
Jesusmariaundjosef – sein Englisch war derart kümmerlich, wie sollte das
gehen? Seit der Schulzeit hatte er nur hie und da, mehr schlecht als recht,
ein paar Brocken Englisch gesprochen. Wie sollte er einem amerikanischen
Auftraggeber gegenübertreten, ohne sich bis auf die Knochen zu blamieren?
Brauchte er womöglich die Kirchschlager als Dolmetscherin? Die
Vorstellung trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Aus Ellwanger, dem
erfahrenen Kriminalkommissar im vorzeitigen Ruhestand, wurde
urplötzlich wieder der kleine Bub aus dem Hohenlohischen, der sich vor
allem und jedem fürchtete. Trotzdem, er hatte gar keine Wahl. Er würde es
tun. Besser, sich in New York zu blamieren, als in Solln zu vergammeln.
Mit Annett, der Tochter der Nachbarin zur Linken, kam er schnell
überein. Eine flotte Fünfzehnjährige. Auf sie war Verlaß, und sie liebte
Killmousky. Ihr konnte er getrost den Hausschlüssel übergeben, sie würde
gut für den Kater sorgen. Als sie vor drei Jahren einen Ladendiebstahl
begangen hatte, hatte er ihr aus der Patsche geholfen und den Ladenbesitzer
davon überzeugt, die Anklage fallenzulassen. Seither zeigte sich Annett
anhänglich und erwies ihm kleine Dienste.
Alles war bis ins Detail für ihn vorbereitet. Für nächsten Montag war der
Flug nach New York schon gebucht, sogar ein Schnellvisum erteilt worden,
das er im Generalkonsulat in der Königinstraße nur abzuholen brauchte.
Geld mußte noch gewechselt werden. In einem Hotel namens Pierre war ein
Zimmer für ihn reserviert.
Der große Airbus A 340 mit dem blauen Kranich hob pünktlich vom
Boden ab. Leider hatte Ellwanger einen quälenden Sitzplatz erwischt. Er
saß am Gang neben einer sehr fetten Frau. Ihr Fett quoll unter und über der
Sitzlehne zu ihm herüber. Außerdem roch sie unangenehm und kruschtete
ständig in ihrer Handtasche vor sich hin. Ellwanger war verzweifelt. Acht
Stunden neben diesem Monster! Eine Tortur! Er machte sich schmal, wie er
nur konnte, um mit dem Fett nicht in Berührung zu gelangen. Es nützte
nichts. Das Fett drang zu ihm herüber und wärmte seine linke Seite.
Ellwanger beschloß, etwas zu tun, wozu er sich normalerweise nicht
befähigt fühlte. Nachdem das Anschnallzeichen erloschen war, stand er auf
und ging nach vorn, um eine der Stewardessen zu bitten, ihm einen anderen
Platz anzuweisen. In der Holzklasse gab es keine freien Plätze mehr. Die
Maschine war ausgebucht. Er besann sich auf seine alten Eigenschaften als
Charmeur, lachte verlegen, hob hilflos die Arme und benahm sich dabei
sehr, sehr höflich. Die Stewardess, eine Blondine mit gelbem Halstuch und
rosigem Teint, schien ihn auf Anhieb zu mögen. Für einen Moment zog sie
sich hinter das Vorhängchen zurück, um seinen Fall mit einem Kollegen zu
besprechen. Und kam wieder zum Vorschein mit einer überraschenden
Lösung: er durfte in die erste Klasse umziehen. Alsbald saß er da vergnügt
als Hahn im Korb und ließ sich verwöhnen. So vorzüglich war er noch nie
gereist. Der Beginn eines wunderbaren Abenteuers eben. Ellwanger war
drauf und dran zu schnurren wie ein zufriedener Kater, als sein Sitz für die
Nacht ausgezogen und vorbereitet wurde. Vor lauter Glück konnte er kaum
schlafen. Wer wußte es, vielleicht blühte ihm jetzt ein ganz anderes Leben,
ein wildes, schönes, reiches, ungeheuerliches. Das bißchen Englisch würde
er schon lernen. Auf den Kopf gefallen war er ja nicht.
Ausgeruht und in bester Verfassung kam er in New York an. Die
Schlangen vor den Beamten, die die Dokumente überprüften, waren lang,
aber es ging schneller als gedacht. Am Ausgang erwartete ihn ein Schild
mit seinem Namen. Ein Mann stand da, der ihn zu einer schwarzen
Limousine führte, in der hinten unglaublich viel Platz war. Eine
Konversation mit dem Fahrer wollte jedoch nicht so recht in Gang
kommen. Ellwanger ärgerte sich, daß er so schlecht sprach, und sah lieber
konzentriert zum Fenster hinaus.
Der Eindruck war machtvoll. Natürlich hatte er in Filmen und auf Photos
New York schon x-mal gesehen. Nichts im Vergleich zur wirklichen Stadt.
Wie im Rausch fuhr er dahin und konnte es kaum fassen. Über ihm
schossen die Häuser empor. An opulenten Eingängen, an Massen von
Menschen fuhren sie vorüber, auf einem Strom dahingleitend neben lauter
gelben Taxis. Kalt war's. Die Passanten steckten in dicken Mänteln und
trugen die Köpfe von Wollmützen bedeckt, die Hälse in Schals gemummelt.
Zusammengescharrte Schneeberge am Straßenrand. Dann hielt der Wagen.
Sie waren vor dem Pierre angelangt. Unbeholfen stolperte Ellwanger aus
dem geöffneten Schlag. Der Portier nahm seine Tasche vom Fahrer in
Empfang, ohne daß es zu verhindern gewesen wäre. Ellwanger schämte
sich für das schäbige Ding, von dem an manchen Stellen schon die obere
Beschichtung abgeplatzt war.
Noch nie hatte er so ein Hotel betreten. Schon der Eingang war
beeindruckend. Gediegen, altmodisch, opulent. Schwarz-weiß gefliester
Marmorboden, spiegelglatt; an den Wänden Lindgrün und Gold. Man
behandelte ihn mit erlesener Höflichkeit, die ihn einschüchterte. Sein
Englisch war wie weggeblasen. Keine Chance, allein den Aufzug zu
besteigen und in den zwölften Stock zu fahren, um sein Zimmerchen zu
beziehen. Ein junger Mann in dunkler Livree ging auf dem mit dickem
Teppich belegten Gang voran und schloß auf – nein, das führte in kein
Zimmerchen, das öffnete sich in zwei sagenhaft üppige Zimmer, in denen er
selbst sich absurd ausnahm, noch mehr seine abgeschabte Tasche, die jetzt
auf einer gepolsterten Bank ruhte. Ellwanger kam sich vor wie ein Penner,
der versehentlich in einem Film herumstolperte, der von reichen Leuten
handelte. Was tun? Der junge Mann öffnete die Tür zum Badezimmer,
schaltete dort die Beleuchtung ein und sah ihn erwartungsvoll an. Einen
Zehn-Dollar-Schein klaubte Ellwanger aus der Brieftasche und übergab ihn
mit einer Handbewegung, die lässig wirken sollte, aber steif ausfiel. War
das übertrieben? Oder zuwenig? Ellwanger wußte es nicht und kam sich
dumm vor.
Er zog den Mantel aus und hängte ihn ordentlich auf einen Bügel. Als er
seine Tasche auspackte und den durchsichtigen Beutel mit Rasierzeug und
Zahnpasta herausnahm, um ihn im Bad abzustellen, überkam ihn erneut ein
Schwankgefühl zwischen Hoch und Gedrückt. In so einem Bad war er noch
nie gewesen. Sein Beutelchen auf der Ablage sah derart schäbig aus, daß er
fast lachen mußte. Durfte einer wie er sich hier wirklich rasieren? Durfte
man in ein so edles Klo überhaupt pinkeln? Handtücher, Stapel von
Handtüchern, Kristallkaraffen mit – ja was? Wahrscheinlich Badeessenzen.
Eine Wanne mit vergoldeten Hähnen, zumindest sahen sie so aus.
Ellwanger beschloß, erst mal darin einzutauchen, um sich mit dem neuen
Gehäus anzufreunden. Beim Auspacken der Zahnbürste wurde ihm wieder
mulmig. Die Borsten standen nicht mehr stramm in Reih und Glied, sie
waren an den Seiten ausgefranst und etwas platt gedrückt. Genau die Art
von Bürste, vor der die Zahnärzte ihre Patienten warnten.
Als er ins Schlafzimmer zurückging, klingelte das Telefon. Frau
Kirchschlager begrüßte ihn mit gewohnter Leichtigkeit. Na, zuviel
versprochen? Das Zimmerchen nicht schlecht, was? Ausruhen solle er sich.
Es genießen. Das Fenster öffnen und auf den Central Park hinausschauen.
Am Abend, so gegen sechs, würde sie ihn an der Rezeption erwarten und
zum Essen ausführen. Ellwanger legte auf und fühlte sich gleich heimisch.
Mit der Kirchschlagerin an seiner Seite konnte er diesen märchenhaften
Luxus bewältigen. Ihre angenehme Stimme schlug eine Brücke zwischen
ihm und New York.
Er tat, wie ihm geheißen, und öffnete das Fenster. Als weiß bestäubtes
Feld mit kahlen Bäumen lag der Anfang des Central Park zu seinen Füßen.
Gegenüber, in einiger Entfernung, ein hohes Hotelgebäude, wahrscheinlich
höher als das Pierre. Linker Hand viele andere Wolkenkratzer, deren
Silhouetten ihm bekannt vorkamen. Kalt war's, saukalt sogar, obwohl noch
immer die Sonne schien. Von unten ertönte der Lärm von Hupen, aber
dezent, von weit her. In dieser Stadt war alles in Bewegung, und der Winter
glitzerte und blitzte wie nicht gescheit mit seinen Abermillionen von
Kristallen.
Kurz vor sechs war er wieder unten in der Halle. Pünktlich fand sich dort
auch Frau Kirchschlager ein. Sie war immer pünktlich, auch das schätzte er
an ihr. Ellwanger besaß einen eingebauten Pünktlichkeitsgenerator. Er war
in seinem langen Leben höchstens vier- bis fünfmal zu spät gekommen, und
dabei war jedesmal höhere Gewalt im Spiel gewesen.
Die Begrüßung fiel herzlich aus. Ellwanger gestand ihr sofort, daß er von
dem Luxus schier überwältigt war, er erzählte ihr auch, wie schäbig seine
Tasche auf der gepolsterten Bank ausgesehen hatte. Sie lachte. Es war eine
der angenehmsten Eigenschaften der Kirchschlagerin, daß es unnötig war,
vor ihr zu protzen oder den mondänen Maxe herauszukehren.
»Ich bin wieder das arme Unterschichtskind aus Gerabronn, das es wie
durch ein Wunder nach New York verschlagen hat. Was mache ich hier
bloß? Brauche ich einen Benimmkurs?«
»Das Eingewöhnen geht schneller, als Sie denken. New York ist ziemlich
einfach. Es wimmelt hier von Fremden, und alle müssen sich irgendwie
zurechtfinden und miteinander auskommen.«
Sie schlugen einen Weg durch den verschneiten Park ein. Flocken
trudelten herab, erst sehr vereinzelt, dann begann es richtig zu schneien.
Unter ihren Füßen knirschte der gefrorene Schnee, von oben wurden ihre
Köpfe und Schultern weiß bestäubt. Etwa zwanzig Minuten waren sie
schräg durch den Park gegangen, dann langten sie auf der anderen Seite an,
vor dem Haus, in dem die Kirchschlagerin wohnte. Sie schüttelten den
Schnee von ihren Mänteln und Köpfen.
Für Ellwanger war alles aufregend. Das erste Privathaus in New York,
das er betrat. Der Eingang war düster. Die Treppe ziemlich breit. Hoch
ging's in den dritten Stock. Frau Kirchschlager klingelte. Er wunderte sich,
weshalb sie nicht einfach aufschloß. Ein Mann öffnete die Tür, etwa so groß
wie Ellwanger, nur kräftiger. Mit einem anderen Mann hatte er nicht
gerechnet. Im ersten Moment war Ellwanger enttäuscht. Er wollte die
Kirchschlagerin für sich allein haben, zumindest an diesem besonderen Tag.
Der andere störte da nur. Offensichtlich war der Mann auch aus Bayern, er
hieß sogar Sepp und hielt Ellwanger die Hand hin. Sein Händedruck war
warm und nicht zimperlich. Für einen so kompakten Mann hatte er ziemlich
weiche Lippen.
»Ich lass' euch erst mal allein, muß wieder ab in die Küche«, sagte Sepp
und verschwand in einem Kabuff zur Linken.
Die Wohnung war klein, aber spektakulär. Zwei Zimmer waren komplett
ausgemalt im Stile der Lüftlmalerei, wie man sie manchmal noch an den
Vorderfronten bayerischer Wirtshäuser zu sehen bekam. Nur marschierten
hier keine Leute in Trachtenprozessionen einher und hielten Körbe gefüllt
mit Würsten und Broten in die Höhe. Hier gab es einen Sonnenaufgang, der
ein griechisches Tempelchen mit vielen Statuen beschien; auf der
gegenüberliegenden Seite ging der Mond über der Akropolis auf. Die
Bücherschränke und sonstigen Möbel, die an den Wänden standen, waren
genau eingepaßt. Sorgsam war um sie herum gemalt worden.
Ellwanger war verblüfft. In ihrem großen Haus in Solln gab es solche
Malereien nicht.
»Es ist hauptsächlich das Werk von Sepp, er restauriert ja sonst Gemälde,
aber die Wand ist von mir. Wir wollten's halt a bissel griechisch.« Die
Kirchschlagerin lachte. Ihre Wand war die mit dem Mond über der
Akropolis. Nein, das war kein Kitsch, wie man ihn manchmal in
griechischen Restaurants antraf. Es war wirklich schön. Ellwanger kannte
sich in der Malerei zwar nicht aus, aber er besaß ein Gespür dafür, was
kitschig war und was nicht. Das hier war einfach nur kurios, aber schön,
sehr schön sogar.
»Bitte setzen Sie sich mit Blick auf die Akropolis«, sagte Frau
Kirchschlager und wies auf einen Sessel, dann drohte sie ihm ein bißchen
mit dem Zeigefinger, »dort dürfen nur artige Gäste sitzen.« In ein altes Glas
schenkte sie ihm den Wein ein. Daß sie schöne Antiquitäten und schönes
Geschirr besaß, das kannte er aus ihrem Haus in Solln. Wobei die Teile oft
nicht ganz vollständig waren, sondern zusammengestückelt, was ihren Reiz
für Ellwanger nur erhöhte. Er hatte sich immer mit weißem
Gebrauchsgeschirr und schlichten Gläsern begnügt, hatte es aber gern,
wenn bei anderen Leuten andere Sachen auf den Tisch kamen. Gottlob, da
stand auch ein Aschenbecher. Bei der Kirchschlager durfte man rauchen,
obwohl sie selbst nicht rauchte.
»Jetzt legen wir mal ein bißchen los, bevor Sepp mit dem Essen kommt«,
sagte sie. Ihre Miene wirkte geschäftsmäßig. »Morgen um elf nehme ich Sie
mit zu Trevillyan, wir können zu Fuß gehen, ist nicht weit von Ihrem
Hotel.«
Howard Clayton Trevillyan hieß sein Auftraggeber genau genommen.
Den Nachnamen mußte Ellwanger erst verdauen. Er wußte auch nicht, wie
man ihn schrieb.
»Was ist das für ein Mann, der mich da erwartet?«
»Stur und schwierig, aber er hat auch seine guten Seiten. Mir ist er
jedenfalls nicht unsympathisch. Sein Geld stammt hauptsächlich noch aus
der Zeit des Eisenbahnbaus. Die Familie Trevillyan wurde damit
schwerreich. Danach das Übliche – Immobilien in Washington und New
York, mehr weiß ich nicht. Schwätzer kann er übrigens nicht leiden. Aber
da sehe ich bei Ihnen keine Gefahr.«
»Sie hatten am Telephon eine Tochter erwähnt.«
»Er hat zwei. Oder hatte. Die ältere ist am Leben, ein ziemlicher Feger,
wenn Sie mich fragen. Victoria, die jüngere, ist tot. Unter nicht ganz
geklärten Umständen. Vicky war noch jung, gerade mal vierunddreißig.«
»Woran ist sie gestorben?«
»Schlaftabletten, jede Menge. Die hätten allein vielleicht schon genügt,
sie umzubringen. Sie ist aber obendrein vom Balkon gesprungen. Vielmehr
von der Terrasse, das war kein schlichter kleiner Balkon. Trevillyan glaubt
felsenfest, daß sie geworfen wurde. Die polizeilichen Ermittlungen konnten
das aber nicht bestätigen.«
»Er hat den Schwiegersohn im Verdacht?«
»Hat er.«
»Weshalb?«
»Ich kann's nicht beurteilen. Zu mir war der Mann immer sehr höflich,
vielleicht ein bisserl fischig. Auffällig ist aber, daß er sehr gut aussieht. Er
könnte so ziemlich jede Frau um den Finger wickeln.«
»Und sie?«
»Sie … na ja, war nicht gerade das, wofür die Männer Klimmzüge
machen. Aber da möchte ich Sie lieber nicht beeinflussen. Bei so was kann
man sich leicht täuschen. Urteilen Sie selbst. Man wird Ihnen sicher Photos
zeigen. Außerdem müssen Sie mit der Schwester reden. Ich glaube, sie ist
diejenige, die die Sache ins Rollen gebracht hat.«
»Und das Motiv wäre? Geld?«
»Ziemlich viel sogar. Aus der Perspektive von Trevillyan war der
Schwiegersohn ein Habenichts. Er hielt ihn von Anfang an für einen
Hochstapler, der sich als Broker ausgab, aber von Bankgeschäften wenig
Ahnung hatte. Er heißt übrigens Paul Henrik Larson, Vater Norweger, die
Mutter Irin. Beide früh gestorben. Keine Geschwister. Will in irgendeinem
Nest in Ohio geboren sein. Das wird aber bezweifelt. Sie müssen mit der
Schwester reden. Die glaubt steif und fest, der Mann sei in Deutschland
geboren, und zwar in Ihrer Gegend, im Hohenlohischen. Wie sie das
erfahren haben will, weiß ich nicht. Da müssen Sie sie selbst fragen.
Schlüssige Beweise gibt es aber anscheinend nicht.«
»Ahnt der Schwiegersohn, daß man ihn verdächtigt?«
»Ich glaube nicht. Trevillyan ist schlau. Der läßt sich nichts anmerken.
Nicht der Typ, der sich seinen Kram von der Seele redet. Und die Tochter,
die noch lebt, ist ihm ähnlich.«
»Es soll also möglichst verdeckt ablaufen.« Ellwanger steckte sich eine
neue Zigarette an und blies den Rauch Richtung Zimmerdecke.
»Unbedingt. Larson darf nicht merken, daß Sie hinter ihm herspionieren.
Man wird Sie zwanglos mit ihm bekannt machen. Wie, entzieht sich meiner
Kenntnis. Bisher scheint er jedenfalls nichts davon zu wissen, daß man ihn
verdächtigt.«
»Die Idee wird ihm aber gekommen sein. Falls er überhaupt ein
Hochstapler ist. Die sind in der Regel nicht dumm.«
»Trevillyan ist verschwiegen. Und seine Tochter auch. Ich glaube schon,
daß sie es geschafft haben, ihn in Sicherheit zu wiegen.«
»Wenn er aber tatsächlich ein Deutscher sein sollte, wird er doch
zumindest etwas ahnen, wenn man ihn mit einem Deutschen bekannt
machen will.«
»Das glaube ich nicht. Um Howard Trevillyan sind immer einige
Deutsche. Er hat geschäftlich mit ihnen zu tun. Sie werden als Freund von
mir eingeführt werden. Wir müssen nur noch überlegen, als was genau. Ich
meine, mit was für einem Beruf. Kunsthändler vielleicht?«
»Um Gotteswillen! Wenn der Kerl auch nur ein bißchen clever ist,
durchschaut er das in zwei Sekunden. Außerdem kann man im Netz sehr
leicht nachprüfen, ob es einen Kunsthändler namens Richard Ellwanger
überhaupt gibt.«
»Den Namen müssen wir sowieso ändern.«
»Hoffen wir, daß er in der letzten Zeit keine deutschen Zeitungen las. Da
war nämlich einige Male mein Konterfei drin.«
»Das glaube ich nicht. Er kann ja kein Wort Deutsch – behauptet er
jedenfalls. Der wird sich doch nicht mit einer deutschen Zeitung erwischen
lassen.«
Ellwanger war sich da keineswegs sicher. Eine deutsche Zeitung konnte
man auch an einem abgelegenen Ort lesen, wo man nicht erkannt wurde.
»Und wie wollen wir Sie denn nennen? Bitte nichts allzu Kompliziertes.
Wenn's geht, einen Namen, den ich mir auch merken kann.« Sie lehnte sich
im Sessel zurück und musterte ihn wie in einer Theateraufführung, als wäre
sie gerade erst mit ihm bekannt geworden.
»Ziemlich kommun wären Gerhard Richter oder Gerhard Mayer.«
»Gerhard Mayer dürfte es ziemlich oft geben. Kann ich mir gut merken,
klingt auch besser. Aber ich fürchte, wir müssen noch ziemlich üben, damit
mir der richtige Name nicht rausrutscht.«
Sepp kam mit einer Salatschüssel herein. Ein blaues Muster lief um ihren
Rand. »Auf geht's! Mir san soweit.«
Sie setzten sich um den Eßtisch. Die Stühle hatten hohe Lehnen, waren
aber nicht unbequem.
»Sepp weiß übrigens Bescheid. Er ist der einzige, dem ich davon erzählt
habe. Man kann ihm alles erzählen, er ist verschwiegen wie ein Grab.«
Sepp nickte bloß, ging zurück in die Küche, um Brot und Butter zu
holen. Ellwanger ärgerte sich, daß es noch einen Eingeweihten gab, aber er
ließ sich nichts anmerken. Sepp hatte eine ruhige Art, auch beim Essen.
Loses Geschwätz war seine Sache nicht. Das Brot riß er in Fetzen und
bröckelte es in den Salat. Ein sogenannter vernünftiger Esser, dachte
Ellwanger, der schlingt nichts hinunter, der lebt fünfzehn Jahre länger als
ich. Und er mußte daran denken, wie er mit seinen Kollegen in der Kantine
immer das Mittagessen in sich hineingestopft hatte, weil es meistens
pressierte.
»Ich find's gut, daß Sie dem Heini auf den Zahn fühlen«, sagte Sepp, »ich
glaub', mit dem stimmt was nicht. Aber man kann sich natürlich täuschen.«
»Sie sind ihm begegnet?« fragte Ellwanger.
»Vier oder fünf Mal. Sieht nicht schlecht aus, das muß man ihm lassen.
Aber wenn die kein Geld gehabt hätt', hätt' der sich nie und nimmer mit der
einig'lassen.«
»Ich wollte es nicht so drastisch ausdrücken, aber gedacht haben es alle,
der alte Trevillyan natürlich sowieso«, sagte Frau Kirchschlager.
»Wie lange waren sie denn verheiratet?« fragte Ellwanger.
»Vielleicht drei oder vier Jahre, allerhöchstens fünf.«
»F–ünf«, sagte Sepp und runzelte die Augenbrauen so intensiv, daß sie
fast zusammenstießen.
»Als sie geheiratet haben, kannten wir Trevillyan schon einige Jahre. Wir
lernten ihn übrigens kennen, weil ich mal eine Tapisserie für ihn restauriert
habe. Eine der großen Bildwirkereien aus der Reformationszeit. Martin
Luther spricht von der Kirchenkanzel zu einer dichtgedrängten Schar von
Zuhörern. Wirklich ein exquisites Stück, allerdings nicht ganz so berühmt
wie das Pendant, das Ernst Bogislaw von Croÿ der Greifswalder Universität
geschenkt hat.«
Ellwanger nickte andächtig. Hier war er auf verlorenem Posten. Sepp
räumte die Teller fort und kam alsbald mit einer anderen Schüssel zurück,
aus der es dampfte. Die Spaghetti vongole waren ausgezeichnet. Wirklich,
der Kerl konnte kochen. Ellwanger begann sich an die Anwesenheit von
Sepp zu gewöhnen. In seiner ruhigen Art schien das ein patenter Mann zu
sein. Irgendwann sah Sepp auf seine Uhr. Ein Zeichen für Ellwanger, zu
gehen, obwohl er noch ziemlich aufgekratzt war und munterer
daherschwatzte als gewöhnlich.
Sepp schloß die Wohnungstür behutsam hinter ihnen. Es klackte nur ganz
leise, und daß der Schlüssel gedreht wurde, war nicht zu hören. Seine
großen Hände steckten jetzt in Fäustlingen. Die beiden ließen es sich nicht
nehmen, Ellwanger im Schneegestöber zurück ins Hotel zu geleiten,
obwohl er das Pierre ohne Schwierigkeiten allein gefunden hätte. Man
mußte ja nicht zwingend quer durch den Park gehen, sondern hätte die Ecke
nehmen können. Die Kirchschlagerin hakte sich bei ihm unter und
bestimmte den Weg. Ihren Sepp schien es nicht zu stören. Ellwanger kam
sich wie ein Zwölfjähriger vor, der zum ersten Mal allein verreiste und
damit seinen Eltern Bauchschmerzen bereitete. Für einen ausgewachsenen
Kriminalkommissar, der sich als Spürhund betätigen sollte, ein seltsames
Gefühl.
III

Viel zu erregt war er, um gleich einzuschlafen. Statt einer Minibar in einem
kleinen muffigen Kühlschrank, der vor sich hin rottete, gab es ein von innen
beleuchtetes Glasgehäus, das seine Schätze stolz herzeigte. Ellwanger
entnahm ihm ein Fläschchen Scotch, den er normalerweise nicht gern trank.
Aber in Amerika sollte er sich besser an den Whisky gewöhnen, und
tatsächlich schmeckte er ihm ganz gut. In seinem Kopf rannten Ameisen
auf und ab. Ob er in Gegenwart von Howard Clayton Trevillyan einen
einzigen vernünftigen englischen Satz zustande bringen würde? Bißchen
mehr als so einen Stuß wie nice to meet you, Mr. Trevillyan?. Ob der ihn
gleich feuerte und der Kirchschlager Vorwürfe machte, weil sie einen
Trottel angeschleppt hatte? Nach einiger Zeit beruhigte er sich. Ein
Luxuszimmer im Pierre war nicht der Ort, um unter einem Haufen Sorgen
zu ersticken.
Wunschgemäß wurde er um neun Uhr geweckt. Er war in eine so tief
gelegene Schlafhöhle geklettert, daß er eine Weile brauchte, um
herauszukommen, den Hörer zu greifen und sich zu erinnern, daß er nicht in
Solln in seinem Bett lag, sondern in einer Bettanlage, in der zehn Kerle eine
Kissenschlacht hätten veranstalten können. Er schlug den schweren
Vorhang zurück und trat auf den Balkon. Es hatte aufgehört zu schneien.
Kalt war es immer noch. Durch die milchige Decke des Himmels spürte
man, daß es darüber eine Sonne gab.
Ellwanger putzte sich heraus, so gut es ging. Tipptopp rasiert war er.
Haare gekämmt. Fingernägel sauber. Auch die Socken saßen straff. Für
seine Verhältnisse war das eine ziemliche Takelage. Nur das Jackett vertrug
sich schlecht mit der Gediegenheit des Pierre. Es hatte aufgesetzte Taschen
und paßte eher zu einem Bubi als zu einem Mann von siebenundfünfzig
Jahren. Warum um Gotteswillen hatte er ausgerechnet dieses Jackett
mitgenommen. An den Ellenbogen war der Stoff schon leicht
aufgescheuert.
Der Frühstücksraum befand sich auf der Vorderseite im Erdgeschoß mit
Blick auf die 5th Avenue. Ein langgezogener Schlauch. Man setzte sich
nicht einfach irgendwohin. Ein weißbefrackter Kellner wies ihm einen
Tisch am Fenster an und fragte nach seinen Wünschen. Yes, yes, coffee
please and some eggs. Bei der Nachfrage, wie er denn die Eier genau haben
wolle, kam Ellwanger ins Schleudern, obwohl seine Eingangssätze
einigermaßen ordentlich geklungen hatten. Er wußte schließlich nicht mehr,
wozu er genickt und was er damit bestellt hatte, und wartete einfach ab.
Ellwanger sah sich nach einem Frühstücksbuffet um. Vielleicht in einem
Nebenraum? Er war schon drauf und dran loszutigern, da kam ein anderer
Kellner mit einem riesigen Servierwagen an seinen Tisch gefahren.
Ellwanger machte normalerweise kein Trara ums Essen. Er haßte Leute,
die ständig davon redeten, sich wichtig taten mit Restauranttips und sich als
Kenner aufspielten. Aber was auf ihn zugerollt kam, haute ihn doch
ziemlich um. Er wußte teilweise gar nicht, was es genau war, was ihn da aus
zierlichen Schüsseln aufforderte, doch bitte seine Wahl zu treffen. Es endete
damit, daß er eine mißverständliche Handbewegung machte und ein
Kännchen Milch und ein Schälchen mit müsliartigen Flocken und Obst
hingestellt bekam. Wenn Ellwanger eines nicht aß, dann Müsli. Damit hatte
ihn schon seine Ehemalige sinnlos gequält. Dummerweise war er zu
eingeschüchtert, um es zurückzuweisen. Lustlos senkte er den silbernen
Löffel in das Zeug – aber, o Wunder, es schmeckte vorzüglich. Mit den
Spiegeleiern und dem hauchdünn geschnittenen, kroß gebratenen Bacon
gab es eh nicht das mindeste Problem.
Bevor er abgeholt wurde, ging er noch einmal auf sein Zimmer und gab
sich den letzten Schliff, fuhrwerkte mit der ausgefransten Zahnbürste so
intensiv in seinem Mund herum, als erwarte ihn der Zahnarzt. Was er sonst
nie tat – er feuchtete seine Haare an, um sie etwas in Form zu bringen, was
völlig sinnlos war, denn seine Haare standen gleich wieder auf und taten,
was sie wollten. Wiederum pünktlich um halb elf stellte sich Frau
Kirchschlager ein. Durch den Suppenhimmel tasteten sich vorsichtig einige
Sonnenstrahlen, die Schneeberge am Rand der 5th Avenue waren über
Nacht gewachsen. Ellwanger war ziemlich aufgeregt, suchte es zu
verbergen, stieß auf ihrem kurzen gemeinsamen Weg den Rauch seiner zwei
Zigaretten aber ziemlich theatralisch in die Luft. Sie schien seine Sorgen zu
erraten. »Wenn es mit dem Englisch nicht gleich so flott geht, machen Sie
sich nichts draus. Ich springe für Sie ein. Außerdem sind die Amerikaner
diesbezüglich großzügig. Aber wenn Sie hier weiter so ungeniert auf der
Straße rauchen, landen Sie bald im Gefängnis.«
»Was? Auf der Straße auch nicht? Sind sie verrückt, die Amerikaner?«
»Diesbezüglich sind sie es.«
Ellwanger warf die halb aufgerauchte Zigarette in den Schnee. Dann
standen sie vor einem breiten Eingang mit gläsernen Türflügeln. Ein Portier
öffnete ihnen. Die Kirchschlagerin meldete sie beide an, der Portier blickte
in ein Buch, nickte und geleitete sie zum Aufzug, drückte auf einen Knopf,
und sie fuhren in den sechsten Stock.
Die Aufzugstür öffnete sich in einen fast quadratischen Empfangsraum.
Der Portier hatte offenbar einen anderen Bediensteten informiert, denn sie
wurden von einem schwarzen Riesen erwartet, in perfekter grauer Uniform
mit scharf gebügelten Hosen. Er begrüßte sie mit tiefer, sanfter Stimme,
nahm ihnen die Mäntel ab und gab ihnen einen Wink, ihm zu folgen. Zwei
Vasen, in denen man zwei chinesische Kaiser hätte verstecken können,
standen auf zwei Tischen, dahinter hing ein mehrere Meter langer
Wandteppich. »Das ist der, den ich restauriert habe«, sagte Frau
Kirchschlager mit gedämpfter Stimme. Es blieb keine Zeit, den Teppich zu
würdigen. Der Butler klopfte an eine Tür, horchte und ließ sie dann ein.
Der Raum war groß. Nicht allzu üppig möbliert. Fast den gesamten
Boden bedeckte ein Perserteppich mit floralen Mustern. An der rechten
Seite wuchs eine Bibliothek bis an die Decke. Ölgemälde aus älteren Zeiten
hingen an den freien Wänden, davor jeweils ein Lämpchen. Der Mann im
Rollstuhl saß nahe am Kamin, in dem ein Feuer brannte. Ein Teetisch, ein
Sofa, zwei Sessel. Der Riesenraum eine Zone des Schweigens, in dem man
das Knacken des Holzes im Kamin hörte und die sich entfernenden Schritte
des Butlers, der die Tür leise hinter sich schloß.
Aus einem der Sessel erhob sich eine schlanke, große Brünette Anfang
Vierzig. Sie begrüßte die Kirchschlagerin mit einem Lächeln, bei dem man
nicht sicher sein konnte, ob das ein Eisenbeißerlächeln war oder ein
wirkliches. Sie bot ihr das Sofa an und wandte sich dann ihm zu. »Mister
Ellwanger, I suppose«, sagte sie und bat ihn ebenfalls, sich zu setzen. Der
Mann im Rollstuhl sagte nichts. Aber er ließ Ellwanger nicht aus den
Augen. Die Tür öffnete sich wieder, und der Butler rollte einen Teewagen
herein, nicht ganz so groß wie der, von dem aus Ellwanger gerade im Pierre
versorgt worden war. Es gab schwarzen Tee und Gebäck. Die Brünette goß
den Tee ein, an ihrem Handgelenk blitzte ein Armband, das ein Vermögen
gekostet haben mußte. Frau Kirchschlager legte etwas von dem Gebäck auf
ihre Untertasse. Ellwanger und der alte Mann rührten davon nichts an.
O Wunder! Es stand auch ein Aschenbecher auf dem Tisch. Da ihm über
die Empfindlichkeit der Amerikaner, was das Rauchen anlangte, eben erst
eine Lektion erteilt worden war, traute sich Ellwanger aber nicht, sein
Zigarettenpäckchen aus der Tasche zu ziehen.
Catherine eröffnete die Konversation, wobei sie ein Zuckerstück
verrührte und dabei andächtig in ihre Tasse schaute. Ellwanger verstand sie
erstaunlich gut, vielleicht sprach sie aus Rücksicht auf ihn langsam.
Trevillyan war im Vergleich zu seiner groß geratenen Tochter ein eher
zarter Mann. Kein Muskel regte sich an ihm. Nicht am Körper, nicht im
Gesicht. Seine Gesichtshaut wirkte hell und wächsern, die Hände, die auf
seinen Beinen lagen, waren mit Altersflecken besät. Von seinen weißen
Haaren hatte er noch ordentliche Büschel auf dem Kopf. Die Augen lagen
tief vergraben im Gesicht. Schwarz. Eierkohlen im Kopf eines
Schneemannes, dachte Ellwanger. Darunter Tränensäcke in drei
Abteilungen. Die Weste, die Trevillyan trug, füllte er nicht aus, zumindest
jetzt nicht mehr. An seiner Krawatte war eine Nadel mit einem emaillierten
Abzeichen befestigt. Vielleicht gehörte er irgendeinem Geheimclub an, den
Ellwanger niemals kennenlernen würde.
Er saß einfach da und sagte nichts. Es war eindeutig, daß Trevillyan
Ellwanger ebenso scharf musterte wie umgekehrt Ellwanger ihn, nur ging
Ellwanger etwas diskreter dabei vor. Mit dem Sprechen ließ sich der Mann
Zeit. Aber als seine Tochter eine Frage an Frau Kirchschlager richtete,
unterbrach er sie. Catherine verstummte auf der Stelle und nahm einen
Schluck Tee. Für einen schwerreichen Mann hatte Trevillyan eine
erstaunlich dünne Stimme, mit der er sich bei der Kirchschlagerin
erkundigte, wie es ihr gehe, eine Antwort aber gar nicht erst abwartete,
sondern Ellwanger fragte, ob er mit dem Hotel zufrieden sei.
Ellwangers »Yes, I am very content« kam vorsichtig heraus, als müsse er
bei jedem Wort erst die Grammatik überprüfen. Trevillyan hörte kaum hin,
aber er erlaubte ihm zu rauchen, weil er früher selbst geraucht habe und den
Geruch immer noch möge, und kam dann schneller zur Sache, als
Ellwanger seine Zigarette anzünden konnte. Er sprach erstaunlich klar,
nichts von wegen should, could, would. Obwohl bei der Obduktion keine
Auffälligkeiten erkannt worden waren, wußte er mit Bestimmtheit, daß
dieser Bastard von einem Schwiegersohn seine Tochter ermordet hatte. Sie
sei nicht der Typ gewesen, der eine hohe Dosis Schlaftabletten zu sich
nimmt und dann aus dem zweiten Stock springt. Ellwanger lag die Frage
auf der Zunge, was für seine Tochter denn die wahrscheinlichste Methode
gewesen sein könnte, sich umzubringen, aber dafür reichte sein Englisch
gottlob nicht aus. Also fragte er Trevillyan nur, weshalb er dieser Ansicht
sei. Gerade noch rechtzeitig war ihm das Wort opinion eingefallen, er war
aber unsicher, ob es nicht seltsam klang, als er fragte: »What leads you to
this opinion?«
Trevillyan war bestimmt nicht der Mann, den irgend etwas leitete. Er
warf Ellwanger einen scharfen Blick zu und beantwortete die Frage nicht.
Catherine glättete die Situation. Dafür habe es keine Anzeichen gegeben,
Selbstmörder brächten sich in der Regel nicht Knall auf Fall um, sondern
sendeten vorher Warnsignale aus. Sie betonte, daß sie in einem engen
Kontakt zu ihrer Schwester gestanden habe und entsprechende Zeichen
bestimmt nicht übersehen hätte.
Ob sie glücklich mit Larson gewesen sei? Ob der sie betrogen habe?
Irgendwelche Hinweise auf Affären? Weil Ellwanger mit den Sätzen ins
Stolpern geriet, sprang Frau Kirchschlager rechtzeitig ein und vollendete
die Fragen. Trevillyan schwieg. Plötzlich hob er die Hände und legte die
Fingerspitzen aneinander, als ob er etwas Kompliziertes zu sagen hätte.
Aber dann hatte er genug von seinen Fingerspitzen, legte die Hände wieder
auf seine Oberschenkel und sagte nichts.
Seine Tochter antwortete nach einigem Zögern, das wüßten sie nicht
genau. Aber als glücklich habe man die Ehe nicht bezeichnen können.
Vicky kapselte sich mehr und mehr ab und lebte ihr eigenes Leben.
Ellwanger hakte bei dieser Auskunft nicht nach, denn sie enthielt sehr wohl
das Motiv für einen Selbstmord. Als hätte Trevillyan seine Gedanken
erraten, betonte er, deswegen hätte sich seine Tochter aber nicht
umgebracht. Schließlich sei es heutzutage kein allzu großes Drama mehr,
sich scheiden zu lassen, anders als zu seiner Zeit. Ein größeres Stück Holz
im Kamin brach entzwei, und die Teile fielen prasselnd zu beiden Seiten
des gußeisernen Aufsatzes nieder.
Ob eine Scheidung dem Schwiegersohn eine ansehnliche Summe
eingebracht hätte, wollte Ellwanger wissen und drückte seine Zigarette aus.
Trevillyan maß ihn mit einem kalten Blick. Nein, um sich vor so etwas zu
schützen, gebe es schließlich Eheverträge. Aber ihr Tod? Exakt. Durch
Victorias Tod hatte Larson ein gewaltiges Vermögen geerbt. Immerhin ein
glasklares Motiv. Und die glasklaren Motive waren die häufigsten bei
gutgeplanten Mordfällen, darauf brauchte man einen Kriminalkommissar a. ‌
D. nicht extra hinzuweisen.
Ellwanger wurde darüber informiert, daß es morgen hier einen Empfang
geben werde, zu dem auch Larson komme. Dort würde Ellwanger mit ihm
bekannt gemacht werden. Vermutlich würde der Schwiegersohn keinen
Verdacht schöpfen. Sie hätten alles dafür getan, sich nichts anmerken zu
lassen. Ellwanger faßte das als Signal auf, daß er den Auftrag nunmehr
definitiv bekommen habe. Aber was Larson anging, hegte er seine Zweifel.
Trevillyan war kein behaglicher Schwiegervater, erst recht kein Tölpel,
sondern ein Mann, der scharf hinsah und seine Gefühle nicht preisgab. Das
mußte Larson klar sein, falls er tatsächlich ein Mörder war.
Allerdings wäre da noch die Honorarfrage zu klären. Trevillyan schien
wirklich Gedanken lesen zu können. Er schicke ihm morgen früh um neun
seinen Sekretär ins Hotel, um das Finanzielle zu regeln.
»And when I find out that your son-in-law is innocent?«
»Innocent?« Trevillyans Stimme klang plötzlich sehr scharf. Er schickte
einen Satz hinterher, den Ellwanger nicht verstand. Vielleicht war es ein
Fluch.
Die angespannte Situation löste sich dadurch auf, daß Catherine
Ellwanger bat, sie auf ihr Zimmer zu begleiten, damit sie ihm Photos zeigen
könne. Ellwanger erhob sich und merkte, daß eines seiner Beine
eingeschlafen war. Frau Kirchschlager blieb bei Trevillyan, und ihr
Gespräch wandte sich, wie der langsam sich entfernende Ellwanger noch
hörte, schnell von der verstorbenen Tochter ab und schöneren Dingen zu,
wie zum Beispiel der Dame mit dem Einhorn, sechs Tapisserien aus dem
15. Jahrhundert, in denen ein sehr artiger Löwe seine Pranken um eine
Fahnenstange legt, leider nicht im Besitz von Trevillyan, sondern im Musée
de Cluny aufbewahrt, da sie zum französischen Nationalerbe zählten.
Ellwanger vermutete, Trevillyan werde Frau Kirchschlager gegenüber mit
keiner Silbe erwähnen, wie der deutsche Expolizist auf ihn gewirkt hatte.
Inzwischen wieder etwas flotter auf den Beinen, wanderte er neben
Catherine durch die Wohnung, die sich über die gesamte Grundfläche des
Hauses erstrecken mußte. Vielleicht war die Frau nur anderthalb Zentimeter
größer als er, aber Ellwanger kam sich neben ihr vor wie ein Zwerg. Sie
trug helle Hosen und darüber eine Art offenen Mantel aus Seide. Innen mit
weißem Futter, wie man an den aufgeschlagenen Ärmeln sah, außen
schwarzglänzend mit winzigen Stickereien, ebenfalls in Schwarz, kaum
größer als Briefmarken, die über den gesamten Stoff verteilt waren.
Unterwegs gab sie dem Butler eine Anweisung, der nickte nur und
verschwand.
Das Zimmer war ebenfalls groß, jedenfalls größer als jedes seiner
Zimmer in Solln, aber neben dem Raum, den sie gerade verlassen hatten,
wirkte es winzig. Eine blaßgraue Tapete und üppige Vorhänge in einem
etwas weniger blassen Blaugrau, die von dickgewirkten goldfarbenen
Kordeln gehalten wurden, gaben dem Zimmer das Flair eines intimen
Salons. Ein großer alter goldgerahmter Spiegel mit schwarzen
Silbersulfidflecken hing an der Wand, darunter eine Konsole, auf der
gerahmte Photographien standen, nicht in Reih und Glied, sondern locker
verteilt, aber offenbar mit Bedacht. Die Sessel und das Sofa waren nicht
ganz so ausladend wie im Kaminraum. Auf dem Tisch lag schon eine
Mappe bereit.
Der Butler kam und stellte ein Tablett auf den Tisch. Eiswürfel in einer
Silberschale mit eingehängter Zange, eine Flasche Bourbon und zwei
Gläser. Ob er sich nicht einen genehmigen wolle, fragte ihn Catherine, für
sie sei das jetzt genau die richtige Zeit. Vormittags war er eine harte Ladung
nicht gewohnt, aber Ellwanger nickte nur, sagte nichts. Sie schenkte die
Gläser ziemlich voll, schnappte sich zwei Eiswürfel mit den Fingern und
hob ihr Glas auf sein Wohl.
In dem Riesenraum hatte sie etwas zackig auf ihn gewirkt. Sie war dünn,
und ihre Züge hatten nichts einschmeichelnd Verbindliches. Aber Mund
und Augen waren schlicht hinreißend. Der Mund elegant gewellt wie bei
Charlotte Rampling, die Augen fast so dunkel wie die ihres Vaters. Die
halblange Frisur, links gescheitelt, schloß genau mit dem Kinn ab. Sie
umrahmte ihren schmalen Kopf vorzüglich. Ellwanger hatte natürlich schon
gutaussehende Frauen kennengelernt, in München waren sie ja häufiger
anzutreffen als anderswo in Deutschland, aber dieses Kaliber, das, lässig
gegen die Kissen gelehnt, ihm schräg gegenübersaß und, während es die
Eiswürfel klirren ließ, eine Musterung vornahm, fiel in eine ihm
unbekannte Kategorie.
Sie musterte ihn ohne Scham, aber nicht unfreundlich. Ob ihre Schwester
ihr ähnlich gesehen habe, fragte Ellwanger oder wollte sie das jedenfalls
gefragt haben, denn bei dem Blödsinn, den er zusammenredete, war er sich
nicht sicher, ob er sich aus Versehen danach erkundigt hatte, wo sich das
Klo befand.
Er solle lieber selber sehen, sagte sie und öffnete die Mappe, in der ein
dicker Packen Photos lag. Sie reichte ihm das erste Bild.
Eine Maus. Das war der erste Gedanke, der Ellwanger durch den Kopf
schoß. Die junge Frau auf dem Bild war so sehr das Gegenteil ihrer
Schwester, daß schwer zu glauben war, sie stammten beide aus derselben
Familie. Das nächste Bild verstärkte den Eindruck sogar. Eine Maus. Nichts
weiter als eine verhuschte graue Maus in aufwendigem Fummel, der nicht
darüber hinwegtäuschen konnte, daß sie nicht zu den Frauen zählte, für die
ein Mann den Eiffelturm hochkletterte. Von Bild zu Bild ging das so weiter.
Als Mädchen war Vicky ein bißchen pummelig gewesen, später wurde sie
dünn, was aber nicht half. Dann ein anderes Bild. Ein blonder Strahlemann
à la Robert Redford, nur jünger und bestimmt ohne Toupet.
»This is …?« fragte Ellwanger ein klein wenig entgeistert. Jawohl, das
war er. Paul Henrik Larson himself, wie er die blonden Locken warf und
dabei mit blitzenden Zähnen lächelte, als wäre die Welt ein Zehn-Billionen-
Dollar-Geschenk. Und dann gab es noch jede Menge Hochzeitsphotos, auf
denen Vicky wie verkleidet aussah, glücklich, verschämt und trotzdem
mickrig, als würde sie am Arm dieses Strahlemannes jeden Augenblick aus
ihren Pumps kippen. Ellwanger hatte keine Mühe, sich ihre Qualen beim
Hochzeitsball vorzustellen. Bestimmt hatte sie wie ein vor Aufregung
schwitzendes Bündel um ihren funkelnagelneuen Mann herumgehangen.
Wahrscheinlich las Catherine in Ellwangers Miene, was er dachte. Sie
ließ die Eiswürfel in ihrem Glas immer schneller zirkulieren und hob zu
einer wortreichen Verteidigung ihrer Schwester an. Vicky mußte der
liebenswürdigste Mensch unter der Sonne gewesen sein. Nein, natürlich
wirkte sie nicht auf den ersten Blick, aber dafür um so intensiver auf den
zweiten, dritten, vierten, fünften. Es lag ihm auf der Zunge, Catherine zu
fragen, warum sie ihm einen solchen Stuß erzählte. Aber er fand die
passenden Wörter nicht, zündete sich, ohne um Erlaubnis zu bitten, eine
weitere Zigarette an, denn auf dem Tisch stand ebenfalls ein Aschenbecher,
und sagte bloß: »Yes.«
In Gedanken nahm er einen langen Anlauf, bis er seine Sätze halbwegs
verständlich formulieren konnte: er verstehe, daß sie ihre Schwester liebe,
aber hier gehe es auch um Fakten, und die Bilder erzählten ihm nun mal,
daß Larson ein äußerst attraktiver Mann sei, den man sich nur schwer an
der Seite ihrer Schwester vorstellen könne. Dann stand er auf, nahm ihr das
Glas aus der Hand und stellte es auf dem Tisch ab, weil ihn das
Herumgejage der Eiswürfel verrückt machte.
Offenbar ziemlich geärgert, griff sie nach dem Glas, stellte es dann aber
selbst wieder auf die Tischplatte, lehnte sich mit einem Ruck zurück und
sagte: »Dad couldn't love her. That's the problem.«
Ellwanger schaute sie verblüfft an. Und dann erzählte sie ihm, daß ihre
Mutter bei der Geburt von Vicky gestorben war. Es kam heutzutage zwar
selten vor, erst recht nicht bei reichen Leuten, aber in diesem Falle eben
leider doch. Und ihr Vater hatte das Vicky offenbar nie verziehen. Vicky
hatte es ihm immer recht machen wollen, aber sie konnte ihm nichts recht
machen. Und dann hatte sie sich irgendwann doch gegen ihn aufgelehnt und
einen Mann geheiratet, der nichts taugte, erst recht nicht in den Augen ihres
Vaters.
Eine Aschenflocke seiner Zigarette landete auf der Tischplatte,
interessant gezackt.
Ob der Mann in ihren Augen zu irgend etwas taugte? Catherine zuckte
die Achseln und gab ihm eine ausweichende Antwort. Ja, er habe Charme,
und vordergründig habe er Vicky nicht schlecht behandelt. Jedenfalls hatte
sie sich nicht lauthals über ihn beklagt. Aber da gab es etwas, das sie stutzig
gemacht hatte. Einmal, im letzten Juni, war sie allein mit ihm in einem
Restaurant auf Long Island gewesen, da näherte sich ein Deutscher
ungefähr im Alter von Larson ihrem Tisch und sprach ihn auf deutsch an.
Larson tat so, als kenne er den Mann nicht, und wollte ihn möglichst rasch
loswerden, was nicht so einfach vonstatten ging, denn der Mann war
ziemlich hartnäckig. Mehr als das, er wurde regelrecht lästig. Catherine
verstand zwar kein Deutsch, aber nachher, als sie auf die Toilette ging, traf
sie den Mann im Flur und sprach ihn auf englisch an. Der Mann versicherte
ihr, Larson sei ein alter Schulkamerad. Er war felsenfest davon überzeugt,
sie stammten beide aus Gerabronn. Sie sprach die Anfangssilbe wie Schera
und das Weitere so langgezogen aus, daß Ellwanger etwas brauchte, um zu
verstehen. Das Gespräch mit dem Deutschen war kurz und hektisch
verlaufen, da sie nicht zu lange ausbleiben und Larson mißtrauisch machen
wollte. Später hatte sie einen deutschen Bekannten ihres Vaters gefragt und
ihm vorgemacht, wie der Name des Ortes ungefähr geklungen hatte. Und
der war auf Gerabronn gekommen. Leider hatte sie nicht richtig behalten,
wie der Nachname des Schulkameraden geheißen hatte. Nur an den
Vornamen konnte sie sich erinnern: Anton. Der Nachname war eher kurz
gewesen, zwei oder drei Silben. Das war alles, was sie wußte.
Ellwanger fragte, ob die Begegnung Larson irgendwie aufgeregt habe.
Catherine verneinte. Larson hatte sich nichts anmerken lassen, sondern war
mit einem Witz darüber hinweggeglitten. Aber er hatte sich immer gut im
Griff. Larson brachte man nicht so leicht aus der Fassung. Daß er sich
nichts anmerken ließ, bedeutete überhaupt nichts. Und sie selbst hatte das
Vorkommnis heruntergespielt und war nicht mehr darauf zurückgekommen,
weil sie sich darüber im klaren war, wie brisant die Entdeckung sein konnte,
falls ihr Verdacht zutraf.
Es lag Ellwanger auf der Zunge, sie zu fragen, ob sie sich öfter allein mit
Larson getroffen hatte. Vielleicht würde er da irgendwann einmal
herumbohren müssen. Aber jetzt noch nicht, wo sie so schön in Schwung
kam, sich nervös die Haare zurückstrich, wobei eine Strähne immer wieder
nach vorn fiel, und zwischen kräftigen Whiskeyschlucken vom rätselhaften
Larson erzählte. Der Mann schien bei der Geburt vom Mond herabgefallen
zu sein. Verwandte waren niemals aufgekreuzt. Geschwister schien er nicht
zu haben, die Eltern waren tot, wie er behauptete. Da gab es einfach nichts
und niemanden, und auch das war zumindest merkwürdig. Normalerweise
zeigte sich doch irgendein Verwandter, wenigstens ein Vetter, eine Tante
oder eine Cousine. Aber nein, niemand. Zur Hochzeit waren nur paar
Freunde von ihm in Erscheinung getreten, die eher flüchtige Bekannte zu
sein schienen. Keiner kannte ihn länger als ein, maximal zwei Jahre.
Und der alte Herr hatte keine Erkundigungen über den künftigen
Schwiegersohn einziehen lassen, bevor es zur Hochzeit kam? Nein, hatte er
nicht. Vicky und ihr Vater hatten damals kaum miteinander gesprochen, und
sie hätte Larson so oder so geheiratet, selbst wenn der gerade frisch aus
Folsom geflohen wäre. Der alte Herr gab sich darüber keinerlei Illusionen
hin. Und letztendlich war es ihm recht, sie los zu sein. Wen sie heiratete,
war ihm ziemlich egal. Vicky hatte er längst abgeschrieben. Er sorgte nur
dafür, daß sein künftiger Schwiegersohn bei einer Scheidung nicht allzu viel
in die Finger bekam. Damit hatte er seiner Vaterpflicht genügt. Außerdem
war Vicky erwachsen. Bei ihrer Heirat war sie neunundzwanzig. Seiner
Meinung nach sollte man in dem Alter allmählich wissen, was man tat.
Und sie selbst? Hatte sie ihrer Schwester davon abgeraten, den Mann zu
heiraten? Die Antwort kam mit einiger Verzögerung, gedehnt, als müsse
dazu erst werweißwas überlegt werden: »No, not really.«
Vicky schien offenbar glücklich zu sein wie nie zuvor in ihrem Leben.
Durfte man da den Spielverderber spielen? Gegenüber der eigenen
Schwester? Ellwanger hatte so einen Fall nie in der eigenen Familie gehabt
und wußte darauf keine Antwort. Als Kriminalist hätte er unschöne
Verwicklungen vorausgesehen und sich Sorgen gemacht, aber durfte man
deshalb eine Beziehung stören, in der ein Mensch glücklich war,
womöglich zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt? Ellwanger kam der
böse Gedanke, daß dieses eine Jährchen Glück, welches der Frau vergönnt
gewesen sein mochte, vielleicht sogar ihren frühen Tod aufwog. Er legte
den Gedanken schnell beiseite und konzentrierte sich auf Catherines
Ausführungen, die nun ziemlich sprunghaft durch die Gegend kreuzten und
wenig zur Erhellung des Falles beitragen konnten. Falls es überhaupt einen
Fall gab. Vielleicht überbot sie nur ihr Soll an Zerstreutheit, um ihn von
etwas abzulenken.
Für seinen Geschmack trank die Frau zuviel, sie vertrug offenbar eine
ganze Menge. Ihm war nach dem einen Glas zu dieser frühen Stunde schon
leicht schwammig zumute. Aber attraktiv war sie, höllisch attraktiv sogar.
Inzwischen hatte sie die Schuhe ausgezogen und rekelte sich auf dem Sofa
wie eine Filmdiva. Sie fragte ihn, ob er sich auf all das einen Reim machen
könne. Er sagte, er versuche es. Aber er tat es nicht, sondern starrte auf die
Wand über ihr.
Er stand auf. Ob er zwei von den Photos vorübergehend behalten dürfe?
Den Ort auf Long Island würde er sich gern näher ansehen, sagte er. Wenn
es dort nicht zu viele Hotels gab, konnte man nachforschen und vielleicht
herausbekommen, wer der Deutsche war, der sie angesprochen hatte.
Vorausgesetzt, der Mann hatte in einem Hotel übernachtet. Catherine nickte
eifrig. Sie bestand darauf, ihn nach Southampton zu fahren und die Hotels
zusammen mit ihm abzuklappern. Aber dann schien sie zu zögern, zwei,
drei Sekunden nur. Vielleicht hielt sie es plötzlich doch für keine so gute
Idee. Vielleicht bildete er sich das Zögern aber nur ein.
IV

Es schneite wieder. An diesem Abend war er allein unterwegs. Er stellte


sich auf einen langen Spaziergang ein. Er hatte sich vorgenommen, die 5th
Avenue hinunterzugehen Richtung Battery Park bis zu der Stelle, wo früher
die Twin Towers gestanden hatten. Die hoch aufschießenden Häuser zu
beiden Seiten der Straße hatten nichts Beängstigendes, im Gegenteil, ihre
Höhe stieg ihm in den Kopf und bewirkte, daß er sich selbst größer vorkam,
keineswegs wie ein Zwerg. Weil die Wolkenkratzer von innen leuchteten,
sah man die Schneeflocken aus großer Höhe herabtrudeln.
Ellwangers Schritte waren nicht mehr die eines Kriminalbeamten in
München, der es eilig hatte, in sein Büro zu kommen, die Schritte kamen
ihm vor, als wäre eine pneumatische Federung in seine Schuhe eingebaut,
die ihn durch diese aufregende Straße mit einem winzigen Hüpf-Elan
trugen. Obwohl er die Stones nicht sonderlich mochte, erst recht nicht Mick
Jaggers infantiles Herumgehopse auf der Bühne, rotierte Jumpin' Jack
Flash in seinem Kopf, Melodiefetzen und Jaggers Geröhre dazu, er war
urplötzlich Jumping Jack Flash in Person, warum, wieso, keine Ahnung – er
hatte das Rätsel niemals lösen können, wen oder was dieser Hüpfende Hans
Blitz eigentlich vorstellen sollte. Und er löste es auch jetzt nicht inmitten
von Manhattan, während sich Schneeflocken auf seinen Kopf und seine
Schultern setzten.
Ein weiteres englisches Rätsel wartete in einem Restaurant auf ihn.
Schneebestäubt trat er ein und stellte sich brav am Eingang vor das Ende
einer roten Kordel, bis ein sehr zeremonielles Geschöpf ihm einen Platz
anwies. Es war ein ziemlich luxuriöser Schuppen, nicht die Art von
Gasthaus, die er für gewöhnlich aufsuchte. Wahrscheinlich teuer, aber das
war ihm egal. Da saß er nun an einem einsamen kleinen Tisch neben der
Tür, wo's zur Toilette ging, und sperrte die Augen auf. Für einen wie ihn
gab es da wirklich etwas anzustaunen. Eine mondäne Gesellschaft, wie er
sie noch nie gesehen hatte, hockte um ihn herum. An den Frauen sah er
Schmuckstücke blitzen, die verrückter waren als alles, was er je in
München gesehen hatte. Eine Frau hatte ein pfirsichfarbenes Hütchen auf,
das ihm verschroben vorkam, besonders das leicht wippende Federgesteck
obenauf, aber wahrscheinlich war es todschick. Eine Gesellschaft aus
Einzelgängern hockte da beisammen, die sich vorübergehend zu Paaren
zusammengeschlossen hatten oder vielleicht Geschäftspartner waren; keine
Kinder, keine Großeltern.
Die Karte hatte er noch gar nicht studieren können, da fragte ihn der
Kellner etwas, das in seinen Ohren nach Supersalad klang. Er wollte aber
keinen Salat, erst recht keinen Supersalat, und wehrte sich verzweifelt. Der
Kellner stellte die Frage zwei-, dreimal, jedesmal mit erlesener Höflichkeit,
dann gab er auf und schwirrte wieder ab. Erst einige Tage später begriff er –
aber da war er schon mit Catherine auf Long Island –, was die Frage
bedeutete: Soup or salad hatte der Kellner ihn gefragt. Und ja, eine Suppe
hätte er als einsamer Wolf, der aus der Kälte kam, eigentlich ganz gern
gegessen.
Als er später um das Areal spazierte, wo vor mehr als zehn Jahren die
Zwillingstürme gestanden hatten, war von der Zerstörung und
anschließenden Aushebung und Planierung nichts mehr zu sehen. Überall
riesige Kräne und Plattformen, winzige Bauarbeiter mit weißen Helmen. An
einigen Gebäuden war auch nachts die Bautätigkeit in vollem Gange. Das
One World Trade Center war fast schon fertig, ein riesiger Neuling mit
abgeschrägtem Kopf, der von innen leuchtete, als wäre er bewohnt,
umtrudelt von fallendem Schnee. Natürlich waren in Ellwanger die
dramatischen Bilder eingebrannt, die damals um die Welt gingen. Wieder
und wieder waren sie gezeigt worden, auch er hatte sie schon zigmal
gesehen, aber es war schwer, sie mit diesem von Scheinwerfern bestrahlten
Ort in Verbindung zu bringen, an dem neue Gebilde mit Macht
emporwuchsen und die Erinnerung an die Katastrophe ans Filmarchiv
verwiesen.
Um sieben in der Früh war er hellwach. Es war noch dunkel draußen. Er
drehte zwei, drei Runden in seinem Appartement, badete, stellte sich auf
den Balkon und sah der Stadt beim Aufwachen zu. Das Frühstück brachte
er schon ziemlich routiniert hinter sich. Diesmal bekam er, was er wollte.
Trevillyans Sekretär stellte sich pünktlich zur verabredeten Zeit ein.
Ellwanger hatte mit einem dürren, unscheinbaren Männchen gerechnet,
einem ausgetrockneten Buchhalter, aber da kam ein gewinnend lächelnder
junger Mann in sein Zimmer geweht, der offenbar mit der heiklen Materie
vertraut war. Er hieß Arrowsmith. Seinen Vornamen hatte Ellwanger auf die
schnelle nicht ganz mitbekommen. Arrowsmith legte Hut und Mantel ab.
Unter seinem Hut kam eine Fülle braunen Haares hervor. Er setzte sich mit
einer anmutigen Bewegung in einen Sessel und überreichte Ellwanger zwei
Blatt Papier aus seinem Aktenkoffer. Vermutlich ein Vertrag. Ellwanger
überflog die Papiere, er verstand alles nur im ungefähren. Aber die
Summen, die verstand er, sie sprangen ihm förmlich entgegen und
erzeugten in ihm einen leichten Schwindel. Für seine Bemühungen wurde
ihm ein Honorar von zwölftausend Dollar gezahlt; bei Erfolg, das heißt bei
Aufklärung des Falles, insgesamt dreißigtausend Dollar. Die Spesen waren
gesondert abzurechnen.
Arrowsmith bemerkte, daß Ellwanger zögerte. Er sah ihn aus großen
braunen Augen an und fragte besorgt, ob vielleicht etwas nicht korrekt sei.
Ellwanger mühte sich um die richtigen Worte. Wie konnte er dem Mann
klarmachen, daß die beiden Summen weit über seinem üblichen Gehalt
lagen und er sich unbehaglich dabei fühlte, sie anzunehmen, zumal er noch
gar nicht wußte, ob er in dem Fall überhaupt würde nützlich sein können. Er
probierte es. Es dauerte eine Weile, bis Arrowsmith seine Sorge begriffen
hatte. Der junge Mann schien ehrlich überrascht. Mit Engelszungen
überredete er Ellwanger, die Vereinbarung anzunehmen. Ellwanger fragte
ihn, ob er Larson kenne. Natürlich kannte der Sekretär Larson. Und was er
von ihm hielt? Die Antwort kam überraschend deutlich: nichts.
Es endete damit, daß die beiden eine Coca-Cola zusammen tranken, denn
der Sekretär wollte so früh am Morgen noch nicht mit Alkohol loslegen.
Ellwanger unterschrieb. Ein Exemplar des Vertrages wurde im Köfferchen
deponiert.
Als Arrowsmith sich eine halbe Stunde später auf der Straße von ihm
trennte, fiel die Verabschiedung herzlich aus. Ellwanger hatte das Gefühl,
einen intelligenten Verbündeten getroffen zu haben, der ihm vielleicht noch
würde nützlich sein können.
Es sollte ein kunstsinniger Vormittag werden. Ellwanger spazierte bei
Schönwetter am Rand des Central Park entlang und suchte die Frick
Collection auf, ein mit einigem Abstand zur 5th Avenue hingestrecktes
Gebäude. Fasziniert und mit großem Behagen durchwanderte er die Hallen.
Vor der berühmten jungen Frau im gelben Seidenkleid, der von einer
Dienstmagd ein Brief überreicht wird, blieb er minutenlang stehen und
bestaunte das Bild aus verschiedenen Winkeln und Abständen. Die Intimität
des Augenblicks, die Feinheit der Wiedergabe von Stoffen, Haut, den
Perlen am Hals der Dame beeindruckten ihn zutiefst. Er lebte sich förmlich
ein in die Szene, fühlte die Neugier der jungen Frau, die sich dennoch
Zurückhaltung auferlegte und nicht eilfertig nach dem Brief griff.
Jahrzehntelang war er nicht mehr in einem Museum gewesen. Dieses
hier, mit seinen langen Räumen, in denen natürliches Licht von oben
eindrang, hielt ihn regelrecht gefangen. Ruhige Atmosphäre, graue,
stoffbespannte Wände. Es war optimal, kein verwegener Architektentraum,
sondern ein ideales Gehäuse für Bilder. Es schien eigens für sie gebaut
worden zu sein, obwohl es ehemals ein Wohnhaus gewesen war. München
hatte ja auch einiges zu bieten, und in jungen Jahren hatte er sich die
Museen dort mit einem gewissen Enthusiasmus angeschaut, aber das war
inzwischen eine Ewigkeit her. Dann hatte ihn die Arbeit so aufgefressen,
daß er kaum noch für etwas anderes Zeit hatte, als abends ins Bett zu fallen
und sich samstags – wenn er denn einen freien Samstag hatte – bei der
Fußballübertragung im Fernsehen aufzuregen.
Zum Mittagessen war er mit der Kirchschlagerin im Metropolitan
Museum verabredet. Nun auch noch dieses riesige Museum zu
durchstreifen ging über seine Kräfte. Frau Kirchschlager hatte ein Einsehen,
und so ließen sie es bei einem Mittagessen im Restaurant bewenden. Aber
sie führte ihn anschließend auf eine geheime Dachterrasse, die von ihrem
Büro aus zu erreichen war, damit er in Ruhe eine Zigarette rauchen konnte.
Sie stellten sich zwei Stühle hinaus und ließen sich von der Sonne
bescheinen, während ihre Füße im Schnee steckten und sie mit
zusammengekniffenen Augen auf den weiß bepuderten Park blickten.
»Muß ich für heute abend noch etwas wissen?« fragte er.
»Ich glaube nicht. Aber vielleicht wäre es für Ihre Tarnung das beste,
wenn ich Sie Larson als den vorstelle, der Sie nun mal sind: mein
geschätzter Mieter, der jetzt endlich Zeit findet, sich eine langersehnte
New-York-Reise zu gönnen.«
»Vielleicht ist es das beste.«
»Sind Sie auf Facebook oder sonstwo zu finden? Wo man leicht in
Erfahrung bringen kann, daß Sie aus dem Hohenlohischen stammen?«
»Ich glaube nicht.«
»Gut. Dann sind Sie einfach ein Münchner, und damit hat es sich.«
»Was halten Sie von Catherine?«
»Reich, verwöhnt, egoistisch.«
»So schlimm?« fragte er mit einem leichten Anflug von Ironie.
»Reich. Verwöhnt. Egoistisch. Obendrein verlogen. Und natürlich: Papas
Liebling. Das hat sie übrigens immer weidlich ausgenutzt. Sie war nicht
unbedingt die mitfühlende, besorgte Schwester, als die sie sich so gerne
gibt.«
»Sie mochten Vicky lieber?«
»Eindeutig. Sie war zwar ein bißchen verdruckst und gehemmt, aber viel
seriöser als Catherine, übrigens auch in ihren politischen Ansichten. Sie
wählte Obama. Trevillyan und Catherine sind eingefleischte Republikaner.
Diskutieren Sie mit Catherine bloß nicht über Politik. Da packt einen das
kalte Grausen. Ihr Vater ist da übrigens zurückhaltender. Als ältere
Dame der feinen Gesellschaft hätte sich Vicky bestimmt von ihrer Familie
fortbewegt und sich für soziale Programme engagiert. Ich kann sie mir gut
vorstellen, wie sie in einer Obdachlosenküche Suppe verteilt. Das heißt
natürlich konnte.«
Es war klar, daß sie Catherine nicht mochte. Er nahm sich vor, dieses
Urteil nicht so ohne weiteres zu übernehmen. Allerdings verfügte Frau
Kirchschlager über eine ziemlich gute Beobachtungsgabe, über so etwas
wie den guten alten Menschenverstand, der inzwischen zu Unrecht in
Mißkredit geraten war. Eine Idiotin, die sich durch Eifersucht zu
abschätzigen Urteilen hinreißen ließ, war sie gewiß nicht.
Als er wieder in seinem Hotelzimmer war, fühlte er sich erledigt. Er hatte
noch Zeit für ein Nickerchen, schlief tief, als wäre er einen Monat
unentwegt auf den Beinen gewesen, fast hätte er verschlafen. Diesmal
erwartete ihn die Kirchschlagerin mit Sepp im Hoteleingang. Sepp war
heute mit Hut unterwegs, ein gutaussehender Mann, ohne Frage.
»Muß ich noch irgendwas beachten?« fragte Ellwanger.
»Die erste Begegnung mit Trevillyan haben Sie ja schon hinter sich
gebracht«, sagte Frau Kirchschlager, »schlimmer wird's nicht werden. Und
unser Studienobjekt ist ausnehmend freundlich. Der bringt Sie nicht gleich
um die Ecke.«
»Er sülzt Ihnen ordentlich die Ohren voll, bevor er Sie umlegt«, sagte
Sepp.
»Na, dann bin ich ja beruhigt.« Ellwanger bekam richtig Lust, in Aktion
zu treten, wenn auch diesmal nicht in seinem gewohnten Verhörraum mit
einem Aschenbecher, einer Packung Zigaretten und zwei Bechern Kaffee.
»Und auf den Sekretär ist Verlaß?« fragte er. »Inzwischen sind es ja
schon mindestens fünf Leute, die wissen, warum ich hier bin.«
»Bestimmt«, sagte die Kirchschlagerin, »Trevillyan hält große Stücke auf
ihn. Arrowsmith ist die wandelnde Diskretion auf zwei Beinen. Trevillyan
behält eh alles Wichtige hinter den Zähnen. Und Catherine hat das Ganze ja
aufgerührt, sie wird sowieso den Mund halten. Bleiben bloß wir. Wir sind
natürlich die geborenen Münchner Schwätzer. Nichts und niemand ist vor
uns sicher.«
Die Einlaßzeremonie beim Pförtner war so ziemlich dieselbe, allerdings
waren dieses Mal zwei weitere Gäste hinzugetreten, Dorothy und William
Parker, die Frau Kirchschlager als Freunde des Hausherrn vorstellte. Im
großen Raum hatte sich wenig verändert, nur daß in zwei riesigen Vasen
üppige Blumensträuße steckten, beide so gut wie identisch. Trevillyan saß
wieder in seinem Rollstuhl in der Nähe des Kamins. Das Feuer darin
brannte heller als gestern vormittag. Ein leerer Aschenbecher stand
ebenfalls auf dem Tisch, aber offenbar rauchte niemand.
Der Butler lief mit einem großen Tablett voller Aperitifs herum. Er
überragte die Leute um mindestens eine Kopflänge. Einige Gäste waren
schon da, sie standen in lockeren Gruppen, die meisten um den Hausherrn
geschart. Frau Kirchschlager ging mit Ellwanger zu Trevillyan und stellte
ihn vor, ganz so, als sähen sie sich zum ersten Mal. Sie angelte sich
Catherine und machte dasselbe mit ihr. Arrowsmith war ebenfalls
anwesend, er unterhielt sich abseits mit zwei Frauen.
Ein Mann wandte sich vom Fenster ab, ein gutgefülltes Glas in der
Linken. Bemerkenswert, wirklich bemerkenswert. Gerade gewachsen,
mittelgroß, eine Sportlerfigur, aber keine übertriebene; die blonden Haare,
nicht zu kurz, nicht zu lang, lagen in eleganten Wellen um seinen Schädel.
Der anthrazitfarbene Anzug saß ihm wie eine lockere zweite Haut. Ohne
Zweifel ein Kerl, der den Frauen gefiel und gewiß auch so manch einem
Mann. Wenn das überhaupt möglich war, sah er in Wirklichkeit sogar noch
besser aus als auf den Photographien.
Catherine nahm Larson beim Arm, lotste ihn Richtung Kamin und stellte
ihn Ellwanger als ihren Schwager vor. Dann lachte sie ein gepreßtes
Lachen, das ein wenig hektisch geriet, und präsentierte Ellwanger als einen
Freund von Frau Kirchschlager aus München. Allgemeines Gelächel. Das
Lachen Catherines trocknete schnell weg.
Blau, blitzblau waren die Augen, aus denen Larson ihn wohlwollend
anblickte. Ellwanger fühlte sich dabei unbehaglich. Der Blick des Mannes
war intelligent, die Musterung scharf.
»Nice to meet you«, sagte Larson und senkte die dichtbewimperten Lider.
Er erkundigte sich ausnehmend höflich danach, ob Ellwanger New York
kenne, wie es ihm hier gefalle, und dann fügte er noch einige artige
Komplimente über Deutschland und insbesondere über die Stadt München
hinzu, die er leider noch nicht besucht habe, obwohl er schon öfter den
Wunsch verspürt habe, solches zu tun.
Mehr schlecht als recht antwortete Ellwanger ihm, dann sei er bei Frau
Kirchschlager an der richtigen Stelle, denn sie sei eine vorzügliche
Gastgeberin. Er war sich seines unsicheren Auftretens bewußt und
verhedderte sich mehr als gewöhnlich im englischen Sprachdickicht, dachte
aber zugleich, daß dies bestimmt keinen Schaden anrichten konnte, im
Gegenteil, Larson würde ihn so eher für einen Trottel nehmen, von dem
keinerlei Gefahr ausging. Er schien damit recht zu behalten, denn Larson
wandte sich alsbald von ihm ab und anderen Leuten zu, keinesfalls brüsk,
eher so, als habe auch er Gastgeberpflichten zu erfüllen und sich um die
Neulinge zu kümmern, die gerade zur Tür hereinkamen.
Sich mit den Gästen unterhalten zu müssen war für Ellwanger eine
Tortur, obwohl Dorothy Parker sich redlich mühte, eine halbwegs passable
Konversation mit ihm in Gang zu bringen, und ihr Mann eifrig dazu nickte
und dazwischen die hohe Stirn in sorgenvolle Falten legte, als wolle er
zusammen mit Ellwanger jedes einzelne kostbare Wort aus dessen Mund
gebären.
Sepp stand ein wenig abseits, während Frau Kirchschlager die Locken
schüttelte und sich in einer größeren Gruppe blendend zu amüsieren schien.
»Na, wie finden S' unsern Strahlemann?« fragte Sepp, nachdem
Ellwanger die freundlichen Parkers endlich losgeworden war.
»Sieht verflucht gut aus, außerordentlich gut sogar«, sagte Ellwanger.
»Keiner hat behauptet, der Knabe würd' schlecht ausschau'n. Aber was ist
mit seinem Charakter? Was sagt der Kriminalist?«
»Für einen wirklichen Eindruck ist es zu früh«, sagte Ellwanger, »ich
erstelle keine menschlichen Blitzgutachten.«
»Schade, ich dachte, Sie könnten in Gesichtern lesen wie in einem
offenen Buch.«
Ellwanger lachte. »Leider nein, ich sehe nur, daß Sie den Burschen ums
Verrecken nicht ausstehen können. Warum bloß. Hat er Ihnen eine Frau
geklaut?«
Sepp grinste. »Da ham S' mit Ihrem Blitzgutachten vermutlich ins
Schwarze getroffen.«
Dann wurde eine Flügeltür geöffnet, und Catherine bat die Gäste in den
angrenzenden Salon zum Essen. Auf dem langen Tisch gab es keine
Blumendekoration und keine Kerzen, aber das viele Geschirr und die
akribische Ordnung der blitzenden Besteckmassen flößten Ellwanger Angst
ein. Der Butler mußte das Lineal an jede einzelne Gabel und an jedes
einzelne Messer gelegt haben. Ellwanger kam sich vor, als wäre er in einem
Waisenhaus des neunzehnten Jahrhunderts aufgewachsen mit einem Napf
und einem verbeulten Blechlöffel als einzigem Eßwerkzeug. Gottlob bekam
er die Kirchschlagerin als Tischnachbarin zugewiesen, ihm schräg
gegenüber ließ sich Catherine nieder und neben ihr Larson. Man hatte
Ellwanger absichtlich nicht allzusehr in dessen Nähe gesetzt, aber noch nah
genug, daß er den Mann beobachten konnte. Sepp hatte sich mit dem
Tischende zu begnügen. Am Haupt der Tafel saß Trevillyan in seinem
Rollstuhl.
Der Hausherr klopfte mit einer Gabel an sein Glas. Augenblicklich
erstarben die Gespräche. Trevillyan begnügte sich mit drei knappen Sätzen,
in denen er die Gäste willkommen hieß. Er winkte dem Butler, eine weitere
Tür wurde geöffnet, und herein strömten sechs Bedienstete, drei Männer
und drei Frauen, und servierten ein Salätchen, dessen Zusammensetzung
Ellwanger zu weiten Teilen unbekannt blieb. Obenauf paar rote Punkte und
ein bißchen kroß gebratener Speck.
Ellwanger war vollauf damit beschäftigt, sich von Frau Kirchschlager
den korrekten Gebrauch des Bestecks abzuschauen, so daß er Larson für
eine Weile aus den Augen verlor. Allzu deutlich durfte er ihn sowieso nicht
ins Visier nehmen, obwohl der Mann bestimmt daran gewöhnt war, daß alle
Welt ihn beobachtete. Um Catherine herum kam zartes Gelächter auf –
Ellwanger hatte nicht verstanden, worum es dabei ging. Jedenfalls schien
sich Larson zurückzuhalten. Er wirkte wie ein in der Trauerzeit befindlicher
Ehemann, dem nach dem Verlust seiner Frau nicht nach allzu freizügigem
Gelächter zumute war.
Der Mann benahm sich gut, außerordentlich gut. Mit wem er auch immer
gerade sprach, er schaute dem Menschen konzentriert ins Gesicht,
antwortete höflich und lächelte. Nach Ellwangers Geschmack lächelte er
immer zwei, drei Sekunden länger als nötig. Seine Eßmanieren waren
tadellos. Ellwanger zögerte nicht, sie zierlich zu nennen, zimperlich waren
sie wiederum nicht. Offensichtlich war er Linkshänder, hatte sich aber
daran gewöhnt, das Besteck korrekt zu handhaben. Nach seinem Glas griff
er meistens mit der Linken, wenige Male aber auch mit der Rechten. Nur
die Finger seiner linken Hand, an der zwei Ringe übereinandersteckten,
zuckten und trommelten bisweilen nervös auf dem Tischtuch – nein, sie
trommelten natürlich nicht, sondern deuteten solches Getrommel allenfalls
an. Möglich, daß er sich langweilte, möglich, daß er den Abend rasch hinter
sich bringen wollte, aber Ellwanger vermutete dies nur. Eindeutige Zeichen
dafür gab es nicht. Daß der Mann gefährlich sein konnte, wenn man ihm zu
nahe trat, daran gab es für Ellwanger wenig Zweifel. Wie ein harmloser,
gutmütiger Drallewatsch wirkte er jedenfalls nicht.
Während er sich mit Frau Kirchschlager unterhielt und nebenher
Catherines Bemerkungen von der gegenüberliegenden Seite ziemlich genau
registrierte, hatte er Mühe, Larson zu folgen. Larson sprach wenig und nicht
gerade laut, zwar nicht wie eine Maus, aber gedämpft. Ellwanger sperrte
seine Ohren auf, soweit es irgend ging, aber er konnte an Larsons Art zu
reden nicht die geringste Sonderbarkeit entdecken. Erst recht nicht war er
imstande, hinter Larsons Sprechen etwas Verborgenes aus der
möglicherweise deutschen Heimat herauszuhören. Ein kleiner verräterischer
Klang, eine Wortwahl, wie sie die Deutschen im Englischen vielleicht
bevorzugt benutzten – nichts dergleichen. Das Verhör-As Ellwanger hatte in
der fremden Sprache aufgehört, ein Verhör-As zu sein. Aus. Er war wie
taub. Sein Englisch war viel zu schlecht, um Nuancen, gar einen geheimen
unterirdischen Sprachstrom unter dem amerikanischen Englisch
herauszuwittern. Es wäre ihm nicht einmal möglich gewesen zu
beschreiben, wie Larson überhaupt sprach. Ellwanger spürte deutlich, daß
er mit dem Mann, selbst wenn der ihm in einem Verhörraum
gegenübersäße, nicht sonderlich weit kommen würde.
Seine Unfähigkeit stimmte ihn verdrießlich. Vielleicht sollte er den
Auftrag zurückgeben. Freiheraus einräumen, daß er sich der Aufgabe nicht
gewachsen fühlte. Zwar lockte ihn das üppige Honorar, aber es lockte ihn
wiederum nicht so sehr, daß er auf seinen Anstand und die skeptische
Einschätzung gegenüber sich selbst verzichtet hätte. Die Vorstellung war
ihm schlicht peinlich, daß er binnen kurzem mit nichts, rein gar nichts
dastünde und dies in vermurkstem Englisch dem alten Trevillyan würde
beibiegen müssen. Der Mann hatte einen besseren Detektiv verdient, sein
gutes Geld allemal.
Eine Weile hatte er in sich gekehrt dagesessen, hatte weder Larson noch
irgendwen sonst beobachtet, sondern konzentriert den Löffel in seine Suppe
gesenkt. Etwas Grünes, Gemüsiges mit bißchen Fleisch, sehr fein, sehr gut.
Zu fein für einen aus der Hohenloher Unterschicht. Als er zufällig die
Augen über den Tellerrand schweifen ließ, merkte er, daß Larson ihn scharf
beobachtete, sich aber sofort wieder abwandte und seinem Gesicht zu einem
gelangweilten Ausdruck verhalf.
V

Es hatte keine Gelegenheit mehr gegeben, Trevillyan allein zu sprechen und


ihm den Entschluß mitzuteilen, daß er den Auftrag zurückgeben und ihm
die entstandenen Kosten selbstverständlich erstatten würde. Sepp und die
Kirchschlagerin hatten ihn ins Pierre zurückbegleitet; ein ziemlich stummer
nächtlicher Spaziergang war es geworden, diesmal ohne Schneetreiben,
allerdings in klirrender Kälte. Ellwanger rückte nicht damit heraus, daß er
daran dachte, die Sache fallenzulassen. Irgendwie fiel es ihm schwer, Frau
Kirchschlager zu enttäuschen. Außerdem störte es ihn, daß Sepp dabei war.
Ihr allein hätte er sich vielleicht anvertraut.
Vor dem Einschlafen wälzte er den Gedanken ans Aufgeben hin und her.
Doch jedesmal kam ihm der scharfe, beobachtende Blick Larsons vor die
Augen. Es war dieser Blick, der Ellwangers detektivischen Hunger, der
seinen Aufklärungstrieb weckte.
Er schlief gut. Als er am Morgen erwachte, war der Gedanke, den
Auftrag zurückzugeben, verflogen. Wie vereinbart holte Catherine ihn ab,
um ihn nach Long Island hinauszukutschieren und ihm das Restaurant zu
zeigen, wo sie dem Deutschen, Larsons angeblichem Schulkameraden,
begegnet war. Ellwanger hatte wieder seine schäbige Tasche dabei, denn sie
würden in einem Hotel auf der Insel übernachten. Und ja, er schämte sich
schon wieder vor dem Portier wegen des abgeschabten Dings.
Mit einer hohen Fellmütze, mit der sie aussah wie eine russische
Kommissarin, stand sie vor dem Eingang. Es fehlte nur der rote
Emaillestern. Ellwanger hatte mit einer spektakulären Limousine gerechnet.
Aber nein, es war ein ziemlich gewöhnlicher Wagen, nicht sonderlich groß.
Und sie fuhr selbst. Worauf er alsbald liebend gern verzichtet hätte, denn
Catherine fuhr schauderhaft schlecht. Das Mützenungetüm hatte sie im
Wagen zwar auf die Rückbank geworfen. Aber sie saß mit ihrem dicken,
fellgefütterten Mantel viel zu nah am Steuer und hielt das Lenkrad
umkrampft, bremste und beschleunigte so abrupt, daß Ellwanger
abwechselnd nach vorn in den Gurt geworfen oder nach hinten in den Sitz
gedrückt wurde. Der nervöse, unsichere Fahrstil paßte überhaupt nicht zu
der Frau, die sich vor ihm wie die Schlange im Garten Eden auf dem Sofa
gerekelt hatte. Ellwanger war ein paarmal nahe daran, ihr ins Steuer zu
greifen, aber er beherrschte sich und gab keinen Laut der Mißbilligung von
sich. Doch er nahm sich vor, bei der Rückfahrt das Steuer selbst zu
übernehmen. Zwar kannte er sich mit den amerikanischen Verkehrsregeln
nicht aus, aber immerhin würde er so fahren, daß eine
neunundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit bestand, wieder heil in
Manhattan anzukommen.
Durch einen Tunnel fuhren sie nach Long Island. Catherine redete
während der Fahrt auf ihn ein, was ihn ebenso irritierte wie ihr zu nahes
Sitzen am Steuer. Er hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren, was sie ihm
erzählte. Offensichtlich redete sie von Vicky. Natürlich sei sie als
Achtjährige nicht gerade begeistert gewesen, als Vicky plötzlich da war,
aber dafür die Mutter fehlte. Vielleicht hatte sie genau wie der Vater Vicky
die Schuld am Tod der Mutter gegeben. Ihre Mutter sei sehr sanftmütig
gewesen, ganz das Gegenteil des Vaters. Aber er habe sie aufrichtig geliebt,
und sie ihn, daran gebe es keinen Zweifel. Er hatte nach dem Tod seiner
Frau nicht wieder geheiratet, vielleicht hatte er mal kurz damit geliebäugelt,
für die Kinder eine Ersatzmutter zu besorgen. Aber es war dann doch nicht
dazu gekommen, obwohl es haufenweise Anwärterinnen gegeben hatte, die
sich den reichen Witwer Trevillyan nur zu gern geangelt hätten.
Das alles wurde stoßweise hervorgebracht, unterbrochen von hektischen
Kopfbewegungen, mit denen Catherine nach der linken Spur Ausschau
hielt, um sich das Überholmanöver dann doch nicht zuzutrauen, und so
schlichen sie eine ganze Weile hinter einem Lastwagen her. Ellwanger sagte
so gut wie nichts, weil er ihr im Auto keine Fragen stellen wollte, die sie
womöglich noch mehr vom Verkehr ablenkten. Er machte hin und wieder
hmm hm oder sagte O yes, I imagine. Das war's aber auch schon.
Die Fahrt dauerte ziemlich lang. Ellwanger hatte sich das nicht so weit
vorgestellt, er dachte, Long Island sei eine kleine Insel, die praktisch vor
der Haustür liege. Als sie in Southampton ankamen, fuhr Catherine zuerst
zu dem Hotel, in dem sie übernachten würden. Es lag am Meer, etwas
zurückgesetzt, die Einfahrt war hell erleuchtet, aber als sie die Lobby
betraten, wirkte es leer. Gäste machten sich nicht bemerkbar, der Concierge
versah einen recht einsamen Dienst hinter dem Tresen und begrüßte sie so
freundlich, als hätte er eine lange Zeit in der Einöde verbracht und freute
sich nun, wieder unter Menschen zu sein.
Ellwangers Zimmer war längst nicht so spektakulär wie die Räume im
Pierre, aber es wirkte amerikanisch gediegen, mit einem riesenhaften Bett
und einem Balkon, von dem aus man das Meer sah. Das Meer! Ellwanger
hatte noch nie einen schneebedeckten Strand gesehen, gegen den die
Meereswellen anbrandeten. Sobald sich das Wasser zurückzog, sah man den
gelben Sand; wenn das Wasser an Land schlug, überspülte es bisweilen die
weiße Grenze. Er bekam Lust, weit, möglichst weit an diesem Strand
entlangzulaufen, ihn mit seinen Fußtapfen zu markieren und abends einfach
ins Bett zu sinken. Allein. Ohne sich mit der anstrengenden Catherine
weiter befassen zu müssen. Am Meer schlief er immer besonders gut,
geradeso, als wäre er in einer umspülten Geburtshöhle geborgen. Das
Meeresrauschen wiegte ihn in den Schlummer, da schlief er acht, neun
Stunden durch. Aber bei der Kälte mußte er die Balkontür schließen. Sonst
wäre er mitten in der Nacht als Eiszapfen erwacht. Und bei geschlossener
Tür war das Rauschen kaum mehr zu hören.
Noch war es aber nicht soweit. Catherine hatte für den Abend einen
Tisch in dem Restaurant reserviert, wo sie dem Deutschen auf die Spur zu
kommen hofften. Einen winzigen Strandspaziergang würde er sich vorher
noch erlauben können. Voller Elan trat Ellwanger aus dem hinteren Eingang
des Hotels heraus, von dem Stufen über zwei Terrassen hinab bis ans Meer
führten. Doch der Schnee am Strand lag ziemlich hoch, und er mußte um
seine Schuhe fürchten. Deshalb kehrte er wieder um, aber erst nachdem er
eine Zigarette mit größtmöglichem Behagen geraucht hatte, voller Stolz,
daß er es bei dem strammen Wind, der hier unten wehte, überhaupt
fertiggebracht hatte, sie anzuzünden. Urplötzlich kam er sich wieder wie ein
richtiger Mann vor, und das hatte er auch bitter nötig, denn ein Abend mit
komplizierter Dame stand ihm bevor, die, das mußte er zugeben, mehr als
einfach nur gut aussah. Und die, was ihre Fahrkünste betraf, zwar seine
männliche Fürsorge bitter nötig hatte, diese sonst aber ohne weiteres
entbehren konnte.
Die weißledernen Stühle des Restaurants waren nur zur Hälfte besetzt.
Catherine hätte gar nicht reservieren müssen. Offenbar kannte man sie hier
gut. Der Kellner, der sie an einen Tisch mit fast bis zum Boden
herabhängendem Tischtuch führte, begrüßte sie wie einen Stammgast.
Ellwanger hatte Mühe, seine Beine unter den Stoffmassen unterzubringen.
Einen Moment lang fürchtete er, bei einer unkoordinierten Bewegung
alles – Teller, Gläser, Messer, Gabeln mitsamt Blumengesteck – zu Boden
zu reißen.
Der Kellner war an dem Juniabend, an dem sie mit Larson hier gegessen
hatte, nicht dagewesen. Aber der Mann am Eingang, der die Gäste empfing,
hatte damals sehr wohl seinen Dienst versehen. Catherine ließ ihn an den
Tisch bitten und fragte ihn, ob er sich noch an den Deutschen erinnern
könne, als sie das letzte Mal mit Larson hier gewesen war. Der Mann
brauchte nicht lang nachzudenken, er konnte sich sogar sehr gut erinnern,
denn der Deutsche war am nächsten Abend wieder aufgetaucht und hatte
versucht, etwas über sie beide aus ihm herauszukriegen. Natürlich hatte er
ihm keine Auskunft gegeben. Bezüglich der Gäste war man in seiner
Position ja zur Diskretion verpflichtet. Unsympathisch sei er ihm aber nicht
erschienen, eher wie einer, den etwas quälte. Was genau das gewesen sein
mochte, hatte er natürlich nicht in Erfahrung bringen können.
Nun, das war immerhin ein Anfang. Offensichtlich hatte der Deutsche
nicht lockergelassen. Die Angelegenheit mußte ihm wichtig genug
erschienen sein, daß er sogar versucht hatte, Nachforschungen anzustellen.
Das sprach immerhin dafür, daß an der Sache vielleicht doch etwas dran
war. Jedenfalls hatte Catherine nicht übertrieben oder sich die Verstörung
des Mannes bloß eingebildet.
Ellwanger fragte den Kellner, ob der Deutsche ihm eine Adresse, irgend
etwas angegeben habe. Ja, er hatte ihm sein Hotel genannt und ihn darum
gebeten, anzurufen, falls ihm noch etwas einfiele. Seine Visitenkarte hatte
er ihm auch gegeben, aber die hatte der Kellner längst weggeworfen. An
den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern. Er wußte auch nicht mehr
so genau, in welchem Hotel der Deutsche abgestiegen war. Southampton
Escape, Orphiry Palace? Hampton's House of Gardens? Ellwanger notierte
die Namen auf einem Block.
Das Essen war ein Abenteuer. Catherine hatte für ihn einen kapitalen
Hummer bestellt und ihm auf witzige Weise zu verstehen gegeben, wie er
das Ding zu behandeln habe. Ellwanger räumte seine gänzliche Hummer-
Unerfahrenheit leichten Herzens ein. In München aß man so etwas
schließlich nicht alle Tage. Catherine war gut aufgelegt. Sie schmiedete
Pläne, wie sie möglichst schnell nach München kommen würde, damit er
ihr zum Ausgleich das korrekte Weißwurstessen beibringen könne. Mit den
bayerischen Bierhumpen sei sie allerdings überfordert. Da bleibe sie lieber
beim Wein oder ihrem guten alten Whiskey.
Plötzlich rückte er mit der Frage heraus, ob sie sich noch daran erinnern
könne, worüber sie mit Larson gesprochen hatte, bevor der Deutsche
aufgekreuzt war. Catherine zuckte ein klein wenig zusammen, fing sich
aber rasch. Sie habe sich erkundigen wollen, wie es ihrer Schwester ging,
denn damals habe Vicky begonnen, sich von der Familie zurückzuziehen.
Anzeichen für eine Depression? Unzufrieden mit dem Ehemann? fragte
Ellwanger. Inzwischen schwang eine ziemliche Kraft in seiner Stimme.
Nicht wirklich. Sie habe eher geglaubt, Vicky sei mit ihrem untätigen
Leben vielleicht unzufrieden gewesen und habe das der Familie gegenüber
nicht zugeben wollen. Unglücklich war sie bestimmt. Zumindest, nachdem
die ersten Ehejahre vorüber waren. Ihre Schwester habe so einen sozialen
Tick gehabt, sie habe geglaubt, irgend etwas Wichtiges, etwas Sinnvolles
tun zu müssen. Das Studium hatte Vicky damals längst abgebrochen –
Soziologie und Kunstgeschichte. Das war wohl nicht ganz das richtige für
sie gewesen. Welches Studium für sie das richtige hätte sein können,
wußte Catherine nicht. Ein intellektueller oder künstlerischer Typ war
Vicky jedenfalls nicht. Sowenig wie sie selbst.
Catherine lachte. Ernsthafter sei ihre Schwester allerdings gewesen,
ernsthafter auf jeden Fall.
Da kamen die Hummer. Rosafarbene Monster, von denen der eine
Ellwanger ziemlich zu schaffen machte. Eine Weile war er konzentriert mit
dem Biest beschäftigt, aber dann fragte er Catherine in erstaunlich
flüssigem Englisch, wie er sich das vorstellen müsse, daß sie, die ihre
Schwester als Kind wohl eher gehaßt hatte, später dazu kam, Vicky doch zu
lieben.
Catherine angelte sich gerade mit dem dünnen Hakeninstrument ein
bißchen Hummerfleisch aus einer der rosaroten Scheren. Für einen Moment
legte sie das Instrument hin.
»You know …«, begann sie mit tiefer Stimme. Ellwanger wußte im
voraus natürlich nicht, was es da für ihn zu wissen geben sollte. Und sie
fuhr fort, ihm zu erzählen, wie sie mit sechzehn, siebzehn Jahren ein
anderes Verhältnis zu Vicky gewann, weil sie es manchmal nicht
mitansehen konnte, wie ungerecht der Vater ihre Schwester behandelte.
»Very altruistic for a sixteen year old girl«, sagte Ellwanger mit leisem
Spott. Das Sätzchen war ihm recht flott geraten. Catherine antwortete
darauf nicht und bearbeitete statt dessen ihren Hummer.
Um sie wieder ein bißchen aufzulockern, erklärte Ellwanger, seine
Erfahrung mit Geschwistern sei allenfalls eine kriminalistisch geprägte, da
er selber keine habe. Und seine Berufserfahrung sage ihm, da gehe es
manchmal ziemlich rauh zu. Allerdings spielten sich die Fälle, mit denen er
es zu tun bekommen hatte, in anderen Gesellschaftskreisen ab.
Sie griff nach ihrem Glas und sah ihn abschätzig an. Dann beschäftigte
sie sich wieder mit ihrem Hummer und erzählte so nebenbei, daß sie sich
als Kind oft allein gefühlt hatte. Der Vater habe sie zwar mehr geliebt als
Vicky, er sei aber kein einfacher, zugänglicher Vater gewesen. Auch für sie
nicht. Vielleicht habe sie deshalb einen Weg gesucht, sich mit ihrer
Schwester zu verbünden. Und das sei auch halbwegs gelungen. Jedenfalls
habe sie öfter versucht, Vicky vor ihrem Vater in Schutz zu nehmen.
In Ellwangers Ohren klang das plausibel, zumindest nicht rundheraus
gelogen. Vielleicht lag die Kirchschlagerin in ihrer Einschätzung Catherines
doch etwas daneben. Vielleicht war sie mit ihrer Schwester stärker
verbunden gewesen, als manche Leute es von ihr glaubten. Ellwanger sah
eine Halbwüchsige und ein Kind vor sich, die beide einsam waren. Zur
Einsamkeit paßte, daß Catherine auch jetzt ziemlich viel trank. Die Flasche
Wein leerte sie fast allein. Ihr Zustand wechselte von großer Ruhe, einer
inneren Zurückgezogenheit, zu etwas Nervösem, wechselte hin und her, her
und wieder hin. Ellwanger war es nicht möglich, diese wankelhaften
Zustände zu dechiffrieren. War sie immer so? Hatte es mit ihrer Schwester
zu tun? Oder mit ihm und seiner Fragerei? Obwohl er doch bloß ein
unbedeutender Kerl für sie sein mußte, der ein schauderhaftes Englisch
sprach. Anders als mit der russischen Fellmütze auf dem Kopf wirkte sie in
ihrem hellgrauen Kostüm ausgesprochen damenhaft. Feingesponnen,
feingetüpfelt, denn darunter trug sie eine gepunktete Bluse mit akkuratem
Kragen, der von einer Brosche zusammengehalten wurde. An ihren
schlanken Fingern steckten drei Ringe. Ellwanger sah sich außerstande, die
Schmuckstücke annähernd zu taxieren. Wenn die Steine echt waren, mußten
sie ein Vermögen gekostet haben, das immerhin erkannte er.
Als sie beim Dessert anlangten, rückte sie plötzlich damit heraus, daß er
sie für eine dumme Gans halten müsse. Weil sie sich so unpräzise
ausdrückte. Weil für sie selbst alles so verworren war. Manchmal sei sie
felsenfest davon überzeugt, daß Larson ihre Schwester umgebracht habe,
manchmal kämen ihr wieder Zweifel. Vielleicht war Vicky doch gefährdeter
gewesen, als sie und ihr Vater es wahrhaben wollten. Larson mochte ihre
Schwester wegen des Geldes geheiratet und sich ihr gegenüber schlecht
benommen haben, aber deswegen mußte er sie noch lange nicht umgebracht
haben. Die Autopsie hatte ja auch keine klaren Anhaltspunkte für einen
Mord geliefert. Und Larson hatte für den Abend, an dem es geschah, ein
Alibi. Er war in der Oper gewesen, hatte den Tannhäuser gesehen. Eine
Karte war auch für Vicky reserviert gewesen, aber sie hatte wegen einer
schweren Erkältung nicht mitgehen wollen.
Ellwanger hörte ihr ruhig zu und sagte eine Weile nichts. Dann erinnerte
er sie daran, daß die Geschichte mit dem Deutschen kein Hirngespinst war,
sondern womöglich ein handfestes Indiz für eine dunkle Seite in Larsons
Leben, die sehr wohl das Motiv für einen Mord liefern konnte.
Und wenn das alles auch bloß auf Einbildung beruhte? Catherine war
bezüglich Larsons auf einen Schlag von der Ankläger- in die
Verteidigerposition übergewechselt. Ellwanger argumentierte dagegen nicht
an. In dem labilen, chaotischen Zustand, in dem sich die Frau befand, war
es sinnlos, ihr zu widersprechen.
Ob jemand Larson an dem entscheidenden Abend in der Oper gesehen
habe? fragte er noch. Ja, Bekannte wollten ihn dort gesehen haben. Sie
hatten sogar mit ihm gesprochen. Zu Anfang und zum Schluß der
Aufführung. Er hatte eine Loge gebucht und war offenbar ganz begeistert
von der Darbietung gewesen. Die Polizei hatte diskret ermittelt und war zu
dem Schluß gekommen, daß sein Alibi stimmte.
Aus einer Loge konnte man sich entfernen, wenn man es geschickt
anstellte, dachte Ellwanger. Der Weg von Larsons Wohnung zur
Metropolitan Opera war nicht allzu weit und der Tannhäuser lang.
Ellwanger hatte sich inzwischen auf der Karte damit vertraut gemacht, wo
die Wohnung lag. Ein gerissener Mörder konnte das schaffen, wenn er einen
Weg fand, unauffällig am Personal in den Fluren vorbeizukommen.
Catherine zahlte. Ellwanger hatte keine Chance, sich der Rechnung zu
bemächtigen. Ihm war es unangenehm, daß eine Frau für ihn aufkam, zumal
sie selbst ja nicht seine Auftraggeberin war, sondern ihr Vater. Als sie das
Restaurant verließen, hängte sich Catherine bei ihm ein. Für Ellwanger war
es ein aufregendes und zugleich etwas unbehagliches Gefühl, sie so nah an
seiner Seite zu haben, zumal jetzt die hohe Fellmütze wieder auf ihrem
Kopf thronte und er sich mit seinem unbedeckten Kopf neben ihr so klein
ausnahm. Mit einer etwas theatralischen Geste drückte sie ihm den
Autoschlüssel in die Hand. Es sei jetzt an ihm, das Steuer zu übernehmen,
sie fühle sich dazu nicht mehr in der Lage.
Als sie das Hotel betraten, schien sie ihm wieder einigermaßen nüchtern
zu sein. Jedenfalls grüßte sie den Nachtportier ausnehmend korrekt. Mit
dem Aufzug fuhren sie in den zweiten Stock. Ihre Zimmer lagen im selben
Gang. Als Ellwanger den Schlüssel aus der Tasche zog, um bei sich
aufzuschließen, küßte sie ihn sanft auf die rechte Wange und zog ihn mit
sich fort vier Zimmer weiter. Ellwanger wußte nicht recht, wie ihm
geschah. Es war aufregend und unheimlich zugleich. Als sich die Tür hinter
ihnen schloß, fing für ihn ein Leben an, das er noch nicht kannte.
VI

Das Wetter war dasselbe wie tags zuvor. Grauer Himmel. Kalt, aber nicht
eisig. Ellwanger hatte noch während der Nacht das Zimmer gewechselt,
lautlos, um Catherine nicht zu wecken. Im Grunde war soviel Rücksicht
überflüssig. Catherine schnarchte, schlief tief und fest, als könnte nicht
einmal der Feueralarm sie wecken. Im eigenen Bett schlief Ellwanger
besser, obwohl er zunächst überhaupt nicht zur Ruhe kam. Die Ereignisse
der letzten Stunden geisterten durch sein Hirn. Er war aufgekratzt, jede
Faser seines Körpers vibrierte vor Lebendigkeit. So eine Nacht hatte er
noch nie erlebt. War es unklug, mit der Schwester der Ermordeten etwas
anzufangen? Mit jemandem, der vielleicht tiefer in den Fall verstrickt war,
als er bisher wußte?
Eigentlich hatte er gar nichts mit ihr angefangen, sondern sie mit ihm. Sie
hatte ihn sich regelrecht geschnappt, hatte ihn ausgezogen, als er
unschlüssig, jedenfalls völlig überrascht, in ihrem Zimmer stand, hatte ihn
zwar nicht aufs Bett geworfen (das hätte noch gefehlt!), aber immerhin
dahin gelenkt. Erst war er irritiert gewesen, dann hatte er es sich gern
gefallen lassen, zweifellos. Aber was jetzt? Es graute ihm davor, mit
Catherine zu frühstücken. Sollten sie vielleicht so tun, als wäre gar nichts
geschehen? Bißchen Frühstück-Small-Talk? War sie vielleicht so betrunken
gewesen, daß sie sich am Morgen an gar nichts mehr erinnerte? Oder,
absurder noch, es einfach leugnete, ausgerechnet ihn, einen hergelaufenen
Provinzler, der in ihrer Welt so unbedeutend war wie ein Domestik, in ihr
Bett verfrachtet zu haben? Mit superreichen Frauen kannte er sich nicht aus.
Früher hätte man gesagt, sie sei nicht seine Kragenweite, oder vielmehr er
nicht ihre. Aber was besagte das schon? Die Nacht war herrlich gewesen.
Er war so aufgetummelt, daß er am liebsten mit nackten Füßen draußen
herumgerannt wäre, im Schnee.
Der alte Trevillyan hätte diese Aktion wohl nicht gutgeheißen, und die
Kirchschlagerin auch nicht. Aber die beiden mußten nichts davon erfahren.
Catherine war nicht der Typ Frau, der überall herumerzählte, mit wem er
gerade im Bett gewesen war. Sie schien ihm verschwiegen. Eine Qualität,
die er schätzte, besonders da sie bei Frauen eher selten anzutreffen war.
Eindeutig, sie gehörte zu den Charakteren, die möglichst wenig von sich
preisgaben. Nicht einmal der Alkohol hatte sie zum Quasseln verführt. Über
ihre Schwester hatte sie ihm nur das Nötigste mitgeteilt, keine ausufernden
Geschichten jedenfalls. Für den Kriminalisten war das zwar wenig ergiebig,
aber als Mann schätzte er eine solche Zurückhaltung. In diesem Punkt war
sie ihm sogar ziemlich ähnlich. Und ja, er mochte sie. Irgendwie.
Es wurde ein bißchen heller draußen, aber die Sonne zeigte sich nicht.
Ellwanger drehte sich auf seine Schlafseite.
Irgenwann wurde er von Catherine am Telephon geweckt. Sie schien
ziemlich munter zu sein und erwartete ihn unten zum Frühstück. Um sich
wieder ein bißchen zu versammeln, rauchte er zuerst mal eine Zigarette an
der kalten grauen Winterluft auf dem Balkon, obwohl er sonst vor dem
Frühstück nie rauchte. Ihre Stimme hatte geklungen, als sei sie guter Dinge,
kein bißchen schuldbewußt oder gar verstimmt. Und sie hatte ihn Rick
genannt.
Catherine sah blendend aus. Sehr erholt. Nicht gerade wie eine Frau, die
furchterregend schnarchte und damit ihre Liebhaber in andere Zimmer
trieb. Sie trug wieder, wie bei ihrer ersten Begegnung, so was Japanisches,
Dunkles, Kleingemustertes. Nachdem er sich gesetzt hatte, fuhr sie mit dem
rechten Handrücken ganz zart über seinen linken Handrücken hin.
Ellwanger liebte diese Geste, und er begann sich daran zu gewöhnen, daß er
fortan nicht mehr Richard hieß, sondern Rick.
Es fiel kein Wort über die letzte Nacht, aber man brauchte auch keins
darüber zu verlieren, denn es ging ihnen beiden gut.
Heute waren die Hotels abzuklappern, in denen der geheimnisvolle
Deutsche vielleicht abgestiegen war. Catherine hatte sich bereits eine Karte
besorgt und darauf die Adressen markiert, die ihnen der Kellner im Lokal
letzte Nacht genannt hatte. Sie schien sich damit bestens auszukennen,
wußte genau, wie man hinkam.
Obwohl Ellwanger sich vorgenommen hatte, diese Frau nie wieder ans
Steuer zu lassen, ließ er sich an diesem Morgen erneut von ihr
herumkutschieren. Und siehe da, sie fuhr bedeutend sicherer als tags zuvor.
Weniger hektisch jedenfalls.
Beim ersten Hotel hatten sie kein Glück. Das Orphiry Palace hatte
geschlossen, und es war auch in der Nähe niemand aufzutreiben, den sie
etwas hätten fragen können. Wie ein Palast wirkte der hölzerne Kasten
wirklich nicht. Vielleicht wurde er gerade saniert. Mit seinem abgeblätterten
Außenanstrich sah er jedenfalls so aus, als könne er eine Renovierung
vertragen. Ellwanger ging einmal um das Haus herum, paffte eine Zigarette
vor dem geschlossenen Eingang, dann fuhren sie weiter.
Mit seinem Giebeldächlein über der Pforte sah Hampton's House of
Gardens einladend aus. Genau das Richtige für einen aus Gerabronn, dachte
Ellwanger. Catherine wurde wie ein Gast begrüßt, der schon öfter hier
logiert hatte, und Ellwanger wunderte sich, warum sie ihm während der
Fahrt nicht erzählt hatte, daß sie das Hotel kannte. Auch hier wurden sie
enttäuscht. Obwohl die Frau an der Rezeption Catherine nur zu gern
behilflich gewesen wäre – einen deutschen Touristen, auf den die
Beschreibung paßte, hatten sie während der Sommermonate bestimmt nicht
gehabt. Trotzdem beschlich Ellwanger ein vages Gefühl, daß hier vielleicht
etwas an Informationen zu holen sei. Er überredete Catherine, auf der
Veranda einen Kaffee zu trinken. Sie sträubte sich ein wenig dagegen, gab
aber nach, als er mit einer weit ausholenden Geste deklamierte: »A kingdom
for another fine black coffee!«
Vorher war sie entspannt gewesen, jetzt wirkte sie urplötzlich wieder
nervös. Ellwanger konnte sich den Stimmungsumschwung nicht erklären.
Warum war sie so versessen darauf gewesen, sofort weiterzufahren? Als
Catherine sich entschuldigte, weil sie die Toilette aufsuchen wollte, hatte
Ellwanger eine Eingebung. Ein junger Kellner kam vorbei, um sich zu
erkundigen, ob er noch einen Wunsch habe, da zeigte er dem jungen Mann
ein Photo von Larson. Freudige Überraschung huschte über das Gesicht des
jungen Mannes. Offenkundig war Larson ein spendabler Trinkgeldgeber. O
yes, of course, he has been here with … Urplötzlich besann sich der Mann
auf das Diskretionsgebot, verbeugte sich und entfernte sich eilends vom
Tisch.
Ellwanger hatte genug gesehen. Für einen Augenblick hatte der Kellner
auf den leeren Platz an seiner Seite geschaut und dann das Gespräch abrupt
abgebrochen.
Er war sich seiner Sache sicher. Die beiden kannten sich viel besser, als
Catherine zugegeben hatte. Vielleicht waren sie sogar schon ein Liebespaar
gewesen, bevor Larson Vicky geheiratet hatte. Ellwangers Stimmung
verdüsterte sich. Vielleicht hatte die Frau, mit der er soeben eine rasante
Nacht verbracht hatte, sogar selbst den Tod ihrer Schwester befördert, oder
sie hatte deren Tod zumindest nicht verhindert. Warum aber hatte sie dann
die Ermittlungen ins Rollen gebracht? Nur auf Geheiß des Vaters, oder um
einem Verdacht zuvorzukommen? Oder weil sich in ihr das schlechte
Gewissen meldete? Gehörte sie zu den Frauen, die sich im geheimen gerne
selbst bestraften?
Es war nicht ratsam, sie sofort mit seinem neuen Wissen zu
konfrontieren. Ellwanger spürte eine schwere Beklemmung. An den
Umgang mit Verdächtigen war er gewöhnt. Es fiel ihm leicht, eine neutrale
Miene zu bewahren, wenn er einen von ihnen im Verhörraum vor sich
sitzen hatte. Aber hier lagen die Dinge anders. Ganz anders.
Als Catherine von der Toilette zurückkehrte, winkte er den Kellner an
den Tisch und zahlte. Er konnte jetzt nicht seelenruhig neben ihr sitzen.
Draußen, an der kalten Winterluft, ließ sich seine Erregung
besser verbergen; draußen wich er auf ein scheinlustiges Schlottermanöver
aus, schlug sich wechselweise auf die Arme, stöhnte und seufzte und
nestelte mit betont steifen Fingern an seiner Zigarettenpackung herum. Der
New Yorker Winter schien ihm plötzlich so zugesetzt zu haben, als stünde
er kurz vor dem Erfrieren. Catherine betrachtete sein Gehampel
zurückhaltend, schöpfte aber wohl keinen Verdacht.
Da Catherine ihm während der Fahrt nicht direkt ins Gesicht sehen
konnte, fühlte sich Ellwanger sicher. Seine Gedanken kreisten immer um
denselben Punkt: hatte er die Nacht mit der Komplizin eines
Mörders verbracht? Einer ausgepichten Lügnerin, die ihn mit einem
Bettmanöver hatte einlullen wollen? War er von allen guten Geistern
verlassen, daß ihn seine Menschenkenntnis dermaßen im Stich ließ? In
einem Punkt war er sich allerdings sicher: vorerst würde sich eine solche
Nacht nicht wiederholen.
Das Southampton Escape hatte geöffnet. Aber der Empfang war gerade
nicht besetzt. Um Catherine wenigstens für ein paar Minuten los zu sein,
ging Ellwanger auf Inspektionstour, einmal um die Anlage herum. Das
Hotel lag nicht weit vom schneebedeckten Strand entfernt und hatte einen
eigenen Swimming-pool, der jetzt im Winter allerdings mit einer Plane
überzogen war, auf der ebenfalls Schnee lag. Die Gästewohnungen
befanden sich wie in einer kleinen Reihenhaussiedlung eine nach der
anderen in einer hölzernen Zeile. Blaugrüner Anstrich, Giebeldächer. Alles
machte einen sehr gepflegten Eindruck. Hier hätte er auch gern für eine
Weile gewohnt.
Als Ellwanger von seinem Rundgang zurückkehrte, hatte Catherine
bereits einen Mann aufgetrieben, der für den Empfang zuständig war. Sie
unterhielten sich angeregt. Ein älterer Mann, ein richtiger Herr mit
kräftigem weißen Haarschopf, stahlblauen Augen und perfekten Manieren,
der eine randlose Brille in Händen hielt. Er wirkte nicht wie ein
Angestellter, sondern wie der Besitzer des Hotels. Ein kurzer Blick des
Großgewachsenen streifte den hinzutretenden Ellwanger und taxierte ihn
als zweitklassiges Wesen an der Seite einer erstklassigen Frau. Der
weißhaarige Häuptling setzte die Brille auf und sah das Gästebuch mit den
Anmeldungen durch, um sich zu vergewissern, wer hier im letzten Juni
genächtigt hatte. Mit einer königlichen Gebärde legte er die
zusammengesteckte Brille wieder auf den Tisch und fixierte Catherine.
Leider nein, kein einziger Deutscher habe im fraglichen Zeitraum hier
gewohnt. Er bedauere es sehr, nicht weiterhelfen zu können. Allerdings
erinnere er sich, daß im Sommer hier in der Nähe jemand vermißt worden
war. Vielleicht ein deutscher Tourist? Aber er wisse leider nichts Genaues
über den Vorfall, auch nicht, wo der Mann gewohnt hatte. Wahrscheinlich
müßten sie sich bei der örtlichen Polizei erkundigen. Ob er ihnen vielleicht
etwas zu trinken anbieten oder jemand ihnen die Anlage zeigen könne?
Während er mit dem Dezernat telephoniere, um in Erfahrung zu bringen, an
wen sie sich wenden könnten?
Nun war es Catherine, die hier unbedingt ihren ersten Whiskey trinken
wollte. Ellwanger bestellte ein Mineralwasser – sparkling –, und sie setzten
sich in zierliche Korbstühlchen, die auf den abgedeckten Pool hinaussahen.
Ellwanger starrte vor sich hin. Das Knarren seines Korbsessels und das
Klirren ihrer Armreifen waren die einzigen Geräusche, die sich zu hören
gaben. Ihm geisterte die Zeile aus dem Struwwelpeter durch den Kopf: und
die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum. Mit dem einzigen
Unterschied, daß Catherine kein Suppenkasper war und er keine Mutter, die
ihr unerzogenes Kind davon abhielt, morgens um elf das erste Glas
Whiskey, zu leeren.
Sie merkte nun doch etwas. Besorgt fragte sie ihn, was denn mit ihm los
sei. Ellwanger sah wie auf Knopfdruck noch bekümmerter drein und hob zu
einer dramatischen Lüge an. Keine knappe Ausrede, sondern eine nach
allen Regeln der Kunst ausgefeilte Lügengeschichte. Bevor sie losgefahren
seien, habe er mit seiner ehemaligen Sekretärin in München telephoniert
und dabei erfahren müssen, daß ein Kollege, mit dem er viele Jahre
zusammen im Einsatz gewesen war, tödlich verletzt worden sei. Bei einem
Schußwechsel während einer Drogenfahndung. Im Krankenhaus habe man
ihn nicht mehr retten können. Herzschuß. Der Kollege hinterlasse eine Frau
und zwei halbwüchsige Kinder. Einen wahren Freund habe er verloren. Auf
ihn habe er sich bei gefährlichen Einsätzen immer verlassen können. Einer
sei für den anderen stets dagewesen. Traurig starrte Ellwanger vor sich hin,
seufzte ein bißchen, drehte sein Glas in der Hand, während er fieberhaft
überlegte, wer von den beiden – Pilz oder Schott – auf diese Weise zu Tode
gekommen war. Weder Pilz noch Schott hatten Kinder, Schott wenigstens
eine Frau. Aber er mußte sich gottlob nicht festlegen. Catherine fragte nicht
nach dem Namen des Kollegen, sondern ergriff nur seine Hand, um ihn zu
trösten.
Ellwanger kannte sich selbst kaum wieder. Zwar war es keine allzu
schwere Übung, einen Verdächtigen im Verhörraum anzulügen, aber privat
hatte er damit weniger Erfolg gehabt. Seine Frau hatte er selten angelogen,
eher herumgedruckst oder geschwiegen, wenn sie ihm zusetzte und es
unangenehm wurde. Am meisten wunderte er sich darüber, daß ihm die
Lügen in einem so flotten Englisch über die Lippen gingen. Wahrscheinlich
war es einfacher, sich in einer fremden Sprache als anderer Mensch zu
fühlen und sich ganz neu zu erfinden.
Catherines Mitgefühl war nicht gespielt. Ellwanger kam sich ein bißchen
schäbig vor, daß er sie so hinterging. In dieser Situation war es unmöglich,
sie sich als eiskalte Schwestermörderin oder Komplizin des Ehemannes
vorzustellen. Aber sicher konnte er sich nicht sein, und für die Ermittlung
war es garantiert klüger, noch eine Weile damit hinterm Berg zu halten, daß
er von ihrer Affäre mit Larson wußte.
Der weißhaarige Herr näherte sich geraden Schrittes und überreichte
Catherine einen Zettel mit der Adresse des Police Department und dem
Namen eines Detective, mit dem er gerade gesprochen hatte. Nein, er wollte
von ihnen partout kein Geld annehmen. Die Getränke gingen aufs Haus.
Sie fuhren gleich los. Das Police Department von Southampton war nicht
sonderlich schwer zu finden. Etliche Polizeifahrzeuge parkten vor dem
Klinkerbau. Man erwartete sie schon in einem engen Kabuff mit vielen
Abzeichen und Medaillen an der Wand. Ein viel zu großer Schreibtisch für
den kleinen Raum. Die amerikanische Flagge als Tischständer. Detective
George W. Weiner stand auf einem Täfelchen zu lesen, das akkurat darunter
plaziert war. Namenstäfelchen hin oder her, dachte Ellwanger, in München
hatte er ein wesentlich größeres Büro zur Verfügung gehabt, in so einem
Käfig hätte er es nur schwer all die Jahre ausgehalten.
Weiner war fett, sein Bauch quoll aus der geöffneten Anzugjacke hervor.
Es war heiß in dem Raum. Der Detective schwitzte. Sein spärliches Haar
klebte am Schädel. Aber der Mann war ausnehmend freundlich und bat sie
beide, sich zu setzen.
An dem Schreibtisch hockten sie nun einander gegenüber. Wie üblich
übernahm Catherine die Verhandlung und stellte Ellwanger als einen
Kommissar aus Deutschland vor, der einem verschwundenen Landsmann
auf der Spur sei. Ob es sich bei dem im Sommer als vermißt gemeldeten
Feriengast denn um einen Deutschen gehandelt habe?
Weiner bejahte sofort. Er schien hoch erfreut, einen deutschen Kollegen
in seinem Büro sitzen zu sehen, der denselben Fall bearbeitete, und wollte
den beiden gleich einen Kaffee bringen lassen, aber Catherine wehrte
dankend ab.
Der Deutsche habe sich nichts zuschulden kommen lassen, erklärte
Weiner, bei ihnen jedenfalls nicht, auch das Hotel, in dem er abgestiegen
sei, war ordentlich bezahlt worden, der Mann sei einfach nur
verschwunden. So etwas komme in den Vereinigten Staaten öfter vor. Die
deutschen Behörden hätten sich vor einigen Monaten schon einmal nach
ihm erkundigt. Anton Bilfinger – er sprach den Namen des Mannes kurios
aus, es hörte sich an wie Anton Beefeater, öffnete die Mappe, die vor ihm
auf dem Tisch lag, und reichte Ellwanger die Unterlagen.
Vier Photos steckten in der Mappe, die wahrscheinlich aus Deutschland
zugeschickt worden waren. Darauf zu sehen war ein Mann mittleren Alters
mit gutmütigem Gesicht. Nicht gerade der Typ des Streuners, der in der
Ferne ein nagelneues Leben unter falschem Namen beginnt. Eher ein
gemütvoller Familienmensch. Aber bei Bildern konnte man sich täuschen.
Auf Stimme und Gebärden kam es viel mehr an, das wußte Ellwanger aus
Erfahrung, und die waren einem Bild nun mal nicht zu entnehmen. In der
Personenbeschreibung war seine Größe mit 1.96 angegeben. Er wog 97
Kilo. Ein großer Mann also. Jemand hatte die deutschen Maße in Inches
umgerechnet und 77.16 mit Bleistift danebengekritzelt. Anton Bilfinger,
geboren in Gerabronn, angestellt bei der Firma Poelzig & Koch als
Sicherheitsberater. Verheiratet mit Andrea Bilfinger, zwei Kinder.
In den letzten Jahren mochte dieser Anton Bilfinger etwas zu üppig
gegessen haben, aber fett war er nicht. Ellwanger zückte sein Notizbuch
und schrieb sich einige Daten auf, unter anderem die Adresse Bilfingers in
Gerabronn und den Namen des Hotels, in dem er zuletzt genächtigt hatte.
Weiner wunderte sich, daß Ellwanger so viel notierte, sein Büro hatte die
entsprechenden Unterlagen ja bereits nach Deutschland geschickt.
Ellwanger versicherte ihm, es geschehe nur aus … aus – aber für so etwas
wie doppelt gemoppelt hält besser hatte er keinen englischen Ausdruck zur
Verfügung. Catherine sprang ein und erklärte dem Detective, daß Mister
Ellwanger immer alles sehr genau nehme und sich lieber zwei Notizen
zuviel mache als eine zuwenig.
Ellwanger fragte, ob umfangreiche Nachforschungen eingeleitet worden
seien. Weiner bot die gutgepolsterten Handinnenflächen dar und legte die
Hände wieder auf den Tisch. In den Vereinigten Staaten verschwanden Jahr
für Jahr Tausende von Menschen, manche, weil sie etwas zu verbergen
hatten, andere nur deshalb, weil sie mit ihrem alten Leben nicht mehr
zurechtkamen und ein neues anfangen wollten. Wenn keine Anzeichen für
ein Verbrechen vorlagen, konnte man keine aufwendigen Ermittlungen
einleiten. Wer wußte es schon, vielleicht lebte der Deutsche jetzt vergnügt
an einem anderen Ort, in Südamerika oder Florida oder sonstwo. Und falls
tatsächlich ein Verbrechen geschehen war, dann vielleicht nicht hier,
sondern ganz woanders.
Immerhin war das ein Anfang, allerdings keiner mit handfesten Indizien.
Wenn er übermorgen zurückflog, hatte Ellwanger erste Anhaltspunkte im
Gepäck. Photos von Larson, die Catherine ihm gegeben hatte und die er in
Gerabronn herumzeigen würde. Dazu die Adresse der Familie, aus deren
Mitte der rätselhafte Mann verschwunden war, welcher geglaubt hatte,
Larson zu kennen. Sie verabschiedeten sich von George W. Weiner, der
trotz seines weichen Körpers einen erstaunlich festen Händedruck hatte,
und machten sich wieder auf den Weg.
Als nächstes fuhren sie zu dem Hotel, in dem Anton Bilfinger fünf Tage
lang Gast gewesen war. Catherine kannte es nicht und mußte sich auf der
Karte vergewissern, wo es lag. Das Southampton Inn war nicht besonders
groß, lag aber nicht weit vom Strand und hatte einen großzügigen Park, der
unter einer dicken Schneedecke verborgen war. Es stand etwas
zurückgezogen da, winterliche Ruhe herrschte. Flackernde Kerzen in
großen gläsernen Behältern am Eingang. Dort trafen sie auf ein kleines
Grüppchen, das sich gerade zu einer Schneewanderung Richtung Strand
aufmachte.
Catherine ging direkt auf die Empfangsdame zu und versuchte, sie nach
dem verschwundenen deutschen Gast auszufragen. Die Frau mit dem
schweren dunklen Haarknoten und den exakt manikürten Nägeln verdrehte
nur ein ganz klein wenig die Augen, blieb aber höflich. O ja, natürlich – sie
war schon einige Male deswegen befragt worden. Aber da gab es weiter
nichts Interessantes zu erzählen. Ein ruhiger, freundlicher Mann, der hier
offensichtlich Urlaub gemacht hatte. Großzügig, ordentlich, bescheiden.
Nein, ein Auto hatte er nicht dabeigehabt. Offensichtlich hatten ihn
Privatleute, an die sich aber niemand erinnern konnte, hergefahren. Und
offensichtlich war er auch wieder abgeholt worden. Von wem, wußte sie
nicht. Wahrscheinlich von denselben Leuten, die ihn hergebracht hatten.
Während der Tage, in denen er im Hotel einquartiert gewesen war, war er
abends ebenfalls ein- oder zweimal abgeholt worden. Vielleicht wieder von
denselben Leuten, aber auch das wußte hier niemand. Nein, das Zimmer
konnte sie ihnen nicht zeigen, weil es derzeit belegt war. Die örtliche
Polizei hatte es aber genauestens untersucht und keinerlei Hinweise
gefunden, wo der Mann geblieben sein könnte. Keine Zettel im Papierkorb,
keine Notizen, nichts. Gegen elf Uhr vormittags hatte er ausgecheckt, alles
völlig normal. Zwei Koffer hatte er dabeigehabt, beide waren
verschwunden. Alles in allem ein angenehmer Mann, den sie gern öfter bei
sich gesehen hätten. Er war aber kein Stammgast gewesen, sondern hatte
das Southampton Inn zum ersten Mal aufgesucht. Nein, die
Zimmermädchen und Kellner wüßten auch nicht mehr. Sie alle seien
ausführlich befragt worden. Die Dame erzählte das flüssig herunter, als
hätte sie ihr Sprüchlein schon öfter aufgesagt, trotzdem gab es nicht den
geringsten Grund, an der Wahrheit ihrer Aussage zu zweifeln. Dann stellten
sich zwei weitere Gäste an den Tresen, und die Dame ließ Catherine mit
einem abschließenden Nicken wissen, daß die Fragestunde nun vorüber sei.
Offensichtlich hatte der Mann keine Spuren hinterlassen, und es war
müßig, hier weiter nachzuforschen.
VII

Ihre Fahrt zurück verlief ziemlich ruhig. Es gab viel Verkehr, und sie kamen
nur langsam voran. Im Tunnel überraschte ihn Catherine mit der Frage, ob
er in München mit jemandem zusammenlebe, mit einer Frau, mit Kindern.
Nein, nur mit Killmousky. Catherine lachte. Sie begriff ziemlich schnell,
daß es sich um eine Katze handeln mußte. Ellwanger wollte nun unbedingt
präzisieren, daß Killmousky ein Kater war, aber es fehlte ihm der richtige
Begriff. Das Wort male wollte ihm partout nicht über die Lippen. Er fing
an, herumzufuchteln, schwatzte von einem he cat und einem tom cat und
wollte nun unbedingt erklären, welche Spiele er und sein he cat jeden
Morgen im Garten aufführten. Dabei geriet er derart in Fahrt, daß ihm ein
völlig chaotisches Wortgebirge entfuhr, in dessen Zentrum die Aussage
stand, daß Killmousky der witzigste Kater unter der Sonne war – most witty
tom cat in the whole universe. Was für ein grauenhafter Stuß! Er
verstummte. Die Frau mußte ihn für einen Vollidioten halten, daß er beim
Thema he cat derart in Ekstase geriet. Aber nein. Catherine schien höchlich
amüsiert über den abstrusen Wortschwall, der urplötzlich aus ihm
herausgebrochen war. Ellwanger verabschiedete sich von ihr mit »We'll
keep in touch. Do we?«. Was ihm schon nach zwei Sekunden angesichts der
Tatsache, daß er mit dieser Frau eine Nacht im Bett verbracht hatte, völlig
blödsinnig erschien.
Die nächste Nacht schlief er wieder im Pierre, allein. Es war nicht weiter
schwer gewesen, Catherine zu entgehen, wahrscheinlich wollte auch sie
lieber ohne ihn zu Hause übernachten. Aber sein Schlaf war durchlöchert,
von schlimmen Phantastereien wurde er heimgesucht, ja, ohne daß er sich
dagegen wehren konnte, regelrecht von ihnen überwältigt. We'll keep in
touch. Touch. Touch. Touch. In einer seiner Phantasien schlug er Catherine
einige Male ins Gesicht, bis alles aus ihr heraussprudelte, was sie wußte.
Nein, er wurde dafür keineswegs zur Verantwortung gezogen, sondern vom
alten Trevillyan sogar belobigt, daß endlich mal ein Mann gekommen sei,
der es seiner Tochter richtig gezeigt hatte. Und klar: den Fall hatte er damit
in Null Komma nichts aufgeklärt. Auch klar: der alte Trevillyan
verdoppelte das Honorar daraufhin umgehend.
In ruhigen Momenten schämte er sich für den Schwachsinn, den er sich
da zusammenphantasierte, aber er kam nicht dagegen an, we'll keep in
touch, paar Sekunden später ging die Prügelei wieder von vorn los. Er war
sogar fast gleichzeitig in der Lage, zu analysieren, wo er das herhatte.
Natürlich vom Vater, der die Mutter schier totgeprügelt hatte. Jedenfalls
hatte nicht viel dazu gefehlt. Sie starb mit vierundfünfzig an einem
Herzinfarkt, er mit achtundsechzig an irgendwas. Den Alten hatte er nach
dem Tod der Mutter nie mehr gesehen, hatte ihn in einem Armengrab, will
heißen in einem anonymen Massengrab, verscharren lassen und war nicht
mal bei der Beerdigung gewesen.
Trotzdem, er hatte sich immer im Griff gehabt, hatte seine Ehemalige nie
geschlagen, obwohl sie ihn manchmal bis aufs Blut gereizt hatte. Den einen
oder anderen Verdächtigen hatte er zwar hart anfassen müssen, allein, um
die Schläge nicht selbst abzukriegen, aber übers Ziel war er so gut wie nie
hinausgeschossen. Vielleicht hatte er in der Wut mal nachgetreten, das war's
aber auch schon gewesen. Warum um Gotteswillen brachte ihn eine
ziemlich fremde Frau, die ihn in ihr Bett eingeladen hatte, so auf Touren,
daß er sie schlagen wollte? Er wußte es nicht, schlief wieder ein, und als er
aufwachte, wußte er es erst recht nicht.
Es gab einiges zu erledigen. Um elf Uhr war er mit Trevillyan verabredet,
um einen ersten Bericht abzustatten. Der Portier begrüßte ihn wie einen
alten Bekannten mit leichtem Nicken. Catherine zeigte sich während dieses
Besuches nicht. Dafür war Arrowsmith anwesend. Der Alte machte heute
einen noch schwächeren Eindruck in seinem Rollstuhl. Er schien Mühe zu
haben, den Kopf aufrecht zu halten, sprach mit tonloser Stimme. Mehr ein
Flüstern als ein Sprechen. Seine Hände zitterten. Ellwanger suchte nach
Merkmalen, die den alten Mann mit seiner Tochter in Verbindung bringen
konnten, fand aber keine, von den dunklen Augen einmal abgesehen. Er
erstattete einen kurzen Bericht in halbwegs verständlichem Englisch.
Arrowsmith lenkte mit kleinen schlauen Nachfragen das Gespräch und
ergänzte Wörter, nach denen Ellwanger suchen mußte.
Natürlich war es nicht viel, was Ellwanger in so kurzer Zeit hatte
herausbringen können, aber er gab sich zuversichtlich, in Gerabronn mehr
über den verschwundenen Deutschen zu erfahren, vor allem mehr darüber,
ob es dort einen Schuljungen gegeben hatte, auf den die Beschreibung
Larsons paßte. Trevillyan nickte nur und wünschte ihm mit schwächlicher
Stimme und wackeligem Kopf good luck.
Doch bevor Ellwanger das Zimmer verließ, hatte er eine Eingebung. Im
Gehen wandte er sich um und fragte, ob Larson öfter auf Long Island
gewesen sei. Die Antwort besorgten beide Herren gleichzeitig, woraufhin
Arrowsmith verstummte, um dem Chef das Wort zu überlassen. Ja, Larson
war häufig dort gewesen, während des letzten Sommers sogar besonders
häufig. Er besaß ein Segelboot, das ihm Vicky zur Hochzeit geschenkt
hatte. Der Liegeplatz war in Southampton. Inzwischen hatte er es allerdings
verkauft. Insoweit Trevillyans dünne Stimme überhaupt ironisch klingen
konnte, tat sie es jetzt: der Schwiegersohn habe nach dem Tod seiner Frau
behauptet, es nicht mehr ertragen zu können, allein mit dem Boot
hinauszufahren (er machte eine Kunstpause, seine schwarzen Augen
blitzten) – because it meant so goddamn much to them! Dann senkte er den
Kopf. Seines Wissens war Vicky so gut wie nie mitgesegelt.
Der alte Mann schwieg. Die Sitzung war beendet. Arrowsmith geleitete
Ellwanger hinaus und sicherte ihm seine Hilfe zu. Die Adresse vom
Liegeplatz des Bootes könne er ihm besorgen. Vielleicht sogar in Erfahrung
bringen, wer es gekauft hatte. Wirklich, ein grundsympathischer Mann.
An diesem Tag gab es für Ellwanger nichts mehr zu tun. Die Wintersonne
stach zwischen den grauen Wolken durch. Während der Nacht hatte es
wieder ein bißchen geschneit. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen, als
er durch den Central Park ging. Eifrige Jogger rannten an ihm vorüber,
Apparätchen mit weißen Schnüren um den Kopf, dazwischen auch
rennende Väter oder Mütter, Kinderwagen in flotter Fahrt vor sich her
schiebend, die frische Räderspuren in den Schnee zogen. Ellwanger
verstand die freiwillige Rennerei nicht. Wenn sie aus dem Kindesalter
heraus waren, sahen die Leute lächerlich dabei aus. Er rannte bloß, wenn es
unbedingt sein mußte, wenn es galt, einen Verdächtigen einzufangen oder
mit Hilfe von Kollegen einzukesseln. Obwohl er rauchte, war er für sein
Alter immer noch ziemlich schnell.
Aber es tat gut, nicht im Auto zu sitzen, sondern sich an der klaren Luft
zu bewegen. Die Zweige der Bäume waren mit weißen Häubchen bedeckt.
Flog ein Vogel ins Gezweig und ließ sich darauf nieder, fiel pudriges Pulver
herab. Ansonsten blieben die Bäume starr und stumm. Bäume tuschelten
nur ab dem Frühjahr miteinander, sobald das Laub aus ihren Ästen brach.
Die Hunde, die hier im Park herumflitzten, waren in ihrem Element. Ein
gefleckter Terrier schleppte erhobenen Hauptes einen Ast an, der eigentlich
zu schwer für ihn war. Ellwanger fühlte sich leichter. Sobald sie Catherine
berührten, waren seine Gedanken von dem drückenden Nachtalp befreit.
Keine Prügelszenen mehr. Die Frau, die ihm ein großes Abenteuer beschert
hatte, war eine kuriose Mischung aus weltläufiger Eleganz, der Gewohnheit
zu herrschen und plötzlichen Anfällen von Schüchternheit. Ihre nervöse
Art, die gefüllten Whiskeygläser mit den Eiswürfeln zu traktieren, kam ihm
in den Sinn. Gut möglich, daß sie in wenigen Jahren von einer Klinik in die
andere wanderte, um sich vom Alkohol zu befreien. Hatte sie tatsächlich
mit dem Tod Vickys zu tun, oder war es ihr bloß peinlich, mit dem Mann
der Schwester eine Affäre gehabt zu haben? Warum hatte sie nicht erwähnt,
daß Larson ein Boot besaß? War sie selbst öfter mit ihm hinausgesegelt,
während Vicky, die ihm das Boot sicher nicht zu diesem Zweck geschenkt
hatte, in New York geblieben war?
Den Tag hatte er zu seiner Verfügung. Allerdings fühlte er sich dabei
etwas unbehaglich. Wenn er an einem Fall dran war, gab es für ihn
eigentlich keine freie Zeit. Wäre er noch in seiner Münchner Dienststelle
gewesen, hätte er jetzt die Kollegen aufscheuchen und mit
Nachforschungen beauftragen können. Er selbst hätte alle Informationen
zusammengetragen, die sich bisher angesammelt hatten, und eine
strategische Übersicht erstellt. Er war daran gewöhnt, Direktiven zu geben
und einen Apparat in Schwung zu halten, selbst wenn dieser Schwung
manchmal zu nichts führte. Wenn es bei Ermittlungen einen Leerlauf gab,
konnte man sich wenigstens mit bürokratischem Zeug beschäftigen,
Berichte schreiben, alte Fälle durchsehen. Ohne seinen Apparat kam er sich
amputiert vor, selbst in einer so neuen Umgebung. New York betrachtete er
schon nicht mehr mit dem verwunderten Blick des Neulings. Jetzt war er im
Amt. Zwar nur als Amtsträger seiner selbst mit einem kleinen schwarzen
Notizbuch in der Tasche, das er herauszog, um etwas hineinzukrakeln,
während er in einer Bar ein Sandwich aß und einen zweiten Kaffee trank.
Aber das tat er bloß, um überhaupt etwas zu tun. Die spärlichen
Informationen, die es bisher gab, hatte er alle im Kopf.
Der Abend verlief ruhig. Keine Nachricht von Catherine. Frau
Kirchschlager hatte einen Tisch im Restaurant bestellt. Diesmal waren sie
nur zu zweit, Sepp hatte andere Verpflichtungen. Ellwanger liebte den
abendlichen Spaziergang durch die Winterstadt. Schnee fiel wieder in
zarten Flocken. Die Straßengeräusche waren gedämpft. Das italienische
Restaurant in Soho, in dem sie reserviert hatte, war dagegen laut und voll
und warm, aber es wirkte alles andere als mondän. Kein staunenswertes
Publikum verkehrte dort. Ellwanger fühlte sich sofort wohl. Das Essen war
ausgezeichnet. Er hatte die Auswahl der Kirchschlagerin überlassen und
war drauf und dran, zu schnurren wie sein Kater, wenn der rundum
zufrieden war. Es ging ihm kurz durch den Kopf, ob er erzählen sollte, was
er bezüglich Catherines und Larsons vermutete, dann behielt er es lieber für
sich. Aber er fragte sie, ob sie von dem Segelboot wußte, das Larson in
Southampton liegen hatte.
»Ein wirklich schönes Boot, nicht klein, nicht riesig, sehr edel von den
Materialien her. Vicky hat es mir einmal gezeigt.«
»Aber sie ist wohl kaum damit gesegelt.«
»Das stimmt. Aber sie konnte segeln, sogar sehr gut, ich glaube, besser
als ihr Mann. Sie hat es ihm geschenkt, aber schnell die Lust daran
verloren. Warum, weiß ich nicht.«
Ellwanger tupfte die letzten Reste der Fleischsoße, die ein bißchen nach
Zitrone schmeckte, mit etwas Brot auf. »Merkwürdig. Eine passionierte
Seglerin schenkt ihrem Mann ein Boot zur Hochzeit, benutzt es aber selber
nicht.«
Frau Kirchschlager füllte ihre beiden Gläser wieder auf. »In den letzten
Jahren hat sie sich sehr verändert. Wirkte verschlossen. Ziemlich in sich
gekehrt. Ein bißchen so, als lebte sie nur noch auf Sparflamme.«
»Was eher für einen Selbstmord spricht.«
»Das tut es. Ich bin sowieso nicht davon überzeugt, daß er sie unbedingt
umgebracht haben muß. Eher so etwas wie schleichend ausgelaugt. Aber
wer weiß das schon so genau. Vielleicht war ihre depressive Verstörung
stärker, als ich es vermutet habe. Und vielleicht hatte sie schon vor ihrer
Ehe damit zu kämpfen. Die Schwester ist ja auch nicht ganz frei davon.
Sonst müßte sie nicht solche Quanten Alkohol in sich hineinschütten.
Haben Sie gemerkt, wieviel sie trinkt?«
Ellwanger fingerte an einem letzten Stückchen Brot herum. »Ist mir
aufgefallen. Sie schluckt ziemlich was weg. Jedenfalls erheblich mehr als
ich.«
Die Kirchschlagerin hob ihr Glas: »Dann wollen wir mal sehen, wer jetzt
was wegschluckt«, und leerte es in einem Zug. »Und sonst?« fragte sie,
»wie war die Reise? Haben Sie schon was rausgekriegt?«
»Nicht viel. Aber immerhin ein Anfang. Ein Name, eine Adresse und ein
Haufen Vermutungen, lauter unbewiesenes Zeug.« Und er erzählte ihr jedes
Fitzelchen, das er über den verschwundenen Anton Bilfinger in Erfahrung
gebracht hatte.
»Merkwürdig«, sagte Frau Kirchschlager, »ein braver deutscher
Familienvater aus der Provinz verschwindet doch nicht einfach so.«
»Sehen Sie. Da ist Ihr treuer Mieter gefragt. Der morgen zurückfliegt und
sich die Familie des Verschwundenen vorknöpfen wird, natürlich erst,
nachdem er sich ausgiebig seinem Kater gewidmet hat.«
»Der Sie womöglich schon abgeschrieben hat und mit theatralischem
Katzbuckel zur kleinen Nachbarin übergelaufen ist.«
Ellwanger lachte. »Das glaube ich kaum. Sein beliebtes Morgenspiel
kann nur ich ihm bieten.« Dann senkte er die Stimme zu einem säuselnden
Verschwörerton: »Killmousky ist der einzige, der mich liebt.«
»Was Sie nicht sagen! Und was ist mit der Damenwelt?«
Ellwanger mauzte ein bißchen und machte eine wägende Bewegung mit
der rechten Hand. Ob die Damenwelt ihm zugetan war oder nicht, ließ er
lieber offen.
Als er am nächsten Nachmittag im Flugzeug saß, war er zwar nicht so
komfortabel untergebracht wie auf der Hinreise, aber er hatte dennoch
Glück. Der Platz neben ihm blieb frei, ein wahres Geschenk, das er zu
würdigen wußte, indem er schon nach einer halben Stunde dankbar
einschlief und während des gesamten Fluges nur sehr selten die Augen
öffnete, nicht einmal, als die Stewardessen die Wagen mit den Getränken
und dem Essen durch den Korridor rollten. Nach dem fabelhaften späten
Frühstück im Pierre hatte er einfach keine Lust, irgendwelches Zeugs mit
Plastikgabel und Plastikmesser in einer Plastikschale zu traktieren. Aber er
schlief natürlich nicht einfach so die Stunden durch, sondern wälzte im
halben Wachen und halben Schlummer seinen Fall immer wieder hin und
her. All die Leute, die ihm während der letzten Tage begegnet waren,
geisterten durch sein Hirn. Trevillyan tauchte immer wieder auf. Das alte
schlaue Reptil, dieses Rollstuhlmonster hatte was! Auch in jungen Jahren
mußte Trevillyan die Menschen in seinen Bann gezogen haben. Das
zierliche Männchen war nicht der Typ des jovialen, großgewachsenen
amerikanischen Helden, aber ganz sicher jemand, den man nicht so schnell
vergaß. Der Blick aus seinen kohlschwarzen Augen, der versehrte und
zugleich analysierte, wirkte lange nach. Ellwanger fühlte ihn sogar jetzt,
über dem Atlantik, weit entfernt in über zehntausend Metern Höhe.
Auch sein Gegenspieler, Larson, der schöne blonde Larson, machte ihm
zu schaffen. Weckte männliche Schönheit anders als die weibliche
Schönheit grundsätzlich das Mißtrauen, insbesondere bei Schwiegervätern?
Bei fast allen heterosexuellen Männern, und vielleicht zu Unrecht? Larson
mochte berechnend und zugleich verlogen sein, und sehr wahrscheinlich
hatte er die Frau nur geheiratet, um ein bequemes Leben führen zu können,
aber das machte ihn noch nicht zum Mörder. Mit den Fingern trommelte
Ellwanger auf seinen Oberschenkeln herum, als wolle er sich etwas
einschärfen. Und die Lektion hieß: hüte dich davor, einem Schönling etwas
anzudichten, nur weil du mit derselben Frau geschlafen hast und vielleicht
ein klein wenig eifersüchtig bist. Die Augen hielt er dabei geschlossen.
VIII

Als er im Zwengauer Weg die Klinke des Gartentörchens niederdrückte,


war er enttäuscht. Kein Killmousky. Auch nicht, als er die Haustür
aufschloß. Ellwanger war verstört. Der Kater war entweder gestorben oder
hatte sich für immer davongemacht. Er öffnete die Terrassentür und begann
trotz Schneematsch, der Gift für seine Schuhe war, den Garten abzusuchen.
Noch bevor er die Tasche ausgepackt hatte, rief er bei den Nachbarn an,
aber da meldete sich keiner. Es dauerte etwas, bis er begriff, daß sich da
auch keiner melden konnte. Annett war in der Schule, ihre Mutter bei der
Arbeit. Ellwanger war traurig und ratlos zugleich. Er begann die Reise zu
verfluchen, die ihn seinen Gefährten gekostet hatte. Da entdeckte er in der
Küche die beiden Schälchen. In einem waren einige nicht ganz
eingetrocknete Fleischbrocken. Killmousky mußte also vor wenigen
Stunden noch hier gewesen sein.
Er packte seine wenigen Sachen aus, steckte die gebrauchte Wäsche in
die Maschine und schaute das bißchen an Post durch, das in einem
ordentlichen Stapel auf seinem Schreibtisch lag. Als er sich auf den
knarrenden Stuhl setzte, wußte er, daß er wieder zu Hause war. Da mauzte
es auf der Terrasse. Ellwangers Herz tat einen Sprung. Er rannte förmlich
zur Tür, um sie für Killmousky zu öffnen. Aber – weit gefehlt! Der Kater
zierte sich, hereinzukommen. Er drehte sich weg und setzte sich auf seinen
Hintern. Ellwanger säuselte und schwatzte auf ihn ein wie nicht gescheit.
Schließlich geruhte der Kater doch, allerdings langsam, sehr langsam, als
müsse er sich das alles erst noch gründlich überlegen, die Wohnung
aufzusuchen. Keinesfalls strich er Ellwanger um die Beine oder miaute
einen Willkommensgruß zu ihm hinauf. Etwas steif stelzte er an ihm vorbei,
tat so, als wäre sein Herr gar nicht vorhanden, sprang auf einen Sessel im
Schlafzimmer und gab sich einer besonders gründlichen Morgentoilette hin.
Es war keinesfalls erwünscht, daß Ellwanger sich ihm näherte. Der Kater
ließ ihn spüren, daß man ihn nicht ungestraft verlassen durfte.
Ellwanger säuberte Killmouskys Schälchen und machte eine Fischdose
auf. Sardellen konnte der Kater für gewöhnlich nicht widerstehen.
Ellwanger trug das gefüllte Schüsselchen am Sessel vorbei und
machte miezmiezmiez und mauzmauzmauz, wobei er sich ziemlich
idiotisch vorkam, aber Killmousky schaute ihn bloß gelangweilt an, oder
vielmehr: er sah durch ihn hindurch, als wäre sein absurder Herr und
Spielkamerad, der die Katersprache ungefähr so gut beherrschte wie ein
Swahili das Bayerische, inexistent.
Nun, es brauchte eben alles seine Zeit. Überwach und zugleich müde,
legte sich Ellwanger aufs Bett, schlief aber nicht ein, sondern tigerte nach
einer halben Stunde schon wieder in der Wohnung herum und schlug sein
Notizbuch auf, die Stelle, wo er Adresse und Telephonnummer von Anton
Bilfingers Familie in Gerabronn notiert hatte. Und o Wunder! Um halb
zwölf am hellichten Tag war jemand zu Haus. Eine Frauenstimme meldete
sich, nannte den Familiennamen, etwas zögerlich, als fiele ihr das
Telephonieren schwer. Vielleicht war sie auch mißtrauisch, weil sich schon
der eine oder andere Journalist bei ihr gemeldet hatte. Ellwanger stellte sich
als Kriminalhauptkommissar vor. Kein Wort darüber, daß er nicht mehr im
Dienst war. Die Frau verstummte. Offenbar befürchtete sie das Schlimmste.
Ellwanger suchte sie zu beruhigen. Nein, es gebe leider keine neuen
Erkenntnisse. Aber er sei mit einem anderen Fall befaßt, und da gebe es
vielleicht eine Verbindung zu ihrem verschwundenen Mann. Ob er sie
aufsuchen dürfe? Vielleicht morgen schon? Oder übermorgen? Morgen
also. Vielen Dank.
Er mußte es ruhiger angehen. Nachdenken. Schlafen. Zunächst befaßte er
sich mit der Schranktür und langte aus der untersten Abteilung seine alten
Filzschuhe heraus, die er selten trug, weil sie ihm rentnerhaft vorkamen.
Killmousky wollte von seiner Existenz noch immer keine Kenntnis
nehmen, er selbst brauchte Ruhe. Auf gedämpften Sohlen ging er durch die
Behausung und inspizierte die Zimmer. Nach dem amerikanischen
Abenteuer kamen sie ihm winzig vor. Puppenstubenzimmer für einen
einsam vor sich hin alternden Detektiv. Die Nacht mit Catherine mußte ein
anderer erlebt haben. Jedenfalls nicht der Bewohner dieses Winzhäuschens
in Solln. Er legte sich wieder ins Bett und schlief sofort ein.
Als er erwachte, hatte ihn die Gewohnheit wieder. Er spürte Fell in
seinem Nacken. Killmousky hatte seinen Frieden mit ihm gemacht, sie
waren wieder zu ihren alten Gepflogenheiten zurückgekehrt. Das heißt,
nicht ganz, denn es war fünf Uhr am Nachmittag, und um diese Zeit trieb
sich der Kater normalerweise im Freien herum. Jetzt sprang er vom Bett.
Erwacht war Ellwanger, weil er die Eingangstür gehört hatte. Annett war
gekommen, um den Kater zu versorgen. Killmousky strich auch gleich um
sie herum, als wäre sie die erstrangige Person des gesamten
Katzenuniversums.
Annett war lustig. »Jessas, wieder da!« sagte sie, als sie Ellwanger mit
seinem verstrupften Schlafkopf erblickte, den er nicht rasch genug in
Ordnung hatte bringen können. »Und wie ging's? Killer gefaßt?«
»Killer erschossen nach fünfminütigem Maschinengewehrfeuer.
Kopfschuß und aus.«
»Klasse«, sagte das gute Kind. »Sie sehen aber nicht so aus, als hätten
Sie gewonnen.«
»Das täuscht. Ellwanger gewinnt immer. In Honolulu, Timbuktu oder
sonstwo. Aber morgen muß er nach Gerabronn. Könntest du, falls ich
morgen erst spät nach Hause komme, noch mal?«
»Klar, kann ich.«
Ellwanger holte das Geschenk, das er für sie besorgt hatte, das heißt,
Frau Kirchschlager hatte es besorgt. Einen kleinen, aber feinen
Aquarellmalkasten. Annett malte nämlich gern. Gar nicht schlecht für ihr
Alter, wie die Kirchschlagerin bestätigte, der sie hin und wieder ihre Bilder
zeigte. Und Annett, sonst eine recht forsche Person, war immer ein wenig
beschämt, wenn man ihr etwas schenkte. Der Farbkasten freute sie ganz
offenkundig. Ellwanger liebte Menschen, die Geschenke nicht einfach so
hinnahmen, sondern ein klein wenig in Aufregung gerieten, vielleicht sogar
rot wurden, wenn man sie beschenkte. Seine Ehemalige hatte Geschenke
immer ziemlich lange ungeöffnet herumliegen lassen, bevor sie sich dazu
aufraffte, sich mit ihnen zu befassen. Eine falsche Demonstration der Macht
und Ungerührtheit, wie Ellwanger fand. Damit hatte sie ihn oft genug
erbost.
Für die Fahrt nach Gerabronn hatte er sich einen BMW gemietet. Und sich
vorher aus dem Schrank eine neue Schachtel Nil geholt. Er scherte sich
nicht darum, daß die Autovermieter es nicht schätzten, wenn man in ihren
Wagen rauchte, schon gar nicht in einer nagelneuen BMW 5er-Limousine,
die er sich bei diesem Auftrag leisten konnte, alle Kosten wurden ja extra
erstattet. Nil rauchte er nur zu besonderen Anlässen. Üblicherweise hatte er
ein Päckchen Camel dabei. Ein BMW war eigentlich für ein Rennen auf der
Autobahn wie gemacht. Aber nicht, wenn Ellwanger am Steuer saß. Der
Kommissar a. D ‌ . war nämlich ein gemütlicher Fahrer, um nicht zu sagen:
ein lahmer. Sich bei energischen Überholmanövern einen Nervenkitzel zu
verschaffen war seine Sache nicht. Überhaupt vermied er es, sich beim
Fahren aufzuregen. Seine Ehemalige hatte gern behauptet, er hocke im
Auto wie ein evangelischer Pfarrer, unterwegs auf Krankenbesuch. In ihren
jungen Jahren hatte auch meistens sie das Motorrad gefahren, nicht er.
Gerabronn also. Jahrzehntelang war er nicht mehr in der Stadt gewesen,
in der er einst zur Schule gegangen war. Er fühlte wieder, wie sich die
schwere Hand von Wolpertinger auf seine schmale Knabenschulter legte.
Wolpertinger hatte es gut mit ihm gemeint. Ihm hatte er es überhaupt zu
verdanken, daß er das Abitur gemacht hatte. Wolpertinger hatte ihm seine
Frechheiten nachgesehen und immer an ihn geglaubt. Warum, wußte
Ellwanger nicht. Wolpertinger hatte etwas in ihm gesehen, was sonst kein
Mensch gesehen hatte. Vielleicht hatte der alte Lehrer geahnt, daß bei ihm
zu Hause etwas nicht stimmte. Er war ein mürrisches, verschlossenes Kind
gewesen, nicht sonderlich anziehend für einen Lehrer. Eigentlich für
niemanden anziehend. Auch für seine Kameraden nicht. Zu sich nach
Hause hatte er nie einen Freund mitbringen können. Nicht einmal Heinzi,
der von der fünften bis zur siebten Klasse vielleicht sein Freund gewesen
war. Möglicherweise hätten es die Eltern sogar erlaubt. Aber der stumme,
schmächtige Ellwanger, der er damals war, hatte sich für seine Eltern und
das enge Zuhause geschämt. Seit langem hatte sich der Kontakt zu Heinzi
verloren. Ellwanger wußte nur, daß er irgendwann nach Berlin gegangen
war. Bei Klassentreffen hatte sich Ellwanger nie gezeigt. Inzwischen wurde
er nicht mal mehr dazu eingeladen.
Um ein Haar hätte er die Ausfahrt Crailsheim verpaßt. Gegen zehn war er
in Gerabronn. Die Stadt kam ihm winzig vor, nach seinem New-York-
Besuch war ihm auch München provinziell erschienen. Gerabronn hingegen
war das Spielzeuggebilde eines Städtchens. Etwas für Kinder.
Kleingehäuseltes in der Beethovenstraße. Solide zwar und erheblich
größer als das Haus, in dem er seine Kinderzeit hatte verbringen müssen,
aber nichts für Leute, die sich finanziell Riesensprünge erlauben konnten.
Einen New-York-Reisenden wie Anton Bilfinger, der für einige Tage in
einem gediegenen Hotel auf Long Island abgestiegen war, hatte er sich in
einer anderen Umgebung vorgestellt.
Ellwanger war zu früh, lief zum Zeitvertreib die Straße auf und ab und
sah in die Gärten, die jetzt im naßkalten Winter, mit wäßrig durchlöcherter
Schneedecke, durch die dunkle Erdflecken oder der plattgedrückte Rasen
schauten, nicht besonders einladend aussahen. So ein bißchen Rasen hatte
es bei ihm zu Hause auch gegeben. Mit einem Pflaumenbaum und einem
Birnbaum, dessen holzige Birnen man aber nicht hatte essen können.
Ellwanger hatte den Garten immer gehaßt. Sommers hockten die Wespen
auf den Pflaumen. Vom Vater war er dazu verdonnert worden, alle vierzehn
Tage den Rasen zu mähen. Kurz mußte der gehalten werden. Sechs
Zentimeter waren maximal erlaubt. Obwohl er sich damals wahrscheinlich
aus Protest eine Allergie zugelegt hatte und das Mähgeschäft schniefend,
mit hochrotem Kopf und zugeschwollenen Augen versah, ließ der Vater ihn
nicht in Ruhe, sondern verfolgte von einem Klappstuhl aus, ob er korrekte
Bahnen mit dem rotgelben Zündapp zog. Das Ungeheure des Sommers. Im
August 1969 war er über ein Wespennest gefahren, eine bös surrende Wolke
hatte sich erhoben und ihm vierzehn Stiche verpaßt. Danach hätte ihn der
Vater totprügeln können, aber den Rasenmäher rührte er nicht mehr an.
Seine Allergie verschwand, nachdem er Gerabronn den Rücken gekehrt
hatte.
Wenige Flocken fielen. Schwere, nasse Flocken, sehr vereinzelt.
Vielleicht die dickleibigen Vorboten eines kleinen Gestöbers. Obwohl der
Himmel nicht danach aussah. In kurvenreichen Flügen schwarze Vögel
über seinem Kopf, stille, die nicht schrien. Wahrscheinlich Krähen.
Er klingelte am Eingang der Nummer 12, öffnete das Jägerzauntörchen
und stand alsbald vor einem Trumm von einer Tür mit lauter vorgewölbten
gläsernen Bullaugen. Das Ding öffnete sich erst einen Spalt, dahinter kam
eine lange, hagere Frau zum Vorschein und bat ihn herein. Braungebrannt.
Blond. Dunkler Pullover, dunkle Hose. Die Diele war größer als vermutet.
Auf dem blitzsauberen schwarz-weiß gefliesten Boden hinterließen seine
Schuhe gewiß Spuren. Er legte seinen Mantel ab, und die Frau hängte ihn
auf einen dicken, lederbezogenen Bügel. Sie bat ihn ins Wohnzimmer, das
nach hinten auf den Garten hinausging, eine riesige Couchgarnitur stand
mitten im Raum. Dimensioniert für Leute, die zwei Köpfe größer waren als
er. Von dort fiel der Blick durch ein Panoramafenster auf zwei kahle
Bäume, an denen jede Menge Nistkästen hingen. Unten an den Stämmen
waren Vorrichtungen angebracht, die wie blecherne Petticoats aussahen.
Wahrscheinlich zum Schutz vor den Killmouskys von Gerabronn.
Ellwanger durfte in einem Sessel Platz nehmen, den er nicht ausfüllte, so
daß es kein entspanntes Zurücklehnen gab. Wenn er sich nach rechts
wandte, blickte er in den Garten. Ansonsten sah er auf eine große dunkle
Regalwand mit eingesetzten Schrankelementen. Wenige Bücher, dafür
ziemlich viel Krimskrams aus aller Welt. Wahrscheinlich Reisemitbringsel.
Ein indischer Elefant, gehüllt in eine Decke mit lauter Spieglein.
Merkwürdige Holzfiguren, vielleicht aus Afrika. Die Frau bot ihm Kaffee
an, den sie offensichtlich schon vorher aufgesetzt hatte, und Ellwanger
nahm das Angebot dankend an. Ein Schälchen mit Mürbekeksen stellte sie
in seine Reichweite. Sie hatte schon etliche graue Haare in der blonden
Kurzhaarfrisur, wirkte trotz der Hautfarbe mitgenommen, was nicht weiter
verwunderlich war.
»Sie reisen gern?« fragte Ellwanger zur Eröffnung.
»Ich nicht. Mein Mann.«
Ihre Stimme klang ziemlich tief, sie sprach leise. »Haben Sie
Neuigkeiten für mich?« fragte sie in einem Tonfall, der Zweifel ausdrückte,
daß es Neuigkeiten überhaupt geben könne. Wahrscheinlich war sie schon
durch zu viele Stimmungen gegangen, war zwischen Bangen und bitterer
Enttäuschung aufgerieben worden, als daß sie sich noch so etwas wie
Hoffnung erlauben konnte.
»Ich bin eigentlich mit einem anderen Fall beschäftigt, aber er könnte mit
dem Verschwinden Ihres Mannes zu tun haben.« Ellwanger nahm einen
Schluck Kaffee. Er mußte vorsichtig sein, durfte nicht gleich alle Karten auf
den Tisch legen. Zunächst einmal war er froh darüber, daß sie nicht nach
dem Dezernat gefragt hatte, in dem er arbeitete. Zwar hatte er noch eine
Visitenkarte als Münchener Kommissar in der Tasche, aber ein Anruf
genügte, und sie hätte erfahren, daß er nicht mehr im Dienst war.
Obwohl sie zermürbt schien, antwortete die Frau präzise. Ja, sie hatte
mehrmals mit ihrem Mann telefoniert, er habe sie alle zwei Tage angerufen.
Auch von Long Island aus. Er hatte ihr auch gesagt, in welchem Hotel er
abgestiegen war. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Ellwanger
bezweifelte, daß so etwas zwischen zwei Menschen überhaupt der Fall sein
konnte, aber er behielt es für sich.
Vielleicht war davon die Rede gewesen, daß er einen ehemaligen
Schulkameraden getroffen hatte? Ja, er hatte ihr davon erzählt. Es hatte ihn
sogar ziemlich aufgeregt, weil der Mann so tat, als wäre er ein Fremder.
Dabei waren sie in dieselbe Klasse gegangen, zumindest in der
Grundschule. Und nachher waren sie zusammen im
Konfirmandenunterricht gewesen.
Sie fuhr sich nervös durch die Haare. Nein, an den Namen konnte sie sich
nicht mehr erinnern. Die Verbindung war leicht gestört gewesen. In der
Leitung hatte es gerauscht. Und mit dem Namen hätte sie sowieso nichts
anfangen können, weil sie nicht aus Gerabronn stammte. Aber sie hatte das
alles schon der Polizei erzählt, mehrfach. Sie konnte sich an jedes Detail
ihrer letzten Gespräche erinnern, hatte sogar aufgeschrieben, was sie davon
behalten hatte. Sie zeigte ihm ein kleines Notizbuch mit
regenbogenfarbenem Einband. Ihre Schrift war rund und groß. »Etwas
Schreckliches muß mit ihm passiert sein. Er hätte sich sonst gemeldet.«
Ellwanger schaute sich die Notizen an. Uhrzeit vermerkt. Inhalt der
Gespräche. Ziemlich akkurat. Aber er fand keine Neuigkeiten darin, die
sich hätten verwerten lassen. Er schloß das Büchlein und gab es ihr zurück.
»Es gibt Ehemänner, die sich einfach davonstehlen.«
Sie klopfte mit dem Buch auf die Tischkante. »Nicht Anton. Der nicht!«
Es klang nicht böse, aber entschieden. »Mein Mann hätte die Kinder
niemals im Stich gelassen. Sie waren das Wichtigste in seinem Leben. Hat
dieser Schulkamerad mit dem Verschwinden meines Mannes zu tun? Weiß
er etwas? Hat der ihn vielleicht sogar umgebracht?«
»Das läßt sich noch nicht sagen. Aber es gibt zumindest eine Spur, wenn
auch eine sehr schwache. Ihr Mann wurde auf Long Island von Freunden
oder Bekannten einmal vom Hotel abgeholt. Wissen Sie, von wem?«
Nein, sie wußte leider nichts von der Bekanntschaft. Wahrscheinlich
hatte Anton die Leute auf seiner Geschäftsreise erst kennengelernt.
Ob es ein Photo ihres Mannes gab, auf dem er mit seiner Schulklasse
abgebildet war? Aus der Grundschulzeit? Sie stand auf, öffnete ein
Schrankelement, das in die Regalwand eingepaßt war, und holte ein mit
faserigem orangefarbenen Stoff bezogenes Album heraus. Auch da drin sah
alles ordentlich aus. Keine lose herumliegenden Photos, alle präzise
beschriftet. Sie löste ein kleines gezacktes Schwarzweißbild aus den
durchsichtigen Klebeecken und überreichte es ihm. »Der in der zweiten
Reihe links außen ist mein Mann. Als Drittkläßler, 1979.«
Auf Anhieb erkannte Ellwanger niemanden. Auch Anton Bilfinger nicht.
Dürfte er das Photo mitnehmen? Er würde es vergrößern lassen und ihr das
Original zurückschicken. Sie nickte und klappte das Album wieder zu.
Dann saßen sie eine Weile einfach nur stumm da.
Er kam auf ein heikles Thema zu sprechen. Ob es sein konnte, daß ihr
Mann Opfer einer Industriespionage größeren Stils geworden sei? Seine
Firma habe ja mit Dingen zu tun gehabt, die für Spionage äußerst attraktiv
waren. Wenn man ihn recht informiert habe, seien einige Bauteile für die
Raumfahrt interessant, vielleicht sogar für die Rüstungsindustrie.
Sie biß ein winziges Stück von einem Keks ab und überlegte. »Das habe
ich mich natürlich auch schon gefragt. Er war ja unter anderem für die
Sicherheit bei Poelzig & Koch zuständig. Hat oft darüber gesprochen, daß
in vielen Firmen viel zu sorglos damit umgegangen wird. Daß einige
Mitarbeiter die Sicherheitsstandards nicht einhielten, hat ihn gewaltig
geärgert. Aber warum sollte ihn deshalb jemand umbringen? Ausgerechnet
in Amerika?«
»War seine Firma an Rüstungsgeschäften direkt beteiligt? Oder vielleicht
an anderen, nicht ganz sauberen Geschäften?«
Sie sah ihn entsetzt an. »Ausgeschlossen!«
»Manche Männer erzählen ihren Frauen nichts von solchen Dingen, um
sie nicht zu belasten.«
»Sie kannten Anton nicht. So etwas hätte er ganz bestimmt nicht für sich
behalten. Außerdem hätte er dann die Stelle gewechselt. Er hat immer
wieder Angebote von anderen Firmen bekommen, galt als Experte. Mein
Mann war gefragt.«
»Gab es irgendwelche merkwürdigen Bewegungen auf Ihren Konten?«
»Wie bitte?« Nun war sie ehrlich entrüstet. »Nein, nichts. Was denken
Sie denn! Außerdem haben wir nur ein gemeinsames Konto, und da sieht's
derzeit nicht rosig aus, das kann ich Ihnen flüstern! Von meinem Gehalt als
Grundschullehrerin kann ich das Haus nicht abbezahlen. Der alte Herr
Poelzig hat mich besucht und war so großzügig, daß er Antons Gehalt noch
sechs Monate länger überwiesen hat, aber dann war damit Schluß. Und ich
bin immer noch krank geschrieben, weil ich mich einfach nicht vor eine
Klasse hinstellen und so tun kann, als wäre alles in bester Ordnung. Das
einzige, was mir derzeit hilft, ist, daß ich mich zweimal die Woche auf die
Sonnenbank lege. Finden Sie das idiotisch? Los, sagen Sie schon, Sie
finden das doch idiotisch!«
»Warum sollte ich. Es muß furchtbar sein, einen Menschen zu verlieren,
ohne zu wissen, was mit ihm geschehen ist. Unterrichten Sie an derselben
Schule, auf die Ihr Mann als Kind gegangen ist?«
Sie beruhigte sich wieder. Nein, sie war an einer Schule in Schwäbisch
Hall.
»Brüten denn viele Vögel in Ihrem Garten?«
»Ein Hobby meines Mannes. Kohlmeisen. Blaumeisen. Dieses Jahr
waren es viel weniger als sonst.« Sie biß noch ein Stück vom Keks ab. »Es
ist … es ist … ich weiß einfach gar nichts mehr. Die Kinder schleichen um
mich herum, als läge ich auch schon auf dem Totenbett. Und die Vögel sind
gar nicht erst gekommen, weil … Anton …«
Ihre Stimme war jetzt kaum mehr zu hören. Ellwanger wußte, daß es hier
keinen Trost gab, nur einen schlechten durch das Verrinnen der Zeit. Er
stellte sich vor, wie ihre beiden sicherlich riesengroßen Kinder von der
Schule nach Haus kamen und mit hängenden Köpfen um sie
herumschlichen. Das Mädchen mußte jetzt sechzehn sein. Der Junge
vierzehn. Er versprach ihr, bald wieder nach Amerika zu fliegen, um
herauszubekommen, was mit ihrem Mann geschehen war. Als er sich
verabschiedete, blieb Andrea Bilfinger einfach sitzen, in einer Welt
gefangen, in der er gar nicht mehr vorhanden war. Seinen Mantel nahm er
selbst vom Bügel, die Haustür zog er leise hinter sich zu.
IX

Als er im Auto saß, nahm er das Photo noch einmal zur Hand. Drei der
Kinder waren schwer zu erkennen, zwei davon Buben, eines wahrscheinlich
ein Mädchen. Man hätte Adleraugen dafür gebraucht. Vielleicht zeigte die
Vergrößerung, ob einer der verdeckt stehenden Buben Larson sein konnte.
Auf den zweiten Blick war der kleine Anton links außen in der zweiten
Reihe mit dem großen Anton etwas besser in Übereinstimmung zu bringen.
Er fuhr zu seiner alten Schule, die auch ein Gymnasium beherbergte.
1973 war er einer der ersten gewesen, die im neuen Zweckbau unterrichtet
worden waren und dort Abitur gemacht hatten. Erstaunlich, wie schwer es
ihm fiel, etwas wiederzuerkennen. Die Schule kam ihm jetzt viel kleiner
und schäbiger vor als damals. Die Böschung, die es zum vorderen Einlaß
hinaufging, war ihm früher wie eine Anhöhe erschienen. Ungehindert
gelangte er hinein. Es war gerade Pause, die Schüler standen in Grüppchen
herum, ziemlich diszipliniert, keine fidele Rennerei, kein allzu großes
Gelärme. Zum Rektorat mußte er sich durchfragen, so fremd war ihm das
Gebäude geworden. An den Wänden hingen Kinderzeichnungen und von
Schülern gestaltete Plakate, jeder Buchstabe in einer anderen Farbe. In den
Vitrinen waren klobige Bastelarbeiten ausgestellt. Das hatte es zu seiner
Zeit nicht gegeben, dachte er jedenfalls. Aber vielleicht hatte er es einfach
nur vergessen. Viele Gerabronn-Erinnerungen waren inzwischen gelöscht.
Nur Wolpertinger war davon verschont geblieben. Der war aber bereits seit
mehr als zwanzig Jahren tot.
Beate Schneider stand auf dem Schildchen an der Tür. Die Sekretärin mit
den flammend roten Hennahaaren empfing ihn freundlich. Unter ihrem
gelben Mohairpullover zeichnete sich der Busen ziemlich deutlich ab.
Dünne Zierpälmchen und Kakteen standen auf dem Fensterbrett.
Glückwunschkarten hingen an der Wand. Eine kleine Sammlung
gummiartiger Tierformen lag auf dem Schreibtisch: Radiermaus,
Radierkrokodil, Radierbär. Als sie die Hände hob, klirrten die vielen
Armreifen an ihren Handgelenken.
Was, ein ehemaliger Schüler! Und noch dazu ein Kriminalkommissar aus
München, so was! Sie spitzte sofort die Ohren, als er von Anton Bilfinger
sprach. Aber er konnte nur berichten, daß es um den Verschwundenen ging
und vielleicht um einen seiner Schulkameraden. Das heißt, es sei noch nicht
einmal sicher, ob es sich bei dem betreffenden Mann überhaupt um einen
ehemaligen Schüler aus Gerabronn handelte.
Vom Verschwinden Bilfingers hatte sie natürlich erfahren. »Das war in
Gerabronn ja Stadtgespräch. Ein Familienvater verschwindet einfach so,
das gibt's sonst bloß im Fernsehen. Soviel ich weiß, hatte der weder
Schulden noch eine zerrüttete Familie. Seine Kinder gehen hier zur Schule,
die sind in Ordnung, sagen die Lehrer, jedenfalls sind es keine
Problemkinder. Eine Riesentragödie!«
Aber sie hatte Bilfinger nicht persönlich gekannt, erst recht nicht als
Schüler. In der Schule arbeitete sie erst seit sechs Jahren. Ein freundlicher
Ort, sie war gern hier. Bislang gottlob keine Halbwüchsigen, die mit
Messern oder noch gefährlicheren Waffen herumfuchtelten.
Natürlich gab es noch eine alte Schülerdatei, aber wenn er den Namen
des Schülers nicht wußte, konnte sie ihm leider nicht weiterhelfen.
Allerdings, vor ihrer Zeit habe es einmal einen Brand gegeben, und dabei
sei ein gut Teil der alten Kartei vernichtet worden. Um welche Jahre ging es
denn?
»Die Geburtsjahre neunundsechzig bis einundsiebzig.«
»O je, o je, gerade von den Jahren ist so ziemlich alles weg. Es wurde
zwar schnell gelöscht, aber was gerettet wurde, war vom Wasser so
verklebt, daß man es nicht mehr lesen konnte. Wurde alles weggeworfen.«
»Und sonst? Gibt es vielleicht jemanden, der über die alten Zeiten
Auskunft geben könnte?«
»Ja, da wäre noch so ein Fräulein – Fräulein darf man ja jetzt nicht mehr
sagen, aber ein altes Fräulein ist Hedwig Gumbrecht nun mal, wissen Sie,
so eine mit Dutt. Ich glaube, sie würde sich sogar selbst so nennen. Die ist
als einzige von der alten Garde noch übrig. Lebt hier in der Stadt. Ziemlich
alt inzwischen, um die Neunzig, aber geistig noch auf Zack.«
Ellwanger hatte Mühe, sich an das Fräulein Gumbrecht zu erinnern.
Seine Lehrerin war sie jedenfalls nicht gewesen. Beate Schneider betätigte
mit Flammenfingernägeln ein Adreß-Apparätchen, das sich um eine
Trommel drehte.
»Hier. Ahornweg 3. Telefon 424 55.«
Ellwanger schrieb alles mit, schrieb sich auch die Nummer des
Sekretariats auf und bedankte sich.
»Man sieht, die Pflanzen haben es bei Ihnen gut«, sagte er zum Abschied
und erntete dafür ein breites Lächeln.
Er beschloß, gar nicht erst anzurufen, sondern sein Glück unangemeldet
bei Fräulein Gumbrecht zu versuchen. Der Ahornweg war ungefähr so, wie
man sich den Ahornweg in einer Kleinstadt vorstellte, viele Bäume in den
Gärten, wenn auch nicht unbedingt Ahornbäume, bis auf die Nadelbäume
alle kahl. Er klingelte an der Gitterpforte eines zweigeschossigen Hauses.
Die Namensschilder waren etwas verwischt, gerade noch lesbar. Das
Fräulein wohnte offenbar im Erdgeschoß.
Lange tat sich nichts. Ellwanger wollte sich schon zum Gehen
umwenden, da sah er, wie sich eine Gardine bewegte. Er drückte noch
einmal auf die Klingel, diesmal etwas länger. Ein Summer ertönte, das Tor
ließ sich öffnen.
Eine winzige Frau stand in der Haustür, sehr alt. Sie hielt sich etwas
gebückt, was sie noch kleiner machte. Ellwanger stellte sich vor und gab ihr
seinen Ausweis. Sie schaute lange darauf und bedachte die Person, die da
unangemeldet vor ihr stand, mit einem prüfenden Blick. Dann erst durfte er
eintreten. Vom Flur aus ging es linker Hand in ihre Wohnung.
Ellwanger entschuldigte sich dafür, daß er sie so mir nichts, dir nichts
überfalle. Aber er sei gerade in ihrer alten Schule gewesen und habe dort
erst ihren Namen erfahren.
Offenbar hatte er sie beim Mittagessen gestört. Ein Suppenteller stand
auf dem Tisch und ein Glas Wein. »Um Gotteswillen, bitte essen Sie in
Ruhe erst einmal zu Ende, ich möchte nicht, daß es kalt wird. Es ist ja
eh sehr unhöflich, daß ich einfach so hereinschneie.«
»Sie sagen es. Aber gut. Sie sind von der Polizei. Da macht man eine
Ausnahme.« Sie stellte den halbvollen Teller auf eine Kommode. »Das
kann ich nachher wieder aufwärmen. Trinken Sie ein Glas Wein?«
»Ja, ein kleines sehr gern. Ich muß heute noch zurück nach München
fahren.«
Sie holte ein Glas aus dem Schrank und schenkte ihm ein. Alles wirkte
sauber, sonderlich aufgeräumt wiederum nicht. Stapel von Büchern und
Zeitschriften lagen auf dem Tisch. Außerdem war es ziemlich dunkel. Die
Fenster waren unterteilt in Sprossen, winzig und leicht schief wie in einem
Hexenhäuschen. Im Sommer, wenn die Bäume wieder belaubt waren,
mußte es hier drinnen stockfinster sein.
»Soso, der Herr Kommissar kommt also aus der Hauptstadt. Was wollen
Sie hier bei mir? Sie erlauben, daß ich mir eine Zigarette anzünde. Nach
dem Essen rauche ich immer eine. Nur eine. Seit über fünfundsechzig
Jahren.«
Ellwanger war überrascht. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit
einer rauchenden Neunzigjährigen. »Vielleicht darf ich Ihnen eine
anbieten.« Er öffnete seine Schachtel und reichte sie ihr.
»Jesus, eine Nil! Gibt's die überhaupt noch? Die habe ich ja seit ewigen
Zeiten nicht mehr gesehen.« Mit leicht zittrigen Fingern nahm sie sich eine
heraus. Ellwanger gab ihr Feuer. »Sie erlauben, daß ich mir selber eine
anzünde?«
»Aber bitte, nur zu.«
Das Eis war gebrochen. Fräulein Gumbrecht musterte ihn aufmerksam,
während sie die Zigarette wie eine Kostbarkeit zwischen den Fingern hielt
und genüßlich den Rauch ausblies. Sie trug ein schwarzes Kleid mit
weißem Kragen, der von einer Brosche zusammengehalten wurde. Und ja,
sie hatte einen Dutt. Wahrscheinlich war die Frisur in früheren Jahren straff
nach hinten gekämmt gewesen. Aber jetzt hatte das Fräulein dafür wohl
nicht mehr die Kraft und die Beweglichkeit in den Armen. Der Dutt war
herabgesunken, und einzelne Strähnen hatten sich gelöst. Sie gehörte zu
denen, die in jungen Jahren nicht sonderlich hübsch sind, aber dafür mit
einem guten Alterskopf entschädigt werden. Sie hatte feine Falten um den
Mund und auf der Stirn, der Mund war zwar etwas eingefallen, aber ihr
Blick war noch immer scharf und von einiger Intensität. Gut und gern hätte
sie die ältere Schwester von Trevillyan sein können, sie war ebenso klein
und zart, allerdings hatte sie nicht seine kohlschwarzen Augen. Ihre waren
braun. Auf dem Tisch stand ein schwerer Aschenbecher, den sie jetzt
betätigte. Wenn man oben auf den Knopf drückte, ging eine Klappe auf und
versenkte die Asche im Bauch.
»Ich bin hier, weil ein ehemaliger Schüler Ihrer Schule in den USA
verschwunden ist. Vielleicht haben Sie davon gehört.«
»Ich muß ihn sogar unterrichtet haben. Bilfinger. Der Name sagt mir
etwas. Die Geschichte war ja in der Zeitung. Allerdings kann ich mich nicht
allzu genau an ihn erinnern. Zu viele Schüler im Lauf der Zeit, wissen Sie.
Alle kann man sich nicht merken. Und das Gedächtnis, es läßt nach, kein
Kraut dagegen gewachsen.«
Ellwanger reichte ihr das Gruppenphoto der damaligen Drittkläßler.
Hedwig Gumbrecht brachte es nah vor die Augen und sah es lange an. »So
ungefähr kann ich mich an die Klasse erinnern, aber nicht an jedes einzelne
Kind, das geht einfach nicht, nach so langer Zeit und so vielen Schülern.«
Ellwanger beugte sich zu ihr hinüber und tippte mit dem Finger auf
Anton. »Das ist der kleine Bilfinger, ich habe ihn auch nicht auf Anhieb
erkannt. Er ist zu einem Riesen herangewachsen, etwas beleibt, aber nicht
fett.«
»Soweit ich mich erinnere, war der Anton ein freundliches Kind. Keiner
von denen, wegen denen man sich die Haare rauft. Alles in allem war das
eher eine ruhige Klasse. Damals waren die Kinder noch friedlich und
zappelten weniger herum. Ich kann Ihnen sagen, das ist heute kein
Zuckerschlecken mehr, diese unkonzentrierten Kinder zu unterrichten.
Gottlob bin ich ja schon lange aus dem Rennen.« Dünn und brüchig
gluckste sie vor sich hin; es klang, als würde ein Streifen Pergamentpapier
zu lachen anfangen.
Ellwanger stand auf und stellte sich neben sie. »Es geht mir aber weniger
um Anton Bilfinger, sondern um einen seiner Schulkameraden, vielleicht
einer von denen, die hier verdeckt in der Reihe stehen. Sehen Sie, der oder
vielleicht der da.«
»Du meine Güte, die sind ja überhaupt nicht zu erkennen. Wer soll das
denn sein?«
»Ich kenne ihn nur als Erwachsenen, ein sehr gutaussehender blonder
Mann, schlank, intelligent, mittelgroß, der in Amerika lebt, vielleicht unter
falschem Namen.« Ellwanger erzählte ihr, was er über Larson wußte und
welchen Eindruck dieser auf ihn gemacht hatte. Sie hörte ihm aufmerksam
zu, unterbrach ihn an keiner Stelle. Als er geendet hatte, antwortete sie nicht
sofort, sondern überlegte.
Sie nahm einen Schluck Wein. »Ich bin mir nicht sicher, Menschen
können sich im Lauf der Jahre sehr ändern, von einem kleinen Buben auf
einen erwachsenen Mann zu schließen, der in der Mitte des Lebens steht, ist
schwierig.«
»Das ist mir klar. Aber vielleicht …«
»Nun, es gab da einen Jungen, ich bin nicht mehr sicher, ob in Antons
Klasse oder in einer anderen, aber vom Alter her dürfte es hinkommen.
Ziemlich aufgeweckt, sehr intelligent. Er erzählte immer
Märchengeschichten, man könnte auch sagen, er log. Aber so einfach war
das nicht. Das gibt es ja manchmal, daß Kinder auch in dem Alter noch eine
blühende Phantasie haben. Ich hatte aber immer den Eindruck, daß er sich
von etwas wegschwindelte. Vielleicht, weil es zu Hause unerträglich war.
Er lebte mit seiner Mutter allein. Arme Leute jedenfalls. Ich weiß das alles
nicht mehr so genau, ich glaube, sie war ein bißchen verrückt, vielleicht war
er ein uneheliches Kind, aber das weiß ich nicht mit Sicherheit.« Dann gab
sie sich einen Ruck, und es brach aus ihr heraus: »Heiner hieß er, jawohl,
das Heinerle! Das Heinerle war blond, ein hübscher Junge, sehr hübsch
sogar.«
»Können Sie sich vielleicht noch an den Nachnamen erinnern?«
Sie fiel in sich zusammen und begann zu brüten. »Nein, leider nicht.«
Dann kam sie wieder in Schwung, drückte ärgerlich die Zigarette aus und
ließ den Deckel des Aschenbechers zuschnappen. Sie klopfte sich mit der
Faust an den Schädel. »Wenn's einmal, ein einziges Mal darauf ankommt,
daß man sich erinnert, kommt gar nichts mehr. Ein durchlöchertes Sieb da
drin, eine hohle Nuß!«
Ellwanger suchte sie zu beruhigen. »Aber Ihr Gedächtnis ist
ausgezeichnet, das ist doch alles schon eine Ewigkeit her. Ich glaube, mein
eigenes Gedächtnis ist längst nicht so gut.«
»Ein schwacher Trost«, sagte sie sarkastisch und tappte auf der
Tischplatte herum auf der Suche nach einer neuen Zigarette. Ellwanger bot
ihr wieder seine geöffnete Schachtel an und gab ihr Feuer. »Sehen Sie, jetzt
haben Sie mich so aufgeregt, daß ich noch eine rauchen muß. So weit ist es
mit mir gekommen!«
»Wie war der Junge in der Klasse? Hat er sich mit seinen Kameraden
vertragen?«
»Das weiß ich nicht mehr. Wissen Sie, solche Kinder sind schwierig und
meistens nicht sehr beliebt. Sie beanspruchen die gesamte Aufmerksamkeit
für sich allein. Die man ihnen natürlich nicht geben kann, die anderen sind
ja auch noch da. Aber so war der Heiner, ein Nimmersatt, einer, den man
dämpfen mußte, sonst wäre von den anderen keiner mehr zu Wort
gekommen.«
»War er laut? Unruhig?«
»Nein, laut eigentlich nicht. Aber er meldete sich immer.«
»Wissen Sie vielleicht noch, wo er gewohnt hat?«
Das wußte sie nicht mehr. Aber sicher nicht in einer gutbürgerlichen
Gegend. Das Kind war wie gesagt in armen Verhältnissen aufgewachsen.
»Ist die Mutter vielleicht mal zu Ihnen in die Sprechstunde gekommen?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern, wahrscheinlich nicht.«
Sie redeten noch ein bißchen über Gerabronn, wie es sich verändert hatte
im Lauf der Jahre, redeten darüber, daß das Alter kein Zuckerschlecken sei,
so schlimm aber auch wieder nicht, wie manche behaupteten. Sie, Hedwig
Gumbrecht, beklage sich jedenfalls nicht. In ihrer Familie war es verboten
gewesen, sich zu beklagen, an diesen eisernen Grundsatz habe sie sich ein
Leben lang gehalten. Dann verabschiedete sich Ellwanger, ließ aber als
Gastgeschenk das angebrochene Päckchen Nil auf dem Tisch liegen.
»Das wäre aber nicht nötig, gar nicht nötig«, sagte sie und begleitete ihn
zur Haustür. Sie verabschiedeten sich wie gute alte Bekannte. Als sich
Ellwanger gerade von ihr abwenden wollte, schlug sie sich vor den Kopf:
»Jetzt hab' ich's! Blaschke hieß er. Ich wußte es doch, so ein
Allerweltsname, der aber nicht hier aus der Gegend stammt – Blaschke!
Heiner Blaschke!« Ihre Augen blitzten. Aufrecht stand sie vor ihm wie ein
kleiner Feldwebel.
Mehr aus Routine denn aus Notwendigkeit griff Ellwanger wieder nach
seinem Notizbuch, eine überflüssige Maßnahme. Den Namen hätte er
bestimmt nicht vergessen.
Als er im Auto saß, kamen ihm Zweifel. Ob dieser Heiner Blaschke mit
Paul Henrik Larson identisch war, das wußten bloß die Götter und, wenn er
Glück hatte, vielleicht das Einwohnermeldeamt. Er beschloß, dem Amt
einen Besuch abzustatten.
Mittagspause. Das Amt hatte geschlossen. Ellwanger ging in ein Café an
der Blaufeldener Straße, das es zu seiner Zeit noch nicht gegeben hatte.
Eine Glasfront zum Bürgersteig hin. Kein gemütliches Sofa-Etablissement
für ältere Damen, die hier auf ein paar Stündchen zu Kaffee und Kuchen
zusammenkamen, sondern ein kalter Schuppen, hauptsächlich von Schülern
frequentiert. Die maulfaule Art und die abgehackten Gesten einer
mürrischen Bedienung ließen ihn wissen, daß man hier tunlichst keine
Wurzeln schlagen sollte. Mit einem Lappen, der sicher schon einige Monate
in Gebrauch war, wischte sie den Tisch ab. Bei ihrer Wiederkehr knallte sie
das Omelette vor ihm auf die Platte. Im Brotkorb befanden sich zwei
gipserne Brötchen, von denen Ellwanger eines zur Hälfte aß. Mit dem
Trinkgeld hatte er allerdings weniger Probleme als in New York. Zur Strafe
ließ er nur fünfzig Cent auf dem Tisch liegen.
Das Amt lag ebenfalls in der Blaufeldener Straße. Es ging ziemlich ruhig
zu, kaum Publikumsverkehr. Ein linoleumbelegter Flur, wie er auf vielen
Ämtern üblich war, führte ihn zu Zimmer 22 im ersten Stock. Er klopfte.
Eine dünne Stimme ertönte. Ellwanger hielt sie für eine Frauenstimme, aber
es war ein Mann, der ihn empfing. Er fühlte sich offenbar gestört, sah
ungehalten von seinem Schreibtisch auf. Einige dünne Strähnen langer
schwarzer Haare waren von vorn nach hinten über den schon ziemlich
kahlen Schädel geklebt. Er trug eine zickige Wichtigtuerbrille auf der Nase,
rahmenlos. Erst als Ellwanger ihm seinen Ausweis zeigte, wurde er
freundlich, sogar ein wenig beflissen.
»Wie kann ich helfen?« Salopp überkreuzte er die Arme im Nacken, und
ohne die mühsame Frisur zu touchieren, lehnte er sich in seinem
Schreibtischstuhl zurück.
»Ich suche nach Unterlagen zu einem Heiner Blaschke, der in Gerabronn
vielleicht gelebt hat, auf jeden Fall hier Ende der siebziger Jahre zur Schule
gegangen ist. Vielleicht lebt seine Mutter noch. Deren Vorname ist mir
allerdings nicht bekannt.«
»Darf ich fragen, worum es geht?«
»Es könnte sich – ich betone, es könnte so sein, vielleicht stimmt das
aber nicht, ich muß Sie also bitten, das alles streng vertraulich zu
behandeln –, es könnte sich um einen Mann handeln, der in New York unter
falschem Namen lebt und in einen Mordfall verwickelt ist.«
»Oha! Das hat man nicht alle Tage!«
Sofort wurde der Mann hinter dem Schreibtisch aktiv. Er brachte seine
Arme nach vorne und sprang mit einem Ruck auf, so daß sein Stuhl einen
Meter zurückschnellte. »Dann wollen wir mal!«
Er lief in den angrenzenden Raum. Ellwanger folgte ihm. Der Mann
machte sich an einem Metallschrank zu schaffen. Mit flinken Fingern
durchforstete er die Karteikarten.
»Siebziger Jahre, sagen Sie?«
»1979 war er in der dritten Klasse Grundschule. Muß also um 1970
herum geboren sein.«
Der Mann betätigte seine Finger noch einmal. Dann warf er die
Schublade mit einem lauten Rums wieder zu. »Nichts zu machen. Der ist
hier nicht registriert. Wissen Sie, die älteren Daten sind noch nicht ins neue
System übertragen. Außerdem …«
Er legte den Finger an die Nase und grübelte. »Es gab hier vor einigen
Jahren einen Einbruch, allerdings lang vor meiner Zeit. Was eigentlich
geklaut worden war, wurde nie so ganz klar. Ein bißchen von der
persönlichen Habe eines ehemaligen Mitarbeiters wurde gestohlen. Seinen
Schrank hat man durchwühlt. Vielleicht wurden auch Karteikarten geklaut.
Der Schaden war jedenfalls gering. Es fehlte nichts Wesentliches. Die
Sache wurde nie aufgeklärt. Man hielt das damals für einen
Dummejungenstreich.« Sie kehrten in das Dienstzimmer mit dem
Schreibtisch zurück und setzten sich wieder hin.
»Wissen Sie noch, wann der Diebstahl stattgefunden hat?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls vor meiner Zeit. Ich habe erst 2005 hier
angefangen zu arbeiten.«
»Waren Sie zufällig auch in Gerabronn auf der Schule?«
Nein, das war er nicht. Der Sachbearbeiter Johannes Päschel – den
Namen entnahm Ellwanger der Aufschrift einer Aktenmappe, die auf dem
Schreibtisch lag – stammte aus Schwäbisch Hall und war dort auch zur
Schule gegangen.
So kam man hier nicht weiter. Ellwanger hatte die phantastische Idee,
daß Larson alias Blaschke inkognito in Gerabronn aufgekreuzt war, einen
Brand in der Schule verursacht und die Karteikarte im Einwohnermeldeamt
gestohlen hatte, um die Spuren seines früheren Lebens ein für allemal aus
der Welt zu schaffen. Er sah ihn vor sich: verkleidet, mit schwarzgefärbten
Haaren. Aber dann erschien ihm die Idee doch allzu phantastisch. Und was
war mit der Mutter? War sie noch irgendwo zu finden?
»Vielleicht lebt seine Mutter noch, wer weiß, vielleicht in irgendeinem
Altersheim.« Ellwanger hatte das mehr so vor sich hin gesagt, aber Päschel
griff den Gedanken sofort auf.
»Einen Moment, das läßt sich nachprüfen!«
Er entpuppte sich als hilfreicher Geist. Es war bestimmt das erste Mal,
daß er – wie er fälschlicherweise glaubte – an einer polizeilichen Ermittlung
teilnahm. Ellwanger hatte ihn von einem faden Dienstagnachmittag erlöst.
Urplötzlich war der Sachbearbeiter Johannes Päschel ein wichtiger Mann.
Und nun widmete er sich mit Leib und Seele seiner neuen Aufgabe. Er
schleppte einen Packen Telefonbücher an. Sie kehrten in den Raum mit den
Karteischränken zurück. Päschel legte die Telefonbücher auf den Tisch,
nahm einen Telefonapparat und schloß ihn an.
»Hier sind Sie ungestört und können bei den Heimen anrufen. Soll ich
Ihnen einen Kaffee bringen lassen?«
Ellwanger zeigte sich gerührt. »Sie sind sehr zuvorkommend! Wenn man
mich bei meiner Arbeit immer so unterstützen würde. Und ja, ein Kaffee
wäre jetzt genau das richtige.«
Päschel telephonierte mit ausladender Geste und wichtiger Miene. Bald
darauf erschien ein pickelübersätes Bürschle, wahrscheinlich ein Lehrling,
mit einem Kaffee, einem Milchkännchen, einer Zuckerdose und einer
Papierserviette, alles ordentlich angerichtet auf einem kleinen Tablett.
»Der Kaffee ist ausgezeichnet«, lobte Ellwanger die milchige Brühe,
»wenn es bei uns auf der Dienststelle doch auch einen so guten gäbe! Und
einen dienstbaren Geist, der ihn mir bringt, den könnte ich auch
gebrauchen.«
Päschel nickte würdevoll. »Dann will ich Sie nicht weiter stören – wenn
Sie mich brauchen, ich bin ja nebenan.«
Ellwanger nahm sich das Branchenbuch vor. Er begann mit den
Altersheimen von Gerabronn, das waren nur drei. Im Seniorenwohnheim
Azurit meldete sich eine forsche weibliche Stimme, nein, eine Frau
Blaschke gab es hier nicht. Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden. Im
Seniorenheim Bürger hatte er ebenfalls kein Glück. Auch in der
Seniorenwohnanlage kannte man die Frau nicht. Ellwanger erweiterte
seinen Suchradius. Im Crailsheimer Wolfgangsstift bekam er eine
freundliche weibliche Stimme an den Apparat, die wortreich bedauerte, ihm
nicht weiterhelfen zu können, aber leider, leider nein, eine Dame namens
Blaschke sei ihr gänzlich unbekannt. »Ein Name, den man schließlich nicht
vergißt!« sagte sie noch, obwohl das sehr wohl ein Name war, den man
vergessen konnte, dann war das Gespräch zu Ende.
In Blaufelden und Ilshofen – ebenfalls Fehlanzeige. Er probierte es in
Schwäbisch Hall, hier gab es eine ganze Menge von Einrichtungen, die in
Frage kamen. Aber nein. Im Altenwohnheim Rudolf Popp wurde er recht
unwirsch abgefertigt, weder Am Gänsberg kannte man die Dame noch im
Nikolaihaus, noch im Seniorenhaus Hessental. Im Evangelischen
Diakoniewerk war irgendein Wurm in der Leitung. Ellwanger mußte ein
zweites Mal anrufen, bis die Verbindung klappte. Und – o Wunder – jawohl,
sie hatten eine Heimbewohnerin namens Blaschke. Was er denn von ihr
wolle? »Am besten, ich komme vorbei und erkläre es Ihnen«, sagte
Ellwanger und legte auf.
Bevor er ging, schärfte er Johannes Päschel ein, daß er zu keiner Seele
etwas sagen dürfe, man wolle die Ermittlungen in diesem frühen Stadium
keineswegs an die große Glocke hängen. Päschel grinste und hob die Hand
zum Schwur: »Großes Indianerehrenwort, ich schweige wie ein Grab!«
Ellwanger grüßte leicht militärisch, mit der Hand an einem nicht
vorhandenen Képi, und schloß sanft die Tür.
X

Inzwischen war der Verkehr schon etwas angeschwollen. Die Pendler


kehrten von ihren Arbeitsstätten zurück nach Hause. Trotzdem schaffte er
es nach Schwäbisch Hall in einer Dreiviertelstunde, diesmal sogar mit Hilfe
eines Navigationsgerätes, welches er selten benutzte, weil er sich mit der
Programmierung nicht zurechtfand. Das war für gewöhnlich die Aufgabe
von Schott gewesen. Aber es klappte diesmal auch ohne Schott, und so
stand er, nachdem er zweimal falsch abgebogen war, vor dem Gottlob-
Weißer-Haus in der Diakoniestraße, einem am Hang gelegenen riesigen
Altbau, dessen Erdgeschoß aus rotem Klinker bestand, während die oberen
Stockwerke cremefarben getüncht waren.
Im Eingangsbereich herrschte ein lebhaftes Kommen und Gehen –
Pflegepersonal in knackfrischen Kitteln, Besucher, Heimbewohner, viele
von ihnen in Rollstühlen oder an Krücken. Ellwanger trieb eine Angestellte
der Verwaltung auf, die ihn kurz abfertigte, weil sie gerade ihre Handtasche
packte, um nach Hause zu gehen. »Zweiter Stock, Flur B.« Mit der
Auskunft machte er sich auf den Weg, bestieg einen Aufzug, der ihn
mitsamt einem Rollstuhlfahrer, dessen Kopf fortwährend heftig nickte, nach
oben beförderte. Auf Flur B herrschte Leere. Es dauerte, bis Ellwanger eine
grauhaarige Frau ausfindig machte, die offenkundig zum höheren Personal
gehörte. Auf ihrer dunkelblauen Kostümjacke trug sie ein Namensschild,
das er nicht lesen konnte. Ohne Umstände bat sie ihn zu sich ins Büro.
»Was kann ich für Sie tun?« Sie betrachtete ihn offenkundig nicht als
lästigen Eindringling, sondern war sofort bereit, ihm zu helfen. Ellwanger
durfte sich in einen Sessel setzen. Er erklärte sein Anliegen, ohne auf den
Hintergrund seiner Recherchen einzugehen. Ob es möglich wäre, mit Frau
Blaschke zu sprechen? Möglich schon, aber er würde wahrscheinlich nicht
weit damit kommen. Die alte Dame hatte Alzheimer im fortgeschrittenen
Stadium. Hatte sie jemals Besucher empfangen? Kümmerte sich jemand
von außen um sie?
»Leider nein. Das kommt selten vor, aber es kommt leider vor. Wir
wissen wenig über sie, da sie schon in reichlich verwirrtem Zustand bei uns
eingeliefert wurde.«
»Hatte oder hat sie vielleicht einen Sohn?«
»Ein Sohn oder ein anderer naher Verwandter hat sich nie bei uns
gezeigt. Aus den Papieren geht allerdings hervor, daß sie einen Sohn hatte.
Besucht hat er seine Mutter gewiß nicht. Er scheint seit Jahren verschollen
zu sein. Über seinen Verbleib ist uns zumindest nichts bekannt.
Bedauerlich, sehr bedauerlich, aber es gibt nun mal solche Fälle.«
»Dann hat er seine Mutter jedenfalls nicht ins Heim gebracht.«
»Nein, er muß schon viele Jahre zuvor verschwunden sein. Wir wissen
nichts über ihn. Heidrun Blaschke ist übrigens eine gutmütige, freundliche
Natur, jedenfalls keine Bewohnerin, die besonders schwer zu betreuen
wäre. Nach draußen kann sie allerdings nicht allein. Sie ist vollkommen
desorientiert.«
»Hat sie manchmal über den Sohn gesprochen?«
»Nicht, daß ich wüßte. Aber so etwas gibt es hin und wieder. Manchmal
ist das bisherige Leben unserer Bewohner wie ausradiert.«
»Wissen Sie zufällig, ob die alte Dame Photographien bei sich
aufbewahrt? Vielleicht in ihrem Schrank?«
»Merkwürdig, daß Sie das fragen. Nein, keine. Eigentlich eine
Ausnahme. Meistens bringen die Leute ja ein paar Dinge mit, die sie mit
ihrem früheren Leben verbinden. Bei ihr fehlt so etwas gänzlich. Bis auf
einige persönliche Kleidungsstücke natürlich und eine Armbanduhr.«
»Darf ich mit ihr sprechen? Vielleicht führt es ja zu nichts, aber wer
weiß, manchmal erlebt man Überraschungen.«
»Das können Sie. Ich möchte Sie nur bitten, nicht allzu sehr in sie zu
dringen, wissen Sie, das regt unsere Heimbewohner sehr auf, und es führt
zu nichts.«
»Sie können gern dabeisein. Ich muß keinesfalls allein mit ihr sprechen.«
»Ich komme mit und stelle Sie ihr vor. Aber dann können Sie es ruhig
auch allein mit ihr versuchen. Nur bitte: kein Verhör!«
Ellwanger lachte. »Es käme mir nicht in den Sinn, eine alte Dame, die
nichts verbrochen hat, in die Zange zu nehmen. Das tue ich für gewöhnlich
mit ganz anderen Kandidaten.«
»Dann ist es ja gut. Wer weiß, vielleicht muntert Ihr Besuch sie sogar
etwas auf. Obwohl – schwermütig ist sie eigentlich nicht.«
Die grauhaarige Dame geleitete ihn den Flur entlang, klopfte an eine Tür
und öffnete sie. Ein ziemlich kahler Raum mit zwei Betten, zwei
Schränken, einem Tisch, vier Stühlen und zwei Sesseln. Ein großes Photo
mit bunten Fischen an der Wand. Auf dem Tisch eine Blumenvase ohne
Blumen. Nur eine Person befand sich im Raum. Eine kleine dünne alte
Frau, die nahe beim Fenster etwas zusammengesackt in einem der Sessel
saß und nicht einmal den Kopf hob, als sie eintraten.
Ellwangers Begleiterin beugte sich über den Sessel und sagte laut: »Sie
haben Besuch bekommen, Frau Blaschke, sehen Sie, Besuch!« Die alte
Frau hob ein klein wenig den Kopf. Sie schaute verwirrt drein.
»Setzen Sie sich ruhig zu ihr, aber Sie müssen laut und deutlich sprechen.
Sonst kann sie Sie nicht verstehen.«
Ellwanger nahm sich einen der Stühle und setzte sich der alten Frau
gegenüber. Sie beachtete ihn kaum, sah an ihm vorbei Richtung Fenster.
»Das ist Herr Ellwanger. Er ist extra aus München hergekommen, um Sie
zu besuchen. Ellwanger heißt er, E l l w a n g e r .«
Die Frau schien nicht sonderlich an ihm interessiert, sie schaute ziellos in
der Gegend herum.
»Dann lasse ich Sie mal allein. Versuchen Sie Ihr Glück.« Die
grauhaarige Dame bedeutete ihm beim Hinausgehen, daß er nachher noch
einmal bei ihr vorbeischauen solle. Sie wolle gern wissen, ob er etwas habe
erreichen können.
Ellwanger fühlte sich ziemlich unbehaglich. Mit alten Frauen, die im
fortgeschrittenen Stadium Alzheimer hatten, kannte er sich nicht aus.
»Ich komme wegen Ihrem Sohn. Sie haben doch einen Sohn, nicht
wahr?«
Keine Antwort. Die Frau schaute immer noch so zerstreut durch die
Gegend, als hätte er von irgendwelchen Kürbisköpfen geredet.
»Ihr Sohn, wissen Sie, ich meine Ihren Sohn, den Heiner.«
Noch immer keine klare Reaktion. Sie wirkte verunsichert. Offenbar
spürte sie, daß der unbekannte Mann, der ihr gegenübersaß, etwas von ihr
wollte. Aber was? Sie sah ihn flüchtig an, aber der Blick glitt rasch wieder
von ihm ab und driftete ins Ungefähre.
»Sie haben doch mit Ihrem Sohn in Gerabronn gewohnt. Da ist er auch
zur Schule gegangen. Wissen Sie noch? Gerabronn? Die Schule?«
Vage schaute sie ihn an, wendete sich wieder ab und sah zum Fenster
hinaus. Der Name der Stadt, in der sie etliche Jahre gelebt hatte, sagte ihr
offenkundig nichts.
Aber dann hob sie den Kopf und machte wie zur Probe ein paar
Mundbewegungen. Ellwanger mußte an einen Fisch denken, der mit
eingezogenem und wieder ausgestülptem Maul durchs Wasser gleitet. Dann
kam es heraus: »Fünf und fünf sind zehn.« Sie sprach ernsthaft, wie ein
kleines Schulkind, das sich konzentrieren muß. Ihre Stimme klang, als hätte
sie eine Ewigkeit nicht mehr gesprochen.
»Ganz recht«, sagte Ellwanger, »fünf und fünf sind zehn.«
»Im Rechnen …«, sie machte eine Pause, als käme jetzt ein bedeutender
Satz »… war ich gut.« Nach der Anstrengung blickte sie ihn kurz an und
seufzte befriedigt.
»Sehr schön«, sagte Ellwanger, »Sie können immer noch gut rechnen.«
Er kam sich bei der Äußerung ziemlich blöde vor, aber die Frau strahlte ihn
plötzlich an, so daß er sofort auf das Kompliment noch eins drauflegte: »Sie
rechnen sogar sehr gut, wirklich erstaunlich gut.«
Aber daraufhin neigte sie den Kopf, wandte sich von ihm ab und sagte
leise: »Nein, nicht gut. Gar nicht gut.«
Ellwanger wußte nicht, wie er weitermachen sollte. Etwas verzagt nahm
er einen neuen Anlauf: »Sie hatten doch einen Sohn. Erinnern Sie sich an
Ihren Sohn, den Heiner?«
Keine Reaktion.
»Er ist in Gerabronn zur Schule gegangen, ein intelligentes Kind, wie mir
seine Lehrerin versichert hat. Vielleicht erinnern Sie sich noch: das Fräulein
Gumbrecht hat Ihren kleinen Sohn damals unterrichtet.«
Keine Reaktion. Was immer Ellwanger sagte, es schien in ein tiefes
schwarzes Loch zu fallen und dort sofort gefressen zu werden. Er sprach
noch ein bißchen von der Schule, wußte aber, daß es sinnlos war. Eine
Weile saß er einfach stumm neben ihr und schaute im Zimmer herum, in
dem es aber nichts zu sehen gab, was ihm hätte weiterhelfen können.
Ihre linke Hand lag auf der Sessellehne. Eine schmale, von Altersflecken
besäte Hand, ein bißchen knotig an den Gelenken. Jemand hatte ihr eine
billige Uhr umgeschnallt. Ellwanger strich sanft über die Hand hin, ja, er
ging sogar noch weiter, nahm die kleine Hand in seine beiden großen
Hände. Sie ließ es ruhig geschehen, hob den Kopf und sah ihn an. Wäßrige
blaue Augen, die früher vielleicht ausdrucksvoll gewesen waren. Die Lider
inzwischen fast wimpernlos. Der Mund eingefallen, die wenigen weißen
Haare ganz dünn. Mit Larson, dem strahlenden Larson, konnte er die Frau
beim besten Willen nicht in Verbindung bringen.
»Das Heinerle ist doch Ihr Sohn, nicht? Er war Ihr lieber Sohn, das kleine
Heinerle.«
Sie strahlte. Über das ganze Gesicht huschte ein Glanz. Dann beugte sie
sich vor und flüsterte: »Da bisch du ja. Du bisch kommen. Endlich bisch du
kommen.« Mit der anderen Hand tätschelte sie nun seine Hand, die immer
noch auf ihrer Linken lag. Dann drehte sie schnell den Kopf, als gäbe es
rundherum Publikum, dem sie die Neuigkeit unbedingt mitteilen mußte:
»Mein Heinerle isch kommen!«
Ellwanger wußte nicht, was tun. Einen Augenblick beschlich ihn das
unheimliche Gefühl, wenn er sich jetzt verabschiedete, würde sie seine
Hand nicht mehr loslassen oder schreien, lauthals nach ihrem Heinerle
schreien.
»Ja, ich bin gekommen, um dich zu besuchen«, sagte er etwas trocken. In
die neue Rolle konnte er sich nicht recht einfinden. Was er hier auf sich
nahm, war deutlich schwieriger als das, was er in den Münchner
Verhörräumen je erlebt hatte.
»Heinerle!« Sie sagte es immer wieder, nur diesen Namen. Aber das
führte zu gar nichts. »Wie war's denn heut in der Schule?« fragte sie noch,
aber da mußte Ellwanger endgültig passen. Er preßte ein »ganz gut« heraus.
Die Rolle des Heinerle lag ihm einfach nicht.
Es dauerte höchstens drei, vier Minuten, da war ihre Euphorie verflogen.
Sie sah wieder starr vor sich hin. Er war offenkundig entbehrlich. Im
Grunde nicht mehr vorhanden. Ellwanger zog seine Hand zurück. Nichts,
rein nichts war aus der verwirrten alten Frau herauszubekommen, was auch
nur in die Nähe einer Information kam. Weil er nicht mehr weiterwußte,
stand Ellwanger auf und zog die Schublade ihres Nachttischs auf. Ein
Kugelschreiber, leere Zettel, Medikamente, ein Brillenetui. Sonst nichts.
Ein abgestandener Mief schlug ihm entgegen, als er die Schranktür öffnete.
Darin sah's nicht viel besser aus. Ein alter Kalender. Strümpfe. Bißchen
Unterwäsche. Einige Pullover. Zwei Hosen, drei, vier Kleider, einige
Blusen, eine grauwollene Strickjacke, die ordentlich auf einem Bügel hing,
fünf Paar Schuhe. Eine Schachtel mit Kleenex-Tüchern. Zwei fast leere
Handtaschen. Als er eine der Taschen herausnahm, um sie genauer zu
untersuchen, öffnete sich die Tür, und eine füllige Frau in Mantel und Hut
trat ein. »Was machen Sie hier!« sagte sie scharf. »Wühlen alles durch!
Dieb, Dieb, Dieb!«
»Ich habe mich mit Ihrer Nachbarin unterhalten. Ich suche nach
Unterlagen, aus denen hervorgeht, was mit ihrem Sohn geschehen sein
könnte.« Er legte die Tasche wieder in den Schrank zurück.
»Ach was, Sohn!« sagte sie nicht weniger scharf. »Dieb! Dieb! Dieb!«
»Ich glaube, da täuschen Sie sich. Ihre Nachbarin hatte tatsächlich einen
Sohn. Und ich bin übrigens von der Polizei.« Er zog seinen Ausweis aus der
Tasche, was ihm aber wenig half. Die Frau wollte sich damit gar nicht
befassen.
Sie stand immer noch aufrecht an der Tür und rief unentwegt: »Dieb!
Dieb! Dieb!« Ellwanger wunderte sich, daß niemand vom Personal
angelaufen kam, um nachzusehen, was da eigentlich los war. Inzwischen
mischte sich auch das dünne Stimmchen der Frau am Fenster in die Rufe
ein. Die rief jetzt auch: »Dieb! Dieb! Dieb!« Allerdings recht schwach.
»Ich gehe wohl besser«, sagte Ellwanger. »Hat mich gefreut, Sie
kennenzulernen.«
»Jaja, gehen Sie nur, gehen Sie!« Die korpulente Frau wedelte ihn mit
den Händen förmlich hinaus.
»Auf Wiedersehen, Frau Blaschke«, sagte er noch an der Tür, aber sie
schien ihn nicht mehr zu bemerken. Ihre Rufe hatten aufgehört. Wieder in
sich zusammengesunken, saß sie in ihrem Sessel.
Auf dem Gang zeigte sich niemand. Das kleine Theater hatte keinerlei
Aufsehen erregt. Ellwanger marschierte unbehelligt zum Büro der
grauhaarigen Dame, die ihn herbegleitet hatte.
»Na, wie war's? Konnten Sie etwas in Erfahrung bringen?« fragte sie
neugierig.
»Nicht wirklich. Aber beim Namen ihres Sohnes, als ich Heinerle sagte,
lebte sie richtig auf. Allerdings nur kurz. Den Sohn scheint es tatsächlich
gegeben zu haben. Dann kam ihre Nachbarin herein und hielt mich für
einen Dieb. Es war ihr nicht auszureden. Da war nichts mehr zu machen.«
»Ich glaube auch kaum, daß Sie aus Frau Blaschke mehr hätten
herausbringen können. Sie ist eine unserer ganz, ganz Stillen.«
»Wie steht es denn um die finanzielle Versorgung der Frau?«
»Gar nicht schlecht. Es gibt einen amtlich bestellten Treuhänder, der ihr
Vermögen verwaltet.«
»Vermögen? Tatsächlich Vermögen? Wie ich hörte, war die Frau
ziemlich arm, als sie noch in Gerabronn lebte.«
»Das kann schon sein. Soviel ich weiß, war die Wohnung sehr klein.
Reichtümer wird man da jedenfalls nicht gefunden haben.«
Sie zeigte sich sofort bereit, ihm den Namen des Treuhänders zu geben,
schrieb die Anschrift auf einen Zettel, den sie von einem klobigen Block
abriß.
»Wäre es vielleicht möglich, von Ihrem Apparat aus da kurz anzurufen?«
Sie nickte und drehte den schwenkbaren Telephonhalter in seine Richtung.
Er wählte die Nummer, die sie ihm gegeben hatte. In der Leitung gab sich
nur der Anrufbeantworter zu hören, der Ellwanger auf die Bürozeiten
verwies.
»Und Sie sind ganz sicher, daß die Frau keinen Besuch bekommt?
Wirklich von niemandem?«
»Nein, bestimmt nicht. Das ist traurig. Sie gehört zu den wenigen, zu
denen keine Seele kommt. Jedenfalls nicht, seitdem ich hier arbeite. Und
das sind immerhin schon einige Jahre. Anfänglich hat sie noch mehr
gesprochen. Aber ich denke, sie muß schon, bevor sie zu uns kam, ein sehr
einsames Leben geführt haben. Wir bieten hier natürlich auch verschiedene
Beschäftigungen an, die unter anderem das Gedächtnis trainieren sollen.
Aber daran beteiligt sie sich kaum. Sie singt allerdings gern. In unserer
Gesangsgruppe ist sie immer dabei. Das bereitet ihr offensichtlich Freude.«
»Also keine Besucher. Auch der nicht? Haben Sie vielleicht den schon
mal gesehen?« Ellwanger reichte ihr ein Photo von Paul Larson.
»Das ist ja ein sehr gutaussehender Mann!« Sie lächelte. Bisher hatte sie
nicht gelächelt, sondern konzentriert dreingeblickt. »Der wäre mir bestimmt
aufgefallen. Aber leider nein. Der hat sich ganz bestimmt hier nie gezeigt.
Wissen Sie, wir sprechen ja viel mit den Besuchern, damit sie sich besser in
ihre Angehörigen hineinversetzen können.«
In dem Büro gab es nichts weiter für ihn in Erfahrung zu bringen.
Ellwanger bedankte sich höflich, daß sie ihm ihre Zeit gewidmet hatte, und
versprach, sich zu melden, falls er etwas herausfinden sollte, das für das
Heim von Interesse sein könnte. Sie gab ihm ihre Visitenkarte.
»Jetzt kann ich Ihren Namen richtig lesen! Mit Ihrem Namensschild hatte
ich Mühe. Ich bin inzwischen etwas kurzsichtig.« Er lächelte charmant,
verabschiedete sich und zog die Tür sanft hinter sich zu.
Auf der Autobahn herrschte zähflüssiger Verkehr. Er geriet in einen Stau,
der sich erst nach einer halben Stunde auflöste. Gegen acht Uhr abends war
er wieder in seiner Klause in Solln. Killmousky hatte bereits gefressen, aber
er geruhte, seinen Besitzer zu erkennen und um dessen Beine zu streichen.
Den Abend wollte Ellwanger mit Erdnüssen und einem Bier vor dem
Fernseher verbringen, aber er schaltete den Apparat bald wieder ab,
schaltete auch das Licht aus und widmete sich Killmousky, der neben
seinem Bauch lag. Beim Streicheln des Katerfells mußte man umsichtig zu
Werke gehen. Nicht zu kräftig, nicht zu sanft. Und zu lange durfte man sich
nicht mit derselben Stelle befassen. Abwechslung war gefragt. Ellwanger
verstand sich mustergültig darauf, dem Kater Wohlbehagen zu verschaffen,
und der dankte es ihm mit einem hingebungsvollen Schnurren. Die Tüte mit
den Nüssen blieb ungeöffnet auf dem Nachttisch liegen.
Dann ließ er vom Kater wieder ab. Seine Gedanken drifteten in die
Nacht. Das Abenteuer mit Catherine kam ihm jetzt äußerst seltsam vor. Er
dachte an die alte Frau mit dem eingefallenen Mund und stellte sich
Catherine mit eingefallenem Mund vor. Die Nacht mit ihr war ein seltsam
entrücktes Erlebnis, das ein anderer Ellwanger gehabt haben mußte.
Tiefenahnungen von einem aufregenden Leben, das er niemals würde
führen können. Er nicht. Jedenfalls nicht der Mann, der neben seinem Kater
in einem puppenkleinen Häuschen in Solln lag, dem langfädige Gedanken
durch den Kopf zogen, die um einen schönen blonden Mann kreisten, der
vielleicht seine Frau ermordet hatte, obendrein vielleicht einen
Schulkameraden hatte verschwinden lassen. Vielleicht aber auch nicht.
Draußen leuchtete der volle Mond.
XI

Den vom Amt bestellten Vermögensverwalter und Treuhänder, einen Herrn


Dr. Bogomir Wirsing, bekam er am nächsten Morgen ans Telephon. Ohne
einen rechtsgültigen Ausweis vorgelegt zu bekommen, war der Verwalter
natürlich zu keinen Auskünften bereit. Aber Ellwanger war gut, sehr gut
sogar. Spezialisiert darauf, harte Nüsse zu knacken. Selbstverständlich dürfe
Herr Dr. Wirsing nicht irgendwem am Telephon irgend etwas über seine
Mandanten erzählen. Aber er könne gern auf seinem, Ellwangers, Dezernat
anrufen und dort die nötigen Auskünfte erlangen. Ob er ihm die Nummer
des Kommissariats geben und ihn später noch einmal anrufen dürfe? Er
könne ja leicht nachprüfen, ob es mit der Nummer seine Richtigkeit habe.
Es gehe auch nur um eine kleine Auskunft, nichts Umfassendes. Am
anderen Ende der Leitung gab sich etwas zu bemerken, was man als Zögern
interpretieren konnte.
»Ich will Sie wirklich nicht unnötig belästigen«, sagte Ellwanger, »Sie
sind gewiß ein vielbeschäftigter Mann. Meine Kollegen Pilz und Schott
werden Ihnen bestätigen können, wer ich bin.«
Wieder das fühlbare Zögern. Der Mann am anderen Ende der Leitung
schien zu überlegen, ob es sich um ein abgekartetes Spiel handelte. Aber
dann geruhte Herr Dr. Wirsing sich zu räuspern, und Ellwanger kam um die
unangenehme Aufgabe herum, in seinem ehemaligen Büro anzurufen und
Pilz und Schott zu instruieren.
Ein »Gut« war zu hören, gefolgt von einem kleinen Seufzer, der die
Aufgabe des Widerstandes verriet. »Was wollen Sie wissen?«
Sobald die Blockade überwunden war, kam der Mann am anderen Ende
der Leitung ziemlich schnell in Fahrt. Zu dem Zeitpunkt, als er das Mandat
im Falle von Heidrun Blaschke übernommen hatte, also im Herbst 2004,
befanden sich auf ihrem Konto etwas mehr als hundertzwanzigtausend
Euro. Da sie in einer recht ärmlichen Wohnung lebte und über einen langen
Zeitraum mit Sozialhilfe hatte auskommen müssen, war der Kontostand ein
wenig verwunderlich. Es ließ sich jedoch nicht mehr nachvollziehen, was es
mit dem Geld auf sich hatte. Entsprechende Unterlagen standen nicht zur
Verfügung. Um ein erarbeitetes Vermögen hatte es sich schwerlich handeln
können. Von der Raiffeisenbank war nur zu erfahren gewesen, daß das Geld
1999 von Argentinien aus angewiesen worden war, vielleicht von einem
entfernten Verwandten der Frau. Jedenfalls von einem Mann mit
fremdländischem Namen.
»Sie wissen nicht zufällig, wie der Mann hieß?«
Doch, doch, er wußte es. An den Namen erinnerte sich Dr. Wirsing sogar
genau, da er ihm ziemlich kurios vorgekommen war: Enrique Fernando
Lightowler-Stahlberg. Die alte Dame hatte in ihrem geistig verwirrten
Zustand nicht einmal mehr eine Ahnung davon, daß sie dieses Konto
überhaupt besaß, geschweige denn, wer Enrique Fernando Lightowler-
Stahlberg war.
Mehr wußte Dr. Wirsing nicht zu berichten. »Ein weiteres Rätsel der
menschlichen Existenz«, sagte er salbungsvoll, »man wird aus den
Menschen nie ganz schlau, selbst nach einer Berufserfahrung von fast
vierzig Jahren.«
»Sie sagen es!« Ellwanger bedankte sich höflich und legte auf.
Als nächstes telephonierte er mit einem jüngeren Kollegen, dem er vor
einigen Jahren zu einem spektakulären Erfolg bei einer komplizierten
Mordserie verholfen hatte, ohne auch nur ein Lorbeerblättchen für sich
selbst zu beanspruchen. Ebenfalls ein Mann mit nicht ganz einfachem
Namen. Die Mutter war eine Deutsche, sein Vater ein Spanier gewesen.
Carl oder vielmehr Carlos Maria Ibarra, auch genannt Iba, war in
Deutschland aufgewachsen, ein netter Kerl, auf den Verlaß war. Er gehörte
nicht zu der Sorte von Leuten, die einem Gönner in die Hand beißen, dem
sie etwas verdanken. Und Ibarra verdankte ihm ziemlich viel. Nach dem
Aufklärungserfolg, der einige Schlagzeilen gemacht hatte, war er rasch
nach oben geklettert. Ibarra freute sich offenkundig, als Ellwanger anrief.
»Treffen wir uns mal wieder auf ein Bier?« sprudelte er los. »Wollte
schon immer fragen, wie's dir geht. Aber du weißt ja, was hier los ist,
Schneider ist krank, Michalik bei irgendeiner blöden Fortbildung.«
»Oh, jaja, ich kenne das.«
»Du klingst ganz gut. Nicht wie ein mürrischer Rentner, der sich morgens
das Gebiß reinschiebt. Sehen wir uns morgen im Wirtshaus? Morgen abend
müßte eigentlich gehen.«
»Können wir gern. Aber vielleicht kannst du vorher für mich etwas
erledigen.«
Das Angenehme an Ibarra war, daß er keine Sekunde zögerte, die Sache
zu übernehmen, um die Ellwanger ihn bat. Und er würde auch nicht überall
herumposaunen, daß Ellwanger ihn angerufen und um einen Gefallen
gebeten hatte. Auf die Verschwiegenheit von Iba war Verlaß.
Als sie sich am nächsten Abend im Bratwurst-Glöckl trafen, war
Ellwanger eine Viertelstunde früher zur Stelle. Er saß in einem dunkel
getäfelten Raum mit schräg vornüberhängendem Kruzifix über seinem
Kopf. Am anderen Ende des langen Tisches saß ein alter Mann und gönnte
sich alle zehn Minuten ein Schlückchen von seinem Bier. Ibarra verspätete
sich. Er kam etwas hektisch angeschnauft und riß sich die schwere
Lederjacke vom Leib. Ibarra war ein hübscher Kerl mit schwarzen Locken,
ein klein wenig dicklich zwar, aber ansonsten ganz gut in Form. Er wedelte
die dünne Kellnerin ungestüm herbei, deren Dirndl wie ein Lappen an ihr
herunterhing; sein Bier mußte er sofort haben.
»Leider, leider ein einziger Scheiß«, sagte er, bevor er noch richtig saß,
»nichts. Nada! Von deinem Kerl fehlt jede Spur, der ist wie vom Erdboden
verschluckt.«
»Dachte ich mir fast.« Ellwanger war zwar enttäuscht, aber damit hatte er
gerechnet. Es wäre ansonsten ja zu einfach gewesen. »Und was ist mit
Lightowler-Stahlberg?«
»Fehlanzeige. Dein Enrique Fernando lebt seit zwölf Jahren nicht mehr.
Keine Angehörigen, nichts und niemand, ist sang- und klanglos in den Sarg
gerutscht. Aus und vorbei.«
»Weiß man, wer er war?«
»Ein uralter Mann. Wurde sechsundneunzig. War in jüngeren Jahren mal
verheiratet gewesen. Keine Nachkommen. Frau stammte aus Brasilien, ist
aber auch schon längst tot. Er ist auch nicht aus Deutschland ausgewandert,
sondern in Argentinien geboren. Mutter Engländerin, Vater Österreicher.
Beide Eltern als junge Leute oder Kinder eingewandert, also noch im
neunzehnten Jahrhundert.«
Das war mehr als unergiebig. Eine Verbindung zu der alten verwirrten
Dame im Altersheim ließ sich da beim besten Willen nicht herstellen, außer
in einer wildwüchsigen Phantasie.
»War er vermögend?«
»Muß wohl. Wohnte in einer reichen Gegend von Buenos Aires, in
Belgrano. Aber wo genau das Geld geblieben ist, ob überhaupt etwas noch
übrig war, davon ist nichts bekannt. Starb zu Hause, wahrscheinlich in
seinem Bett.« Ibarra nahm einen kräftigen Schluck Bier und wischte sich
den Schaum vom Mund.
Da war nichts zu machen. Ibarra hatte sich richtig für ihn ins Zeug gelegt.
Er beschrieb ausführlich, wie kompliziert es gewesen war, die Auskünfte zu
bekommen, natürlich auch wegen der Zeitverschiebung. Und die zierten
sich da drüben, nahmen sich wichtig, selbst bei einem wie ihm, der ja nicht
auf englisch oder bajuwarisch auf sie einredete. Mei! Wie das dauerte, bis
er endlich einen in der Leitung hatte, der geruhte, ihm überhaupt irgendeine
Auskunft zu geben. Es war bestimmt einfacher, Obama an den Hörer zu
bekommen. Aber mehr war beim besten Willen nicht herauszuholen
gewesen. Nichts. Nada. Er hatte die Namen der Kollegen, mit denen er
jenseits des Ozeans gesprochen hatte, und deren Dienststelle in seiner
schülerhaften Schrift auf einen Zettel notiert und übergab diesen Ellwanger
feierlich, als wäre es eine wichtige Urkunde. Als die Kellnerin mit den
Spanferkelripperln, den Salzkartoffeln und den Krautsalaten kam, sah Ibarra
mitleidig an ihr hinauf, als müsse er ihr zum Trost gleich ein bißchen auf
den mageren Hintern klopfen. Er ließ es aber gottlob sein und nahm statt
dessen das Besteck in die fülligen Kinderhände. Ibarra hatte einen
Mordshunger und langte sofort zu.
Obwohl Ellwanger innerlich fluchte, weil absolut nichts Verwendbares
herausgekommen war, verlief der Abend angenehm. Ibarra konnte er
erzählen, daß er einen spinnerten Auftrag von einem reichen New Yorker
angenommen hatte. Es tat ganz gut, ein bißchen damit anzugeben. Es tat
sogar mehr als gut, daß Ibarra ihn nicht für einen ausrangierten Rentner
hielt, der außer Genörgel nichts mehr zu vermelden hatte. Ellwanger war
kurz davor, ihm auch noch das Abenteuer mit Catherine zu erzählen. Aber
er besann sich rechtzeitig eines Besseren. Ibarra konnte zwar die Klappe
halten, aber alles mußte man ihm nicht auftischen. Der Kollege staunte auch
so nicht schlecht, leerte sein Glas auf die nagelneue Karriere seines
ehemaligen Gönners und bestellte mit theatralischem Gefuchtel gleich ein
weiteres.
»Wenn ich weniger als nichts herauskriege, ist meine neue Karriere bald
wieder zu Ende«, sagte Ellwanger verdrießlich. »Es ist verdammt schwer,
ohne den üblichen Apparat etwas zu tun, was den Namen Ermittlung
überhaupt verdient. Ich bin nicht daran gewöhnt, nur mal so ins Blaue
hinein einfach loszulegen.«
»Du hast ja mich«, sagte Ibarra, während er sich den sorgsam
aufgesparten Rest Kren auf den letzten Fitzel vom Knochen losgekratzten
Fleisches strich, »wenn die mich auch bald loswerden wollen, gründen wir
zusammen ein Büro und legen gemeinsam los.«
Der Abend wurde noch munter. Sie zogen über dämliche Kollegen her,
über dämliche Ehefrauen und die erzdämliche bayerische Bürokratie, auch
über vollverschleierte Saudifrauen, Schlitzguckerinnen, die umgeben von
einem Pulk Männer die Läden in der Maximilianstraße leer kauften.
Ellwanger wurde richtig heiter und redete beschwingter als sonst. Als er
schließlich zahlte, war der alte Mann am Tischende gerade bei seinem
letzten Schlückchen Bier angekommen.
Später lag er hellwach im Bett und konnte nicht einschlafen. In seinem
Kopf drehte sich ein Karussell mit der immergleichen Szene, in der er vor
den schwarzäugigen Trevillyan am Kamin hintrat und wieder und wieder
den Satz wiederholte: Nothing! Absolutely nothing.
Killmousky schätzte es nicht, wenn sich sein Herr unruhig im Bett
herumwarf. Er schlief im Sessel daneben und zeigte Ellwanger seinen
Hintern, wandte nicht einmal den Kopf her, sobald Ellwanger das Licht
anknipste. Nur die Schwanzspitze zuckte. Er ärgert sich über mich, wie ich
mich über alles ärgere, dachte Ellwanger, das Leben ist ein einziger
Beschiß, und ich bin komplett unfähig! Nicht mal mein Kater hat ein
Minimum von Respekt vor mir. Über diesem wehleidigen Gedanken schlief
er endlich ein und träumte wild durcheinander, mal saß Catherine in einem
Rollstuhl im Altersheim, mal der alte Trevillyan, dann verfolgte ihn eine
kreischende Schlitzguckerin, schließlich hockte er vor einem Berg von
dampfenden Salzkartoffeln und wußte nicht, wie durchkommen.
Am nächsten Morgen weckte ihn Killmousky mit dem üblichen Gezupfe
an seinen Haaren. Aber da war noch etwas anderes. Als Ellwanger sich
halbwegs aufgerichtet hatte, sah er die Bescherung. Killmousky hatte eine
Maus gefangen. Tatsächlich! Eine winzig kleine Maus, vielleicht ein
Mäusebaby. Sie lag ganz still auf der Matte vor dem Bett. Es war das erste
Mal, daß Killmousky seinem Namen Ehre gemacht und eine Maus
angeschleppt hatte. Einige Vögel hatte er schon erwischt, einmal hatte er
einen Goldfisch aus einem der umliegenden Gartenteiche angeschleppt.
Ellwanger nahm ein Stück Zeitungspapier, wickelte die Maus darin ein, um
sie in den Mülleimer zu werfen. Killmousky schaute bei diesem Manöver
interessiert von der Bettkante aus zu und verfolgte ihn dann in die Küche.
Über Nacht hatte es wieder etwas geschneit. Auf den Fenstersimsen
lagen weiße Polster. Ellwanger zog sich die Stiefel an und langte nach
seinem Zigarettenpäckchen. Killmousky war in diesem Winter schon längst
schneeerfahren, er inspizierte die weiße Materie nicht eigens, sondern
sprang sofort drauflos und raste auf die entlaubte weißbepuderte Blutbuche.
Dort hing er festgekrallt an einem schwankenden Ast, von dem es
ordentlich stäubte, während Ellwanger lauthals Lobesworte über einen
mordsgefährlichen Mäusekiller zu ihm hinaufrief, den gefährlichsten von
ganz München. Er übertrieb ein bißchen, weil er die anderen
Schneevorführungen versäumt hatte und ihn obendrein ein schlechtes
Gewissen plagte, daß er den Kater wieder für ein paar Tage in die Obhut
von Annett geben mußte. Dann kam Killmousky von Ast zu Ast etwas
langsamer wieder in die Tiefe, schoß vollends den Stamm herunter und
verschwand im großen Garten von Frau Kirchschlager.
Den Vormittag brachte Ellwanger damit hin, in einem Copyshop
Vergrößerungen des kleinen gezackten Schulphotos herzustellen, das ihm
Frau Bilfinger mitgegeben hatte, und bei einem Kaffee und einer
Schneckennudel darüber zu grübeln, wer der kleine verdeckt stehende Bub
sein könnte, ob Larson alias Blaschke oder ob nicht. Aber auch die
Vergrößerungen führten zu keinem eindeutigen Ergebnis, weil zwei Drittel
des Gesichts darauf überhaupt nicht zu erkennen waren. Er steckte das
Originalphoto in einen Umschlag und schickte es Frau Bilfinger zurück.
XII

Als er vier Tage später im Pierre wieder dieselbe Suite bezog, hatten sich
drei Dinge verändert. Eine neue schwarze Tasche stand auf der
Kofferablage, im Zahnputzglas steckte eine tadellose Bürste mit strammen
Borsten und stromlinienförmigem Astronautengriff, das Jackett für den
Abend, so ein graubraunblauschwarz gemustertes Ding aus feinem Stoff,
saß tadellos. Ellwanger war nicht mehr ganz derselbe Ellwanger von
vorletzter Woche, auch wenn sich an seinen Prinzipien nichts geändert
hatte. Morgen vormittag würde er Trevillyan einen Bericht abstatten, ihm
empfehlen, einen amerikanischen Detektiv zu beauftragen, um das
Verschwinden von Anton Bilfinger aufzuklären, und eventuell eine
argentinische Agentur zu Rate zu ziehen, um mehr über Enrique Fernando
Lightowler-Stahlberg in Erfahrung zu bringen. Seine, Ellwangers, Mission
war hiermit beendet. Nein, das große Honorar würde er auf keinen Fall
annehmen, die Erstattung der Auslagen und insgesamt acht Tagessätze zu
jeweils vierhundert Dollar, die ja.
Für den Abend war er wieder mit Frau Kirchschlager und ihrem Sepp
verabredet. Diesmal wurde er nicht vom Hotel abgeholt, den Weg zu ihrer
Wohnung fand er allein, ging aber nicht quer durch den Park, sondern außen
herum. Eine sternenklare Nacht mit magerem Mond, kein Schneefall von
oben, aber Schneeberge noch immer am Rand der Gehsteige. In der
Wohnung mit der mondbeschienenen Akropolis fühlte er sich inzwischen
wie zu Hause. Sepp hatte wieder vorzüglich gekocht, beim Essen erzählte
Ellwanger der Reihe nach haarklein, was er in Erfahrung gebracht hatte
oder vielmehr nicht in Erfahrung hatte bringen können. Sepp machte den
berühmten Ausruf eines deutschen Fußballreporters im Radio der siebziger
Jahre nach: »Das ist aber wenig wenig!« Ror Wolf hatte ihn auf einer
Schallplatte verewigt. In der Tat, das war weniger als wenig. Das war bloß
ein dürftiges Nichts.
Sepp gab sich damit nicht zufrieden. »Weißt was, mir fahr'n morgen
z'sammen nach Long Island 'naus und schau'n mal, ob wir über das Boot
was rausfinden.«
Die Idee war Ellwanger auch schon gekommen, aber er hatte sie wieder
ad acta gelegt, vielleicht weil ihm der Gedanke unbehaglich war, eine
zweite Fahrt mit Catherine unternehmen und dabei mehr unangenehme
Dinge aufrühren zu müssen, als ihm lieb war, Dinge, die er ihrem Vater
nicht würde berichten können. Sein eigentlicher Auftrag hatte ja auch darin
bestanden, in seiner Heimat zu recherchieren und nicht in der Umgebung
von New York. Den Termin mit Trevillyan würde er für morgen absagen
müssen.
Frau Kirchschlager begrüßte die Idee. Sie wäre am liebsten selbst
mitgefahren, war morgen im Museum aber nicht abkömmlich.
Als sie beim Birnendessert angelangt waren, wurde die Stimmung ein
klein wenig komplizierter. Ellwanger hatte sich dazu entschlossen, seine
Vermutung zu erwähnen, daß Catherine vielleicht, aber nur vielleicht, eine
Affäre mit Larson gehabt haben könnte, und das machte sie natürlich auch
zu einer Verdächtigen, falls man tatsächlich weiterhin von einem
gewaltsamen Tod der Schwester ausgehen wolle. Er drückte sich sehr
umständlich aus, gab gleich dreifach zu verstehen, daß dies wahrscheinlich
alles Unsinn sei und zu nichts führe. Auf die Verschwiegenheit derer hier
am Tisch müsse hierin absolut Verlaß sein. Nichts, rein gar nichts sei
bewiesen. Falls sich ein so ungeheuerlicher Verdacht aber bewahrheiten
sollte, sei er jedenfalls nicht derjenige, der dies dem alten Trevillyan
beibringen wolle.
Sepp sagte nur: »Complicado! Complicadissimo!« Frau Kirchschlager
stand auf und suchte etwas im Sekretär, der nahe am Fenster stand.
Ellwanger ärgerte sich über sich selbst, daß er mit all dem unbewiesenen
Zeug über Catherine herausgerückt war. In München hätte er so etwas
niemals getan. In München wäre er einem Catherine ähnlichen Geschöpf
niemals begegnet. Und eine Fallbesprechung wäre über den kleinen Kreis
an Kollegen, die damit betraut waren, nicht hinausgelangt. Aber in der
fremden Stadt war Ellwanger ein anderer Mensch. Mit irgend jemandem
mußte er über mögliche Fährten und Komplikationen sprechen. Und bei
Frau Kirchschlager konnte er sicher sein, daß sie den Mund halten würde,
ihr Sepp wahrscheinlich auch.
Sie kramte eine ganze Weile im Sekretär herum. Mit einem Photo kehrte
sie an den Tisch zurück und überreichte es Ellwanger.
»Da sind sie alle beisammen, so ziemlich alle jedenfalls.«
Es war ein Hochzeitsphoto, keines, das ein bestellter Photograph schießt,
wenn das Paar aus der Kirche kommt. Es zeigte das Ende des Fests. Die
Leute sahen schon ziemlich derangiert aus. Vicky verschwitzt. Catherine
wie abwesend auf einen Stuhl gesackt, wahrscheinlich betrunken, einige
Unbekannte drum herum, Arrowsmith etwas vornübergebeugt im
Hintergrund stehend, mit einem Glas in der Hand. Der alte Trevillyan war
nicht darauf zu sehen. Dafür Larson. Larson beherrschte die Szene. So ein
Fest und etliche Gläser Alkohol, die wahrscheinlich in ihn hineingeflossen
waren, konnten ihm gar nichts anhaben. Er sah aus wie frisch geduscht,
frisch mit Rasierwasser benetzt, frisch gekämmt und frisch gebürstet. Das
Hemd tadellos in Form. Kein Knitterfältchen auf dem Anzug. Ein
Vorzeigegeschöpf, dem nichts und niemand etwas anhaben konnte, auch
nicht die Heirat mit einer reizlosen Frau, die ihm wahrscheinlich soviel
bedeutet hatte wie die Bürste, mit der er seine Schuhe auf Hochglanz
brachte, falls er derart profane Dinge überhaupt selbst erledigte.
Am nächsten Morgen bat er den Butler von Trevillyan, seinem Herrn
auszurichten, daß er heute nicht kommen könne. Eine neue Spur habe sich
ergeben, die er noch verfolgen wolle.
Die Fahrt nach Long Island gestaltete sich deutlich ruhiger als beim
ersten Mal. Sepp war der geborene Autofahrer. Er fuhr ruhig, überholte
zügig und redete kaum, was Ellwanger nur recht sein konnte. Als sie kurz
im Stau steckenblieben, verschränkte Sepp die Arme und wartete geduldig.
Kein Gehampel, kein Lenkradgeklopfe, kein Geseufze, keine Prognosen.
Als es weiterging, nickte Ellwanger ein bißchen ein. Das war der höchste
Vertrauensbeweis, den er einem anderen Autofahrer zollte.
In Southampton angelangt, gingen sie erst mal einen Kaffee trinken in
einem kleinen Laden, der etwas tantenhaft wirkte. Nach dem üppigen
Frühstück im Pierre nahm Ellwanger mit einem ziemlich starken Kaffee im
Becher vorlieb, der aus einer Kanne mit Blumendekor ausgeschenkt wurde.
Aber Sepp war mit leerem Magen losgefahren und brauchte unbedingt
etwas Habhaftes zwischen die Zähne. Zwei Spiegeleier mit Bacon.
Ellwanger nahm das Photo, das Frau Kirchschlager ihm mitgegeben
hatte, aus seiner Jacke und ließ Sepp die Frau hinter der Theke, die die
gebratenen Eier servierte, fragen, ob eine der Personen ihr bekannt
vorkomme. Sie deutete auf Arrowsmith – der vielleicht, aber sicher sei sie
sich nicht.
»Wieso ausg'rechnet Arrowsmith? Der hat hier eigentlich nix verloren.«
Sepp sagte das mehr zu sich selbst.
Ellwanger mahnte zur Vorsicht. »Erstens hat sie ihn nicht eindeutig
erkannt. Und zweitens: warum soll der Bursche nicht mal hier gewesen
sein? Es gibt doch sicherlich massenhaft New Yorker, die am Wochenende
mal nach Southampton rausfahren.«
Sepp nickte. »Da spricht der Kriminalist. Ich hab' in solchen Dingen
keine Ahnung.«
»Man muß auch das Wahrscheinliche berücksichtigen. Das ganz und gar
Unwahrscheinliche kommt ziemlich selten vor. Außerdem haben wir
Arrowsmith ja nicht als Verdächtigen auf der Liste.«
»Wär' möglich, daß er in die Vicky verliebt war. Ich meine, wirklich
verliebt, net bloß als Heiratsschwindler.«
»Tatsächlich?«
»Möglich wär's. Sicher bin ich mir da net. Er hat mir jedenfalls sein Herz
net ausg'schüttet. Aber die paar Mal, die ich Vicky gesehen habe, war er
immer in der Nähe und hat sie verfolgt … na ja, mit sorgenvollen Blicken,
könnte man sagen. Ob da was dran ist, keine Ahnung.«
»Immerhin ein interessanter Aspekt, der aber nicht unbedingt dafür
spricht, daß er sie mit Schlafmitteln vollgepumpt und über die
Terrassenbrüstung geworfen hat.«
Sepp lachte. »Das wollt' ich damit au' net behauptet haben.«
»Aber vielleicht weiß er mehr, als er zugibt.« Ellwanger faßte den
Entschluß, Arrowsmith ein wenig auf den Zahn zu fühlen, bevor er mit
Trevillyan redete.
Er nahm aus seinem Becher einen bedächtigen Kaffeeschluck, der längst
nicht so gut schmeckte wie das, was ihm der Ober heute früh im Pierre aus
einem Silberkännchen in eine zarte Tasse gegossen hatte. Unvergeßlich, wie
der Ober mit einem Zänglein ein Stück Würfelzucker gepackt und es
ballettartig durch die Luft geschwenkt hatte, bis Ellwanger ihm erlaubte, es
in seiner Tasse zu versenken. »Mir erscheint das ganze Todesmanöver
ziemlich dick aufgetragen. Erst die volle Ladung Schlafmittel, die vielleicht
schon allein ausgereicht hätte, und dann noch springen.«
»Vielleicht war die Frau besonders entschlossen.«
»Mag sein. Mir kommt's trotzdem reichlich übertrieben vor. Oder war sie
theatralisch veranlagt?« Ellwanger schob seinen Becher unschlüssig auf der
Theke hin und her, weil er sich nicht recht überwinden konnte, weitere
Schlucke daraus zu nehmen.
»Keine Ahnung. Ich weiß viel zuwenig über sie, hab' sie höchstens vier-,
fünfmal g'sehen, kaum mit ihr g'sprochen. Ich hab' aber mal eine Frau
gekannt, die ist von einer Brücke g'sprungen und hat sich dann noch
zusätzlich von einem Schwerlaster überfahren lassen. Die Brücke allein
hätt' schon genügt.«
Ellwanger zog dazu nur die Stirn in Falten und murmelte: »Klingt
extrem, ziemlich extrem. Sind aber schon ganz andere Dinge
vorgekommen.« Er wollte lieber nicht wissen, ob die Brückenspringerin
Sepps Freundin gewesen war.
Angenehm war so ein Ausflug, wenn man sich um nichts kümmern
mußte. Ellwanger brauchte sich um gar nichts zu kümmern. Offenbar war
Sepp schon öfter am Hafen von Southampton gewesen. Jedenfalls hatte er
keine Karte nötig, um sich zu orientieren. Das Gelände war menschenleer.
Winterlich, schneebefallen, vom Meer her nur kleines Wassergeschiebe,
leises Gemurmel und sanftes Aufschlagen am Strand, Gesäusel einer
machtlosen Gischt, darüber Möwengeschrei. Nur wenige Boote lagen, mit
Planen abgedeckt, im Wasser. Die kleineren waren wohl in die Schuppen
gezogen worden, die an den Strand grenzten.
Sie stapften gut zehn Minuten herum. Ellwanger hatte zwar etwas
solidere Schuhe angezogen als bei seinem ersten Strandabenteuer, aber zum
Einsinken in den Schnee waren auch sie nicht gemacht. Die beiden folgten
den Fußspuren, die zu einem hölzernen Gebäude mit einer weit
ausschwingenden Veranda führten, in dem offensichtlich so etwas wie die
Verwaltung über die Anlage der Liegeplätze untergebracht war.
Bei ihrem Eintritt läutete ein Glöckchen über der Tür, aber es zeigte sich
zunächst niemand. Fischernetze und Rettungsringe ringsum an den
Wänden, dazu kolorierte Stiche mit Fischen und anderen
Meeresbewohnern. Ein Schaukasten, in dem verschiedenfarbige Köder zum
Angeln ausgestellt waren, faszinierte Ellwanger. Die Dinger waren hübsch,
teilweise waren es ausgeklügelt exzentrische Gebilde, einige mit
knallbunten Federchen. Die hätten ihn nun aber nicht dazu verleiten
können, stundenlang auf einem Boot zu hocken und darauf zu warten, bis
sich an der Angel ein Zucken bemerkbar machte. Sein Sport bestand darin,
in die Gesichter von Verdächtigen zu schauen, ob da vielleicht etwas
zuckte.
Nach zwei, drei Minuten kam hinter dem Vorhang ein dicklicher Latino
hervor. Ein blauer Pullover mit aufgesticktem Anker umspannte seinen
Bauch. Er war noch jung, war mürrisch, sagte kurzangebunden etwas, das
Ellwanger nicht verstand. Vielleicht hatten sie ihn beim Verdauungsschlaf
gestört. Seine geölten Löckchen lagen ihm etwas wirr um den Kopf,
geradeso, als hätte er diesen Kopf vor kurzem noch in ein Kissen
verwurstelt.
Sepp war die Zuvorkommenheit in Person. Der geborene Diplomat. Er
wußte offenbar, wie man mit schwierigen Kandidaten umging, stellte
Ellwanger als einen bedeutenden Kommissar aus Deutschland vor, der für
Ermittlungen in einer enorm diffizilen Sache extra in die Vereinigten
Staaten gereist war. Der Mann zögerte, fühlte sich dann aber sichtlich
geschmeichelt, daß sein Rat in einer so hochwichtigen Angelegenheit
gefragt war. Sie zeigten ihm das Hochzeitsphoto, das Frau Kirchschlager
ihnen mitgegeben hatte, zeigten ihm andere Aufnahmen von Larson und
eine von Anton Bilfinger.
Das Photo von Bilfinger schob er gleich beiseite. Den hatte er ganz
bestimmt noch nie gesehen. Aber Larson schien er gut zu kennen, sehr gut
sogar, was weiter nicht verwunderlich war. Der Mann, der in eine reiche
Familie eingeheiratet hatte, war hier offenbar ein angesehener Kunde.
Vicky war ihm unbekannt. Aber er tippte mit dem Finger auf Catherine –
good looking lady –, die anscheinend mehrfach mit Larson auf dem Boot
gewesen war. Und Arrowsmith, den hatte er auch schon öfter in der Anlage
gesehen, obwohl er kein Boot hier liegen hatte.
Er wußte auch, wann und an wen Larsons Boot verkauft worden war, an
einen Kanadier, der in Sydney lebte, hier in Southampton aber keinen
Liegeplatz hatte. Das Boot war sofort nach dem Verkauf weggeführt
worden, wahrscheinlich nach Kanada. Seitdem hatten sich weder Larson
noch Catherine, noch Arrowsmith hier blicken lassen.
Ob er davon gehört hatte, daß Larsons Frau gestorben war? Der Mann
steigerte sich in eine kleine Ekstase hinein. O yes, yes, natürlich hatte er.
Das war hier ja über einige Wochen Thema gewesen. Als er erfuhr, daß
Larson eine andere Frau gehabt hatte, war er sehr überrascht gewesen. Er
hatte immer Catherine für dessen Frau gehalten. Abschließend ließ er einige
philosophische Bemerkungen über die Seelen von Männern und Frauen
vom Stapel, in denen das Wort human being gut zwanzigmal vorkam – man
lerne nie aus (beim human being), obwohl er selbst ein Menschenkenner sei
(über das human being durch und durch Bescheid wisse), jawohl, da könne
man sagen, was man wolle, die menschliche Existenz sei ein Rätsel
(obwohl man ihm, was das human being betraf, nichts vormachen könne),
wer hätte das gedacht (er denke viel über das human being nach), es gebe
viel Böses im Menschen (auch da könne man ihm nichts vormachen, denn
das human being sei nun mal eher böse als gut), er habe da so seine
Erfahrungen (was das human being betraf), die könne ihm keiner nehmen.
Ganz kurz ging Sepp dazwischen, um ihm zu versichern, daß sie
keinesfalls vorhätten, ihm seine Erfahrungen zu nehmen.
Der Mann ließ sich nicht beirren. Abschließend hatte er den Kopf
gesenkt und zu flüstern begonnen, hatte den rechten Arm auf die
Empfangstheke gestützt, den fleischigen Zeigefinger gehoben und die Stirn
in sorgenvolle Falten gelegt, geradeso, als hätte ihm das Universum eine
bedeutsame Denkaufgabe gestellt. Wenn Ellwanger ihn richtig verstand,
war das human being für so manche Überraschung gut. Wohl wahr. Dazu
konnten die beiden Fragesteller nur andächtig nicken und mit mokant
verzogenen Ironiemündern einander heimlich zublinzeln.
Auf dem Rückweg zum Auto konnten sie nur schwer an sich halten. Sepp
war ein hervorragender Komödiant. Immer wieder hob er den Zeigefinger
gen Himmel. »Drr Mensch is dös Rätsel, drr Mensch, dös human being!«
Ellwanger war zwar guter Stimmung und genoß den Ausflug mit Sepp,
aber das Ganze hatte nicht allzu viel gebracht. Eine weitere Verbindung
zwischen Bilfinger und Larson konnte nicht nachgewiesen werden. Daß
Larson mit Catherine ein Verhältnis gehabt hatte, wußte er. Es war
allerdings wohl sehr viel intensiver gewesen, als sich Ellwanger das bisher
vorgestellt hatte. Neu im Spiel war nur Arrowsmith. Aber warum sollte der,
wenn er tatsächlich in Vicky verliebt gewesen war, sie umgebracht haben?
Hatte er Larson hinterherspioniert? Um Vicky davon zu erzählen? Wenn das
der Fall war, so gab es tatsächlich einen massiven Grund, von Selbstmord
auszugehen. Oder hatte Vicky scharf reagiert und Larson gedroht, sich
scheiden zu lassen, und der hatte sie daraufhin umgebracht? Lauter
unbewiesenes Zeug, reine Spekulation, mit der sich keine klaren Aussagen
treffen ließen. Er nahm sich vor, danach zu fragen, ob es in Vickys Haus
Personal gegeben hatte, das vielleicht mehr über die Verstörung der
Hausherrin wußte. Wollte man Larson nicht davon in Kenntnis setzen, daß
Ermittlungen gegen ihn im Gange waren, war das allerdings kein leichtes
Unterfangen.
Sein Bericht an Trevillyan würde sich schwierig gestalten. Ihm konnte er
nicht davon sprechen, daß seine ältere Tochter mit Vickys Mann eine Affäre
unterhalten hatte, erst recht nicht, seitdem er selbst mit Catherine eine
Nacht verbracht hatte.
Aber mit Arrowsmith sollte er ein Wörtlein reden. Als sie nach New
York zurückkehrten, war es gegen fünf Uhr. Sepp lieferte ihn vor dem
Eingang des Pierre ab und versprach, nachher bei ihm anzurufen und ihm
die Handynummer von Arrowsmith durchzugeben. Ellwanger war zwar im
Besitz von Arrowsmith' Visitenkarte gewesen, hatte sie aber offenbar in
Solln vergessen. Die Kirchschlagerin besaß die Nummer, weil sie während
der Arbeit an Trevillyans Wandteppich einige Male mit dem Sekretär
telephoniert hatte.
Ellwanger rief Arrowsmith vom Hotel aus an. In ziemlich tadellosem
Englisch brachte er heraus, daß er sich gern mit ihm treffen würde. Es
hätten sich da ein paar Fragen ergeben. Arrowsmith war reserviert am
Telephon, ein etwas anderer Mann als der hilfsbereite, den Ellwanger bisher
kennengelernt hatte. Seine Stimme hatte einen härteren Klang als sonst.
Eine Verabredung noch an diesem Abend schien ihm nicht recht in den
Kram zu passen. Aber dann gab er sich einen Ruck und fand zu seiner
verbindlichen Art zurück. Gut. Wenn Ellwanger wolle, könnten sie sich
für später zum Essen verabreden. Das war Ellwanger zwar nicht unbedingt
recht, denn beim Essen ließ sich schlecht eine Befragung, gar etwas, was
einem Verhör näher kam, durchführen, aber er willigte ein, weil es ihm auf
englisch zu kompliziert schien, einen anderen Weg des Treffens zu
vereinbaren.
XIII

Arrowsmith hatte ihm den Namen eines Restaurants in Soho genannt.


Nachdem er sich geduscht und wieder etwas hergerichtet hatte, fuhr
Ellwanger im Taxi zu der angegebenen Adresse. Wieder einmal war er zu
früh. Aber das erlaubte es ihm, die Lokalität in Augenschein zu nehmen
und sich innerlich auf Arrowsmith vorzubereiten. Es war ein chinesisches
Restaurant. Kein allzu kitschiges mit goldenem Drachendekor aus
Pappmaché und lackierten Hühnern im Schaufenster, sondern eines mit
zurückhaltender Ausstattung, das sich auf eine vermögende Klientel
spezialisiert hatte. Als Ellwanger kam, war es bereits gut gefüllt.
Arrowsmith hatte zwei Plätze mit Blick auf die Straße reserviert.
Es hatte wieder zu schneien begonnen. Ellwanger sah die Flocken leicht
schräglings hinter der Scheibe vorbeitrudeln und allmählich den Gehsteig
bedecken. Schneeflocken beim Fallen zuzusehen tröstete ihn ungemein.
Schneeflocken übten auf ihn eine meditative Wirkung aus. Ach was,
Leichen! Wer wann wie warum gestorben war, das war dem Schnee
gleichgültig. Und ihm ging es genauso, wenigstens so lange, wie er sich am
Gestöber der Flocken erfreute. Er hatte Mühe, sich von dem Anblick
loszureißen und bei dem schmächtigen Kellner, der ihn erwartungsvoll
ansah, zunächst einmal nichts weiter als einen grünen Tee zu bestellen.
Arrowsmith kam eine Viertelstunde später, mit beschneitem Kopf und
beschneiten Schultern, er sei aufgehalten worden, wie er beteuerte, während
er sich den Mantel vom Leib zerrte, was Ellwanger nicht ganz glaubte, weil
Frau Kirchschlager ihm erzählt hatte, Arrowsmith sei die Pünktlichkeit in
Person. Vielleicht brachte er auf diese Weise seinen Ärger zum Ausdruck,
zu einer Verabredung gezwungen worden zu sein, die ihm nicht behagte.
Ellwanger war in keiner Weise verstimmt. Er habe die Hände am grünen
Tee gewärmt und sich bei der Betrachtung des Schneetreibens da draußen
gut unterhalten, erklärte er ohne Groll.
Arrowsmith sagte dazu erst einmal so gut wie nichts, er lächelte ein
bißchen verquält und griff nach der Speisekarte, die ihm der Kellner reichte.
Es dauerte, bis er sich dazu entschließen konnte, ebenfalls einen grünen Tee
zu bestellen, dann empfahl er die Hongkong-Ente auf Bambussprossen. Das
Gespräch kam etwas schleppend in Gang, weil Arrowsmith sich diesmal
nur zögernd dafür hergab, Ellwangers Satzbrocken in korrekte Formen zu
überführen. Aber Ellwanger war bester Stimmung, und nach einigen
wenigen Floskeln über das Restaurant und über das Schneewetter da
draußen zielte er direkt ins Herz der Sache: er, Arrowsmith, sei mehrfach
gesehen worden im Hafen von Southampton, in dem Areal, wo Vickys Boot
gelegen habe.
Arrowsmith sah ihn kurz irritiert an, dann besann er sich.
Darum gehe es also, er habe sich schon darüber gewundert, weshalb ihn
Ellwanger so dringend habe sprechen wollen. Nun, das könne er erklären.
Er sei dort hin und wieder mit seiner Schwester verabredet gewesen, die im
Hafen auch ein Boot zu liegen habe. Und ja, Larson sei ihm dabei vielleicht
ein- oder zweimal begegnet. Von Catherine sagte er kein Wort, und
Ellwanger fragte auch nicht danach.
Als das Essen kam, war der Anlaß der Befragung schon geklärt.
Ellwanger wagte sich nun an etwas diffizilere Dinge. Was für einen
Eindruck Vicky auf ihn gemacht habe? Was für eine Person sei sie
gewesen? Vor der Ehe? Während der Ehe?
Arrowsmith antwortete nicht sofort. Geschickt faßte er mit den Stäbchen
ein glitschiges Bambusstück und praktizierte es in den Mund. Ellwanger
hielt eine Gabel in Händen, weil er mit den Stäbchen nicht zurechtkam.
Vicky sei ihm sympathisch gewesen, erklärte Arrowsmith, a very kind
sweet person. Sympathie könne man nicht erklären. Die meisten Leute
hätten Vickys Charakter aber nicht erkennen können, weil sie ziemlich
verschlossen gewesen sei. Er selbst habe sie auch nicht näher gekannt. Und
über die Ehe habe sie nie mit ihm gesprochen. Er habe sie mit Larson viel
zu selten zusammen gesehen, um darüber wirklich urteilen zu können.
Catherine wisse darüber wahrscheinlich mehr. Aber nein, richtig glücklich
habe Vicky schon nach einem Jahr nicht mehr gewirkt. Doch, wie gesagt, er
könne das nicht beurteilen. Ihm habe sie sich nie anvertraut.
Wirkte Vicky auf Männer attraktiv?
Arrowsmith wurde durch die Frage leicht aus seinem bisher flüssig
vorgetragenen Konzept gebracht. Da kenne er sich nicht aus, da müsse
Ellwanger andere Leute befragen.
Ellwanger lachte: »But you are a man.«
Arrowsmith sagte dazu nichts, sondern traktierte ein Stückchen
glänzendes Entenfleisch und überging die Bemerkung. Er bedaure, daß er
so wenig zur Aufklärung des Falles beitragen könne, er wäre ja sehr gern
behilflich. Aber er wolle keine Vermutungen äußern, durch die Ellwanger
vielleicht auf eine falsche Fährte gelockt würde.
Diesbezüglich konnte Ellwanger ihn beruhigen. Er werde ständig auf
falsche Fährten gelockt, sagte er vergnügt, das gehöre zu seinem Beruf, aber
mit der Zeit sortiere sich das Richtige und das Falsche, es sei bisher
jedenfalls immer so gewesen.
»Always?«
»I'm always looking forward into the complicated and dark sides of life.«
Ellwanger wußte nicht so genau, ob man in die dunklen komplizierten
Seiten tatsächlich ›vorwärts‹ hineinschaute, aber das Sätzlein kam ihm
gelungen vor. Vielleicht verhalf ihm die schlichte Tatsache, daß er
jemanden verhörte, wenn auch in einem Lokal und mit gebotener
Rücksicht, zu einer Überlegenheit, die automatisch zu einem etwas
flüssigeren Englisch führte.
Flüssig oder stockend, mehr war aus Arrowsmith nicht herauszuholen.
Der Mann entglitt ihm, vielleicht war er tatsächlich in Vicky verliebt
gewesen, das würde seine Zurückhaltung erklären. Aber als einen
Mordverdächtigen konnte Ellwanger ihn deshalb nicht auf seine innere
Agenda setzen.
Ellwanger bat ihn, ihm morgen zu helfen. Arrowsmith willigte sofort ein.
Jetzt schien er auf sicherem Terrain, seine freundliche Art gewann wieder
die Oberhand. Von Trevillyan war ihm ja ohnehin aufgetragen worden, dem
Detektiv zur Seite zu stehen. Ellwanger wollte überprüfen, ob das Alibi von
Larson für den fraglichen Abend tatsächlich ausschloß, daß er seine Frau
getötet haben konnte. Wußte Arrowsmith, wer ihn in der Oper gesehen
haben wollte?
Es waren die netten Parkers, die Ellwanger schon kannte. Arrowsmith
versprach, für morgen einen Termin mit den Parkers auszumachen, sie
würden beide dort vorbeigehen, um deren Zeugenaussage noch einmal
durchzusprechen.
An besagtem Samstag abend war der Tannhäuser gegeben worden, und
der dauerte erfahrungsgemäß über drei Stunden. Zwei Pausen lagen
dazwischen, in denen sich der Mann unbemerkt hätte entfernen können.
Das Treffen mit den Parkers fand am nächsten Nachmittag statt. Sie
wohnten in derselben Straße wie Trevillyan, nicht weit von dessen Haus
entfernt. Der Eingang war jedoch um einiges spektakulärer. Marmor in
verschiedenen Farbgebungen, ein riesiger Spiegel aus Rechtecken, die
einzelnen Teile mit jeweils vier vergoldeten Schmuckhaltern an der Wand
befestigt. Im Aufzug merkte Ellwanger zum ersten Mal, daß Arrowsmith
ziemlich parfümiert roch. Zu aufdringlich für seinen Geschmack.
Auch in dieser Wohnung öffnete ihnen ein schwarzer Butler die Tür,
diesmal allerdings kein Hüne, sondern ein drahtiger kleiner Mann.
Der Raum hatte nicht die altmodisch gediegene Atmosphäre wie bei
Trevillyan, an den Wänden hing moderne Kunst. Riesige Leinwände,
quietschbunt. Man wurde von den Farben angeschrien. Ellwanger kamen
solche im Eiltempo hingehauenen Gemälde immer wie entgrenzte
Kindergartenkunst vor, aber er behielt seine Weisheit lieber für sich. Die
Parkers saßen bereits in ihrem Salon und erhoben sich gleichzeitig, um die
eintretenden Gäste zu begrüßen. Er schlank und groß. Sie schlank und
klein. Ein kleines Gebirge aus Petits fours wartete auf der Tisch-Etagere. Es
gab Kaffee aus einer rechteckigen Kanne mit forschem Schnäuzchen und
die obligatorische Zuckerzwickzange. Am Henkel eines schnittigen
Gebildes, mit dem man jedes Silberdosenrennen hätte gewinnen können,
harrte sie ihrer Aufgabe.
Wenn Ellwanger sprach, fand auf der Stirn des alten Parker wieder das
sorgenvolle Geburtshilfetheater statt. Redete Arrowsmith, blieb sie glatt wie
ein Kinderpopo. Die Parkers waren perfekt aufeinander eingestimmt. Sie
ein Sätzchen. Er ein Sätzchen. Sie ein Sätzchen. Er ein Sätzchen. Ellwanger
konnte sich nur mit Mühe des Gedankens erwehren, daß sie – wenn sie es
überhaupt taten – sehr zuvorkommend miteinander kopulierten.
Natürlich haben wir Larson gesehen – Darling, du erinnerst dich doch
auch? – We both remember him perfectly well – Aber ja, gleich mehrmals
haben wir ihn gesehen – Und zwar recht lange – Vor dem ersten Akt und
nach dem zweiten Akt und beim Hinausgehen – Ich glaube, ich habe ihn in
der Pause nach dem ersten Akt noch mal gesehen, aber nur von fern – Und
wir haben das auch schon zu Protokoll gegeben – Jedenfalls haben wir
zweimal mit ihm gesprochen – Und ihm einmal zugewinkt, ohne mit ihm zu
sprechen – Eine Verwechslung ist völlig ausgeschlossen – So jemanden
kann man gar nicht verwechseln – Es war gleich am Anfang, als wir im
Vestibül noch ein bißchen herumstanden – Und nach dem dritten Akt, als
wir uns über die Aufführung unterhielten – Die im übrigen ziemlich
gelungen war – He must have seen the performance – Larson war noch
ganz erfüllt davon – Besonders von der großen Szene im Venusberg –
Spectacular, it was spectacular! – Sowohl die Sänger als auch das
Bühnenbild – Es war ja die Premiere gewesen – Larson mußte das alles
gesehen haben – Er sprach wirklich sehr inspiriert darüber – undsoweiter
undsofort …
Ellwanger interessierte sich wenig dafür, wie die Aufführung gewesen
sein mochte, wie viele Leute aus dem Venusberg gequollen waren, ob das
Herumgetanze in dem verdammten Berg nun gelungen war oder nicht, ob
die Kostüme fleischfarben waren oder lachsrosa; Richard Wagners Opern
waren ihm ziemlich egal. Aber daß die beiden Parkers Larson gesehen
hatten, und nicht nur bevor die Aufführung losging und sie miteinander das
Foyer verließen, das interessierte ihn. Larson hatte allerdings woanders
gesessen, wo genau, wußten sie nicht.
Im übrigen glaubten die Parkers keineswegs, daß Larson mit dem Tod
seiner Frau etwas zu tun haben könnte, er sei ein echter Gentleman, er habe
sich ihnen gegenüber immer tadellos benommen. He's always been very
nice – very, very nice indeed. Das Loblied über Larson erfolgte in mehreren
Etappen, ebenfalls im Duett. Um sich davon etwas zu erholen, verzehrte
Ellwanger ein rosafarbenes Petit four mit einer silbernen Schmuckperle
obenauf. Er hätte es besser nicht gegessen. Es war ihm zu süß. Und die
Schmuckperle war ein echter Plombenzieher, sobald man sie zerbiß.
Noch im Aufzug fragte ihn Arrowsmith, was er von den Aussagen der
Parkers hielt. Ellwanger kamen sie hieb- und stichfest vor, und wenn man
nicht unterstellte, daß bei der New Yorker Polizei lauter leichtgläubige
Trottel arbeiteten, die nicht in der Lage waren, so etwas genauer
nachzuprüfen, mußte man wohl akzeptieren, daß Larson seine Frau schlecht
selbst umgebracht haben konnte. Im Falle einer schwerreichen jungen Lady
mit einem Habenichts als Mann durfte man annehmen, daß die Polizei
ziemlich sorgfältig recherchiert hatte. Dafür hatte bestimmt auch der alte
Trevillyan gesorgt. Trotzdem war nicht auszuschließen, daß Larson
vielleicht jemanden für den Mord angeheuert und sich selbst ein tadelloses
Alibi verschafft hatte. Wenn es denn ein Mord war. Ellwanger zwang sich
immer wieder dazu, den Gedanken mitzudenken, daß es auch ein Suizid
gewesen sein konnte.
»Wie weit ist es denn, schätzen Sie, von der Met bis zur Wohnung von
Larson?«
»Vielleicht fünfzehn Minuten zu Fuß, mehr nicht.«
Das entsprach ungefähr Ellwangers Berechnungen. Wenn die New
Yorker Polizei nicht genügend Leute ausfindig gemacht hatte, die bestätigen
konnten, daß Larson der Aufführung lückenlos gefolgt war, konnte man ihn
als Verdächtigen nicht ausschließen.
Arrowsmith blies seinen warmen Atem in die kalte Luft. Draußen behielt
er die Hände in den Taschen, weil er fror. Die letzten Strahlen der Sonne
verzogen sich gerade hinter den Central Park.
Ellwanger bat Arrowsmith, Trevillyan auszurichten, daß er morgen
vorbeikomme, um ihn über den Stand seiner Ermittlungen in Kenntnis zu
setzen – von den mageren Ergebnissen, hatte er noch hinzufügen wollen,
aber er behielt den Halbsatz für sich, weil ihm das Wort mager auf englisch
nicht einfiel. Vielleicht war es auch besser, vor Arrowsmith nicht damit
herauszurücken, wie kümmerlich und unausgegoren alles war, was er bisher
zusammengetragen hatte.
Als er wieder im Hotel angelangt war, rief ihn Frau Kirchschlager an.
»Na, wie ging's? Gibt's was Neues?«
»Nicht wirklich. Die Parkers haben Larsons Alibi so ziemlich bestätigt,
zumindest solange man das nicht genauer nachprüft, und Arrowsmith
mußte ich als Verdächtigen wieder vom Haken nehmen. Er hat seine
Schwester auf Long Island besucht, die in Southampton ein Boot hat. Das
erklärt, weshalb ihn der Wächter dort auf dem Photo erkannt hat. Das hat
Ihnen Sepp doch erzählt, oder?«
»Hat er. Aber was soll das mit der Schwester?«
»Wieso?«
»Er hat keine Schwester.«
»Ich habe ihn damit konfrontiert, daß er dort gesehen wurde, und er hat
behauptet, er hätte eine.«
»Ich glaube, er hat keine.«
»Was? Woher wollen Sie das so genau wissen?«
»Bevor ich hier dummes Zeug in die Welt setze, frage ich lieber noch mal
nach. Im Museum arbeitet eine entfernte Verwandte von ihm. Die müßte es
wissen.«
Um sich aufzuwärmen, legte sich Ellwanger in die Badewanne. In der
Wanne konnte er entspannt nachdenken, während er die Schauminseln hin-
und herschob. Arrowsmith verliebt, Arrowsmith nur ein bißchen mitleidig,
Arrowsmith desinteressiert. Larson vielleicht nur ein gewöhnlicher
Mitgiftjäger, der sich an der Schwester seiner ungeliebten Frau schadlos
hielt. Allzu weit reichten Ellwangers Gedanken allerdings nicht. Wenn
Arrowsmith tatsächlich keine Schwester haben sollte, rutschte er als
Verdächtiger auf der Liste ganz weit nach oben. Aber was für ein Motiv
sollte er gehabt haben? Und warum hatte er eine so saudumme Lüge
aufgetischt? Das mit der Schwester ließ sich ja leicht nachprüfen. Als
verschmähten Liebhaber, der die Tochter seines Chefs umgebracht hatte,
konnte er sich den Mann aber nach wie vor nur schwer vorstellen. Nach
einer halben Stunde stieg er aus der Wanne und hüllte sich, noch etwas
feucht, in den Bademantel mit dem aufgestickten Pierre-Wappen, da rief die
Kirchschlagerin wieder an.
»Er hat keine!«
»Tatsächlich?«
»Definitiv nicht.«
»Und die Frau ist sich da sicher?«
»Ganz sicher. Und sie hat mir auch sonst noch interessante Dinge über
ihn erzählt. Offenbar ist er ein Adoptivkind. Wurde von einem älteren
kinderlosen Ehepaar adoptiert, weil seine eigene Mutter ihn ausgesetzt
hatte. Sie war angeblich eine Fixerin, ist schon lange tot.«
»Dann könnte er aber vielleicht von der toten Mutter eine Schwester
haben und hat mit seinen Adoptiveltern nicht darüber gesprochen.«
»Eher unwahrscheinlich. Er muß ziemlich intensiv Verwandtenforschung
betrieben haben und hat wohl auch des öfteren davon erzählt. Keine
Schwester. Kein Bruder. Nur die tote Fixerin. Vater unbekannt. Wird
irgendein Freier gewesen sein, denn sie ging auf den Strich.«
»Leben seine Adoptiveltern noch?«
»Nein, die Mutter ist letztes Jahr gestorben, der Vater ist schon eine
ganze Weile tot. Die beiden waren ja relativ alt. Sie sollen sich übrigens
rührend um ihn gekümmert haben. Nach allem, was ich zu hören bekam,
muß er es dort gut gehabt haben. Was natürlich nicht allzu viel besagt.
Adoptivkinder sind manchmal auch so ziemlich verrückt.«
Das änderte alles. Ein erwachsener Mann, der sich eine Schwester erfand,
war entweder nicht ganz bei Trost, oder er hatte etwas Schwerwiegendes zu
verbergen. Gut möglich, daß er als Adoptivkind die frühe Erfahrung des
Ausgesetztseins nie losgeworden worden war und deshalb unberechenbar
reagierte, wenn eine Frau ihn verschmähte. Vielleicht war er wirklich in
Vicky verliebt gewesen, und sie hatte ihn abblitzen lassen. Vielleicht war er
an besagtem Abend zu ihr gegangen, um ihr von der Affäre Larsons mit
Catherine zu erzählen. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht. Alles nur
Spekulation. Aber doch formte sich in Ellwanger allmählich ein lupenreines
Mordmotiv, während er auf dem Bett lag und vor sich hin sinnierte.
Natürlich kein geplanter Mord, sondern einer aus dem Affekt heraus, weil
Vicky über seine Enthüllungen vielleicht nicht sonderlich erbaut war und
ihn hinauswerfen wollte. Aber wie sollte das gegangen sein? Wann hatte sie
die Schlafmittel geschluckt? War er zurückgekehrt und hatte sie dann erst
von der Terrasse geworfen, nachdem sie die Mittel selbst eingenommen
hatte? Das wäre dann wiederum kein Affekt, sondern eine vorsätzliche Tat.
Und sehr wahrscheinlich war es auch nicht. Oder war er zurückgekehrt, um
sich zu entschuldigen, und sie hatte die Mittel gerade zu sich genommen?
Dann wäre sie allerdings rasch sediert gewesen und hätte keinen Anlaß für
neuen Streit geboten. Lauter krudes Zeug und nicht den Fitzel eines
Beweises. Wie er es auch drehte und wendete, Ellwanger wurde aus der
Sache einfach nicht schlau.
Sein größtes Problem bestand allerdings darin, wie er Trevillyan
begegnen sollte. Er hatte nichts Handfestes zu bieten, absolut nichts. Nichts
als wilde Spekulationen, mit denen man einem Auftraggeber möglichst
nicht kommen sollte. Über diesem unangenehmen Gedanken dämmerte er
allmählich weg, bis ihn ein weiterer Anruf weckte.
XIV

Damit hatte er nicht gerechnet. Er erkannte die Stimme sofort, der Mann
hätte nicht mal seinen Namen nennen müssen. Eine angenehme Stimme,
nicht aufdringlich, nicht hektisch, sondern überlegen, freundlich, ruhig. Die
Seelentrösterstimme begann sich dafür zu entschuldigen, daß sie ihm
neulich abends keine Zeit habe widmen können. Aber nun wolle sie das
gerne nachholen, wenn der deutsche Freund der Frau Kirchschlager es
gestatte.
Ellwanger war viel zu verblüfft, um eine annehmbare Antwort
herauszubringen. Am Telephon war sein Englisch noch schlechter als sonst.
Der Mann am anderen Ende der Leitung schlug ein Treffen vor – falls
Ellwanger für diesen Abend noch nichts vorhabe, könne es auch gern heute
sein. Ellwanger willigte ein, einfach weil er nicht recht wußte, wie ihm
geschah. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, die Verabredung auf
morgen zu verschieben, aber es ging alles so schnell. Ellwanger notierte die
Adresse, dann war das Gespräch auch schon zu Ende. Er hatte sich nicht
einmal mehr für die Einladung bedanken können.
Vor lauter Aufregung warf er sich wieder aufs Bett, hielt es dort aber
nicht lange aus, sondern lief im Zimmer auf und ab. Weshalb dieser Anruf?
Was sollte das? Er konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf
machen. Um seiner Erregung Herr zu werden, wählte er die Nummer der
Kirchschlagerin, legte aber sofort wieder auf, weil es ihm verfrüht schien,
ihr von der seltsamen Einladung zu erzählen.
Er beschloß, zu Fuß zu gehen. Es hatte wieder zu schneien begonnen,
und er lieh sich vom Hotel einen Schirm, denn als Schneepudel wollte er
bei Larson nicht aufkreuzen. Der Portier unter dem Baldachin hob die Arme
und murmelte etwas, das sich wahrscheinlich aufs Wetter bezog. Die
Flocken fielen in dichten Reihen, als wären sie bestrebt, in dieser Nacht
ganz New York unter sich zu begraben. Wegen des weißen Getreibes waren
die Straßen verstopft. Die Taxis kamen nur langsam voran, sie schlichen
mehr durch die Winternacht, als daß sie fuhren; einige von ihnen hatten
bereits eine ziemliche Ladung Schnee auf dem Dach, und ihre
Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren. Ellwanger liebte dramatische
Wetterlagen, er liebte das Knirschen des Schnees unter seinen Schuhen, er
war aufgekratzter Stimmung und schritt kräftig aus. Störend war nur, daß er
alsbald feuchtkalte Füße bekam, als er es diesmal wagte, quer durch den
Central Park zu gehen. Der Schnee lag auf den Wegen schon ziemlich hoch.
Er hatte Schwierigkeiten, in der Neunundsechzigsten Straße die
Hausnummern zu erkennen. Zuerst war er auf der falschen Seite marschiert,
mußte umkehren und ein Stück zurücklaufen. Es dauerte, bis er vor dem
richtigen Haus stand. Es war nicht allzu groß, jedenfalls kein
mehrgeschossiges Mietshaus. Dem Namensschild war zu entnehmen, daß
hier nur eine Partei wohnte. Aus einigen der Fenster drang warmes,
diskretes Licht. Kleiner Vorgarten mit kugeligen Büschen unter einer
weißen Decke, davor ein elegant geschwungenes Tor mit weißem Besatz
auf den gebogenen Eisenstreben. Ellwanger klingelte, es dauerte eine Weile,
bis der Summer ertönte. Dann stand Larson im beleuchteten Eingang und
winkte ihn herein.
Ellwanger klopfte an der Schwelle den Schnee von seinen Schuhen. Der
Hausherr half ihm aus dem Mantel, schüttelte die Flocken davon ab und
versorgte seinen Schirm.
»That's quite some weather we're having, isn't it?« sagte er freundlich
und ließ Ellwanger ins Wohnzimmer vorausgehen. Ein Raum mit zwei
Abteilungen, in dem man sich sofort wohl fühlte, nicht klein, nicht allzu
groß. Im Kamin brannte ein Feuer. Larson bot ihm einen Sessel davor und
einen Drink zum Aufwärmen an. Eine interessante Flasche erregte
Ellwangers Interesse – ein Meukow Extra Old Cognac mit springendem
Raubtier auf dem Etikett. Ein echter Aufmerksamkeitsfänger, wie er da so
als Prachtstück neben zwei Gläsern auf dem Beistelltisch stand. Weil
Ellwanger zunächst einen klaren Kopf behalten wollte, bat er jedoch um ein
Glas Wasser. Das Wetter habe ihn etwas durstig gemacht. Ein alkoholisches
Getränk würde er später allerdings gern zu sich nehmen.
Wahrlich, in so einem Gehäus ließ es sich leben. Für einen Augenblick
dachte Ellwanger an seine niedrigen Zimmerchen in Solln und empfand
Neid. Obwohl exquisite Antiquitäten und auch einige moderne Möbel
herumstanden, wirkte der Raum nicht überstopft. Besonders schön war ein
chinesischer Schrank mit kleinen quadratischen Schubfächern, lackiert in
Dunkelgrün und Braun, versehen mit Schriftzeichen auf jeder Lade. Larson
paßte perfekt in diese Umgebung. Er war heute leger gekleidet, trug einen
dunkelgrauen Pullover über dem Hemd und eine dunkle Hose. Der Saum
seines blonden Haares leuchtete, als würden sämtliche Glühbirnen speziell
für ihn ihr Licht spenden. Es war schwer, den Blick von ihm abzuwenden.
Die modernen Gemälde an den Wänden waren von ganz anderer Qualität
als das, was Ellwanger bei den Parkers gesehen hatte. Das sommerflirrende
Porträt einer lasziven Frau in einem Korbstuhl begeisterte ihn. Ellwanger
stand auf und bat um die Erlaubnis, das Bild näher betrachten zu dürfen. Sie
hatte ein helles Kleid an, saß mit schlanken entblößten Armen im Garten
und trug einen Strohhut auf dem Kopf. Ihre braunen Augen blickten ein
wenig skeptisch, trotzdem schien die Frau mit sich im reinen zu sein, und
der Maler hatte offenbar Vergnügen daran gehabt, ihre Schönheit zur
Geltung zu bringen.
Larson erklärte ihm, daß es sich um die Mutter seiner verstorbenen Frau
handele. Er habe sie leider nicht mehr kennengelernt, Vicky sei ja als
Halbwaise aufgewachsen, aber dem Porträt nach zu urteilen, müsse sie
sympathisch gewesen sein. Dem konnte Ellwanger beipflichten. Catherine
war dunkler geraten als ihre Mutter, Haare und Augen der Frau im Bild
waren heller als diejenigen Catherines.
»Sah Ihre Frau ihrer Mutter ähnlich?« fragte Elwanger.
»Nicht ganz. Beide Töchter sind anders, sie haben beide auch etwas vom
Vater. Im Falle meiner Frau muß ich wohl leider sagen: sie hatte.«
»Jedenfalls ist das ein sehr schönes Bild«, sagte Ellwanger, »ich wundere
mich, daß Trevillyan es Ihnen überlassen hat.«
Larson lachte. »Nun, er besitzt mehrere Porträts seiner Frau, und sie sind
alle ziemlich gut. Da konnte er auf eines verzichten und es seiner Tochter
schenken. Aber falls er es wiederhaben möchte, gebe ich es ihm natürlich
zurück.«
Die Herren setzten sich wieder an den Kamin, Larson gab sich ganz als
der zuvorkommende Schwiegersohn, der dem alten Trevillyan keinen Ärger
bereiten wollte. Dann driftete das Gespräch in eine andere Richtung. Larson
fragte Ellwanger, ob er häufiger in New York sei. Nein, zum ersten Mal,
und zwar auf Einladung seiner Vermieterin. Eine Vermieterin, wie man sie
sich nur wünschen könne – zugewandt, herzlich, er scheue sich nicht zu
sagen, Frau Kirchschlager sei ein guter Mensch. Das mit dem guten
Menschen kam etwas komisch heraus, denn Ellwanger sprach von einem
good fellow, merkte aber den Unsinn, den er da zusammenredete, und
entschuldigte sich für sein miserables Englisch.
Larson antwortete sehr verbindlich, daß er selbst überhaupt kein Deutsch
könne, die Amerikaner seien leider ziemlich sprachfaul, und er sei auch so
ein sprachfaules Exemplar. Sein Vater sei Norweger gewesen, und einige
norwegische Wörter seien deshalb bei ihm hängengeblieben, aber keine
Rede davon, daß er das Norwegische beherrsche. Ein klein bißchen
Französisch könne er, aber ebenfalls sehr schlecht, und einige Brocken
Spanisch, weil man es hier oft mit spanisch sprechenden Hausangestellten
zu tun habe. Er war so höflich, Ellwangers Englisch zu loben, das so
fürchterlich gar nicht sei, wie er, Ellwanger, tue; wenn er ein bißchen länger
hier wäre, würde es sicher bald recht flott damit gehen.
Mit solchen Nichtigkeiten vertrieben sie sich die Zeit. Ellwanger trank
aus seinem Wasserglas.
Dann fragte ihn Larson nach seinem Beruf. Ellwanger antwortete
wahrheitsgemäß, daß er Kriminalkommissar sei, vielmehr gewesen sei,
denn derzeit sei er außer Dienst. Larson zeigte sich interessiert, das sei
sicherlich ein sehr spannender Beruf.
»Selten«, sagte Ellwanger, »die meiste Zeit verbringt man in einem
muffigen Büro und hat einen Berg Papier vor sich liegen.«
»Aber Sie müssen doch ein guter Menschenkenner sein, um so einen
Beruf auszuüben.«
»Darauf verläßt man sich besser nicht. Allein damit kann man einem
Verbrecher nicht beikommen.« Ellwanger sagte only with that you can't
come along with a criminal, und er wußte sofort, daß das grottenfalsch sein
mußte, aber Larson schien zu verstehen, was er meinte.
»Und was führt Sie nach New York?«
»Meine Vermieterin hat mich hierher gelockt, und ich bin ihr sehr
dankbar, daß sie so hartnäckig gewesen ist.«
»Es war nicht zufällig mein Schwiegervater, der alles arrangiert hat?«
»How did you come to this idea?« Das war reinstes Lübke-Englisch,
Ellwanger war sich im klaren darüber, aber das war nun seine geringste
Sorge.
Larson lächelte und schaute gedankenverloren auf sein Glas mit dem
bernsteinfarbenen Meukow. Dann sah er Ellwanger direkt in die Augen:
»He thinks that I killed his daughter.«
In Ellwanger Kopf ging ein Blitzgewitter nieder. Die widersprüchlichsten
Antworten schwirrten in seinem Kopf. Der Kerl wußte also genauestens
Bescheid. Mit Ausreden war hier nichts zu gewinnen.
»Und, haben Sie es getan?« fragte Ellwanger zurück. Es klang hart und
klar.
Larson senkte den Kopf und sah wieder auf seinen Cognac. Er sprach
etwas stockend, mit einer melancholischen Note. Daß ein so schwerreicher
Mann wie sein Schwiegervater einen solchen Verdacht hege, könne er
verstehen. Aber nein, er habe Vicky nicht getötet. Impossible. Dieses
impossible wiederholte er gleich mehrfach, drehte das Glas in seiner Hand
und wiegte dazu den Kopf hin und her.
Dann blickte er wieder auf. Er müsse sich vorwerfen, daß Vicky mit ihm
vielleicht nicht sonderlich glücklich gewesen sei und er ihre tiefe
Verzweiflung nicht erkannt habe. Er gebe auch zu, das Geld habe bei der
Heirat für ihn eine gewisse Rolle gespielt. Im Vergleich zu seiner Frau sei er
ja ein armer Schlucker gewesen. Aber trotz allem – er habe Vicky sehr
gemocht, vielleicht nicht unbedingt heiß begehrt, das wohl weniger, aber sie
sei ein äußerst freundlicher, großzügiger Mensch gewesen, völlig
undenkbar, ihr etwas anzutun.
»I miss her, I really miss her, I owe her so much, it's difficult to explain.«
Das klang überzeugend. Es wurde auch nicht wie am Schnürchen
heruntergespult, dazwischen machte Larson Pausen, einige Worte hingen in
der Schwebe – kind, friendly, generous –, weil es ihm offenbar schwerfiel,
die Sätze korrekt zu beenden. Seine Stimme war belegt, er redete wie
jemand, der intensiv über etwas nachgrübelte, ohne die passende Antwort
zu finden; als müsse er sich über etwas klarwerden und sehe doch nur alles
verschwommen, fast, als wäre da außer ihm selbst niemand im Raum.
Ellwanger war sich sicher: der Mann trauerte um seine Frau. Daß er sie
umgebracht haben könnte, rückte in weite Ferne.
Dann riß sich Larson zusammen und sah Ellwanger an. Er sprach wieder
mit klarer Stimme. Daß alle Leute um seinen Schwiegervater herum ihm
gegenüber mißtrauisch seien, wisse er, auch habe er mal im Vorbeigehen
von dessen Sekretär eine Bemerkung aufgeschnappt, die klarmachte, daß
man ihn für den Mörder seiner Frau hielt und Erkundigungen über ihn
einzog. Wahrscheinlich habe Trevillyan mehrere Leute auf ihn angesetzt. Er
hoffe nur, daß dieser Alptraum bald vorüber sei.
»Gab es denn Anzeichen dafür, daß Ihre Frau vorhatte, sich
umzubringen? Hat sie solche Absichten jemandem gegenüber geäußert?«
»Mit mir hat sie jedenfalls nicht darüber gesprochen. Ich merkte schon,
daß sie bedrückt war. Aber ich hielt es für eine leichte Verstimmung.
Generell kam sie sich wohl ziemlich nutzlos vor. Sie suchte nach etwas, das
ihrem Leben einen Sinn hätte geben können.«
»Hätte sie gern Kinder gehabt?«
»Ja, das hätte sie. Aber Vicky konnte nicht schwanger werden. Wir haben
schon überlegt, vielleicht ein Kind zu adoptieren.«
Larson wirkte immer noch ruhig, sehr besonnen, ein Mann, der grübelte,
was er falsch gemacht haben könnte. Keine Spur von Ärger darüber, daß ein
Kriminalkommissar, den er selbst als Gast hergebeten hatte, ihn in seinem
eigenen Haus einem kleinen Verhör unterzog. Ellwanger vermutete sogar,
daß er ganz gern mit einem Fremden darüber redete. Ein allzu
vertrauensseliger Typ war er normalerweise gewiß nicht. Daß sein
Kinderwunsch besonders heftig ausgeprägt gewesen war, konnte Ellwanger
allerdings nicht feststellen.
Larson stellte sein leeres Glas auf dem Beistelltisch ab: »Ich könnte jetzt
was zu essen gebrauchen. Ich habe uns eine Kleinigkeit vorbereitet,
kommen Sie, setzen wir uns an den Tisch, dann können wir uns weiter
unterhalten.«
Im hinteren Bereich des Wohnzimmers ging es eine Stufe empor. Dort
stand ein einfacher Holztisch mit schöner Maserung. Der Tisch war für
zwei Leute gedeckt. Eine Salatschüssel und etwas Brot standen schon da.
Eine Flasche dekantierten Rotweins lag etwas schräg in einem Ständer.
Larson bat Ellwanger, an der Stirnseite Platz zu nehmen.
»Sie nehmen doch Rotwein? Oder soll ich etwas anderes holen?«
Ellwanger war mit Rotwein sehr zufrieden. Nach dem Etikett zu
schließen wahrscheinlich ein edler kalifornischer Wein, aber Ellwanger
verstand nichts von Weinen, deshalb unterließ er es, danach zu fragen.
Larson füllte die bauchigen Gläser, füllte auch die französischen
Bistrogläser mit Wasser, leerte eine kleine Schüssel mit Soße über dem
Salat aus und wendete die Blätter um. Er hob das Glas auf ihr beider Wohl,
kehrte dann nochmals in die Küche zurück, um nach dem Fleisch zu sehen.
Als er wieder ins Wohnzimmer kam, hatte er seinen Wein schon zur Hälfte
getrunken.
Larson schob die Salatschüssel und das Brot in die Nähe seines Gastes.
»Greifen Sie bitte zu. Sie müssen natürlich keinen Salat essen, wenn Sie
nicht wollen. Manche Männer mögen ja keinen Salat. Aber ich kann Ihnen
versichern, es gibt nachher noch etwas Handfesteres.«
»Kochen Sie selbst?«
»Ein bißchen. Hin und wieder. In dem Fall hat meine Haushälterin den
Braten für uns vorbereitet. Und sie versteht etwas vom Kochen. Wir haben
sie von meinem Schwiegervater übernommen, als wir hierher gezogen sind.
Vicky wollte gern eine Person um sich haben, die sie von klein auf kannte.«
»Sie wohnt hier im Haus?«
»Nein, aber sie kommt viermal die Woche und sieht nach dem Rechten.
Im Moment hat sie mit mir allein nicht allzuviel zu tun. Als Vicky noch am
Leben war, haben wir öfter abends Gäste eingeladen.«
Obwohl Ellwanger tatsächlich kein großer Freund des Grünzeugs war,
schmeckte der Salat ziemlich gut. Der Rotwein kam ihm etwas herb vor,
aber da erlaubte er sich kein Urteil. Seine Ehemalige hatte sich weidlich
Mühe gegeben, ihn zu einem Weintrinker zu erziehen, weil sie das für
feiner hielt. Aber damit war sie ebenso gescheitert wie mit ihren anderen
Versuchen, aus ihm ein Wesen zu machen, das einer höheren Klasse
zuzuordnen war.
Larson verschwand wieder, um nach dem Braten zu sehen. Ellwanger
leerte sein Weinglas und lehnte sich zurück. In seinem Kopf begann es zu
flimmern, die Gedanken strudelten wild durcheinander, als er nach dem
Wasserglas greifen wollte, merkte er, daß sein Arm ihm nicht gehorchte. Er
schien schwerer geworden zu sein, schien ihm nicht mehr ganz zu gehören.
Larson kehrte mit einer Schüssel zurück ins Zimmer.
»I'm … I'm …« Das war so ziemlich alles, was Ellwanger herausbrachte.
Er hatte sagen wollen, es gehe ihm nicht so gut, ob er vielleicht ein Aspirin
haben könne oder etwas in der Art, denn schon das Wort Aspirin brachte er
gedanklich nicht ordentlich zuwege. Dann konnte er seine Augen nicht
mehr offenhalten und sackte zusammen.
Als er wieder aufwachte, war der Tisch leer bis auf eine Flasche und ein
Glas. Ellwanger konnte seine Beine nicht bewegen und seine Arme
ebensowenig. Er konnte den Kopf etwas drehen, aber auch das nur mit
Mühe. Irgend etwas hämmerte in seinem Schädel, zugleich wurde jeder
Schlag von etwas Wattigem erstickt. Vielleicht wurde da drin aber auch
bloß ein Lappen immer wieder aufs neue ausgewrungen.
Allmählich konnte er wieder so klar denken, daß er wußte, wo er war.
Dann erst merkte er, daß er Arme und Beine deshalb nicht regen konnte,
weil sie am Stuhl festgeschnürt waren. Dort, wo die Küche sein mußte,
summte jemand fröhlich vor sich hin. Nach einer Weile kehrte Larson ins
Zimmer zurück. Er hatte eine Küchenschürze umgebunden und trug
Gummihandschuhe, die er aber auszog und beiseite legte. Er goß sich ein
Glas Wein ein, beugte sich nieder und näherte sich Ellwangers Gesicht.
»So … let's see … are we awake yet?«
Ellwanger sagte nichts. Er versuchte krampfhaft, sich darauf zu besinnen,
was vorgefallen war. Wahrscheinlich herrschte immer noch Nacht. Das
elektrische Licht war angeschaltet; soweit er sehen konnte, waren die
Vorhänge fast alle zugezogen. Das Licht kam ihm greller vor als zuvor.
Langsam, mit schwerer Zunge und etlichen Pausen schlug er nach einiger
Zeit vor: »Den englischen Krampf können wir jetzt sein lassen.«
»Wo Sie recht haben, da haben Sie recht«, antwortete Larson in
tadellosem Deutsch. Inzwischen saß er entspannt auf seinem Stuhl.
»Sie machen einen schweren Fehler.« Noch immer sprach Ellwanger
gedehnt, als müsse jedes Wort erst gefunden und geformt werden. »Ich
hatte Sie schon vom Haken gelassen, von mir hatten Sie nichts mehr zu
befürchten.« Seine Handgelenke schmerzten, eines seiner Beine war
eingeschlafen. Die Gedanken krochen immer in dieselbe Richtung: gab es
irgendeine Chance, von diesem verdammten Stuhl wegzukommen?
»Das kann man auch anders sehen. Meine Mutter haben Sie jedenfalls
ausfindig gemacht, damit hatten Sie schon einiges gegen mich in der Hand.
Und das – nun ja, das konnte ich nun nicht auf sich beruhen lassen, das
werden Sie doch verstehen.« Sehr ruhig, sehr geduldig klang Larsons
Stimme, als müsse er einem Kind erklären, daß es ein kleines bißchen im
Unrecht war.
»Woher wissen Sie das?«
»Als Catherine mich Ihnen vorgestellt hat, habe ich den Braten gerochen.
Es war nicht schwer, in Erfahrung zu bringen, daß im Heim meiner Mutter
ein Mann aufgekreuzt ist, auf den Ihre Beschreibung haarscharf paßt.«
»Aus Ihrer Mutter war nichts herauszubekommen, jedenfalls nichts, was
Sie beide miteinander in Verbindung gebracht hätte.«
»Sie hätten es früher oder später rausgekriegt, so oder so.«
Ellwangers Handgelenke waren stramm an die Lehnen des Stuhls
gefesselt. Ihm waren nur winzige Bewegungen erlaubt. Zum Beispiel
konnte er den Kopf drehen und die Finger oder Zehen ein klein wenig
anheben. Mehr aber auch nicht. Kein schöner Gedanke, was alsbald auf ihn
zukommen mußte. Er würde irgendwo im amerikanischen Boden verscharrt
werden oder in einem amerikanischen See verschwinden oder im Atlantik.
Vielleicht entsorgte ihn Larson aber auch auf irgendeiner
heruntergekommenen New Yorker Straße und ließ es nach Raubmord
aussehen. Schußwaffe? Eher nicht. Der Knall konnte von den Nachbarn
gehört werden, und es gab eine Sauerei mit dem Blut. Messer? Auch nicht,
ebenfalls wegen der Sauerei. Wahrscheinlich würde Larson ihn mit dem
Stuhl nach hinten kippen und ersticken. Das wäre jedenfalls die sauberste
Methode.
So langsam war er wieder klar im Kopf, und das Sprechen fiel ihm
leichter.
»Ich hatte mir auf dem Münchner Waldfriedhof schon einen Platz
besorgt. Ich schätze es nicht, wenn man meine langfristigen Pläne
durchkreuzt.«
Larson lachte. Es klang gar nicht unangenehm, dieses kleine Lachen.
»Der Taxifahrer hat mich vor Ihrem Haus abgesetzt. Er wird sich an mich
erinnern und aussagen, wo ich ausgestiegen bin.«
»Nonsense. Sie sind gar nicht mit dem Taxi gekommen, Sie waren zu
Fuß. Und sind auf der falschen Seite entlanggelaufen.«
»Da müssen Sie mich ja mit dem Feldstecher beobachtet haben.«
»Exakt.« Und wieder erklang dieses kleine, gar nicht mal unangenehme
Lachen.
»Sie überlassen wohl nichts dem Zufall.«
»In solchen Fällen besser nicht.«
»Wie haben Sie das mit Vicky eigentlich hingekriegt? Aus der Oper
verschwinden und wieder rechtzeitig zurück sein? Oder haben Sie
jemanden dafür bezahlt, daß er Ihre Frau von der Terrasse wirft?«
»Nur ein Idiot läßt sich auf Mitwisser ein. So was nimmt man besser
selbst in die Hand. Es war nicht schwer, mich nach dem ersten Akt zu
entfernen und vor dem dritten wieder dort zu sein, um mit den Parkers ein
kleines Wichtigtuergespräch über den Tannhäuser zu führen.«
»Ich nehme an, bei Ihrem Englisch hat die Stirn des alten Parker sich
nicht in Falten geworfen.«
»Wieso sollte sie?«
»Meines ist so schlecht, daß seine Stirn dabei jedesmal aussieht wie bei
diesen chinesischen Hunden mit den Speckfalten. Sobald ich die Klappe
halte, ist sie wieder ganz glatt.«
Und wieder lachte Heiner Blaschke alias Paul Larson sein kleines
harmloses Lachen. Er nahm einen Schluck Rotwein.
»Der schmeckt übrigens tadellos. Schade, daß ich Ihren ein klein wenig –
na, sagen wir – mit was anderem versetzen mußte. Ich schätze, der war
deshalb nicht ganz so gut.«
»Ich trinke meistens Bier. Daß aus Ihrer Mutter nichts Vernünftiges
herauszubekommen war, habe ich ja schon erwähnt. Die lebt inzwischen
auf einem anderen Planeten. Nur beim Stichwort Heinerle ist sie kurz in
unserer Welt wiederaufgetaucht.«
Blaschke verzog keine Miene. Zu seiner Mutter wollte er sich
offenkundig nicht äußern.
»Ich habe mich übrigens gewundert, weshalb in Gerabronn kein
gescheites Photo von Ihnen aufzutreiben war, keine Karteikarte, nichts.«
»Das war alles andere als einfach. Vor einigen Jahren bin ich mal
inkognito zurückgekehrt und habe mich darum gekümmert. Für den Besuch
mußte ich ein bißchen mehr verändern als nur die Haare färben. Und meiner
Mutter durfte ich dabei nicht über den Weg laufen.« Von einem Augenblick
auf den andern sah der blonde Schönling nicht mehr strahlend aus, er
bekam etwas Bekümmertes und hockte weniger selbstgewiß auf seinem
Stuhl.
»Und was war mit Lightowler-Stahlberg?«
Die Frage belebte den Mann sofort wieder: »Wußt' ich's doch! Sie waren
mir auf den Fersen. Wie haben Sie das rausgekriegt?«
»Der Treuhänder, der das Vermögen Ihrer Mutter verwaltet, konnte sich
an die Überweisung und an den Namen des Argentiniers erinnern. Was
hatten Sie mit ihm zu tun?«
»Ich habe ein, fast zwei Jahre in Buenos Aires gelebt und war ganz gut
mit ihm bekannt, habe mit dem alten Herrn Schach gespielt und mal die
eine oder andere Besorgung für ihn erledigt.«
»Es ehrt Sie in gewisser Weise, daß Sie dabei an Ihre Mutter gedacht
haben.«
»Sonderlich schwer war es nicht, seine Unterschrift zu fälschen und eine
Überweisung auf den Weg zu bringen. Ein nettes Mädchen bei der Bank hat
ein bißchen geholfen. Die Argentinier sind bei so was ziemlich eigen. Bei
größeren Überweisungen wird's ganz kompliziert. Bürokratie hoch zehn.
Fehlte nur noch das Theater mit den Fingerabdrücken. Bei allem und jedem
verlangen sie gleich sämtliche davon. Von beiden Händen. Sogar von den
kleinen Fingern. Ist ihr Nationalsport. Ich wundere mich, daß sie nicht auch
noch die Zehenabdrücke nehmen. Wußten Sie, daß es ein Argentinier war,
der das Zeug erfunden hat? Die sind da drüben ganz versessen darauf.
Stahlberg hatte übrigens einen leichten Tod. Paar Minuten ein Kissen aufs
Gesicht gedrückt, das war's. Ist jedenfalls besser, als an Krebs oder sonst
irgendeinem Scheiß zu sterben.«
»Und das alles nur für Ihre Mutter?«
»Ich kam durchaus auch auf meine Kosten. Der Alte hatte Goldbarren bei
sich gehortet. Stücker sechs – sechs nette, handliche Dinger, klein, aber
schwer. Das hat er mir mal verraten, als er reichlich einen in der Krone
hatte. Dumm war nur, ich mußte die komplette Wohnung auf den Kopf
stellen, bis ich sie gefunden hatte. Sechs Zimmer voll mit Büchern! Und das
Ganze mußte ja wieder ordentlich zurückgeräumt werden. Schließlich habe
ich die Dinger gefunden, ein jedes in einem sauberen netten
Plastiktäschchen – mit Druckknopf! –, hinter einer Ausgabe von Jorge Luis
Borges. Darauf hätte ich eigentlich gleich kommen können. Der Alte war
mit Borges persönlich bekannt, das hat er mir oft genug erzählt.«
»Was haben Sie denn sonst in Argentinien so getrieben?«
»Alles mögliche. Bißchen gekellnert, mich auf dem Golfplatz nützlich
gemacht, gutbetuchte ältere Damen ausgeführt. Aber so langsam ist unsere
Fragestunde zu Ende. Wir haben ja schließlich noch was vor.«
»Etwas würde ich aber noch ganz gern wissen. Wie haben Sie das mit
Bilfinger gedreht?«
Blaschke, inzwischen wieder zum selbstsicheren Larson geworden, nahm
einen Schluck Rotwein und ließ die Fingerchen auf der Tischplatte spielen.
Dabei glänzten die beiden übereinandergesteckten Ringe an seiner linken
Hand. »Der Kerl hat einfach nicht lockergelassen. Hat mir regelrecht
nachspioniert. Da mußte ich was unternehmen. Und der brave Anton war ja
so gutgläubig. Jesusmariaundjosef, war der gutgläubig. War er übrigens
schon in der Schule. Manchmal bißchen schwer von Begriff. Er hat überall
seine Visitenkarten verstreut und die Leute gebeten, sich bei ihm zu melden.
Da hab' ich mich eben selbst bei ihm gemeldet. Und wissen Sie, mit
welcher Story?«
»Hm.«
»Na los doch, raten Sie mal.«
»Keine Ahnung.«
»Mit der Detektiv-Nummer. Die kam dabei zum Einsatz. Ich habe allen
Ernstes behauptet, ich sei als Privatdetektiv unter falschem Namen
unterwegs gewesen, in heikler Mission, versteht sich, und der Kerl hat's
gefressen. Er wurde sogar richtig neugierig, und es war ein Kinderspiel, ihn
auf das Boot einzuladen und eine kleine Fahrt mit ihm zu unternehmen. Ich
mußte nur darauf achten, daß uns die Leute am Hafen nicht zusammen
sahen. Hat hingehauen. Hat eins a hingehauen. Na ja, und da draußen
machte es dann irgendwann plumps. Die Details sind nicht weiter von
Belang. Jedenfalls habe ich dafür gesorgt, daß er so schnell nicht wieder
auftaucht. Und jetzt ist unser nettes kleines Gespräch an seinem Ende
angelangt.«
»Sie sind zu selbstgefällig. Ein selbstgefälliger Mörder hält sich nicht
lang auf der Piste. Die bescheidenen, unscheinbaren sind viel schwerer zu
fassen. Die selbstgefälligen laufen einem irgendwann von selbst vor die
Flinte. Sie könnten ein bißchen Nachhilfe vertragen.«
Larson war nicht beleidigt, im Gegenteil, er zeigte sich höchlich
amüsiert. »Zum Beispiel von Ihnen?«
»Zum Beispiel von mir.«
»Und was würden Sie mir beibringen?«
»Daß man die Finger besser von der Schwester seiner Frau läßt, wenn
man mit dem Gedanken spielt, die Frau umzubringen.«
»Ach, was Sie nicht sagen!«
»Warum haben Sie nicht einfach Catherine geheiratet? Warum der
komplizierte Umweg über eine reizlose Frau?«
»Für gewisse Zwecke braucht's eine dümmere Frau. Außerdem war
Catherine schon zweimal verheiratet und nicht sonderlich scharf auf einen
dritten Versuch.«
»Wie haben Sie es nur fertiggebracht, so lange bei Vicky auszuharren?«
Larson verdrehte die Augen und gab einen theatralischen Seufzer von
sich. Dann fing er an, wortreich sein Leid zu klagen und dazu mit den
Händen in der Luft herumzufahren. Und er hörte überhaupt nicht mehr
damit auf. Wahrlich, Gott sei sein Zeuge, das seien vielleicht Strapazen
gewesen. Du meine Güte! So gesehen hart verdientes Geld. Ob Ellwanger
sich schon mal mit einer Frau habe näher befassen müssen, die er nicht
riechen könne, und zwar im wörtlichen Sinne nicht riechen? Vicky habe die
teuersten Parfüme benutzt, und trotzdem – dieser abgestandene,
verschwitzte Unglücksgeruch sei immer wieder durchgekommen. Gräßlich!
Eine wahre Pein! So jemanden ins Bett verfrachten zu müssen sei eine
grauenhafte Übung. Und hinterher sei es erst richtig losgegangen.
Stundenlang habe er darüber reden müssen. Wie's gewesen sei, ob vielleicht
was gefehlt habe, ob zu schnell, ob zu langsam, ob weiß der Teufel was.
Zum Davonrennen! Und dann dieser Sozialtick! Diese reichen Frauen
wüßten einfach nicht, wohin mit ihrem Geld, und kämen auf die
sonderbarsten Ideen – Obdachlose beglücken, Kinder mit Herzfehlern
beglücken, hungernde Afrikaner beglücken, Flutopfer, Erdbebenopfer,
streunende Hunde und wer weiß noch wen alles beglücken, rauf und runter,
der ganze Sozialstuß, ein Charity-Dinner nach dem andern, man könne
allein schon davon ganz krank werden. Und dann dieser schauerliche Alte
in seinem Rollstuhl, ihm werde schon schlecht, wenn er an die grauenhaften
Einladungen in der Park Avenue denke, eine wahre Folter – das Geschwätz,
das Getue, das Herumgestehe am Kamin, alles, wirklich alles entsetzlich!
So was sei kein Vergnügen, das sei Schwerstarbeit! Sauer verdientes Geld!
»Mir kommen die Tränen. Als kleiner Provinz-Gigolo mit wechselnden
Provinz-Bräuten wären Sie vielleicht besser dran gewesen.«
»Unwahrscheinlich. Ich wollte immer schon weg. Nichts wie weg aus
diesem fürchterlichen Gerabronn. Ansonsten hatte ich als Kind etwas
andere Pläne. Beim Räuber-und-Gendarm-Spiel wollte ich immer der
Gendarm sein.«
»Ach was.«
»Tatsache! Sie glauben mir nicht? Ich wäre für mein Leben gern mit so
'nem Polizeiwagen mit Tatütata herumkutschiert.«
»Jetzt fahren Sie mit einem Bentley oder so was Ähnlichem durch die
Gegend –«
»Nein, bloß einem kleinen Angeber-Porsche. Bißchen was Spritziges
braucht der Mann.«
»– da sollte man sich nicht beklagen.«
»Sie haben ja keine Ahnung. Fünf Jahre Fron liegen hinter mir. Ich
brauche dringend Erholung.«
So ging das noch eine ganze Weile hin und her. Larson schien zeitweise
vergessen zu haben, daß er eigentlich vorgehabt hatte, hier kurzen Prozeß
zu machen. Mitten in ihrem Geplänkel bemerkte Ellwanger plötzlich, daß
sich die Tür zum Flur einen Spalt breit geöffnet hatte. Ein Windstoß war
bestimmt nicht die Ursache gewesen. Um Larsons Aufmerksamkeit nicht zu
erregen, mußte er sich allerdings bezwingen und durfte nicht in Richtung
Tür starren. Hin und wieder ein flüchtiger Blick aus den Augenwinkeln,
mehr nicht, und – Tatsache! – die Tür öffnete sich etwas mehr.
»Ich frage mich nur, wie Sie das in der Oper hingekriegt haben. Während
der Vorstellung verschwinden und dann wieder unbemerkt zurückkehren.
So einfach kann das eigentlich nicht sein.«
»Wenn man eine Loge für sich hat, schon, und außerdem was zum
Verkleiden in einer Tasche dabei. Ein anderes Jackett zum Beispiel.
Ursprünglich was Farbigeres, dann was Gedecktes. Und mit einer Glatze
erkennt einen keine Sau, jedenfalls nicht die Leute, die draußen während
der Vorstellung Däumchen drehen. Um das Ding auf den Kopf zu kriegen
und dann abzuhauen, muß man allerdings den Moment abpassen, in dem
wirklich alle Leute auf die Bühne starren. Dafür muß man sich natürlich in
den Hintergrund zurückziehen. Und vielleicht vorher mit der Glatze üben,
damit jeder Handgriff sitzt. Ist in einer Loge ein Kinderspiel, sollten Sie mal
probieren!«
Er schenkte sich noch ein bißchen Wein ein. Paar Schlückchen nur, die
nicht allzu lange vorhalten würden. Allmählich hatte er wohl genug vom
Reden. Obwohl sich der Mann gern selbst reden hörte. Und dabei
erstaunlich vulgär wurde. Langsam blätterten so ziemlich alle
Lackschichten von ihm ab. Darunter kam immer mehr Blaschke zum
Vorschein. Blaschke, der Bubi aus Gerabronn, der mit dem gewandten
Strahlemann Larson nicht mehr viel zu tun hatte. Eigentlich überhaupt
nichts. Die Tür war inzwischen weiter aufgegangen, aber Ellwanger konnte
bei seinen flüchtigen Blicken nicht erkennen, was sich dahinter abspielte.
Er versuchte mit allen Mitteln, noch ein bißchen Zeit zu schinden.
»Hat Ihre Frau eigentlich nie mitgekriegt, daß Sie mit ihrer Schwester ins
Bett gingen? So was nimmt eine Frau im Ernstfall ziemlich übel.«
»Hat sie. Das war ja das Scheißproblem! Der blöde Sekretär meines
Schwiegervaters war hinter ihr her. Der hat sie immer wieder besucht. Und
mich regelrecht ausspioniert. Den hätte ich gleich flachmachen sollen.
Konnte ihn aber nie zu fassen kriegen. Zweimal hat er mich und Catherine
zusammen gesehen und ist dann jedesmal zu Vicky gelaufen und hat ihr
brühwarm davon erzählt. Sie hat mir schon wegen der Scheidung in den
Ohren gelegen. Und dann das widerliche Versöhnungsgetue, wieder mal
Schwerstarbeit im Schlafzimmer – please, darling, please – please believe
me, it will never happen again –, dieser ganze Schwachsinn, einfach zum
Kotzen!« Er legte eine kleine Pause ein und nahm wieder einen Schluck
Wein. Dann schien er ins Grübeln zu geraten. »Dumm an der ganzen Sache
ist nur, daß ich sie vielleicht gar nicht extra hätte entsorgen müssen. Die
Menge an Schlafmitteln, die sie genommen hatte, hätt's wahrscheinlich von
alleine getan. Das war erheblich mehr als ihr übliches Quantum.«
»Und wie ging's mit der Schwester? Ich hoffe, die Affäre hat Sie ein
klein wenig für die Mühen entschädigt, die Sie sich ansonsten mit der
Familie aufgeladen haben.«
»Paarmal war's recht nett, das muß ich zugeben. Aber dann wurde es öde.
Ist ein anstrengendes Mädchen, nicht mehr ganz taufrisch. Hat die besten
Tage längst hinter sich. Die Sauferei und das ewige Schuldgejammer gingen
mir auf die Nerven. Und dann veranstaltete sie auch so einen Affenzirkus
im Bett. Come on, darling, satisfy me, give me a big bang, give me another
kick, give me more … more … more … Gar nicht zu reden von dem
widerlichen Geschnarche hinterher. Krrrrrrrrrrchch. Ein Ohropax hat da
nicht gereicht. Man hätte sich eine ganze Ladung davon in die Ohren
stopfen müssen. Reiche Amerikanerinnen sind übrigens entweder frigide,
oder sie sind Nymphomaninnen. Die geben einfach keine Ruhe. Dieses
blöde Come on, darling …! Ich konnt's nicht mehr hören. Wirklich, ich
hatte die Faxen dicke, hatte von der Scheißfamilie die Nase gestrichen
voll.«
»Tja«, sagte Ellwanger, »ich glaube, ich kann Sie ganz gut verstehen. Bis
zu einem gewissen Grade jedenfalls. Reiche Amerikaner können ziemlich
anstrengend sein. Irgendwann wächst einem so etwas …«
Weiter kam er nicht. Catherine stand mitten im Raum. Einen Revolver in
der rechten Hand. Larson drehte sich um. Er stand auf, ging ihr entgegen,
hob hilflos die Arme – »Darling, what a surprise!« –
Zwei Schüsse fielen. Schallgedämpft. Er knickte ein, ging langsam in die
Knie und lag gekrümmt auf dem Boden. Ganz still. Und urplötzlich sehr für
sich allein. Das Ganze hatte weniger als vier Sekunden gedauert.
XV

Catherine schien ganz ruhig. Eine Schlafwandlerin. Sie legte den Revolver
auf den Tisch und betrachtete Ellwanger, als säße da bloß ein verschnürtes
Paket. Dann besann sie sich, ging in die Küche und kam mit einem Messer
zurück. Immer noch stumm. Mit dem Messer mußte sie ziemlich an ihm
herumsäbeln, bis sie die erste Schnur durchtrennt hatte; dabei stellte sie sich
ungeschickt an und schnitt ihm in den Arm.
»Sorry!« Es war das erste Wort, das ihr entfuhr. Dann ging die Sache
etwas schneller. Nach fünf Minuten konnte Ellwanger wieder die Arme
bewegen, aber die Hände waren noch so steif, daß er auch das
Losschneiden der Beinfesseln Catherine überlassen mußte. Als er endlich
befreit war, stand er auf und versuchte einen ersten Schritt, wäre dabei aber
hingefallen, wenn sie ihn nicht aufgefangen und wieder auf den Stuhl
verfrachtet hätte.
Beim nächsten Versuch stützte er sich am Tisch auf, bis er die Beine
besser unter Kontrolle hatte und wieder frei gehen konnte. Er fragte
Catherine, wie sie hereingekommen sei.
»I had a key.« Inzwischen wirkte sie weniger beherrscht. Ihre Hände
zitterten. Im Moment konnte er sich aber kaum darum kümmern. Hier gab
es einiges zu tun, und es mußte überlegt dabei vorgegangen werden.
Methodisch, akribisch, kalkuliert. Ellwanger vergewisserte sich auf seiner
Uhr, wieviel Zeit blieb, zog Larsons Handschuhe an – gottlob waren es
keine dickwulstigen Küchenexemplare, sondern feine, wie sie auch die
Chirurgen benutzten –, holte aus der Küche ein frisches Glas, füllte es zu
einem Drittel mit dem Meukow und bat Catherine, sich zu setzen, ihre
Handschuhe weiterhin anzubehalten und bis auf das Glas nichts mehr
anzufassen. Sein Plan stand inzwischen fest. Er würde aufräumen, und zwar
gründlich, nach allen Regeln der Kunst; seine Erfahrung als Ermittler würde
dabei zum Einsatz kommen.
Die Vorhänge waren geschlossen. Gut. Er schaute durch einen Spalt auf
die Straße. Die Schüsse hatte offenbar niemand mitbekommen. Keine
Polizeisirenen draußen, die Straße lag friedvoll unter dem anhaltend
fallenden Schnee.
Er sah sich den Raum ganz genau an, besonders die Fensterfront und die
zweiflüglige Tür, die hinten auf die Gartenterrasse führte. Einfache
Scheiben. Kein Sicherheitsglas. Man hatte sich offenbar auf die
Alarmanlage verlassen, die derzeit aber nicht eingeschaltet war. Dann
inspizierte er die Küche. Larson hatte gründlich aufgeräumt. Alles
blitzblank. Kein dreckiges Geschirr, der Rest Salat war im Mülleimer
entsorgt worden. Vier leere Flaschen standen auf dem Boden, darunter die
eine, in der der kontaminierte Rotwein gewesen war. Sie rochen alle nach
Wein. Ellwanger war sich sicher, daß Larson die besagte Flasche bereits
gründlich gespült und wieder mit Wein aufgefüllt hatte, den er dann in den
Ausguß gekippt hatte, damit alles völlig normal wirkte. Da er
Gummihandschuhe getragen hatte, waren seine Fingerabdrücke aber
vielleicht noch nicht drauf. Ellwanger ging mit der Flasche zu Larson und
legte die toten Finger von dessen linker Hand verschiedentlich an das Glas.
Die rechte Hand war blutverschmiert und kam dafür nicht in Frage. Larson
war aber ohnehin Linkshänder gewesen. Wie er so gekrümmt auf dem
Boden lag, sah der Mann nicht mehr so gut aus, vor allem nicht mit
geöffnetem Mund. Der eine Schuß war wahrscheinlich in sein Herz
gedrungen, der zweite etwas tiefer. Catherine saß im Mantel da und sagte
kein Wort, aber sie sah ihm bei der Prozedur zu.
Dann nahm er Catherine das inzwischen geleerte Glas ab – nur die
angebrochene Flasche Wein und Larsons Glas ließ er unberührt auf dem
Tisch stehen –, bückte sich nach dem Messer, mit dem sie ihn
losgeschnitten hatte und das immer noch auf dem Boden lag, und spülte
beides in der Küche sorgfältig ab. Das Glas stellte er zurück in den Schrank,
das Messer legte er in die Schublade. Unter der Spüle fand er Plastiktüten
und einen Lappen. Er ging damit die Treppe hinauf in die oberen
Stockwerke, wo die Lichter teilweise ebenfalls brannten und die Vorhänge
zugezogen waren. Die meisten Türen standen offen. Bei denen, die nicht
offen waren, faßte er mit dem Lappen die Klinken an. Verwüstungen, die
typisch für Diebe waren, die nicht sonderlich planvoll vorgingen, richtete er
auf beiden Stockwerken in jedem der insgesamt neun Zimmer an, nahm
Bilder von den Wänden, öffnete die Kleiderschränke und durchwühlte sie,
warf Bücher aus den Regalen, fand eine Kassette mit Schmuck, den er in
eine der Tüten leerte. Eine Armbanduhr, die in einem mit Blumenmuster
tapezierten Raum im obersten Stockwerk auf einer Kommode lag, packte er
ebenfalls in die Tüte. In diesem Raum, einem kleinen Salon, gab es eine
Tür, die auf eine ins Dach eingeschnittene Terrasse hinausführte. Von dort
mußte Larson seine Frau über die Brüstung geworfen haben. Ellwanger sah
sich den Tatort nicht genauer an. Auf der zugeschneiten Terrasse wollte er
keine Spuren hinterlassen. Er nahm noch eine Vase mit und einen Laptop.
Damit war seine Tätigkeit oben fürs erste beendet.
»Messing up the whole house like a professional«, murmelte Catherine
leise vor sich hin, so leise, daß er sie kaum verstand. Ellwanger ließ sich
davon nicht beirren, er fragte sie, ob es hier irgendwo einen Safe gebe. Sie
deutete auf die Wand, an welcher der kleine chinesische Apothekenschrank
stand. Es war leicht, ihn von der Stelle zu rücken, denn unter einer Blende,
die die Farben des Schranks perfekt imitierte, trug er Rollen, die man auf
Anhieb nicht sah; dahinter befand sich tatsächlich ein Safe.
Irgendwo mußte es einen Keller geben. Im hinteren Teil des Flurs, neben
der Treppe, die nach oben führte, war eine kleinere Tür, von der aus es ins
Untergeschoß ging. Ellwanger schaltete das Licht ein und stieg hinab. Der
perfekteste Keller, den er je zu Gesicht bekommen hatte! Gut beleuchtet,
alles ordentlich aufgeräumt, so gut wie kein Staub. Rechter Hand standen
die Weinregale, zur Hälfte gefüllt, in einer weiteren Abteilung eine
Waschmaschine, ein Trockner und ein abgedecktes Gerät, das nach einer
Wäschemangel aussah. An der weiß geschlemmten Mauer stand ein langer
Tisch mit einem Bügeleisen, darauf zwei große Plastikkörbe, einer leer, der
andere gefüllt mit Schmutzwäsche. Ein Staubsauger befand sich in der
Ecke.
Linker Hand führte eine Tür in einen weiteren Raum. Als er dort das
Licht einschaltete, war er verblüfft. Der Hobbykeller sah fast so aus wie der
seines Vaters, nur war dieser Raum größer. Auch hier hingen die Werkzeuge
ordentlich aufgereiht an der Wand, allerdings nach einem anderen System,
oben die großen, unten die kleinen. Bei seinem Vater war es umgekehrt
gewesen. Daneben stand ein Regal mit Farbdosen und allerlei praktischem
Kleinzeug. Kein Durcheinander. Alles vorbildlich in Reih und Glied. Der
Alte hätte seine helle Freude daran gehabt.
Ellwanger nahm einen großen Schraubenschlüssel mit und einen
schweren Hammer. Catherine saß wie angeklebt auf ihrem Stuhl. Ellwanger
bedeutete ihr, daß sie bitte auch weiterhin da sitzen bleiben solle, und
machte sich an dem Safe zu schaffen. Es ging ihm nicht darum, das Ding
aufzukriegen, das war mit solchem Werkzeug gar nicht möglich, aber es
sollte danach aussehen, als hätten sich Dilettanten daran zu schaffen
gemacht. Er sorgte für die nötigen Kratzspuren und Dellen. Dann packte er
einige kleinere Wertgegenstände, die im Wohnzimmer herumstanden, in
eine Plastiktüte, nahm alle Tüten, die inzwischen gefüllten und die leeren,
mit, ebenso die Werkzeuge, den Laptop, die Vase und auch den Revolver,
und schleppte das ganze Zeug in den Keller.
Aus dem Korb mit der Schmutzwäsche fischte er ein Geschirrtuch. Bevor
er sich an die Werkbank setzte, überlegte er einige Sekunden, bereitete dann
alles fachmännisch vor. Zuerst mußte er sich mit dem Revolver befassen. Er
wischte sorgfältig die Fingerabdrücke weg, schraubte den Schalldämpfer
ab, nahm den Revolver auseinander und feilte die Seriennummer herunter,
wobei er zwei Feilen ausprobieren mußte, weil er mit der erstbesten, nach
der er gegriffen hatte, nicht zurechtkam. Sein Vater hätte natürlich auf einen
Blick erkannt, welche Feile sich dafür eignete und welche nicht.
Sobald er damit fertig war, legte er nach und nach die anderen
Gegenstände auf die Werkbank, breitete das Geschirrtuch darüber und
schlug mit dem Hammer alles kurz und klein. Es tat ein bißchen weh, eine
kostbare Patek Philippe zu zertrümmern, die einem Genfer Uhrmacher viel
Konzentration und Fingerspitzengefühl abverlangt hatte, aber darauf konnte
er jetzt keine Rücksicht nehmen. Beim Laptop riß er die Tastatur heraus und
zerlegte das Innere in möglichst viele Einzelstücke. Dann steckte er das
herausgerissene und zerbrochene Zeug, auch die Teile des Revolvers, in die
fünf Tüten, möglichst so, daß die Bruchstücke eines Objekts auf alle Tüten
verteilt wurden. Das Geschirrtuch, das er noch brauchen würde, schüttelte
er sorgfältig aus und legte es obenauf in eine der Tüten. Mit Handfeger und
Schaufel, die in der unteren Abteilung des Regals gelegen hatten, kehrte er
alles zusammen und kippte den Kehricht in eine andere Tüte. Dem Alten
hätte das konzentrierte Vorgehen seines Sohnes gut gefallen.
Für die letztendliche Reinigung mußte er wieder hinaufsteigen. Er nahm
die gefüllten Tüten gleich mit. Aus der Küche besorgte er sich erneut den
Lappen und einen Eimer voll Spülwasser, wobei Catherine inzwischen
etwas mehr aus ihrer Trance erwacht war. Ob seiner emsigen Geschäftigkeit
sah sie ihn verwundert an. »What the hell are you doing?« fragte sie leise,
immer noch eingeschüchtert. Er ließ sich von ihr nicht aus dem Konzept
bringen, sondern ging zurück in den Keller, wischte dort den Boden feucht
auf und putzte die Werkbank. Er vergewisserte sich noch einmal ganz
genau, ob er vielleicht ein Bruchstück auf dem Boden übersehen hatte.
Nichts sollte darauf hindeuten, daß hier Dinge zerschlagen worden waren.
Vielleicht war es jetzt da unten aber zu sauber, vielleicht sogar verdächtig
sauber. Auch dafür sollte es eine Lösung geben. Ellwanger machte sich am
Staubsauger zu schaffen und entnahm dessen Eingeweide den zur Hälfte
gefüllten Beutel. Mit der rechten Gummihandschuhhand griff er in die
Öffnung und holte etwas Staub heraus, den er auf die Werkbank streute.
Nachdem er einige größere Flocken mit den Fingern auseinandergezogen
hatte, pustete er sachte, sehr sachte, von verschiedenen Richtungen aus,
damit nicht alles restlos verflog, den Staub in die Gegend.
Unter der Kellertreppe standen ein paar grüne Gummistiefel in
Herrengröße. Die kamen ihm jetzt sehr gelegen. Beim Hinaufgehen nahm
er Eimer und Lappen und auch die Stiefel mit und löschte das Licht. Den
Keller konnte er damit abhaken. Eimer und Lappen kehrten, nachdem sie
sorgfältig gereinigt worden waren, an ihre Plätze unter der Küchenspüle
zurück. Aber dann besann er sich anders, nahm den Lappen wieder heraus
und legte ihn auf den Heizkörper. Die schwierigere Aktion hatte er sich bis
zuletzt aufgespart. Ellwanger erklärte Catherine, sie möge sich nicht
beunruhigen, er müsse jetzt hinaus und einen Einbruch fingieren.
Das Sicherheitssystem war nicht eingeschaltet, darum brauchte er sich
also nicht zu kümmern. Er nahm Larsons Stiefel mit und das Geschirrtuch,
ging zur Haustür hinaus und bis zum Tor, zog Larsons Stiefel dort an und
nahm seine Schuhe in die Hand. Den Weg trampelte er zurück bis zum
Eingang, bewegte sich ab da aber sehr vorsichtig – womöglich gab es eine
Anlage im Garten, die schon auf Flutlicht schaltete, sobald eine Maus mit
einer Schneeflocke in Berührung kam –, stapfte, als nichts dergleichen
geschah, durch den hohen Schnee etwas beherzter rund ums Haus zur
hinteren Gartenterrasse, umwickelte seine rechte Faust mit dem Tuch und
schlug die Scheibe der Tür ein.
Catherine saß immer noch am Tisch, inzwischen nicht mehr ganz die
Ruhe selbst, denn ihre Handschuhhände kneteten aneinander herum. »You
are a very inspired thief«, sagte sie zu ihm, aber er konnte sich jetzt nicht
mit komplizierten englischen Antworten befassen. Mit den
schneematschigen Stiefeln tappte er überall herum, ging zur Sicherheit
damit auch noch in die oberen Räume.
Es war nun alles soweit geklärt. Sie konnten gehen. Da läutete das
Telephon, der Anrufbeantworter mit Larsons Stimme ertönte, Ellwanger
war sofort alarmiert. Ein Anrufer mitten in der Nacht? Ob das vielleicht
doch einer der Nachbarn gewesen war, der etwas von den Umtrieben im
Haus mitbekommen hatte? Eine weibliche Stimme ertönte: »Hi, this is
Sandy« – diese Sandy war offensichtlich betrunken, zerdehnt, aber
wortreich beschuldigte sie ihren Paul, daß er sich nicht bei ihr gemeldet
habe, dann bekam sie einen Wutanfall, weil er nicht abnahm, und legte auf.
Nun, die beiden würden sich allenfalls im Himmel oder in der Hölle
wiedersehen, aber damit kannte sich Ellwanger nicht allzu genau aus.
Catherine hatte bei dem Geklingel irritiert den Kopf gehoben, vom Anruf
selbst schien sie völlig unbeeindruckt. Sie sagte etwas, das er nicht
verstand, und hatte dabei Trockeneis in der Stimme.
Jetzt sollten sie sich besser beeilen. Als sie aufstand, wischte Ellwanger
mit dem Geschirrtuch ihren Stuhl sorgfältig ab, besonders die Stellen, an
denen seine Hände gefesselt gewesen waren. Zur Sicherheit auch die
Tischplatte, an der sie beide gesessen hatten. Er ging noch einmal in die
Küche, nahm den Lappen von der Heizung und spannte ihn über den Eimer
unter der Spüle. Dann zog er seinen Mantel an und griff nach seinem
Schirm, drückte Catherine vier Tüten in die Hand, nahm seine Schuhe und
die restlichen Tüten und zog mit dem Tuch über den Fingern die Haustür
zu. Auf dem Weg zum Gartentor ließ er Catherine vorausgehen und machte
extra viele Schritte, um ihre Spuren nach Möglichkeit zu verwischen. Der
neue Schnee würde das meiste sowieso zudecken, aber falls das Schneien
jetzt aufhören sollte, war es besser so. Manchmal schafften sie es sogar,
unter dem Neuschnee liegende Spuren, die festgefroren waren,
auszuwerten. Aber morgen oder spätestens übermorgen würden die
Haushälterin und der Postbote neue Spuren legen und eine Horde
Polizeibeamte den Weg zum Eingang entlangtrampeln.
Auf der Straße war niemand zu sehen. Die Häuser lagen im Dunkeln.
Catherine hatte etwas weiter weg in einer Nebenstraße geparkt. So
besonnen war sie immerhin gewesen. Vielleicht war es aber auch ein bloßer
Zufall. Ellwanger versorgte die Tüten auf der Rückbank, zog die Stiefel aus
und seine eigenen Schuhe wieder an. Es war wohl besser, wenn er diesmal
fuhr. Catherine sagte keinen Ton zu seinen letzten Manövern, sie übergab
ihm den Autoschlüssel, saß dann stumm und unbeweglich auf dem
Beifahrersitz. Aber nun brauchte er ihre Hilfe. Bevor der Morgenverkehr
losging, hatten sie noch einiges zu erledigen. Größtmögliche Verteilung
hieß die Devise. Nicht nur eine, sondern besser zwei Brücken über den
Hudson wären nicht schlecht, um die meisten Tüten und die Stiefel
loszuwerden. Den Rest konnten sie in irgendwelchen Mülltonnen entsorgen,
in der Bronx oder sonstwo.
Catherine löste sich aus ihrer Starre. Jetzt hatte sie eine Aufgabe
zugewiesen bekommen. Sie mußte Ellwanger den Weg zeigen, und das tat
sie nun ohne Zögern. Er schärfte ihr ein, daß sie den Mantel und auch das,
was sie darunter getragen hatte, gleich morgen in die Reinigung geben
müsse wegen der Schmauchspuren, er sprach von gun shot rests, was
wahrscheinlich nicht so genau hinhaute. Ihre Handschuhe mußte sie sofort
ausziehen. Er entsorgte sie unterwegs in einem Mülleimer.
Ellwanger fuhr konzentriert, die Straßen lagen ausgestorben im
nächtlichen Schneetreiben, es gab kaum Verkehr. Die Scheibenwischer
hatten kräftig zu tun. In das Geschiebe und Gesurre hinein fragte Ellwanger,
weshalb Catherine mit einer Pistole ins Haus ihrer Schwester eingedrungen
sei. Der Scheibenwischer kam ihm jetzt noch lauter vor. Catherine sprach
leise, aber Ellwanger verstand sie trotzdem, jedenfalls das meiste davon. Sie
habe vor einiger Zeit ein paar Sachen von Vicky mitgenommen, darunter
einen Morgenmantel. Erst gestern habe sie bemerkt, daß darin ein kleines
Notizbuch steckte. Alle Notate in Vickys winziger Handschrift. Sie war
wohl ziemlich verzweifelt gewesen, wollte sich scheiden lassen und dafür
gleich in der Woche darauf einen Termin mit ihrem Anwalt vereinbaren.
Das war die letzte Aufzeichnung. Am Freitag. Am Samstag war sie tot.
Damit sei alles klar gewesen. Larson müsse mit Vickys Tod zu tun gehabt
haben. Mit dem Revolver habe sie ihn zu einem Geständnis zwingen
wollen. Ihr Plan sei nicht gewesen, ihn zu töten. Aber beim Anblick des
gefesselten Ellwanger habe sie einfach geschossen. »It was easy to shoot
him, very easy. Best thing I've ever done.«
Mit keinem Wort erwähnte Catherine ihre Affäre mit Larson, und
Ellwanger stocherte auch nicht weiter darin herum. Weil ihm die richtigen
Worte dafür auf englisch nicht einfielen. Weil sie ihn gerettet hatte. Aber er
fragte sich, wieviel Catherine von Larsons Gerede mitbekommen haben
mochte. Ob sie kapiert hatte, in welchem Ton Larson über sie sprach.
Ihre gemeinsame Aktion dauerte anderthalb Stunden. Gerade noch
rechtzeitig, bevor der Morgenverkehr richtig losging, in der Nähe des
Pierre, aber nicht direkt vor dessen Eingang, übergab Ellwanger Catherine
die Autoschlüssel und öffnete die Tür an seiner Seite. Das Schneien hatte
inzwischen aufgehört. Sie hielt ihn zurück. »Would fifty thousand be enough
for your services?«
Ellwanger sagte nichts.
»Or perhaps more?«
Ellwanger wurde so wütend, daß er mit lautem Knall die Autotür
zuschlug. Dann machte er, daß er endlich davon und ins Bett kam.
XVI

Bevor er sich ins Bett legte, spülte er in der Badewanne den ganzen Dreck
runter. Eine Befreiung. Danach schlief er tief und fest bis drei Uhr am
Nachmittag. Er beschloß, Trevillyan einen unangekündigten Besuch
abzustatten. Vor seiner Tür drehte er das Do-not-disturb-Schild um und
machte sich auf den Weg. Wieder hatte es zu schneien begonnen, allmählich
versank ganz New York unter ungeheuren Massen von Schnee.
Der Portier mußte erst nach oben telephonieren, dann durfte Ellwanger
den Aufzug besteigen. Arrowsmith empfing ihn und geleitete ihn zu
Trevillyan. Der saß diesmal nicht vor dem Kamin, sondern hinter einem
Schreibtisch mit lederner Auflage, in einem kleineren Raum, der wohl sein
Arbeitszimmer war. Auch hier Bücher an den Wänden, bis oben an die
Decke. Aber wegen der Bücher war Ellwanger nicht gekommen.
Er machte gleich klar, daß er diesmal Trevillyan allein zu sprechen
wünsche. Der hob die Augenbrauen, und Arrowsmith, der ziemlich
verblüfft und verunsichert dreinblickte, schloß hinter sich leise die Tür.
Ohne eigens dazu aufgefordert worden zu sein, setzte sich Ellwanger
dem Alten gegenüber in einen Stuhl und legte los. In einem erheblich
besseren Englisch als dem, das bei ihren ersten beiden Begegnungen zur
Anwendung gekommen war. Nichts deutete darauf hin, daß Trevillyan vom
Tod des Schwiegersohnes wußte. Ellwanger konfrontierte ihn sofort damit,
daß er ihn habe erschießen müssen. Und dann lieferte er einen längeren
Monolog, in dem sich Halbwahres, Wahres und einige Lügen mischten.
Ordnungsgemäß berichtete er davon, was er in Deutschland hatte erfahren
können. Über einen Jungen namens Heiner Blaschke. Er sprach über Anton
Bilfinger und den toten alten Herrn in Argentinien und über Blaschkes
Mutter im Seniorenheim. Trevillyan stellte keine Zwischenfragen, seine
Miene blieb völlig unbeweglich, nur seine kohlschwarzen Augen blickten
ihn interessiert an.
Zu seiner Überraschung habe Larson ihn für den gestrigen Abend in sein
Haus eingeladen. Dort habe Ellwanger ihn vorsichtig mit den Ergebnissen
seiner Recherche konfrontiert, aber Larson habe längst Bescheid gewußt,
daß man ihm auf die Spur gekommen war. Larson habe einen Revolver
gezogen, Ellwanger habe ihm diesen entreißen können und ihn dabei in
Notwehr erschossen. Ihn, Trevillyan, als seinen Auftraggeber habe er nicht
kompromittieren wollen und deshalb alle Spuren verwischt.
Der Name Catherine fehlte vollständig in diesem Bericht.
Trevillyan hatte ihn bisher nicht unterbrochen. Anton Bilfinger und
Enrique Fernando Lightowler-Stahlberg schienen ihn nicht sonderlich zu
interessieren. Aber er wollte wissen, wie Larsons Mutter im Altersheim
gewirkt habe, dabei sprach er von Mrs. Blaschke, und das hörte sich
sonderbar an. Es war für Ellwanger nicht allzu kompliziert, von einer
desorientierten alten Frau zu berichten, die allenfalls noch den Kosenamen
ihres Sohnes kannte, mehr aber auch nicht. Er war stolz darauf, daß ihm das
Wort nickname rechtzeitig eingefallen war, es klang kurios, dieses nickname
Heinerle.
Damit war der Rapport zu Ende. Ellwanger war einen Moment lang
unsicher, was nun käme, ob er sofort gehen sollte oder nicht. Immerhin
hatte er einem alten Herrn, den er kaum kannte, soeben ein Tötungsdelikt in
Notwehr gebeichtet. Trevillyan schaute ihn ganz ruhig an. Nach einer
Pause, in der Ellwanger glaubte, den Schnee draußen fallen zu hören, sagte
der Mann im Rollstuhl: »You are a fine fellow, a real gentleman«, streckte
ihm quer über den Schreibtisch die Hand zum Abschied hin und bedankte
sich.
Im Gang wartete ein nervöser Arrowsmith auf ihn. Aber mit dem sich zu
befassen, hatte Ellwanger nun wahrlich keine Lust. Er bat ihn nur darum,
ihm für morgen einen Rückflug nach München zu buchen. Catherine zeigte
sich gottseidank nicht.
Als er wieder im Pierre anlangte, fand er zwei Nachrichten vor. Frau
Kirchschlager bat um Rückruf. Arrowsmith hatte einen Flug für ihn am
nächsten Tag um achtzehn Uhr fünfundvierzig gebucht. Um fünfzehn Uhr
dreißig würde man ihn vom Hotel abholen.
Seine reizende Vermieterin und ihren sympathischen Galan würde er
leider enttäuschen müssen. Vielleicht würden sie in wenigen Tagen eine
Ahnung davon bekommen, weshalb er sich eine gewisse Zurückhaltung
hatte auferlegen müssen. Vorläufig stand er für keine weiteren Auskünfte
zur Verfügung. Und wahrscheinlich mußte das ein Leben lang so bleiben.
Er rief deshalb nicht zurück.
Inzwischen hatte er einen Wolfshunger. Auf dem Weg zu einem
geeigneten Restaurant, das er erst noch finden mußte, fiel diesmal kein
Schnee. Der Mond schien, einige wenige Sterne blitzten, und es war
saukalt.
Am folgenden Nachmittag holte ihn Arrowsmith persönlich mit dem
Wagen ab. Sie kamen nur langsam voran. Noch immer lag in den Straßen
viel Schnee, und an ihren Rändern türmten sich die weißen Berge, obwohl
es seit letzter Nacht nicht mehr geschneit hatte. Irgendwann fragte
Ellwanger seinen Fahrer, warum er sich eine Schwester mitsamt Segelboot
erfunden habe. Arrowsmith schien erleichtert, endlich darüber reden zu
können. Das sei ihm dummerweise gerade so als Ausrede eingefallen.
Natürlich habe er Larson und Catherine am Hafen von Southampton
beobachtet.
Er seufzte tief und verstummte. Als sie bei der nächsten roten Ampel
anhalten mußten, redete er weiter. Wahrscheinlich sei er selbst schuld am
Tod von Vicky, die er tatsächlich geliebt habe. Zumindest mitschuldig.
Vicky sei ein feiner Mensch gewesen, der etwas Besseres verdient gehabt
habe als einen Ehemann, der sie von Anfang an nach Strich und Faden
betrogen habe und nur hinter ihrem Geld hergewesen sei. Er müsse sich das
vorwerfen, ja, inzwischen sei kein Tag vergangen, an dem er sich nicht
Vorwürfe gemacht habe. Vicky davon zu erzählen, daß sich Larson und
Catherine regelmäßig auf dem Boot trafen, sei ein Fehler gewesen.
Wahrscheinlich habe sie Larson zur Rede gestellt, und da habe der
beschlossen, sie zu töten.
Das war keine einfache Hypothek. Ellwanger konnte Arrowsmith nur
damit ein wenig trösten, daß er sich sicher sei, Larson habe eh den Plan
gefaßt, seine Frau zu töten. Und zwar von Anfang an. Was er über den
Mann herausbekommen habe, deute alles in diese Richtung. Vicky hätte
sich nur retten können, wenn sie sich rechtzeitig vor ihm in Sicherheit
gebracht hätte. Arrowsmith seufzte nur noch tiefer. Er habe ihr angeboten,
sie aus dem Haus zu holen, alles zu arrangieren, damit sie die Scheidung
einreichen könne. Aber sie habe leider die Gefahr nicht richtig eingeschätzt.
Sie sei dem Mann regelrecht verfallen gewesen – head over heels in love
with him. Und er fügte bitter hinzu: »And he knew bis business thoroughly.«
Zum Abschied übergab ihm Arrowsmith einen Umschlag.
Wegen der Schneeprobleme hatte es einige Verspätungen gegeben.
Ellwanger mußte geschlagene vier Stunden warten, bis der Flieger endlich
abhob. Er war erschöpft, stopfte den angebotenen Fraß in sich hinein,
schlief ein bißchen, schaute sich zerstreut einen faden Film mit Julia
Roberts an und ertappte sich dabei, daß er im Geiste immer wieder mit
Catherine redete. Und dabei brachte sein Hirn einen ziemlichen Stuß
zuwege, wie etwa – Killmousky hätte sich bestimmt mit Kill-Larsky
vertragen because of their murderous instincts. Oder, noch idiotischer, sein
he cat sei's gewohnt, sich mit einer komplizierten she cat zu befassen. Das
ratterte und ratterte und ratterte. Und er konnte den Blödsinn nicht stoppen,
obwohl er ganz genau wußte, daß sie niemals einen Fuß nach München
setzen würde und er sie dort auch gar nicht haben wollte. Jedenfalls nicht
nach den Sätzen, die sie im Auto zu ihm gesagt hatte. Aber vielleicht war er
zu harsch mit ihr umgesprungen. Vielleicht nahm er alles zu schwer.
Immerhin hatte sie ihm das Leben gerettet, und mit dem Tod ihrer
Schwester hatte sie nichts zu tun, sonst hätte Larson damit geprahlt. Auch
die letzten Sätze, die Trevillyan zu ihm gesagt hatte, geisterten ihm im Kopf
herum. Wußte der alte Herr erheblich mehr von dem wahren Vorgang, als er
hatte zugeben wollen? Sonst hätte es eigentlich keinen Grund gegeben, ihn,
Ellwanger, einen Gentleman zu nennen. Er würde es nie herausbekommen.
Vielleicht war es auch bloß eine Floskel gewesen, die der Alte ohne
Hintergedanken verwendet hatte.
Als sie über Grönland flogen, öffnete Ellwanger den Umschlag, den ihm
Arrowsmith gegeben hatte. Es befand sich ein Scheck darin, mit einer
Summe, die das vereinbarte Honorar bei weitem überstieg. Davon sollte
Killmousky auch etwas haben. Damit ihre Beziehung wieder ins Lot kam,
würde er seinen Kater mindestens eine Woche lang mit Gourmet-Futter
verwöhnen, mit feingehackter Leber oder Fisch oder Herz.

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