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Vielfalt in der
öffentlichen
Verwaltung
Strategien und Konzepte für ein wirksames
Diversity Management in Kommunen,
Ländern und Bund
Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung
John Meister · Matthias Hörmeyer
(Hrsg.)
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V
VI Geleitwort von Ana-Cristina Grohnert
Diversity stellt den Menschen in den Mittelpunkt – das Individuum und die Menschheit
als Ganzes. Da sind wir wieder bei dem Gedanken, dass die Verwaltung dem Menschen
dienen soll. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die im Alltag vielleicht manchmal ein
bisschen verloren geht.
Viele Behördenmitarbeitende stehen unter hohem Stress. Die Anforderungen an sie
werden immer komplexer und komplizierter, die Arbeitsbelastung nimmt zu. Gerade
um mit diesen gestiegenen Anforderungen zurecht zu kommen, benötigen wir in
der Verwaltung möglichst viele verschiedene Persönlichkeiten, Erfahrungsschätze,
Temperamente und Begabungen. Oder anders gesagt: Monokulturen sind ein Hochrisiko-
zustand – in der Verwaltung wie in der Forstwirtschaft.
Nur mit Vielfalt ist die Komplexität der heutigen Verwaltungswelt zu meistern. Weil
sie der Komplexität an Herausforderungen eine Komplexität an Lösungsmodellen gegen-
überstellt.
Ana-Cristina Grohnert
Vorstandsvorsitzende der Charta der Vielfalt
Die Charta der Vielfalt ist eine Initiative zur Förderung von Vielfalt in Unternehmen und
Institutionen unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Olaf Scholz. Sie verfolgt das
Ziel, die Anerkennung, Wertschätzung und Einbeziehung von Diversity in der Arbeits-
welt voranzubringen. Mit der Unterzeichnung der Charta der Vielfalt setzen Unter-
nehmen und Institutionen ein klares Zeichen für Vielfalt und Toleranz in der Arbeitswelt
und signalisieren die Wertschätzung aller Mitarbeiter*innen unabhängig von deren
Geschlecht und geschlechtlicher Identität, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion
oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität.
Ana-Cristina Grohnert
Geleitwort von Klaus Effing
Liebe Leser*innen,
Diversity ist Perspektivenvielfalt. Wir Menschen sind unterschiedlich. Nur unsere Unter-
schiedlichkeit, unsere Diversität ermöglicht Fortschritt und Entwicklung. Wären wir
Menschen nicht divers, würde es uns wohl nicht mehr geben. Je unterschiedlicher wir
sind, desto besser könnte man sagen. Diesen Schluss kann man ziehen.
Sie halten ein besonderes, ein wertvolles Buch in den Händen. Die Herausgeber
Matthias Hörmeyer und Dr. John Meister legen einen Beitragsband vor, der Augen
öffnend und in die Zukunft gerichtet ist.
Im Kontext von Verwaltungen wird seit einigen Jahren über Diversity diskutiert
und das Thema vorangebracht. Gefehlt hat bisher ein Werk wie das vorliegende, das
über Einzelaspekte von Diversity hinausgeht und eine Gesamtschau zeigt. Das Gute an
diesem Buch ist die Vielfalt der Beiträge. Diversity wird in mehr als 30 Fachbeiträgen
in sieben thematisch hervorragend sortierten Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven
beleuchtet, kritisch analysiert und es werden Entwicklungstendenzen aufgezeigt. Den
Herausgebern ist es gelungen, Diversity in seiner ganzen Bandbreite für die Verwaltung
darzustellen. Die 15 Thesen zu Diversity in der öffentlichen Verwaltung im letzten
Kapitel sind auch schon zur Einstimmung auf das Buch zu empfehlen! Das größte Ver-
dienst besteht darin, dass das Thema Diversity nicht als Vehikel eines bestimmten
Zweckes präsentiert wird. Wenn auch Sie beim Lesen von Texten mit dem Tenor „Mit
Diversity reagieren wir auf den Fachkräftemangel in der Verwaltung“ Unverständnis
ergreift, wissen Sie, was ich meine. Diversity ist gerade kein „Instrument“, um einzelnen
Probleme zu lösen!
Matthias Hörmeyer und Dr. John Meister sowie die Autor*innen der Beiträge machen
das, was schon die Mütter und Väter des Grundgesetzes vor über 70 Jahren klug und
weitsichtig getan haben, indem sie die Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantast-
bar“) und Artikel 3 („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“) des Grundgesetzes
für die Bundesrepublik Deutschland als unveränderliche Grundrechte für die Menschen
statuiert haben. Sie schreiben der Diversität gerade keinen isolierten Zweck zu, sondern
verstehen sie als Haltung für das gemeinsame Leben und Arbeiten in unserer Gesell-
schaft.
VII
VIII Geleitwort von Klaus Effing
Das Buch wird dazu beitragen, dass wir die Diversität als das verstehen, was sie ist:
Eine Selbstverständlichkeit!
Klaus Effing
Geleitwort von Regine Graml
IX
X Geleitwort von Regine Graml
Das Institut für Mixed Leadership (IML) an der Frankfurt University of Applied
Sciences (Frankfurt UAS) forscht interdisziplinär zu den Themen Mixed Leadership,
innovative Führung, Wandel der Führungskultur sowie Diversität als Erfolgsfaktor für
Unternehmen. Neben der breit aufgestellten Forschung bietet das IML an den Bedürf-
nissen der Praxis orientierte Veranstaltungen und Beratungsangebote an. Es dient
als Plattform für die interdisziplinäre Kooperation von Hochschulen, Unternehmen,
Behörden und Verbänden und betreibt die Akademie Mixed Leadership, die durch
gezielte Weiterbildung und Sensibilisierung zu mehr (Gender-)Diversität in Führungs-
positionen beitragen soll.
Regine Graml
Motivation und Aufbau des Buches
Die Gestaltung von Diversity in Organisationen ist inzwischen ein viel diskutiertes
Thema. Diversity wird als große Chance gesehen, wenn es zum Beispiel darum geht,
neue Talente zu gewinnen, Perspektivenvielfalt und Innovation zu fördern oder
kund*innenzentrierter zu arbeiten. Diese Chancen gilt es zu nutzen. Der wertschätzende,
anerkennende, fördernde und engagierte Umgang mit Vielfalt ist aus normativer
Sicht gesellschaftlich erforderlich. Mit ihm sind demokratische Ziele und Werte wie
etwa Chancengleichheit, gleichberechtigte Teilhabe, Partizipation, Repräsentanz und
gesellschaftlicher Zusammenhalt verbunden, die im privaten wie auch beruflichen All-
tag gelebt und gestärkt werden sollen. Überdies werden mit Diversity aber auch hand-
feste Vorteile für Organisationen generiert. In der deutschen Wirtschaft ist der bewusste
Umgang mit Vielfalt zunehmend etabliert. Im Fokus steht hier das sogenannte Diversity
Management als strategisches Instrument zur Entwicklung einer Organisationskultur.
Diversity Management zielt darauf ab, dass alle Menschen sich mit ihren individuellen
Fähigkeiten in ihrer Organisation einbringen können, ihre Bedürfnisse in der
Organisation berücksichtigt werden und für die Organisation signifikante Wettbewerbs-
vorteile generiert werden sollen.
Die Förderung personeller und kultureller Vielfalt in einer Organisation ist aber
nicht nur Aufgabe der Wirtschaft. Der öffentliche Dienst ist der größte Arbeitgeber
Deutschlands. In der öffentlichen Verwaltung arbeiten Menschen engagiert daran,
den politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Auftrag zu erfüllen, Gemeinwohl-
orientierung, Daseinsvorsorge und Rechtsstaatlichkeit für alle zu gewährleisten. Auch
deshalb trägt die öffentliche Verwaltung besondere gesellschaftliche Verantwortung: Sie
sollte sichtbares Vorbild sein, indem sie sich stärker denn je den Bürger*innen öffnet und
sich zum Spiegelbild einer vielfältigen Gesellschaft entwickelt.
Das vorliegende Buch zeigt, dass die Gestaltung von Diversity eine zentrale Antwort
darauf ist, die zukünftigen Herausforderungen der öffentlichen Verwaltung zu meistern.
Die öffentliche Verwaltung des 21. Jahrhunderts wird von zahlreichen Megatrends beein-
flusst. Unter anderem der demografische Wandel führt zu einem signifikanten Arbeits-
kräftebedarf. Auch der Personalwettbewerb mit der Privatwirtschaft wird zunehmend
intensiver. Zugleich werden öffentliche Aufgaben stetig komplexer: Verwaltungen
XI
XII Motivation und Aufbau des Buches
Dieses Buch wäre ohne die Mitwirkung zahlreicher engagierter, inspirierender Personen
nicht entstanden. Und so möchten wir uns bei den Fachautor*innen dieses Buchs
von ganzem Herzen bedanken (ganz förmlich in alphabetischer Reihenfolge): Alice
Rittgerodt, Anika Krellmann, Baris Önes, Belma Bekos, Christian Zierau, Cigdem Bern,
Edwin Meier, Gabriel Rath, Gülcan Yoksulabakan-Üstüay, Hans W. Jablonski, Ibrahim
Köran, Ines Hansen, Irina Eckardt, Isabel Collien, Jan Klumb, Jana Janze, Jochen Schiff-
mann, Julia Göpel, Kathleen Jäger, Magdalena Rogl, Magdalena Weiß, Marc Groß,
Maria Pozder, Meike Reuter, Melanie Peterson, Paula Lina Auksutat, Peter Janze,
Rouven-Alexander Slabik, Sabine Meister, Sarina Badafras, Sonja Dudek, Stefan Fuerst,
Tessa Hillermann, Zehra Öztürk.
Unser Dank gilt ebenso Ana-Cristina Grohnert, Vorstandsvorsitzende der Charta der
Vielfalt e. V., Dr. Klaus Effing, Vorstand der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Ver-
waltungsmanagement (KGSt), und Prof. Dr. Regine Graml, geschäftsführende Direktorin
des Instituts für Mixed Leadership (IML) an der Frankfurt University of Applied
Sciences (Frankfurt UAS), deren sichtbare Unterstützung uns viel bedeutet.
Last but not least möchten wir Rolf-Günther Hobbeling vom Springer Gabler Ver-
lag unseren herzlichen Dank aussprechen, der uns während dieses Projekts mit Witz,
Charme und ganz viel Unterstützung begleitet hat.
Wir hoffen, dass wir Ihnen mit diesem Buch Anregungen und neue Impulse geben
können – für eine erfolgreiche und nachhaltige Gestaltung von Vielfalt in Ihrer
Organisation. Seien Sie motiviert und lassen Sie sich auch nicht von Rückschlägen
abschrecken. Halten Sie vielmehr an Ihrer Leidenschaft und Motivation fest, die
öffentliche Verwaltung positiv zu verändern. Sie können ein Vorbild sein!
Ihre
John Meister
Matthias Hörmeyer
(Hrsg.)
Inhaltsverzeichnis
XV
XVI Inhaltsverzeichnis
XXV
XXVI Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis
XXIX
XXX Abbildungsverzeichnis
XXXI
Teil I Grundlagen des Diversity Management in
der Verwaltung
Diversity in der öffentlichen Verwaltung –
eine Einführung
Zusammenfassung
Diversity in der öffentlichen Verwaltung ist eine zentrale Antwort darauf, die
Herausforderungen der Zukunft zu meistern, denen sämtliche Organisationen der
öffentlichen Verwaltung gegenüberstehen. Dabei wird deutlich, dass Diversity weit
mehr ist als eine formale Umsetzung rechtlicher Vorgaben ist. Die aktive, strategische
Gestaltung von Diversity bietet zahlreiche Potenziale für öffentliche Verwaltungen,
die Chancen von Vielfalt zu nutzen, Diskriminierung zu bekämpfen und Chancen-
gleichheit zu verwirklichen. Darüber hinaus schafft Diversity noch viele weitere
sinnstiftende Möglichkeiten für öffentliche Verwaltung. In dieser Einleitung wird auf-
gezeigt, was unter Diversity konkret zu verstehen ist und warum diese Potenziale in
den Fokus genommen werden sollten.
Schlüsselwörter
J. Meister ( )
Freie und Hansestadt Hamburg, Hamburg, Deutschland
M. Hörmeyer
KGSt, Köln, Deutschland
1 Einleitung
Die öffentliche Verwaltung ist mit über 5 Mio. Beschäftigten1 (dbb 2022) mit Abstand
die größte Arbeitgeberin Deutschlands. Zu ihr gehören vielfältigste Einrichtungen,
beispielsweise örtliche Gemeindeverwaltungen, überörtliche Kommunalverbände,
Bezirksregierungen und Regierungspräsidien, Landes- und Bundesministerien, Sozial-
versicherungsträger, die Bundesagentur für Arbeit, Stadtwerke, Universitäten und Hoch-
schulen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, aber auch Gefängnisse, Museen, öffentliche
Betriebe wie auch zahlreiche weitere Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des
öffentlichen Rechts2 (Bogumil 2018, S. 2829 ff.). Im weiteren Sinne kommen darüber
hinaus die zahlreichen privatrechtlichen Unternehmen hinzu, die sich ganz oder teil-
weise im Eigentum der öffentlichen Hand befinden und in enger Verbindung mit den
Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung stehen (z. B. häufig Verkehrsbetriebe oder
kommunale Krankenhäuser).
Das komplexe System der öffentlichen Verwaltung ist mit verschiedensten Heraus-
forderungen im 21. Jahrhundert konfrontiert. Die Vielfältigkeit öffentlichen Verwaltungs-
handelns unterliegt inzwischen einem mindestens genauso vielschichtigen Geflecht aus
wachsenden politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Ansprüchen
und Erwartungen. Zu dieser Gemengelage kommen die sog. „Megatrends“ des 21.
Jahrhunderts hinzu, welche signifikanten Einfluss auf die zukünftige Verwaltungsent-
wicklung haben. So wird sich beispielsweise der aktuell schon zugespitzte Arbeitskräfte-
mangel durch den demografischen Wandel und den bevorstehenden massenhaften Eintritt
der „Baby-Boomer“ in den Ruhestand weiter verschärfen. Darüber hinaus werden die
unzähligen fachpolitischen Themen, die von der öffentlichen Verwaltung gesteuert
werden müssen, durch die Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft und
die damit einhergehenden steigenden Erwartungen an ein zeitgemäßes Verwaltungs-
handeln auf allen föderalen Ebenen immer vielschichtiger. Verwaltungen müssen heute
zugleich komplexe interdisziplinäre Fachthemen steuern, die digitale Transformation
aktiv gestalten, die öffentliche Daseinsvorsorge zukunftssicher aufstellen und demo-
kratische Prozesse vor Ort fördern. Zudem ist die Innovationsfähigkeit der öffentlichen
Verwaltung mehr denn je gefragt, um auch in Zukunft schnell und leistungsfähig auf ver-
änderte Situationen oder gar Krisen adäquat reagieren zu können. Schließlich steht die
öffentliche Verwaltung auch im direkten Wettbewerb mit der Privatwirtschaft, wenn es
um die Gewinnung des besten Personals geht. In all diesen verschiedenen Zusammen-
hängen spielt Diversity eine zentrale Rolle.
Die Begriffe „Diversity“ und „Vielfalt“3 nutzen wir alle – wie selbstverständlich – in
unserem alltäglichen Vokabular. Auch im Verwaltungsalltag spielt das Thema Diversity
eine gewichtige Rolle. Viele Verwaltungen setzen sich aktiv mit dem Thema „Diversity“
auseinander, indem sie beispielsweise im Kontext des Personalmanagements Strategien
und Maßnahmenpläne erarbeiten, die aus dem Diversity-Gedanken heraus den Arbeits-
alltag für die Beschäftigten erleichtern oder angenehmer gestalten sollen. Wieder
andere Verwaltungen setzen sich zwar nicht bewusst mit dem Thema Diversity aus-
einander, setzen aber dennoch Maßnahmen um, die auf das Thema Diversity einzahlen.
Als gängige Beispiele für – bewusst oder unbewusst umgesetzte Diversity-Maßnahmen
– lassen sich die zunehmende Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Arbeitsorten
(mobiles Arbeiten) oder das wachsende Angebot an mehrsprachigen Verwaltungsservices
nennen. Derartige Maßnahmen tragen dazu bei, dass die vielfältigen, unterschied-
lichen Bedürfnisse von Menschen, seien es intern die Beschäftigten oder extern die
Verwaltungskund*innen, stärker in den Fokus genommen und besser adressiert werden.
Und genau darum es geht es bei Diversity. Es braucht diesen empathischen Blick auf
die vielfältigen, unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen, um die öffentliche Ver-
waltung in der heutigen Zeit als nahbar, sinnstiftend und gemeinwohlorientiert zu
formen.
3 DieBegriffe „Diversity“ und „Vielfalt“ werden, sofern nicht anders angegeben, in diesem Buch
synonym verwendet.
6 J. Meister und M. Hörmeyer
Vor diesem Hintergrund verfolgt dieses Buch ein klares Plädoyer: Es ist Zeit
für eine neue echte Haltung in der öffentlichen Verwaltung, die Vielfalt wertschätzt
und anerkennt. Verbunden mit einem Bewusstsein, dass die ganzheitliche, aktive
Gestaltung von Diversity eine zentrale Verwaltungsaufgabe darstellt – im Sinne eines
professionellen Diversity Management in der öffentlichen Verwaltung.
Doch bevor wir darüber sprechen können, warum und wie Diversity in der
öffentlichen Verwaltung aktiv gestaltet werden kann, müssen wir zunächst erst einmal
einen Schritt zurückgehen und ein gemeinsames Fundament über den komplexen Begriff
entwickeln. Es geht also um die Schaffung eines einheitlichen Begriffsverständnisses:
„Was verstehen wir überhaupt unter Diversity“?
„Diversity bedeutet in erster Linie Perspektivenvielfalt. Diese Vielfalt entsteht
dadurch, dass jede Person durch ihre Erfahrungen und ihre aktuelle Lebenssituation
sowie damit verbundenen Bedürfnisse individuell ist“ (vgl. KGSt 2022, S. 3). Wenn wir
also davon sprechen, Diversity in der öffentlichen Verwaltung aktiv zu gestalten, dann
meinen wir damit, die Individualität und Einzigartigkeit von Menschen zu erkennen,
zu verstehen, wertzuschätzen und schließlich die gewonnene Perspektivenvielfalt zu
nutzen, um auf diesem Wege die Zukunft der öffentlichen Verwaltung zum Wohle aller
zu gestalten. In diesem Zusammenhang muss Diversity ganzheitlich verstanden werden,
d. h. Menschen müssen in allen ihren Facetten wahrgenommen werden. Das umfasst,
neben einer in vielen öffentlichen Verwaltungen bereits stark ausgeprägten Gleich-
stellungsarbeit von Frauen und Männern, noch viele weitere Merkmale, die die Vielfalt
der Gesellschaft auszeichnen. Beispielhaft können hier die Bedarfe von Mitarbeitenden,
die Familienangehörige pflegen und betreuen, die Bedarfe von Menschen mit körper-
lichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen, die Bedarfe von Menschen
mit Migrationsbiografien oder die Bedarfe queerer Personen4 genannt werden. Vielfalt
von Menschen drückt sich also – im wahrsten Sinne – vielfältig aus.
Eine öffentliche Verwaltung, die das volle Potenzial von Diversity ausschöpfen
will, muss alle Dimensionen einer vielfältigen Gesellschaft im Blick haben und
darf nicht einzelne Dimensionen solitär fördern!
Diese „Vielfalt der Vielfalt“ kann mit den sogenannten „Diversity-Dimensionen“ greif-
bar gemacht werden.
4 „Queer“ ist ein Sammelbegriff für Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierungen und
geschlechtlicher Identitäten.
Diversity in der öffentlichen Verwaltung – eine Einführung 7
3 Diversity-Dimensionen
In der Praxis werden die unterschiedlichen Facetten von Diversity durch sogenannte
„Diversity-Dimensionen“ systematisiert. Natürlich stellt sich unmittelbar die Frage, ob
es richtig sein kann, ausgerechnet Diversity zu kategorisieren. Für das praxisorientierte
Verständnis stellen Diversity-Modelle, die mit abgrenzbaren Dimensionen arbeiten,
eine methodische Erleichterung dar. Solche Analysemodelle sind eine intentionale,
also ganz bewusste Komplexitätsreduktion, um Diversity für das Alltagshandeln greif-
bar und mithin praktisch nutzbar zu machen. Man kann also auch sagen, dass ein
Diversity-Modell dabei hilft, sich auf das Wesentliche fokussieren zu können. Aus dem
abstrakten Wort „Diversity“ wird so eine ganz konkrete Konzeption, die zugänglich für
die (Verwaltungs-)Praxis ist. Zugleich sollte das Bewusstsein dafür geschärft werden,
dass die gezielte Vereinfachung auch eben bedeutet, von der Realität abzuweichen.
Ein Diversity-Modell hilft, etwas so Komplexes wie die Vielfalt in der Gesellschaft auf
wesentliche Kernelemente herunterzubrechen, kann aber nicht den Anspruch haben,
„echte“ einhundertprozentige Gültigkeit zu besitzen. In der praktischen Benutzung eines
Diversity-Modells sollte diese Einschränkung immer vor Augen gehalten werden.
In der öffentlichen Diskussion wie auch in der Arbeitspraxis hat sich vor allem der
Vorschlag der Charta der Vielfalt e. V. etabliert. Die Charta der Vielfalt e. V. ist ein
gemeinnütziger Verein, der sich für die Verankerung von Diversität in Wirtschaft, Ver-
waltung und Gesellschaft einsetzt. Organisationen können dem Verein beitreten, indem
sie die sogenannte „Charta der Vielfalt“ unterzeichnen. Mit der Unterzeichnung der
Charta der Vielfalt bekennt sich eine Organisation zu den Grundwerten der Vielfalt
und verpflichtet sich, die Vielfalt in der eigenen Organisation zu fördern. In den letzten
Jahren haben auch viele Verwaltungsorganisationen die Charta der Vielfalt unterzeichnet
und setzen dadurch ein öffentliches Zeichen (vgl. KGSt 2022, S. 10 ff.). Die Charta der
Vielfalt e. V. nutzt ein vierstufiges Diversity-Modell zur Erfassung von Vielfalt in unter-
schiedliche Dimensionen. Dieses Modell findet breite positive Resonanz in Praxis und
Lehre. Es basiert auf dem Prinzip der 4 Layers of Diversity nach Gardenswartz und
Rowe (1998). Die Abb. 1 stellt das Diversity-Modell der Charta der Vielfalt e. V. grafisch
dar (vgl. Charta der Vielfalt 2022):
Das Prinzip der 4 Layers of Diversity definiert vier Dimensionen von Diversi-
tätsmerkmalen: 1) Die Dimension der Persönlichkeit, 2) die Kern-Dimensionen (bei
Gardenswartz und Rowe „innere Dimensionen“ genannt), 3) die äußere Ebene (bzw.
„äußere Dimension“) sowie 4) die organisationale Ebene (bzw. „organisationale
Dimension“). Zentrales Paradigma ist, dass ein Individuum durch die Merkmale aller
vier Ebenen geprägt ist.
Je weiter eine Dimension vom Kern des Modells – der Persönlichkeit – entfernt
ist, desto flexibler und wandelbarer ist sie. Die beiden außenstehenden Ebenen, die
organisationale und die äußere Ebene, zeichnen sich daher durch grundsätzliche Ver-
änderbarkeit aus, d. h. ein Individuum kann diese – zumindest dem Grunde nach – für
8 J. Meister und M. Hörmeyer
Abb. 1 Das Prinzip der „4 Layers of Diversity“ frei nach Gardenswartz und Rowe. (Abbildung
frei nach Gardenswartz und Rowe: „4 Layers of Diversity)
sich verändern.5 Die grundsätzliche Veränderbarkeit spielt für den Wert der Dimension
jedoch keine Rolle. Jede Dimension ist genauso wichtig wie die andere.
Bei den Kern-Dimensionen, die unmittelbar im Umkreis um die Persönlichkeit herum
angeordnet sind, ist diese Veränderbarkeit nicht mehr gegeben. Die Kern-Dimensionen
stellen die nahezu unveränderbaren Eigenschaften eines Menschen dar. Zugleich haben
5 Dassdies in der Realität häufig schwierig, für viele Menschen individuell zu einem bestimmten
Maße auch unmöglich ist (z. B. „Einkommen“ frei zu ändern), ist evident. Es geht hier um das
konzeptionelle Verständnis einer Veränderbarkeit.
Diversity in der öffentlichen Verwaltung – eine Einführung 9
sie den größten Einfluss auf dessen Ein- oder Ausgrenzung in der Gesellschaft. Die hier
genannten sieben Merkmale Alter, ethnische Herkunft und Nationalität, Geschlecht
und geschlechtliche Identität, körperliche und geistige Fähigkeiten, Religion und Welt-
anschauung, sexuelle Orientierung sowie soziale Herkunft6 sind aus diesem Grund der
zentrale Ausgangspunkt des Diversity Management.
Ausgehend von diesen Überlegungen der Charta der Vielfalt e. V. hat schließlich die
Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) im Jahr 2022 die
sieben Kern-Dimensionen aufgegriffen und mit speziellem Fokus auf die öffentliche
Verwaltung beschrieben. Demnach besteht folgendes Verständnis von Diversity in der
öffentlichen Verwaltung, welches auch in dem vorliegenden Buch als Grundverständnis
verwendet wird (vgl. KGSt 2022, S. 10 ff.):
6 Die Erweiterung um die siebte Dimension „Soziale Herkunft“ erfolgte durch die Charta der Viel-
falt e. V.; im Ausgangskonzept der 4 Layers of Diversity nach Gardenswartz und Rowe (1998) ist
die soziale Herkunft nicht als Kern-Dimension bzw. innere Dimension erfasst.
10 J. Meister und M. Hörmeyer
licher Generationen ist daher zentral für ein erfolgreiches Diversity Management in der
öffentlichen Verwaltung. (vgl. KGSt 2022, S. 12).
7 LSBTIQ steht für lesbische, schwule und bisexuelle sowie trans- und intergeschlechtlichen und
andere queere Menschen. In der englischsprachigen Variante wird das „S“ durch „G“ (für gay)
ersetzt.
Diversity in der öffentlichen Verwaltung – eine Einführung 11
8 Wichtigist, die Konzeption von Intersektionalität grundlegend zu kennen, für eine nähere
Befassung empfehlen wir die angegebene Quelle (Adusei-Poku und Shooman 2012).
12 J. Meister und M. Hörmeyer
Die sich verändernde Gesellschaft spiegelt sich auch in der Belegschaft wider.
Beschäftigte haben vielfältige Bedarfe und befinden sich in unterschiedlichen Lebens-
situationen. Neue, Diversity-sensible Wege in der Personal- und Führungskräfte-
entwicklung zu gehen bedeutet, diesen veränderten Anforderungen auch aus der
Belegschaft gerecht werden zu können.
und geweckte Erwartungen zu erfüllen – damit Diversity nicht nur Feigenblatt ist,
sondern wirklich aktiv und nachhaltig gestaltet wird.
Die Gestaltung von Diversity ist eine gesamtgesellschaftliche, aber auch gesamt-
organisationale Aufgabe für die öffentliche Verwaltung. Insofern ist Diversity eine Quer-
schnittsaufgabe, die von allen Fachbereichen einer öffentlichen Verwaltung beachtet,
gestaltet und gelebt werden muss. In der Praxis wird deutlich, dass Diversity sich in den
unterschiedlichsten Aufgabenfeldern der öffentlichen Verwaltung zeigt und besondere
Relevanz einnimmt. Nachfolgend werden einige Aufgabenfelder beispielhaft aufgezeigt
(Hörmeyer und Meister 2022a, b):
Organisation
Die Verankerung von Diversity in der Organisation ist ein kultureller Entwicklungs-
prozess. Diversity muss als Bestandteil der Führungs- und Organisationskultur ver-
standen werden. Das setzt voraus, dass sich Verwaltungsführung und sämtliche
Führungskräfte mit Diversity auseinandersetzen. Interne Prozesse, Strukturen und
Vorgaben müssen diversitätsorientiert weiterentwickelt werden. Einzelne beispiel-
hafte Instrumente wären etwa die Erhöhung der Möglichkeiten flexibler Arbeitszeiten
nach individuellen Bedürfnissen oder die Beteiligung von Nutzer*innen in Projekten.
Führungskräfte haben die Verantwortung, als Vorbild einen wertschätzenden
zwischenmenschlichen Umgang zu fördern. Darüber hinaus müssen Bottom-up-Ent-
wicklungen zugelassen und gefördert werden, um Netzwerke entstehen zu lassen und
Diversity prozessimmanent zu gestalten.
Personalmanagement
Personalentwicklung
Führung
Führungskräfte haben im Kontext von Diversity eine herausragende Rolle. Sie sind
Vorbilder und erste Ansprechperson, wenn Teammitglieder zum Beispiel Dis-
kriminierungen erfahren haben oder individuelle Bedürfnisse äußern wollen.
Eine Diversity-orientierte Führung zeigt sich beispielhaft in der strategischen und
operativen Zielsteuerung, indem Ziele gesetzt bzw. vereinbart werden, die auf die
Stärkung von Vielfalt einzahlen. Bei der Aufgaben- und Einsatzplanung sollten
Führungskräfte individuelle Bedürfnisse einzelner Teammitglieder berücksichtigen.
Häufig ergeben sich aus den unterschiedlichen Diversity-Dimensionen heraus spezi-
fische Bedürfnisse, die nicht alle Teammitglieder direkt vor Augen haben. Berufs-
tätige Eltern brauchen vielleicht regelmäßig nachmittags einige Stunden frei, um
ihre Kinder abzuholen und sich um sie zu kümmern. Die Arbeit wird dann am Abend
nachgeholt. Beschäftigte mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen werden nicht
immer in der Lage sein, Behandlungstermine außerhalb der Arbeitszeit zu legen.
Durch die Berücksichtigung individueller Belange können mehr Verständnis und
Empathie im Team aufgebaut werden.
Mit diversen Teams sind zahlreiche Vorteile verbunden (s. o.). Gleichwohl sind
diverse Teams kein Selbstläufer. Es braucht förderliche Rahmenbedingungen sowie
vor allem motivierte, engagierte und offene Mitarbeitende und Führungskräfte. Es
würde kaum etwas bringen, wenn zum Beispiel Frauen oder jüngere Menschen zwar
mit am Tisch sitzen, aber realiter nicht gehört werden. Diversity endet daher nicht mit
der Schaffung von formaler Repräsentativität, sondern muss ambitioniert sein und
sicherstellen, dass vielfältige Perspektiven in alle zentralen Entscheidungsprozesse
inkludiert werden. Gleichzeitig müssen bestehende Mitarbeitende und Führungskräfte
16 J. Meister und M. Hörmeyer
Abb. 2 Vorgehensmodell zur Einführung von Diversity Management. (Eigene Abbildung frei
nach Charta der Vielfalt 2017, S. 28)
Die soeben vorgenommene Auflistung ist nicht vollständig, sondern exemplarisch zu ver-
stehen. Nicht genannt sind die sektoralen Fachbereiche der öffentlichen Verwaltung, wo
die aktive Auseinandersetzung mit Diversity aber mindestens genauso von Bedeutung ist.
Auch in den Ordnungs-, Sozial-, Jugend-, Schul-, Kultur-, Bau-, Umweltämtern und in
den vielen weiteren Dienststellen ermöglicht die Befassung mit Diversity, neue Sicht-
weise zu generieren und Potenziale für menschenfreundliche Verbesserungen für alle zu
erreichen – für Beschäftigte und für Bürger*innen. Es wird deutlich, dass in sämtlichen
Fachfeldern der öffentlichen Verwaltung ein Denken und Handeln in Diversity mög-
lich und sinnvoll ist. Wie ein Diversity Management als systematisches Konzept in die
öffentliche Verwaltung eingeführt werden kann, wird im nachfolgenden Kapitel gezeigt.
Nach den Erfahrungen der Charta der Vielfalt e. V. hat sich das nachstehende
standardisierte Vorgehensmodell für öffentliche Verwaltung bewährt. Das
Vorgehensmodell der Charta der Vielfalt e. V. sieht fünf Schritte vor, die eine erfolg-
Diversity in der öffentlichen Verwaltung – eine Einführung 17
9 Inder nachfolgenden Darstellung wurde das Vorgehensmodell der Charta der Vielfalt e. V.
als Grundlage genommen und auf Basis der Erkenntnisse der Fachbeiträge des Buchs teilweise
erweitert.
18 J. Meister und M. Hörmeyer
spiel durch Beschluss der Verwaltungsleitung oder durch Beschluss der Politik her-
gestellt werden. Die Verwaltung muss regelmäßig Rechenschaft über die Umsetzung
des Gesamtkonzepts ablegen. Wesentlicher Bestandteil des Gesamtkonzepts sind die
Projekte und Maßnahmen, mit denen auf die Zielerreichung eingezahlt wird. Die Ent-
wicklung der Maßnahmen sollte in einem partizipativen, interdisziplinären Prozess unter
breiter Beteiligung von Beschäftigten auf allen Hierarchieebenen, Expert*innen sowie
Personalvertretungen erfolgen. Je nach Maßnahme sollten auch externe Organisationen,
welche die Interessen einzelner Diversity-Dimensionen vertreten, eingebunden werden
(ebd.). Für diesen 3. Schritt sollten zudem ausreichend finanzielle, personelle und zeit-
liche Ressourcen eingeplant werden (ebd.). Für eine gelungene Umsetzung bedarf es
überdies klarer Verantwortlichkeiten. In Anlehnung an die sog. „RACI-Matrix“10 wären
hierfür geeignete Leitfragen: Wer ist für die Durchführung welcher Maßnahmen (bzw.
welcher Arbeitspakete innerhalb der Maßnahmen) verantwortlich? Wer kann und muss
welche Entscheidungen hierfür treffen (z. B. Ressourcenbereitstellung)? Wer muss
beteiligt werden? Wer muss informiert werden?
Im 4. Schritt werden die entwickelten und konsentierten Maßnahmen umgesetzt.
Auch die Maßnahmenumsetzung sollte partizipativ angelegt sein, um alle Mit-
arbeitenden im Veränderungsprozess mitzunehmen, Ängste und Unsicherheiten abzu-
bauen sowie möglichen Widerständen konstruktiv zu begegnen (ebd.). Flankierend ist
eine regelmäßige Kommunikation erforderlich, um Informationsdefizite abzubauen,
Überzeugungsarbeit zu leisten, sichtbare Ergebnisse bekannt zu machen („Tue Gutes
und rede darüber!“) sowie mithin Begeisterung und Motivation zu sichern. Die für die
Maßnahmenumsetzung verantwortlichen Teams und Personen sollten im regelmäßigen
Austausch stehen, um wechselseitig voneinander zu lernen, Erfahrungen zu berichten,
Synergien zu identifizieren und sich gegenseitig zu unterstützen.
Im 5. Schritt erfolgt die Erfolgsmessung. Das Controlling der festgelegten Ziele
mittels der Indikatoren/Kennzahlen ist ein zentraler Faktor für den Erfolg eines Diversity
Management (ebd.). Die laufende Erfolgskontrolle ermöglicht es, frühzeitig Fehlent-
wicklungen zu erkennen, entsprechende Anpassungen in Strategie und Maßnahmen
zu antizipieren sowie den Umsetzungsprozess kontinuierlich zu verbessern (ebd.). Im
Rahmen des Controllings müssen die Maßnahmen stets aus einer ganzheitlichen, über-
greifenden Perspektive betrachtet werden, um sowohl die spezifische Umsetzung der
Maßnahmen im Blick zu behalten als auch „das Große und Ganze“ nicht aus den Augen
zu verlieren. Oder anders ausgedrückt: Ein gutes Controlling beantwortet einerseits die
Fragestellung „Tun wir es richtig?“ (Implementierungsfortschritt), zugleich fortlaufend
aber auch die Frage „Tun wir das Richtige?“ (tragen die Maßnahmen zur Zielerreichung
bzw. zum Outcome und Impact wirklich bei?).
10 RACI steht für Responsible, Accountable, Consulted, Informed und ist eine bewährte Methode
Die Ausführungen zeigen, dass die öffentliche Verwaltung in den kommenden Jahren
nicht am Thema Diversity vorbeikommen wird. Die Auswirkungen auf die öffentliche
Verwaltung selbst und die Wechselwirkungen zwischen öffentlicher Verwaltung und
Gesellschaft sind signifikant. Vor diesem Hintergrund muss Diversity als Führungsthema
etabliert und in Leitbild- und Strategieprozessen berücksichtigt werden. Eng damit ver-
bunden ist ein gesamtorganisationaler kultureller Entwicklungsprozess. Die Notwendig-
keit einer aktiven Gestaltung von Diversity in der öffentlichen Verwaltung ist deutlicher
denn je. Die Übersetzung in Verwaltungshandeln erfolgt über eine klare, systematische
und strategische Steuerung, mit der das Thema Diversity ganzheitlich und breitenwirk-
sam in der Verwaltungsorganisation verankert wird.
Ein solches strategisches Bewusstsein über Diversity wird nicht von „heute auf
morgen“ entwickelt und implementiert sein – auch nicht in der öffentlichen Verwaltung.
Die aktive Gestaltung von Diversity ist vielmehr ein kontinuierlicher Prozess, der das
Mitmachen von motivierten Beteiligten auf allen Verwaltungsebenen erfordert und Ein-
fluss in sämtliche Sphären der öffentlichen Verwaltung nehmen muss. Angesichts dessen
dürfte klar sein: Die aktive Gestaltung von Diversity erfordert einen langen Atem. Viele
kleine Schritte werden erforderlich sein, um große Veränderungen zu erzeugen. Auch
manche Rückschläge werden zu verkraften sein. Im Nachfolgenden werden einige
Mindestanforderungen für ein nachhaltiges Gelingen von Diversity Management in der
öffentlichen Verwaltung formuliert (Hörmeyer und Meister 2022a):
20 J. Meister und M. Hörmeyer
Anders als bei anderen „Megathemen“ entsteht das Bewusstsein für Diversity in der
Praxis häufig zunächst bottom-up, also aus der Belegschaft heraus. So gibt es wohl
in jeder öffentlichen Verwaltung einzelne Mitarbeitende oder kleine Gruppen von
Mitarbeitenden, die sich intrinsisch motiviert für Vielfaltsthemen engagieren wollen.
Gleichwohl ist es Aufgabe des Management, solche Potenziale zu erkennen, zu
fördern und in organisatorisch wirksame Strukturen und Prozesse zu transformieren.
Dies kann zum Beispiel durch die Schaffung von institutionalisierten Netzwerken,
Bereitstellung von Ressourcen (zum Beispiel Freiräume im Rahmen der Arbeits-
zeit) oder durch Zielvereinbarungen (zum Beispiel die Vereinbarung zu Diversity-
Maßnahmen oder -Fortbildungen) gelingen.
Diversity in der öffentlichen Verwaltung – eine Einführung 21
Diversity ist keine Disziplin, die von heute auf morgen in der Organisation verankert
wird. Sie erfordert Geduld und kann einen intensiven und kontroversen Diskurs
hervorrufen. Der Diskurs auf allen Hierarchieebenen ist aber notwendig und muss
aktiv angestoßen werden. Eine moderierte kritische Auseinandersetzung ist die beste
Möglichkeit, eigene Denkmuster und Verhaltensweisen zu reflektieren.
Diversity ist ein individueller und organisationaler Lernprozess. Im Zuge dieses Lern-
prozesses ist es notwendig, klare Werte und Normen für den Umgang miteinander
zu definieren. Beispiele hierfür sind Wertschätzung, Offenheit, Vertrauen oder das
Gespräch auf Augenhöhe – unabhängig von Hierarchien.
Diversity hat im Kontext Digitalisierung und Innovation eine wichtige Rolle. Projekt-
teams müssen divers aufgestellt sein, um eine inklusive Gestaltung von modernen
Verwaltungsangeboten zu gewährleisten. Allerdings reicht es nicht aus, ein Team
entsprechend den Vielfaltsdimensionen aus möglichst unterschiedlichen Menschen
zusammenzusetzen. Vielmehr ist es wichtig, im Team den kulturellen Lernprozess
anzustoßen, sodass Teammitglieder ihre Unterschiedlichkeit gegenseitig wertschätzen
und dadurch das Potenzial ihrer Vielfalt mehr und mehr ausschöpfen können.
8 Fazit
Zusammenfassung
Diversity bietet die Chance, die öffentliche Handlungsfähigkeit sicherzustellen
und durch eine öffentliche Verwaltung als „Spiegelbild der Gesellschaft“ die
gesellschaftliche Akzeptanz der Institutionen zu erhöhen.
Diversity zielt darauf ab, eine offene und wertschätzende Verwaltungskultur zu
etablieren, die Verwaltung zur vielfältigen Arbeitgeberin zu entwickeln sowie
Innovationsprozesse und die Verwaltungsmodernisierung durch Perspektiven-
vielfalt zu gestalten. Zudem ermöglicht Perspektivenvielfalt auch, dass
22 J. Meister und M. Hörmeyer
Im Rahmen dieses einführenden Beitrags wurden der Diversity-Begriff, die Vorteile, die
Aufgaben sowie die Herausforderungen und Anforderungen im Hinblick auf die aktive
Gestaltung von Diversity in der öffentlichen Verwaltung vorgestellt. Darüber hinaus
wurden anhand von kurzen Beispielen bereits zahlreiche Handlungsfelder skizziert, die
für eine Diversity-bewusste öffentliche Verwaltung von hoher Bedeutung sind. Damit
konnte ein erster Gesamtüberblick über den spannenden Themenbereich von Diversity in
der öffentlichen Verwaltung geschaffen werden.
Um nunmehr einen detaillierten Einblick in die verschiedenen Handlungsfelder zu
gewinnen, werden in den nachfolgenden Fachbeiträgen dieses Buches die unterschied-
lichen Facetten und Aspekte der aktiven Gestaltung von Diversity in der öffentlichen
Verwaltung themenspezifisch diskutiert, eingeordnet und insbesondere Handlungs-
empfehlungen für die Praxis vorgestellt. Als Herausgeber wünschen wir Ihnen an dieser
Stelle viel Spaß beim Lesen.
Literatur
Adusei-Poku, N., Shooman, Y. (2012). Mehrdimensionale Diskriminierung. In: Aus Politik und
Zeitgeschichte, 62. Jahrgang, Heft 16–17/2012, S. 47–52.
Bogumil, J. (2018). Verwaltung, öffentliche. In Handwörterbuch der Stadt- und Raumentwicklung,
S. 2829–2839. Hannover: Verlag der ARL
dbb (2022). Monitor Öffentlicher Dienst 2023, herausgegeben durch die Bundesleitung des dbb
beamtenbund und tarifunion. Berlin: DBB Verlag
Charta der Vielfalt (2017). Vielfalt, Chancengleichheit und Inklusion – Diversity Management in
öffentlichen Verwaltungen und Einrichtungen. Berlin: Charta der Vielfalt e. V.
Charta der Vielfalt (2022). Factbook Diversity. Berlin: Charta der Vielfalt e. V.
Gardenswartz, L, & Rowe, A (1998). Managing Diversity: A Complete Desk Reference and
Planning Guide, Verlag McGraw-Hill, New York.
Hörmeyer, M., & Meister, J. (2022a). Vielfalt als Aufgabe und Chance. In: Innovative Verwaltung,
Heft 05/2022, S. 37–39.
Diversity in der öffentlichen Verwaltung – eine Einführung 23
Hörmeyer, M., & Meister, J. (2022b). Das Potenzial von Vielfalt in den Fokus rücken. In:
Innovative Verwaltung, Heft 10/2022, S. 29–31.
KGSt (2022). Kommunales Diversity Management – Vielfalt als Chance für die Verwaltungs-
modernisierung. Köln: KGSt.
Dr. John Meister ist Experte für Reform- und Transformationsthemen in der öffentlichen Ver-
waltung. Er verfügt über breite interdisziplinäre Verwaltungserfahrung von über 15 Jahren und
war u. a. in Sozial-, Finanz-, Justiz-, Digitalisierungsressorts sowie auf Staatskanzleiebene tätig.
Er leitet aktuell das Referat „Inklusive Jugendhilfe“ in der Hamburger Sozialbehörde und ver-
antwortet die inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe. Daneben ist er Dozent für
Public Management mit Schwerpunkt in sozialwissenschaftlichen Themen an der Hochschule für
Angewandte Wissenschaften Hamburg.
Meike Reuter
Zusammenfassung
Bienen sind unverzichtbar für unsere Ökosysteme – und vom Aussterben bedroht.
Unter anderem, weil ihnen immer weniger Lebensräume und Nahrungsquellen
zur Verfügung stehen. Wie können wir alle zur Rettung der Bienen beitragen? Bei-
spielsweise, indem wir vorhandene Flächen in Wildblumenwiesen verwandeln.
Dazu müssen wir aktiv werden: den Boden vorbereiten, Saatgut verschiedenster
Pflanzen ausstreuen und für genug Feuchtigkeit sorgen. Darauf zu warten, dass
sich das ein oder andere Gänseblümchen von allein in den Garten oder das Balkon-
beet verirrt, wird die Bienen nicht retten. Ganz ähnlich verhält es sich mit Diversity
in Organisationen: Ohne aktives Zutun entsteht Vielfalt in einem sehr homogenen
Umfeld nicht oder nur extrem langsam. Und auch hier ist ein gut vorbereiteter Boden,
auf dem Vielfalt überhaupt erst wachsen kann, entscheidend. In Organisationen
besteht dieser Nährboden aus einer diversitätssensiblen und inklusiven Kultur. Wie
diese Kultur konkret aussehen und gestaltet werden kann, schauen wir uns in diesem
Fachbeitrag an.
Schlüsselwörter
M. Reuter ( )
PricewaterhouseCoopers GmbH, Hamburg, Deutschland
1 Einleitung
Bienen sind unverzichtbar für unsere Ökosysteme – und vom Aussterben bedroht. Unter
anderem, weil ihnen immer weniger Lebensräume und Nahrungsquellen zur Verfügung
stehen. Wie können wir alle zur Rettung der Bienen beitragen? Beispielsweise, indem
wir vorhandene Flächen in Wildblumenwiesen verwandeln. Dazu müssen wir aktiv
werden: den Boden vorbereiten, Saatgut verschiedenster Pflanzen ausstreuen und für
genug Feuchtigkeit sorgen. Darauf zu warten, dass sich das ein oder andere Gänseblüm-
chen von allein in den Garten oder das Balkonbeet verirrt, wird die Bienen nicht retten.
Ganz ähnlich verhält es sich mit Diversity in Organisationen: Ohne aktives Zutun
entsteht Vielfalt in einem sehr homogenen Umfeld nicht oder nur extrem langsam. Und
auch hier ist ein gut vorbereiteter Boden, auf dem Vielfalt überhaupt erst wachsen kann,
entscheidend. In Organisationen besteht dieser Nährboden aus einer diversitätssensiblen
und inklusiven Kultur. Wie diese Kultur konkret aussehen und gestaltet werden kann,
schauen wir uns in diesem Fachbeitrag an.
„Diversity ist ein klarer Business Case“ – also etwas, das uns verbesserte Leistung
und verbesserte wirtschaftliche Ergebnisse verspricht. Mit dieser Argumentation im
Gepäck machen sich immer mehr Unternehmen auf den Weg, führen Frauenförder-
programme ein und schwingen Regenbogenflaggen. Auch innerhalb des öffentlichen
Sektors wird das Thema Diversity immer stärker in den Fokus gerückt. Daran
geknüpft ist das Versprechen die zunehmenden Herausforderungen, wie Fachkräfte-
mangel, Modernisierungs- und Digitalisierungsdruck sowie steigende Bedürfnisse der
Bürger*innen, bewältigen zu können. Und ja: Bei der erfolgreichen Bewältigung dieser
Themen geht es um nichts weniger als die Zukunftsfähigkeit des öffentlichen Sektors.
Kein Business, sondern viel mehr Survival Case also? Sprich: Je vielfältiger die
Belegschaft, desto höher die Überlebenschancen? Disclaimer: Nein – das greift zu kurz.
Diversity per se erhöht noch keine Überlebenschance. Im Gegenteil: Studien und
praktische Erfahrungen zeigen, dass eine größere Vielfalt zu einer größeren Komplexität
im Miteinander führt und heterogene Teams zunächst sogar weniger gut performen als
homogene Teams. Spoiler: Außer sie bewegen sich in einer Kultur, in der ihre Unter-
schiede als wertvolle Ressource verstanden werden (vgl. Ely und Thomas 1996, 2021;
Philips et al. 2014; Tröster et al. 2014).
Nachvollziehbar, wenn wir uns in die folgende Situation hineinversetzen:
Escape Room I
Stellen wir uns vor, wir befinden uns in einem Escape Room, bei dem wir mit einer
Gruppe verschiedene Rätsel lösen müssen, um dem Raum zu entkommen.
Von Bienchen und Blümchen: Welche Kultur … 29
In Szenario A besteht diese Gruppe aus Menschen, die uns selbst sehr ähnlich sind
(gleiches Alter, Geschlecht, ethnische, kulturelle und soziale Herkunft, Weltanschauung,
Interessen, Fähigkeiten etc.). Wie gut funktioniert die Zusammenarbeit? Wahrschein-
lich sind wir uns auf Anhieb sympathisch und schnell darüber einig, wie wir vorgehen
wollen und womit wir uns zuerst beschäftigen. Innerhalb kürzester Zeit lösen wir einen
Großteil der Rätsel. Die Zusammenarbeit läuft weitestgehend reibungslos.
In Szenario B hingegen besteht die Gruppe aus Menschen, die nicht unterschiedlicher
sein könnten (verschiedene Altersklassen, Geschlechter, ethnische, kulturelle und soziale
Herkünfte, Weltanschauungen, Interessen, Fähigkeiten etc.). Wie gut funktioniert die
Zusammenarbeit? Wahrscheinlich ist es schwierig zueinander zu finden und sich auf ein
Vorgehen zu einigen. Vielleicht gibt es sogar Konflikte darüber, womit zuerst gestartet
wird, oder wir reden aneinander vorbei. Jede*r hat eine eigene Vorstellung davon, wie
wir dem Escape Room am besten entkommen. Womöglich vergeht viel wertvolle Zeit,
bevor wir die ersten Rätsel lösen. Die Zusammenarbeit ist herausfordernd.
Damit das Miteinander und die Zusammenarbeit in vielfältigen Teams gelingen, ist eine
Arbeitsumgebung notwendig, in der jedes Mitglied mitsamt all seiner individuellen
Eigenschaften und Sichtweisen wertgeschätzt wird. Ein Umfeld, in dem sich alle
gleichermaßen zugehörig und sicher fühlen und niemand benachteiligt oder diskriminiert
wird. Eine inklusive Kultur als Nährboden für die volle Potenzialentfaltung vielfältiger
Teams (vgl. Ely und Thomas 2021; McKinsey 2020). Teams, die aufgrund ihrer viel-
fältigen Perspektiven und Fähigkeiten tatsächlich bessere Ergebnisse als homogene
Teams erreichen können: Je diverser die Köpfe, desto diverser die Ideen, desto größer
der Raum für Lösungen und Innovation, desto höher die Chance aktuelle und zukünftige
Herausforderungen erfolgreich zu meistern.
Dafür noch einmal zurück in unseren Escape-Room:
Escape Room I
In Szenario A erzielen wir als homogene Gruppe sehr schnell erste Erfolge. Wir sind
auf einer Wellenlänge und alles läuft wie am Schnürchen. Bis wir ein Rätsel vor
uns haben, bei dem wir zwar sofort eine gemeinsame, aber leider nicht die richtige
Lösungsidee haben. Wir grübeln, aber niemandem von uns fällt noch etwas ein. Wir
stehen ratlos da, während die Zeit abläuft.
In Szenario B brauchen wir zu Beginn eine ganze Weile, um uns aufeinander ein-
zulassen. Wir einigen uns auf gemeinsame „Spielregeln“ im Umgang miteinander,
die sicherstellen, dass die Perspektiven und Fähigkeiten aller gleichermaßen gehört
und wertgeschätzt werden. Aufgrund unserer vielfältigen Ideen und unterschiedlichen
Herangehensweisen, lösen wir nacheinander alle Rätsel und werden kurz vor Ende
der Zeit fertig. Die Anstrengung zu Beginn hat sich gelohnt.
Die schlichte Vergrößerung demografischer Vielfalt macht das Miteinander und die
Zusammenarbeit komplexer und herausfordernder. Erst in Kombination mit einer
inklusiven Kultur – und Zeit sich in dieser als Organisation oder Team zu finden – ent-
faltet Diversity sein Potenzial (vgl. Philips et al. 2014; Tröster et al. 2014).
Das Verständnis um diesen Wirkmechanismus findet im englischen Dreiklang
„Diversity, Equity & Inclusion“ (DEI) Ausdruck. Diversity (= Vielfalt) bezieht sich
lediglich auf die Unterschiede innerhalb einer Gruppe. Equity (= Gleichstellung)
bedeutet, allen Individuen in der Gruppe – unabhängig ihrer Hintergründe – durch
passende Maßnahmen die gleichen Chancen und Entwicklungen zu ermöglichen.
Inclusion (= Inklusion) meint die Zugehörigkeit und Wertschätzung aller Mitglieder –
und geht damit über die Assoziation im deutschsprachigen Raum hinaus, die meist die
Einbeziehung von Menschen mit Behinderung beinhaltet.
Wenn hier also von einer inklusiven Kultur gesprochen wird, ist das Zusammenspiel
dieser drei Komponenten bzw. das Ziel dessen gemeint.
Viel zu häufig streben Organisationen das isolierte Ziel einer vielfältigen Belegschaft
an, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass diese nur in Kombination mit einer inklusiven
Kultur gelingen kann. Sich ausschließlich auf Maßnahmen zu fokussieren, die für mehr
Diversity sorgen sollen, aber Equity und Inclusion außer Acht lassen, ist wie Wildblumen-
Samen auf Asphalt-Boden zu streuen. Vielleicht kämpft sich mal ein Löwenzahn durch.
Aber die Entstehung einer Wildblumenwiese kann dort niemand erwarten. Inklusion ist
keine logische Konsequenz diverser Teams, sondern muss aktiv herbeigeführt werden.
Teams können divers aufgestellt sein, ohne sich dabei inklusiv zu verhalten.
Darüber hinaus wird das viel benannte Ziel „Diversity“ selten ganzheitlich verfolgt,
sondern zumeist auf einzelne Dimensionen beschränkt. Wie z. B. auf die Dimension
Geschlecht. Und selbst diese nicht in Gänze, wenn Gleichstellungsbeauftragte beispiels-
weise nur mit der Gleichstellung von Männern und Frauen beauftragt sind und weitere
geschlechtliche Identitäten keine Rolle spielen. Ein anderes Beispiel sind Inklusionsbeauf-
tragte, die per Gesetzgebung ausschließlich dafür verantwortlich sind, dass die Organisation
ihrer Fürsorgepflicht gegenüber Menschen mit Schwerbehinderung nachkommt.
Diese Instanzen arbeiten zudem häufig sehr isoliert voneinander und verfolgen jeweils
die Frage „Wie verhindern wir, dass bestimmte Menschen aufgrund eines bestimmten
Merkmals diskriminiert werden?“. Das ist gut und wichtig. Zusätzlich dazu müssen sich
die Behörden aber auch die übergreifende Frage stellen „Wie schaffen wir es, dass sich bei
uns alle Menschen – unabhängig ihrer Merkmale – gleichermaßen zugehörig fühlen?“.
Wenn die Verwaltung echte Vielfalt will, muss sie über die gesetzlichen Ver-
pflichtungen hinaus aktiv werden, Vielfalt in all ihrer Vielfalt1 verstehen und den
kulturellen Nährboden dafür schaffen.
1 Alter,ethnische Herkunft & Nationalität, Geschlecht & geschlechtliche Identität, körperliche &
geistige Fähigkeiten, Religion & Weltanschauung, sexuelle Orientierung, soziale Herkunft etc.
Von Bienchen und Blümchen: Welche Kultur … 31
Tab. 1 Beispiele für den Ausdruck einer inklusiven Organisationskultur pro Diversity-Dimension
Religion & Welt- Neue Kolleg*innen nach für Sie wichtigen Feiertagen fragen, um diese in den
anschauung eigenen/Team-Kalender einzutragen, bei Planungen zu berücksichtigen und
ihnen an den entsprechenden Tagen zu gratulieren
Bewusstsein dafür, dass gesetzliche Feiertage nicht für alle relevant sind, z. B.
indem man sagt „Ich wünsche allen, die es feiern, frohe Weihnachten und
allen anderen ein paar schöne, ruhige Tage.“
Bei der Verpflegungsplanung (z. B. für Veranstaltungen, Weihnachtsfeiern
etc.) vorab Bedürfnisse erfragen und/oder ausreichend Optionen zur Ver-
fügung stellen
Geschlecht & Gendern mit Sternchen oder Doppelpunkt (z. B. Kolleg*innen oder
geschlechtliche Kolleg:innen) in geschriebener und gesprochener Sprache, um alle
Identität Geschlechter/geschlechtliche Identitäten einzubeziehen
Respekt für und Sichtbarkeit von Pronomen (she/her bzw. sie/ihr, he/him bzw.
er/sein oder gewünschte non-binäre Pronomen) aller Mitarbeitenden, z. B. als
Standard-Angabe in E-Mail-Signaturen, auf Namensschildern an Büros oder
auf Veranstaltungen
Toiletten ohne Geschlechtszuweisung (wie auch in Bahn und Flugzeug)
einrichten bzw. die Geschlechtszuweisung entfernen, sodass sie von allen
genutzt werden können, und Mülleimer sowie Menstruations-Artikel in allen
Kabinen auslegen
Sichtbare & Bei der Gestaltung von digitalen Materialien auf digitale Barrierefreiheit
nicht sichtbare achten, z. B. durch Untertitel in Videos, Screenreader-kompatible Inhalte,
Behinderung ausreichend große Schriftgrößen sowie ausreichend starke farbliche Kontraste
Bei der Auswahl von Büro-, Seminar und Veranstaltungsräumen auf bauliche
Barrierefreiheit achten, z. B. durch Rampen, Handläufe, Aufzüge, aus-
reichend breite Türen/Gänge und barrierefreie Toiletten
Bei der Programmplanung von Veranstaltungen, Seminaren und Trainings
ausreichend viele Pausen mit ausreichend viel Zeit einplanen
Ethnische Bewusstsein und Sensibilität für die Lebensrealitäten von Kolleg*innen, die
Herkunft & als „nicht Deutsch“ gelesen werden, z. B. indem man (Hör-) Bücher wie „Exit
Nationalität Racism“ von Tupoka Ogette liest bzw. hört
Bei der Auswahl von Teammitgliedern, Referierenden, Teilnehmenden bei
Plenumsdiskussionen etc. für die Einbindung von Mitarbeitenden ver-
schiedener ethnischer und kultureller Hintergründe sorgen
Bei der Erstellung von Websites, Broschüren, Präsentationen, Stellenanzeigen
etc. auf diverse Bildsprache achten, z. B. indem Menschen unterschiedlicher
ethnischer und kultureller Herkunft abgebildet werden
Soziale Herkunft Gezielte Entwicklung von Menschen mit geringem Bildungsstand, z. B. durch
aktive Ansprache und Vorbereitung auf Ausbildungen in der Organisation
Bewusstsein dafür, dass das Arbeiten im Home-Office nicht für alle
(gut) möglich ist, z. B. aufgrund von Ausstattung, Platz oder Ruhe zum
konzentrierten Arbeiten
Teilen von eigenen Netzwerken und passenden Kontakten mit Kolleg*innen,
die für sie beruflich oder auch privat hilfreich sein können
(Fortsetzung)
Von Bienchen und Blümchen: Welche Kultur … 33
Tab. 1 (Fortsetzung)
Sexuelle Bewusste Lösung von der heterosexuellen Normvorstellung, z. B. indem bei
Orientierung & verheirateten männlichen Kollegen nicht automatisch von „der Frau“ und bei
Identität verheirateten weiblichen Kolleginnen nicht von „dem Mann“ ausgegangen
wird
Unterstützung von Kolleg*innen, die interne LGBTIQ + -Netzwerke innerhalb
der Organisation gründen wollen und Förderung dieser Netzwerke
Fortbildungsangebote, wie z. B. Allyship-Trainings, bei denen sich die Mit-
arbeitenden mehr Wissen rund um das Thema aneignen und lernen, wie sie
LGBTIQ + -Kolleg*innen als Allies (= Verbündete) unterstützen können
Alter Respektvoller Umgang miteinander unabhängig von Alter und Hierarchie,
z. B. indem man alle im Raum begrüßt, in Gespräche miteinbezieht, zum
gemeinsamen Mittagessen oder Feierabendausklang einlädt
Berücksichtigung aller Mitarbeitenden unabhängig ihres Alters bei Ent-
wicklungsplänen, Fortbildungsangeboten und Stellenbesetzungen
Wertschätzung unterschiedlicher Wissens- und Erfahrungsstände, z. B. durch
die Einführung von (Reverse-) Mentoring-Programmen mit Tandems jeweils
bestehend aus zwei Personen unterschiedlicher Generationen, die sich gegen-
seitig unterstützen und voneinander lernen
inklusive Kultur macht deshalb vor allem ein Handlungsbewusstsein auf persönlicher
Ebene aus.
Deshalb gilt es die vielen individuellen Köpfe zu erreichen. Sie dort abzuholen, wo
sie stehen, und mit auf den Lernprozess einer inklusiven Haltung zu nehmen. Einem
Mindset, das das Anerkennen unterschiedlicher Lebensrealitäten möglich macht. Die
Bewusstwerdung der eigenen Privilegien und unbewussten Vorurteile. Die Offenheit für
neue Perspektiven und das Hinterfragen des Status Quo. Den aktiven Einsatz für ein Mit-
einander, das von Wertschätzung und Zugehörigkeit geprägt ist.
Wollen wir eine bestehende Grasfläche in eine Wildblumenwiese verwandeln, muss die
Grasnarbe entfernt, der Boden gelockert und ggf. etwas Sand eingearbeitet werden. Das
ist mit Schaufel und Spaten möglich. Wollen wir hingegen eine asphaltierte Fläche zu
einer Wildblumenwiese machen, muss die Asphaltdecke aufgebrochen, das Material ent-
fernt und ggf. neue Erde aufgetragen werden. Dafür braucht es schweres Gerät und die
Unterstützung von Fachleuten.
Die Antwort auf die Frage in Bezug auf unsere Wildblumenwiese hängt also von der
aktuellen Fläche ab: Größe, Beschaffenheit des Bodens, Verfügbarkeit von Werkzeug,
Expertise und so weiter.
34 M. Reuter
Auch mit Blick auf den kulturellen Nährboden einer Organisation, gibt es nicht das
eine, universelle Vorgehen. Jede Organisationskultur hat ihre eigene Beschaffenheit und
benötigt für sie passende, individuelle Impulse. Und gleichzeitig ist eine Fragestellung
ganz unterschiedlicher Organisationen immer wieder zu hören: „Wie erreichen wir die
Personen, die sich nicht von allein für das Thema interessieren? Wie erreichen wir die
Mitarbeitenden ohne intrinsisches Interesse? Wie erreichen wir die stille Mehrheit?“
Hintergrund dieser Fragen ist oft die Erfahrung, dass Angebote rund um Diversity
in Organisationen häufig von „immer Denselben“ angenommen werden. Einem gefühlt
kleinen Teil der Organisation. Mitarbeitende mit Interesse am Thema, weil sie dessen
Relevanz bereits erkannt haben. Meist, weil sie selbst betroffen sind und in einer oder
mehrerer Diversity-Dimensionen die Auswirkungen eines nicht-inklusiven Umfelds
erleben, z. B. in Form von Benachteiligung oder Diskriminierung aufgrund ihres
Geschlechts, ethnischer Herkunft, sexueller Orientierung etc. Für eine inklusive Kultur
muss jedoch eine Mehrheit auf allen Ebenen der Organisation erreicht werden.
Mit dieser in der Praxis oft frustrierenden Beobachtung, halten wir gleichzeitig einen
der entscheidenden Schlüssel für Veränderung in der Hand: die persönliche Betroffen-
heit. Je höher die wahrgenommene Betroffenheit, desto stärker ist auch die Bereitschaft
zu einer Haltungs- und Verhaltensänderung (vgl. Petty und Cacioppo 1986; Taddicken
und Neverla 2001; Cialdini 2007; Mettler et al. 2014). Je mehr Menschen also verstehen,
dass und was das Thema Diversity mit ihnen zu tun hat, desto größer die Chance auf eine
inklusive Organisationskultur.
1. Betroffenheit im Sinne von Gemeintsein: „Ich bin von etwas betroffen“/„Mich betrifft
etwas“
2. Betroffenheit im Sinne des Betroffenseins: „Mich macht etwas betroffen“
Bei ersterem kann zwischen direkter persönlicher Betroffenheit (z. B. „Ich bin ein
Mensch mit Behinderung und deshalb von direkter Diskriminierung betroffen.“) und
einer indirekten persönlichen Betroffenheit (z. B. «Ich erlebe keine Diskriminierung,
realisiere aber, dass ich Teil des Systems bin, das diskriminiert, und mich das Thema
deshalb auch betrifft.») unterschieden werden. Beide Formen können je nach Aus-
prägung starke Beweggründe sein, die eigene Haltung und das eigene Verhalten zu
hinterfragen und zu ändern.
Betroffenheit im Sinne des Betroffenseins kann als unangenehmer, schmerzlicher
Gefühlszustand erlebt werden, z. B. wenn ich realisiere, dass Menschen um mich herum
Ausgrenzung erleben und mich das betroffen macht. Insbesondere wenn ich feststelle,
dass ich diese Erfahrungen bei gleichem Verhalten nicht mache, und erkenne, dass diese
Erfahrungsunterschiede auf ungerechtfertigten Ungleichwertigkeitsvorstellung beruhen.
In der Sozialpsychologie wird das dadurch hervorgerufene, unangenehme Gefühl auch
als „kognitive Dissonanz“ bezeichnet. Einen Zustand, bei dem wir einen inneren Wider-
Von Bienchen und Blümchen: Welche Kultur … 35
spruch erleben, wie z. B. zwischen dem Glauben an eine gerechte Welt und dem Erleben
von Ungerechtigkeit (vgl. Festinger 2012). Wird uns erklärt, wodurch dieses Gefühl
zustandekommt und wie wir es auflösen können, z. B. indem wir uns für Gerechtigkeit
einsetzen, kann diese Form des Betroffenseins ebenfalls zum Motivator für inklusives
Verhalten werden.
Insbesondere, wenn die verschiedenen Arten von Betroffenheit ineinandergreifen,
können sie den Weg zu einer inklusiven Haltung ebnen. Es folgen drei Schritte, wie Sie
diesen Lernprozess in Ihrer Organisation anstoßen und die Antwort auf die Frage «Was
hat Diversity mit mir zu tun ?» gemeinsam mit Ihren Organisationsmitgliedern erarbeiten
können.
«Mich betrifft das Thema, weil mir bewusst ist, dass auch ich aufgrund von bestimmter
Merkmale Exklusion erfahren kann (z. B. wenn ich als Mann länger als zwei Monate Eltern-
zeit nehmen möchte und auf Widerstand bei Vorgesetzten stoße), oder auch jederzeit in diese
Situation kommen kann (z. B. wenn ich durch einen Unfall plötzlich auf bauliche Barriere-
freiheit angewiesen bin). Ich weiß meine potenzielle Exklusionserfahrung im gesellschaft-
lichen Erfahrungsspektrum einzuordnen.»
Methodenbeispiel
Nehmen Sie die Organisationsmitglieder anschließend eine Ebene tiefer mit und helfen
Sie ihnen die (Macht-) Strukturen hinter dem Thema zu erkennen. Machen Sie ihnen
deutlich, dass es hier nicht nur um den Schutz von Einzelschicksalen, sondern um das
Anerkennen und Aufbrechen einer strukturellen Problematik geht. So individuell ihre
Erfahrungswelten auch sein mögen – sie entstehen in ein und demselben System. Einem
System, von dem sie alle Teil sind und entweder profitieren oder Nachteile erfahren.
Erklären Sie ihnen, dass das Ausmaß ihrer zuvor reflektierten Exklusionserfahrungen
von ihrer eigenen gesellschaftlichen Positionierung bestimmt wird. Ermöglichen Sie
ihnen diese Positionierung zu beleuchten und sich mit ihrer damit einhergehenden (De-)
Privilegierung und (Ohn-) Machtposition auseinander zu setzen.
Die Grundhaltung, die wir damit bei den Organisationsmitgliedern erreichen wollen:
„Mich betrifft das Thema, weil ich verstanden habe, dass die Benachteiligung anderer mit
meiner Bevorteilung zusammenhängt (z. B. wenn ich als Sabine Müller aufgrund meines
Namens einer Gülcan Cengiz gegenüber bevorzugt werde). Ich kann einen Beitrag leisten,
indem ich meine alltäglichen Privilegien reflektiere, gewissenhaft mit ihnen umgehe und
weniger privilegierte Menschen an den dadurch entstehenden Vorteilen teilhaben lasse (z. B.
wenn ich mich für Kolleg*innen und ihre Bedürfnisse einsetze, deren Stimme weniger gehört
bzw. gewichtet wird als meine).“
Methodenbeispiel
Hier bietet sich die thematische Übung «Power Flower» an, die von der Anti-Bias
Werkstatt (2007) entwickelt wurde. Dabei wird die Abbildung einer Blume genutzt,
die verschiedene gesellschaftlich wirksame Differenzierungskategorien abbildet, wie
z. B. Hautfarbe, Bildung oder Gesundheit. Diese werden jeweils in zwei Gruppen
aufgeteilt: die in Deutschland strukturell privilegierte Gruppe (wie z. B. «weiß sein»,
Abitur haben, gesund sein) und die tendenziell deprivilegierte Gruppe (wie z. B. nicht
«weiß sein», kein Abitur haben, chronisch krank sein). Indem sich die Organisations-
mitglieder in jeder Kategorie einer Gruppe zuordnen und dazu in den angeleiteten
Dialog gehen, kann die eigene gesellschaftliche Positionierung reflektiert und ein
verantwortungsvoller sowie konstruktiver Umgang mit den eigenen Privilegien ent-
wickelt werden. Eine detaillierte Übungsbeschreibung finden Sie auf der Website der
Anti-Bias Werkstatt.
Von Bienchen und Blümchen: Welche Kultur … 37
Bis hierhin haben Sie die Organisationsmitglieder vor allem in die Selbstreflexion
geführt und begleitet, um die persönliche Betroffenheit im Sinne des Gemeintseins
(Bedeutung 1) zu erreichen. Setzen Sie nun einen starken Impuls für die Betroffenheit im
Sinne des Betroffenseins (Bedeutung 2).
Sensibilisieren Sie die Organisationsmitglieder explizit für die Lebensrealitäten
anderer – insbesondere für solche, die sich von den eigenen unterscheiden. Holen Sie
dazu konkrete Exklusions- und Diskriminierungserfahrungen in den Raum und machen
Sie diese sowie ihre Folgen für Betroffene besprechbar. Von alltäglichen, für Nicht-
Betroffene vermeintlich «harmlosen» oder «gut gemeinten» Kleinigkeiten (sogenannten
Mikroaggressionen2), wie z. B. der Frage nach der «eigentlichen Herkunft» an eine
BIPoC3-Kollegin oder der Konfrontation mit stereotypen Vorstellungen aufgrund ihrer
vermeintlichen «Herkunft». Bis hin zu expliziten Fällen offener Diskriminierung, die
trotz eindeutiger Gesetzeslage passieren und für viele Realität sind. Besonders wirk-
mächtig ist dieses Vorgehen, wenn diese Erfahrungen von Menschen aus dem eigenen
(Organisations-) Umfeld geteilt werden, selbst wenn diese zum Schutz der Betroffenen
anonymisiert werden.
Die Grundhaltung, die wir damit bei den Organisationsmitgliedern erreichen wollen:
„Mich macht das Thema betroffen, weil ich realisiere, welche ausgrenzenden und dis-
kriminierenden Erfahrungen Menschen aufgrund von bestimmten Merkmalen in meinem
Umfeld machen und welche Auswirkungen das auf sie haben kann. Mich macht das Thema
betroffen, weil ich realisiere, dass diese Erlebnisse auch in meinem Beisein passieren, weil
mir aufgrund meiner eigenen Lebensrealität das Bewusstsein für viele andere Lebensreali-
täten fehlt. Nichtsdestotrotz gebe ich mein Bestes jeden Tag dazu zu lernen.“
Methodenbeispiel
Räume mit Las-Vegas-Regel4) begriffen werden, können Sie ggf. auf gemachte
Erfahrungen der Menschen im Raum zurückgreifen. Seien Sie sich dabei stets der
enormen Sensibilität des Themas bewusst! Öffnen sich Menschen, um über Ver-
letzungen zu sprechen, ist die Gefahr hoch, dass sie durch den unsensiblen Umgang
anderer erneut verletzt werden. Haben Sie ein Momentum geschaffen, in dem sich
die Beteiligten betroffen fühlen, ermöglichen Sie ihnen aus dieser unangenehmenen
Gefühlslage heraus aktiv zu werden. Beispielsweise, indem sie sich zu Arbeits-
gruppen zusammenschließen, um sich regelmäßig mit der aktiven Prävention solcher
Erfahrungen in der Organisation auseinanderzusetzen.
5 Fazit
In diesem Fachbeitrag haben wir uns angeschaut, warum der reine Ruf nach mehr Viel-
falt in Organisationen zu kurz greift. Um Diversity in der Verwaltungskultur gestalten zu
können, muss die Kultur selbst in das gemeinsame Blickfeld gerückt werden. Nur mit
einem kulturellen Nährboden, der aus vielfaltssensiblen und inklusiv-denkenden Köpfen
besteht, hat Diversity die Chance in einer Organisation zu wachsen und ihr volles
Potenzial zu entfalten. Dazu müssen die Organisationsmitglieder auf individueller Ebene
erreicht werden – insbesondere die, die sich (noch) nicht von dem Thema betroffen
fühlen. Die persönliche Betroffenheit ist einer der Schlüssel für Veränderungsbereitschaft
in Haltung und Verhalten. Diese muss gemeinsam mit den Organisationsmitgliedern ent-
wickelt werden. Dabei können die behandelten Schritte behilflich sein:
4 DieLas-Vegas-Regel „What happens in Vegas, stays in Vegas“ oder übersetzt „Was in Las Vegas
passiert, bleibt in Vegas“ bedeutet, dass alles, was miteinander besprochen wird oder passiert, im
gemeinsamen Raum und damit vertraulich bleibt (vgl. Andresen 2017).
Von Bienchen und Blümchen: Welche Kultur … 39
„Wiesen brauchen etwas Anlaufzeit, aber Geduld wird belohnt: Die schönsten Aus-
prägungen zeigen sich häufig nach ein paar Jahren.“ (NABU 2020).
Literatur
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40 M. Reuter
Zehra Öztürk
Zusammenfassung
Ungefähr ein Achtel der Bevölkerung Deutschlands ist weiblich und hat einen
Migrationshintergrund. Diese Zahlen spiegeln sich aber nicht wider, wenn es um
Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung geht. Dort finden sich unter 100
Führungskräften nur ca. anderthalb Frauen mit Migrationshintergrund. Gerade des-
halb ist es wichtig, dass wir Vorbilder und Pfade aufzeigen für die Frauen, die gerne
nach oben wollen, sich dies aber bisher nicht zugetraut haben. In diesem Beitrag zeigt
die Autorin an ihrem eigenen Beispiel auf, welche Herausforderungen intersektionale
Menschen im Berufsleben haben können und warum es dennoch wichtig ist, sich
diesen Herausforderungen zu stellen und sichtbar zu werden. Zudem geht die Autorin
darauf ein, wie sich das eigene Verhalten ändern kann, um die eigene Rolle nicht
zu gefährden und was die Verwaltung selbst tun kann, um hier ihren Beitrag zur
Förderung von Führungskräften mit Migrationshintergrund zu leisten.
Schlüsselwörter
Z. Öztürk ( )
Freie und Hansestadt Hamburg, Hamburg, Deutschland
1 Einleitung
Mein Name ist Zehra Öztürk. Das Z spricht man weich aus, wie im Englischen. Es ist
also nicht nötig beim Nachnamen direkt nach dem Ö ein weiteres T zu sprechen. Ja, das
klingt schon viel besser. Danke!
Gerne stelle ich mich etwas detaillierter vor: Ich bin eine Frau mittleren Alters mit
einem türkischen Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung (bedeutet
ich bin in Deutschland geboren), trage ein Kopftuch (aus religiösen Gründen, also
muslimisch), komme aus einer Arbeiterfamilie, bin nicht verheiratet und habe keine
Kinder – by choice (ja, sowas gibt es). Ich habe einen akademischen Abschluss in einem
technischen Bereich. Ich arbeite in der öffentlichen Verwaltung. Viele Jahre habe ich
gedacht, ich müsste dankbar sein, überhaupt einen guten Job zu haben. Das ist näm-
lich nicht so einfach, wenn man ein Kopftuch trägt. Und gerade am Anfang meiner
Karriere haben mir viele Kolleg*innen auch gesagt, dass ich als Führungskraft als Frau
mit meinem Aussehen niemals akzeptiert werden würde. Nicht gerade ein Booster für
das Selbstvertrauen. Irgendwann habe ich mir dann aber selber gesagt „Zehra, du machst
deinen Job echt gut und kannst noch deutlich mehr. Hör nicht mehr auf die Anderen.
Du gehörst nach oben!“. Und warum gerade ich1 nach oben gehöre, will ich Ihnen nun
erläutern.
Diese Definition aus dem Duden beschreibt eine Form der Diskriminierung, wie sie
bei Personen auftritt, die mehreren Minderheiten angehören und dadurch eine neue
Form der Diskriminierung erfahren. Jede Kategorie für sich kann zu Benachteiligungen
führen, insbesondere auch in der Arbeitswelt. Beispiele dafür findet man etwa in der
Max vs. Murat Studie (Bonefeld und Dickhäuser 2017) und je nach Kategorie viele
weitere. Die Intersektionalität betrachtet was passiert, wenn diese unterschiedlichen
Benachteiligungen und Diskriminierungen zusammenkommen und eine komplett neue
Form der Diskriminierung schaffen.
Klingt noch sehr abstrakt und schwer nachvollziehbar. Daher schauen wir uns das
mal an einem Beispiel an. Nehmen wir mich2. Für unser Beispiel gehe ich nicht auf alle
Aspekte ein, die ich oben genannt habe, sondern erstmal nur, was bereits auf Basis rein
Sieht ein potenzieller Arbeitgeber mich als Frau mittleren Alters, dann sind häufig erste
Gedanken in Richtung meines Familienstatus. Fragen, die in den Köpfen entstehen,
sind: „Hat sie bereits Kinder? Wenn nicht, will sie bald Kinder? So oder so wird sie
dann häufig wegen der Kinder ausfallen oder sogar länger Elternzeit nehmen oder gar
nur Teilzeit arbeiten. Kann ich den Posten wirklich an so jemanden vergeben?“
In meinem Beispiel handelt es sich um einen der „schlechten Ausländer“ (Frei 2020).
In dem Beitrag von Herrn Frei wird parodistisch dargestellt, dass in der Gesellschaft
eine unterschiedliche Wahrnehmung bezüglich der Migrationshintergründe besteht. So
ist ein migrierter Schweizer ein „guter Ausländer“ und ein Flüchtling aus einem Süd-
land ein „schlechter Ausländer“. Wir alle kennen dieses Phänomen: Wenn Matthew
aus Irland, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt, noch nicht richtig Deutsch sprechen
kann, sind wir viel nachsichtiger und versuchen sogar, uns mit ihm auf Englisch zu
unterhalten. Egal, ob wir es selbst gut können oder nicht. Anders ist es bei Mohammad
aus Syrien, der seit 4 Jahren in Deutschland lebt. Da finden wir es häufig lästig, dass
wir uns nun Mühe geben müssen, ihn mit seinem nicht so schlechten, aber sehr akzent-
belasteten Deutsch zu verstehen. Dieses Phänomen spielt auch in der Wahrnehmung
meines potenziellen Arbeitgebers eine Rolle, wenn er mich sieht und sich nun fragt,
ob ich überhaupt richtig Deutsch sprechen kann. Und auch zum Familienstatus werden
hier nun häufiger verschärfte Annahmen getroffen. Denn von den „schlechten Aus-
ländern“ wird deutlich öfter angenommen, dass sie verheiratet sind und es in der Regel
mehr als ein Kind gibt oder geben wird. Es kommt also das bereits oben genannte Vor-
urteil und eine mögliche Benachteiligung dadurch deutlich stärker zum Tragen.
„Ich bin eine Frau mit optisch erkennbarem Migrationshintergrund, die Kopftuch
trägt (Muslimin).“
Jetzt wird es mit den Vorurteilen richtig spannend. Es kommen Fragen auf wie: „Darf
sie überhaupt arbeiten? Hat ihr Mann ihr das erlaubt? Zwingt er sie, das Kopftuch zu
tragen? Ist sie radikal? Ist sie integriert? OK, sie kann Deutsch, aber bestimmt redet
sie auf der Arbeit nur über Islamkrams und will alle konvertieren. Und wie kann man
3 Es handelt sich hier nur um ein besonders plakativ dargestelltes Beispiel. Ich unterstelle
niemandem, dass sie oder er immer diese oder ähnliche Vorurteile hat und diskriminiert. Aber
seien wir doch mal ehrlich zu uns selbst…
44 Z. Öztürk
integriert sein, wenn man sich so verschleiert? Bestimmt hat sie insgeheim eine tiefe
Abneigung gegen deutsche Männer und Deutschland im Allgemeinen.“
Eine komplett neue Form der Diskriminierung entsteht hier also in der
Kombination Frau mit Migrationshintergrund und Muslimin.
Die nicht-sichtbaren Aspekte, wie meine soziale Herkunft oder meine Berufsausbildung,
sind hier noch gar nicht mit eingeflossen. Diese können wiederum zu weiteren Formen
der Diskriminierung führen. Beispielsweise beim Berufseinstieg kann die angemessene
Kleidung (Sieht diese wertig genug aus?) eine Rolle spielen und zu Unsicherheiten
auf der einen Seite und zu Geringschätzung auf der anderen Seite führen. Oder das
mangelnde Wissen um die richtige Etikette in bestimmten Businesssituationen (Nehme
ich die richtige Gabel beim Businessessen?) kann zu Benachteiligungen führen.
Ob diese Klischees und Vorurteile zutreffen oder nicht, ist irrelevant. An diesem
Beispiel wollte ich aufzeigen, wie herausfordernd der berufliche Weg für eine
intersektionale Person sein kann, wenn man gegen eine Wand von Vorurteilen treten
muss, durch die es gilt, erstmal durchzukommen. Das Beispiel bezog sich zudem nur auf
den ersten Eindruck am Start des beruflichen Miteinanders. Will man Karriere machen,
ist man mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert.
Wie gut kann Karriere gelingen, wenn man immer gegen Bilder und Assoziationen
ankämpft, die Menschen haben, wenn sie einem begegnen? Und wenn man als
intersektionale Person Karriere macht, was verändert sich am Umfeld und an einem
selbst? An welchen Vorbildern und Best Practices kann man sich orientieren? Woran
orientiert man sich, wenn es keine Vorbilder gibt? Auf diese Fragstellungen und weitere
gehe ich im Verlauf des Beitrags ein. Immer jeweils aus einer auf meinen Erfahrungen
basierenden Perspektive. Es geht also bei der hier dargestellten Intersektionalität um die
Kombination Frau mit Migrationshintergrund.
Bevor wir jedoch auf die Erfahrungen und Best Practices eingehen, schauen wir uns
an, inwiefern die Statistiken bereits den Karriereweg einer Frau mit Migrationshinter-
grund in der Verwaltung begünstigen.
Das Statistische Bundesamt liefert viele Informationen und Zahlen zu Bevölkerung und
Migration. Gepaart mit anderen Quellen zum Anteil von Personen mit Migrationshinter-
grund sowie Zahlen zu Führungskräften in der öffentlichen Verwaltung, ergibt sich die in
Abb. 1 dargestellte Verteilung je 100 Personen in Privathaushalten in Deutschland bzw.
„Warum gerade ich nach oben gehöre“ 45
Abb. 1 Darstellung der Anteile von Frauen und Personen mit Migrationshintergrund in deutschen
Privathaushalten, in der öffentlichen Verwaltung allgemein und bei Führungskräften öffentlicher
Verwaltung. (Eigene Darstellung)
46 Z. Öztürk
je 100 Personen in der öffentlichen Verwaltung und Führung in der öffentlichen Ver-
waltung4,5 (vgl. Abb. 1).
Gehen wir auf die in Abb. 1 dargestellten Verhältnisse etwas ein. Laut dem
Statistischen Bundesamt hat jede vierte in Deutschland lebende Person einen Migrations-
hintergrund.
In einer Idealwelt findet man diese Aufteilung auch auf dem Arbeitsmarkt und ins-
besondere in der öffentlichen Verwaltung wieder. Denn viele Verwaltungen setzen auf
Chancengleichheit und Diversity. Im öffentlichen Sektor sind jedoch von 100 Personen
nur 16 mit Migrationshintergrund (siehe Abb. 1). Noch weniger ausgewogen wird das
Verhältnis bei den Führungskräften mit Migrationshintergrund. Unter 100 Führungs-
kräften finden sich nur knapp 5 mit Migrationshintergrund (Vogel und Zajak 2020).
Der Anteil an Frauen in der öffentlichen Verwaltung ist recht hoch, 57 von 100
Personen im öffentlichen Dienst sind weiblich, aber nur 30 von 100 Führungskräften.
Kombiniert mit dem Migrationshintergrund haben wir keine ganzen 2 Frauen mit
Migrationshintergrund unter 100 Führungskräften im öffentlichen Sektor6. Frauen mit
Migrationshintergrund machen ein Achtel der Bevölkerung aus.
4 Die Statistiken wurden zusammengeführt und die prozentualen Anteile zum Teil selbst berechnet,
um die Werte für Frauen mit Migrationshintergrund in der Verwaltung und bei den Führungs-
kräften in der Verwaltung darstellen zu können. Entsprechende direkte Statistiken konnte ich
bei meiner Recherche nicht finden. Um diese Statistiken zusammenführen zu können, habe ich
folgende Annahmen getroffen: In der Verwaltung sind ebenfalls 30 % der Führungskräfte weib-
lich und ca. 40 % der erwerbstätigen Personen mit Migrationshintergrund sind weiblich. Diese
Annahmen wurden auf Basis der Quellen des Statistisches Bundesamt (2022, a, b, c, d), Monitor
öffentlicher Dienst des dbb Beamtenbund und Tarifunion (2022), Vogel und Zajak (2020) und
Latz (2018) getroffen. Die tatsächlichen Zahlen können leicht abweichen. Aber auch leichte
Abweichungen würden zu dem Ergebnis führen, dass es ein starkes Ungleichgewicht zwischen
Bevölkerungsaufteilung und Aufteilung in der öffentlichen Verwaltung, insbesondere bei
Führungskräften, gibt.
5 Ich bitte die stereotypische Darstellung in der Abbildung zu entschuldigen. Dieser Druck erfolgt
in Graustufen, sodass ich das Sichtbarmachen der Geschlechter und Migrationshintergründe über
Stereotypen gewählt habe. Zumal Stereotypen auch immer noch gängiges Illustrationsmedium in
unserer Gesellschaft sind.
6 Ein Verlust, wenn man bedenkt, dass Frauen mit Migrationshintergrund häufiger einen
akademischen Abschluss erwerben als Frauen ohne Migrationshintergrund laut Latz (2018)
und ein akademischer Abschluss sehr oft noch Voraussetzung für eine Führungsposition in der
öffentlichen Verwaltung ist.
„Warum gerade ich nach oben gehöre“ 47
Wir wissen also nun Folgendes über Frauen mit Migrationshintergrund, wenn sie
Führungskräfte werden wollen:
In diesem Beitrag will ich aber gar nicht weiter auf die Benachteiligungen eingehen
bzw. sind diese die Ursache des Problems und es soll nicht bei der reinen Ursachen-
betrachtung bleiben. Vielmehr will ich betrachten, wie der Umgang mit den aus der
Ursache entstehenden Problemen bei den Betroffenen ist. Ich widme mich daher nach-
folgend der Frage, wie sich eigenes Verhalten ändert, wenn man zu den knapp 1,5
Personen unter 100 Führungskräften gehört und wieso es wichtig ist, sich selbst als Role
Model zu sehen und es auch zu sein.
Fangen wir damit an, wie sich das eigene Verhalten ändert. Als Frau mit Migrations-
hintergrund ist es schwerer einen Führungsposten zu erhalten als es für einen sog. Cis-
Mann wäre. Und bereits von Beginn an, macht man dann etwas, was viele von euch
vielleicht kennen: man versucht nicht aufzufallen und sich anzupassen.
Die Abbildung oben macht bereits farblich deutlich, dass die dunklen Anteile recht
gering in der Masse sind. Anhand eines anderen Beispiels will ich dies noch weiter aus-
führen. Nehmen wir eine Schafsherde. In meinem Beispiel sind alle Schafe der Schafs-
herde weiß. Nur eines nicht, das ist schwarz. Es fällt auf. Das schwarze Schaf ist für
alle deutlich zu sehen und es wird auch von allen gesehen. Das ist unangenehm für das
schwarze Schaf, denn es ist das einzige schwarze Schaf unter vielen weißen Schafen.
In diesem Moment wäre das schwarze Schaf gerne auch ein weißes Schaf, wie alle
anderen um sich herum. Es überlegt sich Sachen, wie es auch mehr als weißes Schaf
wahrgenommen wird. Es passt sich in Smalltalk-Situationen an, es hält sich zurück, es
informiert sich, was die anderen weißen Schafe denn zu weißen Schafen gemacht hat.
Es fragt sich die ganze Zeit, ob es seinen Platz unter den anderen weißen Schafen über-
haupt verdient hat. Denn viele Frauen und Personen mit Migrationshintergrund fühlen
sich in solchen Situationen als „Hochstapler“ (Clance und Imes 1978). Egal wie gut man
ist, zieht man seine eigenen Fähigkeiten und Leistungen dabei in Frage und zweifelt
daran, verdient zu haben, wo man ist. Dieses Phänomen tritt deutlich weniger bei weißen
Männern auf. Dort gilt das Credo „Fake it till you make it“, und das ist gesellschaftlich
48 Z. Öztürk
und in der Arbeitswelt akzeptiert. Frauen, die sich ihren Weg in Führung hart erarbeiten,
werden hingegen eher als die „Quotenfrauen“ wahrgenommen7.
Instinktiv versucht man, sich immer mehr anzupassen, nicht als Hochstapler aufzu-
fliegen. Nicht mehr die Quote zu sein. Mehr zu agieren, wie die anderen. Vom schwarzen
Schaf zum weißen Schaf zu werden. Und da das in der Regel nicht möglich ist, stülpt
man sich zumindest ein weißes Fell über. Das schwarze Schaf darunter versucht ver-
borgen zu bleiben. Es versucht Fragen zu seinem schwarzen Hintergrund zu meiden.
Wenn die Diskussion doch aufkommt, versucht es nur Dinge zu sagen, von dem es
glaubt, dass die anderen weißen Schafe es auch hören wollen.
Warum man das tut? Weil meiner Erfahrung nach gar nicht wirklich gehört werden
will, was „wir“ schwarzen Schafe zu erzählen haben und was „wir“ schwarzen Schafe
denken. „Wir“ sind anders und über „uns“ hat man schon Sachen gehört8. Nur wenige
Menschen stellen Fragen über andere Kulturen, Religionen und politische Meinungen
mit einer unvoreingenommenen Haltung. Man vergisst dabei häufig, dass das Gegen-
über ein Individuum mit eigener Meinung und eigener Ansicht ist. Es ist kein politischer
oder religiöser Vertreter seiner Herkunft. Es ist kein Sprecher für das Ursprungsland, die
Religion oder dergleichen. Was hinzukommt ist, dass man im beruflichen Kontext ein-
fach über manche Themen auch nicht reden will, insbesondere wenn Unterhaltungen
nicht auf derselben Hierarchieebene stattfinden.
Nehmen wir ein Beispiel: Bei dem „Mesut Özil-Skandal“ vor einigen Jahren, bei
dem sich ein deutscher Fußballnationalspieler mit dem türkischen Präsidenten foto-
grafieren ließ, wurde in Deutschland kontrovers diskutiert, ob der Fußballer mit
türkischer Migrationshistorie integriert ist oder nicht. In einem Brief hat sich der
Fußballer, Mesut Özil, dazu geäußert und dargestellt, dass er zwei Herzen habe,
ein deutsches und ein türkisches. Am nächsten Tag wurde ich auf der Arbeit direkt
gefragt, was ich denn von der ganzen Sache mit Özil hielte. Ich habe ausweichend
entgegnet, dass das alles etwas komplexer sei, als man zwischen Tür und Angel
besprechen könne. Die Antwort war ein Stirnrunzeln und eine Rückfrage, dass ich
mich doch aber sicherlich Deutsch und integriert fühle.
7 Auch ich wurde in meinem ersten Monat in der öffentlichen Verwaltung gefragt, ob ich die Stelle
erhalten habe, weil noch ein „Quotenausländer“ benötigt wird und dass ich ja auch in vielerlei
Hinsicht sehr gut die Quotenrolle erfülle. Mir mangelt es zwar nicht an Selbstbewusstsein, und
trotzdem hat das in mir sofort die Frage ausgelöst, ob dem wirklich so war. Hat man mich am Ende
nur deshalb eingestellt? Bin ich gar nicht qualifiziert für meine Arbeit?
8 Sicherlich gibt es auch einige schwarze Schafe, auf die Vorurteile zutreffen. Es gibt aber eben
Unabhängig davon, welche Meinung man im „Özil“-Skandal vertritt, ist für viele in
Deutschland lebende Menschen mit Migrationshintergrund der Satz „Ich habe zwei
Herzen, ein Deutsches und ein Türkisches9“ sehr nachvollziehbar. Es hat nichts damit zu
tun, ob man integriert ist oder nicht. Identitätsfindung bei Personen mit Migrationshinter-
grund ist sehr schwer. Es ist leider nicht so plakativ abzutun wie „Was bist du nun?“
und „Dann kannst du aber nicht integriert sein?“ Es ist deutlich komplexer, emotionaler
und schwer nachvollziehbar, wenn man selbst nichts Vergleichbares kennt. So ein
Thema hat nichts auf der Arbeit verloren, wenn es nicht ausdrücklich von der Person mit
Migrationshintergrund gewünscht wurde.
Aber genau ein solches, doch immer wieder in Situationen gezogen werden wie
oben beschrieben führt dazu, dass man nur einen Ausweg kennt: Man versucht, solche
Gespräche zu vermeiden. Man sagt, was gehört werden will. Man lässt seine eigene,
häufig differenziertere Meinung unausgesprochen. Man versucht es der Mehrheit recht
zu machen, um seine eigene Stellung auf der Arbeit nicht zu gefährden. Man bleibt ein
schwarzes Schaf mit weißem Umhang.
Das geht so weit, dass man sein eigenes Verhalten und Urteilsvermögen immer mehr
dem anpasst, von dem man glaubt, dass es von einem erwartet wird.
Beispiel: Recruiting
Ein weiteres Beispiel: Vor einigen Jahren ging es darum, dass wir in unserem Bereich
Mitarbeiter*innen einstellen wollten. Ich war in der Ausschreibung als fachliche
Ansprechpartnerin benannt. Es war auffällig, dass wir eine deutlich höhere Anzahl an
Bewerber*innen mit Migrationshintergrund hatten.
Als ich über die Namen der Bewerber*innen geschaut habe, habe ich mich
selbst dabei ertappt, dass ich mich gefragt habe, ob ich überhaupt eine Person mit
Migrationshintergrund auf der Stelle haben möchte. Oder gar auch eine Person mit
Kopftuch. Was bewegte mich dazu, so zu denken? Ganz simpel: ich will nicht dem
Vorwurf ausgesetzt sein, dass ich meinesgleichen bevorzuge, gar Vetternwirtschaft
im Spiel ist. Ich will nicht, dass mein weißer Schafsmantel löchrig wird und mein
schwarzes Fell darunter zum Vorschein kommt, indem sich andere schwarze Schafe
direkt zu mir gesellen. Sie dürfen gerne woanders schwarze Schafe sein, wenn sie
aber direkt bei mir sind, sehen alle wieder, was ich bin: ein schwarzes Schaf.10
9 Oder ein anderes Land, welches der Migrationsgeschichte der jeweiligen Person entspricht.
10 Ichwerde nachher nochmal darauf eingehen, welche Verhaltensänderung dieses Beispiel in mir
ausgelöst hat, aber hier sei schon mal ein kleiner Sneak Peak gestattet: Ich habe mich bei der Aus-
wahl der Kandidat*innen komplett von den Erfahrungen und Fähigkeiten dieser leiten lassen und
dies auch mit Führungskräften rückgekoppelt, um sicherzugehen, dass der Auswahlprozess fair
und gerecht bleibt.
50 Z. Öztürk
Ebenfalls vor einigen Jahren hat sich ein neuer spannender Führungsposten aufgetan.
Ich habe meinen Hut bzw. mein Kopftuch in den Ring geworfen, aber die Rückmeldung
bekommen, dass dies ein Griff nach den Sternen wäre. Also habe ich aufgegeben.
Sowohl das Ereignis mit den Bewerber*innen als auch dieser missglückte Versuch in
Richtung Führung hat mich umgetrieben. Mir ist bewusst geworden, dass mein ständiges
Imitieren eines weißes Schafs, mein Verhalten und mein Urteilsvermögen auf eine Art
und Weise beeinflusst, die mich auf der Arbeit zu jemandem macht, der nicht mehr Ich
selbst bin. Man fängt an, nur noch danach zu urteilen, was andere denken könnten. Und
man macht sich in der Menge der weißen Schafe unsichtbar. Die sehr gute Leistung und
das Können werden dadurch nicht mehr wahrgenommen. Warum auch? Man hat sich
die ganze Zeit bedeckt gehalten. Insofern konnte ich sehr gut nachvollziehen, warum ich
nicht als potenzielle Führungskraft gesehen wurde. Wie auch, wenn man unsichtbar ist.
Also habe ich entschieden wieder mehr Ich selbst zu sein. Ich habe den weißen Umhang
abgelegt. Ich bin ein schwarzes Schaf. Ich zeige allen, dass ich ein schwarzes Schaf bin.
Ich denke und handle wie ein schwarzes Schaf, was versteht, wie wichtig es ist, unter den
weißen Schafen schwarz zu sein. Und ich finde es toll, ein schwarzes Schaf zu sein.11
Und welchen Effekt es darauf hatte, dass ich endlich nun auch nach außen hin das
schwarze Schaf bin, das ich nun mal bin, will ich gerne beschreiben:
1. Die Energie, die ich bis dahin darein gesteckt habe, unauffällig zu sein, habe ich voll
und ganz in meine Arbeit stecken können. Ich habe mich nicht mehr zurückgehalten,
habe meine Ideen eingebracht und diese auch vorangetrieben. Ich bin immer besser
und selbstbewusster in dem geworden, was ich mache.
2. Ich habe meinem Umfeld nicht nur gezeigt, dass ich ein schwarzes Schaf bin, sondern,
dass ich ein seine Arbeit sehr gut machendes schwarzes Schaf bin. Ich werde wahr-
genommen, meine Leistung wird wahrgenommen. Meiner Karriere hat es gut getan.
3. Ich habe persönlich mehr Wert darauf gelegt, nicht mehr nur unter weißen Schafen zu
sein, sondern in einem Team zu arbeiten, welches aus unterschiedlichen Blickwinkeln
sehr divers ist.
4. Die weißen Schafe, die schwarze Schafe nicht so gut finden, fangen an zu
akzeptieren, dass es schwarze Schafe gibt und diese der ganzen Herde gut tun.
5. Andere, noch mit Mantel versehene schwarze Schafe, haben mich gesehen und
angesprochen, wie toll sie es finden, mich zu sehen und wie sehr sie dies inspiriert.
Auf die letzten beiden Punkte will ich etwas näher eingehen. Sie sind ein Resultat davon,
dass ich begonnen habe Punkt Zwei ohne Scheu zu leben, aber insgesamt dazu beitragen,
dass die weiße Schafherde immer gemischter wird.
11 Natürlich war der tatsächliche Erkenntnis- und Wandelprozess deutlich komplexer als hier dar-
gestellt.
„Warum gerade ich nach oben gehöre“ 51
Trotz guten Selbstbewusstseins ist es mir schon immer schwer gefallen, mich selbst
zu präsentieren. Insbesondere wollte ich nicht als die „Ausländerin“ oder als eine der
wenigen Frauen in der IT gesehen werden, die sich mit ihresgleichen solidarisieren
muss, um erfolgreich zu sein. Ich dachte lange Zeit, dass meine Arbeit für mich sprechen
muss und mir meinen Weg ebnen wird. In einer gerechten Welt wäre dem auch so. In der
Welt, in der wir leben, von der ich eingangs einige Auszüge dargestellt habe, ist das aber
nicht so. Diese Welt erfordert, dass man sich zeigt. Dass man sich solidarisiert. Dass man
zeigt, ebenfalls ein Teil der Gesellschaft und der Arbeitswelt zu sein, aber eben genauso,
wie man ist und dass es für einen selbst auch nicht alles so einfach ist, wie es von außen
manchmal wirkt.
Das Letzte, was ich sein wollte: Ein Role Model. Denn Role Models, das sind die
anderen. Die Frauen und Migrant*innen, die Unternehmen leiten und Nachrichten
moderieren. Das sind z. B. Tijen Onaran, Mai Thi Nguyen-Kim, Düzen Tekkal oder
Nazan Eckes.
Nach Vorträgen oder Bühnenauftritten wurde ich von den weißen und den schwarzen
Schafen gleichermaßen darauf angesprochen, wie toll sie es finden, mich zu sehen und
wie sehr sie dies inspiriert hat. Und obwohl es mir bis dahin fern war, für andere ein Vor-
bild zu sein, ist mir aufgefallen, dass meine Sichtbarkeit zu den oben genannten Punkten
4 und 5 führt und dass ich längst zu einem Role Model geworden bin. Eines aus dem All-
tag. Aus einem Verwaltungsjob, am Anfang der Karriereleiter. Aber eines, das zeigt, dass
auch wir schwarzen Schafe oben sein können und es auch sein sollten.
Die Verwaltungswelt sollte genauso bunt sein, wie es auch unsere Gesellschaft ist. Denn
nur so, können wir als Verwaltungsmitarbeitende auch zu einem wirklich guten Dienst-
leister für unsere Kund*innen werden. Warum Diversität so wichtig ist, wird bestimmt
noch an anderen Stellen dieses Buchs erörtert. Deshalb beschränke ich mich hier darauf,
einige Aspekte aufzulisten, die meiner Ansicht nach jeder tun kann, um seinen Beitrag zu
Diversität zu leisten und das respektvollere Miteinander zu unterstützen.
Wenn ihr mehr über solche Themen wissen wollt, dann googelt, geht zur
Bundeszentrale für politische Bildung, geht in die Moschee oder Synagoge
oder oder… Und akzeptiert im 21. Jahrhundert einfach, dass es andere
Konstellationen von Familie und Familienverständnis gibt als die klassische
„Mama, Papa und Kind“-Konstellation.
Gebt euch Mühe, Namen korrekt auszusprechen. Denn bei den guten Aus-
ländern gebt ihr euch bereits diese Mühe. Die Mehrheit der Lesenden wird
den spanischen Namen Juan direkt im Kopf schon mit der richtigen Aus-
sprache lesen und nicht in deutscher Aussprache. Warum gibt es also bei mehr
als 50 Jahren Migrationsgeschichte in Deutschland immer noch solche grund-
legenden Probleme mit der Aussprache von Standardlauten der Sprachen, aus
denen die meisten Migrant*innen kommen? Durch die richtige Namensaus-
sprache senden Arbeitgeber und Kolleg*innen bereits das erste Signal, dass die
Person mit Migrationshintergrund akzeptiert und respektiert wird. Eine wichtige
Basis dem Gegenüber das Gefühl zu geben, man selbst sein zu dürfen.
Personen mit Migrationshintergrund wollen nicht hören, welche Vorurteile ihr
hattet und wie sie diese durch euch abbauen konnten. Es ist toll für euch, dass
ihr einen Teil eurer Vorurteile abbauen konntet. Warum jedoch dem Gegen-
über sagen, dass man diese hatte? Inwiefern hilft die Information über eure
Vorurteile eurem Gegenüber? Als ich neu in der Verwaltung war, habe ich eine
Kurzpräsentation vor einer größeren Gruppe von Leitungen gehalten. Einer der
Zuhörer ist am Folgetag auf mich zugekommen und hat mir mitgeteilt, dass er
und seine Tischnachbarn sich aufgrund meines Aussehens gefragt hätten, ob ich
überhaupt Deutsch spreche. Dann hätte ich aber mit so viel Witz und Charme in
perfektem Deutsch vorgetragen, dass er noch abends seiner Frau erzählt habe,
es sei ja nicht so wie im Fernsehen. Er sah mich erwartungsvoll an und hat auf
eine bestätigende Reaktion gewartet. Für mich, ganz neu in der Verwaltung
hat sich dies aber einfach nur falsch angefühlt, weil es mir nicht das Gefühl
gegeben hat, in meinem neuen Umfeld willkommen zu sein. Es hat mir statt-
dessen gezeigt, wie ich wahrgenommen werde, was meine Selbstverschleierung
als schwarzes Schaf nur unterstützt hat.
Personen mit Migrationshintergrund wollen nicht immer wieder darauf
angesprochen werden, wie gut sie Deutsch sprechen und dass es toll ist, wie
sie integriert sind. Manche von ihnen leben schon in der dritten oder vierten
Generation in Deutschland. Für sie ist das, was ihr ihnen als Kompliment mit-
teilen wollt, eine Selbstverständlichkeit. Solche Komplimente sind nicht nett für
das Gegenüber. Damit sagt ihr nur aus, dass ihr selbst noch Bedenken bezüglich
der Integration von Personen mit Migrationshintergrund habt.
Und der wichtigste Rat zum Schluss: Unterstützt Personen mit Migrations-
hintergrund, die ihren Job gut machen. Zeigt ihnen Perspektiven auf. Zeigt
„Warum gerade ich nach oben gehöre“ 53
ihnen Möglichkeiten der Weiterentwicklung auf. Sprecht ihnen Mut zu. Denn
in den meisten Fällen sind es Personen, die aus einer anderen Sozialisierung
kommen und denen Netzwerke zur Karriereförderung einfach fehlen.
Hört auf euch einen weißen Umhang überzustülpen. Mach euch nicht klein,
haltet euch nicht zurück. Diversität, andere Blickwinkel und andere Lebens-
erfahrungen tragen dazu bei, dass wir als Gemeinschaft besser werden.
Baut euch ein Netzwerk auf oder tretet Netzwerken bei. Sie sind karriere-
fördernd und durch den Erfahrungsaustausch stellt man fest, dass man nicht
ganz so allein ist.
Sprecht über euch und euer Leben, natürlich nur in dem Maße, das für euch
akzeptabel ist. Denn wenn wir mehr Einblick in uns und unsere Welt lassen, helfen
wir anderen Menschen Vorurteile abzubauen und neue Erkenntnisse zu sammeln.
Seid Role Models. Macht euch sichtbar und zeigt, was ihr erreicht habt. Egal, wo
ihr euch auf eurer Karriereleiter befindet. Es inspiriert andere Personen, Frauen
und auch Menschen mit Migrationshintergrund auch ihren Weg weiterzugehen,
als sie es sich bisher vielleicht für möglich erachtet oder sich zugetraut haben.
5 Fazit
Was ich euch mit diesem Beitrag mitgeben will, ist, dass unsere Gesellschaft bereits bunt ist
und nicht nur aus weißen Schafen besteht. Diese Farbe benötigen wir auch auf allen Ebenen
der öffentlichen Verwaltung. Wir benötigen Schafsherden mit schwarzen, roten, blauen und
regenbogenfarbenen Schafen. Denn diese Vielfalt ermöglicht es uns als Verwaltung, zu
einem sehr guten und zukunftsfähigen Serviceleister unserer Gesellschaft zu werden. Das
erreichen wir aber nur, indem wir Chancen ergreifen, aufzeigen, welche positiven Beispiele
wir schon haben und insbesondere auch Chancen und unsere bunten Schafe fördern.
Literatur
Buchkapitel
Bonefeld, M., Dickhäuser, O.: Max vs. Murat: Effekte des Migrationshintergrundes bei der Diktat-
beurteilung. GEBF-Tagung (2017)
54 Z. Öztürk
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therapeutic intervention. In: Psychotherapy. Theory, Research, Practice (1978)
Zehra Öztürk, Senatskanzlei der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg. Zehra Öztürk ist
Projektleiterin und stellvertretende Referatsleiterin im Amt für IT und Digitalisierung der Freien
und Hansestadt Hamburg. Die studierte Informatikerin hat erst in der freien Wirtschaft Chatbots
entwickelt, bevor sie sich in der Hamburger Verwaltung diversen IT-Projekten widmete.
Neue Chancen für den
Fachkräftemangel: Vom
Diversity Narrativ einer weißen*
Mehrheitsgesellschaft zu einer
inklusiven Verwaltung
Melanie Peterson
Zusammenfassung
Der Fachkräftemangel schreitet progressiv voran. Die Förderung von Vielfalt und
Inklusion sollen dieser Entwicklung entgegenwirken und die Verwaltung dabei
unterstützen, unterschiedliche demografische Gruppen als Fachkräfte für den Public
Sector zu erschließen. Doch was, wenn gerade die Perspektiven und Praktiken, die
historisch marginalisierte Bevölkerungsgruppen fördern und unterstützen sollen, sie
stattdessen diskriminieren und stigmatisieren? In dem Fachbeitrag wird beleuchtet,
wie institutionalisierter Rassismus bis heute tief in unseren Verwaltungsstrukturen
wirkt und was wir im öffentlichen Sektor tun können und müssen, um eine chancen-
gerechte Teilhabe jener bisher unterrepräsentierten Gruppen zu gewährleisten – für
eine inklusive und diskriminierungsbewusste Verwaltung.
Schlüsselwörter
M. Peterson ( )
GovMarket GmbH, Berlin, Deutschland
1 Einleitung
Der Public Sector in Deutschland umfasst das gesamte Spektrum der öffentlichen Ver-
waltung und Dienstleistungen und gilt als eines der fortschrittlichsten und effizientesten
Regierungssysteme der Welt. Nun steht die Verwaltung vor der Herausforderung
einer veränderten Bevölkerungsstruktur. Demografische Entwicklungen wie sinkende
Geburtenraten, eine erhöhte Lebenserwartung und Migration zwingen uns, sowohl in
der Privatwirtschaft als auch im Public Sector nachhaltige Lösungen und neue Chancen
für den wachsenden Fachkräftemangel zu schaffen (vgl. Einführungskapitel dieses
Buches).
Mit der Förderung von Vielfalt in der Verwaltung sollen u. a. die Bevölkerungs-
strukturen authentisch in der Verwaltung repräsentiert werden – ein ambitioniertes
Ziel mit etlichen Tücken. Auf eine dieser Herausforderungen stoßen wir spätestens
dann, wenn wir uns mit dem allseits beliebten Terminus des „Migrationshintergrunds“
beschäftigen – ein Überbegriff für sämtliche zugewanderten Bevölkerungsgruppen (vgl.
Statistisches Bundesamt 2023), der die Sichtbarkeit und Lebensrealitäten historisch
marginalisierter Gesellschaftsgruppen in etlichen Kontexten ausblendet. Somit fehlen
uns für eine gerechte Inklusion in der Verwaltung die Perspektiven jener Menschen,
für die es die Lösungen zu finden gilt. Diese Faktoren tragen einmal mehr dazu bei,
dass Ideale und Narrative rund um Inklusion und Vielfalt weiterhin von Weissen*
Perspektiven mit einhergehenden Privilegien einer dominanten Mehrheitsgesellschaft
geprägt sind.
Die gute Nachricht: Der Mangel an kultureller Vielfalt im öffentlichen Sektor wurde
in den letzten Jahren weithin erkannt, stellt jedoch nach wie vor eine große Heraus-
forderung in der Personalbeschaffung dar. Dabei geht es nicht nur um die moralische
und ethische Verpflichtung des Staates, diverser zu rekrutieren, sondern auch darum,
wie sich kulturell homogene Perspektiven auf die Qualität öffentlicher Dienstleistungen
und die Politikgestaltung auswirken. Das Verständnis der Ursachen und die Folgen von
Machtdynamiken und fortbestehenden Vorurteilen gegenüber strukturell benachteiligten
Gruppen sind jedoch entscheidend, um Gerechtigkeit und Inklusion im deutschen
öffentlichen Sektor zu fördern.
In diesem Fachbeitrag soll durch das Aufzeigen historischer Zusammenhänge
erläutert werden, wie sich das deutsche Diversitätsverständnis im öffentlichen Sektor
und in einer Weissen* Mehrheitsgesellschaft unter dem Ausschluss rassifizierter*
Bevölkerungsgruppen entwickelt hat und somit keine gerechte Inklusion stattfindet. Im
Gegenteil: In zahlreichen deutschen Institutionen in der Verwaltung werden nach wie vor
kolonialistisch geprägte Werte und Ideale reproduziert. Besonders bemerkbar machen
sich diese im Bildungs- und Gesundheitswesen, die in Abschn. 3 dieses Fachbeitrags
genauer erläutert werden.
Gleichzeitig soll diskutiert werden, wie marginalisierte, explizit von Rassismus
betroffene Bevölkerungsgruppen das Vielfalt- und Inklusions-Narrativ in der Verwaltung
mitprägen können, um neue Potenziale und Perspektiven zur Bewältigung des Fach-
kräftemangels freizusetzen.
Neue Chancen für den Fachkräftemangel: … 57
Um die Vielfalt im öffentlichen Sektor zu fördern, liegt die Einführung von Quoten zur
Repräsentation bestimmter Gesellschaftsgruppen nahe. Sie erlaubt uns, demografische
58 M. Peterson
Das Statistische Bundesamt misst aktuell einen Migrationsanteil von über 22 Mio.
in Deutschland lebenden Menschen (vgl. Statistisches Bundesamt 2022), wobei hier
davon auszugehen ist, dass die Dunkelziffer durch geflüchtete Zugewanderte wesentlich
höher ist. Vergleichsweise verzeichnet das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
Anfang 2022 einen Migrationsanteil von bis zu 12 % in der Bundesverwaltung, während
Migrant*innen 28 % der Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter stellen (vgl.
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2022). Bisher keine berauschende Bilanz, die
nicht zuletzt seit 2021 für eine erneute Diskussion zur Einführung der Migrantenquote
sorgt und vielerorts und zurecht auf Kontroversen stößt.
Was macht den Migrationshintergrund also kontrovers?
Der „Migrationshintergrund“ wurde im Jahr 2005 in Deutschland eingeführt und ist
ein vom Statistischen Bundesamt initiierter Überbegriff, der der Identifikation, Quanti-
fizierung und Integration aller zugewanderter Bevölkerungsgruppen dienen soll – ein
Forschungsansatz, der in der Wissenschaft auf viel Kritik stößt. Per Definition hat eine
Person dann einen Migrationshintergrund, „wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil
die deutsche Staatsangehörigkeit nicht von Geburt an besitzt“ (vgl. Statistisches Bundes-
amt 2023).
Daraus erschließt sich, dass die Bezeichnung des Migrationshintergrunds Menschen
aus unterschiedlichen europäischen Ländern miteinschließt, die jedoch nicht zwangs-
läufig von historisch bedingter, struktureller Diskriminierung aufgrund ihrer Religion,
Hautfarbe oder Nationalität betroffen sind. Dadurch sind Forschungsergebnisse aufgrund
stark unterschiedlicher Lebensrealitäten verfälscht und sorgen dafür, dass besonders Dis-
kriminierungserfahrungen rassifizierter Gruppen wie die Schwarzer* Menschen, People
of Color*, Romn*ja*, Sinti*zze*, Muslime oder Jüd*innen oftmals unsichtbar bleiben.
Auf der anderen Seite machen Schwarze* Deutsche, deutsche Romn*ja* und
Sinti*zze, deutsche Muslime und deutsche Jüd*innen ebenfalls Rassismuserfahrungen,
erkennen bei sich jedoch als zweite oder dritte Generation eingewanderter Nachkommen
keinen Migrationshintergrund und werden in der Statistik auch nicht entsprechend
erfasst.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass von den aktuell in Deutschland lebenden knapp
60 Mio. Personen ohne Migrationshintergrund (siehe Abb. 1) eine bestimmte Anzahl an
Gesellschaftsgruppen besteht, die Rassismuserfahrungen machen, für die jedoch keine
institutionalisierten Maßnahmen zur Inklusion entwickelt werden.
nach wie vor aussagekräftige Forschungsdaten über das Ausmaß und die Arten der Dis-
kriminierung, denen sie ausgesetzt sind.
Sehr beispielhaft zeigt sich die fehlende Repräsentation rassifizierter Gruppen
unter dem Deckmantel des „Migrationshintergrunds“. In der 2018 erschienenen
Studie „Diversität in öffentlichen Einrichtungen“ wurde erstmals untersucht, wie viel-
fältig Führungsebenen in der Berliner Verwaltung sind. Die Studie ergab, dass 15 %
der Führungskräfte einen Migrationshintergrund haben, davon allerdings nur 3 %
rassistische Diskriminierung aufgrund äußerer Merkmale wie der Hautfarbe oder
der Religionszugehörigkeit erfahren (vgl. Aikins et al. 2018, S. 14). Zwar gibt es in
Berlin das Partizipations- und Integrationsgesetz (PartIntG), das die Chancengleich-
heit von Migrant*innen sicherstellen soll, aber in diesem Gesetz fehlt es an konkreten
Umsetzungsmethoden1. Das hat zur Folge, dass rassifizierte* Gruppen wie Schwarze*
Menschen und People of Color* bis heute in vielen Bereichen in der Verwaltung unter-
repräsentiert sind.
Es geht also vor allem um ein besseres Verständnis der Selbst- und der Fremd-
wahrnehmung: „Wie bezeichne ich mich selbst? In welchen Kontexten werde ich dis-
kriminiert?“ Diese Erfahrungen sind selten identisch. Eine Person of Color* kann
beispielsweise antimuslimisch diskriminiert werden, ohne per se Muslime zu sein.
1 Anmerkung der Hrsg.: Zum Berliner Partizipations- und Integrationsgesetz (PartIntG) findet sich
in Teil 5 dieses Buchs ein eigenständiger Fachbeitrag.
Neue Chancen für den Fachkräftemangel: … 61
der afrikanischen Kolonien einhergehen soll. Allerdings fehlt es hier bisher an konkreten
Umsetzungsstrategien. Auch wenn dies ein erster wichtiger Schritt zu Verantwortungs-
übernahme für die begangenen Verbrechen ist, verändert eine von Reue geprägte
Erinnerungskultur keine Strukturen. Um die Inklusion und Perspektiven rassifizierter
Gruppen im Public Sector zu fördern, müssen wir da ansetzen, wo kolonialistisches
Gedankengut bis heute am stärksten wirkt: In Deutschlands Institutionen.
weise von einer Situation, in der ihr Lehrer ihre Rechtschreibfehler unverhältnismäßig
problematisierte und sie mit den Worten ‚Bei dir merkt man auch, dass du keine
Deutsche bist!‘ vor der gesamten Klasse als defizitär und nicht zugehörig markierte.
Ein Schwarzer Schüler sprach davon, dass medial reproduzierte negative Stereotype von
Schwarzen Menschen auf ihn projiziert würden, während seine muslimische Mitschülerin
darauf verwies, dass sie aufgrund ihres Muslimischseins mit dem IS gleichgesetzt werde“
(vgl. Parbey 2020).
Das Problem: Deutschland hat ein stark segregiertes Bildungssystem, das
Schüler*innen nach den entsprechenden Stereotypisierungen früh und stark selektiert.
Dadurch entstehen systemische Ungleichheiten, die sich im Bildungssystem und später
in unseren Behörden institutionell manifestieren und reproduzieren.
Dies hat zur Folge, dass staatlichen Institution, die Schüler*innen mit Rassismus-
erfahrungen eigentlich unterstützen sollten, sie stattdessen unbewusst degradieren und
diskriminieren.
Krankheiten bei Schwarzen Menschen oft nicht oder erst viel zu spät diagnostiziert
werden (vgl. Ärzteblatt 2022). So erschließt sich, dass auch das Gesundheitssystem,
allem voran die Medizinalforschung durch Weisse*, von kolonialistischen Werten
bestimmte Perspektiven gestaltet und rekonstruiert wird. Darum ist es im Gesundheits-
wesen genauso wichtig, auf Rassismus bewusste Narrative und Praktiken zu achten, die
sich letztendlich auch positiv auf die körperliche und mentale Gesundheit rassifizierter*
Personen in Deutschland auswirken. Auch hier kann eine chancengerechtere Bildungs-
politik z. B. durch Förderungsprogramme für Schuler*innen und Studierende mit Rassis-
muserfahrungen die strukturellen Ungleichheiten im Gesundheitswesen ausgleichen.
Aktuell konzentriert sich die Forschung zur Bildungsungleichheit in Deutsch-
land immer noch vorwiegend auf sozioökonomische Indikatoren. In der Ausbildung
setzen sich Lehrer*innen kaum mit Rassismuskritik oder den eigenen Privilegien aus-
einander. Hinzu kommt, dass die deutschen Lehrpläne bisher kaum Deutschlands
Kolonialgeschichte aufarbeiten. Immerhin werden inzwischen Rassismuserfahrungen in
deutschen Bildungsinstitutionen aber zumindest teilweise erfasst.
Hier brauchen wir zum einen die Verpflichtung einer integrativen und progressiven
Bildungspolitik. Zum anderen müssen wir das Rassismusproblem als gesellschaftliches
kollektives Trauma anstatt als intentionsbehaftetes Handeln einzelner Individuen ver-
stehen lernen und uns von der Scham und Schuld der Vergangenheit lösen, um mit kraft-
vollen Lösungen für eine inklusive Verwaltung voranschreiten zu können.
5 Fazit
Literatur
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Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Praxis – Ergebnisse einer Piloterhebung
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wieder das Gefühl geben, dass sie fremd und defizitär sind, untergraben wir ihre Würde“,
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bildung-interview/, zugegriffen: 10. Februar 2023
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Migrationshintergrund, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/04/
PD22_162_125.html, zugegriffen: 11. Februar 2023
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schaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Glossar/migrationshintergrund.html,
zugegriffen: 10. Februar 2023
Melanie Peterson lebt in New York City und in Berlin. Als erfahrene Trainerin für Diversity,
Equity & Inclusion berät sie vorwiegend Institutionen aus dem Public Sector. Zu ihren Themen-
schwerpunkten zählen Diskriminierungsbewusste und inklusive Führung sowie Anti-Schwarzer-
Rassismus. In ihrer Arbeit unterstützt Führungskräfte dabei, Vielfalt und Zugehörigkeit in
Organisationen umzusetzen und nachhaltig zu leben. Mit dem Ziel DEI-Perspektiven in digitale
Transformationsprozesse einzubringen, leitet Melanie als Head of Marketing innovative Projekte
bei GovMarket – Deutschlands erstem App-Store für GovTechs. Als Mutter von zwei Kindern
engagiert sie sich leidenschaftlich für die Sichtbarkeit und Förderung von Kindern und Jugend-
lichen historisch benachteiligter Gruppen.
Inklusive Sprache als Treiber für mehr
Vielfalt in der Verwaltung
Zusammenfassung
Inklusive Sprache beschreibt eine Art zu kommunizieren, die einzelne Personen oder
Gruppen von Menschen nicht ausschließt oder diskriminiert. Es ist eine Sprache,
die respektvoll und rücksichtsvoll gegenüber allen Menschen ist, unabhängig von
ihrer Herkunft, ihrer Geschlechtsidentität, ihrem Alter oder ihren Fähigkeiten. Die
Verwendung inklusiver Sprache trägt dazu bei, eine willkommene und inklusive
Umgebung für alle zu schaffen. Dies kann die Verwendung von geschlechtsneutralen
Begriffen, die Vermeidung von Stereotypen und Diskriminierungen sowie die Berück-
sichtigung der Wirkung von Worten auf andere umfassen. Die Diskussion über
inklusive Sprache ist auch in der öffentlichen Verwaltung angekommen. Zugleich
bestehen noch viele Diskussionen und Unsicherheiten. Für die Verwendung inklusiver
Sprache in der Verwaltung sprechen Aspekte wie der Abbau diskriminierender
oder stereotypischer Vorurteile, die Ansprache aller Menschen und somit die
Sicherung der Legitimation durch Mitarbeitende sowie den Bürger*innen mit ihren
Anliegen. Insbesondere gendersensible Sprache fordert einen kreativen Umgang
mit den verschiedenen Schreibweisen, damit die Lesbarkeit durch Sonderzeichen
nicht eingeschränkt wird sowie bei der Einführung begleitende Maßnahmen zur
Sensibilisierung der Sprachwirkung und um Hintergründe zu erklären.
P. L. Auksutat ( )
E.ON Deutschland, München, Deutschland
Schlüsselwörter
Sprache ist ein Mittel, um uns auszudrücken und uns mitzuteilen. In ihr zeigt sich,
wie wir die Welt wahrnehmen. Gleichzeitig bestimmt sie, wie wir sie wahrnehmen
und wie wir denken, denn Sprache formt Realität (Berger und Luckmann 1990). Beim
Sprechen werden bereits verfestigte Kategorien abgerufen, die aufgrund der persönlichen
Sozialisation und Erfahrungen sowie dem individuellen Wissensstand geprägt sind.
Sprache ist also etwas sehr Persönliches. Andererseits ist Sprache nicht determiniert und
kann sich über die Zeit verändern, was als Sprachwandel bezeichnet wird (Hornscheidt
2008). In dem Zusammenhang wird Sprache als „flexibles, wechselseitiges Bedingungs-
gefüge“ charakterisiert (Kotthoff et al. 2018). Es geht also um den allgemeinen Sprach-
gebrauch und alle Aspekte der verbalen und nonverbalen Kommunikation, durch die
Individuen Informationen übermitteln. Bezogen auf Organisationen hat Sprache drei
zentrale Wirkungen: Sie ist ideologisch, macht sichtbar und ist unhintergehbar (Weik
2019).
Die Verwaltung nimmt eine Schlüsselfunktion in der Gesellschaft ein. Daher
sollten alle Menschen gleichberechtigt Zugang dazu haben. Eine inklusive Sprache ist
darum auch in der Verwaltung von großer Bedeutung, da sie dazu beiträgt, sprachliche
Barrieren abzubauen und für alle Bürger*innen zugänglich zu werden. Im Kern geht
es darum, eine Sprache zu verwenden, die die Verwaltung bei der Bereitstellung von
Angeboten und Dienstleistungen für alle Kund*innen unterstützt. Dies bedeutet, dass
die Verwaltung die beschriebene Individualität und somit die sprachlichen Bedürfnisse
der Bürger*innen berücksichtigt und die Kommunikation so gestaltet, dass sie für alle
verständlich ist. Ein bekanntes Beispiel für eine inklusive Sprache in diesem Kontext ist
die gendersensible Sprache. Es gibt jedoch bereits eine große mediale Aufmerksamkeit
und oft vorgefertigte Meinungen zu diesem Thema. Der folgende Beitrag legt darum den
Fokus auf Sprachsensibilität in der Verwaltung und zeigt, wie inklusive Sprache auch
dort umgesetzt werden kann.
Sprachsensibilität bezieht sich auf die Fähigkeit, die Auswirkungen unserer Worte auf
andere Menschen zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren (Wirtz 2017). Dazu
gehört auch, in sprachlichen oder schriftlichen Äußerungen die Gefühle und Bedürfnisse
anderer Menschen zu berücksichtigen und verschiedene Perspektiven einzubeziehen.
Inklusive Sprache als Treiber für mehr Vielfalt in der Verwaltung 71
Dies ist ein wichtiger Aspekt inklusiver Sprache und kann dazu beitragen, unsere
Kommunikation respektvoll und verständlich zu gestalten, Vorurteile und Stereotype zu
vermeiden und eine positive Atmosphäre zu schaffen. Ziel ist es, auf Augenhöhe und
mit Respekt zu kommunizieren. Sprachsensibilität bedeutet auch, flexibel im Sprachge-
brauch zu sein und ihn zu reflektieren und ggf. zu ändern, um die Sensibilität dafür zu
verbessern.
Das Thema sensible Sprache ist nicht neu. Bereits 1984 schrieb Sprachwissenschaftlerin
Luise Pusch über Stereotype und Sprache: „Die Sprache ist eines der wichtigsten Aus-
drucksmittel in unserer Gesellschaft. Der sprachliche Umgang miteinander bestimmt nicht
nur unsere Sozialisation, unsere Kultur und zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern
hat auch Auswirkungen auf unser Denken und Handeln. Sie kann gesellschaftliche Reali-
täten stabilisieren oder verändern, Stereotypen über die Rollen von Frauen und Männern
verstärken oder ihnen entgegenwirken“ (Pusch 1984). Wie präsent das Thema Sprache
und Inklusion in unserem Alltag ist, zeigt beispielhaft die Entwicklung der Emojis in den
Smartphone-Tastaturen. Die weltweit am schnellsten wachsende „Sprache“ sind genau
diese Emojis. Mehr als 90 % der Online-Nutzer*innen verwenden die Bildsprache (Criado-
Perez 2019). Unicode, die für die Sprachtastatur der Emojis auf Smartphones verantwort-
lich ist, entwirft seit 2016 explizit nicht nur genderneutrale Bilder, sondern strebt inklusive
und sowohl männliche als auch weibliche Emojis bei Berufen oder Athlet*innen an, um
stereotype Vorannahmen zu reduzieren1.
Auch in der Verwaltung hat das Thema inklusive Sprache in den letzten Jahren an
Bedeutung gewonnen, da sie eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Barrierefrei-
heit und der Förderung von Inklusion spielt. In einer Gesellschaft, in der Menschen
mit unterschiedlichen Hintergründen, mit verschiedenen Fähigkeiten und Geschlechts-
identitäten zusammenleben, ist es wichtig, dass die öffentliche Verwaltung inklusive
Sprache verwendet. So wird sichergestellt, dass alle Menschen angesprochen werden, die
1 Ausführliche Informationen sind auf der Website von Unicode zu finden (Zugriff: 28.01.2023):
http://unicode.org/reports/tr51/#Diversity.
72 P. L. Auksutat
Inhalte und Angebote von allen verstanden und konsumiert werden können und sich alle
respektiert fühlen.
Inklusive Sprache trägt zum Abbau sprachlicher Barrieren bei und macht die Ver-
waltung für alle Bürger*innen zugänglich. Mit ihrer großen Reichweite hat die
Verwaltung zudem eine wichtige Vorbildfunktion, da sie alle Bürger*innen erreicht
und ihre Kommunikation von einer breiten Bevölkerung wahrgenommen wird.
Durch die Verwendung inklusiver Sprache kann die Verwaltung einen Beitrag zu einer
inklusiveren und gerechteren Gesellschaft leisten.
Eine wichtige Rolle von inklusiver Sprache in der Verwaltung ist die Verbesserung der
Zusammenarbeit. Inklusive Sprache stellt sicher, dass die Kommunikation für alle ver-
ständlich ist und Missverständnisse vermieden werden können. Es ist wichtig, dass die
Verwaltung auch die sprachlichen Bedürfnisse aller Mitarbeitenden berücksichtigt und
die Kommunikation so gestaltet, dass sie verständlich ist. Eine quantitative Studie aus
Dänemark (Lauring und Klitmøller 2017) untersuchte die sprachliche Offenheit aus der
Führungs- und Mitarbeiter*innenperspektive und ihre Auswirkung auf Kreativität und
Leistung. Die Forscher*innen fanden heraus, dass eine Offenheit gegenüber sprachlicher
Vielfalt aus beiden Perspektiven positiv mit der Leistung verbunden ist. Daraus schluss-
folgerten die Autor*innen, dass Mitarbeitende in diesem Fall einen stärkeren Zusammen-
halt bilden und ein breiteres Spektrum an Perspektiven nutzen und berücksichtigen
können. Dies legt nahe, dass Führungskräfte in Organisationen ein Umfeld schaffen
sollten, das die Offenheit für Sprachvielfalt fördert. Dafür leiten sie als Praxisimplikation
ab, dass eine inklusive Sprache auf organisationaler Ebene durch Diversity-Initiativen
unterstützt werden kann. Auf individueller Ebene sollte außerdem ein Bewusstsein für
sprachliche Vielfalt und unterschiedliche Wahrnehmung von Sprache entwickelt werden
(Lauring und Klitmøller 2017). Ziel ist es also, zunächst einmal alle Menschen, die
innerhalb einer Verwaltung tätig sind, zu inkludieren, sichtbar zu machen und anzu-
sprechen.
Sprache ist ein soziales Gebilde, das Identität schafft und Gemeinschaft fördert, aber auch
ab- und ausgrenzen kann. Sie hat in Organisationen einen großen Stellenwert, da sie die
Identität, Ziele, Werte und Beziehungen zu den Stakeholdern manifestiert (Buchholz et al.
2019).
Inklusive Sprache als Treiber für mehr Vielfalt in der Verwaltung 73
Angelehnt an die Vielfaltsdimensionen der Charta der Vielfalt lassen sich in Bezug
auf den allgemeinen Sprachgebrauch drei Kategorien ableiten, die inklusive Sprache
beschreiben: diskriminierungsfreie-, gendersensible und barrierearme Sprache.
Inklusive Sprache bezeichnet eine Art der Sprache, die diskriminierende oder aus-
grenzende Ausdrücke und Begriffe vermeidet und stattdessen neutrale und respekt-
volle Formulierungen verwendet und alle Menschen unabhängig von Geschlecht, Alter,
ethnischen Zugehörigkeiten oder körperlichen oder geistigen Fähigkeiten anspricht und
einschließt.
widerzuspiegeln. Außerdem sollten Menschen nicht auf einen einzigen Aspekt ihrer
Persönlichkeit reduziert werden.
Jeder Mensch hat das Recht, selbst zu entscheiden, wie er*sie genannt werden möchte.
Selbstbezeichnungen haben immer Priorität. Die Umsetzungsmöglichkeiten sind daher
nur eine kleine Auswahl, nicht abschließend und können sich im Laufe der Zeit ändern.
Im deutschsprachigen Raum wird seit den 1970er Jahren eine Debatte über die Gleich-
stellung der Geschlechter geführt, ein wichtiger Teil davon ist die sprachliche Gleich-
stellung. Im Zentrum steht die Bedeutung von Geschlecht als biologisches Geschlecht
(sex) und als kulturell-soziales Geschlecht (gender) (Korte und Schäfers 2016). Das
Thema ist auch auf Verwaltungsebene höchst relevant. Zum 1. Januar 2019 ist eine
Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes in Kraft getreten, die eine
zusätzliche Geschlechtsbezeichnung „divers“ einführt.
Die deutsche Sprache ist stark von Geschlechterzuschreibungen durch das
grammatikalische Geschlecht und Personenbezeichnungen geprägt. Männliche Nomen,
wie „Lehrer“ können entweder speziell auf Männer oder alle Personen bezogen
werden. Aufgrund dieser Doppelfunktion können männliche Formen eine semantische
Mehrdeutigkeit erzeugen, die Frauen oft ausschließt. Das vermeintlich generische
Maskulinum, welches häufig verwendet wird, wenn männliche und weibliche Personen
angesprochen werden sollen oder das Geschlecht im sprachlichen Kontext nicht
relevant ist, kann zu einer ungleichen Verteilung der Geschlechterdarstellung führen
(Braun et al. 2007). Dies ist für Organisationen in Zeiten des Fachkräftemangels
relevant. Forschungsergebnisse zeigen, dass Stellenanzeigen, die geschlechtsspezifisch
formuliert sind, beide Geschlechter davon abhielten, sich für die „gegengeschlecht-
liche“ Arbeitsplätze zu bewerben (Bem und Bem 1973). Ergebnisse einer quantitativen
Inhaltsanalyse aus dem Jahr 2019 zeigen, dass geschlechterspezifische Kommunikation
unterschiedliche Assoziationen von beruflichem Erfolg hervorruft. So wird männliche
Kommunikation mit dem hierarchischen Aufstieg (z. B. Anzahl der Beförderungen,
Aufstieg in eine höhere Führungsebene) und weibliche mit nicht-hierarchischen
Belohnungen (z. B. höhere Vergütung, mehr Verantwortung) in Verbindung gebracht.
Ergebnisse einer weiteren Studie zeigen, dass Frauen mit einer weiblichen Berufs-
bezeichnung als weniger kompetent gelten und seltener eingestellt werden als Frauen mit
männlicher Berufsbezeichnung (Budziszewska et al. 2014). Darum gibt es Forderungen
nach genderneutralen Jobbezeichnungen, um stereotype Rollenbilder am Arbeitsplatz zu
vermeiden (Foster 2018).
Auf der Sprachebene wird über verschiedene sprachliche Formulierungen und
Schreibweisen diskutiert. Seit den 2000ern wird verstärkt ein faires und inklusives Mit-
einander, sowie einen sensiblen und bewussten Umgang im Sozialverhalten und eine
Geschlechtervielfalt und Diversität gefordert. Diese Forderungen beziehen sich auf die
gesprochene und schriftliche Sprache (Wetschanow 2017).
76 P. L. Auksutat
Es hat sich im Laufe der Zeit auch die empfohlene Schreibweise geändert.
Während früher verstärkt über das vermeintlich generische Maskulinum und die
Beidnennung diskutiert wurde, geht es in neueren Publikationen um Formen, die über
die binäre Bezeichnung hinausgehen (Kotthoff 2017). So eröffnen beispielsweise
der sogenannte Unterstrich, der Gender Gap, der Asterisk („Gendersternchen“) oder
der Genderdoppelpunkt einen Raum zwischen zwei Begriffen mit unendlich vielen
dazwischen liegenden Begrifflichkeiten und stellen somit einen Bezug zur Gendertheorie
her.
Bisher gibt es keine einheitliche Definition oder Vorgabe für gendersensible Schreib-
weisen, sondern nur Empfehlungen. Gendern wird als eine Strategie der sprachlichen
Kommunikation definiert, also ein sprachliches Verfahren, um Gleichberechtigung im
Sprachgebrauch zu erreichen. Sprachformen, die auf der grammatikalischen Ebene beide
oder alle Geschlechter gleichermaßen einschließen oder durch die Nutzung neutraler
Formulierungen berücksichtigen, werden als gendersensibel definiert (Diewald und
Steinhauer 2020).
Gendersensible Sprache umfasst also verschiedene sprachliche Strategien, darunter
auch das Binnen-I, Gendersternchen (Asterisk) oder der Genderdoppelpunkt. Es kann
hilfreich sein, in der Organisation eine Schreibweise zu empfehlen, die Entscheidung
aber transparent zu erklären und die Umsetzung offen zu lassen.
Barrierearme Sprache hat zwei Ebenen. Auf inhaltlicher Ebene geht es darum, den
Menschen in den Mittelpunkt der Sprache zu rücken. Das heißt eine respektvolle und
feinfühlige Kommunikation zu Themen wie Inklusion, Behinderungen und Barriere-
freiheit. In der Kommunikation sollte keine Sprache verwendet werden, die Menschen
ausschließlich über ihre Behinderung definiert. Die Disability Studies unterscheiden
zwischen den Begriffen „Beeinträchtigung“ und „Behinderung“. Die Beeinträchtigung
beschreibt die körperliche Seite der Behinderung, z. B. fehlende Sehkraft, während
„Behinderung“ auch eine soziale Dimension beinhaltet. Daher ist „Menschen mit
Behinderung“ eine sensiblere Formulierung. Die Begriffe „Beeinträchtigung“ und
„Handicap“ beziehen sich nur auf körperliche Aspekte und sind damit nicht inklusiv.
Beide Wörter können zu falschen Annahmen führen, da nicht jede Person mit
Behinderung sich automatisch eingeschränkt fühlt. Vielmehr ist es meist die Gesell-
schaft, die erst für Barrieren sorgt. Daher sollten augenscheinliche Synonyme wie
„Beeinträchtigung“, „Handicap“ oder „Einschränkung“ vermeiden werden, da sie das
Stigma der „Behinderung“ reproduzieren. Um die Formulierung zu verbessern, sollten
Adjektive vermieden und stattdessen Substantive verwendet werden, z. B. „Person
mit Behinderung“ statt „behinderte Person“. Ausnahmen gibt es, wenn kein treffendes
Substantiv verfügbar ist, z. B. „blind“ oder „gehörlos“ (nicht: „taub“).
Barrierearme Sprache umfasst darüber hinaus auch die technische Ebene. Dies
bezieht sich auf die Bereitstellung von Inhalten und Medien, die für alle Menschen
zugänglich sind. Dazu gehört z. B. die Erstellung von Präsentationen, Videos oder
Websites, die für Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen leicht zugänglich sind.
Das wird u. a. erreicht durch die Verwendung von hohen Kontrasten, entsprechenden
Schriftgrößen, hinterlegten Alternativtexten, sowie Bereitstellung von Untertiteln oder
Gebärdensprache-Interpretationen bei Veranstaltungen.
Wie auch bei der diskriminierungsfreien Sprache ist es wichtig, offen und sensibel mit
den Begriffen umzugehen und Selbstbezeichnungen zu respektieren. Genau wie die
Rechtschreibprüfung sollte das Ziel sein, dass ein Inklusionscheck zur Routine wird.
Sprache ist etwas sehr Persönliches und begleitet uns ein Leben lang. Daher ist es bei der
Umsetzung von inklusiver Sprache in der Verwaltung hilfreich, die Wirkung von Sprache
zu erklären und ein gemeinsames Ziel zu schaffen: einen respektvollen Umgang mit-
einander. Indem nicht nur einzelne Aspekte von inklusiver Sprache, wie das Gendern,
thematisiert werden, kann so ein gemeinsamer Nenner geschaffen werden. Jeder kann
so einen eigenen Zugang finden und sich mit verschiedenen Aspekten identifizieren. In
Unternehmen hat sich gezeigt, dass es wichtig ist einen Bezug zu den Unternehmens-
werten und -zielen herzustellen, um zu erklären, warum inklusive Sprache sinnvoll ist
Inklusive Sprache als Treiber für mehr Vielfalt in der Verwaltung 79
und zur Zielerreichung beiträgt. In der öffentlichen Verwaltung kann dies die Ansprache
aller Menschen sowie die Bürger*innen- und Mitarbeitenden-Orientierung sein.
Es ist wichtig anzuerkennen, dass es unterschiedliche Fähigkeiten, Kenntnisse
und Ausgangspunkte zum Thema Vielfalt und Inklusion und somit auch zu inklusiver
Sprache gibt. Dies sollte bei Diskussionen und Materialien berücksichtigt werden. Daher
ist es wichtig, zunächst die Grundlagen zu besprechen. Dokumente, die häufig gestellte
Fragen und Anwendungsfälle beantworten, können einen internen Wissensspeicher
bilden und fortlaufend ergänzt werden.
Meist liegt der Kern von Maßnahmen für inklusive Sprache in einem Leitfaden mit
empfohlenen Schreibweisen, der zeigt, wie sie umgesetzt werden können. Solche Leit-
fäden können eine Hilfestellung sein, die Mitarbeitende dabei unterstützt, respektvoll
und feinfühlig zu kommunizieren und können beispielsweise im Rahmen einer Rund-
verfügung geteilt werden. Damit die Inhalte auch zur gelebten Praxis werden und die
Akzeptanz gesteigert wird, ist es hilfreich, die Einführung im Rahmen eines Change-
Prozesses mit weiteren Maßnahmen zu begleiten. Dafür ist eine klare Verankerung der
Zuständigkeit wichtig. Mit einer offenen Kommunikation von Ansprechparter*innen
und Unterstützungsangeboten bei Rückfragen kann ein Feedbackkanal geschaffen
werden. Die Kommunikations- oder Personalabteilung kann hierfür geeignet sein. Die
Umsetzung erfordert Unterstützung durch die Führungsebene und Initiative einzelner
Akteure, die als Multiplikator*innen fungieren und Sichtbarkeit schaffen. Der Prozess
kann durch Workshops und regelmäßige Praxisbeispiele, die beispielsweise im Intranet
geteilt werden, unterstützt werden.
Bei der Einführung und Umsetzung ist es hilfreich, den kreativen Umgang mit
Sprache in den Vordergrund zu stellen. Es geht nicht um Perfektion, sondern Bewusst-
sein für die Wirkung von Sprache. Um zusätzlichen Druck zu nehmen, sollte der Fokus
auf die Zukunft und nicht auf die Vergangenheit gerichtet sein. Nachträglich werden
nicht alle Medien und Inhalte inklusiv gestaltet und überarbeitet werden. Ein weiterer
Schritt kann sein, öffentlich wirksame Dokumente und Medien wie Anträge oder Web-
seiten zu identifizieren, zu priorisieren, auf inklusive Formulierungen zu überprüfen und
ggf. Änderungen vorzunehmen. Es geht um die Kommunikation und Materialien, die in
Zukunft verfasst und publiziert werden.
6 Fazit
Literatur
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Inklusive Sprache als Treiber für mehr Vielfalt in der Verwaltung 81
Zusammenfassung
Die Verwaltung der Zukunft braucht mutige Entscheidungen, die hin zu mehr Diversi-
tät führen, um die Zukunftsfähigkeit der Verwaltung sicherstellen zu können. Dabei
ist es essenziell konservative Denkmuster zu hinterfragen und rechtliche Rahmen-
bedingungen neu zu interpretieren. In diesem Fachbeitrag werden Ansätze zur
Etablierung von Diversität aufgezeigt und die Frage diskutiert, ob Quoten dazu bei-
tragen können mehr Diversität innerhalb der Verwaltung zu erreichen. Darüber
hinaus werden Herausforderungen und Erfolgsfaktoren in diesem Zusammenhang
besprochen und sowohl hinterfragt, ob das Prinzip der Bestenauslese nach aktuellem
Verständnis ausgedient hat, als auch was Fehlerkultur mit Diskriminierung und
Privilegien eigentlich zu tun hat.
Schlüsselwörter
R.-A. Slabik ( )
Deutsche Telekom AG, Hamburg, Deutschland
A. Rittgerodt
Freie und Hansestadt Hamburg, Hamburg, Deutschland
1 Einleitung
Die Verwaltung ist lange Zeit in feste und uniforme Denkmuster gepresst worden und
wird dies auch heute noch. Die Gründe dafür sind vielseitig und komplex. Die in der
Gesellschaft verbreitete Mär der behäbigen Verwaltung greift dabei deutlich zu kurz.
Die Frage, die es zu stellen gilt, ist doch, ob ein System, welches stark durch gesetz-
liche Rahmenbedingungen und durch konservative Denkmuster geprägt ist, eigentlich
so einfach aufgebrochen werden kann und wie und ob Diversität hierzu einen Fach-
beitrag leisten kann. Dahinter steckt die Suche nach der Antwort auf die Frage, ob das
System der öffentlichen Verwaltung durch Diversität und den Mut, Fehler zu machen,
insgesamt effektiver gestaltet und die bestehende Verwaltungswelt dadurch positiv
revolutioniert werden kann. Divers sind jedenfalls die Meinungen in der Öffentlich-
keit zum Thema Verwaltung und treffen im O-Ton immer öfter ein Klischee-Bild von
verbeamteten Mitarbeitenden, die keine Veränderung wollen, sich nicht trauen, Fehler
zu machen und sich im Klein-Klein verlieren. Wir befinden uns aber, ganz im Gegen-
teil, in einer Verwaltungswelt, in der immer diversere Menschen und damit auch immer
diversere Denkmuster aufeinandertreffen, denn am Ende beeinflussen auch Sprache
und Kultur unser Denken1. Diese Entwicklung ist definitiv essenziell für eine not-
wendige revolutionäre, neue Verwaltungswelt. Trotzdem werden damit viele Menschen
vor neue Herausforderungen gestellt, die lange Zeit konservative Denkmuster ver-
innerlicht haben, die Ihnen entweder Erfolg oder zumindest keine Nachteile gebracht
haben. Diese unterschiedlichen Welten zu verbinden, stellt einen der größten Heraus-
forderungen im Changeprozess des Verwaltungssektors in Deutschland dar. Als „unter-
schiedliche Welten“ werden in diesem Zusammenhang einerseits die eher konservative
„alte Verwaltungswelt“ und andererseits die zukünftige durch Diversität und vor allem
Innovation geprägte „neue Verwaltungswelt“ verstanden. Und wer glaubt, dass dieser
Wandel einfach und schnell umzusetzen ist, der irrt. Denn es stellt sich nicht nur die
Herausforderung der Implementierung von Diversität, sondern auch die der Akzeptanz
derselben. Entstehen durch neue Strukturen und Prozesse Fehler, die sicherlich vor allem
zu Beginn nicht vermeidbar sein werden, müssen diese von allen mitgetragen werden.
Letztendlich werden mögliche anfängliche Schwierigkeiten und Zeitverzögerungen
durch Optimierungsbedarfe auch Bürger*innen betreffen können. Kann es in der
deutschen Verwaltung also überhaupt einen Wandel geben, der insbesondere auch das
diverse Denken in Bezug auf den Prozess hin zu mehr Diversität fördert und zulässt?
Nicht selten trifft man in der Verwaltungswelt tatsächlich eher auf den Gedanken-
gang: „Wer nichts macht, macht keine Fehler…“. Eben dieser Gedankengang wir durch
eindimensionales, konservatives Denken gefördert und führt gerade nicht eine „neue
diverse Verwaltungswelt“, da die Angst vor Fehlern diesen Fortschritt verhindert. Die Ver-
waltung ist dabei aber in einer Vorreiterrolle. Der öffentliche Dienst ist der mit Abstand
größte Arbeitgeber in Deutschland. Bei ihm sind rund 4,8 Mio. Menschen beschäftigt.
Dabei sollte der öffentliche Dienst eine Vorbildfunktion einnehmen, vor allem hinsicht-
lich des Zulassens von diversem Denken und Diversität, damit sich eine akzeptanz-
orientierte Fehlerkultur in der Gesellschaft manifestieren kann. Das Denkmuster „Ist
so, weil es immer schon so war“ wird nicht durchbrochen, wenn wir weiter an festen
Glaubenssätzen und Strukturen festhalten, die diese Muster im Fundament unter-
stützen. In diesem Kontext ist es auch berechtigt zu fragen, ob eine Führungskultur, die
durch altes, konservatives Denken geprägt ist, überhaupt den möglichen Freiraum bietet,
Diversität zuzulassen und zu fördern. Das passiert in einer Verwaltungswelt, in der davor
zurückgeschreckt wird, Führungspositionen mit jungen Menschen zu besetzen, weil
man an gesetzliche Rahmenbedingungen gebunden ist, mit Sicherheit nur schwerfällig
und langsam. Und natürlich greift es auch hier zu kurz, zu sagen, dass allein das „anders
Machen“ an sich schon Besserung bringt. Aber beispielsweise Befähigungen für zentrale
Positionen aus Angst vor der sogenannten Sprungbeförderung (dem Überspringen von
mehr als einer Gehaltsstufe) oder vor entgegenstehender, vermeintlich gefestigter Recht-
sprechung an zeitlicher Bewährung – also meist dem Alter – festzumachen, wird nicht
dazu beitragen, dass wir eine positive Veränderung schaffen. Ist es daher nicht berechtigt
zu hinterfragen, ob die entsprechende Rechtsprechung zeitgemäß ist? Muss sie nicht
ebenfalls an die Herausforderungen der neuen Generationen angepasst werden und sie
entsprechend würdigen? Steht die Bestenauslese als Eckpfeiler der Besetzung von Stellen-
positionen nicht eigentlich schon automatisch im Gegensatz zur Diversität und damit zu
diversem Denken und einer Fehlerkultur? Was wäre, wenn wir es schaffen würden, alte
und neue Denkmuster zu verbinden, diverses Denken zu ermöglichen, Diversität und eine
Fehlerkultur zuzulassen, um ein positives Arbeitsumfeld zu schaffen und die Mitarbeiter-
zufriedenheit zu steigern? Wenn wir der Verwaltung den Raum geben würden, Fehler zu
machen, ohne die handelnden Menschen direkt öffentlich zu kritisieren und über einen
Kamm zu scheren? Was wäre, wenn auch in den verantwortlichen Positionen in den
tragenden Rollen der Verwaltung – also insbesondere auch in den personalentwicklungs-
verantwortlichen Bereichen – über den Tellerrand hinausgedacht würde? Was wäre also,
wenn wir es schaffen würden, eine diverse Verwaltungswelt zu gestalten, die wirklich
etwas bewegt und zeitgemäß handelt, weil wir alle miteinbeziehen?
Diese Überlegungen und Ansätze führen letztendlich auch zu der Frage, ob Diversität
auch dazu führt, sich viel mehr mit komplexen Konflikten auseinandersetzen zu müssen,
während man in der aktuellen Verwaltungswelt eher die Tendenz dazu sieht, einen mög-
lichst konfliktfreien Weg zu gehen?
2 Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2021, S. 6).
3 Charta der Vielfalt e. V. (2017, S. 17).
„Wer nichts macht, macht keine Fehler…“ – wie mutige… 87
einem historischen Urteil seine Verantwortung erkannt und die diesbezügliche politische
Verantwortung ins Licht der Öffentlichkeit gerückt.9 Damit hat es Klarheit geschaffen
und gibt sowohl Politik als auch Verwaltung ein verlässliches Werkzeug an die Hand.
Es wäre wünschenswert, würden Entscheidungen auch zugunsten von mehr Diversität
im Sinne einer Generationengerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit der Verwaltung zügig
getroffen werden.
4.2 Herausforderungen
Zwar ist einer der wichtigen Eckpfeiler der Verwaltung die Kontinuität, was grundsätz-
lich auch richtig und wichtig ist, aber auch Kontinuität muss mit der Zeit gehen und
den Anforderungen des gesellschaftlichen Wandels gerecht werden. Es ist Aufgabe der
Verwaltung, die Menschen, die sie repräsentiert, mitzudenken, ihnen so das Gefühl der
Zugehörigkeit zu geben und Identifikations- und Anknüpfungspunkte zu schaffen. Man
kann hier aber das Gefühl bekommen, dass die deutsche Verwaltung in Stagnation und
im stoischen Einhalten rechtlicher Vorgaben verharrt. Eine intensive und selbstkritische
Auseinandersetzung mit dem eigenen Verständnis von „Integration“ findet damit zu
wenig statt. Die bürokratiegeprägte Organisation hält fest am Prinzip der formalen
Gleichbehandlung und hindert so die Etablierung eines Diversität-Ansatzes, der über den
jedenfalls rechtlich abgesicherten Genderbereich auch alle anderen diversen Gruppen
abbildet.
Die Umsetzung der Auflagen aus dem AGG sowie Antidiskriminierungs- und Diversitäts-
Maßnahmen sind als gesamtgesellschaftliche Chance zu verstehen. Identifikation findet
nur da statt, wo Repräsentanz stattfindet. Die gesetzlichen Verpflichtungen aus dem AGG
und solche, die sinnvollerweise neu zu schaffen wären, sind essenziell für die Umsetzung
und Etablierung von Diversität in der Verwaltung. Die Verwaltung hat dabei eine Vorbild-
funktion inne. Darüber hinaus könnte aus der Verwaltung heraus ein gesellschaftlicher
Wandel angestoßen werden, dessen Wirkkraft von nicht zu unterschätzendem gesamt-
gesellschaftlichem Wert ist. Solange die Umsetzung von Antidiskriminierungsmaßnahmen
auf Freiwilligkeit beruht, gibt es keine hinreichenden Anreize zum Abbau struktureller
Diskriminierung und zur Verwirklichung von mehr Gleichstellung. Gäbe es verbindliche
Regularien zur Umsetzung verschiedenster Maßnahmen, müsste man hiermit umgehen.
In den USA, wo die Datenlage eine umfassendere ist, trugen freiwillige Diversitäts-
Maßnahmen kaum zum tatsächlichen kulturellen Wandel und zur Einsetzung von
Frauen und People of Colour in Führungspositionen bei. Die Diversitäts-Maßnahmen
erwiesen sich als effektiver, wenn sie mit gesetzlichen Vorgaben verknüpft waren, und
am effektivsten, wenn konkrete Verantwortlichkeiten benannt, quantifizierbare Ziele
formuliert und Erfolgscontrolling verpflichtend eingeführt wurden.10
Gleichwohl sind Führungsverantwortliche oft nicht ausreichend sensibilisiert für die
Dringlichkeit des Themas und die Schaffung verbindlicher gesetzlicher Vorgaben. Zwar
gibt es insoweit keine, bzw. keine zugängliche Datenbasis, doch dürften Menschen in
Führungspositionen häufig das Privileg eines nicht- bzw. nicht sichtbaren relevanten
diversen Hintergrunds haben. Häufig fehlt für Themen, die nicht die eigenen sind, das
nötige Einfühlungsvermögen mangels Zugangs hierzu. Geht aber jemand davon aus, dass
etwas kein Problem ist, weil es nicht sein eigenes Problem ist, ist dies schlicht Privileg.
Diese eigenen Privilegien werden allerdings nicht dadurch geschmälert, dass anderen
Zugang gewährt wird. Vielmehr geht mit ihnen eine Verantwortung einher, gerechtere
Strukturen für viele zu schaffen.
Voraussetzung dafür, diese Privilegien zu sehen, ist es, die eigenen Verhaltensmuster
zu reflektieren. Selbstreflexion sollte die Kernkompetenz einer guten Führungskraft sein.
Eigene Erfahrungen bieten viele Anknüpfungspunkte, die Anlass zur Reflexion geben,
die Verständnis für die Erfahrung anderer zulassen und Einblick in deren Lebensreali-
täten geben. Helfen kann hier der sogenannte Anti-Bias-Ansatz, ein in den 1980er Jahren
in den USA entwickeltes pädagogisches Konzept, dessen Ziel es ist eine intensive,
erfahrungsbasierte Auseinandersetzung mit Macht und Diskriminierung zu ermög-
lichen. Der Anti- Bias-Ansatz geht davon aus, dass alle Menschen in einigen Kontexten
privilegiert, in anderen diskriminiert oder mit Vorurteilen konfrontiert werden. Ver-
mutlich erleben wir alle im Laufe unseres Lebens die eine oder andere Form von Dis-
kriminierung. Die jeweiligen Erfahrungen sind zwar nicht direkt vergleichbar, doch sich
damit auseinanderzusetzen hilft, Diskriminierung und damit zusammenhängende Fehler
besser zu verstehen. Selbstreflexion im Sinne einer selbstkritischen Haltung und dem
Zugang zu eigenen, auch unbewussten Vorurteilen, ist der Schlüssel zu vorgelebter Anti-
diskriminierung und zu Diversität. Neben Selbstreflexion und Kritikfähigkeit sind auch
eine grundsätzlich offene Haltung anderen gegenüber sowie die persönliche, intrinsische
Motivation zu Handeln und zu Verändern Voraussetzung für erfolgreiches Führen in Viel-
falt. Wo Selbstreflexion nicht vorgelebt wird, wird sich eine solche schwerlich auf der
Ebene von Mitarbeiter*innen manifestieren. Führungskräfte müssen vorleben, was sie
erwarten. Denn eine offene Fehler- und Entwicklungskultur, die akzeptiert wird, kann
eben nur dann gelingen, wenn sie vorgelebt, gefordert und gefördert wird. Erst, wenn
Beschäftigte Vertrauen haben, dass sie für Fehler nicht abgestraft werden, dass nicht Ja-
Sagen, sondern Mit- und über den Tellerrand-hinausdenken belohnt wird, öffnen sie sich
langsam. Die Herausforderung besteht also darin, gelernte Verhaltensmuster zu hinter-
fragen und zu verändern. Dazu gehört es, die eigene Selbstdarstellung zurückzunehmen
und die eigene Menschlichkeit und Fehlbarkeit zu zeigen. Das erfordert Mut. Aber sollte
das nicht Kernaufgabe im Rahmen einer Führungsaufgabe sein: Verantwortung über-
nehmen und Strukturen gestalten?
6 Fazit
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94 R.-A. Slabik und A. Rittgerodt
Rouven-Alexander Slabik arbeitet als Sales Expert für die T-Systems International GmbH mit
dem Schwerpunkt Digital im Public Sector. Er hat zuvor selbst 2 Jahre lang für die Freie und
Hansestadt Hamburg gearbeitet und war hier aktiv am Aufbau der IT-Dienstleistersteuerung
beteiligt – die Schnittstelle für IT- und Digitalisierungsthemen zwischen der Freien und Hanse-
stadt Hamburg und dem IT-Dienstleister Dataport. Rouven brennt für den Kulturwandel und
die Digitalisierung im öffentlichen Sektor und war während seiner Zeit in der Verwaltung
Teil der Orga Think Tank (OTT) Leads. Der OTT beschäftigt sich mit Themen wie Kultur- und
Generationenwandel, Digitalisierung, Diversität und New Work. Diese Themen nimmt Rouven
gemeinsam mit seiner Kollegin auch im OTT-eigenen Podcast – dem pOTTcast (Spotify) – auf,
öffnet so die Verwaltung auch für Impulse von außen und macht Themen aus der Verwaltung für
die Öffentlichkeit sichtbar.
Alice Rittgerodt hat sich 2019 entschieden, für die Freie und Hansestadt Hamburg zu arbeiten.
Die Verwaltung in Zeiten gravierender Veränderungen und Herausforderungen an entscheidenden
Stellen mitzugestalten ist ihr Antrieb. Aktuell berät sie den Strategischen Einkauf der Stadt
in vergaberechtlichen Fragen zu Nachhaltigkeit und Innovation. Gemeinsam mit vielen Mit-
streiter*innen engagiert sie sich bei Staat-up e. V. für einen Wandel des öffentlichen Sektors hin zu
mehr Effektivität und zeitgemäßem Handeln.
Vom Einwandererkind zur
Verwaltungskarriere: Wie Menschen
mit Migrationshintergrund der Aufstieg
in die öffentliche Verwaltung gelingt
Zusammenfassung
Die öffentliche Verwaltung hat mit der kommenden Pensionierungswelle und dem
schon bestehenden Fachkräftemangel zwei große Herausforderungen zu bewältigen.
Um als Verwaltung auch zukünftig funktionsfähig zu bleiben, muss die bisherige
Praxis der Mitarbeiter*innen-Rekrutierung überdacht und neu ausgerichtet werden.
Die Diversität in unserer Gesellschaft wird bisher unzureichend in der öffentlichen
Verwaltung abgebildet. Die interkulturelle Öffnung der Verwaltung ermöglicht zum
einen, dass Menschen mit Migrationshintergrund ankommen und ihnen Möglich-
keiten zur Weiterentwicklung und beruflichen Teilhabe geboten werden. Damit zum
anderen auf die vielfältigen Bedürfnisse der Bürger*innen eingegangen werden kann,
benötigt es ein vielfältiges Personal, das sich dem widmet und neue Perspektive
miteinbringt. Es ist die gesellschaftliche Verantwortung des Staates, Menschen
mit verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen stärker als bisher in die
öffentliche Verwaltung einzubinden. Die Aufgabe der öffentlichen Verwaltung ist
es, noch stärker abzubilden, was die Gesellschaft ausmacht. Dabei sind zwar die
positiven Entwicklungen der letzten Jahre in der Verwaltung nicht zu unterschätzen.
Die interkulturelle Öffnung muss aber an Fahrt aufnehmen, um im Wettbewerb mit
der freien Wirtschaft um das Personal nicht ins Hintertreffen zu geraten.
B. Önes
SPD-Bürgerschaftsfraktion, Hamburg, Deutschland
S. Badafras ( )
HAW Hamburg, Hamburg, Deutschland
Schlüsselwörter
1 Einleitung
Die öffentliche Verwaltung hat mit der kommenden Pensionierungswelle und dem schon
bestehenden Fachkräftemangel zwei große Herausforderungen zu bewältigen. Um als
Verwaltung auch zukünftig funktionsfähig zu bleiben, muss die bisherige Praxis der Mit-
arbeiter*innen-Rekrutierung überdacht und neu ausgerichtet werden. Die Diversität in
unserer Gesellschaft wird bisher unzureichend in der öffentlichen Verwaltung abgebildet.
Die interkulturelle Öffnung der Verwaltung ermöglicht zum einen, dass Menschen mit
Migrationshintergrund ankommen und ihnen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und
beruflichen Teilhabe geboten werden. Damit zum anderen auf die vielfältigen Bedürfnisse
der Bürger*innen eingegangen werden kann, benötigt es ein vielfältiges Personal, das sich
dem widmet und neue Perspektive miteinbringt. Es ist die gesellschaftliche Verantwortung
des Staates, Menschen mit verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen stärker
als bisher in die öffentliche Verwaltung einzubinden. Die Aufgabe der öffentlichen Ver-
waltung ist es, noch stärker abzubilden, was die Gesellschaft ausmacht. Dabei sind zwar
die positiven Entwicklungen der letzten Jahre in der Verwaltung nicht zu unterschätzen.
Die interkulturelle Öffnung muss aber an Fahrt aufnehmen, um im Wettbewerb mit der
freien Wirtschaft um das Personal nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Die Autor*innen beziehen sich auch auf die eigenen Erfahrungen als Arbeiterkinder
und die Erfahrungen mit den Praktikant*innen. Mit diesem Fachbeitrag möchten die
Autor*innen Impulse geben und für die Dringlichkeit der sozialen sowie kulturellen
Durchmischung in der öffentlichen Verwaltung sensibilisieren.
2 Ausgangssituation
Die öffentliche Verwaltung ist in der Demokratie neben der Legislative und Judikative
eine wichtige Akteurin. Durch das Handeln der Verwaltung und ihrer Beamt*innen sowie
Angestellt*innen wird der Staat für die Bürger*innen erst sicht- und wahrnehmbar. Eine
angemessene Vertretung von Menschen mit Migrationshintergrund in der Verwaltung
stärkt die Identifikation mit dem Staat und die Akzeptanz von Verwaltungshandeln durch
noch größere Teile der Bevölkerung, weil sie sich und ihre Perspektiven dadurch vertreten
fühlen. Menschen mit Migrationshintergrund bringen ihre Erfahrungen und Perspektive
mit, von denen die Verwaltung profitiert. Daneben ermöglicht die interkulturelle Öffnung
der Verwaltung, potenzielle Bewerber*innen und Führungskräfte mit Migrationshinter-
grund zu gewinnen und der anstehenden großen Pensionierungswelle zu begegnen. Dabei
Vom Einwandererkind zur Verwaltungskarriere: … 97
konkurriert die Verwaltung bereits mit der Privatwirtschaft, die vor denselben Heraus-
forderungen steht, um die Nachwuchskräfte. Dieser Wettbewerb wird in den nächsten
Jahren noch weiter zunehmen.
Der öffentliche Dienst ist der größte Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutsch-
land.1 Damit kann der Staat – anders als im privaten Sektor- unmittelbar Einfluss auf die
beruflichen Teilhabe – und Aufstiegschancen von Menschen mit Migrationshintergrund
nehmen. Eine offene und zeitgemäße Verwaltung, die die Bewerber*innen und späteren
Beschäftigten fair und diskriminierungsfrei behandelt, stärkt das Zugehörigkeitsgefühl
der Menschen mit Migrationshintergrund. Diese erfahren bei der Bewerbung um Arbeits-
plätze oft Diskriminierung.2 Mit diesem Fachbeitrag möchten wir die Bedeutung der
interkulturellen Öffnung unterstreichen, die aktuelle Situation in der Verwaltung dar-
stellen und den Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung mögliche Maßnahmen mit
an die Hand geben, die die interkulturelle Öffnung der Verwaltung unterstützen.
Nach Artikel 33 Absatz 2 Grundgesetz hat jeder Deutsche nach seiner Eignung,
Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte. Ver-
fassungsrechtliches Ziel ist es, dass alle deutschen Staatsbürger*innen den gleichen
Zugang zur Verwaltung haben sollten. Personen mit Migrationshintergrund sind in der
Verwaltung unterrepräsentiert. Der Abbau der Hürden für eine Beschäftigung von
Menschen mit Migrationshintergrund sollte nicht nur wegen der verfassungsrecht-
lichen Gebotenheit erfolgen, sondern auch aus eigenem Interesse der politischen Ent-
scheidungsträger*innen sowie der leitenden Beamt*innen und Angestellt*innen in der
Verwaltung. Je gerechter der Zugang zum öffentlichen Dienst, desto besser wird auch die
öffentliche Verwaltung aufgestellt sein, da es mehr Bewerbungen geben wird und somit
der Pool an geeigneten Bewerber*innen größer wird. Die Bestenauslese würde stärker
zur Geltung kommen.
Die öffentliche Verwaltung spielt in Deutschland eine bedeutende Rolle, da sie
den Staat und die Staatsgewalt repräsentiert. Mit rund 5 Mio. Beamt*innen und
Angestellt*innen3 ist die öffentliche Verwaltung die größte Arbeitgeberin in Deutsch-
land und damit eine wesentliche Akteurin auf dem Arbeitsmarkt. Der Staat spielt somit
auch nach der Schullaufbahn eine bedeutende Rolle hinsichtlich der Teilhabechancen
von Personen mit Migrationshintergrund. Obwohl Deutschland ein Einwanderungs-
land ist, gibt es wenige empirische Studien zur Vielfalt in der Verwaltung. So wird der
Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in der öffentlichen Verwaltung durch
die Eigenangaben der Beschäftigten anhand des Mikrozensus ermittelt.4 Deshalb ist
der Diversität und Chancengleichheit Survey (DuCS 2019) umso aufschlussreicher, da
erstmals die Beschäftigten der Behörden und Einrichtungen des öffentlichen Dienstes
befragt wurden. Anders sieht es hingegen in der privaten Wirtschaft aus. So gibt es ver-
schiedene Studien, die zum Ergebnis kommen, dass vielfältige Unternehmen erfolg-
reicher sind.5 Neben dem Aspekt der Optimierung der öffentlichen Verwaltung, spielt
auch der demografische Wandel bei der Erschließung neuer Bewerber*innen-Kreise
für den öffentlichen Dienst eine bedeutende Rolle. Der demografische Wandel stellt
schon heute eine Herausforderung für die öffentliche Verwaltung dar. Sie wird in den
nächsten Jahren zunehmen und die Funktionsfähigkeit des Staates vor eine Belastungs-
probe stellen, falls nicht rechtzeitig und konsequent gegengesteuert wird. Bis 2030 wird
einerseits mehr als jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst in den Ruhestand
gehen.6 Andererseits werden im öffentlichen Dienst im Jahr 2030 aufgrund des Fehlens
qualifizierter Bewerber*innen insgesamt 816.000 Stellen nicht besetzt werden können.7
Die öffentliche Verwaltung wird in Zukunft vermehrt mit der privaten Wirtschaft um
die Fachkräfte in Konkurrenz treten. Daher sind eine vorausschauende Personalplanung
und eine interkulturell gut aufgestellte Verwaltung umso wichtiger. Neben den Fach-
arbeiter*innen und –angestellt*innen aus dem Ausland, werden die heutigen Kinder und
Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine bedeutende Rolle für die freiwerdenden
Arbeitsplätze spielen. In Deutschland haben 39 % der Kinder unter 18 Jahren einen
Migrationshintergrund8, wobei dieser Wert in Städten wie Berlin, Hamburg oder Köln
höher ist. Diese Kinder und Jugendlichen lernen oftmals sehr früh, Verantwortung für
ihre Familie zu übernehmen, indem sie behördliche Briefe übersetzen und ausfüllen
oder ihre Eltern bei Behördenterminen begleiten sowie für sie dolmetschen. Oft ist
der Kontakt der Kinder und Jugendlichen mit den Behörden von Unsicherheit, Über-
forderung und Angst geprägt. Diese frühen negativen Erfahrungen können sich unter-
bewusst auf die Einstellungen der Kinder und Jugendlichen gegenüber der öffentlichen
Verwaltung auswirken. Sie nehmen die Arbeit in der öffentlichen Verwaltung als junge
„mittelbare“ Kund*innen als sehr komplex, distanziert und bürokratisch wahr. Deshalb
ist es wichtig, dass die Beschäftigten in der Verwaltung – vor allem die mit Kund*innen-
Kontakt – interkulturell geschult werden und verständnisvoll auftreten. Außerdem ist
dieser Hintergrund im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit zu berücksichtigen.
8 Petschel (2021).
Vom Einwandererkind zur Verwaltungskarriere: … 99
5.1.1 Öffentlichkeitsarbeit
Um Menschen mit Migrationshintergrund für die Verwaltung zu gewinnen, können
Behörden auf verschiedene Formen der Öffentlichkeitsarbeit setzen.
Ein positives Beispiel ist die Kampagne der Freien und Hansestadt Hamburg.
Hamburg konnte mit der Kampagne „Wir sind Hamburg! Bist du dabei?“ den Ein-
stellungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund von 5,2 % (2006) auf 21,4 %
(2021) signifikant erhöhen. Dies gelang mit einer zielgerichteten Öffentlichkeitsarbeit
an den S- und U-Bahnen, in den Kund*innenbereichen der Ämter und Behörden, an
Schulen und an Messen.15 Auf den Plakaten waren Beamt*innen und Angestellt*innen
mit Migrationshintergrund zu sehen. Dies kann die Zielgruppe motivieren, sich mit einer
Bewerbung auseinanderzusetzen.
In der öffentlichen Verwaltung gibt es generell einen positiven Trend, was die Anzahl
Beschäftigten mit Migrationshintergrund angeht. Diese Beschäftigten sind Vorbilder
für andere Menschen mit Migrationshintergrund. Gerade Jugendliche, die aus nicht-
akademischen Verhältnissen kommen, können durch diese Vorbilder motiviert werden,
den Weg in die Verwaltung einzuschlagen. Die Tätigkeit in der Verwaltung wird dadurch
für sie greifbar und sie erfahren auf diesem Weg, dass die Verwaltung die Bewerbung
von Menschen mit Migrationshintergrund begrüßt, wodurch sie zusätzlich motiviert
werden. Oft fehlt auch das Wissen darüber, wie vielfältig die Tätigkeiten in der Ver-
waltung sind oder welche Vorteile eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst mit sich
bringt. Der öffentliche Dienst kann im Vergleich zur freien Wirtschaft zum Beispiel mit
dem Beamtenverhältnis bzw. einer sicheren Tätigkeit im Angestellt*innenverhältnis, der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der späteren Pensionierung punkten.
Zu denken wäre ergänzend an Werbung auf Social Media, um Jugendliche zu
erreichen oder an Werbung in den migrantischen Zeitungen, um die Eltern der Ziel-
gruppe zu erreichen. Auch Werbeveranstaltungen in Schulen, Migrantenselbst-
organisationen, Sportvereinen und den jeweiligen religiösen Einrichtungen (Kirchen,
jüdische Gemeinden, Moscheegemeinden, Cem-Häuser, Sikh-Tempel etc.) können ein
effektives Mittel sein, um für eine Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung zu werben.
Informationen zum Bewerbungsprozess, zu den Formalien, Fristen und einzureichenden
Dokumenten sowie Kontaktstellen bei Fragen haben sich in der Praxis der Autor*innen
als hilfreich erwiesen.
Wie viele Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten in der eigenen Behörde? Auf
welchen Laufbahnen? Wie viele Bewerbungen gab es von Menschen mit Migrations-
hintergrund? Welche Tendenz ist zu erkennen?
Anschließend sollten sich die jeweiligen Behörden Ziele setzen. Wie viele Menschen
mit Migrationshintergrund sollen eingestellt werden? Die Behörden orientieren sich
dabei an der Bevölkerung der für sie relevanten Gebietskörperschaft. Damit die Ziele
überprüft werden können, sollte jährlich eine Bestandsaufnahme erfolgen. Dies kann
durch eine jährlich stattfindende, freiwillige und anonyme Beschäftigtenbefragung nach
dem Migrationshintergrund der Mitarbeiter*innen erfolgen. Dafür wären in den einzel-
nen Dienststellen die Diversitybeauftragt*innen zuständig, die jährlich einen Bericht
zum Status quo veröffentlichen.
16 Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration & Bundesinstitut für
18 Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration & Bundesinstitut für
5.2 Diversity-Beauftragte*r
Die interkulturelle Öffnung der Verwaltung ist eine Daueraufgabe. In jeder Dienststelle
sollte deshalb ein*e Diversitybeauftragte*r verpflichtend eingeführt werden. Dadurch
gibt es Beschäftigte in der Verwaltung, die den umfassenden und wichtigen Bereich des
Diversity Managements verantwortlich begleiten und fördern. Sie informieren sich über
neue Entwicklungen in dem Bereich und befinden sich im Austausch mit den Diversity-
beauftragt*innen anderer Dienststellen und Behörden.
Die Diversitybeauftragt*innen entwickeln das Diversity Management weiter und
haben im Blick, inwiefern die Ziele und die gesetzten Meilensteile erfüllt wurden und
wo es Handlungsbedarf gibt.
Die Beschäftigten können sich bei Fragen zum Thema Vielfalt und Diskriminierung
an den/die Diversitybeauftragte*n wenden und ersten Rat einholen. Außerdem werden
sie bei Stellenausschreibungen beteiligt, verschaffen sich einen Überblick über die Mit-
arbeiter*innenstruktur und nehmen an Auswahlgesprächen für die Besetzung von Stellen
teil.
Damit diese wichtige Aufgabe auch konsequent und nachhaltig verfolgt werden kann,
ist es wichtig, dass es sich mindestens um eine Teilzeitstelle handelt.
Literatur
Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration & Bundesinstitut für
Bevölkerungsforschung (2020): Kulturelle Diversität und Chancengleichheit in der Bundesver-
waltung. Berlin
Beauftragte der Bundesregierung Migration, Flüchtlinge und Migration (2021): Erster Bericht zum
indikatorengestützten Integrationsmonitoring. Berlin
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2020). https://www.demografie-portal.de/DE/Fakten/
oeffentlicher-dienst-altersstruktur.html. Letzter Zugriff: 07.04.2023
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2022): Vielfalt und Teilhabe in der öffentlichen Ver-
waltung, Policy Brief März 2022. Wiesbaden
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2022a). Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung nimmt
langsam zu. https://www.bib.bund.de/DE/Presse/Mitteilungen/2022b/pdf/2022-03-30-Vielfalt-
in-der-oeffentlichen-Verwaltung-nimmt-langsam-zu.pdf;jsessionid=151D28E837D502C38621
057A787D8624.intranet672?__blob=publicationFile&v=2. Letzter Zugriff: 31.03.2023
Ette, A. & Weinmann, M. (2022): Diversität in der öffentlichen Verwaltung in Deutschland.
Erklärungsfaktoren der Repräsentation von Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund
in Bundesbehörden. In: dms – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und
Management, Ausgabe 15(2-2022), S. 495 521.
Freie und Hansestadt Hamburg (2022): Personalbericht 2022. Hamburg
Innenministerkonferenz (2021): 6. Bericht zum Integrationsmonitoring der Länder 2017–2020.
Berlin
Koopmans, R., Veit, S., Yemane, R. (2018): Ethnische Hierarchien in der Bewerberauswahl: Ein
Feldexperiment zu den Ursachen von Arbeitsmarktdiskriminierung. Discussion Paper SP VI
2018-104. Berlin
McKinsey (2020): Diversity wins How inclusion matters. https://www.mckinsey.com/~/media/
mckinsey/featured%20insights/diversity%20and%20inclusion/diversity%20wins%20how%20
inclusion%20matters/diversity-wins-how-inclusion-matters-vf.pdf. Letzter Zugriff 07.04.2023
Nowicka, M., Will, A. (2021): Repräsentativität in der öffentlichen Verwaltung. Bonn
Petschel, Anja (2021). Datenreport 2021 – Kinder mit Migrationshintergrund. https://www.bpb.de/
kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/bevoelkerung-und-demografie/329526/kinder-
mit-migrationshintergrund/. Letzter Zugriff: 07.04.2023
104 B. Önes und S. Badafras
Baris Önes ist am 09.05.1985 als Kind einer Gastarbeiterfamilie in Hamburg geboren und im
wirtschaftlich benachteiligten Stadtteil Billstedt aufgewachsen. Der Autor hat als Erster in der
Familie das Abitur gemacht und anschließend Jura in Hamburg und Madrid studiert. Im Rahmen
des Referendariats war der Autor u. a. in der Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation
der Freien und Hansestadt Hamburg und der Senatskanzlei beschäftigt. Nach dem Ablegen des
2. Staatsexamens hat er als Referent für das strategische Vergabemanagement beim staatlichen
Unternehmen Dataport AöR angefangen. Önes ist bei der Bürgerschaftswahl 2020 für die SPD
in die Hamburgische Bürgerschaft gewählt worden. Nach dem Einzug in das Hamburger Landes-
parlament hat er ein Praktikant*innenprogramm ins Leben gerufen, um Arbeiterkinder auf ihrem
Werdegang zu unterstützen und sie zu motivieren.
Sarina Badafras ist am 23.05.2002 als Kind einer iranisch-stämmigen Familie in Hamburg
geboren und ebenfalls in Billstedt aufgewachsen. Sie hat als Erste in ihrer Familie das Abitur
gemacht und nebenbei für ein Mitglied des Deutschen Bundestages gearbeitet. Aktuell studiert
sie Public Management dual an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und
arbeitet für Baris Önes (Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft).
Teil III Diversity als Führungsverantwortung
etablieren
Peter Janze
Zusammenfassung
Diversität ist kein Selbstläufer und lässt sich auch nicht einfach verordnen. Es
gibt kein Rezept, dass man einfach anwenden kann, um zu mehr Vielfalt in einer
Organisation zu kommen. Diversität entsteht dann, wenn der organisatorische
Rahmen Vielfalt zulässt. Damit ist auch klar: Ohne die Unterstützung der Führungs-
ebene funktioniert es nicht. In diesem Fachbeitrag wird beleuchtet, wie sich
Führungsprinzipien wandeln müssen, welchen wichtigen Einfluss bereits beim
Recruiting genommen werden muss oder warum netzwerkartige Organisationen viel
einfacher zu einer Vertrauenskultur und zu mehr Diversität führen.
Schlüsselwörter
Wir leben in einer sich ständig verändernden, von Vielfalt geprägten Arbeitswelt. Neue
Technologien, neue Herausforderungen, neue Arten der Zusammenarbeit. Das gilt
auch für Verwaltungsorganisationen: Die schnell voranschreitende technologische Ent-
wicklung, aber auch die sich verändernden Erwartungen der Bürger*innen sorgt für
P. Janze ( )
digital@M GmbH, München, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 107
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_8
108 P. Janze
Vielfalt und Diversität – aber auch Leadership, Führung und Kultur – lassen sich nicht
verordnen. Sie sind Ergebnis der gültigen Rahmenbedingungen, in denen sich eine
Organisation bewegt. Möchte man Diversität unterstützen und vorantreiben so sind
Maßnahmen umzusetzen, die die Rahmenbedingungen entsprechend verändern. Diese
Maßnahmen dürfen jedoch nicht als Lösungsrezept verstanden werden, im Sinne von
„Wenn man diese umsetzt, dann ist die Kultur entsprechend etabliert. Haken dran an
unser Diversitätsproblem.“ Jede Organisation reagiert anders auf Veränderungen. Daher
sollten Maßnahmen immer in das Umfeld passen; eine Analogie zu einem „Werkzeug-
kasten“, aus dem man sich passend bedient, ist besser geeignet.
Die Rahmenbedingungen für eine Diversität-fördernde Kultur in einer Organisation
zu verankern ist ein fortlaufender Prozess, der kein klares Ende hat. Diversität braucht
fortlaufende Reflexion (1.3 Reflexionsfragen) innerhalb der Organisation.
Der Aspekt der Unternehmens- bzw. Organisationskultur sowie der Art der Führung,
ist für Diversity nicht zu unterschätzen. In einer toxischen Umgebung (z. B. negative,
Kultur & Leadership – Welchen Einfluss organisatorische … 109
aggressive oder diskriminierende Atmosphäre) wird sich Vielfalt nicht entfalten können.
Es zählt daher klar zur Führungsaufgabe, sich mit den Rahmenbedingungen auseinander-
zusetzen, den Status quo zu hinterfragen und sich damit zu beschäftigen, wie man schäd-
liche Muster erkennt und verändert.
Der Begriff Leadership hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Dahinter
verbirgt sich ein neues Verständnis von Führung und Management. Das „alther-
gebrachte Denken“, wie Führung funktioniert, ist nicht mehr ausreichend und wird
daher um neue Konzepte ergänzt oder gar abgelöst. Mit Blick auf Diversity – auf die
vielen verschiedenen Sichtweisen und Menschen – die wir brauchen, um mit den
Herausforderungen umzugehen, braucht es Leader, die mit Blick auf ein gemeinsames
Ziel inspirieren und motivieren. Klassische Führung bezieht sich hingegen in der Regel
darauf, Menschen anzuleiten, Aufgaben zu koordinieren, Entscheidungen oder KPIs
zu überwachen und zu managen, sodass spezifische, meist intern vorgegebene, Ziele
erreicht werden.
Während der Führungsbegriff meist mit klassischen Pyramiden-Strukturen und
einer ausgeprägten Hierarchie verbunden wird, welche durch Machtzuspruch und
Informationsvorsprung der oberen Ebenen manifestiert ist, geht es bei Leadership
vor allem darum, das eigene Handeln zu hinterfragen und die Wirkung zu reflektieren.
Leader empowern ihr Team, übergeben Verantwortung und ermutigen zur Selbst-
organisation. Damit einher gehen sehr flache oder matrixartig gestaltete Organisations-
formen, die dann wie ein Informationsnetzwerk funktionieren. Damit auch größere
Organisationen erfolgreich sind, sind aktiver Austausch mit und zwischen den Teams
notwendig. Transparenz und Offenheit fördern die Nachvollziehbarkeit von Ent-
scheidungen – besonders wichtig ist dies, wenn es um unangenehme Dinge geht. Das
Teilen von Wissen ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor in netzwerkartigen Organisationen.
In seinem Buch „Wir führen anders!“ (vgl. Poppenborg 2021) beschreibt Mark
Poppenborg, wie es mehr Freiheit, mehr Sinn, mehr Wirksamkeit in der Arbeit geben
kann – statt Management-Mainstream und sinnbefreites Vor-sich-hin-Arbeiten. Er nennt
das „echtes Future Leadership“ und sagt, dass sich immer mehr Menschen nach dieser
neuen Arbeitswelt sehnen.
Jedes Unternehmen sollte sich stets an externen Referenzen wie dem Lösen echter
Kund*innenprobleme orientieren und sich dabei so aufstellen, dass die Marktdynamik
berücksichtigt wird. Die folgenden sieben Prinzipien orientieren sich an Future-Leader-
ship-Prinzipien von Intrinsify (o. D.):
1. Lasst den Markt ins Unternehmen: Die Wertschöpfung wird immer für
Außenstehende geschaffen, ob Wertschöpfung stattgefunden hat, entscheidet der
Markt durch Annahme oder Ablehnung des Angebots.
110 P. Janze
2. Baut Teams: Teams erfordern einerseits das Zusammenspiel von mehreren Funktions-
bereichen als auch die funktionale Trennung in Bereiche oder Abteilungen. Abhängig
von der Sinnhaftigkeit und der Effizienz.
3. Nomadisiert Führung: Führung baut auf Vertrauen auf. Menschen folgen Menschen,
die ein Gespür für die Problemlösung haben.
4. Leistet als Team: Leistung in einem komplexen System entsteht emergent. Das
Ergebnis ist die Summe von Einzelbeiträgen und ein Zusammenspiel von mehreren
Personen.
5. Lasst euch selber denken: Regeln sind unter hoher Dynamik ungeeignet und helfen
nicht dabei Entscheidungen zu treffen. Regeln oder Prozesse sind nur hilfreich, wenn
sie nicht trivial sind, also Entscheidungen zwischen mehreren sinnvollen Alternativen
erleichtern und nicht nur auf das Offensichtliche hinweisen.
6. Demokratisiert euer Wissen: Transparenz ermöglicht Handlungsfähigkeit und soziale
Dichte. Schulungen und Dialog ermöglichen Mitarbeitenden, Berichte richtig zu lesen
und zu nutzen. Es braucht dafür einen uneingeschränkten Zugang zu Wissen.
7. Haltet euch fit: In einer sich schnell verändernden Umgebung bietet ein Plan Vor-
bereitung auf nur eine mögliche Zukunft, obwohl es zahlreiche gibt. Gleichzeitig
sorgen sie als „Puffer“ für Überraschungen, um bei neuen Marktentwicklungen
gewappnet zu sein.
2.3 Reflexionsfragen
Verschiedene Reflexionsfragen können helfen, den Status quo bzw. die Rahmen-
bedingungen in der Organisation zu hinterfragen. Hilfreich ist hier nicht nur „Wie-
Fragen“ zu stellen, sondern auch nach einem „Wie nicht“. Die „Wie nicht-Fragen“
helfen, neue Ideen zu finden, die zum Problem passen und für deren Lösung es auf
Kreativität ankommt. Sie motivieren zudem zur Vereinfachung eines bestehenden,
komplexen Regelwerks.
Die digital@M GmbH wurde 2019 auf der „grünen Wiese“ gegründet und ist als GmbH
nicht Teil der klassischen Verwaltungsorganisation. In knapp vier Jahren haben sich fast
70 Menschen gefunden, die die Verwaltung beratend begleiten wollen.
In der Dimension Gender wurde eine Frauenquote von über 60 % erreicht. Neben
Maßnahmen wie gendergerechte und klischeefreie Bildsprache, wurden unter anderem
auch genderneutrale Toiletten eingeführt. Das Maßnahmenbündel ist in Summe sehr
umfangreich, ausgefeilt und genau aufeinander abgestimmt.
Darüber hinaus gibt es zwei weitere zentrale Erfolgsfaktoren, die die Vielfalt im Team
besonders positiv beeinflussen: Inklusives Recruiting und eine moderne Organisation.
Für beide bedarf es Unterstützung durch die Unternehmensführung.
ausschreibung sollte sich nun nicht mehr den aus der Organisationssicht optimalen
Eigenschaften widmen (z. B. „Volljurist“), sondern in der Ausschreibung selbst das zu
lösende Problem beschreiben und Anforderungen offen lassen – je seniorer die gesuchte
Kandiat*in ist, umso mehr sollte es auf Erfahrung und „Track-Record“ ankommen.
Nehmen wir als Beispiel eine Herausforderung im Umfeld der Digitalisierung: Ist es
wirklich notwendig, ein abgeschlossenes Hochschulstudium zum Fachbereich erreicht zu
haben, oder sollten nicht Motivation und bisherige Erfolge sowie deren Lösungsfindung
im Fokus stehen? Gerade länger zurückliegende Ausbildungen haben mit den tatsäch-
lichen und aktuellen Herausforderungen in der Regel nicht viel gemeinsam. Sobald es
um aktuelle, komplexe Fragestellungen geht, gerät der fachliche Erfahrungsschatz sogar
immer weiter in den Hintergrund.
Bei der Wahl der passenden Organisation kommt es darauf an, welche Probleme gelöst
werden sollen. So gibt es Bereiche, die sich klassisch tayloristisch gestalten lassen, da
es auf vorhandenes Wissen ankommt. Dieser Bereich lässt sich arbeitsteilig organisieren
und automatisieren – nicht selten sogar digitalisieren.
Die Bereiche der Organisation, die im Kontakt mit den Kund*innen stehen, die
besonders Wertschöpfung im Fokus haben und wo es auf Geschick und Kreativi-
tät ankommt, sind als selbstorganisierendes Netzwerk angelegt. In diesem Bereich
liegt die Verantwortung beim Team. Führung findet dabei immer automatisch statt: Im
Kultur & Leadership – Welchen Einfluss organisatorische … 113
GF
Datenschutz C o m pl i a n c e
Gleichstellung Security
HR IT FI …
Abb. 1 Communities als Lösungsansatz, Beispiel der digital@M GmbH. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)
114 P. Janze
in einem dynamischen Markt die genau falsche Entscheidung sein – und darüber hinaus
auch noch zu spät getroffen werden.
Somit ist klar: Führungskräfte bleiben, aber die Aufgaben wandeln sich. Aus
Führungskräften werden Leader. Es kommt nicht mehr darauf an, fachlich Vorgaben zu
machen oder über Zielvorgaben und KPIs die Mitarbeitenden zu steuern, sondern den
strategischen Rahmen zu stecken und den Menschen zu helfen, sich optimal weiterzu-
entwickeln. Eine wesentliche Aufgabe ist auch, für Transparenz zu sorgen, sodass jede*r
optimale Entscheidungen im Sinne der Organisation, des Teams und der Kund*innen
treffen kann. Führung verändert sich: Statt tiefe Fachlichkeit bekommen Menschen-
kenntnis und Fingerspitzengefühl mehr Gewicht. Empowerment, Hilfe, Orientierung
könnten ebenfalls passende Schlagworte für Skills sein, auf die es ankommt.
Mit der Aufforderung „Jetzt sind wir dann mal innovativ“ wird eine Organisation weder
innovativ noch entstehen so neue Gedanken und Ideen. Ebenso ist es mit der Unter-
nehmenskultur – und auch der Vielfalt im Team. Durch eine blanke Aufforderung zur
Transformation (im Sinne von „Jetzt haben wir eine Vertrauenskultur“ oder „Wir machen
jetzt New Work“) entsteht kein Wandel.
Ebenso lässt sich Diversität nicht verordnen. Es reicht auch nicht, einfach einem
Maßnahmen-Rezept zu folgen. Damit bleibt die Frage, wie man dennoch die Weichen so
stellt, dass sich Vielfalt entwickeln kann.
Die erste Intuition ist typischerweise das Aufsetzen eines Change-Projekts. Change ist
jedoch kein Projekt. Veränderungen sind in einer Organisation immer im Gange, auch
ungefragt. Informelle Strukturen entwickeln sich automatisch entlang der Wertschöpfung
und der „Spielregeln“, die in einer Organisation gelten – und sie können auch im Wider-
spruch zu vorgegebenen Prozessen stehen. Eine Organisation bzw. ein Team versucht
sich immer trotz definierter Prozesse so auszurichten, dass echte Arbeit geleistet wird.
Change & Kulturveränderung als Projekt ist somit die Ansage, dass man sich jetzt
anders verhalten soll, als dass es in der Organisation eigentlich normal ist. Je größer die
Diskrepanz zur gelebten Realität desto eher scheitern Change-Projekte auch.
Der zentrale Schlüssel liegt also nicht im Aufsetzen eines Change-Projektes,
sondern im Beobachten der Organisation sowie der Rahmenbedingungen und dem
anschließenden Hinterfragen definierter Prozesse.
Vielfalt lebt von gegenseitigem Vertrauen: Menschen mit anderen Hintergründen und
Erfahrungen müssen sich ebenso vorurteilsfrei einbringen können, wenn es zu einem
echten Mehr an Vielfalt kommen soll.
Orientiert sich die Organisation an externen Referenzen, so passieren viele
unerwartete Dinge: Es wird weniger relevant, den internen Apparat zu bespielen oder
konkurrierende KPIs im Blick zu haben. Menschen helfen sich uneigennützig selbst und
arbeiten zusammen, weil auf einmal Sanktionen und Angst als bremsende Komponenten
entfallen. Eine echte Vertrauenskultur entsteht.
Dennoch bleibt die Frage: Wie kann ich denn einen komplexen und großen Apparat
steuern? Klassisches „Information-Hiding“ führt hier nicht mehr zum Erfolg. Karrieren
werden nicht durch Informationsvorsprung gemacht. Die Organisation ist nur dann
118 P. Janze
Vielfalt entsteht, wenn sich Menschen unabhängig von Titel, Hierarchie oder Stellenbe-
schreibung einbringen können.
Es sollte möglich sein, dass Menschen flexibel neue Aufgaben übernehmen können,
ohne dass Stellenbesetzungsverfahren und Gehaltsmodelle im Weg stehen oder ein
langwieriger Besetzungsprozess durchgeführt werden muss. Dies bietet eine Menge
Chancen: Wer Interesse an persönlicher Weiterentwicklung hat, Verantwortung über-
nehmen möchte, oder für ein Projekt die besten Fähigkeiten einbringen kann, kann dies
tun und an seinen Aufgaben wachsen.
Nicht alles an klassischen Bereichen ist natürlich schlecht: Dort, wo Arbeit wie am
Fließband organisiert werden muss, wo es nicht auf Agilität oder Dynamik ankommt,
dort sollte und muss sie natürlich auch klassisch organisiert werden.
Referenzen Zielkonflikte aus, verstellen den Blick auf den Markt und behindern Wert-
schöpfung.
Individuelle Leistungsanreize können den Einzelnen davon abhalten, im Sinne des
Problems zu handeln, das das Team gemeinsam löst oder lösen soll.
5 Fazit
Diversität ist ein zentraler Erfolgsfaktor in sich wandelnden Zeiten, die an vielen Stellen
Umdenken, Mut und Geschwindigkeit erfordern. Der Grad an Diversität ist dabei das
Ergebnis der Rahmenbedingungen, unter denen eine Organisation arbeitet.
Der Einfluss bzw. die Aufgabe der Führungsebene ist damit klar: Soll mehr Diversi-
tät erreicht werden, so müssen die Rahmenbedingungen entsprechend verändert werden.
Das bedeutet Arbeit am System, der Organisation und auch sich selbst, denn auch
Führung unterliegt dem Wandel und muss sich entsprechend weiterentwickeln.
Mehr Diversität zuzulassen bedeutet, die eigene Diversität und das eigene Bewusst-
sein dafür zu zeigen (sofern sie da ist), am Anfang des Personallebenszyklus zu beginnen
und Recruiting neu zu denken. Empowerment, Transparenz, Informationsweitergabe und
Übertragung von echter Verantwortung sind wesentliche Aufgaben.
Nicht die Menschen müssen sich ändern – denn deren Verhaltensweisen sind Ergeb-
nis der organisatorischen Rahmenbedingungen. Welche zentralen Learnings sind für eine
Entstehung einer vertrauensvollen, inklusiven Organisationskultur wichtig, die Diversität
zulässt? Zusammengefasst kann man sagen:
Literatur
Poppenborg, Mark (2021): Wir führen anders! 24½ befreiende Impulse für Manager | Moderne
Führung für wirksame Organisationsentwicklung und mehr Mitarbeitermotivation (Future
Leadership), 1. Aufl., intrinsifyVerlag.
Intrinsify (o. D.): Instagram Profil von intrinsify. https://www.instagram.com/intrinsify/. Abruf-
datum: 8. Jan. 2023.
Peter Janze war Geschäftsführer der digital@M GmbH, der 2019 gegründeten 100 %-Tochter-
gesellschaft der Landeshauptstadt München. Mit seinem Team hat er sich zum Ziel gesetzt, die
120 P. Janze
Digitalisierung der Stadt in seinen vielfältigen Facetten maßgeblich zu begleiten und voranzu-
bringen. In der Modernisierung der Verwaltung sieht er die Chance neue Technologien so ein-
zusetzen, dass die Bedürfnisse der Bürger*innen in den Mittelpunkt gestellt werden. In seiner
vorherigen Position war Peter Janze als CIO & CDO tätig, wo er die Digitalisierung und Trans-
formation von Geschäftsmodellen unterstützte. Mit dem Projekt „Digital Workplace“ wurde er im
Jahr 2018 in die Top 5 beim „CIO des Jahres“ gewählt.
Eine Frage der Haltung: Modelle zur
Diversity-orientierten Führung und
deren Anwendung in der Verwaltung
Ines Hansen
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
I. Hansen ( )
KGSt, Köln, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 121
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_9
122 I. Hansen
„Die Zukunft der Führung bedeutet mehr denn je, Vielfalt zu führen.“ (Eberhardt
und Streuli 2016, S. 23) Diese Aussage lenkt das Augenmerk in besonderer Weise
darauf, dass Führungskräfte eine wichtige Rolle für das Diversity Management in
Organisationen einnehmen. Von ihnen wird im Besonderen erwartet, Strategien, Leit-
linien oder Diversity & Inclusion-Konzepte umzusetzen und als Vorbilder neuer, diversi-
tätsorientierter Denk- und Handlungsweisen zu agieren.
In der Praxis stellt dieser Anspruch die Führungskräfte regelmäßig vor eine große
Herausforderung. „Herausfordernd ist die Aufgabe, weil Führungspersonen im Sinne der
Organisation handeln müssen und zudem eigene Prägungen, Präferenzen und Interessen
haben, die wiederum den Interessen der Mitarbeitenden u. U. entgegenstehen.“
(Eberhardt und Streuli 2016, S. 15). Führung beeinflusst, ob der Fokus dabei eher auf
einer trennenden oder einer verbindenden Perspektive liegt. Eine diversitätssensible
Führungskultur zeichnet aus, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, unter denen
sich Unterschiedlichkeit entfalten und gleichzeitig etwas Gemeinsames im Sinne der
Ziele der Organisation geschaffen werden kann.
Eine solche Kultur entsteht nicht über Nacht, sondern ist ein längerer, vielleicht sogar
dauerhafter gemeinsamer Entwicklungs- und Lernprozess. Widmen sich Führungs-
kräfte dieser Herausforderung, dann bewegen sie sich wenigstens zu Beginn häufig
in einem Spannungsfeld zwischen glaubwürdiger Überzeugung und Vermittlung,
erwarteter Political Correctness und vermutetem „Diversity Washing“, also einem „nur
so tun als ob“. Diese Gradwanderung sollte jedoch keine Führungskraft und keine
Organisation davon abhalten, sich auf den Weg zu begeben und Diversity Schritt für
Schritt zum selbstverständlichen Teil der Kultur werden zu lassen. „Vielfalt führen
bedeutet, Menschen auf vielfältige Art und Weise miteinander zu verbinden, damit der
gemeinsame Denk- und Handlungsspielraum größer wird.“ (Eberhardt und Streuli 2016,
S. 23).
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, was Führungskräfte darin unterstützt,
den Kulturwandel hin zu einer diversitätssensiblen Führung gestalten zu können und ein
diversitätsorientiertes Denken und Handeln in einer Organisation zu verankern.
Dazu wird sowohl die Führungs „persönlichkeit“ als auch die Organisation als soziales
System und Kontext für das Handeln einer Führungskraft in den Blick genommen.
Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet das Modell der sechs Haltungen von
Martin Permantier. Es beschreibt sechs beobachtbare Ausprägungen oder Dimensionen
von Denkmustern und Verhaltensweisen eines Menschen (vgl. Permantier 2019).
Eine Frage der Haltung: Modelle zur Diversity-orientierten … 123
Nähern wir uns dem Modell zunächst über ein praktisches Beispiel:
Einmal angenommen, eine Führungskraft berichtet ihrem Team, dass die Organisation
jetzt ein Diversity Management einführt und dazu eine*n Diversity Manager*in einstellt.
Während das eine Teammitglied die Arme verschränkt, die Stirn runzelt und „Das haben
die da oben sich ja wieder toll ausgedacht! Ich brauche sowas nicht und von denen lasse
ich mir gar nichts sagen!“ murmelt, rutscht ein anderes Teammitglied unruhig auf dem
Stuhl hin und her und meint: „Sowas haben wir doch noch nie gebraucht. Bisher waren
wir alle gleich und diese Einigkeit hat uns stark gemacht.“ Ein drittes Teammitglied gibt
zu bedenken, dass sich dieser Aufwand aber auch lohnen muss und es gut ist, dass ein*e
Expert*in für das Thema eingestellt wird. Ein viertes Teammitglied setzt sich aufrechter
hin und freut sich: „Na endlich! Dann kann auch ich mehr „Ich“ sein und meine Stärken
zeigen.“, wohingegen ein fünftes Teammitglied darauf hinweist, dass schon jetzt bereits
alle im Team individuell unterschiedlich sind und es gut ist, wenn das jetzt auch auf der
Arbeit mehr berücksichtigt wird. Ein sechstes Teammitglied nickt bedächtig und denkt
bereits darüber nach, wie es gelingen kann, Vielfalt zu schätzen und gleichzeitig ein
neues „wir Alle“ zu gestalten.
Sechs verschiedene Reaktionen von sechs verschiedenen Teammitgliedern, die
aus sechs verschiedenen Haltungen resultieren und sich in sechs verschiedenen Über-
zeugungen äußern.
Das Modell der sechs Haltungen basiert auf Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie
und stellt sechs Betrachtungsweisen oder auch „Reifegrade“ dar, wie wir uns und unsere
Umwelt wahrnehmen, erleben und darauf reagieren. In jeder Haltung werden beobacht-
bare Phänomene gebündelt und beschrieben:
führen kann. Die Denkweise ist sachlich und faktenorientiert, Emotionen werden als
irrational angesehen. Die eigene Rolle wird im Machen und Funktionieren gesehen.
Der Wunsch nach Selbstverwirklichung zeichnet die eigenbestimmt-souveräne
Haltung aus. Sie ist geprägt von dem Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein. Wir
nehmen uns als Gestaltende unseres eigenen Lebens wahr und gestehen auch anderen
zu, ihren eigenen Weg zu gehen. Die Kehrseite ist eine gewisse „ungeduldige Selbst-
optimierung“. Zahlreiche Ratgeberliteratur zahlt auf diese Haltung ein und bietet
Tipps und Tricks für mehr Erfolg.
Dass nicht immer alles reibungslos läuft und wir uns selbst Fehler verzeihen dürfen,
erkennen wir in der relativierend-individualistischen Haltung. Wir urteilen weniger
und nehmen unser Innenleben bewusster wahr. Wir sehen uns im Kontext zu anderen
und können mehr Miteinander und Nähe zulassen. Unsere Empathiefähigkeit nimmt
zu und wir erkennen verschiedene Lebensmodelle an.
Die systemisch-autonome Haltung bildet die späteste Haltung im Modell. Kenn-
zeichnend ist eine Art „Selbstüberwindung“ in dem Sinne, dass wir die Subjektivi-
tät unserer Gedanken und Gefühle differenziert wahrnehmen. Wir erkennen, dass jede
Haltung meint, im Recht zu sein. Das ermöglicht es uns, anders mit Konflikten umzu-
gehen und unser Verhalten bewusster zu modulieren. Wir denken mehr in Beziehungs-
systemen und akzeptieren die Eigenständigkeit anderer. Die vorhergehenden
Haltungen begreifen wir als notwendige Entwicklungsschritte, die sich nicht ersetzen,
sondern ergänzen.
Haltungen formen sich aus Erlebnissen und Erfahrungen, aus Prägungen und aus
Erziehungs- und Sozialisationsprozessen, und hinter jeder Haltung stehen bestimmte
Wünsche und Bedürfnisse. Bei dem zweiten Teammitglied kommt zum Beispiel das
Bestreben nach Beständigkeit und Konformität zum Ausdruck, dem fünften Teammitglied
hingegen geht es um Offenheit und Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Im Modell der sechs
Haltungen wird angenommen, dass jede Sichtweise bzw. Haltung in ihrem Denkraum eine
positive Absicht verfolgt. Damit geht es nicht um eine Bewertung im Sinne von richtig
oder falsch, keine Haltung ist besser oder schlechter. Die Frage ist eher, welche Denk-
und Verhaltensweisen in bestimmten Situationen nützlicher oder hinderlicher sind. Und
natürlich kann -je nach Kontext- eine positive Absicht trotzdem unerwünschte Neben-
wirkungen haben. Nicht von Ungefähr hält sich das bekannte Sprichwort „Gut gemeint ist
noch lange nicht gut gemacht“. Unsere Haltung bestimmt, was wir wahrnehmen (können),
worauf wir unseren Fokus richten und, daraus abgeleitet, welches Handlungsspektrum uns
zur Verfügung steht. Das erste Teammitglied zum Beispiel hat den Fokus sehr bei sich
und äußert sich ablehnend und stur. Plakativ formuliert sagt es: „Ich will das nicht!“ und
wird nur entsprechend (eingeschränkt) handeln können. Dem steht bilateral das sechste
Teammitglied gegenüber, das sich der Vielheit in sich selbst und in der Welt bewusst ist
und den Fokus auf Verbundenheit legt und in Beziehungssystemen denkt. Diesem Team-
mitglied stehen daher deutlich mehr Handlungsoptionen zur Verfügung als dem ersten
Teammitglied. Die Abb. 1 fasst ausgewählte Merkmale der sechs Haltungen zusammen.
Eine Frage der Haltung: Modelle zur Diversity-orientierten … 125
HALTUNG
Gemeinschafts- Relativierend-
Selbstorientiert- Rationalistisch- Eigenbestimmt- Systemisch-
bestimmt- Individua-
Impulsiv Funktional Souverän Autonom
Konformistisch listisch
„Alle Menschen besitzen das Potenzial, alle Haltungen einzunehmen. Nur hat nicht
jeder Mensch die späteren Haltungen schon in dem Ausmaß erlernen können, dass sie
Teil ihrer Persönlichkeit geworden sind. Die Haltungen werden nacheinander gelernt
und bauen aufeinander auf.“ (Permantier 2019, S. 53) Neue Haltungen verdrängen nicht
die bereits entwickelten Haltungen, sie integrieren sie. Verfolgt eine Organisation also
das Ziel einer diversitätssensiblen Kultur, dann ist es wichtig, für Mitarbeitende und
Führungskräfte Entwicklungsräume zu schaffen, die es ihnen ermöglichen, die Denk-
und Handlungsweisen der relativierend-individualistischen Haltung zu erleben. Diese
Haltung eröffnet den besonderen Zugang zu diversitätsorientierten Themen.
126 I. Hansen
• Schwächen • Zuhören
• Erwartungen in zugeben • Anerkennung und
Bezug auf Dank zeigen
Scheitern,
Unsicherheit und Proaktives
wechselseitiger Nachforschen Das Scheitern vom
Abhängigkeit
praktizieren Stigma befreien
formulieren, um die
Notwendigkeit des
Äußerns der
eigenen Stimme zu • Gute Fragen stellen • Nach vorn schauen
betonen • Vorbild für • Hilfe anbieten
intensives Zuhören • Diskutieren,
sein überlegen und mit
Brainstorming
Die nächste Schritte
Sinnausrichtung finden
betonen Strukturen und
Prozesse
einführen
Klare Verstöße mit
• Aufzeigen, was auf
Sanktionen
dem Spiel steht, belegen
warum und für wen • Foren für Input
es wichtig ist schaffen
• Richtlinien für
Diskussionen
erarbeiten
Abb. 2 „Der Methodenkoffer der Führenden für die Schaffung psychologischer Sicherheit“. (Ent-
nommen aus Edmondson 2020, S. 138)
Amy Edmondson in ihrem Buch „Die angstfreie Organisation“ (s. Abb. 2). Wenn
ich selbst bestimmte Erfahrungen noch nicht gemacht habe, kann ich auch von den
Erfahrungen anderer lernen oder mich selbst in geschützte Räume begeben, in denen ich
Erfahrungen „vor“erleben oder Denk- und Verhaltensweisen ausprobieren kann.
Wie aber können wir sichtbar machen und reflektieren, welche Haltung wir selbst oder
andere in einer bestimmten Situation einnehmen? Wie erkennen wir, welche Denkmuster
ein bestimmtes Verhalten prägen?
128 I. Hansen
Bereits im Modell der sechs Haltungen wird die Annahme deutlich, dass Menschen
sich ihre eigene Wirklichkeit „schaffen“ – Philosophie und Psychologie sprechen von
„konstruieren“ (vgl. Willemse und von Ameln 2018, S. 9 f.). Wir nehmen nicht eine
objektive Wirklichkeit wahr, sondern entwickeln eine subjektive Realität. Zur einfacheren
Beschreibung wird häufig das Bild einer „Brille“ gewählt: Was als „wirklich“ erlebt wird,
hängt davon ab, durch welche „Brille“ (oder Haltung) auf die Welt geschaut wird. Die
Brille steht im übertragenen Sinn für mentale Modelle wie Glaubenssätze, Vorannahmen
oder innere Überzeugungen. Wenn eine Person von der Annahme ausgeht, dass „alle
Menschen schlecht sind“, dann wird diese Person alle Ereignisse und Situationen vor dem
Hintergrund dieser Denkweise erleben und bewerten. Wenn Menschen beispielsweise die
Brille „Es gibt zwei Geschlechter: Männer und Frauen.“ aufsetzen, dann entsteht eine
subjektive Wirklichkeit, in der andere Geschlechtsidentitäten ausgeblendet werden. Dieser
„blinde Fleck“ kann erst aus einer späteren Haltung heraus erkannt und reflektiert werden.
Wird dieser konstruktivistische und entwicklungspsychologische Ansatz mit
den Erkenntnissen der Soziologischen Systemtheorie ergänzt und erweitert, dann
wird Kommunikation zu einem wesentlichen Thema. „Kommunikation ist in den
systemischen Ansätzen ein zentraler Begriff.“ (Willemse und von Ameln 2018, S. 33). Der
deutsche Soziologe Niklas Luhmann hat die Theorie formuliert, „dass [Organisationen
als] soziale Systeme aus Kommunikation bestehen“ (Willemse und von Ameln 2018,
S. 29) bzw. die Summe ihrer Kommunikation sind. „Kommunikation [im systemischen
Sinne] ist nicht nur die Übertragung von Informationen vom Sender zum Empfänger,
Kommunikation ist vielmehr zu verstehen als die wechselweise Gestaltung und Formung
einer gemeinsamen Welt durch gemeinsames Handeln: Wir bringen unsere Welt in
gemeinsamen Akten des Redens hervor“ (Franken 2019, S. 140). Davon ausgehend
kann angenommen werden, dass alle Strategiepapiere, Führungsleitlinien oder Diversity
& Inclusion-Konzepte erst in der Kommunikation und Interaktion der Menschen in der
Organisation untereinander und mit Anderen mit Leben gefüllt werden. Der Einfluss
der Art und Weise, wie Führungskräfte über Veränderungen (zum Beispiel hin zu einer
diversitätsbewussten Kultur) sprechen, darf dabei nicht unterschätzt werden. Sie können
mit ihrem Kommunikationsstil zum Erfolg beitragen oder alles „kaputt reden“.
Kommunikation drückt sich unter anderem über Sprache aus, (gesprochene wie ver-
schriftlichte) Sprache ist ein wichtiges Medium der Kommunikation. Eine Antwort
auf die Frage, wie wir Haltungen erkennen können, kann demzufolge eine Analyse der
Sprachmuster in einer Organisation, in einem Team oder bei einzelnen Personen sein.
Jede Haltung hat ihre eigene Ausdrucksweise (vgl. Permantier 2019, S. 117) mit spezi-
fisch-typischen Wörtern und Begriffen.
Anders ausgedrückt: Der Sprachraum drückt die Haltung aus – die Haltung
konstruiert den Sprachraum. So ist zum Beispiel die rationalistisch-funktionale Haltung
Eine Frage der Haltung: Modelle zur Diversity-orientierten … 129
durch eine sehr sachorientierte, emotionslose Sprache mit vielen Fachwörtern geprägt,
wohingegen die relativierend-individualistische Haltung eine eher inkludierende Sprache
nutzt: „Sie bereichert unseren Wortschatz um viele neue Wörter. Wörter für Dinge, die
vorher ignoriert oder als nicht wichtig erachtet wurden. Begriffe, die mit dieser Haltung
in Verbindung stehen, sind Nachhaltigkeit, Gleichstellungsbeauftragter, Intersexuali-
tät, Willkommenskultur, Flexitarier, Body Positivity, Familienarbeitszeit, Life-Work-
Balance, New Work, Zeitsouveränität usw.“ (vgl. Permantier 2019, S. 117).
Vor diesem Hintergrund erlangt auch das bekannte Sprichwort „Achte auf deine
Sprache, denn sie erschafft eine Wirklichkeit“ eine besondere Bedeutung. Unsere inneren
Bilder und Überzeugungen finden ihren Ausdruck in typischen Sprachmustern.
Für ein ganzheitliches Verständnis der Zusammenhänge sind in der Abb. 3 die sechs
Haltungen mit verschiedenen Führungs- und Kommunikationsstilen in Beziehung
zueinander gesetzt, ergänzt um Strategien des Diversity Managements und um bei-
spielhafte typische Sätze jeder Haltung im Kontext von Diversity. Die Übersicht wurde
aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und soll auch dazu dienen, die vor-
herrschenden Führungs- und Kommunikationsstile in einer Organisation zu identi-
fizieren. Davon ausgehend kann in der Organisation eine Diskussion angestoßen werden,
wie eine „nächste Stufe“ im Sinne einer erweiterten Haltung erreicht werden kann.
Im Arbeitsalltag könnte nun der Reflex entstehen, alle Kolleginnen und Kollegen „in
Reinkultur“ der einen oder anderen Haltung „zuzuordnen“. Doch dieser Ansatz würde
der Realität nicht gerecht, da die Haltungen, wie bereits beschrieben, rollenbezogen und
kontextabhängig variieren können. „Alles steckt in jedem, und ein konkreter Mensch
wird sich einer Vielzahl der beschriebenen Muster bedienen – je nach Situation und
innerer Verfassung.“ (Schulz von Thun 1989, S. 293).
6 Entwicklungsinstrument: Satzergänzungsmethode/
Reflexionssätze
Angelehnt an diesen Test können im Kontext von Diversity beispielhaft folgende Satz-
anfänge ergänzt werden und als Reflexionssätze dienen:
(helfend)
(angelehnt an (bedürftig- (differenziert
Schulz von abhängig) (Mitteilungs- und präzise) (authentisch)
Thun, 1989, freudig-
Kap. III dramatisch)
und
Permantier,
2019)
Prägender Simple Dualistische Sachliche, Viele Ich- Inkludieren-de Differen-zierte,
Sprachstil Sprache, oft Sprache, oft unpersön-liche Formulierunge Sprache, individuelle
martialisch appellhaft Sprache, oft n reicher und bildreiche
wertend Wortschatz Ausdrucks-
weise
Typische Sätze „Ich bin „Es gibt doch „Ich halte mich „Dann kann ich „Das „Jede*r trägt
im Kontext von umgeben von schon ein an die Zahlen: zeigen, wer ich Fundament der alles in sich.“
Diversity Idioten.“ AGG.“ Man sollte bin.“ Vielfalt ist
erstmal Einzigartig-
Quoten keit.“ „Ich bin Viele.“
„Jeder ist „Frauen festlegen.“
„Hier kann
sich selbst gehören zum jede*r etwas
der Nächste.“ schwachen werden.“ „Liebe deinen „Das Ganze ist
Geschlecht.“ Nächsten wie mehr als die
dich selbst.“ Summe seiner
Teile.“
Dabei gibt es keine „richtigen“ oder „falschen“ Antworten. Ziel der Reflexionssätze ist
vielmehr, sich eigener Denkmuster gewahr zu werden und sie zu hinterfragen.
Jede Führungskraft oder jedes Team kann auch das Experiment wagen, Antworten
bewusst aus verschiedenen Haltungen heraus zu formulieren: „Einer denkt nur an
sich, einer bezieht sich auf die Vergangenheit, Ordnung und Disziplin, einer hat nur
die Zahlen im Blick, einer schaut, ob auch alle gefördert werden und genügend Raum
für Eigenbestimmung ist, einer legt den Fokus auf die längerfristige Perspektive
und die Werte, die man leben will, und der Sechste hat die Rolle, alle Interessen zu
integrieren und gleichzeitig auf die Sinnhaftigkeit des gemeinsamen Wirkens zu achten.“
(Permantier 2019, S. 216).
Unabhängig von Satzanfängen funktioniert die Methode der Reflexionssätze auch
mit spezifische Kernaussagen und Vorannahmen von Haltungen. Dazu wird ein Ober-
thema gewählt (z. B. Diversity, Homeoffice, Führung in Teilzeit, etc.) und dann werden
typische Aussagen zu diesem Thema in der Organisation gesammelt (z. B. „Führung
geht nur in Vollzeit.“). Diese Aussagen werden dann den sechs Haltungen zugeordnet.
Erfahrungsgemäß lassen sich zu den ersten vier Haltungen relativ schnell und relativ
viele Sätze finden, wohingegen Aussagen zu den letzten beiden Stufen vergleichsweise
seltener vorkommen.
Manchmal mag eine Antwort auf die Satzanfänge/Reflexionssätze eindeutig einer
Haltung zugeordnet werden können, manchmal wird es aber auch verschiedene Inter-
pretationsmöglichkeiten geben. Auch hierbei kommt es nicht auf ein „richtig“ oder
„falsch“ an. In der Tendenz gibt es aber die Beobachtung, dass „je früher die Haltung
ist, desto eher wiederholen sich Formulierungen. Teilweise sind diese wortgleich und
stereotyp, während Antworten aus späteren Haltungen elaborierter und facettenreicher
werden.“ (Permantier 2019, S. 178).
Häufig kommen Vorannahmen in einer Organisation über typische Sprichwörter
oder Redewendungen zum Ausdruck, da sie Rückschlüsse auf unbewusste Glaubens-
sätze zulassen. Wenn also in einer Organisation Sprüche wie „Lehrjahre sind keine
Herrenjahre“ oder „Einigkeit macht stark“ kursieren, dann wird dadurch indirekt eine
gemeinschaftsbestimmt-konformistische Haltung zum Ausdruck gebracht, die bestimmte
Verhaltensweisen befördern wird, zum Beispiel, es Auszubildenden immer etwas
schwerer zu machen als nötig. Dahinter können dann Annahmen stehen, dass
Weitere sehr bekannte Redewendungen im Arbeitskontext sind zum Beispiel „Die sollen
arbeiten, nicht quatschen“ (selbstorientiert-impulsiv), „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist
besser“ (rationalistisch-funktional) oder „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ (eigen-
bestimmt-souverän).
Spannend kann darüber hinaus die Frage sein, welche Kommunikation (noch) nicht
stattfindet bzw. was noch in der Tabu-Zone der Organisation liegt. Welche Wörter oder
welche Sprachstile werden (noch) nicht genutzt? Welche Fragen werden (noch) nicht
gestellt? Und wie schafft es eine Führungskraft, Vielfalt zum Thema zu machen, wenn
es bisher kein Thema oder ein Tabu-Thema war? Sprache schafft die Möglichkeit,
Erfahrungen zu teilen und Perspektiven zu vergleichen. Was wir (noch) nicht auf den
Begriff bringen können, können wir auch (noch) nicht begreiflich machen – und wir
können es (noch) nicht in der Organisation aufgreifen. Wenn der „Raum der Besprech-
barkeiten“ größer wird, dann können sich Menschen entwickeln und Systeme verändern.
S. 42). So kann eine urteilsfreie Basis des Umgangs miteinander geschaffen werden, ein
wesentliches Merkmal einer diversity-orientierten Führungskultur: „weg vom Kampf
und hin zum Miteinander – weg von der Stärke, die andere schwach machen muss, und
hin zur Stärke für alle – weg vom Entweder-Oder und hin zur Berücksichtigung aller
Bedürfnisse – weg von der Konkurrenz und hin zu Kooperation. Kurz gesagt: weg von
der Trennung und hin zur Verbindung.“ (Rosenberg 2016, S. 13 f.).
8 Haltung entscheidet
Wohl wissend, dass jedes Modell auf Vereinfachungen der Realität basiert, ist es gleich-
wohl dazu geeignet, unterschiedliche Sichtweisen besser zu verstehen und Führungs-
kräften eine Orientierung zu geben, wo sie selbst und wo das Team steht und in
welche Richtung eine erwünschte Entwicklung gehen kann. Schließlich braucht ein
gezieltes Diversity Management eine Sensibilität für die Themen Haltung, Sprache und
Kommunikation.
Die vorgestellten Modelle der sechs Haltungen, des systemischen Denkens, der
psychologischen Sicherheit sowie der bewussten Sprache ermöglichen neue Perspektiven
und Einsichten und laden dazu ein, die eigenen Denk- und Verhaltensweisen zu
reflektieren. „Man sieht sich, wie erwähnt, stets den ganzen Menschen gegenüber, deren
Einstellungen, Werte und individuelle Bedürfnisse auch in der Arbeit von Bedeutung
sind.“ (Klaus und Schneider 2016, S. 204) Die Modelle gehen von einem differenzierten
Menschenbild aus, das Fach- und Führungskräfte nicht rein als Funktionsträger*innen
betrachtet, sondern als individuelle Persönlichkeiten. Gehen wir mit dieser Haltung in
den Kontakt mit Anderen, dann wird Unterschiedlichkeit besprechbar und dann ist Viel-
heit die Realität.
Literatur
Eberhardt, Daniela; Streuli, Elisa: Zukunft der Führung bedeutet Vielfalt führen. In: Eberhardt,
Daniela (Hrsg.): Führung von Vielfalt. Praxisbeispiele für den Umgang mit Diversity in
Organisationen (Springer 2016)
Edmondson, Amy: Die angstfreie Organisation. Wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz
für mehr Entwicklung, Lernen und Innovation schaffen (Vahlen 2020)
Franken, Swetlana: Verhaltensorientierte Führung. Handeln, Lernen und Diversity in Unternehmen
(SpringerGabler 2019)
Klaus, Hans; Schneider, Hans J.: Mitarbeiterführung im Wandel – Vorbereitung auf „Führung 4.0“.
In: Personalperspektiven. Human Resource Management und Führung im ständigen Wandel
(Springer Gabler 2016)
Permantier, Martin: Haltung entscheidet. Führung & Unternehmenskultur zukunftsfähig gestalten
(Vahlen 2019)
Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. (Junfermann
2016)
134 I. Hansen
Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden: 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung
(Rowohlt 1989)
Willemse, Joop; von Ameln, Falko: Theorie und Praxis des systemischen Ansatzes. Die System-
theorie Watzlawicks und Luhmanns verständlich erklärt (Springer 2018)
Hans W. Jablonski
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
H. W. Jablonski ( )
Experte, Berater & Coach, Köln, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 135
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_10
136 H. W. Jablonski
1 Einleitung
Ein Grundpfeiler unserer pluralen demokratischen Gesellschaft ist die Prämisse, dass
alle gesellschaftlichen Bereiche auch politisch adäquat repräsentiert werden und so an
den Entwicklungen unseres Landes partizipieren. Öffentliche Verwaltungen erfüllen in
diesem Zusammenhang die Funktion eines gesellschaftlichen Spiegels. Im Idealfall
Die Kompetenz von Führungskräften im Umgang mit Vielfalt – … 137
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die genannten Megatrends sowie die einher-
gehenden Veränderungen im Arbeitsalltag eine Anpassung und Weiterentwicklung von
Arbeits- und Führungsprozessen und -strukturen erzwingen. Verwaltungen und Unter-
nehmen benötigen dafür vielfältigere, stärker gemischte Teams, die anders als bisher
gewohnt zusammenarbeiten. In diesen Teams versammeln sich unterschiedliche religiöse
Werte, Ansichten, Präferenzen, Gewohnheiten, Persönlichkeiten und Talente. Die neuen
Kooperationsformen sowie die damit verbundenen Veränderungen im Umgang mit-
einander stellen Teams und deren Führungskräfte vor neue Herausforderungen. Sie
müssen oft erst lernen und verinnerlichen, Ungleichheit als Vielfalt wertzuschätzen und
sie kreativ für die Zusammenarbeit im Team sowie für den Service an der Klientel zu
nutzen. Insbesondere für Führungskräfte besteht die Herausforderung darin, Menschen
zu motivieren, beflügeln und zu stärken, die anders sind als sie selbst oder anders als die
Menschen, die sie bislang geführt haben.
Als Antwort auf diese Herausforderungen sieht Diversity Management die Ausbildung
und die Stärkung relevanter Kompetenzen und Fähigkeiten vor. Sie betreffen zum einen
die Haltung einer Führungskraft gegenüber personeller Vielfalt sowie ein sensibilisiertes
Bewusstsein für die eigene, unbewusste Voreingenommenheit. Vorgesehen ist außerdem
Diversity-Strategie, Ziele,
Organisation Kommunikation, Prozesse,
Strukturen
Team
Führung, Vorbilder
und wertschätzende
Zusammenarbeit
Ebene. Im Zentrum stehen hier die persönliche Haltung der Führungskräfte gegen-
über Diversity sowie der wertschätzende Umgang mit personeller Vielfalt. Wo fehlende
Überzeugung durch die bloße Adaption einer als gewünscht empfundenen Haltung
kompensiert wird, kann Diversity Management keine Wirkung entfalten. Im schlimmsten
Fall führt das zu Frustration und Resignation bei Führungskräften, die ihre eigene
Autorität und Überzeugungskraft durch „Lippenbekenntnisse“ beschädigen. Genauso
können aber auch fehlende Selbstreflexion oder mangelnde Sensibilität für die eigene
Voreingenommenheit zu einem Glaubwürdigkeitsverlust führen. Wenn sich zum Bei-
spiel eine Führungskraft für einen wertschätzenden Umgang mit Vielfalt stark macht
und gleichzeitig beim Recruiting konsequent Personen ihresgleichen bevorzugt, leidet
darunter die Kredibilität − auch, wenn die Führungskraft in bester Absicht handelt. Im
beruflichen Kontext sind solche und ähnliche gelagerte Fälle von Inkonsequenz oft nicht
auf eine bewusste Diskriminierung zurückzuführen. Vielmehr ist hier ein Phänomen die
Ursache, das zwar allgegenwärtig, aber dennoch nur schwer zu fassen ist: Unbewusste
Voreingenommenheit2.
Jeder Mensch trägt ein Bündel vorauseilender Annahmen mit sich, die sich auf Fähig-
keiten und Charakterzüge unterschiedlicher Gruppen beziehen und auf Personen aus
diesen Gruppen übertragen werden. Das geschieht unter dem Einfluss zahlreicher, häufig
physikalischer Faktoren wie etwa der Physiognomie, der Haarfülle oder der Hautfarbe.
Im beruflichen Kontext führt das immer wieder zu Problemen: Wertvolle Kompetenzen
und Erfahrungen werden übersehen, weil sie neben vermeintlich prägnanten Merkmalen
einer Person in den Hintergrund rücken und der routinierten, schablonenhaften Wahr-
nehmung schlichtweg entgehen. Dadurch verlieren Verwaltungen Kompetenzen, die zur
Erfüllung der gestellten Anforderungen sowie der Steigerung von Kreativität, Innovation
und Produktivität beitragen könnten.
Die Ursachen für unbewusste Voreingenommenheit liegen in der Funktionsweise des
menschlichen Gehirns. Damit Wahrgenommenes dort möglichst schnell und ressourcen-
schonend verarbeitet werden kann, greift der Denkapparat möglichst auf Muster
zurück, die er bereits aus ähnlichen Situationen kennt. Dabei handelt es sich nicht um
ein „psychologisches“ Phänomen, sondern vielmehr um einen stark verschalteten bio-
logischen Mechanismus. Damit das Gehirn die Wahrnehmung eines komplexen Umfelds
effizient verarbeiten kann, bildet es also Muster bzw. nutzt die aus dem Alltagssprach-
2 Der internationale Fachbegriff für Unbewusste Voreingenommenheit ist Unconscious Bias oder
auch Implicit Bias.
Die Kompetenz von Führungskräften im Umgang mit Vielfalt – … 141
lichen bekannten „Schubladen“. Diese werden schon von Kind an angelegt und ihre
Nutzung trainiert.
Im Hinblick auf den Umgang mit personeller Vielfalt ist erhellend, dass das Gehirn
vor allem „Schubladen“ für einzelne demografische Dimensionen anlegt: Schon früh
lernen Kinder, welche Zuschreibungen Menschen aus unterschiedlichen Altersgruppen
gemacht werden und was ein typisches Verhalten von Menschen aus unterschiedlichen
Generationen ist. Damit werden schon früh die Grundlagen geschaffen für Stereotype,
die zu Aussagen verleiten wie „Die Person ist zu jung für eine Führungsposition“ oder
„Personen über 50 Jahre sind für Projekte zur Digitalisierung nicht mehr geeignet“.
Vor allem die Kombination von mehreren Dimensionen (Intersektionalität) lenkt von
objektiven Einschätzungen ab und verschärft die Situation für die Betroffenen. Nicht
nur wegen des Alters wird einer Person eine Fähigkeit abgesprochen; der Eindruck ver-
stärkt sich, wenn die Person eine junge Frau oder ein junger Mann mit Migrationshinter-
grund ist. Das illustriert die Aussage einer Kita-Leiterin: „Wenn neue Eltern in die Kita
kommen, sprechen sie meine blonde, ältere Kollegin als Kita-Leiterin an. Ich sehe ein
erstauntes Gesicht, wenn ich mich dann als jüngere Frau mit türkischen Wurzeln als
Kita-Leiterin vorstelle.“ Ein solches Missverständnis ist ohne Weiteres auch im Umfeld
einer Verwaltung vorstellbar. Hier wie dort kann unbewusste Voreingenommenheit die
Autorität von Führungskräften schwächen oder untergraben.
3 Zur weiteren Erläuterung der Dimensionen von Vielfalt siehe Kap. 1 dieses Buchs.
142 H. W. Jablonski
hat die Charta der Vielfalt4, die Initiative von Unternehmen und Verwaltungen zur
Förderung von Vielfalt in Unternehmen und Institutionen, als Schwerpunkte ihres
Engagements identifiziert. Zahlreiche Verwaltungen haben diese Dimensionen als
Grundlage für ihre Arbeit übernommen, wobei die Dimension „Geschlecht“ bei Arbeit-
gebenden im öffentlichen Sektor durch Gleichstellungsregelungen und -arbeit bereits seit
Jahren bearbeitet wird. Die Kern-Dimensionen bilden auch die Grundlage der Diversity-
Weiterbildungen zu wertschätzender Führung.
In diesem Zusammenhang spielt das Thema der unbewussten Voreingenommen-
heit eine zentrale Rolle. Entsprechende Schulungen verfolgen jedoch nicht die Aus-
schaltung stereotyper Wahrnehmungsmuster, da diese − wie bereits erwähnt − nicht auf
beeinflussbare psychologische, sondern auf biologische und damit schwer umkehrbare
Mechanismen zurückgehen. Stattdessen zielen sie auf eine Schärfung der Wahrnehmung
ab und sensibilisieren Teilnehmende für ihre eigene unbewusste Voreingenommenheit.
Das Wissen um die persönlichen Stereotype soll deren verzerrende Wirkung berechen-
bar machen und so letztendlich eliminieren, damit (Personal-)Entscheidungen objektiven
Kriterien folgen.
Bei der Verbesserung von Entscheidungsgrundlagen geht es nicht nur darum, die Ver-
zerrung aufgrund negativer Stereotype zu beheben. Denn eine objektive Bewertung von
Leistungen wird ebenso durch positive Stereotype erschwert. Das Privileg ist somit die
positive Kehrseite zur Benachteiligung. Wie negativ wirkende Stereotype, so wird auch
die Vorstellung bestimmter Privilegien schon früh verinnerlicht. Dazu ein einfaches Bei-
spiel: Die Analyse der Geschlechterrollen im Kinderfernsehen hat gezeigt, dass Männer
dort qualitativ wie auch quantitativ dominieren. Die Rollen sind dort so verteilt, dass
erklärende Tätigkeiten – zum Beispiel die Moderation und die Vermittlung von Expertise
– in 60 % der Fälle von männlichen Protagonisten übernommen werden. Ebenso sind sie
in der deutlichen Mehrzahl männlich besetzt. Expertinnen und Heldinnen sind seltener
zu finden.
Privilegien können sich nicht nur im Zuge der Sozialisierung, sondern ebenso in
einem bestehenden beruflichen Umfeld reproduzieren. Ein wiederkehrendes Beispiel
sind manifestierte Macht- und Organisationsstrukturen von Unternehmen. So haben in
vielen Fällen zum Beispiel Personen, die einen bestimmten beruflichen Werdegang und
damit verbundene Erfahrungen teilen, mitunter einen leichteren Zutritt zum inner circle
der Führungsebene. Dementsprechend kann auch eine berufliche Biografie und die damit
einhergehende Verbundenheit zu Vorläufern oder Alumni ein Privileg sein.
Frauen, die in Führungspositionen in der Minderheit sind, haben mit dem Phänomen
zu kämpfen, das sich in unbewusster Ausgrenzung oder einer – wie auch immer
gearteten – besonderen Behandlung manifestiert. Dieser Effekt ist bei allen Minder-
heiten bis zu einer Repräsentation von ca. 25–30 % festzustellen (Vieweg 2018, o.S.).
Bei einer höheren Repräsentation lässt der Effekt nach. In manchen Verwaltungen und
Unternehmen ist der Minderheiten-Effekt bekannt. Sie initiieren Programme, die Frauen
unterstützen, sich im männlich dominierten Umfeld zu bestehen und leistungsfähig zu
bleiben – ohne vom Minderheiteneffekt doppelt belastet zu werden.
Die besondere Herausforderung für Frauen in Führungspositionen ergibt sich daher
aus einem Privileg ihrer männlichen Kollegen. Allein deren quantitative Dominanz
bestätigt – unabhängig von einzelnen Gegenbeispielen – das Vorurteil, dass Männer
besser geeignet seien, Führungsaufgaben zu übernehmen. Die ungleiche Geschlechter-
Verteilung bleibt so der unhinterfragte Normalfall und die Frau im Vorstandsvorsitz die
Ausnahme. Während eine Frau also erst noch beweisen muss, dass ihr als Ausnahme
von der unausgesprochenen Regel ein Karriereschritt gelingen kann, erscheint dieser bei
ihren männlichen Kollegen nur folgerichtig und nicht weiter bemerkenswert.
Diese zusätzliche Herausforderung, für den nächsten Karriereschritt nicht nur ent-
sprechende Leistung zeigen, sondern auch gegen eine allgemeine Erwartung ankämpfen
zu müssen, bleibt Männern in der Regel erspart. Das ist ein nicht zu unterschätzendes
Privileg, das vielen Männern meist nicht bewusst ist. Wie die Praxis zeigt, wird darüber
hinaus sogar moniert, wenn ein Privileg nicht zum Tragen kommt. So wird Frauen, die
eine Führungsposition erklimmen, nicht selten nachgesagt, den Job allein aufgrund
einer Quotenreglung erhalten zu haben. Bei der Beförderung von einem Mann ist der
Kommentar „der hat das nur bekommen, weil er ein Mann ist“ hingegen nicht zu hören.
Eine der größten Herausforderungen für Führungskräfte beim Umgang mit unbewusster
Voreingenommenheit ist das eigene Eingeständnis deren Existenz und Wirkung. Zwar
gehen Teilnehmende von Schulungen wie selbstverständlich davon aus, dass andere
Menschen unter dem Einfluss unbewusster Voreingenommenheit handeln. Für das eigene
Handeln wird das jedoch erfahrungsgemäß ausgeschlossen. Wenn Führungskräfte im
Laufe einer Schulung auf die Fährte der eigenen Stereotype und unbewussten Vorein-
genommenheit gebracht werden, bedeutet das für diese oft eine ernüchternde oder pein-
liche Erkenntnis. Die Reaktionen sind unterschiedlich und reichen von Überraschung bis
hin zu verärgertem Abstreiten. Solange eingeübte Stereotype sich im Alltag bewähren
und helfen, das Wahrgenommene schnell und effizient zu verarbeiten, befinden sich
Menschen in ihrer „mentalen Komfortzone“ und empfinden Genugtuung für ihr „gutes
Bauchgefühl“. Werden sie jedoch damit konfrontiert, dass eine Entscheidung von
unbewussten Stereotypen beeinflusst ist, verlassen wir diese Komfortzone, fühlen sie
144 H. W. Jablonski
sich in der Regel bloßgestellt und empfinden das als den berühmten Tritt ins Fettnäpf-
chen.
Statistische Erhebungen und Experimente zeigen, wie stark der Einfluss unbewusster
Stereotype auf Führungs-Entscheidungen in der Arbeitswelt ist. Wie unbewusste Vor-
eingenommenheit zu einer ungleichen Bewertung von Leistungen führt, zeigt ein weit
bekanntes Experiment, bei dem Bewerbungsunterlagen mit identischen Lebensläufen
aber unterschiedlichen Namen an Unternehmen und Verwaltungen versendet wurden
(Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2011). Auch in Deutschland waren die Ergeb-
nisse eindeutig: Auf den Lebenslauf mit einem tradiertem deutsch-klingenden Namen
wie Peter Müller folgen deutlich mehr Einladungen zu einem Vorstellungsgespräch als
auf den Lebenslauf mit dem Namen Hassan Büyüktürk. Da die Lebensläufe identisch
waren, sollten nach einer objektiven Entscheidung beide Personen gleich oft ein-
geladen werden. Die Entscheidung der Führungskräfte über die Leistungsfähigkeit und
das Potenzial von Personen wurde maßgeblich durch unbewusste Voreingenommen-
heit verzerrt. Darunter leiden nicht nur die betroffenen Bewerber*innen. Auch für die
rekrutierenden Verwaltungen entsteht ein Schaden, da sie nicht die am besten geeigneten
Fachkräfte auswählen und entwickeln, sondern jene, deren Namen dem Recruiting am
ehesten zusagten. Eine bittere Erkenntnis, denn der Anspruch auf Leistungsorientierung
lässt sich so nicht glaubhaft aufrechthalten.
Weil unbewusste Voreingenommenheit ein natürliches Phänomen und entsprechend
weit verbreitet ist, lässt sie sich nicht nur im Recruiting-Kontext nachweisen. Sie beein-
flusst ebenso Personal- und Personalentwicklungsprozesse von Unternehmen und Ver-
waltungen und lässt sich nicht nur im Hinblick auf Geschlechtsunterschiede, sondern
ebenso im Zusammenhang mit anderen „Inneren Dimensionen“ wie beispielsweise der
Ethnie, dem Alter oder der sexuellen Orientierung nachweisen. Gleichzeitig kann sich
unbewusste Voreingenommenheit auf die Zusammenarbeit von Teams auswirken und
Führung und Arbeitsprozesse erschweren.
Der professionelle Umgang mit unbewusster Voreingenommenheit beginnt bei den
eigenen Stereotypen. Das bedeutet, Führungskräfte müssen sich die eigene unbewusste
Voreingenommenheit bewusst machen und sich für die Wirkung der verinnerlichten
Stereotype sensibilisieren. Das erfordert nicht nur ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit.
Ebenso wichtig ist der Willen, sich offen damit auseinanderzusetzen, und die Bereit-
schaft, sich selbst und die eigenen (unbewussten) Überzeugungen infrage zu stellen.
Dabei können bereits die folgenden Ratschläge helfen:
Gehen Sie davon aus, dass auch Sie von unbewusster Voreingenommenheit betroffen
sind.
Hinterfragen Sie Ihre Annahmen und Überzeugungen gegenüber anderen Menschen.
Machen Sie Ihre Urteile und Entscheidungen an objektiven Kriterien fest
Schaffen Sie für sich selbst Gelegenheiten für Begegnung und Kontakt mit Menschen,
die Ihnen als „fremd“ erscheinen.
Fordern Sie Feedback ein und signalisieren Sie Offenheit dafür.
Die Kompetenz von Führungskräften im Umgang mit Vielfalt – … 145
Sprache ist ein starkes Führungsinstrument und dokumentiert Stereotype nicht nur,
sie aktiviert sie auch. Die Wortwahl wirkt wie ein Signal für die Nutzung bestimmter
„Schubladen“. Neben eindeutigen Wörtern, die in unverhohlener Absicht geäußert
werden, um andere Menschen zum Beispiel zu beleidigen oder zu diskriminieren, gibt
es zahlreiche Beispiele, die in gut gemeinter Absicht gewählt werden, aber dennoch auf
eine subtile, unterschwellige Weise zu Abwertung oder Geringschätzung von Personen
führen. Dazu ein kleines Gedankenexperiment:
Nehmen wir an, in einer Verwaltung dreht sich ein Gespräch um die „Mädels in
der Meldehalle“. Unabhängig davon, in welchem Zusammenhang von dieser Gruppe
gesprochen wird, stellt sich die Frage, was die Formulierung gedanklich auslöst: Welche
„Schubladen“ öffnen die Signalworte? Drängt sich dadurch der Gedanke auf, dass die
Frauen, die in der Meldehalle arbeiten, ein großes Potenzial für die Verwaltung dar-
stellen? Oder schwingt darin neben Sympathie und Wohlwollen letztlich auch eine
Verniedlichung und Abwertung der Gruppe mit? Selbst wenn die Frauen, die in der
Meldehalle arbeiten, sich selbst so benennen, ändert die Formulierung nichts daran, dass
sich bestimmte „Schublade“ im Kopf öffnen.
Bei der Wahl der passenden Sprache geht es also nicht in erster Linie um
„correctness“, sondern um einen bewussten Umgang mit Worten im Hinblick darauf,
was im Gehirn ausgelöst wird. Oft sind Begriffe, Zuschreibungen oder einfach Attribute
bezüglich der individuellen Diversity Dimensionen dafür verantwortlich, dass Menschen
in „Schubladen“ gesteckt werden − zu ihrem Schaden und zu dem eines Unternehmens
oder einer Verwaltung. Für Führungskraft besteht also ein großer Gestaltungsspielraum
und die Möglichkeit, sich als Vorbild (sprachlich) zu positionieren.
Diese durch Sprache verursachten, unbewussten Zuschreibungen zu minimieren oder
abzustellen, ist eine große Herausforderung. Denn auch hier geht es für Führungskräfte
letztlich darum, mit dem gewohnten Sprachgebrauch eine persönliche Komfortzone zu
überprüfen und zu hinterfragen. Dieser Schritt führt erfahrungsgemäß immer wieder zu
sehr emotionalen und heftigen Reaktionen − auch, wenn es „nur“ um die Reflektion der
persönlichen Wortwahl geht.
Neben Worten sind auch Bilder ein starker Impuls zur Aktivierung stereotyper Wahr-
nehmungsmuster. Nachgewiesen ist zum Beispiel eine starke Wirkung von Porträtbildern
in Bewerbungsunterlagen, die eine objektive Bewertung von Lebenslauf und Leistungen
deutlich erschwert (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2011). Die im Bild erkenn-
baren Kern-Dimensionen triggern entsprechende Wahrnehmungsmuster und verhindern
eine unvoreingenommene Bewertung wesentlicher Inhalte. Weil ein bewusstes Gegen-
steuern kaum möglich ist, drängt sich das Weglassen der Bilder als beste Lösung für die
146 H. W. Jablonski
Wahrung der Objektivität auf. Dieser Verzicht erfordert zwar, die mentale Komfortzone
zu verlassen, bringt aber bessere und gerechte Ergebnisse.
Führungskräfte können unbewusster Voreingenommenheit auf unterschied-
lichen Wegen begegnen. Eine Möglichkeit sind Methoden, die über eine persönliche
Reflektion dabei unterstützen, die eigenen Stereotype zu erkennen und ihre verzerrende
Wirkung zu minimieren. Das oben beschriebene Verfahren einer anonymisierten
Bewerbung ist daneben ein klassisches Beispiel für strukturelle oder organisatorische
Gegenmaßnahmen. Überhaupt bieten die Überprüfung und Anpassung alltäglicher
Routinen und Arbeitsprozesse großes Potenzial, um die Wirkung stereotyper Denkmuster
zu verringern. Dazu genügen oft schon einfache Veränderungen und Hinweise:
Planen Sie die Zeiten für Personalprozesse großzügig ein, denn Zeitdruck verleitet zu
Entscheidungen unter unbewusster Voreingenommenheit.
Stellen Sie für die Bewertung von Leistungen objektive und messbare Kriterien auf,
sodass Entscheidungen auch für andere transparent und nachvollziehbar sind.
Menschen mit ähnlichen Kern-Dimensionen teilen häufig auch dieselben Stereotype.
Stellen Sie deshalb Vielfalt unter den Prozessbeteiligten sicher, denn Entscheidungen,
die aus unterschiedlichen Perspektiven getroffen werden, sind erfahrungsgemäß
objektiver.
Erheben Sie Daten zu den Prozessen sowie ihren Ergebnissen. Statistiken machen
Verzerrungen hinsichtlich der Repräsentation von Vielfalt sichtbar. Sie zeigen klar,
inwiefern Personen mit Merkmalen wie dem Geschlecht, der Herkunft oder dem
Alter auf bestimmten Positionen und Hierarchieebenen verteilt sind. In vielen Fällen
werden so „Glasdecken“ für bestimmte Personengruppen sichtbar.
Um den Herausforderungen unserer Zeit − allen voran die Digitalisierung der Arbeits-
welt sowie die zunehmende Verflechtung internationaler Beziehungen − nicht nur
angemessen zu begegnen, sondern um sie auch produktiv zu verwerten, bedarf es einer
systematischen Betrachtung und Nutzung von Vielfalt. Öffentliche Verwaltungen wie
auch Unternehmen können durch Diversity Management angemessen auf die aktuelle
Umbruchsituation reagieren. Ein Schlüssel zum Erfolg sind die Führungskräfte, die
durch eine entsprechende Haltung und der Bereitschaft, die eigene Voreingenommen-
heit zu hinterfragen, entscheidend dazu beitragen können, die Wertschätzung von Viel-
falt in der Verwaltungskultur und dem Arbeitsalltag zu verankern. Die dafür notwendigen
Grundlagen zu schaffen ist aufwendig und mitunter unbequem − vor allem, wenn es
darum geht, die persönliche Wahrnehmung von Mitarbeiter*innen sowie die vermeintlich
objektive Bewertung von Leistungen kritisch zu hinterfragen und auf unbewusste Vorein-
genommenheit zu überprüfen. Doch dieser Aufwand lohnt sich und stellt insbesondere
für Führungskräfte ein sinnvolles Investment dar. Denn je besser diese ihre Führungs-
Die Kompetenz von Führungskräften im Umgang mit Vielfalt – … 147
qualitäten den aktuellen An- und Herausforderungen anpassen, desto erfolgreicher ist die
Zusammenarbeit in zunehmend vielfältigen Teams und Belegschaften.
Literatur
Vieweg, Martin (2018): Wann werden Minderheitsmeinungen mächtig?, in „Bild der Wissen-
schaft“. Onlinequelle: https://www.wissenschaft.de/gesellschaft-psychologie/wann-
minderheitsmeinungen-maechtig-werden-2/ (Abrufdatum: 05.02.2023).
Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2011): Anonymisierte Bewerbungsverfahren – Das Pilot-
projekt. Onlinequelle: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/
publikationen/AnonymBewerbung/anonymisierte_bewerbungsverfahren_das_pilotprojekt_
flyer.pdf?__blob=publicationFile (Abrufdatum: 05.02.2023).
Hans W. Jablonski, Volkswirt und Experte, Berater und Coach für Kommunen und Unternehmen
zum Thema Diversity, Equity & Inclusion.
Seit mehr als 20 Jahren arbeitet Hans W. Jablonski zum Thema Diversity und war damit einer
der ersten Diversity Manager in Deutschland und später von London aus im internationalen
Diversity Management tätig. Er ist Mit-Begründer der Charta der Vielfalt u. a. in Deutschland
und unterstützt Kommunen und Verwaltungen und deren Führungskräfte in der Umsetzung von
Diversity Management.
Emotionale Intelligenz ist die wichtigste
Fähigkeit für Führungskräfte
Magdalena Rogl
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
M. Rogl ( )
Microsoft Deutschland, München, Deutschland
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Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_11
150 M. Rogl
1 Einführung
Die Diversity-Dimensionen der Charta der Vielfalt1 beschreiben über zwanzig ver-
schiedene Aspekte von Diversität – im Zentrum steht dabei die Persönlichkeit. Und in
der Persönlichkeit steckt ein wichtiger aber vor allem in der Arbeitswelt unterschätzter
Aspekt: Die emotionale Diversität.
Emotionale Diversität kann einerseits die Vielfalt und Fülle unserer eigenen
Emotionen, aber auch die Unterschiedlichkeit im Ausdruck von Emotionen einzel-
ner Menschen beschreiben. Nicht alle Menschen nehmen Emotionen auf gleiche Weise
wahr, genauso wenig drücken alle Menschen Emotionen auf gleiche Weise aus. Wenn
wir die Welt um uns herum aus einer inklusiven Perspektive betrachten wollen, ist es
wichtig, zu verstehen, dass nicht alle Menschen Emotionen in gleicher Weise erkennen
und darauf reagieren. Inklusion bedeutet auch, anzuerkennen, dass unterschiedliche
Menschen emotional unterschiedlich denken und reagieren können.
Der Mensch funktioniert sowohl auf der rationalen als auch auf der emotionalen
Ebene, wobei die Emotionen, die von unseren persönlichen Grundwerten ausgehen,
den Kern unserer Motivation bilden. Gefühle sind auch von grundlegender Bedeutung
für unsere Reaktionen auf die Unterschiede, die wir in anderen sehen, ob wir uns ihnen
nähern oder sie meiden, sie mögen oder nicht mögen, akzeptieren oder ablehnen. Je
besser wir unsere emotionalen Reaktionen verstehen und steuern, desto zufriedener
können wir mit unseren Beziehungen sein, desto effektiver können wir zwischenmensch-
liche Interaktionen gestalten.
Eine Veränderung der Arbeitswelt hin zu mehr Diversität und Inklusion, erfordert ein
Umdenken von Führung – vor allem auf emotionaler Ebene. Die Fähigkeit, die unter-
schiedlichen Bedürfnisse von Verbraucher*innen oder Kund*innen zu erkennen und
individuell darauf einzugehen, ist genau das, was eine effektive, emotional intelligente
Führung ausmacht. Diverse Teams brauchen eine Führungskraft, die in der Lage ist, den
Wert dieser Vielfalt sowohl auf persönlicher als auch auf beruflicher Ebene zu erkennen.
1 Zur
weiteren Erläuterung der Dimensionen von Vielfalt s. Kap. 1 „Diversity in der öffentlichen
Verwaltung – eine Einführung“.
Emotionale Intelligenz ist die wichtigste Fähigkeit … 151
fühlen, können wir unsere Angebote dementsprechend anpassen. Wenn wir nachvoll-
ziehen können, wie sich Kolleg*innen fühlen, verbessert sich die Teamarbeit. Wenn wir
mit Mitarbeitenden mitfühlen können und ihre Bedürfnisse begreifen, haben wir die
Chance, sie gezielter und individueller zu fördern.
Um empathisch zu sein, müssen wir Raum für Gefühle schaffen – für unsere eigenen
und die unserer Kolleg*innen. Es ist wichtig, dass wir diese Unterschiede wahrnehmen
und dieser emotionalen Diversität Raum geben. Dass wir akzeptieren, wenn Menschen
eine andere Art haben als wir, ihre Gefühle auszudrücken. Und genau diese Empathie ist
auch auschlaggebend, um Inklusion zu leben. Gelebte Inklusion bedeutet, dass sich alle
Menschen einbezogen fühlen, ganz egal, wie unterschiedlich sie sein mögen und auch
wie unterschiedlich sie ihre Emotionen ausdrücken.
Wenn eine Person emotional ganz anders reagiert, als wir es erwarten oder als wir
selbst reagieren würden, ist das oft irritierend. Wir haben dann vielleicht den Impuls,
eine Mauer zu bauen, uns abzugrenzen. Unsere Prägung kann auch entscheiden, wem
wir überhaupt Empathie entgegenbringen und wer sie nach unserer Meinung verdient
hat. Tendenziell sind wir empathischer mit Menschen, die uns ähnlich sind, weil es uns
leichter fällt, uns mit ihren Emotionen zu identifizieren. Tatsächlich zeigen zahlreiche
Experimente, dass wir beispielsweise mit Menschen, die dieselbe Hautfarbe haben wie
wir, mehr Mitgefühl empfinden als mit jenen, die eine andere Hautfarbe haben.
Und Empathie kann auch belastend sein: Wenn wir ständig die Gefühle anderer
Menschen aufnehmen und nachempfinden, kann uns das sehr anstrengen und sogar
selbst schaden. Versuchen wir im beruflichen Kontext, mit allen Kolleg*innen
empathisch zu sein, kann das unsere mentale Gesundheit beeinflussen und uns im
Extrem sogar arbeitsunfähig machen. Genauso kann uns persönliche Empathie mit
einem einzelnen Menschen dazu verleiten, das große Ganze aus dem Blick zu verlieren.
Wenn uns Mitarbeitende Sorgen oder Ängste anvertrauen, hilft es weder ihnen noch uns,
geschweige denn dem Team, wenn wir ihre Sorgen und Ängste nur stark mitfühlen.
Intelligente Empathie ist deshalb der richtige Weg – egal ob in der Arbeit oder im
Privaten. Wir sollten nachfühlen, was eine andere Person empfindet, aber nicht in diesem
Gefühl verharren, sondern die Informationen nutzen, um zu entscheiden, was die sinn-
vollste Reaktion in der jeweiligen Situation sein könnte. In ihrer einfachen Form hilft
uns Empathie, Emotionen bei anderen zu erkennen und auch die Perspektive anderer
Menschen auf eine Situation zu verstehen. Bewusst trainierte Empathie kann uns ermög-
lichen, auf die Situation zu reagieren und Lösungen zu finden.
Am wertvollsten ist Empathie dann, wenn sie mit Handeln verbunden ist, wenn sie
genutzt wird, um Dinge zu verbessern, wenn wir sie einsetzen, um uns gegenseitig zu
verstehen und zu unterstützen. Empathie kann uns dabei helfen, die Welt aus ver-
schiedenen Perspektiven zu sehen und diese diversen Blickwinkel zu nutzen, um bessere
Lösungen zu finden. Persönlich, beruflich und gesellschaftlich.
Gegenseitiges Verstehen hat dabei viel mit unserer eigenen Offenheit, unserem
Kommunikationsstil und unserer Sprache zu tun. Inklusive Sprache kann dabei einen
wichtigen Beitrag zu Empathie leisten und langfristig unsere Denkmuster trans-
152 M. Rogl
formieren. Der alleinige Fokus auf geschlechtssensible Kommunikation ist aber nicht
mehr zeitgemäß, denn inklusive Organisationskommunikation sollte auf drei Säulen
basieren: diskriminierungsfrei, gendersensibel, barrierefrei.2
Unsere Gesellschaft besteht aus Menschen, die verschiedene ethnische Hintergründe,
Religionen und Weltanschauungen haben, aus Menschen mit und ohne Behinderung,
aus Jungen und Älteren, aus Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen,
aus Frauen, Männern und nichtbinären Menschen. Es sind einzigartige Menschen mit
unterschiedlichen Perspektiven und verschiedenen Erfahrungen, und wir können die
bewusste Entscheidung treffen, unser Möglichstes zu geben, mit allen empathisch zu
kommunizieren.
Hier spielt auch die kulturelle Kommunikation eine große Rolle. Je internationaler
unsere Arbeitswelt und die Teams sind, in denen wir arbeiten, desto wichtiger ist es, ein
Bewusstsein für kulturelle Unterschiede zu haben und zu verstehen, wie Emotionen in
bestimmten Sprachen und Kulturen kommuniziert werden.
2 Informationen zur inklusiven Sprache befinden sich in Kap. 5 „Inklusive Sprache als Treiber für
mehr Vielfalt in der Verwaltung“.
Emotionale Intelligenz ist die wichtigste Fähigkeit … 153
sind. Werte haben wenig Gewicht, wenn sie nicht mit messbaren Aktivitäten und Ver-
haltensweisen verbunden sind.
Genauso wie Werte für viele Bewerbende eine wichtige Entscheidungsgrund-
lage sind, sollte es auch für Organisationen sein. Viele Fähigkeiten können Menschen
lernen, und in den meisten Organisationen hat deshalb Weiterbildung inzwischen zu
Recht einen hohen Stellenwert. Aber Werte sind selten etwas, das Menschen lernen
können, sie sollten davon überzeugt sein. Deshalb ist ein sogenannter Value Fit, also
das Hinterfragen von persönlichen Werten und dem Gegencheck, ob diese zu den
Organisationswerten passen, heute für viele Organisationen ein fester Bestandteil von
Bewerbungsprozessen. Mitarbeitende, die aufgrund ihrer Abschlüsse eingestellt werden,
aber nicht wirklich zur Organisationskultur passen, werden nie dauerhaft erfolgreich
sein, der Organisation wertvolle Ressourcen und den jeweiligen Teams viele heraus-
fordernde Emotionen kosten.
Auch wenn Werte eine grundsätzliche Überzeugung sein sollten, ist es wichtig in
Teams regelmäßig über die Organisationswerte zu sprechen, um zum Beispiel von-
einander zu lernen, was der jeweilige Wert auf persönlicher Ebene bedeutet. Dabei ent-
stehen zu den Organisationswerten oft noch Teamwerte, je nach Verantwortungsbereich.
In einem Team, das sich um Finanzen kümmert, könnte (und sollte) das zum Beispiel
Genauigkeit sein.
Diese Gespräche sind für internationale und interkulturelle Teams besonders
angebracht, weil Werte in verschiedenen Kulturen und Sprachen unterschiedliche
Bedeutungen haben können. Um Inklusion zu leben und Missverständnisse zu vermeiden
ist es also elementar, voneinander zu lernen, was bestimmte Werte bedeuten.
Führungskräfte haben hierbei eine besondere Aufgabe: Es geht nämlich nicht nur
darum, die Organisationswerte vorzuleben und damit Vorbild zu sein, sondern den Mit-
arbeitenden auch widerzuspiegeln, was sie persönlich wertvoll für die Organisation macht.
Zu wissen, welchen Wert die Organisation in mir sieht, macht mich nicht nur glücklich
und produktiver, sondern stärkt ebenso meine Zugehörigkeit.
Persönliche Werte können also ein Kompass einzelne Menschen sein und
Organisationswerte ein Kompass für die Organisation. Dabei müssen die persönlichen
Werte nicht immer deckungsgleich mit der Organisation sein, bei dem eine Person
arbeitet. Tatsächlich ist das vermutlich so gut wie nie der Fall, weil Organisationen nun
mal keine Menschen sind.
Diversity und Inklusion sind nicht nur Werte, sondern auch eine Verantwortung, die
Organisationen tragen. Dazu gehört es, Produkte und Technologien möglichst barriere-
frei und zugänglich für alle zu gestalten und so in der Arbeitswelt der Zukunft mehr
Teilhabe zu ermöglichen. Organisationen können das zum Beispiel tun, indem sie mög-
lichst viele unterschiedliche Menschen in den Design- und Entwicklungsprozess ein-
beziehen, um ihre Perspektiven und Bedürfnisse kennenzulernen und in neuen Produkten
berücksichtigen zu können. Und zu dieser Verantwortung gehört auch, innerhalb der
Organisation Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, die niemanden ausschließen. Gelebte
Empathie, Diversität und Inklusion – sie führen zu Innovation.
154 M. Rogl
Das größte Missverständnis beim Thema Führung ist die Auffassung, dass es um eine
Rolle oder einen Titel geht. Aber ganz egal, in welcher Phase wir uns im Leben befinden,
ganz egal, wie alt wir sind, und ganz egal, ob auf dem Papier, auf Hierarchie-Ebene oder
ob Menschen eine Berichtslinie zu uns haben oder nicht – wir alle können Leadership
leben. Denn die Grundlagen von Leadership sind Emotionalität und Empathie. Und
Leadership bedeutet eben nicht einfach Führung, sondern vor allem Vorbildfunktion. Wir
alle können ein Vorbild sein, ganz gleich, welche Position wir innehaben und in welcher
Funktion wir sind. Vor allem sollten wir versuchen, ein Vorbild für uns selbst zu sein.
Bei Leadership geht es darum, das Potenzial in Projekten, Prozessen und Menschen
zu sehen und dafür mutig Verantwortung zu übernehmen. Deshalb hat es nichts mit Alter,
Berufserfahrung oder Titel zu tun, sondern vielmehr mit einer Vorbildfunktion. Leader-
ship heißt nicht, Antworten auf alle Fragen zu haben, sondern vielmehr zu wissen, was
die richtigen Fragen sind. Und auch ehrlich zu sein und Transparenz zuzugeben, wenn
man Dinge nicht weiß.
Leider war in der Vergangenheit oft zu beobachten, dass Menschen mit Führungsver-
antwortung schnell meinten, nicht nur alles zu wissen, sondern auch die einzig gültige
und richtige Meinung zu vertreten. Aber unsere Meinung zu ändern und vielleicht zuzu-
geben, dass eine andere Person recht hatte, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern
eines dafür, dass wir dazulernen und uns weiterentwickeln können.
Denn Leadership beinhaltet auch die Kraft im Wort „Führungskraft“. Es geht nicht
um Macht anderen gegenüber, sondern darum, diese Kraft zu nutzen, um Menschen die
Energie zu geben, die ihnen beim Wachsen helfen kann. Um zu verstehen, was die ver-
schiedenen Menschen für ihre persönliche Entwicklung brauchen, sind Offenheit und
ehrliche Neugier besonders hilfreich. Nur eine Person, die zuhört, um zu verstehen, und
nicht zuhört, um zu antworten, kann wirklich etwas über die Kolleg*innen erfahren. Nur
wer weiß, was die Teammitglieder beschäftigt, wie sie denken, was sie begeistert, kann
genau darauf reagieren, sie entsprechend ihrer Stärken einsetzen und ihnen helfen in
persönlichen Entwicklungsbereichen zu wachsen. Leadership braucht Pragmatismus statt
Perfektionismus. Und dafür müssen Mitarbeitende vor allem begleitet und nicht durch-
gehend bewertet werden.
Eine Führungskraft sollte nicht nur damit umgehen können, wenn Menschen (fach-
lich) besser sind als sie selbst, sondern sie sollte dies ganz bewusst fördern. Es ist näm-
lich nicht die Aufgabe von Leadership, den Mitarbeitenden zu sagen, was sie tun sollen,
sondern sie dazu zu befähigen, in ihrem Fachbereich das Beste zu erreichen. Und das
kann bedeuten, dass Mitarbeitende in einigen Dingen besser sind als die Führungskraft
selbst.
Eine Führungsrolle innerhalb einer Organisation beinhaltet oft viele Privilegien,
und wie überall bringt jedes Privileg, das wir haben, auch eine Verantwortung mit
sich. Genau das bedeutet es nämlich, Personalverantwortung zu haben: Verantwortung
Emotionale Intelligenz ist die wichtigste Fähigkeit … 155
für Menschen zu übernehmen. Um empathisch zu sein, müssen wir Raum für Gefühle
schaffen – für unsere eigenen und die unserer Teammitglieder. Das bedeutet nicht, allen
Gefühlen unkontrolliert freien Lauf zu lassen. Haltung ist ein wichtiger Teil von Leader-
ship, aber wir sollten nicht vergessen, dass auch Zurückhaltung eine Haltung sein kann.
Die Aufgabe von Organisationen und Führungskräften ist es, eine Kultur zu schaffen, in
der Raum für Emotionalität gegeben wird.
Die richtige Auswahl von Menschen gerade in leitenden Positionen wird in Zukunft
deutlich an Relevanz gewinnen. Führungskräfte brauchen nicht unbedingt fachliches
Know-how, sondern Kompetenzen wie Empathie und Selbstreflexion. Gleichzeitig
sollten die Menschen, die jetzt schon an der Spitze sind und Menschen führen, gut
geschult werden, falls sie diese Skills noch nicht haben. Einfach nur Seminare abzu-
halten und einen Haken dranzusetzen, wird nicht ausreichen.
Führungskräfte benötigen eine intrinsische Motivation. Und die entsteht, wenn
sie feststellen, dass sich Empathie lohnt – weil sie Teams erfolgreicher macht und
Organisationen zu besseren Ergebnissen führt. Das Lernen von emotionaler Sprache
sollte deshalb genauso anerkannt sein wie das Lernen einer Programmiersprache. Und
diese emotionale Sprache können wir selbst jeden Tag trainieren, indem wir unsere
Emotionen bewusst wahrnehmen und sie reflektieren. Indem wir SelbstBEWUSSTsein
entwickeln und lernen zu verstehen, wer wir wirklich sind und was wir brauchen,
um Leadership zu leben. Dabei helfen können weiterhin Mentor*innen, Coaches,
Trainer*innen, Therapeut*innen. Aber auch ein grundsätzlicher Kulturwandel innerhalb
der Organisation.
Ebenso sollte es nicht darum gehen, wie wir möglichst schnell den nächsten Karriere-
schritt gehen können, um ein Team zu leiten und Privilegien zu bekommen. Denn wenn
wir immer nur nach dem nächsten Schritt schauen, sehen wir nicht, wo wir gerade
stehen. Und genau dort, wo wir gerade stehen, sollten wir Leadership für uns selbst über-
nehmen und unsere eigene FührungsKRAFT entwickeln.
Wir sollten deshalb Menschen nicht mehr als Arbeitsressource, sondern als die ein-
zigartigen Persönlichkeiten, die sie sind, begreifen. Bei der Auswahl von Mit-
arbeitenden und Kolleg*innen sollten wir darauf achten, wie sie mit ihren eigenen und
den Emotionen anderer Menschen umgehen und auch, ob sie bereit sind, ihre eigenen
Emotionen zu nutzen, um sich weiterzuentwickeln.
Die Pandemie hat dazu geführt, dass wir unsere Beziehungen und das, was uns wirk-
lich wichtig ist, neu überdenken. Die Menschen, mit denen wir arbeiten, machen einen
Großteil unserer zwischenmenschlichen Beziehungen aus, und für die meisten Menschen
ist es ein Bedürfnis, sich ihren Teams und Kolleg*innen zugehörig zu fühlen. Wenn
Organisationen das nicht anerkennen, steigt das Risiko, dass Menschen diese Arbeits-
beziehungen beenden.
156 M. Rogl
6 Emotionale Intelligenz
Es ist mittlerweile weithin bekannt, dass Vielfalt das Potenzial hat, einer Organisation
viele Vorteile zu bringen – wie zum Beispiel eine stärkere Innovationskraft. Es ist
jedoch schwierig, diese Vorteile zu nutzen, wenn Unterschiede aufeinanderprallen und
dadurch Emotionen ungefiltert und unreflektiert im Raum stehen. Oft wissen Führungs-
kräfte und Mitarbeitende nicht, wie sie mit diesen Gefühlen umgehen sollen, um aus den
unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungen und Ansätzen Nutzen zu ziehen. Die Ent-
wicklung der Fähigkeit, Gefühle zu verstehen, zu reflektieren und effektiv mit anderen
umzugehen, unabhängig davon, wie groß die Unterschiede sind, ist eine entscheidende
Kompetenz in der heutigen Arbeitswelt. Um diese Kompetenz zu entwickeln und zu
nutzen ist emotionale Intelligenz unerlässlich.
In einer Welt, in der wir täglich mit Unterschieden in Bereichen wie Kultur,
Traditionen, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, sexuellen Orientierung und Identi-
tät, Werten, Sprache, Verhaltensweisen, Persönlichkeitsvorlieben und Normen am
Arbeitsplatz konfrontiert werden, ist emotionale Intelligenz besonders wichtig. Ent-
weder werden diese Unterschiede als positiv verinnerlicht oder wir reagieren ablehnend.
Unser Verhalten kann konstruktiv oder destruktiv sein, je nach unserer Fähigkeit, unsere
Emotionen zu erkennen, zu reflektieren und zu nutzen.
Der Psychologe Daniel Goleman beschreibt fünf Säulen der emotionalen Intelligenz
(Goleman 2012):
1. Säule: Selbstwahrnehmung
Die Selbstwahrnehmung ist die Fähigkeit, die eigenen Gefühle, emotionalen Auslöser,
Stärken, Schwächen, Motivationen, Werte und Ziele zu erkennen und zu verstehen,
wie sie unsere eigenen Gedanken und das eigene Verhalten beeinflussen.
Wenn wir uns im Job gestresst, genervt, gelangweilt oder niedergeschlagen fühlen,
ist es wichtig, herauszufinden, warum das so ist. Erst wenn wir in der Lage sind, das
Gefühl zu benennen und die Ursache zu verstehen, können wir Lösungen finden.
2. Säule: Selbstmanagement
Selbstmanagement beschreibt die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu regulieren; sie
beruht auf der Selbstwahrnehmung. Alle Menschen – natürlich auch diejenigen mit
hoher emotionaler Intelligenz – haben mal schlechte Laune, Ärger oder Stress. Selbst-
management ist die Eigenschaft, diese Emotionen wahrzunehmen und zu regulieren,
anstatt sich von ihnen kontrollieren zu lassen.
Das könnte bedeuten, dass man in sehr stressigen oder aggressiven Situationen nicht
sofort reagiert. Wenn wir uns zum Beispiel entscheiden, über eine E-Mail zu schlafen,
die uns wütend gemacht hat, und mit klarem Kopf zu reagieren, anstatt impulsiv zu
handeln. Das beeinflusst im Übrigen auch unsere eigene mentale Gesundheit.
3. Säule: Motivation
158 M. Rogl
Motivation ist im Wesentlichen das, was uns antreibt und begeistert. Wenn wir mit
Rückschlägen und Hindernissen konfrontiert werden, ist es wichtig, dass wir uns an
unsere Motivation erinnern, um weiter voranzukommen.
Menschen mit geringer Motivation sind eher risikoscheu und ängstlich statt problem-
lösungsorientiert. Mangelnde Begeisterungsfähigkeit einer einzelnen Person kann ein
ganzes Team demotivieren. Diejenigen wiederum, die motiviert und stolz auf ihre
Arbeit sind, teilen ihr Wissen offener und haben mehr Energie.
4. Säule: Einfühlungsvermögen
Empathie ist die Fähigkeit, sich emotional in andere hineinzuversetzen und ihre
Gefühle, Sorgen und Standpunkte nachzuvollziehen. Diese Fähigkeit ist besonders
wichtig, wenn man ein Team führt, aber auch in der Arbeit mit Kunden und
Kundinnen, denn sie ermöglicht es, die Bedürfnisse und die Reaktionen des Gegen-
übers vorauszusehen. Empathie ist auch mit Innovation verbunden.
5. Säule: Beziehungsmanagement
Beim Beziehungsmanagement geht es vor allem um zwischenmenschliche Fähig-
keiten – um die Kompetenz, echtes Vertrauen, Verbundenheit und Respekt aufzu-
bauen. Es handelt sich hierbei nicht um das Klischee einer Teambuilding-Übung,
bei der man die Augen schließt und sich fallen lässt – wenn es nur so einfach wäre!
Es geht darum, einzelnen Menschen, einem Team und auch sich selbst zu vertrauen.
Eine Führungskraft mit guten Fähigkeiten im Beziehungsmanagement ist in der Lage,
Teammitglieder zu inspirieren, individuell zu führen und weiterzuentwickeln, was
sich erheblich auf die Leistung und Produktivität des Teams auswirkt.
Emotionale Intelligenz ist also in ihrer Komplexität von großer Bedeutung für unser
menschliches Miteinander und für beruflichen Erfolg. Trotzdem wird es vermutlich
noch etwas dauern, bis dem EQ genauso viel Bedeutung beigemessen wird wie dem IQ.
Für die Arbeitswelt der Zukunft ist es wichtig zu begreifen, dass es nicht primär darum
geht, was Menschen schon wissen, sondern darum, was sie alles noch lernen können –
emotional und intellektuell.
Um zu verstehen, warum emotionale Intelligenz so hoch bewertet wird, ist es
unerlässlich, sich die veränderte Arbeitswelt anzuschauen: Technologien, die sich rasant
weiterentwickeln, soziale, wirtschaftliche und politische Instabilität – wir leben in einer
Zeit, in der Transformation keine Phase ist, sondern der Normalzustand. Eine Zeit, in
der sich Organisationen und Teams ständig neu anpassen müssen und deshalb ent-
sprechenden Mitarbeitende brauchen, die über die dafür notwendigen Skills verfügen.
Das Weltwirtschaftsforum zählt emotionale Intelligenz zu den zehn wichtigsten Fähig-
keiten, die Arbeitnehmende in Zukunft brauchen werden.
Innovative Organisationen suchen deshalb nach Führungskräften mit einem hohen
Maß an emotionaler Intelligenz, um Mitarbeitende langfristig zu halten. Sind sowohl
Arbeitnehmende als auch Führungskräfte emotional intelligent, können sie eine engere
Bindung aufbauen und ehrliche Gespräche über Ziele und Herausforderungen führen.
Dieses Maß an Transparenz kann das Engagement, die Leistung und auch die Bindung
Emotionale Intelligenz ist die wichtigste Fähigkeit … 159
an die Organisation fördern – und das ist heute wichtiger denn je. Noch nie haben so
viele Menschen ihren Job gekündigt beziehungsweise den Arbeitgeber gewechselt wie
in den letzten Jahren. Dieses Phänomen hat sogar einen Namen: die Große Resignation.
Die Multikrisen der vergangenen Jahre führten dazu, dass sich viele Menschen neu
definiert haben.
Es ist eine enorme Herausforderung, die eigenen Emotionen und die der anderen zu
verstehen und intelligent zu nutzen, vor allem, da so viele Teams remote oder hybrid
arbeiten. Untersuchungen zeigen, dass es dadurch schwieriger sein kann, sich mit
den Menschen, mit denen wir beruflich zu tun haben, verbunden zu fühlen oder ihre
Emotionen und nonverbalen Signale wahrzunehmen.
Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, ihre Mitarbeiter zu verstehen und zu
wissen, wie die Menschen denken, aber nicht alle Führungskräfte wissen, wie sie mit
allen effektiv umgehen können. Emotional intelligente Führung ist eine Fähigkeit, die
für jede Führungskraft notwendig ist, um in einer Organisation erfolgreich zu sein. Die-
jenigen von uns, die in Funktionen tätig sind, in denen wir Einfluss auf die Einstellung,
Bindung und Entlassung von Mitarbeitern haben, müssen ihre emotionale Intelligenz
besonders trainieren.
Empathie und emotionale Intelligenz sind Grundlagen von Innovation und wichtige
Treiber für unsere Zukunftsfähigkeit. Wenn wir empathisch zuhören, wenn wir uns in
unsere Zielgruppen, ihre Bedürfnisse, ihre Herausforderungen hineinversetzen, können
wir echte Innovation schaffen. Wenn wir empathisch mit unseren Mitmenschen und
Kolleg*innen umgehen, wenn wir versuchen, uns in sie einzufühlen, wenn wir die
(Arbeits-)Welt aus ihrer Perspektive sehen, können wir viele Dinge lernen, über den
Tellerrand und dadurch mit mehr Weitblick in die Zukunft schauen.
Literatur
Magdalena Rogl, Diversity & Inclusion Lead Microsoft Deutschland, Autorin, München.
Magdalena Rogl arbeitet seit 2016 bei Microsoft Deutschland. Ihr kontinuierliches Engagement
für Gleichberechtigung, Inklusion und Vielfalt wurde 2021 als Diversity & Inclusion Lead zu
ihrer Hauptaufgabe im Unternehmen. Für ihren außergewöhnlichen Karriereweg von der Kinder-
pflegerin in die Digitalbranche wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Rogl ist Wertebotschafterin für
die gemeinnützige Bildungsinitiative GermanDream und Rolemodel bei BayFid, dem Nachwuchs-
förderungsprogramm des Bayerischen Staatsministeriums für Digitales. Im Oktober 2022 erschien
ihr erstes Buch „MitGefühl – Warum Emotionen im Job unverzichtbar sind“.
Diversity und Antidiskriminierung als
Faktoren erfolgreicher Führung?!
Isabel Collien
Zusammenfassung
Diversity und Führung – das bedeutet im öffentlichen Diskurs vor allem eine Aus-
einandersetzung damit, wie der Anteil an Frauen in Führungspositionen erhöht
werden kann. Weiterhin wird diskutiert, wie altersgemischte und international viel-
fältige Teams erfolgreich gemanagt werden können. Kaum diskutiert wird, wie
eine konkrete Umsetzung im Alltag von Führungskräften genau aussehen kann. In
diesem Beitrag reflektiere ich vor dem Hintergrund von wissenschaftlichen Studien
und meinen eigenen Erfahrungen als Führungskraft, wie eine vielfaltsoffene und
diskriminierungskritische Führung in der Öffentlichen Verwaltung aussehen kann.
Die angesprochenen Themen reichen von Wahrnehmungsverzerrungen bei der
Stärkenbeurteilung über Strategien des Teilens von Ressourcen (Power Sharing) bis
hin zum Umgang mit den eigenen Emotionen im Kontext von Diskriminierungs-
themen.
Schlüsselwörter
I. Collien ( )
Freie und Hansestadt Hamburg, Hamburg, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 161
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_12
162 I. Collien
1 Einleitung
Mit dem Thema Führung und Diversity werden im öffentlichen Diskurs insbesondere
zwei Themen verbunden: mehr Frauen in Führungspositionen sowie altersgemischte und
international vielfältige Teams erfolgreich führen. Abstrahiert man von diesen konkreten
Themen, so ergeben sich daraus zwei Zielstellungen für die Öffentliche Verwaltung.
Zum einen sollen neben der gesamten Belegschaft auch die Chef(!)etagen vielfältiger
in Hinblick auf Geschlecht, soziale Herkunft oder Rassismuserfahrungen werden. Zum
anderen sollen Teams aus Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven bestehen und
gleichzeitig so gemanagt werden, dass jede Person für sich und alle gemeinsam erfolg-
reich agieren können.
Führungskräften kommt beim Erreichen dieser Ziele eine Schlüsselrolle zu. Doch
während viel über die Ziele gesprochen wird, ist es um konkrete Handlungsmöglich-
keiten für den Alltag als Führungskraft vergleichsweise ruhig. So musste ich mir als
Führungskraft aus einzelnen Ideen und Ansätzen mit Kolleg*innen selbst zusammen-
stückeln, wie Wertschätzung von Vielfalt, Gleichberechtigung und Antidiskriminierung
im Führungs- und Teamalltag gelebt werden können.
In diesem Beitrag teile ich daher meine Erkenntnisse zum Thema Führung und
Diversity/Antidiskriminierung – in der Hoffnung, dass sie andere inspirieren und eine
intensivere Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen im Verwaltungsalltag anregen.
Am Ende zeigt sich (hoffentlich): diversitätsbewusste bzw. diskriminierungskritische
Führung1 ist eine lange Reise, aber sie ist es definitiv wert!
Es gibt nicht das eine Modell zu den Rollen einer Führungskraft, sondern eine Vielzahl
an Artikeln und Studien zum Thema. Während Erwartungen an Führungskräfte immer
schon vielschichtig waren, nimmt die Komplexität in den letzten Jahren auch in der
öffentlichen Verwaltung stetig zu – nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Debatten um
Agilität, Digitalisierung und Diversity Management. Führung ist folglich „eine multi-
dimensionale Aufgabe“2.
setzung mit Diskriminierung und Machtverhältnissen ist für mich selbstverständlicher Teil eines
produktiven Umgangs mit Vielfalt im Arbeitskontext. Dazu zählt auch zu hinterfragen, zu welchem
Zweck es bestimmte Diversity-Kategorien (z. B. Menschen mit Migrationshintergrund oder
Behinderung) gibt und wie diese benutzt werden, um Menschen unterschiedliche Rechte in unserer
Gesellschaft zuzuschreiben.
2 Jachtchenko (2020: 7).
Diversity und Antidiskriminierung als … 163
Um meinen Beitrag möglichst eng mit der Praxisebene in der Öffentlichen Ver-
waltung zu verzahnen, greife ich bei der Betrachtung von Führungsrollen im Kontext
Diversity/Antidiskriminierung auf bestehende Einteilungen in der Verwaltung zurück.
Konkret verwende ich das neue Führungsleitbild der Hamburger Verwaltung3 aus dem
Jahr 2022 und reflektiere, was die jeweiligen Rollen diskriminierungskritisch und
diversitätsbewusst gelesen bedeuten können.
Bevor ich in fünf Abschnitten die fünf Führungsrollen gegen den Diversity-Strich
bürste, noch ein wichtiger Hinweis. Auch Führungskräfte sind keine homogene Masse,
sondern im Alltag häufig ebenfalls von Stereotypen und Diskriminierung betroffen – die
wiederum ihre Handlungsmöglichkeiten beeinflussen.
Je nach sichtbaren und unsichtbaren Differenzlinien4 (oder auch Diversity-
Merkmalen) begegnen Personen in Leitungspositionen unterschiedlichen Erwartungen
der Umwelt. So werden Männern nach wie vor eher Führungseigenschaften wie Durch-
setzungsstärke oder Entscheidungsfreudigkeit zugeschrieben.5 Dieses Phänomen wird
als „think manager – think male“ bezeichnet. Weibliche Führungskräfte sind dagegen
mit dem Backlash-Effekt konfrontiert. Zeigen sie männlich konnotierte Verhaltens-
weisen wie Dominanz, weichen sie von ihrer erwarteten Geschlechterrolle als Frau
ab und werden negativer beurteilt als vergleichbar agierende männliche Führungs-
kräfte.6 Gleichzeitig gelten Frauen in Führung schnell als inkompetent, wenn sie zu
viele weibliche Eigenschaften wie Fürsorge für andere in ihrer Führungsrolle ausleben.
Auch abhängig vom Alter, sexueller Orientierung oder Hautfarbe variieren stereo-
type Erwartungen an Führungskräfte. So werden Schwarze Frauen beispielsweise als
wütender und aggressiver wahrgenommen als weiße Frauen, was dazu führen kann, dass
ihr Verhalten schneller als Überreaktion gewertet wird.7
3 Das Führungsleitbild der Hamburger Verwaltung definiert fünf Führungsrollen und beschreibt
die Führungskraft unter anderem als Coach, Strateg*in, Vorbild, Vernetzer*in oder Innovator*in.
Im Sinne eines Leitbilds bietet das Führungsleitbild Orientierung und will eher Impulse setzen als
akribisch konkrete Umsetzungsschritte vorzuschreiben. Das Führungsleitbild ist bisher nicht für
Personen außerhalb der Hamburger Verwaltung online abrufbar.
4 Der Begriff der Differenzlinien verweist darauf, dass Unterscheidungen zwischen Menschen
gesellschaftlich erst zu Unterschieden gemacht und mit Bedeutung versehen werden. So entstehen
Ausländer erst dadurch, dass wir in Gesetzen und Diskursen definieren, wer zu dieser Menschen-
gruppe zählt und welche Rechte sie – im Vergleich zu Inländern oder Deutschen – haben. Im
Alltag machen wir uns dieses Gewordensein von Differenzlinien (und damit auch von Diversity-
Kategorien) zumeist nicht bewusst, wodurch gesellschaftlich hervorgebrachte Differenzen als
natürlich erscheinen (vgl. Scholle und Bergold-Caldwell 2013).
5 Vgl. Salwender und Schöl (2019).
Als Führungskräfte sind wir Vorbild für andere und tragen daher die Verantwortung
Selbstreflexion, erwünschtes Verhalten und angestrebte Werte im Arbeitsalltag vor-
zuleben. Dazu gehören auch Werte wie Vielfaltsoffenheit, Fehlerfreundlichkeit oder
Nichtdiskriminierung. Toleriert eine Führungskraft beispielsweise anzügliche Sprüche
unter Beschäftigten oder ist selbst Teil davon, so normalisiert sie Würde verletzendes,
diskriminierendes Verhalten. Umgekehrt verhält es sich, wenn eine Führungskraft
klare Grenzen bei menschenverachtendem, entwürdigendem Verhalten setzt (Null-
Toleranz-Strategie). Dadurch sendet die Führungskraft indirekt auch das Signal, dass
zur Beförderungswürdigkeit auch ein reflektierter und sensibler Umgang mit Dis-
kriminierung und Diversity vorausgesetzt wird.
Um im Sinne von Diversity und Antidiskriminierung ein reflektiertes Vorbild sein zu
können, bedürfen Führungskräfte einer grundlegenden Sensibilität für diese Themen.
Insbesondere drei Aspekte sind hier relevant:
Trainings sind ein guter erster Startpunkt, um sich den genannten Themen anzunähern.
In Anti-Bias-Workshops lernen Führungskräfte beispielsweise, welche Vorurteile und
Stereotype es gibt und wie sie diese verinnerlicht haben. Der Anti-Bias-Ansatz geht
davon aus, dass alle Menschen (unbewusste) Vorurteile haben. Im Kern geht es daher
um das Entwickeln einer vorurteilsbewussten Haltung, das heißt darum, die eigenen Vor-
urteile zu erkennen, um diese verändern zu können – oder auch kurz: „Ertappen und
umschalten!“, wie die Psychologin Stefanie Stahl ihre Strategie zur Veränderung tief-
sitzender Überzeugungen nennt. Gerade vor dem Hintergrund, dass unbewusste Vor-
urteile Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen beeinflussen können8, ist ein
bewusster Umgang mit Vorurteilen bei Führungskräften unabdingbar für gutes Personal-
management.
Führungskräfte sollten sich weiterhin bewusst machen, welche Diversitäts-
dimensionen sie (für andere) verkörpern. Hier kann es hilfreich sein sich zu fragen: Mit
welchen Vorurteilen muss ich selbst im Arbeitsalltag umgehen? Welche stereotypen
Erwartungen haben andere an mich? Wovon bin ich nicht betroffen? Wie gehe ich damit
um, wenn ich eine Situation nicht nachempfinden kann, weil ich sie selbst nicht erlebe?
Wie kann ich hier dennoch empathisch und verlässlich agieren? Und wie profitiere ich
in meiner Karriere vielleicht indirekt davon, dass anderen Mitarbeitenden Führungs-
positionen aufgrund von Stereotypen eher nicht zugetraut werden?
Insbesondere die letzte Frage berührt das unangenehme und politisch polarisierende
Thema der Privilegien. Einfach gesagt sind Privilegien Vorteile, die ich in einer
bestimmten Situation habe, ohne etwas dafür tun zu müssen. Diese Vorteile sind den
meisten Menschen zunächst nicht bewusst, denn Privilegien basieren nur noch selten auf
einer direkten Bevorzugung (z. B. von Männern durch den Ausschluss von Frauen vom
allgemeinen Wahlrecht bis 1918).
Privilegien bestehen zumeist darin, bestimmte Erfahrungen des Ausschlusses, der
Erniedrigung oder Stigmatisierung nicht machen zu müssen – und damit auch nicht vom
sogenannten Minoritätenstress9 betroffen zu sein. Also, sich beispielsweise nicht die
Frage stellen zu müssen, ob es für die Beförderung einen Unterschied machen könnte,
wenn die Chefin weiß, dass ich schwul bin – sondern selbstverständlich beim Mittags-
tisch von der eigenen (heterosexuellen) Familie zu erzählen.
Neben der kognitiven Beschäftigung mit Diskriminierung ist es für uns als Führungs-
kräfte wichtig uns mit den damit verbundenen Emotionen zu befassen. Dazu ein Bei-
spiel aus einem meiner Organisationsentwicklungsworkshops, die ich nebenberuflich
durchführe: Immer wieder mache ich in Workshops – ebenso wie im Arbeitsumfeld – die
Erfahrung, dass sich Führungskräfte wie Mitarbeitende für ihre Privilegien schämen. Sie
schämen sich beispielsweise dafür „so normal mit Kleinfamilie und Reihenhaus“, „ein
älterer weißer Mann“ oder „eine gut gebildete Person mit deutschem Pass“ zu sein –
oder als solche bezeichnet zu werden. Die Scham kann bisweilen auch in Wut oder Frust
darüber umschlagen, nicht in der ganzen Komplexität als Mensch gesehen zu werden.
Das Problem dabei ist, dass aus einem Gefühl der Scham heraus häufig eher Abwehr
als Reaktion auf Diskriminierung am Arbeitsplatz entsteht als ein vorwärts gerichteter
9 Minoritätenstressist ein Phänomen, welches besonders im Kontext von Homo- und Transfeind-
lichkeit herangezogen wird, um das signifikant höhere Risiko für eine psychische Erkrankung
bei Lesben, Schwulen, trans-, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen zu erklären. All-
gemein bedeutet Minoritätenstress den täglichen, belastenden Umgang mit tatsächlichen oder
befürchteten negativen sozialen Reaktionen (von Benachteiligung bis hin zu Gewalt) auf die
eigene sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, Migrationshintergrund, etc. (vgl. Plöderl 2012:
280).
166 I. Collien
Lernprozess oder ein Zuwenden zu denjenigen, die von Diskriminierung betroffen sind
(und diese auch benennen).10
Um als Führungskraft verlässlich und vertrauensvoll zu agieren, bedarf es daher
auch Emotionsarbeit und einer Blickumkehr. So versuche ich in meinen Workshops eine
andere Sichtweise auf Privilegien zu etablieren. Denn: Privilegien zu haben bedeutet
häufig weniger belastet durch die Welt zu gehen und potenziell mehr Energie frei zu
haben. Statt sich also für Privilegien zu schämen, versuche ich den Teilnehmenden zu
vermitteln, dass sie froh sein können, bestimmte Erfahrungen nicht machen zu müssen.
Sie können stattdessen ihre Energie und ihren Einfluss nutzen, um Diskriminierung
abzubauen, damit auch andere mehr Kraft und Energie im Alltag zur Verfügung haben.
13 Ebd.
Diversity und Antidiskriminierung als … 167
Autonomie oder ein fairer Umgang14, erfüllt werden. Für die Rolle der Führungskraft
als Coach ist es folglich wichtig, Störungen auf der Beziehungsebene, die aus Dis-
kriminierungserfahrungen resultieren, wahrzunehmen, ernst zu nehmen und besprechbar
zu machen. Dabei geht es zunächst darum, den Raum zu eröffnen, damit Mitarbeitende
ihre Perspektive und ihre – teils schmerzhaften Erfahrungen – teilen können, sofern sie
dies wollen. Empathisches Zuhören ist hier entscheidend, denn viele der Erfahrungen
machen Führungskräfte selbst nicht oder nur bedingt. Als weiße Person mache ich
keine Rassismuserfahrungen im Arbeitskontext. Ich weiß folglich nicht, wie es ist, als
asiatisch gelesene Person während der Corona-Krise von Kund*innen auf einmal schief
angeschaut zu werden oder wie es ist, als Person mit russischem Migrationshintergrund
sich permanent zum Ukraine-Krieg verhalten zu müssen, obwohl ich in Deutschland auf-
gewachsen bin.
Neben dem Zuhören ist es wichtig – ganz im Sinne eines Coachings – zu fragen,
was der*die Mitarbeitende braucht. Wird dabei die Führungskraft in ihren Handlungs-
möglichkeiten adressiert, sollten hier eine reflektierte Einschätzung vorgenommen
werden, um nicht aus einem Impuls des Retten-Wollens Versprechungen zu machen, die
eventuell nicht eingehalten werden können. Solche Reaktionen, die in der Literatur auch
als „White Saviour Complex“15 bezeichnet werden, habe ich in Bezug auf Rassismus
sowohl an mir als auch an Kolleg*innen beobachten können. Dabei treibt eher das eigene
Bedürfnis danach, selbst nicht als rassistisch zu gelten und sich damit von anderen
weißen Personen zu unterscheiden, die Handlungen an als die tatsächliche Unterstützung
der von Diskriminierung betroffenen Person.
In der Rolle als Talentmanager*in gilt es, die Ressourcen und Stärken der Mit-
arbeitenden zu erkennen und diese zu (be)fördern. Klassischerweise wird gemeinsam
ausgelotet, welche Weiterentwicklungswünsche und -perspektiven es gibt und welche
Stärken die jeweilige Partei wahrnimmt. Stereotype beeinflussen bisweilen die Wahr-
nehmung von Stärken und Kompetenzen, weshalb hier für Führungskräfte ein
Perspektivwechsel gewinnbringend sein kann: So kann ich es sowohl als Ressource als
auch als störend einstufen, wenn eine Mitarbeitende mit Schwerbehinderung wiederholt
darauf aufmerksam macht, dass die Arbeitsbelastung zu hoch sei und ihre Gesundheit
leide. Anstatt die Mitarbeitende vorschnell als weniger leistungsfähig abzustempeln,
können wir es uns als Führungskräfte vergegenwärtigen, dass benachteiligte Personen
häufig ein guter Gradmesser dafür sind, was grundlegend in unserer Organisation schief-
läuft. Meistens ist die Arbeitsbelastung an sich viel zu hoch – nur andere Mitarbeitende
haben (noch) nicht gelernt ausreichend auf ihre Gesundheit zu achten und schweigen
daher. Hier liegt der Fehler meist im System und nicht bei den einzelnen Mitarbeitenden.
14 Vgl. ebd.
15 Siehe dazu u. a. Nasir und Abdullah (2021).
168 I. Collien
Als Führungskräfte sollten wir uns beim Thema Talentförderung auch fragen, welche
Beiträge der Mitarbeitenden wir als Erfolg werten und sichtbar machen. Ein Beispiel
aus einem meiner Diversity-Workshops: Im Verkaufsbereich einer großen Organisation
hatte der Chef eine Klingel installiert, die hörbar Verkaufserfolge vermelden ließ. Andere
Aktivitäten hatten keine vergleichbare Möglichkeit der Sichtbarmachung. So wurde die
Beteiligung an einer Arbeitsgruppe, um eine inklusivere Umgebung für Kund*innen
zu schaffen, zwar gutgeheißen, aber der daraus resultierende Leitfaden nicht als Erfolg
gefeiert. Hier zeigt sich wieder die unbewusste und zumeist unbeabsichtigte Logik, dass
eine Auseinandersetzung mit Diversity und Antidiskriminierung eher als Nice-to-have
denn als Teil des Kerngeschäfts gesehen wird.
Die Führungskraft als Vernetzer*in kann sowohl Brücken zu einzelnen Personen als
auch zu Gruppen im Sinne von größeren Netzwerken bauen. Aus Diversity-Perspektive
sind Netzwerke besonders fruchtbar, um Themen aus unterschiedlichen Perspektiven zu
reflektieren und sich externe Expertise zu Vorhaben einzuholen. Führungskräfte haben
qua Position mehr Zugang zu bestehenden Netzwerken bzw. haben sie oft die Autorität
fehlende Netzwerke einzurichten. Damit senden sie nach innen in die Verwaltung hinein
wichtige Signale, dass Kooperation und Zusammenarbeit über Fachressorts hinweg
erwünscht ist.
Wie in den meisten großen Organisationen, so ist auch in der Öffentlichen Verwaltung
das Silodenken mitunter (noch) stark ausgeprägt. Es bedarf hier des aktiven Aufbaus
von Vernetzungsplattformen, in denen Perspektivenvielfalt wertgeschätzt, Expertisen
anerkannt und Differenzen konstruktiv verhandelt werden. Diversitätsorientierte
Kooperationsformen fallen nicht einfach vom Himmel, sondern müssen kollektiv gelernt
werden. Führungskräfte können den Rahmen für solche Kooperationen gestalten,
Erwartungen für Räume setzen und auch hier mit gutem Beispiel vorangehen.
Aufgrund ihrer Position in der Hierarchie haben Führungskräfte häufiger Zugang
zu wichtigen Gremien oder Leitungspersonen, also zu Sichtbarkeits- und Vernetzungs-
kanälen. Gerade für Beförderungen ist es bedeutsam, dass Mitarbeitende nicht nur in
den Köpfen der eigene Führungsperson, sondern auch in anderen Köpfen als kompetent
präsent sind. Hierzu können Führungskräfte (gemeinsam mit den Mitarbeitenden)
reflektieren, welche Plattformen und Vernetzungskontexte es gibt und wie hier Mit-
arbeitende einbezogen werden können. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen,
dass die Hauptpräsentation vor wichtigen Stakeholdern nicht durch die Leitungsperson,
sondern durch eine Mitarbeitende erfolgt oder Nachfragen zuerst von dieser beantwortet
werden.
Solche Strategien des produktiven und bewussten Umgangs mit der eigenen Macht-
position und den Privilegien als Führungskraft wird auch Powersharing genannt. „Der
Diversity und Antidiskriminierung als … 169
Ansatz des Powersharing richtet sich an all diejenigen, die strukturell privilegiert sind
und ein politisches Interesse daran haben, diese Strukturen hin zu einer gerechteren
Verteilung von Macht, Zugängen, Lebens- und Beteiligungschancen zu ver-
schieben.“16
Eine weitere Strategie des Powersharings ist die des Sponsorships.17 Führungskräfte
können hier gezielt den Scheinwerfer auf die Kompetenzen bestimmter Mitarbeitender
richten. Auf Social Media-Plattformen wie LinkedIn lässt sich diese Strategie sehr gut
beobachten, wenn einflussreiche Personen andere offensiv promoten. Insbesondere
Frauen oder auch People of Color wenden die Strategie an, um anderen benachteiligten
Gruppen Sichtbarkeit zu verschaffen. In der Wahrnehmung anderer wirkt sich
Sponsorship auch positiv auf die Person aus, die ihre Plattform zur Verfügung stellt.
Powersharing
Powersharing kann unter anderem aus folgenden Aspekten bestehen:
Themen systematisch von Anfang an zu integrieren. Gleiches gilt auch für New
Work-Konzepte und hier beispielsweise Open Space-Modelle. Ein Großraumbüro
ohne Rückzugsmöglichkeit kann sich bei neurodiversen Personen, die beispiels-
weise ADHS haben und Umgebungsgeräusche und -aktivitäten schlechter ausblenden
können, schneller negativ auf die Arbeitsleistung auswirken.18 Die widersprüchlichen
Effekten solcher offener Bürostrukturen spüren jedoch alle Mitarbeitenden, da im
Schnitt die Konzentration abnimmt, während Interaktion und Kontrolle zunehmen.19
Auch hier gilt wieder: Benachteiligte Mitarbeitende sind oft eine Art Frühwarnsystem
für Verbesserungsbedarfe im System. Umso wichtiger ist es, als Führungskraft in
Innovations- und Veränderungsprozessen auch Räume zu eröffnen, die eine produktive
Auseinandersetzung über unterschiedliche Positionen hinweg ermöglichen.
Räume, in denen Differenzen ausgehandelt werden, werden auch als „brave spaces“
(Mut-Räume) bezeichnet. Brave spaces sind Orte, an denen wir unsere Verschiedenheit
verhandeln, lernen uns zuzuhören und respektvoll Meinungsunterschiede auszutragen
mit der Intention andere Personen zu verstehen. Als Vorbilder können Führungskräfte
daher Räume schaffen, um über Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu sprechen.
Gerade letzteres ist eine Herausforderung für das gesamte Team. Es empfiehlt sich –
gerade zu Beginn einer Auseinandersetzung mit Diskriminierungsthemen – diese Räume
unter Begleitung geschulter Trainer*innen oder Supervisor*innen zu eröffnen.
Brave space
Der Begriff des „brave space“ kommt eigentlich aus der Bildungsarbeit, ins-
besondere dem Feld der Social Justice. Nach Arao und Clemens (2013) weisen
brave spaces fünf Charakteristika auf:
Denn: Die allermeisten von uns haben nicht gelernt über Diskriminierung über ver-
schiedene Diversity-Merkmale hinweg zu sprechen. In einem solchen Prozess werden
wir einander notwendigerweise verletzten und enttäuschen, daher bedarf es geschulter
Personen, die im Zweifel Dynamiken unterbrechen und Perspektivwechsel vornehmen.
20 Der Studie „Out im Office“ zufolge sprechen vier von zehn Führungskräften mit den Mit-
arbeitenden über die eigenen sexuelle Orientierung, während rund ein Viertel mit niemandem
darüber spricht. Bei transgeschlechtlichen Führungskräften spricht etwa die Hälfte der Führungs-
kräfte am Arbeitsplatz nicht offen über ihre Geschlechtsidentität. (vgl. Frohn et al. 2017).
21 Vgl. Krechel-Mohr (2016).
172 I. Collien
zu signalisieren, dass nicht alle Ziele und Aufgaben in vollem Umfang oder einer Top-
Qualität erbracht werden können. Chronisch kranke Personen werden schließlich als
weniger leistungsstark wahrgenommen, was sich – wenn nicht aktiv reflektiert – negativ
auf die Leistungsbeurteilung auswirken kann.
Führungskräfte tragen eine Verantwortung für die Zielerreichung, aber nicht auf
Kosten der eigenen Mitarbeitenden. Prozessoptimierung, Priorisierung und Qualitäts-
management sind drei Möglichkeiten, wie Führungskräfte die Arbeitslast regulieren
können. Gerade Priorisierung ist ein schmerzhafter Prozess, der am Ende aber zu Ent-
lastung führen kann. Und wenn nichts mehr hilft, dann müssen Führungskräfte lernen
Nein zu sagen in einer Umgebung, die bisweilen nicht vielfaltsfreundlich strukturiert ist.
Auch eine gesundheitsverträgliche Arbeitsumgebung ist ein wichtiges Ziel, wenngleich
es dafür nach außen kaum Wertschätzung gibt.
3 Schluss
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Diversity und Antidiskriminierung als … 175
Dr. Isabel Collien, Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke, Hamburg.
Isabel Collien verantwortet seit mehr als zehn Jahren Organisationsentwicklungsprozesse im
öffentlichen Sektor mit Fokus auf Antidiskriminierung, Diversity und Gleichstellung. Sie leitet
aktuell das Referat für Antidiskriminierung und LSBTI* bei der Behörde für Wissenschaft,
Forschung, Gleichstellung und Bezirke in Hamburg. Neben ihrer Berufspraxis forscht und lehrt
sie an der Schnittstelle von kritischen Diversitätsstudien und Organisationsforschung. Sie ver-
öffentlicht in internationalen Fachzeitschriften unter anderem zum Einfluss von Altersstereotypen
auf Altersmanagement, zu kolonialen Kontinuitäten beim Diversity Management oder zu Macht in
Prozessen organisationalen Lernens.
Diversity und New Work
Gabriel Rath
Zusammenfassung
Die Arbeitswelt ist im Wandel. Spätestens seit dem Erscheinen der reichweiten-
starken Apothekenrundschau am 15. November 2020, die das Thema auf der Titelseite
prominent platzierte, ist New Work in der öffentlichen Diskussion der Gesellschaft
angekommen. Und auch wenn vielen Organisationen, die sich mittlerweile intensiv
damit beschäftigen, wie die Zukunft der Arbeit aussehen könnte, gar nicht immer
klar ist, woher der Begriff „New Work“ stammt – die Dringlichkeit, sich damit zu
beschäftigen, ist offenkundig. Treiber wie die Digitalisierung, die Globalisierung
und auch der Fachkräftemangel, der sich bereits vor vielen Jahren ankündigte,
erzwingen heute ein Umdenken. Dazu kommt auch der gesellschaftliche Wandel,
der sich in der Transformation der Arbeitswelt widerspiegelt. Es geht allerdings nicht
nur darum, anders zu arbeiten, sondern gleichzeitig das weiterzuführen, was sich
positiv etabliert hat. Die digitale Transformation der Arbeitswelt, die seit dem Früh-
jahr 2020 in jede Kommune des Landes vordrang, entpuppte sich nach und nach als
kulturelle Transformation, die wiederum auf einer gelebten Diversität fußt. Im Mittel-
punkt steht die Frage, die für den Erfolg ausschlaggebend ist: Wie wollen wir künftig
zusammenarbeiten? Und davon ausgehend: Wie können wir Diversität als Konzept
implementieren, um nachhaltiger und so auch erfolgreicher zu agieren?
G. Rath ( )
Deutscher Sparkassen- und Giroverband, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 177
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_13
178 G. Rath
Schlüsselwörter
1 Einleitung
Die Arbeitswelt ist im Wandel. Spätestens seit dem Erscheinen der reichweiten-
starken Apothekenrundschau am 15. November 2020, die das Thema auf der Titelseite
prominent platzierte, ist New Work in der öffentlichen Diskussion der Gesellschaft
angekommen. Und auch wenn vielen Organisationen, die sich mittlerweile intensiv
damit beschäftigen, wie die Zukunft der Arbeit aussehen könnte, gar nicht immer klar ist,
woher der Begriff „New Work“ stammt – die Dringlichkeit, sich damit zu beschäftigen,
ist offenkundig. Treiber wie die Digitalisierung, die Globalisierung und auch der Fach-
kräftemangel, der sich bereits vor vielen Jahren ankündigte, erzwingen heute ein
Umdenken. Dazu kommt auch der gesellschaftliche Wandel, der sich in der Trans-
formation der Arbeitswelt widerspiegelt.
Es geht allerdings nicht nur darum, anders zu arbeiten, sondern gleichzeitig das
weiterzuführen, was sich positiv etabliert hat. Die digitale Transformation der Arbeits-
welt, die seit dem Frühjahr 2020 in jede Kommune des Landes vordrang, entpuppte sich
nach und nach als kulturelle Transformation, die wiederum auf einer gelebten Diversität
fußt. Im Mittelpunkt steht die Frage, die für den Erfolg ausschlaggebend ist: Wie wollen
wir künftig zusammenarbeiten? Und davon ausgehend: Wie können wir Diversität als
Konzept implementieren, um nachhaltiger und so auch erfolgreicher zu agieren.
„Das Ziel der neuen Arbeit besteht nicht darin, den Menschen von der Arbeit zu befreien,
sondern die Arbeit so zu transformieren, dass sie freie, selbstbestimmte, menschliche Wesen
hervorbringt.“ (Frithjof Bergmann)
Lange wurde es von den Medien bemüht – das Klischee der agil arbeitenden Berlin-
Mitte Startups, die nur 4 Tage die Woche arbeiten und sich halbtags in bunten
Bällebädern aufhalten. Wäre New Work nur etwas für hippe, Latte-Macchiato-
schlürfende-Wissensarbeitende, die sich selbst organisieren? Tatsächlich ist es gar nicht
so einfach den Begriff „New Work“ zu fassen, da er mittlerweile für viele Ausprägungen
der neuen Arbeitswelt herhalten muss. Nicht wenige Unternehmen meinen damit die
mobile Arbeit, die sich während der Corona Zeit etablierte. Wieder andere verweisen auf
neue Organisationsmodelle, einen neuen Fokus auf Eigenverantwortung, einen anderen
Umgang mit dem Thema Gehalt und last but not least die neue Diversität in unseren
Organisationen.
Diversity und New Work 179
Im Kern lassen sich 5 Prinzipien dieses Konzepts herausstellen, die auf den Gründer
der New Work-Beratung Humanfy und Verfasser der New Work-Charta, Markus Väth,
zurückgehen. Er betont die Bedeutung von Freiheit, Selbstverantwortung, Sinn, Ent-
wicklung und sozialer Verantwortung bei der Arbeit (Bußmann 2019). Doch arbeitet
man sich durch die Literatur, kommt man schnell auf weitere Interpretationen, die unter-
schiedliche Aspekte betonen. Ob zum Beispiel die Neuverteilung der Verantwortung
im Zentrum steht, ist höchst umstritten. Das „Harvard Business Manager“-Magazin
fasste die Kritik an dem Begriff zusammen und titelte provokant „Die New Work Lüge“
(Harvard Business Manager 2020). Dabei lohnt sich in der Debatte der Blick zurück auf
den Erfinder und Vordenker der neuen Arbeit: Frithjof Bergmann.
Arbeiten ist nicht nur mit neuen digitalen Werkzeugen, sondern auch mit neuen Fähig-
keiten und einer neuen Haltung verbunden. Organisationen tun also gut daran, sich
lernend mit dem neuen Dreiklang „Skillset, Toolset, Mindset“ zu beschäftigen.
Die weitreichenden Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft, aber auch Umwelt,
bringen neue Herausforderungen mit sich, denen Organisationen sich stellen müssen,
um zukunftsfähig zu bleiben. Angefangen bei der Frage, wie man dem Fachkräftemangel
begegnet, über die Verantwortung, das Thema Klimawandel anzugehen bis hin zur
Gestaltung der Kultur im Sinne einer gelebten Diversität.
New Work gilt heute als menschzentrierte oder auch menschenfreundliche Art der
Zusammenarbeit. In der Vergangenheit war die Arbeitswelt geprägt vom sogenannten
Taylorismus, einem Konzept des amerikanischen Ingenieurs Frederick Taylor. Es beruht
auf dem Prinzip einer Prozesssteuerung von Arbeitsabläufen, die von einem auf Arbeits-
studien gestützten und arbeitsvorbereitenden Management detailliert vorgeschrieben
werden und für die der Begriff Scientific Management geprägt wurde. Mitarbeitende
nannte man folgerichtig humane Ressourcen, die man nach Bedarf hoch- und wieder
runterfahren konnte, um die Maschine bestmöglich am Laufen zu halten. Erst Frithjof
Bergmann betonte den Wert der Individualität und warb für eine neue Perspektive auf
Arbeit, die den Menschen stärken sollte, statt ihn zu schwächen. Die Zusammenarbeit
von Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichem Alter, unterschied-
licher sexueller Orientierung und Religion war nach diesem Modell nicht nur ganz neu
denkbar, sondern wünschenswert. Arbeit sollte nicht mehr ein Business-Theater sein,
bei dem man eine Rolle spielt, um zu gefallen. Arbeit sollte ein Ort sein, in dem das
Menschsein in all seinen Facetten ausdrücklich gefördert würde.
Die Idee, dass Mitarbeitende sich mit ihren Talenten und Stärken einbringen und in
ihrer Unterschiedlichkeit produktiv zusammenarbeiten könnten, leuchtete schon früh
den amerikanischen Tech-Unternehmen wie zum Beispiel Google ein. So repräsentiert
das bunte Logo der von Sergey Brin und Larry Page entwickelten Suchmaschine Google
heute eine Vielfalt, auf die man auch aus wirtschaftlichen Gründen großen Wert legt.
In einer Welt, in der die Firmen triumphierten, die die besten Ideen entwickeln und
dann erfolgreich auf die Straße bringen würden, stellte sich natürlich die Frage: Unter
welchen Bedingungen gelingt Innovation? Tatsächlich gibt es hier einen relevanten
Zusammenhang.
Diversity und New Work 181
Während ein Teil der Organisationen sich lange schwer tat mit dem Thema Diversi-
tät am Arbeitsplatz, auch weil man zusätzliche Spannungen aufgrund der Heterogeni-
tät befürchtete, beschäftigte sich der andere Teil mit den Vorteilen einer inkludierenden
Unternehmenskultur, die auf Vielfalt setzt.
Einer Studie der Boston Consulting Group, die 2016 in 171 Unternehmen aus
Deutschland, Österreich und der Schweiz durchgeführt wurde, zeigte sehr deutlich die
Korrelation zwischen Diversität und Innovationsleistung (Lorenzo et al. 2017). Dabei
stellte sich heraus, dass gerade die Diversität in den Dimensionen „Branchenzugehörig-
keit“, „Herkunftsland“, „Geschlecht“ und „beruflicher Werdegang“ zu mehr Agilität
und einer erhöhten Innovationsleistung führen würden. Hintergrund ist, dass homogene
Teams dazu tendieren sich zu bestätigen und so nicht selten blinde Flecken haben.
Unternehmen mit einer heterogenen Mitarbeiterstruktur hingegen blicken mit unter-
schiedlichen Sichtweisen auf die aktuellen Probleme. Das breitere Spektrum an Fach-
kenntnissen, Erfahrungen und kritischen Urteilen führt zu neuen Ideen und passenden
Lösungen. In einer Welt, in der Kund*innen wechselnde und individuelle Ansprüche
haben, brauchen Organisationen Kreativität und die Fähigkeit, sich innerhalb kurzer Zeit
an neue Umstände anzupassen. Dies können vielfältige Belegschaften besser abbilden.
Dazu kommt, dass Mitarbeitende, die zum Beispiel ihre sexuelle Orientierung nicht
verstecken müssen, befreiter und motivierter an die Arbeit gehen, wie eine Studie der
Stiftung „Prout at Work“ herausfand. Mittlerweile hat sich die Sicht in breiten Teilen der
deutschen Wirtschaft durchgesetzt. So betonte Johannes Richtberg Nohl, Vorsitzender
des Vattenfall LGBT Netzwerks Rainbow Network: „Vattenfall braucht neue Ideen und
unterschiedliche Sichtweisen. Eine Kultur der Vielfalt ist dafür unabdingbar“ (Vattenfall
2019).
Eine diverse und inkludierende Kultur entsteht nicht von allein. Sie muss gestaltet
werden. Es beginnt beim Selbstverständnis, äußert sich dann im Recruiting und
anschließend in der Strukturierung der Arbeitsabläufe. Ein strategisches Diversity
Management kümmert sich zielgerichtet darum, die Vielfalt in der Organisation zu
fördern und auch zu nutzen. Diversity Management beinhaltet aber auch die Beseitigung
von Barrieren und Diskriminierungen sowie die Schaffung von Umgebungen, die für
alle Mitarbeitenden inklusiv sind. Dabei gibt es ein breites Handlungsfeld, angefangen
bei der Beseitigung des Gender Pay Gaps, also der Schaffung fairer Gehälter, über die
Etablierung einer neuen Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben für Menschen in unter-
schiedlichen Lebensphasen bis hin zum Thema Frauen in Führungspositionen. Damit
verbunden geht es auch um die Förderung neuer New Work-Kompetenzen wie Konflikt-
182 G. Rath
Die Bezeichnung „Bias“ kommt aus dem Englischen und bedeutet Befangenheit,
Neigung, Vorurteil. Unconscious Bias sind demnach unbewusste kognitive Verzerrungen,
wie zum Beispiel automatische Stereotypen, und andere unbewusste Denkmuster, die
tief verwurzelt sind. Zusammenfassend verstehen wir darunter unsere blinden Flecken,
also unbewusste Vorurteile, die unser alltägliches Verhalten beeinflussen. Sie verein-
fachen den Alltag zwar und reduzieren die Komplexität der permanent fließenden
Informationen. Allerdings gibt es auch eine Schattenseite. Wir tendieren dazu, uns mit
Gleichgesinnten zu umgeben, auch bei der Arbeit.
Die Herausforderung besteht also darin, Vorurteile abzubauen, bevor sie sich ver-
festigt haben. Gerade die Personalabteilung sollte sich beim Recruiting bewusst
machen, wie der Unconscious Bias wirkt, um nicht aufgrund von Sympathie oder Ähn-
lichkeit wertvolle Fähigkeiten zu übersehen. Schon Albert Einstein deutete allerdings
darauf hin, wie hartnäckig sich Vorurteile halten. „Es ist leichter, einen Atomkern zu
spalten als ein Vorurteil.“ Auch die Deutsche Bahn beschäftigt sich seit einigen Jahren
mit diesem Thema. 2016 wurde das erste Mal im Intranet ausführlich über die Ent-
stehung und Wirkung von unbewussten Vorurteilen informiert. Ein Erklärfilm und
e-Postkarten mit Karikaturen über das Verhalten von Vätern in Elternzeit, Frauen,
Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund und älteren Menschen
sollten das Verständnis erhöhen. Speziell für Recruiter*innen und Führungskräfte
wurden Workshops entwickelt, in denen über die Arbeit des Gehirns, die Wirkung von
Gruppendynamiken sowie über konkrete Beispiele von Biases informiert wurde. Da die
Resonanz sehr positiv war, nahm man das Thema als Jahresthema 2020 unter dem Motto
„Mehr sehen. Mehr erkennen. Mehr erreichen.“ nochmals auf. Um Vorurteile abzubauen,
eignen sich Netzwerke als Orte der Begegnung. Diese können sowohl offline als auch
online als Community des sozialen Intranets organisiert werden.
Diversity und New Work 183
Um diese Themen besprechbar zu machen und den Dialog dazu zu fördern, werden nicht
selten Communitys innerhalb der Organisation gegründet, in denen sich Gleichgesinnte
austauschen können. Im internen sozialen Netzwerk der Telekom, die sich Corporate
Social Responsibility schon vor Jahren auf die Fahnen geschrieben hat, um Gleich-
stellung zu fördern, gibt es zum Beispiel mehrere Communitys, die standortübergreifend
funktionieren.
Dazu gehört auch das LGBT*IQ-Mitarbeiternetzwerk MagentaPride. Seit 2002
setzt man sich dafür ein, Vorurteile abzubauen und bewusst die Vielfalt zu fördern.
„MagentaPride geht zusammen auf Pride Paraden, veranstaltet Diversity Tage und
Workshops. In den vergangenen Jahren war Magenta Pride mit rund 250 Kolleg*innen
auf dem ColognePride vertreten. Mit der Magenta Pride Flagge steht die Telekom für
Akzeptanz, Vielfalt, Chancengleichheit“, schrieb die Telekom-Mitarbeiterin Noelle Krein
im Firmenblog (Krein 2019).
Neben der oben beschriebenen Diversität als Ausdruck einer neuen Arbeit zählt man
heute die Themen Gleichbehandlung (Inclusion) und Gleichstellung (Equity) grund-
sätzlich dazu. Im Gegensatz zu „one-size-fits-all“ wird jedes Individuum also durch
passende Maßnahmen empowered, gleiche Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten
wahrzunehmen.
Um diese Geschichten des täglichen bunten Miteinanders zu erzählen, rief man bei
der Verwaltung der Landeshauptstadt München ein einzigartiges Projekt ins Leben. Als
Teil einer internen Kommunikationskampagne wurden unter dem Arbeitstitel „Inter-
kulturelles Geschichtenbuch“ zehn städtische Mitarbeiter*innen mit Migrationshinter-
grund porträtiert, jeweils fünf Frauen und Männer mit Wurzeln in Italien, Spanien,
Türkei, Chile, Brasilien, Tunesien, Indien und Japan. Ergänzt wurde die Geschichte eines
Mitarbeiters, der aus dem Münsterland stammte und für die Arbeit bei der Landeshaupt-
stadt nach München gezogen war. Die Geschichten sollten die Vielfalt dokumentieren
und den Kolleg*innen so dabei helfen, sich besser kennenzulernen und somit Vorurteile
und Berührungsängste abzubauen. Das Buch „München arbeitet bunt“ war ein voller
Erfolg, den man sowohl im Intranet als auch auf der Webseite vorstellte (Landeshaupt-
stadt München 2017).
Die amerikanische Aktivistin Verena Myers sagte einmal: „Diversity is being invited
to the party and inclusion is being asked to dance.“ Dieses Zitat unterstreicht die Heraus-
forderungen, denen Organisationen sich stellen. New Work als ein neues, faires und
nachhaltiges Miteinander bei der Arbeit erfordert demnach viel Arbeit an der Kultur und
184 G. Rath
lässt sich nicht kurzfristig erreichen. Umso wichtiger ist es, diese Entwicklung nicht
hinter geschlossenen Türen zu verhandeln, sondern transparent in Richtung der Mit-
arbeitenden, aber auch Kund*innen zu kommunizieren. Auch die BVG, die Berliner
Verkehrsbetriebe, nahmen das Thema auf die Agenda. Getreu dem Motto: „Wir sind
ein Abbild von Berlins Diversität – also bilden wir diese jetzt auch in unseren Bussen
und Bahnen ab“, konzipierte man die „Muster der Vielfalt“. Dabei handelte es sich um
neue Sitzmuster, die aus verschiedenen Silhouetten von echten Menschen bestanden.1
Das Feiern der Vielfalt kommt auch bei Bewerber*innen gut an und wirkt somit auch
proaktiv in Richtung der Arbeitgebermarke, die in Zeiten des Fachkräftemangels noch
wichtiger wird.
11 Fazit
Die neue Arbeitswelt ist heute geprägt von hybriden Modellen, dem Einsatz
digitaler Tools, künstlicher Intelligenz und gleichzeitig einer großen Sehnsucht der
Menschen nach mehr Sinn. Frühere Karrierepfade sind ausgetreten und reizen jüngere
Generationen kaum noch. Im Vordergrund steht heute die Frage, wie man eine Arbeit
finden kann, die sich mit dem Leben vereinbaren lässt. Außerdem möchte gerade
die Gen Z wissen, welchen Beitrag Organisationen heute leisten, um die aktuellen
Probleme wie die Klimakrise anzugehen. Mit der Corona-Krise als Beschleuniger der
Digitalisierung setzten sich New Work-Modelle rasant durch. Doch die digitale Trans-
formation ist im Kern eine kulturelle Transformation.
Organisationen tun daher gut daran, das Konzept der Diversität zu implementieren,
um einerseits als fairer Arbeitgeber im Fachkräftemangel zu punkten und anderer-
seits schneller auf neue Ideen zu kommen. Innovation wird auch in der Verwaltung ein
noch größeres Thema werden, auch wenn die Rahmenbedingungen andere sein mögen
als bei Tech-Startups im Silicon Valley. Diversity ist als ein zentrales Element von New
Work nicht mehr wegzudenken. Sie entsteht jedoch nicht von allein, sondern sollte von
der Führungsebene gewollt und vorgelebt werden. Dazu braucht es ein Diversitäts-
management, das eng vernetzt mit allen Bereichen der Organisation zusammenarbeitet,
auf dass die Vielfalt sich entfalten kann und Arbeit den Menschen wieder stärkt, ganz im
Sinne des New Work-Vordenkers Frithjof Bergmann.
Literatur
Behrens, Batrix (2021). Diversität: eine Herausforderung für das Personalmanagement der Zukunft
in der Verwaltung. https://www.vdz.org/personalmanagement-new-work/diversitaet-eine-
herausforderung-fuer-das-personalmanagement.
Bußmann, Nicole (2019). Interview „Charta für New Work Statement für zukunftsweisende
Arbeit“ mit Markus Väth, Juli 2019. https://www.managerseminare.de/ms_Artikel/Charta-fuer-
New-Work-Statement-fuer-zukunfts-weisende-Arbeit,272049.
Harvard Business Manager (2020). Ausgabe Nr. 12 vom 16.11.2020. Hamburg.
Krein, Noelle (2019). Telekom lebt Diversity. https://www.telekom.com/de/blog/karriere/karriere/
telekom-lebt-diversity-582330.
Landeshauptstadt München (2017). Interkulturelles Geschichtenbuch. https://stadt.muenchen.de/
infos/karriere-diversity.html.
Lorenzo, Rocio/Voigt, Nicole/Schetelig, Karin/Zawadzki, Annika/Welpe, Isabelle/Brosi,
Prisca (2017). The Mix that Matters. Innovation through Diversity. https://www.bcg.com/
publications/2017/people-organization-leadership-talent-innovation-through-diversity-mix-that-
matters.
Truffls (2020). Vielfalt 2020 – Die truffls Studie zur Wahrnehmung von Diversity in deutschen
Unternehmen. Berlin.
Vattenfall (2019). Artikel „Was Diversität mit Innovation zu tun hat“. https://group.vattenfall.com/
de/newsroom/blog/2019/april/was-diversity-mit-innovation-zu-tun-hat.
186 G. Rath
Gabriel Rath, Deutscher Sparkassen- und Giroverband. Gabriel Rath verantwortet bei dem
Deutschen Sparkassen- und Giroverband das Thema New Work und Organisationsentwicklung.
Der dreifache Vater ist außerdem als Keynote Speaker zu den Themen New Work und Vereinbar-
keit unterwegs, sprach u. a. bereits auf der CeBit, re:publica und Corporate Learning Conference.
Seit 2018 ist es außerdem Host des New Work Chat Podcasts, in dem er bereits mit mehr als 150
Expert*innen interviewte. Außerdem ist er Gründer der preisgekrönten Crowdfunding Initiative
„Eisbademeisters“, die seit 2020 in mittlerweile 5 Städten Spenden für den guten Zweck sammelt.
Teil IV Diversity in der Verwaltungsorganisation
verankern
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
S. Dudek ( )
Land Berlin, Berlin, Deutschland
I. Collien
Freie und Hansestadt Hamburg, Hamburg, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 189
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_14
190 S. Dudek und I. Collien
1 Einleitung
Ist ein Haus für eine Giraffe gebaut, passt ein Elefant nur hinein, wenn das Haus grund-
legend umgestaltet wird. Mit dieser Geschichte unterstreicht der Organisationsberater
Roosevelt Thomas Ende der 1990er Jahre, dass Diversity Management Organisationen
von Grund auf verändert.1 In diesem Beitrag beschreiben wir Diversity Management
entsprechend als Organisationsentwicklungsprozess, der eine Transformation von
Verwaltung auf individueller und struktureller Ebene erforderlich macht. Die Ziele,
Struktur und Governance der öffentlichen Verwaltung führen dabei dazu, dass Diversity
Management sich hier (in Teilen) von privatwirtschaftlichen Diversity-Ansätzen unter-
scheidet.2
Wir schreiben diesen Beitrag als Diversity-Praktikerinnen mit Wissenschaftshinter-
grund, die aktuell Diversity-Prozesse auf Landesebene in Verwaltungen vorantreiben.
Dementsprechend werden sowohl Fragestellungen aufgegriffen, die uns im Verwaltungs-
alltag begegnen als auch wie aktuelle (Forschungs-)Entwicklungen im Feld dargestellt
werden.
Wir vertreten einen menschenrechtlich basierten Diversity-Ansatz. Das heißt, Ver-
waltungen haben die Aufgabe, gesellschaftliche Teilhabe zu fördern, Diskriminierung
abzubauen und einen gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Gütern zu ermög-
lichen. Wir sind der Ansicht, dass diese Motivation nicht grundsätzlich mit ökonomisch
argumentierenden Ansätzen (z. B. Diversity als Strategie gegen Fachkräftemangel)
kollidiert. Gleichzeitig bedeutet der Fokus auf Menschenrechte, dass es bei Diversity
Management in Verwaltungen nicht primär um den Nutzen für die Organisation, sondern
um Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Verwirklichung von Selbstbestimmung und
des gesellschaftlichen Zusammenhalts geht.
2 Hauptteil
Als Exekutive des Staates setzt die Verwaltung politische Entscheidungen um und bietet
öffentliche Dienstleistungen an. Damit einher geht ein Selbstverständnis, dem ent-
sprechend die öffentliche Verwaltung auf der Grundlage von Gesetzen bzw. politischen
Beschlüssen „für Stabilität, Verbindlichkeit, Rechtstreue und vor allem Verlässlichkeit“3
zu sorgen habe.
Die Orientierung an Werten wie Stabilität oder Gemeinwohl stellt einen großen
Mehrwert von Öffentlichen Verwaltungen als Organisationen dar. Gleichzeitig sind Ver-
waltungen im Vergleich zu Unternehmen wesentlich langsamer darin, effektive Praktiken
1 Thomas (1999).
2 Bogumil (2021).
3 Lévesque und Michl (2018: 41).
Diversitätsbewusste Organisationsentwicklung 191
4 Vuca steht als Akronym für die englischen Begriffe Unbeständigkeit (volatility), Unsicherheit
(uncertainty), Komplexität (complexity) und Mehrdeutigkeit (ambiguity).
5 Bogumil (2021).
diversity-landesprogramm/leitbild/.
10 Vgl. Kühl (2011).
Diversitätsbewusste Organisationsentwicklung 193
Es ist von großem Vorteil, einen offiziellen Auftrag zu haben, um eine Diversity-
Strategie zu entwickeln und entsprechende Maßnahmen umzusetzen. Dieser Auf-
trag kann in der Verwaltung aus unterschiedlichen Quellen, wie bspw. Gesetzen oder
aus dem parlamentarischen Raum, resultieren. So ist – nach vielen Jahren der Arbeit
am Thema – im Jahr 2020 das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz12 (LADG)
beschlossen worden. Darin wird beispielsweise die Förderung einer Kultur der Wert-
schätzung von Vielfalt und das Vorgehen gegen Diskriminierung als durchgängiges
Leitprinzip definiert und öffentliche Stellen aufgefordert, ihre Geschäftsprozesse auf
strukturelle Diskriminierungsgefährdungen zu prüfen und geeignete Gegenmaßnahmen
zu ergreifen. Zudem ist im LADG festgehalten, dass der Senat landesweite Maßnahmen
zur Förderung einer Kultur der Wertschätzung von Vielfalt in der Verwaltung fördert,
diese stetig fortentwickelt und darüber dem Abgeordnetenhaus berichtet (§ 12 LADG).
Eine derartige gesetzliche Vorgabe hat den Vorteil, dass sie Regierungen überdauert,
der gesetzliche Auftrag ein starkes Argument für nachhaltige Ressourcenbereitstellung
ist und somit eine gewisse Kontinuität sichergestellt wird. Allerdings ist das reine Vor-
liegen einer gesetzlichen Grundlage keineswegs ein Selbstläufer und es kann auch
11 Critical Friends sind externe Expert*innen, die den Kontext gut kennen und mit einer wohl-
wollenden Grundhaltung Feedback geben. Dieses kann auch kritisch und provozierend sein, bleibt
jedoch immer konstruktiv (vgl. Costa und Kallick 1993).
12 https://www.berlin.de/sen/lads/recht/ladg/
194 S. Dudek und I. Collien
nicht erwartet werden, dass alle Verwaltungen nun entsprechende Umsetzungen voran-
bringen. Auch Gesetze müssen kommuniziert und in praktisches Handeln übersetzt
werden. So führte 2018 in der Hamburger Verwaltung eine offizielle Abfrage im Rahmen
der Evaluation der Antidiskriminierungsstrategie dazu, dass die seit 2006 gesetzlich
vorgeschriebenen AGG-Beschwerdestellen13 in einigen Dienststellen erst eingerichtet
wurden.
Wenn es keine gesetzliche Grundlage zur Entwicklung einer Diversity-Strategie oder
zur Umsetzung von einzelnen Maßnahmen gibt – und das ist die Regel – empfehlen die
Autor*innen, sich um einen entsprechenden politischen Auftrag, z. B. in Form eines ent-
sprechenden Beschlusses der Regierung, zu bemühen. Wenn ein politischer Beschluss
vorliegt, sind Verwaltungen daran gebunden, diesen umzusetzen und sich an den hierfür
notwendigen Gremien und Fachrunden zu beteiligen. In Hamburg erhielt die Verwaltung
beispielsweise durch ein Bürgerschaftliches Ersuchen den Auftrag, Eckpunkte für die
Fortschreibung der Antidiskriminierungsstrategie zu entwickeln und der Bürgerschaft
dazu zu berichten. Im Ersuchen war auch festgehalten, dass sowohl zivilgesellschaft-
liche Akteur*innen als auch Expert*innen aus der Wissenschaft sowie der Antidis-
kriminierungsarbeit an der Eckpunkte-Entwicklung zu beteiligen seien.
Mit Blick auf Regierungsbeschlüsse kann es herausfordernd sein, Kontinuität über
die Laufzeit der jeweiligen Regierung sicherzustellen bzw. sollte die Legislatur stetig
mitgedacht werden. Das Lieblingsprojekt einer Regierung wird bei einem Politik-
wechsel nicht zwangsläufig auch von der Nachfolgeregierung so positiv betrachtet. Ein
politischer Beschluss sollte ferner mit Ressourcen für die Umsetzung unterlegt sein, was
leider keine Selbstverständlichkeit darstellt.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass gerade am Anfang von Diversity-Prozessen weder
eine gesetzliche Grundlage/ein politischer Beschluss noch ein geteiltes Verständnis
von der Dringlichkeit des Anliegens geschweige denn Ressourcen zur Umsetzung von
Diversity-Maßnahmen in der Verwaltung vorhanden sind. Das kann frustrierend sein und
in diesem Fall leuchten – zumindest mit Blick auf die Literatur zur Organisationsent-
wicklung – rote Lampen auf (vg. z. B. Kotter 1997). Für uns bedeutet dies nicht auto-
matisch „Hände weg!“, denn wir haben beide schon Personen gesehen, die äußerst
engagiert und manchmal bis an den Rand der eigenen Ressourcen Diversity-Themen in
Verwaltungshandeln eingebracht haben. Mit langem Atem und ein wenig Glück lassen
sich neue Themen manches Mal langfristig strukturell verankern. Dabei möchten wir
aus eigener Erfahrung empfehlen, die eigenen Ressourcen zu berücksichtigen, sich
Netzwerke zu suchen und lieber an kleineren Diversity-Projekten, die umsetzbar sind,
zu arbeiten als an einer zu großen Aufgabe, die mit begrenzten Ressourcen und mit
fehlendem Backup kaum erfolgreich umsetzbar ist.
13 Mehr zum Thema Beschwerdeverfahren und -stellen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungs-
gesetz findet sich in einer Expertise im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2010).
Diversitätsbewusste Organisationsentwicklung 195
2.3 Kommunikation
2.4 Netzwerke
Netzwerke sind für Veränderungsprozesse wie die Luft zum Atmen. Dies gilt ins-
besondere auch für Diversity Management. Um eine inklusive und diskriminierungs-
gehalten werden und wiederholte Zulieferungsbitten für Maßnahmen führen – auch bei
motivierten Kolleg*innen – zu Ratlosigkeit bis Frust.
Diversity-Bereiche können aus merkmalsübergreifender Perspektive eine Plattform
schaffen, um merkmalsspezifisch arbeitende Bereiche zu verzahnen. Vernetzung ist
hier auf Landes- und Bezirksebene sinnvoll. Ziel kann es sein, hinderliche Strukturen
und Prozesse sowie potenziell förderliche Aspekte zu identifizieren, von denen mehrere
Gruppen „betroffen“ sind. Weiterhin kann darüber nachgedacht werden, wie die Teil-
strategien besser verzahnt werden können oder wie Abfragen und Fachrunden so
koordiniert werden, dass sie sich nicht in bestimmten Monaten stauen. Wünschenswert
wäre auch, ähnlich Aufträge miteinander zu verzahnen, um Doppelstrukturen und damit
die doppelte Arbeitsbelastung zu vermeiden.
Perspektivisch könnte darüber nachgedacht werden, ob nicht eine übergreifende
Gesamtstrategie zu Diversity/Antidiskriminierung sinnhaft wäre, von der aus sich die
Teilstrategien weiterverzweigen. Die Stadt Paris hat beispielsweise mit dem Plan Égalité
2021–2023 einen ersten Schritt in Richtung Gesamtstrategie geschaffen.18 Es werden
Handlungsschwerpunkte definiert, die sowohl Ziele zur Gleichstellung von Frauen und
Männern, Antidiskriminierung als auch Inklusion beinhalten. Damit sind die Bereiche
noch nicht wirklich integriert, aber es wird deutlich, dass Überschneidungen bestehen
und alle zu mehr Teilhabe und Gleichberechtigung beitragen. Um die bestehenden
Strategien effizient und nachhaltig verzahnen zu können, bräuchte es eine politische Ent-
scheidung, da es sich bei den bestehenden Strategien in der Regel um Aufträge aus dem
politischen Raum oder die Umsetzung gesetzlicher Grundlagen handelt.
8f7734339d40100d0.pdf.
Diversitätsbewusste Organisationsentwicklung 199
Kompetenzen nicht aus. Diversity-Kompetenz ist nicht nur Sozial- sondern auch Fach-
kompetenz. Die für das landesweite Personalmanagement zuständige Berliner Senats-
verwaltung für Finanzen erläutert 2021 in einem Rundschreiben, welche Definition und
welche Operationalisierungen von Diversity Kompetenzen in Anforderungsprofilen für
Mitarbeitende und Führungskräfte aufgenommen werden sollen. Dabei wird Diversity
Kompetenz auch als Fachkompetenz definiert.19
Grundsätzlich kann Diversity Kompetenz – in Anlehnung an pädagogische Kompetenz-
modelle – in drei Bestandteile unterteilt werden: Wissen, Haltung und Können20.
und-verwaltung/rundschreiben/download.php/4327441.
20 Eine ähnliche Aufteilung findet sich auch bei Dreas und Rastetter (2016) oder Oppermann
(2018).
200 S. Dudek und I. Collien
3 Schluss
gewinnt und somit zu hoffen ist, dass es zukünftig nicht nur rhetorisch, sondern auch
faktisch – in Form von Ressourcen – mehr Rückenwind für die Umsetzung einer diversi-
tätsorientierten Organisationsentwicklung in Verwaltungen geben wird.
Wir hoffen, Menschen mit diesem Artikel ermutigt zu haben, aktiv zu werden und
je nach Ressourcen kleinere oder größere Diversity-Aktivitäten in ihren Verwaltungen
umzusetzen.
Literatur
Dr. Sonja Dudek, Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung, Berlin; Sonja
Dudek leitet aktuell das Referat Diversity und Chancengleichheit in der Senatsverwaltung für
Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung in Berlin. Sie hat Psychologie studiert und in Soziologie
mit einer Arbeit zum Umgang mit Vielfalt in der Polizei promoviert. Darüber hinaus hat sie eine
Ausbildung zur Organisationsberaterin absolviert. Sonja Dudek beschäftigt sich theoretisch und
praktisch seit über 10 Jahren mit der Analyse des Umgangs von Organisationen mit Heterogenität
und der Konzeption und Umsetzung von Diversity-Strategien in Organisationen, insbesondere im
öffentlichen Sektor.
Dr. Isabel Collien, Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke, Hamburg.
Isabel Collien verantwortet seit mehr als zehn Jahren Organisationsentwicklungsprozesse im
öffentlichen Sektor mit Fokus auf Antidiskriminierung, Diversity und Gleichstellung. Sie leitet
aktuell das Referat für Antidiskriminierung und LSBTI* bei der Behörde für Wissenschaft,
Forschung, Gleichstellung und Bezirke in Hamburg. Neben ihrer Berufspraxis forscht und lehrt
sie an der Schnittstelle von kritischen Diversitätsstudien und Organisationsforschung. Sie ver-
öffentlicht in internationalen Fachzeitschriften unter anderem zum Einfluss von Altersstereotypen
auf Altersmanagement, zu kolonialen Kontinuitäten beim Diversity Management oder zu Macht in
Prozessen organisationalen Lernens.
Erarbeitung und Integration eines
Diversity Leitbildes in Verwaltungen
Stefan Fuerst
Zusammenfassung
Dieser Fachbeitrag beschäftigt sich mit der Entwicklung eines Leitbildes und
der Arbeit mit einem Leitbild für das Diversity Management innerhalb einer
Organisation. Es wird beleuchtet, wozu es überhaupt gut ist und welchen Nutzen die
Organisation intern und extern daraus ziehen kann. Es werden zahlreiche Impulse
gegeben, welche Entwicklungsansätze gewählt werden können, auf was bei der Wahl
des Teilnehmendenkreises geachtet werden sollte sowie welche Fallstricke während
der Bearbeitung auftreten könnten. Außerdem werden Aspekte der weiteren Ver-
wendung und Integration eines Leitbildes gegeben. Anhand eines praktischen Bei-
spiels der Berliner Verkehrsbetriebe wird eine Herangehensweise der Entwicklung
näher beleuchtet.
Schlüsselwörter
S. Fuerst ( )
DRV Bund, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 203
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_15
204 S. Fuerst
1 Einleitung
Leitbilder sind nahezu überall in unserer Welt anzufinden. Unternehmen haben Leit-
bilder, in denen sie die Idee ihres Wirkens und Handelns darlegen. Parteien haben Leit-
bilder oder Parteigrundsätze, die die Leitplanken ihrer Vorstellung unserer Gesellschaft
fixieren. Aber auch ganze Generationen oder Einzelpersonen haben ein eigenes, aber
oft nicht fixiertes und oft auch unbewusstes (Leit-) Bild davon, was ein gutes Leben
bedeutet und wie es erreicht werden kann. Ein spezifisches Leitbild für das Themen-
feld Diversity beziehungsweise Diversity Management kann die eigene Arbeit sowie die
Positionierung der Organisation maßgeblich positiv beeinflussen und die im Allgemeinen
herausfordernde Arbeit in diesem Themenfeld erleichtern.
Ein Leitbild ist im Allgemeinen eine schriftliche Grundsatzerklärung. Es ist eine Aus-
arbeitung, welche Normen und Regeln einer Organisation beschreibt. Es ist sozusagen
ein (neuer) Orientierungsrahmen. Vorrangiges Ziel ist es, eine Identifikation mit einer
‚großen Idee‘ herzustellen, indem es für ein gemeinsames Verständnis sorgt und auch ein
Zielbild umreißt.
Im Organisationskontext geht es um ein gemeinsames Bild und Verständnis von
Sinn und Zweck von Diversity beziehungsweise Diversity Management innerhalb
einer Organisation. Für das Arbeitsfeld des Diversity Managements kann es daher als
strategisches Element der eigenen Ausrichtung angesehen werden, aus dem sich folgend
die eigenen Arbeitsschwerpunkte und Maßnahmen ableiten lassen.
Es gibt verschiedene Ansätze, wie ein Leitbild aufgebaut werden kann und welche
Aspekte integriert werden sollten. Um ein gemeinsames Verständnis und auch eine
Identifikation herzustellen, ist es notwendig, Menschen von dem Anliegen zu über-
zeugen. Daher sollte ein Leitbild folgende Fragen beantworten können:
Können diese Aspekte durch ein allen zugängliches Leitbild beantwortet werden, können
Maßnahmen und Interventionen zielgerichtet geplant und ausgesteuert werden und die
Mitarbeitenden werden eine erhöhte Bereitschaft dafür zeigen, den Kurs einer diversi-
tätsorientierten Kulturentwicklung mitzugehen. Weil sie wissen, warum es gemacht
wird, wie es angegangen wird und was gemacht werden soll.
Erarbeitung und Integration eines Diversity … 205
Die Vorteile und der Nutzen (vgl. Abb. 1) eines spezifischen Diversity Leitbildes lassen
sich in interne und externe Aspekte aufteilen. Die internen Aspekte haben einen klaren
Fokus auf die Mitarbeitenden beziehungsweise auf die Entwicklung der Organisations-
kultur im Hinblick auf Normen und gemeinsame Werte. Die externen Aspekte betrachten
die Organisation in einem externen System und setzen die Wahrnehmung und die
Positionierung in den Fokus.
Ein wichtiger Hauptnutzen ist die Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses
zu Diversity (Management) innerhalb der Organisation. Ein erfolgreiches Diversity
Management arbeitet mit einer erhöhten Komplexität und dies sollte sich auch in
einem Leitbild widerspiegeln. Vielen Menschen ist der Umfang und die Bedeutung von
Diversity in der und für die Organisation nicht bewusst und Diversity wird oft ledig-
lich mit Einzelaspekten in Verbindung gebracht, die gesellschaftlich und medial aktuell
stark fokussiert und diskutiert werden (z. B. MeToo, Gendern), ohne das große Ganze
zu betrachten. Daher ist es hilfreich und notwendig, um eine persönliche Identifikation
zu ermöglichen, dass verständliche Aussagen dahingehend getroffen werden, wieso
und weshalb Diversity (Management) allen Menschen zugutekommt. Um ein nutzbares
Commitment der gesamten Organisation durch ein Leitbild zu erreichen, sollte es durch
die Leitungsebene in die Organisation kommuniziert werden. Dies sorgt für Commit-
Gesteigerte Kund*innennähe
Abb. 1 Vorteile & Nutzen eines Leitbildes im Diversity Management. (Eigene Darstellung.
Inhalte angelehnt an Diversity Management Studie, 2021 sowie Elmerich et al., 2007)
206 S. Fuerst
ment, zum einen, weil ein für alle verpflichtendes Bekenntnis veröffentlicht wurde
– aus dem sich Veränderungen ergeben sollten – und zum anderen, weil das Thema
Diversity Management gesamtunternehmerisch wahrgenommen wird und das Stigma als
reines Thema des Personalbereichs verliert. Wie bereits erwähnt, kann ein Leitbild ein
strategisches Instrument der Ausrichtung des Diversity Managements sein. Ein Leitbild
beschreibt einen Soll-Zustand, den es zu erreichen gilt und setzt, je nach Aufbau, bereits
größere Handlungsfelder oder Ziele auf einer übergeordneten Ebene fest. Aus diesen
lassen sich kurz-, mittel- und langfristige Ziele für die Arbeit des Diversity Managements
ableiten und für alle nachvollziehbare Maßnahmen entwickeln.
Als externe Aspekte stehen deutlich die Positionierung und die öffentliche Wahr-
nehmung im Fokus. Diversity Management strahlt nach außen und lässt sich für
die Organisation nutzbar machen. Ein extern kommuniziertes Leitbild unterstreicht
die internen Bemühungen und wirkt sich direkt auf die externe Wahrnehmung der
Organisation in der Gesellschaft aus. Ein wirkungsvolles Diversity Management
erleichtert die Rekrutierung neuer Fachkräfte, da es das Employer Branding als Arbeit-
geber bei spezifischen Zielgruppen verbessert sowie zielgenau jüngere Generationen
anspricht.
Dies lässt sich durch Studien belegen: Die Diversity Management Studie (2021) der Page
Group kam zu dem Ergebnis, dass 66 % der befragten Unternehmen ein verbessertes
Employer Branding und 44 % ein verbessertes Image durch ihre Diversity Bemühungen
feststellen konnten. Auch aktuelle Untersuchungen zur Generation Z bestätigen, dass
Diversity einen neuen Stellenwert in der Gesellschaft einnehmen wird (vgl. New Rules
2021). Unter diesen Rahmenbedingungen lässt sich kaum auf eine klare Positionierung
nach innen wie außen verzichten, wenn man als Organisation attraktiv bleiben oder
werden will – und hier kann ein Leitbild ansetzen.
Die Entwicklung eines Diversity Leitbildes ist ein komplexer und spannender Prozess.
Er sollte gut geplant und mit dem notwendigen Durchhaltevermögen verfolgt werden.
Es gibt verschiedene Wege, um ein Leitbild zu entwickeln und gewisse Risiken, die ver-
mieden werden können. Folgende Absätze geben einen Überblick über die Möglich-
keiten und Stolpersteine im Prozess.
Es gibt verschiedene Herangehensweisen, wie Strategien oder Leitbilder entwickelt
werden und in die Organisation getragen werden können. Der wohl bekannteste – und
auch kritisch diskutierte – ist der Top-Down-Ansatz. Verkürzt dargestellt arbeitet dort
das Top-Management etwas aus und gibt es Kraft ihrer Autorität in die Organisation.
Dieser Ansatz kommt zum Beispiel häufig bei der Entwicklung einer neuen Strategie
zum Tragen. Dieser Ansatz hat die Vorteile, dass der Rückhalt des Top-Managements
gesichert ist und dass die Erarbeitung vergleichsweise zügig erfolgen kann. Daraus ergibt
sich jedoch auch der Nachteil, dass wenige Personen oder Interessensgruppen aus der
Organisation in den Entwicklungsprozess eingebunden sind und es zu Widerständen oder
gar Ablehnung kommen kann. Der Bottom-Up-Ansatz stellt den gegensätzlichen Ansatz
dar. In diesem geht die Veränderung beziehungsweise die Erarbeitung des ‚Neuen‘ von
der Basis aus. Also von den operativen Mitarbeitenden, die keine hohe hierarchische
Stellung in der Organisation einnehmen. Dies kann ein vergleichsweise inklusiver
Ansatz sein, da viele Personen oder Interessensgruppen an der Erarbeitung partizipieren
können. Es setzt jedoch voraus, dass das Top-Management diese Art der Erarbeitung
und vor allem das Ergebnis mitträgt (vgl. Kauffeld 2014, o.S.). Dies macht einen reinen
Bottom-Up-Ansatz auch zu einem Risiko. Viele Organisationen – insbesondere auch Ver-
waltungen – haben wenig Erfahrung mit Veränderungs- oder Erarbeitungsprozessen, die
von der Basis ausgehen und können daher schnell scheitern. Zum einen dadurch, dass
das Top-Management bei den Ergebnissen interveniert oder zum anderen dadurch, dass
bereits der Entwicklungsprozess scheitert, da die Organisationskultur und -realität nicht
auf solch einen Ansatz ausgelegt ist. Neben diesen Ansätzen gibt es noch Mischformen,
die Elemente aus beiden Ansätzen integrieren, indem sie zum Beispiel sowohl die Basis
und das Top-Management in den Prozess einschließen oder auch an anderen Ebenen der
Organisation ansetzen.
Für die Erarbeitung eines Diversity Leitbildes können Mischformen der Erarbeitung
besonders zuträglich sein. Denn das Top-Management wird benötigt, um der daraus
resultierenden Kulturveränderung genügend Rückhalt zu garantieren und Mitarbeitende
aus der Basis sowie die verschiedenen Interessensgruppen (z. B. thematisch eng ver-
bundene Netzwerke oder auch Arbeitnehmer*innenvertretungen) werden benötigt, um
208 S. Fuerst
Wie eingangs bereits erwähnt, sollte ein Leitbild zur Identifikation beitragen und auch
als strategisches Instrument verstanden werden. Die Fragen, die das Diversity Leitbild
beantworten soll, sind eng an der Logik eines Visions- & Missionsstatements angelehnt:
Warum machen wir das/Welches Ziel haben wir? Wie können wir das erreichen? Was
müssen wir dafür tun?
Das ‚Warum‘ beziehungsweise das ‚Ziel‘ ist sozusagen das große noch zu erreichende
und noch entfernte Zukunftsbild. Es ist der Grund, warum wir uns mit Diversity
beschäftigen und warum es uns wichtig ist. Und dies kann durchaus verschieden sein.
So können sich die einen zum Beispiel ein wertschätzendes Arbeitsumfeld für alle Mit-
arbeitenden ohne jede Diskriminierung wünschen (vgl. Charta der Vielfalt 2022) und die
anderen, dass sie die Gesellschaft, in der wir leben in der Organisation abbilden wollen
(vgl. Leitbild ‚Weltoffenes Berlin – chancengerechte Verwaltung‘ 2019). Der Nutzen
dieses Ziels kann wiederum verschieden sein, sollte aber auch formuliert werden. Denn
er ist essenziell, um eine Argumentation aufzubauen, die wiederum für die Identifikation
und das Verständnis unabdingbar ist. Die einen legen ihren Fokus auf wissenschaftlich
gesicherte ökonomische Erkenntnisse, wie z. B. Innovationssteigerungen, eine bessere
Marktdurchdringung und damit auf einen Gewinn- beziehungsweise Erfolgszuwachs.
Andere haben ethische und moralische Aspekte stärker im Fokus.
Das ‚Wie‘ beschreibt, wie wir dorthin kommen können und was bei diesem Prozess
wichtig ist. Zum Beispiel, indem wir Vielfalt bewusst fördern, Chancengerechtig-
keit aktiv herstellen oder selbst definierte Werte leben, die uns für unsere diversitäts-
orientierte Entwicklung der Organisation wichtig erscheinen. In diesem Part ist es
zielführend, die Aspekte näher zu beleuchten und auch zu beschreiben, denn – um bei
unseren Beispielen zu bleiben – kann ‚Chancengerechtigkeit herstellen‘ für verschiedene
Personen durchaus unterschiedliches bedeuten und bei Unklarheit Konfliktpotenzial
bereithalten.
Das ‚Was‘ sind die Aspekte, die nun angegangen werden sollen. Es sind die
Maßnahmen oder Planungen, die das ‚Warum‘ und das ‚Wie‘ flankieren und grob
operationalisieren. Diese sollten so konkret sein, dass alle wissen, auf was sie nun ver-
trauen und sich berufen können aber so abstrakt, dass sie nicht alle 12 Monate angepasst
werden müssen. Zum Beispiel:
Erarbeitung und Integration eines Diversity … 209
‚Wir stellen uns konsequent gegen alle Arten von Diskriminierungen und schaffen
Abhilfe‘
‚Wir befähigen unsere Führungskräfte dahingehend, dass sie eine Kultur der Wert-
schätzung von Vielfalt entwickeln können‘
‚Wir machen unsere Diversität zu Inhalten unserer Kommunikation‘
Diese Selbstverpflichtungen sind auf einer Ebene, von der ausgegangen werden kann,
dass sie längerfristig Gültigkeit besitzen und nicht ständig angepasst werden müssen.
Sie sind gleichzeitig aber konkret genug, dass kurz-, mittel- und langfristige Ziele und
Maßnahmen, wie zum Beispiel Führungskräfteschulungen, zusätzliche Strukturen
und/oder Ansprechpersonen bei Diskriminierungen oder auch das Erstellen eines
Kommunikationsplans, abgeleitet werden können.
Einige Fallstricke und Risiken wurden im Laufe des Kapitels bereits erwähnt. Dies
waren explizit die Gefahr des fehlenden Commitments (Rückhaltes) des Top
Managements, welches zwingend benötigt wird. Zum einen, um ein Leitbild in der
Organisation zu installieren und zum anderen, um die notwendigen Veränderungen,
die damit ausgelöst beziehungsweise gestartet werden sollen, zu initiieren. Fehlender
Rückhalt würde unweigerlich dazu führen, dass es zwar ein Leitbild gibt, welches für
die Kommunikation nach innen- und außen genutzt werden kann, es jedoch ein Blatt
Papier bleibt, welches keine Veränderungen in der Organisation auslöst. Es müssen daher
Aktionen, Maßnahmen und Folgeprozesse abgeleitet werden, die vom Management
mitgetragen werden.
Gerade in der Entwicklungsphase ist es wichtig, sich frühzeitig über die Methodik der
Entwicklung sowie den Teilnehmer*innenkreis Gedanken zu machen. Nicht nur wegen
des Commitments des Top-Managements, sondern auch, um die relevanten Stake-
holder und Interessensgruppen im Boot zu haben. Viele Organisationen besitzen zum
Beispiel Netzwerke, die thematisch eng an das Thema Diversity gebunden sind: Sie
müssen dabei sein. Interessensvertretungen rund um Gleichstellung oder Inklusion,
die in vielen Organisationen vorhanden sind: Sie müssen dabei sein. Besonders heraus-
stechende Personen, die in der Organisation bekannt sind und mit dem Thema ver-
bunden sind: Sie müssen dabei sein. Im Allgemeinen sollte der Teilnehmer*innenkreis
gut gewählt sein, um die notwendige Legitimität zu erreichen. Es ist hilfreich, sich auch
210 S. Fuerst
Die Erarbeitung und Verabschiedung eines Leitbildes ist lediglich der erste Meilenstein.
Die größere Herausforderung ist es, die Inhalte dieses neuen Orientierungsrahmens
zum Leben zu erwecken. Ein Leitbild bewegt sich auf der Ebene der Kultur- und
Organisationsentwicklung und auch in dem Bereich, wo lang Bestehendes und
Akzeptiertes hinterfragt und angepasst werden soll. Dies benötigt vor allem eines: Zeit.
Und es benötigt: Zuständigkeiten und Ressourcen. Ziele, die gesetzt werden, müssen
verfolgt und gesteuert werden. Viele Organisationen besitzen ein Diversity Management
oder zumindest damit beauftragte Personen. Dies ist förderlich, denn die Aspekte und
Aufgaben rund um die Umsetzung des Leitbildes sind komplex und ein Querschnitts-
thema. Es benötigt eine Zuständigkeit, welche die Impulse in die jeweilen Bereiche und
Abteilungen bringt.
Ein besonderer Fokus sollte auch auf eine nachhaltige Kommunikation des Leit-
bildes gelegt werden, denn im Alltagsgeschäft werden lediglich einmalig kommunizierte
Aspekte schnell vergessen. Diesem kann mit einem cleveren Konzept und auch einem
multimedialen Ansatz entgegengewirkt werden. Zum Beispiel indem Kurzvideos oder
Handreichungen zu den Inhalten und deren Bedeutung erstellt werden, regelmäßig
Artikel in einer Mitarbeitendenzeitschrift oder im Intranet einen Bezug herstellen
oder auch, indem das Top-Management und die Führungskräfte anlassbezogen darauf
referenzieren.
Das Leitbild sollte sich ferner – früher oder später – in anderen Steuerungs-
instrumenten wiederfinden. Dies kann die Integration in einen bestehenden Verhaltens-
kodex sein, in eine thematisch verwandte Dienstvereinbarung, aber auch in die nächste
Strategie.
Erarbeitung und Integration eines Diversity … 211
Den Kern der Arbeit mit einem Leitbild bildet jedoch immer Folgendes: ziel-
orientierte Folgemaßnahmen.
In Berlin steht die BVG wie kaum ein anderes Unternehmen für Diversity. Provokante
Marketingaktionen, wie zum Beispiel ein um den Gender-Pay-Gap vergünstigtes
Aktionsticket für Frauen oder eine komplett in Regenbogenfarben beklebte U-Bahn,
sind keine Überraschung für die Berliner*innen. Auch intern hat die BVG viel zu bieten:
ein hauseigenes Diversity Management und verschiedene aktive Mitarbeiter*innennetz-
werke halten die BVG in Sachen Vielfalt auf Spur. Ein Diversity Leitbild soll künftig
die nächste Evolutionsstufe der Entwicklung hin zu einer vielfältigen Arbeitgeberin
einläuten. Ziel dieses Leitbildes ist es, durch eine gemeinschaftliche Erarbeitung Leit-
linien in Bezug auf Vielfältigkeit, Chancengleichheit und -gerechtigkeit sowie Anti-
diskriminierung zu formulieren. Des Weiteren soll es die bestehenden rechtlichen
Rahmenbedingungen und bisherige Selbstverpflichtungen – wie die Inhalte der unter-
zeichneten Charta der Vielfalt – mit BVG spezifischen Inhalten und Schwerpunkten sinn-
voll verbinden.
Innerhalb der BVG wurde für die Entwicklung eine Mischform gewählt. Seitens
des Top-Managements wurde auf Wunsch des Diversity Managements der Auftrag zur
Erarbeitung in die Organisation gegeben und der Prozess stetig beworben und punktuell
begleitet. Der Prozess selbst wurde durch das Diversity Management gesteuert und
partizipativ ausgerichtet.
Mehr als 60 Personen, aus allen Tätigkeitsbereichen und Hierarchiestufen sowie
mit den unterschiedlichsten Merkmalen und Hintergründen, waren Teil einer aktiven
Arbeitsgruppe, die in mehreren Terminen und Workshops innerhalb eines Jahres
diverse Themenschwerpunkte diskutierten und bearbeiteten. Zusätzlich konnten alle
interessierten Mitarbeitenden ihren Beitrag zu dem künftigen Leitbild in den Prozess mit
einbringen (vgl. Abb. 2).
Das Vorhaben der Erarbeitung eines Diversity-Leitbildes startete mit einem digitalen
Kick-Off-Termin. Ziel dieses Termins war es, ein gemeinsames Verständnis für die Not-
wendigkeit und das kollektive Ziel des Vorhabens allen Beteiligten zu vermitteln und den
großen Gestaltungsspielraum aufzuzeigen. Der Kick-Off wurde von den Vorständen der
BVG AöR gemeinsam mit dem Diversity Management eröffnet. Anschließend stellte das
Diversity Management die weitere Projektplanung und die verschiedenen Partizipations-
möglichkeiten innerhalb des Prozesses vor. Im Verlauf des Termins konnten sich die
Projektbeteiligten in Kleingruppen etwas näher kennenlernen und ihre ersten Intentionen
und Eindrücke miteinander austauschen und zum Thema Diversity bereichs- und
hierarchieübergreifend ins Gespräch kommen.
212 S. Fuerst
Abb. 2 Ablauf Prozess Diversity-Leitbild bei der BVG AöR. (Eigene Darstellung)
Innerhalb der Workshops ging es nicht lediglich um das Ausformulieren der Inhalte
eines Leitbildes. Die Workshops waren so angelegt, dass alle angrenzenden Themen und
persönlichen Impulse und Ansichten rund um das Thema Diversity Management in der
BVG Raum erhielten. Die Ergebnisse der Workshops waren diverse schriftliche Aus-
arbeitungen und eine Sammlung von größeren und kleineren Maßnahmenideen. Zum
Teil konnten Ideen zu Folgemaßnahmen schon während des Prozesses in die Umsetzung
gehen. Als Beispiel können hier neue interne Diversity Schulungsangebote für Führungs-
kräfte und Mitarbeitende oder auch eine externe Kooperation und Begleitung zur Über-
Erarbeitung und Integration eines Diversity … 213
9 Fazit
Literatur
Magdalena Weiß
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
M. Weiß ( )
Informationstechnikzentrum Bund, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 215
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_16
216 M. Weiß
1 Einleitung
Netzwerke, die auch als Employee Resource Groups (ERGs) bezeichnet und im
Folgenden so genannt werden, sind formale Gruppen innerhalb einer Organisation, die
freiwillig von Beschäftigten initiiert und koordiniert werden und zu einer diversen und
inklusiven Kultur am Arbeitsplatz beitragen.
ERGs können dabei auf unterschiedliche Ziele und Themen ausgerichtet sein.
Beispielsweise kann sich eine ERG an bestimmte Personengruppen richten (z. B.
LGBTQIA+, Frauen, Black and People of Colour (BPoC), Menschen mit Behinderung)
oder Personen in unterschiedlichen Lebensphasen adressieren (z. B. Pensionär*innen,
Berufseinsteiger*innen, Eltern). Aber auch funktionale ERGs, die die Effizienz einer
Organisation voranbringen möchten, sind denkbar (z. B. Agilität) (Welbourne et al. 2015,
S. 4).
In der Regel werden ERGs nicht durch Top-Down-Entscheidungen ins Leben gerufen,
sondern entstehen Bottom-Up aus dem Kreis der Beschäftigten, die sich über ihre eigent-
liche Arbeit hinaus engagieren (Douglas 2008). Infolgedessen wird Netzwerkarbeit im
besten Fall nicht delegiert, sondern Beschäftigte werden dabei unterstützt, selbst aktiv zu
werden und ERGs zu gründen. Daher liegt der Fokus im Folgenden auf der Perspektive
der Beschäftigten, die eine ERG initiieren möchten. Besteht dennoch seitens der Leitung
der Wunsch, ERGs in der Organisation zu etablieren, so ist es wertvoll herauszufinden,
weshalb Beschäftigte bislang nicht aktiv geworden sind und Rahmenbedingungen wie
zum Beispiel die Bereitstellung von finanziellen Mitteln dementsprechend anzupassen.
Eine Veranstaltung zum Thema ERGs oder Diversity und Inclusion, die sich an alle
Beschäftigten richtet, kann außerdem dabei helfen, dem Thema eine grundsätzliche
Sichtbarkeit in der Organisation zu geben und Potenzial für eine Weiterentwicklung zu
schaffen.
Nicht nur für die Organisation, sondern auch für Beschäftigte gibt es zahlreiche Gründe,
die für die Initiierung von ERGs sprechen.
In einer Organisation fungieren ERGs als Interessensvertretung für ein Thema oder eine
Personengruppe und bieten eine Möglichkeit für den Informationsaustausch sowohl
innerhalb der ERG als auch zwischen der ERG und der Organisationsleitung. Sie
helfen ein Umfeld zu schaffen, in dem Beschäftigte gehört und gesehen werden, geben
den Beschäftigten die Chance, die Organisation und insbesondere die Organisations-
kultur mitzugestalten, und sorgen für mehr Sichtbarkeit von strukturellen Problemen
Employee Resource Groups: Beschäftigtennetzwerke … 217
(Casey 2021, S. 3). Gleichzeitig werden Ansprechstellen geschaffen, die über die AGG-
Beschwerdestelle hinausgehen. Beispielsweise dient das Koordinationsteam des Queeren
Netzwerks im Informationstechnikzentrum Bund (ITZBund) als Vertrauensstelle, die
explizit für die Anliegen der LGBTQIA+ Beschäftigten sensibilisiert ist.
Außerdem besteht für Organisationen im Hinblick auf das Recruiting ein Wett-
bewerbsvorteil. Denn ERGs sind nicht nur attraktiv für Beschäftigte und stärken deren
Verbundenheit zur Organisation, sondern sprechen auch potenzielle Bewerber*innen
an. Insbesondere ERGs, die sich mit sozialen Themen beschäftigen (z. B. LGBTQIA+,
Frauen, BPoC, Menschen mit Behinderung), können den Ruf einer Organisation positiv
beeinflussen (Welbourne et al. 2015, S. 24).
Nachfolgend werden mögliche Wege zur Initiierung und zum Aufbau von ERGs in einer
Verwaltung aufgezeigt.
Bevor eine ERG initiiert wird, ist unbedingt die Frage zu klären, woher die Idee zur
Gründung stammt. Zum einen ist es elementar mit der Antwort darauf herauszufinden,
ob der Aufbau einer ERG tatsächlich den geeigneten Weg zur Zielerreichung darstellt.
1 Der Begriff Safe Space bezeichnet eine inklusive und diskriminierungsfreie Umgebung.
218 M. Weiß
Zum anderen ist es entscheidend, die Motivation hinter einer ERG zu kennen und zu ver-
stehen, dass ERGs ein strategisches Werkzeug innerhalb einer Organisation sind.
Folgende Fragen können dabei hilfreich sein: Handelt es sich bei dem Wunsch, eine
ERG zu einem bestimmten Thema zu initiieren, um eine Lösung für ein konkretes
Problem? Wird mit der neuen ERG eine bereits bestehende Initiative formalisiert?
Reagiert die Organisation mit der Gründung einer ERG auf gesellschaftliche Ent-
wicklungen? Dient eine neue ERG zum Agenda-Setting, wie beispielsweise das Voran-
treiben von Agilität innerhalb der Organisation? Oder soll eine ERG eingerichtet werden,
weil dies in anderen Organisationen üblich ist?
Sobald feststeht, warum eine ERG initiiert werden soll, gilt es festzulegen, welche Ziele
mit der ERG erreicht werden sollen. Zwar sollten ERGs auf die Bedürfnisse der Mit-
glieder ausgerichtet sein. Doch klare Ziele sowie ein grundlegendes Verständnis davon,
was in der ERG passieren soll, sind eine relevante Grundlage, um die ersten Mitglieder
für die ERG zu aktivieren und die Leitung von der Initiative zu überzeugen. Beispiels-
weise hat sich das Queere Netzwerk im ITZBund das Ziel gesetzt, einen aktiven, selbst-
organisierten Safe Space zu schaffen, in dem sich queere Beschäftigte willkommen
fühlen und ohne Angst vor Diskriminierung outen können. Zudem sorgt diese ERG
dafür, dass alle Beschäftigten im ITZBund für das Thema LGBTQIA+ am Arbeitsplatz
sensibilisiert werden.
Sobald die initialen Ziele einer ERG identifiziert wurden, muss definiert werden,
welche Personen Teil der Zielgruppe sind und welche nicht. Eine ERG kann sich je nach
Thema beispielsweise an Führungskräfte richten oder diese explizit ausschließen. Zudem
kann bei der Festlegung der Zielgruppe der Gedanke aufkommen, dass ausschließlich
Personen Teil einer ERG sein sollten, die von dem Thema betroffen sind, mit dem sich
eine ERG beschäftigen möchte. Doch eine Begrenzung auf diese Personengruppe ist
nicht für alle ERGs gleichermaßen sinnvoll. So wäre im Kontext einer ERG, die sich mit
dem Thema LGBTQIA+ beschäftigt, ein Coming-Out notwendig, um sich einbringen zu
können. Das ist nicht nur unpraktikabel, sondern widerspricht auch dem grundlegenden
Gedanken eines Safe Spaces. Daneben gilt: Eine Minderheit kann ohne die Unter-
stützung der Mehrheit nicht überleben.
Deshalb ist „Allyship“ insbesondere in minderheitenorientierten ERGs eine
relevante Säule. Unter Allies sind Verbündete zu verstehen, die in der Regel selbst
Teil einer Mehrheit sind und diese privilegierte Position nutzen, um Minderheiten zu
stärken und mit ihnen gemeinsam einen gesellschaftlich-kulturellen Wandel voranzu-
treiben. Beispielsweise können sich heterosexuelle-cisgeschlechtliche Personen für die
LGBTQIA+ Community einsetzen. Ebenso können Männer Frauen im Kampf gegen
patriarchale Strukturen unterstützen und weiße Menschen für BPoC einstehen, indem sie
gegen Rassismus aktiv werden (Salter und Migliaccio 2019, S. 132).
Employee Resource Groups: Beschäftigtennetzwerke … 219
Deshalb ist es entscheidend, Personen, die keiner Minderheit angehören und bislang
ausschließlich passive Allies waren, zur Teilnahme an einer minderheitenorientierten
ERG zu ermutigen. Die ERG kann diesen Personen dabei helfen, sich für ein Thema
zu sensibilisieren und sich somit zu besseren Allies zu entwickeln. Ebenso bieten
Allies wertvolle Erfahrungen aus der Mehrheitsperspektive, die sie einbringen und auf
diese Weise mit ihrer Fürsprache und Unterstützung Last von den Schultern der dis-
kriminierten Minderheit nehmen (Salter und Migliaccio 2019, S. 146).
Der Austausch mit ERGs und Ansprechpersonen aus anderen Organisationen ist
ein weiterer hilfreicher Aspekt, wenn es darum geht, eine ERG aufzubauen und die
Idee konkreter auszuarbeiten. Wenngleich die Rahmenbedingungen für ERGs von
Organisation zu Organisation teilweise massiv abweichen können, so hilft der Dialog
dennoch, um zum Beispiel die Gedanken zur eigenen Netzwerkarbeit zu schärfen oder
Ziele klarer formulieren zu können. Obwohl eine ERG ein strategisches Instrument
für eine Organisation darstellt, dürfen die ERGs anderer Organisationen nicht als
Konkurrenz betrachtet werden. Denn das Wissen und die Erfahrungen miteinander zu
teilen und voneinander zu lernen, kann Ressourcen sparen und einen gesamtgesellschaft-
lichen Wandel schneller vorantreiben.
Neben einer Vernetzung außerhalb der eigenen Organisation gibt es auch zwei interne
Stakeholder, deren Unterstützung maßgeblich zum Erfolg einer ERG beiträgt: die
Organisationsleitung und der Personalbereich (HR).
Da es sich bei ERGs um formelle Netzwerkarbeit handelt, ist es wertvoll die
Organisationsleitung als Unterstützung an der Seite zu wissen. Zum einen wird den
Beschäftigten dadurch signalisiert, dass ihr Engagement nicht nur gesehen wird, sondern
auch explizit erwünscht ist. Zum anderen ist es eine wichtige Absicherung für die ERG
und deren Mitglieder. Beispielsweise werden nicht alle Kolleg*innen von einer ERG
zum Thema LGBTQIA+ begeistert sein, doch der Gegenwind wird sich in Grenzen
halten, wenn sich die Organisationsleitung dafür positioniert und dies auch mindestens
intern kommuniziert. Außerdem kann Leitungsunterstützung je nach Organisation aber
auch je nach ERG unterschiedlich aussehen. Möglich ist unter anderem eine Keynote bei
einer ERG-Veranstaltung oder ein Statement zu einem Thema, mit dem sich eine ERG
beschäftigt.
Die Leitung für die Gründung einer ERG zu gewinnen, ist allerdings in manchen
Organisationen eine große Herausforderung. Um die gewünschte Unterstützung zu
erhalten, kann das zuvor identifizierte „Warum“ hinter der neuen Initiative deshalb
besonders wichtig sein. Darüber hinaus kann es in der Argumentation durchaus hilf-
reich sein, wenn auch in anderen Organisationen eine bestimmte ERG existiert. Bei-
spielsweise treten ERGs, die sich dem Thema LGBTQIA+ widmen, mit am häufigsten
auf (Welbourne et al. 2015, S. 5). Dennoch darf der Wettbewerbsgedanke nicht das ein-
220 M. Weiß
zige Argument sein. Insbesondere Zahlen und Daten sind nützlich, um die Leitung vom
Mehrwert einer ERG zu überzeugen. So gibt es für das Thema LGBTQIA+ eine Vielzahl
an eindeutigen Studienergebnissen über Diskriminierung am Arbeitsplatz. Dass 34 % der
queeren Beschäftigten einen Arbeitsplatz verlassen haben, weil sie dort aufgrund ihrer
sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität diskriminiert wurden, ist beispiels-
weise nur eines davon (Sears et al. 2021, S. 24). Neben solchen Fakten ist es zusätzlich
wertvoll, schon vor einem Gespräch mit der Leitung Verbündete zu finden, die hinter der
ERG und dem jeweiligen Thema stehen und sich als Fürsprecher*innen einsetzen.
Des Weiteren sollte bei ERGs neben der Leitungsunterstützung eine gute Zusammen-
arbeit mit dem Personalbereich (HR) sichergestellt werden, um auf deren Unter-
stützung, Erfahrungen und Ressourcen zurückgreifen zu können. Dieser Bereich kann
Türen öffnen und der ERG sowie dem damit verbundenen Thema zu mehr Sichtbar-
keit innerhalb und außerhalb der Organisation verhelfen (z. B. Fortbildungen, Ein-
führungsveranstaltungen, Anpassung der Willkommenskultur). Im Gegenzug sind
ERGs eine Unterstützung für unterschiedliche HR-Aufgaben wie Mitarbeiterbindung
und Rekrutierung und haben einen positiven Einfluss auf die Erreichung von Zielen im
Bereich Diversity und Inclusion (MacGillivray und Golden 2007). Ebenso wie ERGs
keine Top-Down-Entscheidung sein sollten, sollten sie auch keine ausschließliche HR-
Maßnahme sein, sondern aus dem Kreis der Beschäftigten getragen werden.
Je nach Thema einer ERG kann neben der Unterstützung durch die Organisations-
leitung und des Personalbereichs selbstverständlich auch die Zusammenarbeit mit weiteren
Stakeholdern (z. B. Gleichstellungsbeauftragte, Schwerbehindertenvertretung) von
Bedeutung sein, um Synergien zu nutzen und die Ziele der ERG erreichen zu können. Diese
gilt es zu identifizieren und ebenfalls als Partner für das eigene Vorhaben zu gewinnen.
Beim Aufbau einer ERG muss außerdem die Budget-Frage geklärt werden,
für die jedoch keine allgemeingültige Antwort existiert. Auf welche Art und in
welchem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, kann sowohl
für jede Organisation als auch für jede ERG unterschiedlich aussehen. Signalisiert
eine Organisation, dass ihr ein Thema viel bedeutet und nutzt dieses auch in der
Außenkommunikation, beispielsweise zum Recruiting, ist es allerdings angemessen und
wertschätzend, die entsprechende ERG auch mit notwendigen Ressourcen zu versorgen.
Sobald die Unterstützung von unterschiedlichen Stakeholdern feststeht, sollte die Basis
für eine ERG-Infrastruktur geschaffen werden, um nach einem erfolgreichen Start direkt
aktiv werden zu können und die Motivation der interessierten Mitstreiter*innen aufrecht-
zuerhalten. Dafür muss eine grundlegende Richtung festgelegt werden, die jedoch stetig
mit den ERG-Mitgliedern gemeinsam angepasst werden sollte: Auf welche Art möchte
die ERG zusammenarbeiten? Welche Maßnahmen möchte die ERG umsetzen? In
welchem Rhythmus sollen die ERG-Treffen stattfinden? Dafür gilt es eine entsprechende
Employee Resource Groups: Beschäftigtennetzwerke … 221
Nachfolgend werden Hinweise dazu gegeben, wie ERGs in einer Verwaltung lebendig
gestaltet werden können.
Die schwierigste Aufgabe, die mit der Gründung einer ERG einhergeht, ist die
Aktivierung der Mitglieder und die Aufrechterhaltung ihres Engagements. Dazu bedarf
es neben Empathie, Aufmerksamkeit und Verständnis auch ein realistisches Erwartungs-
management. Um das zu erreichen und Mitstreiter*innen zu gewinnen, braucht es des-
halb ein gemeinsames Verständnis davon, was innerhalb der ERG passieren soll. Nur so
kann von Beginn an klar sein, für welche Ziele und Vorhaben das eigene Engagement
einen Mehrwert liefert. Zudem sollten sowohl der Einstieg in die ERG als auch die
Möglichkeiten sich einzubringen möglichst niedrigschwellig sein. Auch hierfür sind
Transparenz und Kommunikation der Schlüssel: Wann und wo finden Treffen statt? Wie
kann ich bei Treffen dabei sein? Wie viel Eigeninitiative ist in der ERG erwünscht? Was
wird von mir als Mitglied erwartet? Welche Themen werden derzeit bearbeitet? Wie
kann ich selbst aktiv werden?
Wenngleich die Hoffnung groß ist, dass sich jedes ERG-Mitglied gleichermaßen
engagiert, so sieht die Realität allerdings anders aus. Nicht alle Personen, die Teil der
ERG sind, werden sich stets aktiv einbringen und das sollte auch nicht erwartet werden.
222 M. Weiß
Ebenso wertvoll sind passive ERG Mitglieder, da sie hinter dem Thema der ERG stehen
und als Fürsprecher*innen oder gar Multiplikator*innen agieren können. Dennoch
braucht es für eine erfolgreiche ERG eine treibende Kraft. Im besten Fall finden sich
mehrere treibende Kräfte, die innerhalb der ERG gebündelt werden können, um das
jeweilige Thema weiter voranzubringen. Abschließend darf aber nicht vergessen werden,
dass Netzwerkarbeit in der Regel zusätzlich zur Rolle in der Organisation und den damit
verbundenen fachlichen Aufgaben geschieht. Gerade deshalb ist es besonders relevant,
jegliches Engagement anzuerkennen und wertzuschätzen.
Sind wir noch auf der richtigen Spur? Diese wichtige Frage muss sich eine ERG immer
wieder stellen, um erfolgreich zu bleiben. Denn es muss bedacht werden, dass eine ERG
ein formales und strategisches Instrument ist, das durchaus eine eigene Organisations-
struktur benötigt, um effektiv agieren zu können. Dafür sind wiederkehrende Evaluationen
der bisherigen Aktivitäten und Erfolge unerlässlich (Lovelace 2021). Zudem besteht eine
große Herausforderung darin, die Motivation und Begeisterung sowie das Zugehörigkeits-
gefühl der ERG Mitglieder aufrechtzuerhalten, wenn die ERG nicht mehr ihren Bedürf-
nissen und Erwartungen gerecht wird. Aus diesem Grund müssen Faktoren wie das
gemeinsame Ziel, die Struktur der ERG, die Art der Zusammenarbeit oder die Gestaltung
und Häufigkeit der Treffen regelmäßig an die ERG Mitglieder und deren Bedarf sowie
Kapazitäten angepasst werden. Nach einem Jahr Netzwerkarbeit hat das Queere Netz-
werk im ITZB und beispielsweise verschiedene Arbeitsgruppen (AGs) innerhalb der ERG
initiiert, die den Mitgliedern neue Möglichkeiten bieten sich einzubringen und die ERG
aktiv mitzugestalten. Ebenso muss die Infrastruktur im Blick behalten und entsprechend
an Veränderungen angeglichen werden. Denn gegebenenfalls werden im Laufe der Zeit
neue Austauschformate und weitere Tools zur Kollaboration benötigt.
Wenn eine ERG initiiert ist und die ersten Ergebnisse erzielt wurden, ist es wertvoll,
interne und externe Stakeholder über die erreichten Ziele und umgesetzte Maßnahmen
zu informieren, um den positiven Einfluss zu unterstreichen, den eine ERG auf die
Beschäftigten sowie auf die Organisation hat. Beispielsweise kann die transparente
Kommunikation der Erfolge hilfreich sein, wenn es darum geht, finanzielle Mittel zu
erhalten. Des Weiteren können die verfügbaren Informationen genutzt werden, um
zukünftige ERG Ziele und Aktivitäten realistisch zu planen (Lovelace 2021).
Aber nicht nur die Darstellung der Erfolge gegenüber Stakeholdern ist entscheidend,
sondern auch die Kommunikation innerhalb der gesamten Organisation. Zwar richten
sich einzelne Maßnahmen sicherlich an alle Beschäftigten (z. B. Beiträge im Intranet,
Employee Resource Groups: Beschäftigtennetzwerke … 223
6 Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine ERG ein wertvolles strategisches
Instrument für eine Organisation sein kann, welches sowohl für eine Organisation als
auch für die Beschäftigten eine Vielzahl an Vorteilen bietet. Gleichwohl gibt es einige
Aspekte, die bedacht, und Herausforderungen, die überwinden werden müssen, um
ERGs in der Organisation erfolgreich zu etablieren.
Unter anderem ist es fundamental, das „Warum“ hinter der Gründung zu kennen,
Ziele festzulegen und eine Zielgruppe zu identifizieren, bevor eine ERG initiiert wird.
In Hinblick auf den Personenkreis, der Teil der neuen ERG werden soll, ist es wert-
voll auch die Bedeutung von Allyship zu berücksichtigen. Zudem ist der Austausch mit
ERGs und Ansprechpersonen aus anderen Organisationen gewinnbringend, um von deren
Erfahrungen zu lernen und das eigene Vorhaben, eine ERG aufzubauen, zu konkretisieren.
Neben der externen Vernetzung gibt es allerdings auch zwei interne Stakeholder, deren
Unterstützung maßgeblich zum Erfolg einer ERG beiträgt: die Organisationsleitung und
der Personalbereich. Leitungsunterstützung zu erhalten, kann jedoch mit eine der größten
Herausforderungen sein, weshalb die in diesem Kapitel dargestellten Vorschläge hierfür
eine Hilfestellung bieten. Des Weiteren sollte betont werden, dass es ein angemessenes
Zeichen von Wertschätzung darstellt, ERGs mit notwendigen Ressourcen wie finanzielle
Mittel auszustatten. Insbesondere dann, wenn eine Organisation signalisiert, dass ihr ein
Thema viel bedeutet und dieses auch für die Außenkommunikation nutzt.
224 M. Weiß
Die womöglich schwierigste Aufgabe für die Netzwerkarbeit einer ERG ist es, Mit-
glieder zu aktivieren und deren Engagement aufrechtzuerhalten. Damit dies gelingt,
sind vor allem ein realistisches Erwartungsmanagement, niederschwellige Beteiligungs-
möglichkeiten und eine transparente Kommunikation entscheidend. Darüber hinaus
ist es von großer Bedeutung, die bisherigen Aktivitäten und Erfolge regelmäßig zu
evaluieren und Faktoren wie das gemeinsame Ziel, die Struktur der ERG oder die Art der
Zusammenarbeit an die ERG Mitglieder und deren Bedürfnisse anzupassen.
Abschließend ist zu betonen, dass neben der Kommunikation mit unterschiedlichen
organisationsinternen Stakeholdern auch die Zusammenarbeit mit anderen ERGs inner-
halb der Organisation sowie der Austausch mit externen ERGs und Ansprechpersonen
nicht vernachlässigt werden darf. Denn nur durch organisationsübergreifende Vernetzung
kann ein gesamtgesellschaftlicher Wandel nachhaltig vorangetrieben werden.
Literatur
Casey, J. (2021). Employee Resource Groups: A Strategic Business Resource Group for Today’s
Workplace. Boston College Center For Work & Family. https://archive.hshsl.umaryland.edu/
handle/10713/17334. Zugegriffen: 16. Dezember 2022.
Douglas, P. H. (2008). Affinity groups: Catalyst for inclusive organizations. Employment Relations
Today, 34(4), 11–18.
Lovelace, D. (2021). A Guide to ERGs (Employee Resource Groups). https://www.linkedin.com/
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MacGillivray, E. D., & Golden, D. (2007). Global diversity: Managing and leveraging diversity in
a global workforce, International HR Journal, 38–46.
Salter, N.P., Migliaccio, L. (2019). Allyship as a Diversity and Inclusion Tool in the Workplace,
Diversity within Diversity Management (Advanced Series in Management, Vol. 22), Emerald
Publishing Limited, Bingley, 131–152.
Sears B., Mallory C., Flores A. R., Conron K. J. (2021). LGBT People’ Experiences of Worksplace
Discrimination and Harassment, School of Law Williams Institute. https://williamsinstitute.law.
ucla.edu/publications/lgbt-workplace-discrimination/. Zugegriffen: 16. Dezember 2022.
Welbourne T.M., Rolf S., Schlachter S. (2015). Employee Resource Groups: An Introduction,
Review and Research Agenda, CEO Publication. https://www.researchgate.net/
publication/280946736_Employee_Resource_Groups_An_Introduction_Review_and_
Research_Agenda. Zugegriffen: 16. Dezember 2022.
Sabine Meister
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
S. Meister ( )
GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V., Nürnberg, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 225
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_17
226 S. Meister
1 Einleitung
Projekte werden von Menschen gemacht. Sie bewältigen häufig als Pioniere sehr heraus-
fordernde Aufgaben. Unter welchen strukturellen Rahmenbedingungen sie in unserer
Verwaltung arbeiten, wie sie für ihre jeweilige Rolle im Projekt ausgewählt, qualifiziert,
gefördert und unterstützt werden, gehört zu den gestaltbaren Rahmenbedingungen jeder
Was hat Diversity mit Projektmanagement zu tun? 227
In der Projektarbeit der Verwaltung tragen verschiedene Rollen zur Zielerreichung bei.
Die Aufgaben der Rollen werden im PM-Standard der Organisation geregelt. Tab. 1
zeigt die typischen Rollen in der Projektarbeit der Verwaltung auf und inwiefern sie
die strukturellen Rahmenbedingungen für professionelles Projektmanagement unter
Vielfaltsaspekten positiv beeinflussen können.
Alle genannten Rollen treffen in ihren Verantwortungsbereichen Entscheidungen,
können Spielräume erweitern und nutzen. Sie können zukunftsgerichtete und positive
Impulse geben, durch ihre eigene Führung oder ihr Verhalten vorleben, zielorientierte
Netzwerkarbeit fördern, Prozesse anpassen oder Standards einführen bzw. umsetzen. Ob
im kleinen oder großen Stil – alle Rollen können starke Impulse dafür setzen, Strukturen
und Vorgaben zum Projektmanagement in der Verwaltung zukunftsorientiert weiterzuent-
wickeln.
für Projektarbeit
Profi-Rahmenbedingungen
Portfolio-Management
• Priorisierung
• Berichtswesen
PM-Standard
• Arbeitshilfen
• Vorgehen
PM-Netzwerk Moderation
• Impulse • Kickoff
• Erfahrungsaustausch Lenkungsgruppen
PMO
Abb. 1 Professionelle Rahmenbedingungen für Projektarbeit und ihre Auswirkungen auf einzelne
Projekte. (Eigene Darstellung)
228 S. Meister
Tab. 1 (Fortsetzung)
Rolle Beeinflussbare Rahmenbedingungen unter Vielfaltsaspekten
Intendanz- und Haus- Beeinflussen, mit welchen Ressourcen Projekte ausgestattet werden
haltsbereiche, Gebäude- Steuern das räumliche und technischen Umfeld, in denen Projektteams
management arbeiten
Projektleitungen Beeinflussen die Besetzung ihrer Projektteams, leiten sie und steigern
mit Diversität ihre Innovationsfähigkeit
Steuern die Zielerreichung und das Stakeholder*innenmanagement
(Beteiligte, Interessierte, Betroffene von Projekten)
Setzen moderne Methoden zur Nutzer*innenzentrierten Lösungsent-
wicklung ein
Projektteams Wählen die Besetzung von Expert*innengruppen aus und führen sie in
Bezug auf die ihnen übertragenen Projektaufgaben
Managen die Beteiligung von Kund*innen
Erarbeiten Lösungen
Expert*innen-Gruppen Bringen ihre vielfältigen Expertise und verschiedene Perspektive in die
Projektarbeit ein
2.2 PMO-Leistungen
ihre Effektivität in der Projektarbeit zu steigern (die richtigen Dinge zu tun) durch die
Unterstützung von Projektportfolioentscheidungen.
die Effizienz zu steigern (die Dinge richtig zu tun) durch professionelle Beratungs-
leistungen, Standardisierung, gezielte Gestaltung von Qualifizierungen und
strukturiertem Lernen aus Projekterfahrungen.
Tab. 2 (Fortsetzung)
PMO-Leistungen Diversitybezug
Qualifizierung der Projekt- Einheitliche Mindestqualifizierungsstandards für alle Projekt-
akteur*innen (Effektivität) rollen entwickeln und einführen (Professionalisierung von dem
Projektteammitgliedern bis hin zur Rolle der Auftraggeber*in)
Übergreifendes Lernen in der Projektorganisation ermöglichen
durch moderierte Austauschformate, Mentoring, Hospitationen
Themenbasierte Netzwerkarbeit, Impulse zu Zukunftstrends und neuen Methoden geben oder
Organisationskultur weiter- aus externen Quellen organisieren, Austausch von Praxis-
entwickeln und Zusammen- erfahrungen unter den Projektleitungen fördern durch
arbeit fördern (Effektivität) moderierte Events (hierbei können Rückschlüsse auf Ver-
änderungsbedarfe bei den Standards oder zu den Rahmen-
bedingungen in der Organisation gezogen werden)
Retrospektiven (Reflektion) in Projektteams fördern und
moderieren
3 Operative Projektarbeit
Die DIN 69901 gibt grundlegende PM-Phasen vor: Vorprojektphase (Initialisierungs- und
Definitionsphase), Planungsphase, Umsetzungs- und Steuerungsphase und Abschluss-
phase. In diesen Phasen finden verschiedene PM-Prozesse statt. Darüber hinaus gibt es
phasenübergreifende Prozesse. Abb. 2 zeigt eine vereinfachte Darstellung der PM-Phasen
und die dazugehörigen PM-Prozesse nach DIN-6990, den Grad der Beeinflussbarkeit im
Projektverlauf und richtet den Fokus auf die wichtige Vorprojektphase.
In der Vorprojektphase (auch Initialisierungs- und Definitionsphase genannt) werden
die Weichen für den gesamten Projektverlauf gesetzt. Mit jedem Projekttag steigen die
Projektkosten durch den Einsatz von Ressourcen, wie Personal- oder Sachmittel. Gleich-
zeitig sinkt die Beeinflussbarkeit des Projektes und die Kosten für mögliche Fehler-
korrekturen steigen. Darum liegt es für Organisationen nahe, grundsätzlich einen starken
Fokus auf die Vorprojektphase zu legen, denn dann sind Projekte am stärksten beein-
flussbar und die Kosten noch gering. Für Diversitythemen ist dies also auch der perfekte
Zeitpunkt. Sofern in dieser frühen Phase noch keine qualifizierte Projektleitung ein-
gesetzt ist, kann ein PMO durch Beratungsleistung die notwendige professionelle Unter-
stützung der Fachbereiche leisten, die Projekte auf den Weg bringen.
232
Beeinflussbarkeit im
Projektverlauf
Kostensummenverlauf
Kosten für
Fehlerbehebung
3.1 Vorprojektphase
Wie ist die Zielausrichtung des Projektes im Kontext mit den strategischen Zielen der
Verwaltung?
Welche zu bedienenden Schnittstellen gibt es?
Welche Stakeholder*innen, Chancen und Risiken sind zu bedenken?
Wie muss die Projektorganisation aufgestellt werden?
Welche Ressourcen werden eingesetzt?
Die Projektleitung bewegt sich hierbei innerhalb der PM-Standards, nutzt Arbeitshilfen
und Learnings aus parallelen oder vorher gelaufenen Projekten.
Der Projekterfolg hängt auch von unterschiedlichen Umfeldfaktoren ab. Projekterfolg
definiert sich insbesondere auch darüber, wie zufrieden die Projektkund*innen, also die
sogenannten Stakeholder*innen1 mit den späteren Projektergebnissen sind. Nach der
initialen Auftragsklärung mit der Auftraggeberin oder dem Auftraggeber sind nun die
Interessen relevanter Stakeholder*innen zu berücksichtigen, um die richtigen Ziele –
auch unter Vielfaltskriterien – im Projektauftrag definieren, förmlich im Projektauftrag
mandatieren und umsetzen zu können.
Die Projektleitung bezieht strategische Ziele der Organisation zu Vielfaltsthemen
sowie Zukunftstrends ein und sorgt dafür, dass ihr Projekt darauf einzahlt. Bei der Ent-
wicklung operativer Projektziele kann sie zudem relevante Vielfaltsaspekte einbeziehen,
z. B. in den Leistungszielen, die auf Chancengleichheit oder Inklusion abzielen oder zu
Beteiligungsformaten vielfältiger Zielgruppen.
Die Projektorganisation wird für jedes Projekt so aufgestellt, wie es für den Projekt-
erfolg notwendig ist. Die personelle Besetzung der Projektrollen sollte möglichst alters-
gemischt und aus verschiedenen Kulturen sowie Nutzergruppen zusammengestellt
werden, damit die Potenziale aus unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen
genutzt werden. So werden unterschiedlichste Perspektiven der Stakeholder*innen
besser verstanden und berücksichtigt.
Wie können Stakeholder*innen, Chancen, Risiken erkannt und optimale Maßnahmen
zur Zielerreichung entwickelt werden? Um diese Felder strukturiert beleuchten zu können,
ist nicht nur Methodenwissen notwendig, sondern auch die Beteiligung von Menschen
mit Offenheit und Empathie. Auch in der Verwaltung gibt es Seiteneinsteiger*innen, die
schwierige Zugänge zu Bildung hatten und auf ihrem schulischen und beruflichen Weg
viele Hürden überwinden mussten. Sie können besonders vielseitig, durchsetzungsstark und
anpassungsfähig sein und sich häufig leichter in Menschen aus unterschiedlichen Gruppen
hineinversetzen. Mit ihren Fähigkeiten und Netzwerken können sie Türen öffnen, Zugänge
zu projektrelevanten Zielgruppen ermöglichen und wichtige Beiträge zum Projekterfolg
liefern. Holen wir sie darum in unsere Projektteams und Expert*innengruppen.
In der Grobplanung werden die Projektphasen, Hauptaktivitäten zur Zielerreichung
mit den wichtigsten Maßnahmen aus dem Stakeholder- sowie Chancen- und Risiko-
management, Meilensteine und Ressourcenbedarfe definiert. Darin sollte sich auch das
Vorgehen im Projekt unter Berücksichtigung der Vielfältigkeitsaspekte widerspiegeln.
Projekte werden jetzt formal beauftragt und Ressourcen bereitgestellt.
3.2 Planungsphase
In der Planungsphase wird das Projektteam besetzt. Projektteams werden in der Ver-
waltung häufig immer noch vorwiegend aufgrund von fachlichen Kompetenzen
zusammengestellt. Daneben sollten Projektleitungen bei jedem Teammitglied auch auf
soziale Kompetenzen wie Offenheit, Toleranz und Empathie setzen.
Nun findet das initialen Kickoff des Projektteams und der Lenkungsgruppe statt.
Darin wird der Grundstein für gute Zusammenarbeit, Offenheit, Erwartungen und
kreativen Lösungen gesetzt. Die Projektleitung kann mit Unterstützung des PMO die
Teamentwicklung – insbesondere bei sehr heterogen zusammengesetzten Teams – durch
moderierten Kickoffs und regelmäßigen Retrospektiven fördern, damit diese Basis von
Beginn an hergestellt und fortlaufend weiterentwickelt werden kann. Dadurch werden
die Kommunikation im Projektteam und die Wertschätzung untereinander gefördert.
In dieser Phase werden auch die Projektstruktur, Ablauf- und Termin- Ressourcen-
und Kostenplanung durchgeführt, das Vorgehen des Projektes konkretisiert und
geplant. Hierbei ist zu beachten, dass Innovationen und neue Ideen verschiedene
Perspektiven erfordern. Je unterschiedlicher die beteiligten Menschen im Projektteam
oder Expert*innengruppen sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass andere
Sichtweisen in die bestmögliche Lösungsumsetzung einfließen können. Um dieses
Was hat Diversity mit Projektmanagement zu tun? 235
In dieser Phase findet die Steuerung der Zielerreichung und des Projektfortschritts,
der Stakeholder*innen, der Kommunikation, der Risiken und Ressourcen statt. Nun
erfolgt der eigentliche Wertschöpfungsprozess. Das Projekt stellt Produkte oder Dienst-
leistungen her.
Um die Bedarfe der Projektkund*innen besser zu verstehen und auch bei knappen
Ressourcen bestmögliche Produkte für die Verwaltung und ihre Kund*innen zu ent-
wickeln, werden Workshops durchgeführt. Innovative Lösungen können in einem
vielfältigen Umfeld am besten entstehen. Unterschiedliche Perspektiven helfen
dann dabei, Ideen zu hinterfragen und zu verbessern. Konsequent in verschiedenen
Vielfaltsdimensionen entwickelte Produkte oder Dienstleistungen ermöglichen Ver-
waltungsservices mit höherer Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger. Wenn die
Projektleitung also hier dafür sorgt, dass verschiedene Persönlichkeiten ihre Expertisen
und Perspektiven einbringen dürfen und diesen Prozess methodisch unterstützt, kann das
Projektteam deutlich bessere und innovativere Lösungen entwickeln. Das Projektteam
kann hierfür z. B. Workshops durchführen und Kreativitätstechniken oder Nutzer*innen-
reisen mit verschiedenen Personas2 anwenden, aus denen Prototypen für Services ent-
wickeln und von den Kundinnen und Kunden rückkoppeln lassen.
Im Projektmarketing kann das Projektteam durch vorgelebte Vielfalt ein modernes
sowie positives Image bei potenziellen Mitarbeitenden und Kund*innen der Ver-
waltung erzeugen. Dies zeigt es über die eigene Projektkommunikation in verschiedenen
Kanälen, wie beispielsweise in Newslettern, Workshops, Blogartikeln, Pressemeldungen,
Floorwalking, Messeständen oder Aktionstagen.
2 Personasveranschaulichen typische Vertreter einer Zielgruppe. Sie helfen als fiktive Anwender
dabei, Bedürfnisse, Einstellungen und Aktivitäten potenzieller Anwender besser zu verstehen und
Annahmen zu treffen.
236 S. Meister
3.4 Abschlussphase
In der Abschlussphase bereitet das Projekt u. a. die Übergabe in die Linie und die
spätere Evaluation mit einer Überprüfung der nachhaltigen Wirkung der Projektergeb-
nisse vor. Zudem sichert es Projekterfahrungen und führt Abschlussgespräche mit der
Lenkungsgruppe. Die Projektleitung erstellt einen Abschlussbericht und löst die Projekt-
organisation auf.
In dieser Phase sollte das Projekt mit den relevanten Stakeholder*innen reflektieren,
inwieweit die ursprünglich vereinbarten Projektziele erreicht wurden und ob bzw. warum
es Abweichungen bei der Zielerreichung und dem Vorgehen gab. Diese Reflektion der
Erfahrungen kann vom PMO professionell moderiert und bewertet werden. Aus den
Ergebnissen können nicht nur individuelle Projekterfahrungen und neu erlangtes Wissen
für künftige Projekte nutzbar gemacht werden, sondern auch wichtige Rückschlüsse für
notwendige strukturelle Weiterentwicklungen für die vielfältige Projektarbeit in der Ver-
waltung gezogen werden.
Das Projekt ist nach der Abnahme durch die Lenkungsgruppe abgeschlossen.
4 Fazit
Zusammenfassung
In diesem Fachbeitrag wird das Konzept von Gender Budgeting expliziert und kritisch
eingeordnet. Anschließend werden anhand des Anwendungsfalls der gendergerechten
Haushaltssteuerung diverse Umsetzungskonzepte für die Praxis vorgestellt. Ange-
sichts des langhaltenden Diskurses über die Entwicklung und Implementierung von
Gender Budgeting von nunmehr über zwei Jahrzehnten stellt sich inzwischen die
Frage, ob die Konzeption von Gender Budgeting – insbesondere vor dem Hintergrund
des Diversity-Gedankens – nicht veraltet ist und einer konzeptionellen Erweiterung
bedarf. Auf diese Fragestellung wird im abschließenden Fazit und Ausblick ein-
gegangen.
Schlüsselwörter
J. Meister ( )
Freie und Hansestadt Hamburg, Hamburg, Deutschland
M. Pozder
PricewaterhouseCoopers GmbH, Frankfurt am Main, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 237
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_18
238 J. Meister und M. Pozder
1 Einleitung
„Geld regiert die Welt!“ – so oder so ähnlich mutet es an, wenn im Bund, in Ländern
und Kommunen Finanzminister*innen und Kämmerer*innen ihre Haushaltsplanentwürfe
vorstellen und Abgeordnete ihr Etatrecht – das „Königsrecht“ des Parlaments schlechthin
– nutzen, um in Plenar- und Ausschusssitzungen über den öffentlichen Haushalt intensiv,
emotional und medial wirksam zu debattieren (und schlussendlich – hoffentlich – den
Haushaltsplan zu beschließen). Das Ringen um die Verteilung von knappen Haushalts-
mitteln ist seit jeher ein zähes Geschäft, wo Mehrheiten im politisch-administrativen
System ständig neu mobilisiert werden müssen, damit die eigene Fachpolitik nicht zu
knapp kommt und gewollte Projekte erfolgreich „ausfinanziert“ werden. Angesichts
der elementaren Bedeutung des öffentlichen Haushalts sind die Fragen hinsichtlich der
Ressourcenverteilung und des Ressourceneinsatzes auch für die Diversity-Bewegung
von zentraler Bedeutung. In diesem Zusammenhang steht vor allem der Aspekt der
Gendergerechtigkeit in der Haushaltsplanung bereits seit längerem im fachöffentlichen
Fokus.
Das Thema des sog. „Gender Budgeting“ ist mithin nicht neu. Bereits zu Beginn
der 2000er-Jahre ist es vielfältigen zivilgesellschaftlichen Gleichstellungsinitiativen
gelungen, den Diskurs über die Implementierung von Gender Budgeting auch im
deutschsprachigen Raum kontinuierlich voranzubringen. Mit Gender Budgeting eng
verbunden ist die Erwartungshaltung, notwendige emanzipatorische Veränderungen
in Staat, Verwaltung und Gesellschaft über die öffentliche Haushaltspolitik und Haus-
haltssteuerung induzieren zu können und mithin Beiträge zu mehr Geschlechterge-
rechtigkeit zu generieren. Indem Haushaltsmittel gendergerecht verteilt und eingesetzt
werden, soll es gelingen, auf die ungleichen Lebensverhältnisse von Frauen und
Männern zu reagieren, gleiche Lebens-, Entfaltungs- und Teilhabechancen zu erreichen
und mithin die verfassungsgemäße Gleichberechtigung von Frauen und Männern1
über das Instrument des öffentlichen Haushalts sicherzustellen. Die ehemalige Finanz-
senatorin Bremens, Karoline Linnert, hat den Konnex von Haushalt und Gleichstellung
folgendermaßen prägnant formuliert: „Wenn man Prioritäten definiert, kann die staat-
liche Ausgabenpolitik ein machtvolles Instrument zur Verringerung von Ungleichheiten,
zur Beseitigung von Diskriminierung und zur Herstellung tatsächlicher Gleichstellung
sein“ (Linnert 2011, S. 4).
Im nachfolgenden Fachbeitrag wird das Konzept von Gender Budgeting zunächst
expliziert und kritisch eingeordnet. Anschließend werden anhand des Anwendungs-
falls der gendergerechten Haushaltssteuerung diverse Umsetzungskonzepte für die
Praxis vorgestellt. Angesichts des langhaltenden Diskurses über die Entwicklung und
Implementierung von Gender Budgeting von nunmehr über zwei Jahrzehnten stellt sich
inzwischen die Frage, ob die Konzeption von Gender Budgeting – insbesondere vor
dem Hintergrund des Diversity-Gedankens – nicht veraltet ist und einer konzeptionellen
Erweiterung bedarf. Auf diese Fragestellung wird im abschließenden Fazit und Ausblick
eingegangen.
Gender Budgeting wird grundsätzlich als Oberbegriff für die Entwicklung und den Voll-
zug von gleichstellungsorientierten Politik- und Verwaltungsprozessen bei der Haus-
haltsaufstellung verwendet. In einer weitergehenden Konzeptbetrachtung erfasst Gender
Budgeting aber auch den gesamten Ablauf des Haushaltszyklus bzw. Haushaltskreislaufs
(Kuhl 2011, S. 1). Nach diesem Verständnis ist kein gesonderter Haushalt gemeint, wenn
von Gender Budgeting gesprochen wird. Vielmehr geht es um die Erweiterung der Haus-
haltsplanung um die Geschlechterperspektive, um spezifische gesellschaftliche, soziale
und wirtschaftliche Ziele der Gleichstellung tatsächlich zu erreichen. Dies erfolgt einer-
seits, indem eine geschlechtergerechte Ausrichtung sämtlicher Einnahmen und Aus-
gaben im Rahmen des Haushaltsplans vorgenommen wird (vgl. Frey und Köhnen 2011,
S. 7). Das ist insoweit relevant, weil die Gegenüberstellung von Einnahmen und Aus-
gaben2 zwar formalen Charakter hat, materiell gesehen aber alles andere als „neutral“
ist. Tatsächlich werden mit dem Haushaltsplan vielmehr die ökonomischen, sozialen und
gesellschaftlichen Prioritäten eines Staates (oder einer Kommune) reflektiert, die Werte
einer Gesellschaft bzw. ein bestimmtes gesellschaftspolitisches Leitbild widerspiegelt
und die Machtverhältnisse in der Gesellschaft manifestiert (vgl. Mader 2009, S. 18 ff.).
Aus „verwaltungstechnischer“ Sicht ist für Gender Budgeting keine Veränderung der
Buchführung zwingend notwendig. Der Gedanke des gendergerechten Haushalts kann
gerade im Hinblick auf die Verteilungsfrage auch „traditionell“ Input-orientiert statt-
finden (Kameralistik). Weil mit Gender Budgeting gleichwohl aber auch konkrete Ziele
und Wirkungen erreicht werden sollen, sollte auch die Wirkungsseite betrachtet werden.
Damit ist Gender Budgeting eng verbunden mit den haushaltspolitischen Ansätzen der
Doppik und der Output-orientierten bzw. Outcome-orientierten (wirkungsorientierten)
Haushaltssteuerung (vgl. KGSt 1993). Gender-Ziele können etwa Bestandteil einer
Kennzahlenplanung im Rahmen der wirkungsorientierten Haushaltssteuerung sein. Ins-
gesamt zeigt sich, dass Gender Budgeting praktischen Eingang in alle öffentlichen Haus-
halte finden kann – ob kameral oder doppisch.
Auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen ist im Laufe der Zeit eine Vielzahl an
Definitionen zu Gender Budgeting entstanden, die im Wesentlichen die gleichen Ziele
2 Soweit
kameralistisch, in der Doppik würde von der Gegenüberstellung von Erträgen und Auf-
wendungen gesprochen werden.
240 J. Meister und M. Pozder
postulieren, sich aber im Hinblick auf die konzeptionelle Reichweite, die methodische
Ausrichtung und die definitorische Klarheit teilweise stark unterscheiden. Drei Beispiele:
„Gender Budgeting als Teilstrategie des Gender Mainstreaming bezieht sich auf die öko-
nomischen, fiskalischen und finanzpolitischen Aspekte des staatlichen Handelns […].
Kern des Gender Budgeting ist die Anwendung von Gender Mainstreaming in Bezug auf
den Haushalt. Gender Budgeting ermöglicht die systematische Analyse, Steuerung und
Evaluation des Haushalts bezüglich seines Beitrags zur tatsächlichen Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und zur Beseitigung bestehender Nachteile.
Gender Budgeting bedeutet die systematische Prüfung aller Einnahmen und Ausgaben im
Haushaltsprozess bei der Aufstellung, Ausführung und Rechnungslegung sowie aller haus-
haltsbezogenen Maßnahmen auf die ökonomischen Effekte für Frauen und Männer sowie
auf die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse. Dabei sollte die gesellschaftliche Ver-
teilung der Ressourcen Geld und Zeit sowie bezahlte und unbezahlte Arbeit berücksichtigt
werden. Diese Prüfung bildet die Grundlage für gleichstellungswirksame finanzbezogene
Maßnahmen.“ (Färber und Dohmen 2006).
Fraglich ist, inwieweit die Verwaltungspraxis in der Lage ist, die Reichweite dieser
Definitionen von Gender Budgeting überhaupt praktisch umzusetzen. So scheitert die
systematische Planung, Steuerung und Durchsetzung von genderbezogenen Aspekten
schon allein daran, dass weite Teile von Ausgabeermächtigungen im Haushalt zur
Finanzierung von gesetzlichen Transferleistungen dienen. Angesichts der rechtlich
normierten subjektiven Rechtsansprüche auf Sozialleistungen bestehen hier kaum
nennenswerte Ermessensspielräume, die für genderbezogene Steuerungsinteressen
genutzt werden könnten. Allein im Bundeshaushalt 2022 haben Sozialleistungen über
40 % des gesamten Bundeshaushalts ausgemacht (IAQ 2022). Ähnliches lässt sich auch
bei den Zuwendungen finden, die ebenfalls auf Basis von Förderrichtlinien vergeben
werden und nicht über den Haushalt formal gesteuert werden können.
3 Gängige deutsche Übersetzung, die inzwischen vielfach verwendet wird, u. a. in Färber und
Dohmen (2006, S. 20). Der Originaltext lautet: „Gender budgeting is an application of gender
mainstreaming in the budgetary process. It means a gender-based assessment of budgets,
incorporating a gender perspective at all levels of the budgetary process and restructuring revenues
and expenditures in order to promote gender equality“ (Europarat 2005, S. 10).
Gender Budgeting – den öffentlichen Haushalt gerechter gestalten? 241
„Mit Gender Budgeting kann beispielsweise analysiert werden, wie Mittel zwischen männ-
lich und weiblich dominierten Gesellschaftsbereichen (z. B. Subventionen für Unter-
nehmen mit Normalarbeitsverhältnissen oder für Wirtschaftsbereiche mit vor allem prekärer
Beschäftigung; Förderung von motorisiertem Individualverkehr oder von öffentlichem
Personennahverkehr) oder zwischen Männern und Frauen (z. B. Sozialversicherungs-
ansprüche bei Steuerklasse III oder V) verteilt werden. Gender Budgeting zeigt neben
der Verteilung auf, welche Wirkungen die Mittelverteilung auf die gesellschaftlichen
Geschlechterverhältnisse und die Entwicklung von Gleichstellung nach sich zieht. Damit
kann verhindert werden, dass die Verteilung von Geldern unbeabsichtigt einseitig nur einer
Gruppe zugutekommt (mittelbare Diskriminierung), einseitig bestimmte Lebensmodelle
fördert oder dass Mittel nicht entsprechend dem erforderlichen Zweck eingesetzt werden.“
(Friedrich-Ebert-Stiftung, Kuhl 2017, S. 10).
„Mit Gender Budgeting werden staatliche Mittel zur Umsetzung der gesellschaftspolitischen
Zielsetzung der Gleichstellung von Männern und Frauen genutzt. […] Die Zielsetzung von
Gender Budgeting ist es – ganz gleich ob Analyse oder Prozess – zur gendersensiblen und
gleichstellungsorientierten Nutzung staatlicher Finanzmittel beizutragen.“ (Kuhl 2011, S. 1).
„Gender Budgeting ist eine Strategie, die zum Ziel hat, den gesetzlichen Auftrag der
Gleichstellung zu erfüllen. (Frey und Köhnen 2011, S. 37) […] Die Auswirkungen des Ver-
waltungshandelns und der Budgetpolitik insbesondere hinsichtlich der Verteilung und Auf-
bringung öffentlicher Mittel auf Frauen und Männer zu analysieren und gegebenenfalls
korrigierende Maßnahmen zu ergreifen.“ (a.a.O., S. 9).
[Gender Budgeting] ist ein Verfahren zur systematischen Analyse und Gestaltung der
öffentlichen Haushalte mit dem Ziele, Leistungen, Maßnahmen und Kennzahlen in den
Haushaltsplänen auf ihre Auswirkungen auf die Geschlechter zu überprüfen werden. Auf
Grundlage dieser Analyseergebnisse sollen Haushaltsaufstellung und -vollzug durch-
geführt werden, um eine gleichstellungsorientierte Ressourcenverwendung zu erreichen.
Im Rahmen der gleichstellungsorientierten Haushaltssteuerung werden Wirkungsziele
formuliert und zum Beschlussobjekt im Haushalt gemacht. Im Haushaltscontrolling und
-abschluss ist die Zielerreichung und die Wirkung auf die Geschlechter zu bewerten.“4
(Linnert 2011, S. 5).
4 Linnert
verwendet die Bezeichnung „gleichstellungsorientierte Haushaltssteuerung“ als deutsches
Äquivalent zum Begriff des Gender Budgeting.
242 J. Meister und M. Pozder
Insgesamt wird deutlich, dass mit dem Instrument des Gender Budgeting hohe normative
Erwartungen verbunden sind. Zugleich ist Gender Budgeting nicht so klar umrissen, wie
es analytisch wünschenswert wäre. Oder anders ausgedrückt: Wie Gender Budgeting
in der Praxis umgesetzt wird, hängt auch davon ab, was man unter dem Begriff ver-
stehen will. Nach den genannten Definitionen und Erwartungsformulierungen müsste
in Bezug auf die erwähnten gesetzlichen Leistungen, die einen signifikanten Teil im
Haushalt ausmachen (s. o.), eigentliches folgendes Prozedere theoretisch regelmäßig
durchlaufen werden: Wann immer eine Leistung mit Finanzwirkung Gegenstand eines
Gesetzgebungsverfahrens ist, müsste geprüft werden, ob diese Modifikation Aus-
wirkungen auf die Chancengleichheit von Frauen und Männern hat (genderbezogene
Gesetzesfolgenabschätzung). Je nach Ergebnis der Folgenabschätzung müssten bereits
im Gesetzgebungsverfahren notwendige Anpassungen vorgenommen werden. In der
Praxis wird der Ansatz gleichwohl oftmals andersherum gefahren: Im Haushalt werden
ex post Kennzahlen identifiziert, die genderbezogene Defizite aufweisen. In der Folge
werden fachpolitische Maßnahmen angestoßen, um diese Defizite abzubauen. Dadurch
verlagert sich die Steuerung aber aus dem Haushalt heraus wieder zurück in die fach-
politische bzw. fachministerielle Steuerungsebene. Damit wird die Steuerungsreichweite
des Haushalts auf die „bloße“ Kennzahlenplanung reduziert und auf eine direkte Ein-
flussnahme auf das Budget verzichtet. Zudem perpetuieren sich die bereits genannten
Probleme der Steuerbarkeit des Haushalts vor dem Hintergrund der Dominanz gesetz-
licher Regelungen an anderer Stelle. Der Haushaltsplan verfügt angesichts der o. g.
Rahmenbedingungen nur über begrenzte Hebel, Gelder im gendergerechten Sinne
umzuleiten. Hier ein plakatives Beispiel: Elterngeld wird nach wie vor vordergründig
von Frauen genutzt und trägt damit zu diversen strukturellen Problemen der Ungleich-
heit bei. Trotzdem kann nicht über den Haushalt eingeplant werden, dass nur noch
paritätisch Elterngeld finanziert wird. Der Haushaltsplan ist kein Instrument, um etwaige
geschlechtsspezifische Rollen- und Aufgabenverteilungen festzuschreiben oder zu ver-
ändern. Insofern kann die Steuerung über den Haushalt keineswegs etwaige Handlungs-
notwendigkeiten einer (Bundes- bzw. Landes-) Gesetzgeberin ersetzen.
Trotz dieser Konzept- und Implementationsprobleme haben sich im Laufe der Zeit
verschiedene praktische Vorgehensmodelle für die Einführung von Gender Budget in der
öffentlichen Verwaltung etabliert. Diese werden im nächsten Kapitel dargelegt.
3 Gendergerechte Haushaltssteuerung
Die oben genannten Prozesse machen deutlich, dass Gender Budgeting auf der einen
Seite eine wichtige ex-ante-Perspektive umfasst. Gender Budgeting adressiert in diesem
Zusammenhang die Umsetzung eines gendergerechten Haushaltsaufstellungsverfahrens,
um direkt bei der Mittelverteilung im Haushaltsplan anzusetzen und darüber „frühzeitig“
gleichstellungswirksame Verteilungslogiken sicherzustellen. Als konzeptionelle Lücke
kann gleichwohl hier erneut konstatiert werden, dass der Haushaltsplan aber offenkundig
nicht über die Steuerungskraft verfügt, die für die Erreichung der Ziele und Erwartungen
eines Gender Budgeting notwendig wären. So soll das Haushaltsverfahren auf der einen
Seite dazu beitragen, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie deren
Gender Budgeting – den öffentlichen Haushalt gerechter gestalten? 245
Chancengleichheit gefördert werden. Doch auf der anderen Seite kann der Haushalt
nicht Umverteilungen vornehmen, die die Gesetzgeberin gar nicht vorgesehen hat. Inso-
fern können über das Gender Budgeting allenfalls kennzahlenbezogene Defizite erkannt
werden, die anschließend von der Gesetzgeberin adressiert werden können. Dies stellt
sodann aber keine ex-ante-Steuerung mehr, sondern eine ex-post-Steuerung.
Angesichts dieser praktischen „ex-ante-Schwäche“ sollte der Blick auf die ex-post-
Analyse des Gender Budgeting gelegt werden, mit der mithin evaluiert werden kann,
inwieweit ein verabschiedeter Haushaltsplan tatsächlich gendergerecht ist bzw. war. Die
ex-post-Analyse kann demnach als ein geeignetes Instrument wirken, um ggf. überhaupt
erst einmal ein Problembewusstsein zu schaffen, in welchem das (Ungerechtigkeits-)
Problem initial deutlich gemacht wird und konkrete Veränderungsbedarfe indiziert
werden. Die ex-post-Analyse kann Transparenz darüber schaffen, wie durch eine vor-
liegende beschlossene Mittelverteilung bestimmte Ungleichheiten konkret produziert
und reproduziert werden und mithin sich ungerechte Geschlechterverhältnisse in der
Gesellschaft tatsächlich perpetuieren. Mit dem generierten Problembewusstsein, dass der
verabschiedete Haushalt realiter Geschlechterungerechtigkeiten produziert, ist der erste
Schritt zur zukünftigen Veränderung der Verteilung von Haushaltsmitteln erreicht (wobei
auch hier der o. g. Kritikpunkt wieder gilt, dass es streng genommen die vorgelagerten
Gesetze und Regelungen sind, die für die Mittelverteilung ursächlich sind, und dass der
Haushalt nur das Resultat dieser Gesetze und Regelungen ist). In einem zweiten Schritt
kann nun der spezifische lokale Handlungsbedarf aufgezeigt werden, indem – auf-
grund der vorgelagerten Gesetze und Regelungen vordergründig fachpolitische, weniger
haushaltspolitische – Vorschläge für alternative, gendergerechte Mittelverteilungen
entwickelt und vorgelegt werden (vgl. Kuhl 2011, S. 3). Exemplarisch hat die Politik-
wissenschaftlerin Mara Kuhl im Rahmen einer Gender Budgeting-Analyse die deutschen
Konjunkturpakete I und II in 2008 und 2009 dahingehend untersucht, inwiefern die
mit den Konjunkturpaketen verbundenen Maßnahmen zu einem positiven Beitrag hin-
sichtlich der demokratischen Entwicklung der Geschlechterverhältnisse geführt haben,
eine Verschlechterung der gleichstellungspolitischen Situation verursacht haben oder
neutrale (also „keine“) Effekte auf die Gleichstellung gehabt haben (ebd.). Als Heraus-
forderung stellt Kuhl dar, die komplexe Materie eines Haushaltsplans so zu verdichten,
dass analyserelevante Ergebnisse aussagekräftig und übersichtlich dargestellt werden.
Dies vorausgeschickt, kommt Kuhl zu folgender standardisierter Methodik für ex-post-
orientierte Gender Budgeting-Analysen (a.a.O., S. 4):
und würde das bestehende Haushaltssystem des Bundes überfrachten“ (Deligöz und
Kindler 2019; Deutscher Bundestag 2020, S. 7). Auf der anderen Seite sollte nicht ver-
nachlässigt werden, dass durchaus immer wieder neue Agenda-Setting- und (limitierte)
Implementationserfolge entstehen. Die neue Bundesregierung in der 20. Wahlperiode
hat im Rahmen des Koalitionsvertrags von SPD, Grüne und FDP immerhin verein-
bart, Gender Budgeting „auf Bundesebene im Sinne einer verstärkten Analyse der
Auswirkungen finanzpolitischer Maßnahmen auf die Gleichstellung der Geschlechter
weiter[zu]entwickeln und auf geeignete Einzelpläne an[zu]wenden“ (Bundesregierung
2021, S. 129). Ein aktuelles Implementationsbeispiel auf Länderebene stellt die Freie
und Hansestadt Hamburg dar, die erstmals im Februar 2023 einen Bericht zur gleich-
stellungswirksamen Haushaltssteuerung für das Haushaltsjahr 2022 vorgelegt hat,
um den verfassungsrechtlichen Gleichstellungsauftrag im Haushaltsprozess und bei
den haushaltsrelevanten Entscheidungen zu berücksichtigen (Freie und Hansestadt
Hamburg 2023). Kritisch muss aber angemerkt werden, dass auch hier „nur“ Kenn-
zahlen mit Gleichstellungsbezug abgebildet und erläutert werden, ohne einen direkten
Zusammenhang zu den Budgetansätzen herzustellen, sodass die Ursache-Wirkungs-
kette von Ressourcenverteilung auf die Chancengleichheit von Frauen und Männern
nicht unmittelbar ersichtlich ist. Ungeachtet dessen kann konstatiert werden, dass ins-
gesamt die drei Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg hinsichtlich des Umgangs
mit den Kennzahlen (sowie anderen Bereichen, z. B. der gendergerechten Gestaltung
von Förderprogrammen) im Ländervergleich fortgeschritten sind und mithin als relative
„Leuchttürme“ in Deutschland gesehen werden können. Als Vorreiter ist vor allem
Sachsen-Anhalt zu erwähnen, wo überdies mit sogenannten „Gender Marker“ gearbeitet
wird. Da ein „bloßer“ Planansatz selbst keine Auswirkungen auf Männer und Frauen
haben kann, wird in Sachsen-Anhalt als Kriterium für das Genderziel die geplante
Wirkung definiert und mit einem Gender Marker gekennzeichnet (Sachsen-Anhalt o. J.):
Insgesamt stellt sich jedoch die Frage, ob vor dem Hintergrund des modernen Ver-
ständnisses von Vielfalt – im Sinne des Diversity-Begriffs in Anlehnung an 4 Layers
of Diversity nach Gardenswartz/Rowe5 – tatsächlich weiterhin ein solitäres Gender-
orientiertes Verständnis einer gerechten Haushaltsplanung normativ angestrebt
werden sollte. Gender Budgeting richtet – schon qua Begriff – das Augenmerk auf die
Geschlechterdimension, in der Praxis überdies zumeist traditionell bezogen auf Frauen
und Männer und mithin unter Ausblendung geschlechtlicher Identitäten. Eine solche
Fokussierung ist nicht in der Lage, andere Marginalisierungs- und Diskriminierungs-
erfahrungen zu erfassen. Hinsichtlich ihres Gerechtigkeitsanspruchs kommt Gender
Budgeting mithin zu kurz. Insofern erscheint es angebracht, eine konzeptionelle
Erweiterung im Sinne eines „Diversity Budgeting“ kurz- und mittelfristig anzustreben.
Demnach würde eine Haushaltsplanung sich an alle sieben Diversity-Dimensionen aus-
richten und eine ganzheitliche Perspektive einnehmen, die auch gesellschaftlichen Dis-
kriminierungsphänomenen wie etwa der Intersektionalität gerecht würde. Eine solche
konzeptionelle Erweiterung würde parallel sogar dazu beitragen, die Haushaltsplanung
stärker an die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development
Goals, United Nations 2015) auszurichten, weil Diversity auf zahlreiche Nachhaltig-
keitsziele gleichermaßen einzahlt, insbesondere aber auch auf das Nachhaltigkeitsziel 5
– Gleichstellung der Geschlechter.
5 Zur
weiteren Erläuterung der Dimensionen von Vielfalt s. Kap. 1 „Diversity in der öffentlichen
Verwaltung – eine Einführung“.
Gender Budgeting – den öffentlichen Haushalt gerechter gestalten? 249
Vor diesem Hintergrund kann konstatiert werden, dass Gender Budgeting und
Diversity Budgeting evident ein großes Emanzipations- wie auch Gerechtigkeits-
potenzial haben. Zugleich ist zu konzedieren, dass die Implementation offenkundig mit
größeren Hürden verbunden ist. Die Integration von Gender Budgeting in den Haus-
haltszyklus wie auch die Internalisierung von Diversity-Paradigmen in das finanzwirk-
same Politik- und Verwaltungshandeln stellen somit ein weitreichendes Unterfangen
dar. Es bedarf eines langen Atems von Wissenschaft, Verbänden, zivilgesellschaft-
lichen Initiativen und Diversity-orientierten Politiker:innen und Verwaltungskräften, um
Diversity im Haushaltswesen institutionell und kulturell wirksam zu verankern. Gerade
mit Blick auf die politischen Akteur:innen besteht jedoch die große Befürchtung, dass
diese sich auch in Zukunft nicht wirklich anhand von Kennzahlen messen lassen wollen
– eine Problematik, auf die Bogumi et al. bereits vor über 15 Jahren im Zuge ihrer Kritik
am sog. „Neuen Steuerungsmodell“ sehr deutlich hingewiesen haben (Bogumil et al.
2007). Dies dürfte die größte Herausforderung für die konsequente Weiterentwicklung
darstellen. Denn für einen nachhaltigen Erfolg müssen alle genannten Akteur:innen eng
zusammenarbeiten, um erfolgreich Gender Budgeting von einem „technokratischem
Instrument“, das aufgrund bislang begrenzter Wirkungen manchmal wie eine Art
„Beschäftigungsprogramm für die Verwaltung oder Forschung“ wirkt (vgl. Mader 2009,
S. 170), zu einem Diversity Budgeting weiterzuentwickeln, das tatsächlich als wirkungs-
volle, strategische, kulturelle und praxisrelevante Haushaltsreform wirkt und mithin die
Haushaltsplanung zu einem starken Instrument zur Förderung von Chancengleichheit
und gleichberechtigter Teilhabe macht.
Literatur
Bogumil, J., Grohs, S., Kuhlmann, S., Ohm, A. (2007). Zehn Jahre Neues Steuerungsmodell –
Eine Bilanz kommunaler Verwaltungsmodernisierung. 2. Auflage. Baden-Baden: Nomos
Bundesregierung (2021). Koalitionsvertrag 2021–2025 „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis
für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ zwischen der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP). Berlin
Deutscher Bundestag (2020). Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage in Drucksache
19/23872 – Gleichstellung und Perspektivensicherung von Frauen in Filmberufen
Deligöz, Ekin/Kindler, Sven-Christian (2019). Geschlechtergerechter Etat - geht das? Beitrag in
der Frankfurter Rundschau, Tagesausgabe vom 11.04.2019, S. 10.
Europarat (2005). Gender budgeting: Final report of the Group of specialists on gender budgeting
(EG-S-GB 2004 RAP FIN). Straßburg: Directorate General of Human Rights
Färber, C., Dohmen, D. (2006). Machbarkeitsstudie Gender Budgeting auf Bundesebene. Berlin:
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haltsrechtsreform. Wien: Bundesministerium für Finanzen
Freie und Hansestadt Hamburg (2023). Gleichstellungswirksame Haushaltssteuerung: Hamburg
legt erstmals Bericht zur gleichstellungswirksamen Haushaltssteuerung vor. Hamburg: Finanz-
behörde
250 J. Meister und M. Pozder
Frey, R., Köhnen, M. (2011). Gender Mainstreaming – Arbeitshilfe für Gender Budgeting in der
Verwaltung. Wien: Bundeskanzleramt
IAQ – Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (2022). Die wichtigsten
sozialpolitischen Leistungen im Bundeshaushalt 2022 (Soll-Ausgaben). Duisburg: IAQ
KGSt (1993). Das Neue Steuerungsmodell – Begründung, Konturen, Umsetzung. KGSt-Bericht
05/1993. Köln: KGSt.
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Beispiels der Analyse der deutschen Konjunkturpakete I und II. In: gender…politik…online,
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Kuhl, Mara (2017). Öffentliche Gelder wirkungsvoll, gerecht und transparent verteilen mit Gender
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Linnert, Karoline (2011). Kursbuch Gleichstellungsorientierte Haushaltssteuerung – Gender
Budgeting: Bremen: Senatorin für Finanzen
Mader, Katharina (2009). Gender Budgeting: Ein emanzipatorisches, finanzpolitisches und demo-
kratiepolitisches Instrument. Wien: Peter Lang
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United Nations (2015). Transforming our world: the 2030 agenda for sustainable development, A/
RES/70/1. New York: United Nations
Dr. John Meister ist Experte für Reform- und Transformationsthemen in der öffentlichen Ver-
waltung. Er verfügt über breite interdisziplinäre Verwaltungserfahrung von über 15 Jahren und
war u. a. in Sozial-, Finanz-, Justiz-, Digitalisierungsressorts sowie auf Staatskanzleiebene tätig.
Er leitet aktuell das Referat „Inklusive Jugendhilfe“ in der Hamburger Sozialbehörde und ver-
antwortet die inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe. Daneben ist er Dozent für
Public Management mit Schwerpunkt in sozialwissenschaftlichen Themen an der Hochschule für
Angewandte Wissenschaften Hamburg.
Cigdem Bern
Zusammenfassung
Die Stadtverwaltung Krefeld hat sich vor einigen Jahren für eine konsequent-diverse
Ausrichtung der Verwaltung entschieden. Ein verwaltungsweiter Projektauftrag, die
Unterzeichnung der Charta der Vielfalt sowie die Initiierung von Projekt- und Arbeits-
gruppen hat zu einem umfangreichen Maßnahmenplan geführt. Über die Jahre hinweg
ist daraus eine zentrale Strategie geworden, die vor allem in der Kulturentwicklung
der Stadtverwaltung Krefeld aufgeht. Die Krefelder Beigeordnete, Cigdem Bern,
trägt die Verantwortung für dieses Thema und bringt sich aktiv in die Steuerung und
Ausrichtung dieser Handlungsfelder ein. Insofern spricht sie sich grundlegend dafür
aus, dass sich das Bewusstsein -insbesondere in der Unternehmenskultur der Stadt-
verwaltung Krefeld- und getragen durch ein Fundament durchdachter Maßnahmen
etablieren muss. Nur so können Bürger*innen, Kunden*innen, potenzielle
Bewerber*innen und Mitarbeitende die Diversität und Offenheit einer Verwaltung
auch spürbar erleben.
Schlüsselwörter
C. Bern ( )
Stadt Krefeld, Krefeld, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 251
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_19
252 C. Bern
1 Einleitung
Bevor ich auf die konkrete Frage eingehe, ob eine Verwaltung tatsächlich ein Diversity
Management benötigt, schildere ich Ihnen gerne zu Beginn einige Details über meine
Person und berichte Ihnen über die Stadt Krefeld als Arbeitgeberin:
Mein Name ist Cigdem Bern und ich bin seit November 2020 als Beigeordnete für
die Bereiche Innere Verwaltung, Bürgerservice und Feuerwehr bei der Stadtverwaltung
Krefeld tätig. Zuvor war ich für die Stadt Honnef sowie die Stadt Viersen zuständig und
habe hier unter anderem die Bereiche Bildung, Familie und Jugend, Sport sowie Kultur
verantwortet. Das Thema der diversen Ausrichtung hat mich im Rahmen meines beruf-
lichen Werdegangs inhaltlich begleitet und ist mir persönlich ein Anliegen. Aus diesem
Grund ist es mir wichtig, meine Arbeitgeberin – die Stadtverwaltung Krefeld – so zu
gestalten und auszurichten, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen
und Lebenssituationen an die Stadt Krefeld wenden können und sie als freundliche,
serviceorientierte und leistungsorientierte Dienstleisterin sowie als attraktive Arbeit-
geberin für den Nachwuchs sowie Quereinsteigende erleben.
Krefeld ist eine kreisfreie Stadt am Niederrhein und gehört zum Regierungsbezirk
Düsseldorf. In Krefeld leben 234.587 Menschen aus 159 verschiedenen Nationen,
37,7 % verfügen über einen Migrationshintergrund. Die Bevölkerung der Stadt Krefeld
ist demnach enorm vielfältig und so ist es seit vielen Jahren für uns selbstverständlich,
dass auch unsere Verwaltung – als Spiegelbild der Bevölkerung – eine diverse Beleg-
schaft beschäftigt.
Das Thema Diversität wird in Krefeld auf verschiedenen Ebenen gelebt. Ebene 1:
Die Stadt-verwaltung als steuerndes Organ für das Stadtgeschehen und die Aufrecht-
erhaltung des sozialen Gesamtgefüges. Ebene 2: Unsere Belegschaft, die sich mit den
vielfältigen Themen einer Stadt beschäftigt, in der die Bevölkerung vielsprachig,
kulturell lebendig und sozial divers geprägt ist. In der Stadt Krefeld wurde in diesem
Zusammenhang im Jahr 2018 der Fachbereich Migration und Integration gegründet, um
der hohen Bedeutung der vielfältigen Themen Rechnung zu tragen, sie zu bündeln und
eine zentrale Anlaufstelle einzurichten.
Interkulturalität, Vielfalt und Chancengleichheit sind allseits bekannte Schlagworte
unserer Gegenwart. Sie sind Verpflichtung und Chance zugleich. Und mit jeder Facette
des Verwaltungshandelns lassen sich diese Themen mit Leben füllen. So hat die Stadt
Krefeld vor einigen Jahren einen Prozess angestoßen, der mit einem kurz formulierten
Arbeitsauftrag des Verwaltungsvorstandes (VV) begann und dann sukzessive ver-
waltungsweite Ausmaße annahm. Das Projekt trug damals noch den etwas sperrigen
Titel „Interkulturelle Orientierung der Stadtverwaltung Krefeld als Arbeitgeberin“. Die
Verantwortung für dieses Großprojekt lag in meinem Geschäftsbereich III, die Steuerung
und Moderation bei unserer Abteilungsleiterin, zuständig für die Ausbildung, die
Personalentwicklung, den Kulturwandel und das Personalmarketing.
Braucht Verwaltung ein Diversity Management? … 253
Wie bereits kurz vorab geschildert, hat die Stadt Krefeld im Jahr 2015 das verwaltungs-
weite Projekt „Interkulturelle Orientierung der Stadtverwaltung Krefeld als Arbeit-
geberin“ ausgerufen. Sämtliche Fachbereiche hatten den Auftrag, Mitarbeitende und
Führungskräfte in das Projekt zu entsenden, um das Thema VIELFALT in seinem
Facettenreichtum innerhalb der Krefelder Verwaltung zu interpretieren und anschließend
in Maßnahmen zu implementieren. Was bedeutet Vielfalt im Sport? Was macht Vielfalt
in der Kultur? Wie muss sich der Sozialbereich aufstellen? Brauchen wir andere Aus-
wahlkriterien in unseren Personalbesetzungsprozessen? Diese und viele weitere Fragen
wurden über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren mit über 200 Vertreter*innen der 33
Fachbereiche und Institute der Stadtverwaltung Krefeld erörtert.
Wie Sie wissen: Auch der Weg ist das Ziel. So war nicht nur das 18-seitige
Maßnahmenportfolio das eigentliche Ergebnis des Prozesses, sondern vielmehr sorgten
die anregenden Arbeits- und Projektgruppensitzungen, die Diskussionen und Aus-
tausche, die vielen Ideen und Vorschläge aus der Belegschaft, Impulsveranstaltungen,
Fachvorträge und interkulturelle Begegnungen für die entsprechende Sensibilisierung
und Fachkenntnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Außerdem führte eine große
Diskussionsrunde unter Beteiligung vieler Akteure der örtlichen Integration zu einem
lebendigen kulturellen Austausch.
In besagtem 18-seitigen Portfolio wurden umfangreiche Angebote, Maßnahmen und
Projekte identifiziert, die teilweise bereits seit einigen Jahren in den Fachbereichen,
Instituten und Organisationseinheiten wahrgenommen wurden, jedoch nicht im Gesamt-
kontext des Themas gesteuert oder gebündelt worden sind. Dies wurde dann erfolgreich
im Rahmen des Projektes nachgeholt und führte zu einem beeindruckenden Ergebnis
bereits gelebter Vielfalt.
Dazu zählten unter anderem vielfältige interkulturelle Angebote, wie das Schwimmen
für muslimische Frauen im Sportbereich, die interkulturelle Tagung des Kultur-
büros, die fremdsprachigen Bestände unserer Mediathek, die Führungen für nicht-
deutsche Muttersprachler*innen und die bilingualen Lesungen für Kinder, oder gar die
Anpassung des städtischen Wochenmarktangebotes an veränderte interkulturelle Bedürf-
nisse. Nahezu alle Bereiche der Stadtverwaltung und ihre Institutionen hatten seiner-
zeit die Anforderungen der Krefelder*innen aus unterschiedlichen Kulturbereichen
bereits berücksichtigt. Längst gab es auf den Friedhöfen auch Bestattungsmöglich-
keiten nach unterschiedlichen religiösen und kulturellen Vorgaben. Dass die Volks-
hochschule ein umfassendes Angebot an Integrationskursen und -projekten bietet, war
schon eher bekannt. Aber dass beispielsweise die Krefelder Feuerwehr an Interkultur-
Kampagnen beteiligt ist, oder einen intensiven Kontakt zu Kollegen*innen in Krefelds
englischer Partnerstadt Leicester pflegt, hatte vor acht Jahren sicherlich noch nicht so
viel öffentliche Aufmerksamkeit erlangt.
254 C. Bern
Zwischenfazit: Das Thema „Diversity“ war bereits vor fast zehn Jahren für uns von
enormem Interesse und ließ Mitarbeitende innerhalb von Projekt- und Arbeitsgruppen-
Sitzungen zusammenrücken. Die strategische Steuerung und Konzeption für das Thema
Diversity Management folgten jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt.
Allen Bereichen der Stadtverwaltung Krefeld war das Thema Vielfalt nun bewusst,
der Begriff VIELFALT wurde alltäglich und in verschiedenen Kontexten verwendet
und wir hatten es uns zur Aufgabe gemacht, Steuerung, Strategie und Ausrichtung zu
konkretisieren und forcieren.
Wir haben uns in Krefeld gefragt, wie viel Sinn es macht, das Thema Diversity
Management zu separieren und singulär zu betrachten. Und wir sind zu einem für uns
essenziellen Schluss gekommen: Diversity Management benötigt eine andere Kultur,
eine neue Kultur, eine verwaltungsweite neue Ausrichtung im Rahmen eines Kultur-
wandels, um glaubhaft, transparent und „ehrlich“ erlebbar zu sein, um gelebt und
umgesetzt zu werden. Dinge größer zu denken, auch wenn eine solche Mammut-Auf-
gabe möglicherweise erst einmal abschreckend wirkt, ist oftmals die einzige Methode für
den „Großen Wurf“. Und ja, dafür haben wir uns in Krefeld entschieden.
Bei meinem Amtseintritt in Krefeld habe ich mit Oberbürgermeister Frank Meyer und
meinen Kolleg*innen des Verwaltungsvorstands entschieden, einen verwaltungsweiten
Kulturwandel zu initiieren. Unsere Abteilungsleiterin bekam die Aufgabe übertragen,
den Prozess ins Rollen zu bringen, zu begleiten und die Steuerung zu übernehmen. An
dieser Stelle darf ich erwähnen, dass es engagierter und leidenschaftlicher Kolleg*innen
bedarf, die sich einer solchen Herausforderung annehmen.
Braucht Verwaltung ein Diversity Management? … 255
Teil des verwaltungsweiten Kulturwandels ist es, das Bewusstsein der Mit-
arbeiter*innen der Stadt Krefeld für die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von
Menschen zu schärfen und sie entsprechend für den Umgang zu sensibilisieren. Nur
wenn dieses Bewusstsein in den Köpfen vorhanden ist, wird es gelingen, ein vorurteils-
freies und gegenseitig unterstützendes Miteinander zu gestalten. Nicht auf dem Papier,
nicht in der Schublade, sondern im alltäglichen Miteinander.
Zentrales Element hierfür war die Gestaltung, Konzeption und neue Einführung
des Krefelder Schlüsselkompetenzmodells. Wir haben dafür in einer breit angelegten
Projektgruppe zehn Kompetenzen definiert, die aktuell und zukünftig benötigt werden,
um Aufgaben in den unterschiedlichen Bereichen der Krefelder Stadtverwaltung
erfolgreich meistern zu können. In diesem Zusammenhang haben wir beispielsweise
die Gender- und Diversity-Kompetenz eingeführt. Ziel ist es dabei, Menschen bei der
Stadtverwaltung Krefeld zu beschäftigten, die fähig und bereit sind, geschlechtliche,
kulturelle, sexuelle, religiöse und soziale Unterschiede von Menschen als Potenziale zu
erkennen, die Vielfalt zu fördern und strukturellen und persönlichen Diskriminierungen
entgegenzuwirken. Indem Menschen für die Stadt Krefeld arbeiten, die diese Werte und
Haltung verinnerlicht haben und aktiv dafür eintreten, wird eine Kultur der Diversität
und Offenheit im gegenseitigen Austausch geprägt.
Eine weitere Maßnahme im Rahmen der Personalakquise ist die Öffnung der bisher
nur im Beamtenverhältnis angebotenen Ausbildungsberufe und dualen Studiengänge
im Verwaltungsbereich. Um dort auch neue Zielgruppen für die Verwaltungsberufe zu
erreichen und auch Personen mit unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten und unter-
schiedlichen Alters für den Einstieg in der Verwaltung berücksichtigen zu können, bildet
die Stadtverwaltung Krefeld im Verwaltungsbereich nicht länger nur im Beamtenverhält-
nis, sondern auch im Beschäftigtenverhältnis aus. Zudem werden auch die Ausbildungs-
und Studienmöglichkeiten in Teilzeit ausgeweitet.
Die Verfolgung eines ganzheitlichen Ansatzes steht im Vordergrund der Strategie
der Stadt Krefeld. So werden alle Mitarbeitenden aufgefordert und angehalten, ihre
individuellen Fähigkeiten einzubringen – und erfahren dafür Wertschätzung. Diversität
sollte von allen Mitgliedern der Organisation gelebt und in allen Strukturen verankert
sein, sodass diese als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird.
Nachwuchskräfte der Stadt Krefeld haben eine Arbeitsgruppe Diversity gegründet und ein
starkes Zeichen für Vielfalt innerhalb der Krefelder Verwaltung gesetzt. Auf verwaltungs-
internen Veranstaltungen und im Rahmen der interkulturellen Woche in Krefeld hat die
Arbeitsgruppe einen Fokus auf das Thema gelegt und so viele Kolleg*innen daran teilhaben
lassen. Weiterhin informieren sie durch einen Newsletter über aktuelle Themen. Hier können
sich auch alle Beschäftigte einbringen und beispielsweise internationale Rezepte teilen. So
wird das gegenseitige Verständnis weiter verfestigt und der Zusammenhalt gestärkt.
256 C. Bern
Auch die Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein erklärtes Ziel der Stadtverwaltung.
Um dies kontinuierlich zu unterstützen und Frauen für die Übernahme von (Führungs-)
Verantwortung zu begeistern und in ihrer Rolle zu stärken, hat die Stadt Krefeld diverse
Maßnahmen eingeführt. Unter anderem geben etablierte weibliche Führungskräfte ihre
Erfahrungen beim Mentoring für Frauen weiter. Sie identifizieren Stärken und Potenziale
von weiblichen zukünftigen Führungskräften und bauen diese gemeinsam aus. Die Reihe
„Frauen in Führung“ unterstützt diesen Prozess und richtet sich an alle Führungsfrauen der
Stadtverwaltung Krefeld.
In den vergangenen zwei Jahren konnten bereits 19 Mentees und 19 Mentorinnen von
dem gemeinsamen Austausch, begleitenden Workshops und der Vernetzung profitieren.
Auch die Möglichkeit, Führungsrollen in Teilzeit auszuüben, führt dazu, dass Diversität
bis in die Führungsebene weiter etabliert wird.
Zusätzlich bietet auch das Service-Portal als direkte Anlaufstelle für Bürger*innen die
Möglichkeit, Auskunft in sieben Sprachen zu erhalten. Dank der Sprachkompetenz der
eingesetzten Mitarbeiter*innen ist eine Auskunft im Serviceportal nicht nur in deutscher,
sondern derzeit in folgenden Fremdsprachen möglich: Englisch, Französisch, Italienisch,
Polnisch, Türkisch und Kurdisch.
Der Diversitäts-Aspekt findet sich auch im Zuge der in 2023 veröffentlichten Führungs-
leitlinien wieder. Unsere Führungskräfte sollen sich an den Maßstäben, die die Ver-
waltung für die Förderung und Stärkung der Diversität setzt, auch im Rahmen ihres
täglichen Handelns messen lassen.
Wir positionieren uns hinsichtlich LGBTQ – so wird die Ausbildungsleitung mit
knapp 300 Studierenden und Auszubildenden den Support des Christopher Street Days
in 2023 übernehmen. Außerdem werden wir die Zusammenarbeit mit unserer nieder-
ländischen Partnerstadt Venlo – die dort den „Roze Saterdag“ feiert – aktiv unterstützen.
wenn gemeinsam diskutiert, debattiert und vielleicht sogar kontrovers verhandelt wird,
sind Mitarbeitende wirklich beteiligt und involviert. Und nur dann wird Diversität ein
Thema, das von vielen Akteuren gemeinsam gelebt und getragen wird. Initiieren Sie
Arbeits- und Projektgruppen, unter Beteiligung unterschiedlicher Bereiche, Hierarchie-
ebenen und Interessenvertretungen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen – nämlich ein
Diversity Management als Bestandteil einer modernen, offenen, positiven und neuen
Verwaltungskultur zu entwickeln. Zeigen Sie das Verwaltungen Spiegelbilder der
Bevölkerung sind und darüber hinaus Attraktivität und Orientierung für Bewerbende
bietet. Dann wird das Thema Diversity Management als Teil des Kulturwandels tatsäch-
lich funktionieren.
Cigdem Bern, Stadtverwaltung Krefeld, Personal, Organisation, Recht, Bürgerservice und Feuer-
wehr.
Sie ist Volljuristin und hat sich bereits im Rahmen ihrer Funktionen beim Bundesamt für
Immobilienangelegenheiten, bei der Stadt Honnef sowie der Stadt Viersen und aktuell als Bei-
geordnete der Stadt Krefeld mit dem Thema der diversen Ausrichtung von Behörden befasst und
sich zur Aufgabe gemacht, diese strategisch und aktiv zu steuern.
Teil V Diversity im Personalmanagement fördern
Christian Zierau
Zusammenfassung
Wir sind mitten in einem gewaltigen Umbruch. Das Beben des Arbeitskräftemangels
steht unmittelbar bevor und ist in vielen Branchen bereits spürbar. Diese Realität
wird aber nur verzeichnet wahrgenommen und bleibt zu oft noch ohne Konsequenz,
denn ein Weiter so ist bequem. In der Vergangenheit stand eine Konsolidierung der
Staatsausgaben im Vordergrund, die regelhaft zu Lasten der Mitarbeitenden, z. B.
durch Stellenabbau, Lohnverzicht und Arbeitsverdichtung, durchgeführt wurde.
Innovation, Strategien und geeignete Anpassungen, um der aufziehenden Trans-
formation zu begegnen, gelang öffentlichen Verwaltungen in Deutschland nur ver-
einzelt. Zuletzt wurden zum Erhalt der Handlungsfähigkeit wieder vermehrt Stellen
aufgebaut. Doch immer mehr können nicht besetzt werden. Wir müssen aus dieser
Vergangenheit lernen und die gegenwärtigen Herausforderungen so lösen, dass wir
dauerhaft eine Funktionsfähigkeit erhalten bzw. wiederherstellen. Dies erfordert
Lösungen, die eine Vielzahl von neuen mit klassischen Ansätzen kombinieren. Statt
beim Personal zu sparen, muss es jetzt Personal stärken heißen. Wenn wir am Arbeits-
markt weniger Köpfe finden, müssen wir umso mehr auf die vielfältigen Fähigkeiten
der Mitarbeitenden, selbstbestimmte Teams und engagierte Führungskräfte setzen.
Dies gelingt jedoch nur mit strategischen Ansätzen, praktischer Umsetzung und einer
Kompetenz, die Vielfalt und Diversität fördert. Nur dann werden wir schnell genug
vorankommen, um gegenüber kommenden Herausforderungen und Veränderungen
gewappnet zu sein.
C. Zierau ( )
Stadtrat, Kiel, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 261
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_20
262 C. Zierau
Schlüsselwörter
1 Einleitung
Wir sind mitten in einem gewaltigen Umbruch. Das Beben des Arbeitskräftemangels
steht unmittelbar bevor und ist in vielen Branchen bereits spürbar. Diese Realität wird
aber nur verzeichnet wahrgenommen und bleibt zu oft noch ohne Konsequenz, denn ein
Weiter so ist bequem. In der Vergangenheit stand eine Konsolidierung der Staatsaus-
gaben im Vordergrund, die regelhaft zu Lasten der Mitarbeitenden, z. B. durch Stellen-
abbau, Lohnverzicht und Arbeitsverdichtung, durchgeführt wurde. Innovation, Strategien
und geeignete Anpassungen, um der aufziehenden Transformation zu begegnen, gelang
öffentlichen Verwaltungen in Deutschland nur vereinzelt. Zuletzt wurden zum Erhalt der
Handlungsfähigkeit wieder vermehrt Stellen aufgebaut. Doch immer mehr können nicht
besetzt werden. Wir müssen aus dieser Vergangenheit lernen und die gegenwärtigen
Herausforderungen so lösen, dass wir dauerhaft eine Funktionsfähigkeit erhalten bzw.
wiederherstellen. Dies erfordert Lösungen, die eine Vielzahl von neuen mit klassischen
Ansätzen kombinieren. Statt beim Personal zu sparen, muss es jetzt Personal stärken
heißen. Wenn wir am Arbeitsmarkt weniger Köpfe finden, müssen wir umso mehr auf
die vielfältigen Fähigkeiten der Mitarbeitenden, selbstbestimmte Teams und engagierte
Führungskräfte setzen. Dies gelingt jedoch nur mit strategischen Ansätzen, praktischer
Umsetzung und einer Kompetenz, die Vielfalt und Diversität fördert. Nur dann werden
wir schnell genug vorankommen, um gegenüber kommenden Herausforderungen und
Veränderungen gewappnet zu sein.
Wir diskutieren jeden Tag nur über schnell oder noch schneller. Unruhe macht sich
breit, wenn Vorfahrt nicht eingeräumt wird. Es kochen Emotionen hoch und Kritik ist
schnell formuliert. Verkürzung und Zuspitzung helfen selten und belasten Menschen wie
Strukturen. Das hilft im seltensten Fall, denn Sachverhalte und Herausforderungen sind
komplex und nicht schnell lösbar. Der Autor und Kolumnist Sascha Lobo brachte es bereits
vor der Corona-Pandemie 2019 in seinem Werk „Realitätsschock – Zehn Lehren aus der
Gegenwart“ (Lobo 2019) auf den Punkt. Die Rückseite des Buchumschlags titelt: „Haben
Sie auch das Gefühl, die Welt sei aus den Fugen geraten?“. Ja, das Funktionieren steht
mittlerweile zu oft auf der Kippe und könnte perspektivisch sogar für das Zusammenleben
in unserer Gesellschaft gefährlich werden.
Der Mensch im Mittelpunkt – der beste … 263
Fakt ist, die Anforderungen an öffentliche Verwaltungen haben in den letzten Jahren
weiter zugenommen. Megatrends wie zum Beispiel der demografische Wandel, die
Digitalisierung, neue Mobilität, der Anspruch an Partizipation und zuletzt fortgesetzte
Krisen wie die Corona-Pandemie, Fluchtbewegungen und eine unsichere Energiever-
sorgung prägen diese. Für alle öffentlichen Arbeitgeber*innen verschärft sich der immer
stärker offenbar werdende Arbeitskräftemangel, der verbunden mit der gebotenen Neu-
ausrichtung von Strukturen, Prozessen und Services für Mitarbeitende und Führungskräfte
höchst anspruchsvoll ist. Intensivierte Fachthemen wie Gesundheit oder Klimaschutz
sind umfassend mitzudenken. Gesellschaftliche Entwicklungen bei Gleichstellung, die
Ansprüche junger Generationen sowie sich verschiebende Erwartungen an eine aus-
geglichene Work-Life-Balance führen dazu, dass Strategien zum Erhalt der Wettbewerbs-
fähigkeit intensiviert werden müssen.
Wir müssen uns darauf einstellen, dass es anspruchsvolle Zeiten bleiben.
Aber diese Entwicklung überrascht nicht. Bereits 1993 beschrieben Michael Hammer
und James Champy in ihrem Wirtschafts-Klassiker „Business Reengineering“ (Hammer
und Champy 1994) eine Krise, die nicht vorübergehen wird. Neben dem Fokus auf
Kunden und Wettbewerb belegten sie, dass der permanente Wandel zur Konstante wird
und die Beschleunigung anhält. Zeitgleich ging insbesondere von Kommunen (vgl.
„Neues Steuerungsmodell“, KGSt 1993) der Impuls nach Reform und moderner Ver-
waltung aus. Neben einigen erfolgreichen Projekten konnte aber kein breit getragener
Wandel angestoßen werden. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass die damalige
Verwaltungsreform keine nachhaltigen Lösungen etabliert hat, die das Funktionieren der
öffentlichen Verwaltungen gesichert bzw. eine eigene Innovationsfähigkeit geschaffen hat.
Seitdem konnte man in verschiedenen Branchen die Auswirkungen des globalen
Handels, von aufziehender Digitalisierung und grundveränderter Kommunikation
zwischen Menschen, wahrnehmen und auch die Folge, dass so einige Geschäftsmodelle
und bekannte Marken auf der Strecke blieben. Besonders eingängig formulierte das
„Cluetrain-Manifest“ im Jahr 1999 die neuen Ansprüche: „Wenn Du heute nur Zeit hast
für eine Einsicht, dann sollte es diese sein: Wir sind keine Zuschauer oder Empfänger
oder Endverbraucher oder Konsumenten. Wir sind Menschen – und unser Einfluß ent-
zieht sich eurem Zugriff“ (Levine et al. 1999).
Es war die Zeit, in der in allen öffentlichen Verwaltungen in Deutschland beim
Menschen gespart wurde, statt in Köpfe zu investieren. Die demografische Entwicklung
war auch damals bereits absehbar. Die Bundeshauptstadt Berlin hat nach der Wiederver-
einigung bis zum Jahr 2014 rund fünfzig Prozent ihrer Stellen abgebaut (über 100.000
Stellen) und seitdem wieder rund 9500 Stellen aufgebaut. Sicher handelt es sich im Zuge
der Wiedervereinigung um eine besondere Situation in Berlin, aber diese Entwicklung
war ein steter Trend von 1995 bis 2014 in ganz Deutschland. Es wurde zudem sichtbar
264 C. Zierau
Viele Organisationen verfolgen strategische Ansätze, die zuletzt eher die mittel- statt
langfristige Perspektive, also den Entwicklungszeitraum von drei bis fünf Jahren,
abbilden. Neben den Perspektiven der Bürger*innen, den verschiedenen Aufgaben
einer Verwaltung (Fachstrategien) und der einer nachhaltigen Finanzwirtschaft, ist für
öffentliche Verwaltungen insbesondere auch die Perspektive der Mitarbeitenden wesent-
lich. Für öffentliche Verwaltungen ist es angesichts des Arbeitskräftemangels alternativ-
los, für möglichst viele Menschen eine attraktive Arbeitgeberin zu sein. Gefragt ist,
die bekannten Vorteile des öffentlichen Dienstes wie Sicherheit des Arbeitsplatzes, die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie und das breite Aufgabenspektrum mit modernen
Angeboten und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten zu verbinden. Genau an
diesem Punkt muss eine Personalstrategie ansetzen, die möglichst breit getragen und mit
Frequenz praktisch umgesetzt wird.
Statt klassischer Konsolidierung, mit dem Ziel beim Personal zu sparen, muss diese
Strategie Personal stärken heißen. Es müssen konsequent Mitarbeitende als Menschen in
den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt werden, um ihre individuellen Qualifikationen
optimal einzusetzen und ihr Potenzial zu entwickeln sowie zu erhalten. Es braucht die
Menschen mit ihren Händen und Talenten, um eine funktionierende öffentliche Ver-
waltung zu gewährleisten. Gleichzeitig bedarf es einer gemeinsamen Organisations-
und Verwaltungskultur, die sich an den heutigen Anforderungen ausrichtet und weniger
Tradiertes bewahrt. Auch ein gemeinsames Verständnis von wertebasierter Führung, die
bestmöglich die individuellen Fähigkeiten von Mitarbeitenden wirksam werden lässt,
ist unerlässlich. Nur eine im Verständnis und Gefühl der Mitarbeitenden verankerte und
erlebbare personalstärkende Strategie führt zu einem guten Miteinander, zu gegenseitiger
Wertschätzung und in Folge zu einer Öffnung für den notwendigen kulturellen Wandel.
Eine Personalstrategie sollte ihre Ziele von Beginn an umfassend beschreiben. Idealer-
weise wird ein Leitsatz, beziehungsweise ein Leitmotiv vorangestellt, das zu einer
erfolgreichen Umsetzung beitragen kann und Ausdruck der mit der Strategie ver-
bundenen Haltung und Werte ist. Der Blick auf die Mitarbeitenden mit ihren
individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Entwicklungsmöglichkeiten ist zur
Bindung an die Arbeitgeberin elementar. Dazu gehört die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie. Damit dies nicht nur ein Bekenntnis bleibt, braucht es attraktive Optionen und
Engagement, insbesondere auch das der Führungskräfte. Flexible Arbeitszeiten, Teil-
zeit- und Telearbeit sowie ergänzendes mobiles Arbeiten ermöglichen verschiedene
effektive Formen der Zusammenarbeit. Eine Organisation kann dies kollektiv und jede
bzw. jeder Beschäftigte individuell entwickeln und lernen. Wesentliche Fortschritte und
Erfahrungen sind während der Corona-Pandemie bereits gelungen.
266 C. Zierau
Flankiert werden kann diese Strategie durch konkrete Maßnahmen wie Aufhebung
bestehender Einstellungsstopps oder Überprüfungen der Bewertungsmaßstäbe von
Stellen. Folgende Punkte sollten mindestens berücksichtigt werden:
Es ist unbedingt darauf zu achten, dass Personalgewinnung auch bedeutet, die eigenen
Mitarbeitenden dauerhaft zu binden. Dazu gehört zum einen eine möglichst lange Ver-
weildauer und zum anderen die Möglichkeit, Mitgestaltung zu schaffen wie einzufordern.
Belastungen müssen dabei so kompensiert werden, dass sowohl Leistungsfähigkeit als
auch operative Arbeitsfähigkeit und Gesundheit der Mitarbeitenden erhalten bleibt.
Gute Führung erfordert ausgebildete, befähigte und motivierte Kräfte. Wichtig ist ein
annähernd gemeinsames Verständnis von Verantwortung, Autorität bei Entscheidungen
(„Entschluss“) und ein sensibles Verständnis für die Bedeutung von Kommunikation.
Wichtig ist, die Anforderungen an die verschiedenen Hierarchien zu beschreiben, um
bestmöglich zusammenzuwirken und ausreichend Zeitanteile für die Ausübung der
Führung zu berücksichtigen. Führungskompetenz wird auch durch entsprechende Aus-
bildung erlangt und durch regelmäßigen Austausch der Erfahrungen untereinander und
im Rahmen eines Feedbacks verbessert.
Die stärkere Fokussierung auf eine Führungskultur, die nicht nur Status und Fach-
lichkeit umfasst, sondern Werte, Haltung, Vertrauen, Verantwortung mit Leistungs-
bereitschaft sowie Innovation kombiniert und sozial-kompetent mit den Mitarbeitenden
umsetzt, ist dabei elementar. Dies gelingt nur durch persönliche Entwicklung von
Menschen, durch Freiräume auf Basis von Personalentwicklung mit starker Verbindung
zur Organisation. Das Sehen, Entwickeln und Verankern dieser kulturellen Aspekte hat
das Potenzial, die Führungskraft individuell zu stärken und für die Organisation wirk-
sam einzusetzen. Dazu kann auch eine programmatische Anbindung von Diversität und
Gleichstellung bedeutend beitragen.
Die Kompetenz von Führungskräften entscheidet wesentlich, inwieweit neue Wege
beschritten werden. Führungskultur bildet Werte ab, für die die öffentliche Verwaltung
einsteht. Dabei erleichtert eine Führungskultur in Entwicklung erst neue Wege, eröffnet
Chancen und ist vorbildhaft für die Kultur unter den Mitarbeitenden im Allgemeinen.
Führungskräfte gestalten nicht nur Wandel, sondern verwalten auch oft das Allzu-
menschliche, optimieren die Fachaufgaben und müssen in die Umsetzung der Strategie
eingebunden sein. Zu einer gelingenden Führungskultur gehören auch die offene und
wertsensible Kommunikation und das Ziel- und Verantwortungsverständnis entlang einer
Personalstrategie. Führung ist Information und Austausch in regelhaften Intervallen.
Führung darf keine Angst vor eigener oder prozessualer Weiterentwicklung haben. Ins-
besondere der mittleren Führungsebene – die eine hohe Anzahl an Mitarbeitenden führt
– müssen für die Personalführung ausreichend zeitliche Ressourcen und die Möglichkeit
zum Erwerb spezieller Kompetenzen eingeräumt werden. Dabei sind Feedback und eine
wirksame interne Kommunikation wichtig. Auch interne Kommunikation ist Innovation
und muss von Führungskräften gedacht und verfolgt werden.
268 C. Zierau
„Kultur verspeist Strategie zum Frühstück.“ (im Original: Culture eats strategy for
breakfast): Dieser bildhafte Satz des Management-Vordenkers Peter Drucker steht dem
aktuellen KGSt-Bericht zum Kulturwandel in Verwaltungsorganisationen voran (KGSt
2020). Die sich rasant verändernden Rahmenbedingungen, zunehmende Ansprüche
und Innovations- und Abstimmungsprozesse, die oft gleichzeitig und sich überlagernd
(iterativ) laufen, fordern die traditionell hierarchische Verwaltungskultur stark und
wirken sich auf die Beteiligten aus. Mit diesem Wandel Schritt zu halten gelingt nur,
wenn neben der Technologie und der Anpassung von Prozessen und Strukturen auch
die Ebene der Organisations- und Verwaltungskultur betrachtet wird. Das beeinflusst
Leistungsfähigkeit und -bereitschaft, was wiederum Auswirkungen auf die Ergeb-
nisse der Organisation hat. Eine positive Verwaltungskultur ist also für die eigene Ver-
änderungsfähigkeit und somit für den Erfolg von entscheidender Bedeutung.
Der Zweck einer Verwaltungsorganisation ist es, Ressourcen einschließlich ihrer Mit-
arbeitenden so einzusetzen, dass die größtmögliche Wirkung erreicht wird. Geltende Grund-
sätze, Spielregeln, Prozesse, Rollen und Verantwortlichkeiten sind in den letzten Jahren
zunehmend veränderten Anforderungen ausgesetzt und müssen sich weiter anpassen. Diese
Anpassungen sind notwendig, um die öffentliche Verwaltung zukunftsfähig zu machen und
Partizipation, Identifikation und eine verbindliche Kommunikation als Voraussetzung der
internen Kultur zu diskutieren und zu etablieren. Eine einfach nachvollziehbare Organisation
gewährleistet Kooperation auf allen Ebenen und gewährt ihren Mitarbeitenden und
Führungskräften größtmögliche individuelle Initiative sowie Orientierung. Projekte auf ver-
schiedensten Ebenen sind Ausdruck einer modernen Verwaltung.
Ein weiterer Fokus muss zwingend auf Erhaltung und Stärkung der Arbeitsbewältigungs-
fähigkeit und somit auf die Gesundheit der Mitarbeitenden ausgerichtet sein. Neben
der individuellen Sicht können durch anonyme Befragungen von Mitarbeitenden über-
greifende Erkenntnisse gewonnen werden. Diese dienen als Ausgangspunkte für die
Zusammenarbeit mit weiteren internen Beratungsdiensten und Querschnittsbereichen,
wie z. B. Arbeitssicherheit, Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) und
einem Arbeitsmedizinischen Dienst (AMD), um Veränderungen herbeizuführen bzw. zu
intensivieren oder Menschen zu stabilisieren. Partizipation, Evaluation von Maßnahmen
Der Mensch im Mittelpunkt – der beste … 269
und Mut zur Veränderung sind in dem lebendigen System „Arbeitswelt“ die Schlüssel
zum Erfolg.
Hier sind insbesondere die Aufgaben der Betrieblichen Gesundheit und Arbeitsschutz
als neues Querschnittsthema dauerhaft zu etablieren und durch Experten, verantwort-
liche Führungskräfte und geschulte Mitarbeitende wahrzunehmen. Dies betrifft auch
Führungskräfte als Mitarbeitende, wenngleich bei Ihnen der Fokus stärker als bisher auf
Umsetzung und Überprüfung der strategischen Zielerreichung liegen muss.
Ist eine Personalstrategie eingeführt, sollte sie bereits nach zwei bis drei Jahren fort-
geschrieben werden. Die Herausforderungen und die Arbeitswelt verändern sich rasant.
Diesem Wandel kann nur mit einer steten Fortentwicklung und Anpassung der Personal-
strategie begegnet werden.
Hierbei sollten auch die angestoßenen Prozesse und ersten Erfolge einer aktiven und
wertschätzenden Personalstrategie dokumentiert und berichtet werden. Wie zum Bei-
spiel Verbesserungen der Stellenbesetzungsquote, Stärkung von Ausbildungsjahrgängen,
anschließende Fachstrategien und Neuausrichtungen von Organisationseinheiten. Die
Fortschreibung der Strategie sollte die weiteren, inzwischen erkannten Ansätze und Ziele
sowie notwendige Priorisierungen aufnehmen und konkrete Zeitpläne aufzeigen.
Auch ist eine breite Beteiligung bei der Umsetzung ein wichtiger Erfolgsfaktor.
Angefangen bei der für das Personal zuständigen Organisationseinheit, die diesen Prozess
begleitet und steuert. Führungskräfte und alle Mitbestimmungsgremien sollten einbezogen
werden, mit dem Ziel, letztendlich alle Mitarbeitenden zu erreichen, damit sie von dieser
Strategie profitieren und gestärkt werden. Auf die Mitarbeitenden, die miteinander die
vielgestaltigen Aufgaben in öffentlichen Verwaltungen gestalten, kommt es an.
gesamt hatten sich 523 Personen beworben, wovon nach einem Auswahlverfahren 25
Menschen mit sehr unterschiedlichen, z. T. auch verwaltungsfremden Studiengängen
einen Platz im Traineeprogramm erhielten. Die Trainees waren für die Dauer des ein-
jährigen Programms einem Bereich zugeordnet. Parallel dazu gab es ein Programm
mit einem Verwaltungslehrgang, verschiedenen Exkursionen, einer Projektarbeit, einer
Prototyping-Week und Vorstellung verschiedener Aufgabenbereiche in der Kieler Stadt-
verwaltung. Von den insgesamt 25 Personen haben zwei Trainees ihre Arbeitgeberin
während der Trainee-Zeit verlassen und weitere vier innerhalb eines Jahres nach Ende
des Programms. Nach zwei Jahren sind 19 Trainees im Dienst der Stadtverwaltung
verblieben, was eine beachtliche Quote darstellt. Die Einsatzgebiete sind über alle
Dezernate und Fachaufgaben verteilt.
Im zweiten Durchlauf wurde der Ablauf des Traineeprogramms angepasst. Zum einen
wurde die Dauer des Programms auf 18 Monate verlängert, zum anderen rotieren die
Trainees in den ersten zwölf Monaten in drei passende Einsatzbereiche. Die letzten sechs
Monate werden zur Einarbeitung auf der zukünftigen Stelle genutzt. Parallel dazu gibt es ein
ähnliches, aber umfangreicheres Programm als im ersten Trainee-Jahrgang. Zudem wurde
die Betreuung des Programms fest dem Sachbereich der Personalentwicklung im Personal-
amt zugewiesen. Die zweite Staffel umfasst elf Trainees, die aus über 250 Bewerbungen
ausgewählt wurden und zum 1. März 2022 an den Start gingen.
Die Programmgestaltung verursachte Kosten von rund 40.000 € pro Jahr, zuzüglich
der individuellen Personalaufwendungen der Trainees (unbefristeter Arbeitsvertrag nach
EG9b, Stufe 1 TVöD).
Mit dem Trainee-Programm Stadt*Talente wurden für die Landeshauptstadt Kiel
durchweg motivierte Fachkräfte gewonnen, die sonst nicht den Weg in eine öffentliche
Verwaltung gefunden hätten. Herausforderungen liegen aufgrund der vielfältigen und
bislang verwaltungsfremden Studiengänge in der Einarbeitung und der Vermittlung
auf entsprechend passende Stellen. Auch berücksichtigen die bisherigen klassischen
Anforderungsprofile der Stellen bei der Landeshauptstadt Kiel nicht diese vielfältigen
Abschlüsse. Um allen Trainees, unabhängig von ihrem individuellen Abschluss, ein
Weiterkommen zu ermöglichen, wird von der Dienststelle eine generelle Öffnung für
Absolventen des Trainee-Programms (zzgl. zum Studienabschluss) bis zur EG12 TVöD
angestrebt. Hier wird eine Lösung mit den Mitbestimmungsgremien noch verhandelt.
Die bislang gemachten Erfahrungen und Rückmeldungen der Trainees aus der
zweiten Staffel sowie der Einsatzbereiche haben gezeigt, dass sich die Optimierung des
Programms positiv auswirkt.
Das Traineeprogramm „Stadt*Talente“ soll zum September 2023 in der dritten Staffel
starten. Weiter werden aktuell Konzepte erarbeitet, um zum Beispiel Spezial-Trainee-
programme für bestimmte Fachexperten anzubieten (z. B. Tech-Trainee für den Einsatz
im IT-Bereich) oder interne Traineeprogramme, um verwaltungsfremde Mitarbeitende
für verschiedene Tätigkeiten in der Verwaltung fit zu machen. Auch wären unter dem
Aspekt „Diversity“ inklusive Trainee-Programme zu entwickeln, um stärker Menschen
Der Mensch im Mittelpunkt – der beste … 271
Erst eine etablierte und breit von Führungskräften wie Mitarbeitenden der Organisation
getragene Personalstrategie kann den Ansatz von Diversität konsequent einbeziehen,
praktisch umsetzen und nachfolgend zum Erfolgsfaktor machen.
Diversität als fortgeschrittener Umsetzungspart muss die Vielfalt von Personen
oder Gruppen sowie Unterschiede grundsätzlich erkennen und fördern. Dies können
Merkmale wie Geschlecht, Alter, Religion, Nationalität und Ethnizität, langfristige
gesundheitliche Beeinträchtigung bzw. Behinderung, sexuelle Orientierung oder
auch die familiäre Situation in Hinblick auf Kinderbetreuung und die Pflege von
Angehörigen, soziale Herkunft und fachliche Profession sein. Es sollten Maßnahmen
erarbeitet werden, die diese Vielfalt in einer Organisation anerkennen, wertschätzen
und die sich daraus ergebenen Potenziale nutzen. Dies wirkt unmittelbar positiv auf die
Organisations- und Verwaltungskultur zurück, hilft bestehende Barrieren intern wie bei
externen Kontakten abzubauen und spricht damit alle Menschen an. Auch sollten diese
Kontexte bei Weiterbildung und Entwicklung der persönlichen Kompetenzen stärker und
als einheitlicher Baustein verwirklicht werden.
Gute Führung sollte gender- und diversitätssensible Grundsätze beinhalten, lernen
und anwenden, beziehungsweise sogar als Führungsgrundsatz aufnehmen, um grund-
sätzlich geschlechtergerecht (zum Beispiel Terminierung von Besprechungen entlang
familiengerechter Arbeitszeiten) und auch selbst vorbildhaft zu agieren. Dies zahlt auf
die schwierige Arbeit der Personalgewinnung einschließlich der Bindung von Mit-
arbeitenden und auf Gesunderhalt der Beschäftigten gleichermaßen ein, da es eine
Organisation zeigt, in der Unterschiede anerkannt werden und in der Individualität alle
stärkt.
Insofern eröffnet die Ausrichtung auf Vielfalt und Diversität im Anschluss an eine
etablierte Personalstrategie die Chance, die Innovationskraft und Anpassungsfähigkeit
einer öffentlichen Verwaltung zu stärken. Das heißt, auch grundsätzlich zu differenzieren
und eine Vielzahl von Ansätzen, Methoden und Wegen zuzulassen. Eine Kultur des
Ermöglichens muss mit den individuellen Stärken der Mitarbeitenden verbunden werden,
um Funktionsfähigkeit und Wirkung dauerhaft zu gewährleisten. Die Menschen sind ver-
schieden, genau das macht den Unterschied. „Vielfalt, nicht Uniformität, ist Stärke.“
(Willy Brandt).
272 C. Zierau
Literatur
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Christian Zierau ist seit Februar 2019 Stadtrat für Finanzen, Personal, Ordnung und Feuerwehr der
Landeshauptstadt Kiel. Zuvor war er ab 2016 Dezernent und Kämmerer beim Kreis Herford (Ost-
Westfalen). Der Diplom-Verwaltungswirt startete seine Laufbahn im Bezirksamt Spandau von Berlin
und leitete danach fünf Jahre den Bereich Finanzen und Betriebswirtschaft in der Bremer Landes-
vertretung in Berlin. 2008 wechselte Christian Zierau zum Rechnungshof der Freien und Hansestadt
Hamburg; zwischen 2011 und 2016 war er in verschiedenen Hamburger Ministerien als Referatsleiter
tätig.
Was braucht eine vielfaltsbewusste
Personalentwicklung? – Grundlagen und
Maßnahmen aus der Verwaltungspraxis
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
G. Yoksulabakan-Üstüay ( ) · J. Schiffmann
Freie Hansestadt Bremen, Bremen, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 273
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_21
274 G. Yoksulabakan-Üstüay und J. Schiffmann
1 Hinweis:In diesem Artikel bezieht sich die Definition von Personalentwicklung auf das interne
Personal und beinhaltet v. a. Fort- und Weiterbildung, sowie Fördermaßnahmen und Beratungsan-
gebote.
Was braucht eine vielfaltsbewusste Personalentwicklung? – … 275
Verwaltungen müssen alle vier Ebenen für sich übersetzen, damit ein direkter Nutzen ent-
stehen kann. So gilt es auf der Ebene des Wissens vor allem Themen festzulegen, welche
für unterschiedliche Zielgruppen wichtig sind. Auf der Ebene des Könnens ist ein bewährtes
Mittel die Arbeit mit Fallbeispiele. Es werden Alltagssituationen beschrieben (z. B. im
Bürger*innen-Service), die aufgelöst werden müssen. Die Ebene des Wollens kann vor allem
durch erlebnisorientiertes Lernen in Trainings geschult werden. Für die Ebene des Dürfens
sind auf strategischer Ebene Kommissionen oder Netzwerke spannend, da gegen Widerstände
gearbeitet werden kann. Es geht um die Legitimation für das Thema Diversity.
1.2 Grundsätze
Für eine vielfaltsbewusste Entwicklung der Mitarbeitenden können fünf Grundsätze fest-
gehalten werden, die eine chancengerechte und zielgerichtete Ausrichtung unterstützen.
Gleichzeitig fördern diese die Mitarbeiter *innen-Bindung und können die Arbeit-
geber*innen-Attraktivität verbessern. Jeder einzelne Grundsatz kann als Lernprozess
verstanden werden, der ständig weiterentwickelt werden kann.
profitieren. Zudem sollen bei der Umsetzung von Maßnahmen möglichst viel-
fältige Menschen einbezogen werden. Wenn Berater*innen, Coaches, Dozent*innen
(unabhängig von den Themen) die Vielfalt der Gesellschaft abbilden, ist der Grundsatz
der Repräsentation gut umgesetzt (Ette et al. 2021).
Partizipation Inhalte und Formate, die partizipativ mit Personen aus der Zielgruppe
gemeinsam entwickelt werden, ermöglichen passgenaue Lösungen. Dies verhindert, dass
Maßnahmen an den Betroffenen vorbeigehen oder stereotyp sind. Die Bedeutung von
Partizipation nimmt zu, wenn Maßnahmen für Diversity-Gruppen entwickelt werden,
die nicht in der Personalabteilung vertreten sind. Die Einbindung von Beschäftigten
kann z. B. über Fokusgruppen und Mitarbeiter*innen-Netzwerke erfolgen. Weiterhin
ist Partizipation im Kontakt mit zivilgesellschaftlichen Diversity-Organisationen mög-
lich, die häufig auch (Alltags-) Expertise im Kontext von Diversity-Maßnahmen haben
(Himmel 2006, S. 82 f.).
Empowerment Kern des Begriffs Empowerment ist „power“, d. h. die Kraft, Stärke
und Macht, über das eigene Leben zu bestimmen. Der Empowerment-Ansatz in einer
vielfaltsbewussten Personalentwicklung wendet den Blick von (vermeintlichen)
Schwächen ab und richtet sich auf Ressourcen und Stärken. Dabei sollen Beschäftigte
aus Diversity-Gruppen befähigt werden, sich souverän für die eigenen und die Interessen
ihrer Gruppe einzusetzen. Empowerment bedeutet aber auch, Beschäftigte für den
Umgang mit (potenziellen) Widerständen im Kontext Diversity und Chancengleichheit
zu stärken (Beigang et al. 2017).
Für eine vielfaltsbewusste Personalentwicklung ist es nicht nur wichtig die relevanten
Diversity-Themen abzudecken, sondern ebenfalls zu versuchen, durch unterschiedliche
Formate eine möglichst hohe Anzahl an Beschäftigten zu erreichen. Insgesamt lassen sich
drei wichtige Ansatzpunkte ausmachen: Diversity-Maßnahmen für alle Mitarbeitenden,
Maßnahmen für Führungskräfte (die eine Top-Down-Strategie verantworten) sowie für
Multiplikator*innen (die Diversity in einer Bottom-Up-Strategie umsetzen).
278 G. Yoksulabakan-Üstüay und J. Schiffmann
2.2 Diversity-Beratung
und anderen Verwaltungsbereichen zur Verfügung gestellt werden, die vor ähnlichen
Herausforderungen stehen. Idealerweise können die Teilnehmer*innen, auch in einem
Praxisaustausch anderen von ihren Erfahrungen berichten.
voranzubringen. Die geteilte Führung kann die Arbeits- und Lebensqualität steigern und
ggf. eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine geteilte Verantwortung
ermöglichen. Dies kann Führung für z. B. Mütter und für berufsunerfahrenere Personen
attraktiver machen. Ein weiterer Vorteil ist das vier Augenprinzip auf die Karriereent-
wicklung von Mitarbeitenden. Das vier Augenprinzip kann die Chancengleichheit
erhöhen, da sie eine zu einseitige Beurteilung reduziert. Hilfreich für eine Entwicklung
der Führungskräfte ist es auch, zu überprüfen, inwieweit Diversity in bestehenden
Führungsinstrumenten wie z. B. in Jahresgesprächen verankert und sichtbar gemacht
werden kann. Damit wird Diversity nicht zum On-Top-Thema, sondern in den Quer-
schnitt gebracht.
Die Förderung von Diversity-Gruppen hat das Ziel, unterrepräsentierte Gruppen insgesamt
oder in Führungs- und Fachverantwortung zu erhöhen und die Organisationskultur und
-Struktur im Sinne von Chancengleichheit und Vielfalt zu stärken. Viele Verwaltungen
sind im Kontext der Frauenförderpläne bereits in einem systematischen Vorgehen geübt,
um bestehende Benachteiligungen im Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis sichtbar
Was braucht eine vielfaltsbewusste Personalentwicklung? – … 281
zu machen und zu beseitigen. Hilfreich ist es, dieses Vorgehen daraufhin zu überprüfen, ob
es auch auf weitere Diversity-Gruppen angewendet oder angepasst werden kann.
3.1 Diversity-Mentoring
3.2 Diversity-Coaching
Elternteile, diese im Umgang mit Problemen stärken, die daraus resultieren, dass die
Aufgaben und die finanzielle Verantwortung für Kinder nicht geteilt werden können
und Alleinerziehende z. B. bei Krankheiten und Kitausfällen nicht in der Dienststelle
präsent sein können. Idealerweise tauschen sich Personalentwickler*innen regelmäßig
mit den Coaches darüber aus, wo sich aus den Gesprächen Themenkomplexe häufen,
auf die strukturell reagiert werden könnte. Im Beispiel der Alleinerziehenden könnte
das bedeuten, dass ein Angebot einer betrieblichen Notfallkinderbetreuung aufgebaut
werden könnte, welches in Situationen wie Kitausfall die Betreuung übernimmt, damit
betroffene alleinerziehende Beschäftigte arbeiten können.
3.3 Diversity-Netzwerke
Eine Personalentwicklung, die die Zusammensetzung der eigenen Belegschaft und deren
Bedürfnisse kennt, kann wirksame Maßnahmen ergreifen, um Diversität und gerechte
Teilhabe zu fördern. Hier setzen verschiedene Formen der Beschäftigtenbefragungen
an. Die Erhebung von reinen Gleichstellungsdaten ist geeignet, um festzustellen, wie
die eigene Verwaltung bezüglich der Gleichstellung, Repräsentanz und Teilhabe ver-
schiedener Gruppen aufgestellt ist und sie kann unsichtbare Ungleichverhältnisse trans-
parenter machen (Ahyoud et al. 2018, S. 5). Dies ist insbesondere wichtig, damit sich die
Vielfalt der Bevölkerung in der Personalstruktur in allen Bereichen und auf allen Ebenen
widerspiegelt. Es geht darum, bestehende Schwerpunkte und Instrumente der Personal-
entwicklung vor dem Hintergrund der Daten zu reflektieren, neue Handlungsbedarfe zu
identifizieren und entsprechende Maßnahmen (weiter) zu entwickeln. Eine Befragung
kann quantitativ, qualitativ oder kombiniert durchgeführt werden. Wie bei Genderdaten,
kann man hierbei eine einzelne Gruppe oder aber mehrere Dimensionen und
Intersektionalität den Blick nehmen. Viele größere Verwaltungen beginnen die Diversity-
Erhebung mit Gleichstellungsdaten zum sogenannten Migrationshintergrund nach dem
Mikrozensus. Praktikabel ist es, bei den Neueinstellungen auf freiwilliger Basis danach
zu fragen. Komplexer und aussagekräftiger sind Erhebungen, die Gleichstellungsdaten
der bestehenden Belegschaft nach Hierarchieebene, Befristungen, Verbeamtungen etc.
differenzieren. Das Ergebnis von Befragungen sollte genutzt werden, um gerechte Teil-
habe und Inklusion durch zielgerichtete Maßnahmen zu fördern. Umfragen zum Thema
Vielfalt können aber auch helfen, Diversity-Maßnahmen zu bewerten, z. B. kann erfragt
werden, ob die Belegschaft das Diversity-Programm kennt und sich darin wieder-
findet oder wie es Menschen verschiedener Zugehörigkeiten im Arbeitsalltag geht. Die
Anforderungen an Befragungen, insbesondere an Gleichstellungsdaten sind datenschutz-
rechtlich hoch. Ein Patentrezept hierfür existiert nicht; jede einzelne Befragung bedarf
einer passgenauen Lösung. Bei Gleichstellungsdaten ist die frühzeitige Einbindung eines
3 Gleichstellungsdatensind Daten, die hilfreich sind, um den Status quo von Gleichberechtigung zu
beschreiben und strukturelle Benachteiligungen transparent zu machen (Ahyoud et al. 2018).
284 G. Yoksulabakan-Üstüay und J. Schiffmann
5 Fazit
Literatur
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Dr. Jochen Schiffmann, Senatorische Behörde für Finanzen der Freien Hansestadt Bremen,
Bremen.
Jochen Schiffmann, ist Referent für Diversity-Management beim Senator für Finanzen der
Freien Hansestadt Bremen. Er studierte Kultur- und Wirtschaftswissenschaften und promovierte in
Sozialökonomie. Jochen Schiffmann befasst sich seit mehreren Jahren mit dem Thema Diversity-
Management als Organisationsentwicklungsansatz. Zuvor war er Projektleiter beim IQ-Netzwerk
Bremen im Projekt „Interkulturelle Organisationsberatung“
Diversity als Chance für das Recruiting
in der öffentlichen Verwaltung
Julia Göpel
Zusammenfassung
Dieser Fachbeitrag nutzt die Kerndimensionen von Diversity, um durch ein ziel-
gruppenorientiertes Recruiting eine größere und diversere Gruppe an Bewerber*innen
anzusprechen. Hierfür werden zu den jeweiligen Diversity-Dimensionen Praxis-
erfahrungen und Ideen für die konkrete Umsetzung angeführt. Darüber hinaus wird
der Vorteil des Einstiegs von Quereinsteiger*innen in die öffentliche Verwaltung
hervorgehoben. Denn es ist nicht nur für die Entwicklung der Organisation hemmend,
wenn stets die gleichen Zielgruppen angesprochen werden, sondern in Zeiten des
Fachkräftemangels ist eine solche Strategie auch nicht zielführend. Eine Orientierung
an Diversity kann bisher ungenutztes Potenzial ausschöpfen und damit eine große
Chance darstellen.
Schlüsselwörter
J. Göpel ( )
Land Hessen Regierungspräsidium Kassel, Kassel, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 287
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_22
288 J. Göpel
1 Einleitung1
Eine ausgewogene Altersdiversität ist für eine leistungsstarke Verwaltung von Vorteil.
Die Mischung aus Erfahrungswissen und neuen Ansätzen führt im Austausch und in
der Zusammenarbeit wie bei diversen Teams zu guten Lösungen. Die Aufspaltung der
1 Die in diesem Fachbeitrag aufgeführten Vorschläge basieren auf den Erfahrungen der Autorin,
auf nicht repräsentativ gewonnen Erkenntnissen durch den Austausch mit Mitarbeitenden des
Regierungspräsidiums, dem Feedback von Bewerbenden, Auszubildenden, Anwärter*innen sowie
durch Vernetzung im Personalbereich. Die Umsetzung der aufgezeigten Ideen ist im Regierungs-
präsidium Kassel teilweise erfolgt. Die Inhalte stellen die Ansichten der Autorin als Privatperson
dar und erfolgen nicht aus ihrer dienstlichen Rolle heraus.
Diversity als Chance für das Recruiting … 289
ebenfalls und diese kann im Austausch mit jüngeren Kolleg*innen wertvoll genutzt
werden. Ein strukturiertes Wissensmanagement und Mentoring-Programme können als
Instrumente genutzt werden. Ein Reverse-Mentoring, bei dem die jüngere Generation der
erfahrenen Generation beispielsweise ihr Digital-Native-Wissen weitergibt, ist hier ein
möglicher und neuerer Ansatz.
Im Regierungspräsidium Kassel hat sich der Ansatz bewährt, ein neues Einarbeitungs-
konzept zu nutzen. Für die Sachbearbeitung in der Bezügeabrechnung werden spezielle
Fachkenntnisse aus beispielsweise den Bereichen Besoldungs-, Tarif-, Reisekosten-
und Trennungsgeldrecht sowie Sozialversicherungsrecht benötigt, die die meisten
Bewerbenden erst noch erlernen müssen. Auch Quereinsteiger*innen in jeder Alters-
klasse werden regelmäßig eingestellt. Die Einarbeitung erfolgt nicht in den jeweiligen
Fachdezernaten, sondern zentral durch ein Einarbeitungsteam des Dezernats Personalent-
wicklung, Aus- und Fortbildung. Erst nach drei Monaten beginnt der eigentliche Einsatz
im Fachdezernat. Durch diese Lernumgebung mit Schulungen in Kleingruppen in einer
Art geschütztem Raum konnten auch Bewerbende Ü50 gewonnen werden, die sich mög-
licherweise ansonsten als Fachfremde mit einem anderen Erfahrungsschatz den Wechseln
in den öffentlichen Dienst aus der Privatwirtschaft nicht zugetraut hätten oder vielleicht
wieder abgebrochen hätten. Diese Form der Einarbeitung kann bereits in der Stellenaus-
schreibung hervorgehoben werden, um zum Wechsel zu motivieren. Auch ein bestehendes
Patenmodell mit speziell für die Einarbeitungsbegleitung fortgebildeten Kolleg*innen kann
im Rahmen des Onboardings hervorgehoben werden und erzielt einen positiven Effekt.
Wenn man eine Altersdiversität in der Behörde erreichen möchte, muss man auch
bei den Werbewegen auf Vielfalt setzen. Auf den Social-Media-Kanälen zeigt sich
dies deutlich: Facebook hat im Vergleich zu Instagram eine etwas ältere Benutzer-
gruppe und auf TikTok ist im Vergleich dazu die jüngste Zielgruppe zu finden. Aber
auch eine Printkampagne kann bei einer älteren Zielgruppe oder der Zielgruppe der
Eltern und Großeltern bei der Gewinnung von Auszubildenden und Anwärter*innen
immer noch punkten. Auch sollte der Bewerbungseingang nicht ausschließlich über
E-Recruiting eröffnet werden. Auf die einen wirkt dies modern und wird als Standard
angesehen, andere haben Vorbehalte im Hinblick auf ihre Daten oder es ist für sie ein-
facher, vielleicht auch schlichtweg bequemer, den einmal erstellten Lebenslauf per Mail
zu verschicken, statt in teilweise aufwendige Masken die eigenen Daten einzugeben. Es
gilt über möglichst vielfältige Kanäle unterschiedliche Bewerbende anzusprechen. Dazu
können auch zukünftig Bewerbungen per Videos über eine App zählen, wenn dies mit
dem Datenschutz überein gebracht werden kann.
Es reicht sicherlich nicht aus, Bewerbende mit einer anderen ethnischen Herkunft oder
Nationalität durch gekaufte Stockfotos anzusprechen, auf der eine gemischte Gruppe
als Team dargestellt ist – wenn dies auch das Bestreben zeigt, dass man sich als offene
Diversity als Chance für das Recruiting … 291
Behörde zeigen möchte. Dies ist zwar immer noch besser als das in der Vergangen-
heit steife Bild der öffentlichen Verwaltung durch eine ansonsten veraltete Homepage
zu unterstreichen, wirkt aber nicht authentisch. Es bietet sich vielmehr an ein Foto von
mehreren eigenen Mitarbeitenden – je nach Zielgruppe auch in verschiedenen Alters-
stufen – zu nutzen, welches bereits die Realität der Behörde darstellt. Sicherlich gibt es
bereits Mitarbeitende, die eine andere Nationalität oder Migrationshintergrund haben. Im
Regierungspräsidium Kassel wurden beispielsweise im Rahmen einer Fotoausstellung
Mitarbeitende porträtiert, die sich mit einem Schild zu ihrem Herkunftsland bekennen.
Die Vielfalt der Länder war den Beschäftigten der Behörde zuvor gar nicht bewusst und
man kam mit den Kolleg*innen darüber ins Gespräch.
Im Austausch mit Mitarbeitenden des Regierungspräsidiums mit Migrationshinter-
grund wurde die positive Wahrnehmung des Stellenwertes einer Beschäftigung im
öffentlichen Dienst deutlich. Im familiären Umfeld und Freundeskreis wird eine Fest-
anstellung oder sogar Verbeamtung scheinbar viel stärker als etwas Besonderes und
Erstrebenswertes angesehen, auf was man stolz sein kann, da der öffentliche Dienst an
sich häufig positiv bewertet wird. Aufgrund dieser positiven Wahrnehmung bringt diese
Zielgruppe für das Recruiting ein großes Potenzial für die öffentliche Verwaltung mit
sich, da man an die bestehende aufgeschlossene Grundhaltung anknüpfen kann und
nicht erst Vorurteile von der unattraktiven Verwaltung – wie sie teilweise bei sonstigen
Schüler*innen bestehen – abbauen muss.
Im Austausch mit Schüler*innen mit Migrationshintergrund wurde in der Vergangen-
heit deutlich, dass teilweise die Ansicht vertreten wird, man könne sich als nicht EU-
Bürger*in gar nicht bei einer deutschen Behörde bewerben. Was für Beamtenstellen
zutrifft, gilt aber nicht für die Ausbildungsberufe. Diese Unkenntnis kann beispiels-
weise durch Gespräche auf Ausbildungsmessen, gezielte Social-Media-Werbung und
Informationen an die Lehrer*innen und Eltern abgebaut werden. Um die Zahl der
Bewerbenden dieser Zielgruppe zu erhöhen, bieten sich Kooperationen mit Schulen und
sonstigen Bildungs- oder Umschulungsträgern an, wo diese Gruppe stärker vertreten ist.
Auch noch bestehende Sprachbarrieren müssen nicht immer zum Ausschluss der
Bewerbenden führen. Denn die Amtssprache muss in Bereichen, in denen kein Kunden-
verkehr herrscht außerhalb des Regelungsbereichs von § 23 Absatz 1 Verwaltungs-
verfahrensgesetz – wie beispielsweise in Teilen des Zentralbereichs und der IT – nicht
immer perfektes Deutsch sein. Nach der Neueinstellung ist durchaus eine Übergangs-
zeit in einer Fremdsprache, die das gesamte Team spricht, denkbar. Auch eine interne
Verständigung mit immer besseren Übersetzungsprogrammen ist denkbar. Zudem hat
das eigene Team die Gelegenheit, die eigenen Sprachkenntnisse aufzufrischen und anzu-
wenden. Wenn man leistungsstarke Mitarbeitende gewinnt, indem man ihnen eine Über-
gangszeit zum Erlernen der deutschen Sprache gibt und das Lernen gezielt unterstützt,
eröffnet dies ein großes Potenzial. Diese Personen würden ansonsten allein aufgrund der
noch bestehenden Sprachbarriere ausgeschlossen werden.
Auch die Ansprache in Stellenausschreibungen kann attraktiver gestaltet werden. Der
Standardsatz „Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund werden ausdrück-
292 J. Göpel
lich begrüßt“ reicht nicht mehr aus – sofern er überhaupt enthalten ist. Der zunächst
positive Effekt könnte aufgrund der Standardisierung mittlerweile verpufft sein. Jedoch
könnte man sich beispielsweise durch weitere Sätze positiv abgrenzen: „Wir möchten
gerne die Vielfalt der Gesellschaft in unserer Behörde abbilden. Bei uns arbeiten schon
viele Kolleg*innen mit Migrationshintergrund. Fragen Sie uns gern, an wen Sie sich
zur Anerkennung Ihrer ggf. ausländischen Schulabschlüsse wenden können.“ Auch
sollte eine solche Formulierung nicht an das Ende der teilweise sehr langen Stellenaus-
schreibungen gesetzt werden, wo sie als Pflichtbestandteil aufgefasst werden könnte oder
untergeht, sondern präsenter auf die erste Seite, wo ggf. auch die Unterzeichnung der
Charta der Vielfalt hervorgehoben wird.
Besonders durch die in vielen Behörden sehr gut wahrgenommene Rolle der Frauen-
und Gleichstellungsbeauftragten sind die Geschlechter in den einzelnen Laufbahnen,
Entgelt- und Besoldungsgruppen schon viel besser ausgeglichen als es vermutlich noch
vor wenigen Jahren der Fall war. Insbesondere durch eine in einzelnen Behörden ein-
gesetzte Genderbudgetierung konnte durch die gezielte Steuerung viel für das Ziel
der Gleichbehandlung erreicht werden. Die früheren Frauen- und Gleichstellungs-
beauftragten des Regierungspräsidiums Kassel wurden beispielsweise im Jahr 2019
für ihr Konzept zur Umsetzung der Gender-Budgetierung von der Hessischen Landes-
regierung mit dem Elisabeth-Selbert-Preis ausgezeichnet. Aufgrund dieses erfolgreichen
Ansatzes der Dienststelle wurde in § 6 Abs. 4 Nr. 8 des Hessischen Gleichberechtigungs-
gesetzes (HGlG) die Personalkostenbudgetierung unter die möglichen Maßnahmen zur
geschlechtergerechten Personalentwicklung im Rahmen von Frauenförder- und Gleich-
stellungspläne aufgenommen.
Trotz der bereits erreichten Verbesserungen im Hinblick auf die Gleichstellung im
öffentlichen Dienst gibt es nach wie vor typische Bereiche, in denen die Bewerbenden in
der Mehrheit einem Geschlecht angehören. Dies sind beim Regierungspräsidium Kassel
beispielsweise folgende: die Mitarbeitenden im gehobenen nichttechnischen Dienst
sind überwiegend weiblich (68,2 % von insgesamt 629 Personen), hingegen im höheren
technischen Dienst sind Männer stärker vertreten (60 % von insgesamt 65 Personen).
Hier ist man zur Herstellung eines Ausgleichs bemüht, was jedoch vor dem Grundsatz
der Bestenauslese nur sehr eingeschränkt möglich ist. Eine Entscheidung zugunsten
der Unterrepräsentanz kann ja nur als ein Hilfskriterium nach anderen Kriterien wie
Abschlussnoten, dienstlichen Beurteilungen/Arbeitszeugnissen, Auswahlgesprächen
und ggf. Assessment-Center-Elementen herangezogen werden. Ein Gegensteuern kann
eigentlich nur zum Ziel führen, wenn die Anzahl der Bewerbungseingänge im unter-
repräsentiertem Geschlecht besonders hoch ist, da dann theoretisch die Chancen der
Bewerber*innen eines Geschlechts, sich im Sinne der Bestenauslese durchzusetzen, ent-
sprechend höher sind. Hier kann man neben den sonstigen gezielten Werbemaßnahmen
Diversity als Chance für das Recruiting … 293
schon früh ansetzen und bereits Schüler*innen durch Girls’Days und Boys’Days die
entsprechenden Ausbildungsgänge mit Unterrepräsentanzen attraktiv präsentieren. Im
Regierungspräsidium Kassel werden in diesem Rahmen beispielsweise den Schülern der
Ausbildungsberuf der/des Verwaltungsfachangestellten und den Schülerinnen der Aus-
bildungsberuf Fachinformatiker*in vorgestellt.
Durch ein Employer Branding, hinter welchem die eigenen Mitarbeitenden stehen
und dieses gern kommunizieren, können ebenfalls Bewerbende eines bestimmten
Geschlechts für eine Bewerbung motiviert werden. Attraktive Karriereoptionen wie
„Führen in Teilzeit“ und „Führen als Doppelspitze“ nebeneinander oder das Job-
sharing sind in der öffentlichen Verwaltung noch kein Standard und können positiv zur
Abgrenzung von anderen Dienststellen oder Arbeitgebern genutzt werden. Wichtig ist
hierbei, dass sich das Aufgabengebiet auch tatsächlich für diese Formen eignet, damit
das gewählte Modell als solches nicht zum Stressfaktor wird, weil man der Führungs-
rolle zeitlich nicht gerecht werden kann. Auch ein Rückkehranspruch auf den alten
Dienstposten nach einer Elternzeit oder Familienpflegezeit macht als Behörde attraktiv,
denn dies motiviert dazu, diese überhaupt oder länger wahrzunehmen. Besonders männ-
liche Mitarbeitende brauchen Rollenvorbilder zur Wahrnehmung von Elternzeiten – am
besten sogar auf der Führungsebene. Im Regierungspräsidium Kassel ist dies geglückt,
als ein früherer Personalleiter selbst in Elternzeit gegangen ist.
Eine zwischen den Geschlechtern ausgeglichene Bewerbungslage kann durch ein an
alle Geschlechter adressiertes oder geschlechtsneutrales Marketing gefördert werden,
welches „unconscious gender bias“ reduziert. Dies kann im Rahmen der Stellenaus-
schreibungen/Social Media/Homepage/Printwerbung etc. durch ansprechende Fotos
und Formulierungen, bei denen man sich bewusstmacht, welches Geschlecht sich dem
Stereotyp entsprechend eher angesprochen fühlen könnte, erreichen. ITler müssen
eben nicht zwingend männlich und Erzieher*innen nicht zwingend weiblich sein.
Formulierungen wie „durchsetzungsstark“ könnten eher als männlich-kodiert aufgefasst
werden und „empathisch“ als eher weiblich-kodiert. Spätestens seit der Anerkennung
des dritten Geschlechts durch den Gesetzgeber sollte der Zusatz (m/w/d) oder alter-
native Formulierungen, die dieses einbeziehen, hinter der gesuchten Stellenbezeichnung
in Ausschreibungen enthalten sein, um einen Verstoß gegen das Benachteiligungs-
verbot des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) zu vermeiden. Bei der
Stellenbezeichnung selbst bietet es sich, um nicht nur männliche und weibliche
Bewerber*innen anzusprechen, eine neutrale Bezeichnung zu wählen, damit sich wirk-
lich alle Geschlechter angesprochen fühlen. Das Gender-Sternchen (Asterisk)ist zwar
mittlerweile sehr verbreitet, jedoch kann das Unwissen bestehen, was hiermit gerade
in Abgrenzung zum Schrägstrich gemeint ist. Dann wäre das Ziel verfehlt. Es bietet
sich daher an, wenn es sprachlich möglich ist, statt Sachbearbeiter*in lieber Sachbe-
arbeitung und statt Teamleiter*in lieber Teamleitung zu formulieren. Dem kommt auch
deshalb Bedeutung zu, da nicht überall in der öffentlichen Verwaltung die Verwendung
des Gendersternchens zugelassen ist. Beispielsweise im Hessischen Innenressort ist
die Benutzung des Gender-Sternchens, des Gender-Gaps, des Doppelpunktes und des
294 J. Göpel
Binnen-Is in Bezugnahme auf den Rat für deutsche Rechtschreibung und den Deutschen
Blinden- und Sehbehindertenverband zu unterlassen.
Im Rahmen der Auswahlgespräche gilt es zu beachten, dass das Auswahlgremium
möglichst paritätisch besetzt sein sollte. Dies sieht beispielsweise auch die Soll-
Regelung in § 13 HGlG vor. Hierbei geht es nicht nur um den Zugang zum Kreis der
auswählenden Personen, sondern eine solche Besetzung reduziert auch Beobachtung-
und Bewertungsfehler.
Ferner dürfen die Frage- und Aufgabenstellungen in Eignungstests sowie weiteren
AC-Elementen einem Geschlecht keinen Vor- oder Nachteil verschaffen.
Durch die weitgehend bestehende Barrierefreiheit, den Anspruch auf ein Vorstellungs-
gespräch gem. § 165 S. 3 und 4 SGB IX SGB sowie die durch die Stellenausschreibung
bekannte Bevorzugung bei gleicher Eignung, ist die öffentliche Verwaltung bei Personen
mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen vermutlich bereits ein bekannter
Arbeitgeber. Der übliche Standardsatz „Bewerber*innen mit nachgewiesener Schwer-
behinderung oder Gleichstellung werden bei gleicher Eignung bevorzugt berück-
sichtigt“ kann auch hier im Hinblick auf die Abgrenzung zu anderen Behörden und
zum Herausstellen, dass dies auch so gelebt wird, in einer ausführlicheren Textversion
formuliert werden, wo beispielsweise auf die – hoffentlich hohe – Quote der schwer-
behinderten Personen im Haus hingewiesen wird. Auch kann auf eine spezielle Home-
pageseite verwiesen werden, auf der man weitere Informationen zu den barrierefreien
Arbeitsbedingungen, zur Beantragung des Schwerbehindertenausweises oder der
Möglichkeit einer persönlichen Assistenz im Arbeitsalltag finden kann. Auch besondere
Förderprogramm der Bundes- oder Landesregierung sowie die jeweils geltenden
Teilhaberichtlinien können hier aufgeführt werden. Die in vielen Behörden bestehenden
Möglichkeiten zur flexiblem Arbeitszeit, Teilzeitarbeit und das Arbeiten im Homeoffice
können je nach bestehender Beeinträchtigung zu einem besonders attraktiven Arbeit-
geber machen. Dies zu bewerben lohnt sich.
Im Vorfeld von Auswahlverfahren muss man auf die Barrierefreiheit der Stellenaus-
schreibung für Sehbehinderte achten und bei einem Recruitingfilm, dass dieser Unter-
titel für Hörgeschädigte oder sogar eine Audiodeskription für Sehbehinderte enthält. Ein
beantragter und attestierter Nachteilsausgleich ist ebenfalls zu berücksichtigen. Dies
kann im Rahmen eines Assessment Centers z. B. eine verlängerte Prüfungszeit sein,
wobei die Zeitverlängerung aus dem Attest selbst hervorgehen sollte, um Verfahrens-
fehler zu vermeiden.
Wenn man einerseits durch Werbemaßnahme als attraktive Behörde von schwer-
behinderten Bewerbenden wahrgenommen werden möchte, sollte andererseits – auch
unabhängig von den möglichen Rechtsfolgen aus § 164 Abs. 1 S. 9 SGB IX bei einem
Verstoß gegen das Begründungserfordernis der Absagen einer schwerbehinderten Person
Diversity als Chance für das Recruiting … 295
– den Bewerbenden eine überzeugende Begründung, die aber nicht zu AGG-Klagen ein-
lädt, im Absageschreiben mitgeteilt werden, um dadurch die Wertschätzung zum Aus-
druck zu bringen. Denn besonders bei diesem Personenkreis kann die Enttäuschung nach
einem nicht erfolgreichen Auswahlverfahren, wenn man zuvor die Öffnung für diese
Zielgruppe betonte und damit gerade Hoffnung weckte, besonders groß sein und zu
einem negativen Ruf führen.
Aufgrund der einzunehmenden neutralen Haltung ist ein Werben um Personen mit einer
bestimmten Religion oder Weltanschauung eher unangebracht. Die Kommunikation
einer Offenheit für alle Religionen und Weltanschauungen ist jedoch durchaus möglich,
indem man sie in der Behörde lebt. Im Mitarbeiterportal können neben den bekannten
Weihnacht- und Ostergrüßen auch Wünschen zu den wichtigsten nichtchristlichen Festen
veröffentlicht werden. Wenn die Veröffentlichung aus Gründen der Neutralität nicht über
die Behördenleitung erfolgen kann, könnte dies jedoch beispielsweise der Personal-
rat übernehmen. Im Mitarbeiterportal könnte ein Feiertagskalender mit den wichtigsten
religiösen Festen der verschiedenen Religionen hinterlegt werden. Dadurch würden auch
die Feste, die beispielsweise aufgrund der Orientierung am Mondkalender nicht immer
auf den gleichen Tag im Jahr fallen, bei den sonstigen Mitarbeitenden bekannter werden
und man kann im Kolleg*innenkreis aufmerksam darauf reagieren. Die Gewährung von
flexibleren Arbeitszeiten während der Fastenzeit und der respektvolle Umgang mit den
fastenden Kolleg*innen, die vielleicht nicht den Geburtstagskuchen mitessen möchten,
sind weitere kleine Schritte. Auch die Berücksichtigung dieser nichtchristlichen Feste
bei der Urlaubsplanung im Team und die Annahme von Einladungen zu Festen von
Kolleg*innen mit einem anderen religiösen Hintergrund können zu einem vielfältigen
Miteinander beitragen.
Die regelmäßige Wahrnehmung des Fortbildungsangebots zur Förderung der inter-
kulturellen Kompetenz ist im Hinblick auf die Diversity-Dimension „Religion und Welt-
anschauung“ sowie „Ethnische Herkunft und Nationalität“ ein wichtiges Element zur
Reflexion der eigenen Haltung und trägt zur Öffnung der Mitarbeitenden bei. Wichtig ist,
dass dies – wie beispielweise im Regierungspräsidium Kassel – zur Chefsache gemacht und
die Teilnahme ausdrücklich von der jeweiligen Behördenleitung gewünscht wird.
Es erklärt sich von selbst, dass man eine spezielle sexuelle Orientierung im Marketing
nicht gezielt ansprechen wird, da dies wohl eher gekünstelt wirken würde. Die
öffentliche Verwaltung sollte als größter Arbeitgeber die Gesellschaft repräsentieren.
Gleichwohl erscheint die Anzahl der Mitarbeitenden, die der Gruppe LGBTQ angehören,
296 J. Göpel
unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt, weil man sich möglicherweise (noch) nicht
zu dieser bekennen möchte, was natürlich jeder/jedem selbst überlassen ist. Auch im
Regierungspräsidium Kassel ist der im Kreis der Kolleg*innen bekannte Anteil der
LGBTQ-Gruppe eher klein, obwohl zugehörige Personen von einer offenen Haltung
des Hauses berichten. Es ist zu wünschen, dass sich nicht nur im Regierungspräsidium
Kassel, sondern in der gesamten Gesellschaft zukünftig eine noch offenere Kultur ent-
wickeln wird. Durch ein Vorleben der Offenheit kann in kleinen Schritten ein guter Bei-
trag hierzu geleistet werden. Dies können beispielsweise regelmäßige Fortbildungen auf
Ebene der Mitarbeitenden sowie der Führungskräfte zu Themen wie Diskriminierung,
Mobbing und sexuelle Belästigung sein. Auch der Wegfall eines inoffiziellen Dresscodes
in Bereichen, wo die Außenwirkung nicht leidet, ist ein weiterer Schritt zur Entfaltung
der Persönlichkeit und einer bunteren Verwaltung. Rollenvorbilder entstehen, wenn bei-
spielsweise Mitarbeitende in gleichgeschlechtlichen Beziehungen ihre Partner*innen bei
Betriebsfesten/Weihnachtsfeiern etc. gern mitbringen oder eine Elternzeit nehmen und
hierbei auf eine aufgeschlossene Haltung stoßen. Die positiven Erfahrungen können
Anlass für Bewerbende oder andere Mitarbeitende sein, die sich vielleicht bisher nicht
getraut haben, von ihrer gleichgeschlechtlichen Beziehung zu erzählen. Gerade auf der
Führungsebene ist die Vorbildwirkung vermutlich besonders groß, da hier sogleich deut-
lich wird, dass die sexuelle Orientierung keine Rolle spielt und der Karriereweg selbst-
verständlich gleichermaßen offensteht.
Es ist offensichtlich, dass bereits die Entscheidung, in welchen Stadtvierteln und bei
welchen Schulformen man sich als Ausbildungsbehörde präsentiert, Auswirkung auf
die eingehenden Bewerbungen hat. Auch hier ist die bunte Mischung der Präsentations-
orte entscheidend, wenn man eine ausgeglichene Bewerbungslage erreichen möchte;
wiederum bei einem konkreten Zielgruppenbedarf ist die strategische Ausrichtung
entscheidend. Wer nur Gymnasien besucht, wird vermutlich wenige Bewerbungen
von Schüler*innen mit einem Mittleren Bildungsabschluss erhalten, obwohl diese
Bewerbungen sehr erwünscht sind. Nicht nur im Sinne eines erweiterten Verständnisses
von Vielfalt sind diese Bewerber*innen attraktiv, sondern auch weil sie nicht direkt nach
der Berufsausbildung ein Studium anstreben, wie es aktuell oftmals bei Bewerber*innen,
die ein (Fach-)Abitur abgeschlossen haben, der Fall ist. Die öffentliche Verwaltung bietet
mit ihrem in vielen Bereichen besonders kollegialen Umfeld zudem für Bewerbende
aus sozialen Brennpunkten ein Arbeitsumfeld, welches sie sich vielleicht besonders
wünschen und wertschätzen, weil man es aus dem persönlichen Umfeld in der Ver-
gangenheit nicht immer erfahren hat. Bei Bedarf sollte hier diesen Mitarbeitenden
durch ein Mentoring oder durch Fortbildungen das Ankommen in der öffentlichen Ver-
waltung erleichtert werden. Im Rahmen der Auswahlverfahren kann eine Umstellung
von Eignungstests, bei denen nur die Allgemeinbildung oder das Schulwissen abgefragt
werden und in denen Schüler*innen der Gymnasien im Vorteil wären, auf Persönlich-
keitstests erfolgen. Die Sozialkompetenzen werden in den nächsten Jahren in Zeiten
von VUCA2 ohnehin einen größeren Stellenwert einnehmen, da ein Fachwissen durch
die Digitalisierung und in Zeiten des Fachkräftemangels, einhergehend mit der nötigen
Öffnung für Quereinsteigende, an Bedeutung verlieren wird. Langfristig wird hier ein
Umdenken im Rahmen der Auswahlverfahren im Sinne von „hire for attitude, train for
skills“ erforderlich sein.
Diversity im Recruiting sollte über die sieben Kerndimensionen nach der Charta der
Vielfalt hinausgedacht werden. Die öffentliche Verwaltung muss sich stärker und
schneller für Quereinsteiger*innen aus der Privatwirtschaft und Absolventinnen und
Absolventen außerhalb der klassischen Verwaltungsabschlüsse öffnen. Die verstärkten
Ausbildungskapazitäten innerhalb der Behörden reduzieren zwar etwas das Problem des
Abwerbens der besten Mitarbeitenden der Behörden untereinander, werden aber nicht
ausreichend den enormen Personalbedarf decken. Mit Quereinsteiger*innen hat bei-
spielsweise das Regierungspräsidium Kassel schon gute Erfahren gemacht, wenn das
2 Das Akronym VUCA steht für die englischen Begriffe volatility (Volatilität), uncertainty (Unsicher-
Onboarding gezielt durchgeführt wird. Durch die Öffnung wird zum einen die Anzahl
an potenziellen Bewerber*innen deutlich erhöht und zum anderen wird der Blick von
außen mit einem anderen Erfahrungswissen, wie es uns diverse Teams schon zeigen,
zu besseren Arbeitsergebnissen führen. Auch die Fachkompetenz wird mit speziell
ausgebildeten oder besonders erfahrenen Mitarbeitenden erhöht. In der allgemeinen
Verwaltung bieten sich weitere Abschlüsse in den Bereichen Wirtschafts- und Politik-
wissenschaften an. Bei den Rechtswissenschaften ist die Zielgruppe der zu einem
Wechsel motivierten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte nach mehreren Jahren
Berufserfahrung noch nicht im Vordergrund. Hier richtet sich das Recruiting noch
eher an Young Professionals, die direkt nach dem Rechtsreferendariat oder nach einer
nur kurzen Berufstätigkeit einsteigen. Für die Behördenkommunikation sind beispiels-
weise ausgebildete Expert*innen im Bereich Social-Media und Mediengestalter*innen
attraktiv. Als alternative Berufsabschlüsse können neben dem klassischen Abschluss als
Verwaltungsfachangestellte*r auch kaufmännische Berufsabschlüsse ausgeschrieben
werden und die Verwaltungskenntnisse werden durch Fort- und Weiterbildung im Sinne
des lebenslangen Lernens vermittelt. Das Regierungspräsidium Kassel hat beispielsweise
sehr gute Erfahrungen mit Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten gemacht.
Mit Ziel der Personalgewinnung und Öffnung der Verwaltung muss die Anerkennung
von Vorkenntnissen aus Ausbildungen und Studienabschlüssen, Teilprüfungen oder
Modulen außerhalb der öffentlichen Verwaltung leichter gelingen und es dürfen auch
keine zu großen Hürden für Weiterbildungen innerhalb der öffentlichen Verwaltung
nach einem Wechsel aus der Privatwirtschaft aufgestellt werden, wie es beispielsweise
in Hessen beim Lehrgang Verwaltungsfachwirt*in der Fall ist, bei welchem erst noch
ein Vorbereitungslehrgang vor dem eigentlichen Lehrgang zu absolvieren ist, wenn die
vorherige Berufsausbildung außerhalb des öffentlichen Dienstes erfolgt ist. Dies macht
den Wechsel aufgrund eingeschränkter Karrierechancen unattraktiv und wird sich die
öffentliche Verwaltung bei Personalmangel langfristig nicht leisten können.
Falls ein dauerhafter Wechsel zur öffentlichen Verwaltung für Quereinsteigende nicht
in Betracht kommt, kann auch bewusst mit einer Karriere auf Zeit in einem unbefristeten
Beschäftigungsverhältnis geworben werden. Wer den Vorteil der sicheren Beschäftigung
nicht nutzen möchte, kann sich auch nur für einige Jahren einbringen und dann wieder in
die Privatwirtschaft oder zu anderen Behörden wechseln. Diese Durchlässigkeit ist auch
für Rotationen aus der öffentlichen Verwaltung in die Privatwirtschaft erforderlich, um
den bekannten „Blick über den Tellerrand“ einnehmen zu können.
Insgesamt ist im Rahmen des Recruitings wichtig, dass die Bewerbenden – ebenso
wie auch das Auswahlgremium – eine für Diversity offene Haltung haben. Nur weil eine
Person selbst einer oder mehreren Dimensionen von Diversity im Sinne der Charta der
Vielfalt angehört, besteht nicht automatisch die Offenheit, die es für das Miteinander
benötigt. Neben den sonstigen Sozialkompetenzen einschließlich der Leistungsbereit-
schaft ist die offene Haltung für Diversity ein Auswahlkriterium, welches bei den bis-
herigen Auswahlverfahren vermutlich noch zu kurz gekommen ist und nun wichtiger
denn je ist, um im öffentlichen Dienst erfolgreich vielfältiger zu werden.
Diversity als Chance für das Recruiting … 299
4 Fazit
Der aktuell bestehende und in den nächsten Jahren noch größere Bedarf an Mit-
arbeitenden wird perspektivisch eine Öffnung der Verwaltung erforderlich machen –
hin zu Vielfalt und auch zu Quereinsteiger*innen. Die in der Vergangenheit vorrangig
angesprochenen Zielgruppen mit einem klassischen Karriereweg dürfen sich jedoch
durch die Öffnung für die neuen Kolleg*innen nicht abgewertet fühlen, weil sie nicht
mehr (ausschließlich) im Fokus stehen, sondern müssen diese Öffnung tatsächlich als
Bereicherung empfinden. Dieser Weg erfordert ein Umdenken, welches aber nicht ver-
ordnet werden kann. Wenn dieses Verständnis vermehrt besteht, ist dies eine gute Grund-
lage für ein modernes Employer Branding und macht die öffentliche Verwaltung neben
den bestehenden Vorteilen und Benefits zu einer noch attraktiveren Arbeitgeberin als
heute. Letzteres ist in den nächsten Jahren wichtiger denn je, denn die öffentliche Ver-
waltung muss als größte Arbeitgeber*in Deutschlands immer leistungsstärker werden, da
auch die Ansprüche der Bürger*innen an eine kunden- und serviceorientiere Verwaltung
– gerade in Zeiten der Digitalisierung – mit großem Tempo steigen werden.
Zusammenfassung
Schlüsselwörter
K. Jäger ( ) · B. Bekos
Land Berlin, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 301
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_23
302 K. Jäger und B. Bekos
1 Einleitung
Das am 5. Juli 2021 in Kraft getretenen Gesetz zur Förderung der Partizipation der
Migrationsgesellschaft des Landes Berlin (Partizipationsgesetz – PartMigG) ist ein
umfassendes Fördergesetz für Menschen mit Migrationsgeschichte. Abzielend auf die
migrationspolitische Ausrichtung der Verwaltung, die Förderung der Beschäftigung von
Menschen mit Migrationshintergrund und die Stärkung von Partizipation fördernden
Strukturen auf Landes- und Bezirksebene, ist das PartMigG das bislang weitreichendste
Landesgesetz seiner Art. Es ersetzt den umstrittenen Begriff des Migrationshintergrundes
in großen Teilen durch den Begriff Migrationsgeschichte. So können rassistische bzw.
migrations- und herkunftsbezogene Teilhabehindernisse und Zugangshürden besser
adressiert werden (AGH Drs. 18/3631, S. 33). Das PartMigG enthält verschiedene
positive Maßnahmen zum Ausgleich struktureller Benachteiligung von Menschen mit
Migrationsgeschichte und wird im Folgenden wegen der umfassenden Bekräftigung, also
Affirmation von Vielfalt als „affirmative action“, als ein affirmatives Gesetz eingeordnet.
Der Beitrag gibt einen Überblick über die verschiedenen Förderinstrumente des
PartMigG, wobei ein Schwerpunkt auf der Förderung der Beschäftigung von Menschen
mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst liegt.
In seinen Richtlinien der Regierungspolitik nahm sich der rot-rot-grüne Senat 2017 vor,
das damals geltende Gesetz zur Regelung von Partizipation und Integration in Berlin
(PartIntG), das erste Integrationsgesetz auf Landesebene, durch eine externe Evaluation
überprüfen zu lassen und fortzuentwickeln (AGH Drs. 18/0073, S. 5; Evaluation des
Gesetzes zur Regelung von Partizipation und Integration in Berlin (PartIntG) im Auf-
trag des Integrationsbeauftragten von Berlin, Abschlussbericht Februar 2019). Auf
Grundlage der Evaluation wurde das Konzept der Integration in weiten Teilen durch
das Konzept der Partizipation ersetzt und überwiegend die Zielgruppe des Gesetzes von
Menschen mit Migrationshintergrund in Menschen mit Migrationsgeschichte geändert.
Partizipation im Sinne des PartMigG meint zum einen die chancengleiche Teilhabe
von Menschen mit Migrationsgeschichte in allen Lebensbereichen der Stadt, wozu es
der umfangreichen migrationsgesellschaftlichen Ausrichtung der Verwaltung bedarf.
Zum anderen bedeutet Partizipation auch politische Teilhabe, was sich im PartMigG
unter anderem in der Aufwertung von Beiräten auf Landes- sowie Bezirksebene wider-
spiegelt.
Das PartMigG ist ein Fördergesetz zur Durchsetzung eines Nachteilsausgleichs für
Menschen mit Migrationsgeschichte (AGH Drs. 18/3631, S. 28). Rechtssystematisch
lässt sich das PartMigG unter den Sammelbegriff der positiven Maßnahmen fassen (vgl.
Liebscher 2019, S. 1). Wegen seines umfassenden Bekenntnisses zur Förderung der
Partizipation von Menschen mit Migrationsgeschichte und den Maßnahmen, die dieses
Affirmative Action in der Verwaltung? Das Berliner … 303
Bekenntnis auch in Aktion treten lassen und es bekräftigten, erscheint die Einordnung
als „affirmative action“ passend. Dieser in den USA seit den 1960er Jahren verwendete
Begriff war ursprünglich auf den Nachteilsausgleich von Afroamerikaner*innen gerichtet
(ausführlich Peters und Birkhäuser 2005, S. 11). „Affirmative action“ meint keine spezi-
fische (Rechts-)Form von Fördermaßnahmen, sondern bezeichnet eine „aktive Politik
zur Beseitigung von [Anti]Diskriminierung zugunsten Angehörigen diskriminierter
ethnischer Minderheiten“ (Schuler-Harms 2022, Rn. 26, siehe dort auch zur Rechtsent-
wicklung) und unterscheidet sich inhaltlich nicht von dem im deutschen Rechtsdiskurs
gebräuchlichen Begriff der positiven Maßnahmen.
Die Zielsetzung des PartMigG ist ausweislich § 1 S. 1 PartMigG die Förderung der
Partizipation und Stärkung der Integration und die Durchsetzung der gleichberechtigten
Teilhabe von Personen mit Migrationsgeschichte in allen Lebensbereichen. Hierzu
gehört: die migrationsgesellschaftliche Ausrichtung der Verwaltung (§ 1 S. 2 Nr. 1
PartMigG), die Förderung der Beschäftigung von Personen mit Migrationshinter-
grund im öffentlichen Dienst (§ 1 S. 2 Nr. 2 PartMigG) und die Sicherung und Weiter-
entwicklung der die Partizipation fördernden Strukturen auf Landes- und Bezirksebene
(§ 1 S. 2 Nr. 3 PartMigG).
Ein Bekenntnis zu Vielfalt und die Anerkennung und Wertschätzung der Berliner
Migrationsgesellschaft, definiert durch eine von Migration und Vielfalt geprägte Stadt-
gesellschaft (vgl. AGH Drs. 18/3631, S. 32) enthält § 2 Abs. 1 PartMigG. Daneben
wird klargestellt, dass die Migrationsgesellschaft die Integrationsfähigkeit aller Teile
der Bevölkerung voraussetzt. Das meint insbesondere die gesellschaftliche Fähigkeit,
produktiv mit Migration umzugehen und Chancengleichheit und Teilhabechancen für
alle Mitglieder der Gesellschaft zu gewährleisten (§ 2 Abs. 2 PartMigG). § 2 Abs. 3 und
4 PartMigG legen den Rahmen der gesetzlichen Zielsetzung fest, wobei Absatz 3 auf
die Notwendigkeit von Offenheit, Respekt und Veränderungsbereitschaft hinweist und
304 K. Jäger und B. Bekos
Absatz 4 ein Bekenntnis gegen jede Form von Rassismus, Antisemitismus und anderer
Formen der Diskriminierung enthält.
Der Geltungsbereich des Gesetzes erstreckt sich gem. § 4 Abs. 1 PartMigG auf die
gesamte Berliner Verwaltung sowie landesunmittelbare öffentlich-rechtlichen Körper-
schaften (z. B. Handwerkskammer), Anstalten (z. B. Stadtreinigung und Verkehrs-
betriebe) und Stiftungen (z. B. Kulturbetriebe). Gerichte, Staatsanwaltschaft, der
Verfassungsgerichtshof und das Abgeordnetenhaus sind außerhalb ihrer justiziellen
Tätigkeit an das PartMigG gebunden. Soweit das Land Berlin an juristischen Personen
des Privatrechts oder Personengesellschaften Beteiligungen hält, sieht § 4 Abs. 2
PartMigG vor, dass das Land bei einer Mehrheitsbeteiligung auf die entsprechende
Umsetzung der Ziele, Grundsätze und Maßnahmen hinwirkt und sich bei einer Minder-
heitsbeteiligung für die Umsetzung und Beachtung einsetzt.
bei Vorhaben, Maßnahmen und Programmen die Auswirkungen auf Personen mit und
ohne Migrationsgeschichte beurteilen und ihre Belange berücksichtigen zu können,
die durch Diskriminierung und Ausgrenzung von Personen mit Migrationsgeschichte
entstehenden teilhabehemmenden Auswirkungen zu erkennen und zu überwinden
sowie
insbesondere im beruflichen Kontext Personen mit Migrationsgeschichte respektvoll
und frei von Vorurteilen und Diskriminierung zu behandeln.
306 K. Jäger und B. Bekos
§ 7 Abs. 1 PartMigG enthält einen Auftrag an das Land Berlin, die Beschäftigung von
Personen mit Migrationshintergrund zu fördern, entsprechend ihrem Anteil an der
Berliner Bevölkerung. Hinter diesem Auftrag und dem PartMigG insgesamt stehen
statistische Daten, die zeigen, dass in Berlin zwar 35 % der Bevölkerung, aber nur
12 % der Beschäftigten einen Migrationshintergrund haben (AGH Dr. 18/3631, S. 39
mit Nachweisen). Referenzgröße und Zielvorgabe ist der Anteil der Personen mit
Migrationshintergrund an der Bevölkerung des Landes Berlin im Sinne des Mikro-
zensus. Da in der Bevölkerungsstatistik zumindest bislang die Größe „Personen mit
Migrationshintergrund“ verwendet wird, muss sich das PartMigG anpassen und könnte
nicht – zumindest nicht ohne Verlust einer Referenzgröße – den weiteren Begriff der
Migrationsgeschichte verwenden.
Nach § 7 Abs. 2 PartMigG muss der Senat eine landesweite Strategie entwickeln und
Maßnahmen ergreifen, um die Beschäftigung von Personen mit Migrationshintergrund
zu fördern. Diese Strategie wird sich mit weiteren landesweiten Strategien koordinieren
müssen, insbesondere mit dem Diversity-Landesprogramm, das zahlreiche Maßnahmen
im Bereich Personalmanagement enthält (AGH-Drs. 18/3015; dazu und zu Diversity
Prozessen in der Verwaltung umfassend Dudek und Collien 2023).
Vom Senat wird die Verantwortung in § 7 Abs. 3 PartMigG wieder zurück zu den
öffentlichen Stellen gegeben, die aktiv auf die Förderung der Beschäftigung von
Affirmative Action in der Verwaltung? Das Berliner … 307
5.2 Datenerhebung
Zur Umsetzung der Ziele des PartMigG im Bereich Beschäftigung ist eine Bestands-
aufnahme und Analyse der nach § 8 PartMigG erhobenen Daten notwendig. § 9 Abs. 1
PartMigG verpflichtet daher jede öffentliche Stelle (§ 4 Abs. 1 PartMigG) mit 40 oder
mehr Beschäftigten, eine Analyse der Beschäftigtenstruktur durchzuführen. Auf-
gegliedert nach Besoldungs- und Entgeltgruppen sowie Vorgesetzten- und Leitungs-
ebene ist der Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund zu erheben, § 9
Abs. 1 S. 2 PartMigG. Auch der Anteil an Auszubildenden und Beamtenanwärter*innen
mit Migrationshintergrund ist festzustellen, getrennt nach Laufbahn, Fachrichtung und
Ausbildungsberuf, § 9 Abs. 1 S. 3 PartMigG. Aus der Bestandsaufnahme darf kein Rück-
schluss auf einzelne Beschäftigte möglich sein, § 9 Abs. 1 S. 4 PartMigG.
Die Erhebung des Migrationshintergrundes ist insbesondere für die Erstellung der
Förderpläne in den jeweiligen Dienststellen erforderlich, welche § 9 Abs. 2 PartMigG
vorsieht. Erkennbares Vorbild sind die aus der Frauenförderung bekannten Frauen-
förderpläne, § 4 LGG (dazu auch Liebscher 2019, S. 27–29), bzw. Gleichstellungspläne
(§ 11 ff. Bundesgleichstellungsgesetz, BGleiG). Die Planerstellung soll dazu dienen,
genau auf die spezifische Dienststelle angepasste personalplanerische Schritte zum
Abbau von Nachteilen der dort beschäftigten Personen mit Migrationshintergrund ein-
zuleiten und ist unabhängig vom Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund in
der jeweiligen Dienststelle (AGH Drs. 18/2631 S. 43). Denn auch bei einem bereits dem
Anteil an der Bevölkerung entsprechenden (oder darüber hinausgehenden) Anteil von
Beschäftigten mit Migration können weitere Fördermaßnahmen notwendig sein. Aus
datenschutzrechtlicher Sicht ist zu erwähnen, dass der für die Erstellung der Förderpläne
zuständigen Person in der jeweiligen Dienststelle eine Leseberechtigung für das Datum
Migrationshintergrund eingeräumt sein muss, allerdings ohne die Zuordnungsmöglich-
keit zu den konkreten Beschäftigten.
Nach § 9 Abs. 3 PartMigG enthält der Förderplan Maßnahmen zur Personal-
gewinnung und muss darauf ausgerichtet sein, in den einzelnen Besoldungs- und Ent-
geltgruppen der Laufbahnen und Berufsfachrichtungen sowie der Vorgesetzten- und
Leistungsebene den Anteil an Personen mit Migrationshintergrund sicherzustellen, wofür
konkrete Zielvorgaben enthalten sein müssen. Die Förderpläne sollen für einen Zeit-
raum von 5 Jahren erstellt und danach fortgeschrieben werden, wobei nach 3 Jahren eine
Anpassung and die aktuelle Entwicklung vorgesehen ist, § 9 Abs. 2 S. 3 PartMigG.
Affirmative Action in der Verwaltung? Das Berliner … 309
„Gezielte Ansprache der Zielgruppe des PartMigG bei der Veröffentlichung der
Stellenausschreibung,
Schulungen für Führungskräfte zum Erwerb von migrationsgesellschaftlicher
Kompetenz
Analyse und ggf. Überarbeitung von Stellenausschreibungen und Anforderungs-
profilen sowie Einstellungsprozessen,
Fortbildungsmaßnahmen zum Thema diversitätsorientierte Bestenauslese für an
Personalauswahlprozessen beteiligte Mitarbeitende“ (AGH Drs. 18/3631).
gabe des § 11 Abs. 1 S. 1 PartMigG Diskriminierung bei der Bewertung der Eignung
verhindern und mittelbar sichergestellt werden, dass Personen mit Migrationshinter-
grund Zugang zum gesamten Bewerbungsverfahren haben (AGH-Drs. 18/3631, S. 45).
§ 11 Abs. 1 S. 2 PartMiG stellt klar, dass die Regelungen des LGG unberührt bleiben.
Eine Dokumentation des Auswahlverfahrens nach § 11 Abs. 2 PartMigG soll sicher-
stellen, dass die Anstrengungen zum Abbau von Unterrepräsentanzen auch tatsächlich
unternommen werden. § 11 Abs. 3 PartMigG stellt klar, dass die Anforderungen des
PartMigG auch gelten, wenn Dritte mit der Durchführung des Auswahlverfahrens beauf-
tragt werden.
Durch § 12 Abs. 1 S. 1 PartMigG soll die Einstellung von Personen mit Migrations-
hintergrund in allen Laufbahngruppen, Berufsrichtungen und Leitungsfunktionen ent-
sprechend ihrem Anteil an der Berliner Bevölkerung gewährleisten und steigern, unter
Einhaltung der Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG (vgl. Abschn. 5.4) und Wahrung
der Einzelfallgerechtigkeit. Entsprechend geeignete Bewerber*innen sollen nach § 12
Abs. 1 S. 1 PartMigG „gezielt geworben“ und „in besonderem Maße berücksichtigt
werden“. Die allgemein gehaltene Vorgabe steht einer Einordnung der Regelung als
Quote nicht entgegen (vgl. Schuler-Harms 2022, Rn. 8). Das PartMigG bleibt hier –
anders als im Prozess der Neufassung teilweise vorgeschlagen (vgl. Liebscher 2019,
S. 55) hinter vergleichbaren Regelungen in Gleichstellungsgesetzen zurück, welche
bei einer Unterrepräsentanz von Frauen klar eine „Bevorzugung“ aussprechen, eben-
falls unter Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit vgl. § 8 Abs. 1 S. 1 BGleiG. Nach § 12
Abs. 1 S. 2 PartMigG. Eine solche Bevorzugung lässt auch § 12 Abs. 1 S. 1 PartMigG
zu – er schreibt sie aber nicht zwingend vor und steht im Konkurrenzfall hinter den
Förderregelungen zugunsten von Frauen und Menschen mit Behinderungen zurück, § 12
Abs. 1 S. 2 PartMigG. Regelungen, die eine Bevorzugung bei gleicher Eignung unter
Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit vorsehen, werden als flexible Quote bezeichnet und
als rechtlich zulässig erachtet (vgl. Janda und Herbig 2022, S. 11, 29 unter Darstellung
der EuGH Rechtsprechung), wobei teilweise über die Notwendigkeit einer verfassungs-
rechtlichen Grundlage diskutiert wird (zusammenfassend und überzeugend dagegen
Schuler-Harms 2022, Rn. 68). Die Dokumentationspflicht des § 12 Abs. 2 PartMigG ent-
spricht, auch in ihrer Zielsetzung der des § 11 Abs. 3 PartMigG.
Für den Bereich Ausbildung macht § 13 Abs. 1 PartMigG die im Bereich der
Beschäftigung stärkste Vorgabe. Ausbildungsplätze sollen verstärkt von Personen mit
312 K. Jäger und B. Bekos
Mit dem Ziel, die Partizipation fördernden Strukturen auf Landes- und Bezirks-
ebene zu stärken und zivilgesellschaftliche Organisationen einzubinden (§ 1 s. 2 Nr.
3 PartMigG), werden die Position und Aufgaben der oder des Beauftragten des Senats
für Partizipation, Integration und Migration in § 15 PartMigG und die der Bezirksbeauf-
tragten für Partizipation und Integration in § 16 PartMigG niedergelegt. Beide Positionen
beinhalten auch die Funktion als Ombudsperson als Beschwerde und Schlichtungsstelle
für Menschen mit Migrationsgeschichte bei Konflikten mit der Verwaltung, wobei von
einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der – mit mehr konkreten Kompetenzen aus-
gestatteten – Ombudsperson nach § 14 LADG ausgegangen wird (AGH Drs. 18/3631,
S. 50, 53).
Der Landesbeirat für Partizipation (§ 17 PartMigG) soll als Gremium von
Expert*innen zu Belangen der Migrationsgesellschaft und von Repräsentant*innen der
Migrationsgesellschaft den Austausch zwischen Zivilgesellschaft und Verwaltung sicher-
stellen. § 17 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 7 S. 5, 6, 8 PartMigG sehen vor, dass sich die Vielfalt
der Migrationsgesellschaft auch in der Besetzung des Beirats widerspiegelt und Ver-
tretungen von Aussiedler*innen, geflüchteter Menschen, einer LSBTI Selbstorganisation
von Menschen mit Migrationsgeschichte, Schwarzer, jüdischer und muslimischer
Menschen unter den stimmberechtigten Mitgliedern sind, davon mindestens die Hälfte
Frauen (AGH Drs. 18/3631, S. 55, vgl. dazu Verordnung über die Wahl zum Landesbei-
rat für Partizipation).
Gegenüber dem PartIntG neu geschaffen ist der in § 18 PartMigG vorgesehene Beirat
für Angelegenheiten für Roma und Sinti, welcher den Senat bei Fragen der Partizipation
und gleichberechtigten Teilhabe von Sinti*zze und Rom*nja unterstützen und beraten
soll, § 18 Abs. 1 PartMigG. Auch hier sind Quotierungen vorgesehen, § 18 Abs. 3 Nr. 1
PartMigG.
Affirmative Action in der Verwaltung? Das Berliner … 313
In der Zusammenschau seiner Maßnahmen kann das PartMigG als derzeit fortschritt-
lichstes Gesetz seiner Art eingeordnet und damit als Meilenstein moderner Verwaltungs-
praxis im Bereich der Partizipation von Menschen mit Migrationsgeschichte bezeichnet
werden. Die Einführung des Begriffs Menschen mit Migrationsgeschichte ins Recht ist
wegweisend, ebenso wie die umfassende migrationsgesellschaftliche Ausrichtung der
Verwaltung. Wie die Regelungen vor allem zur Erhebung des Migrationshintergrundes
der Beschäftigten den Praxistest überstehen, bleibt abzuwarten, in jedem Fall bilden
sie einen Impuls und Aufschlag für die Weiterentwicklung entsprechender Maßnahmen
auf Landes- und Bundesebene. Die für den Bereich Beschäftigung ergriffenen positiven
Maßnahmen können in Zukunft in ihrer Verbindlichkeit noch gestärkt werden, belegen
aber bereits jetzt, wie auch die weiteren Maßnahmen des PartMigG, eine wahre
Bekräftigung, eine Affirmation von Vielfalt.
Literatur
Schlachter, M.: § 5 AGG – Positive Maßnahmen. In: Müller-Glöge, R., Preis, U., Schmidt, I.:
Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 23. Auflage, C.H. Beck, München (2022)
Schuler-Harms, M.: Positive Maßnahmen. In: Mangold, A. K., Payandeh, M. (Hrsg.) Handbuch
Antidiskriminierungsrecht, S. 677–712. Mohr Siebeck, Tübingen (2022)
Senatsverwaltung für Finanzen: Rundschreiben SenFin IV Nr. 74 (2021) über die Diversity-
Kompetenz und über die Migrationsgesellschaftliche Kompetenz in den Anforderungs-
profilen. https://www.berlin.de/politik-und-verwaltung/rundschreiben/download.php/4327441.
Zugegriffen: 19. Januar 2023
Ziekow, J.: Möglichkeiten zur Verbesserung der Chancen von Personen mit Migrationshinter-
grund im öffentlichen Dienst: Rechtswissenschaftliche Stellungnahme für das Ministerium für
Integration Baden-Württemberg. https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/
redaktion/m-sm/intern/downloads/Downloads_Interkulturelle-Öffnung/Verbesserung-Chancen-
Migranten-oeff-Dienst_Prof-Ziekow_2013.pdf (2013). Zugegriffen: 19. Januar 2023
Kathleen Jäger, LL.M., Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, Beauftragte des
Senats von Berlin für Integration und Migration.
Kathleen Jäger ist juristische Regierungsrätin bei der Senatsverwaltung für Inneres,
Digitalisierung und Sport und derzeit zur Beauftragten des Senats von Berlin für Integration und
Migration abgeordnet, wo sie im Referat Partizipation in der Migrationsgesellschaft tätig ist. Als
Juristin und Diversity-Trainerin befasst sie sich seit über 10 Jahren mit Diversity und Antidis-
kriminierung in der Verwaltung. Zuvor war sie bei der Berliner Ombudsstelle für das Landesanti-
diskriminierungsgesetz tätig.
Belma Bekos, Berlin, Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, Beauftragte des
Senats von Berlin für Integration und Migration.
Belma Bekos ist juristische Referentin im Referat Partizipation in der Migrationsgesell-
schaft bei der Beauftragten des Senats von Berlin für Integration und Migration und dort mit
der Umsetzung des Partizipationsgesetzes betraut. Zuvor war sie an der Novellierung des
Partizipationsgesetzes beteiligt. Vor dem Eintritt in die Berliner Landesverwaltung war Belma
Bekos im Bundestag als wissenschaftliche Mitarbeiterin eines Abgeordneten tätig und hat dort
rechtspolitisch unter anderem in den Bereichen soziale Grundrechte, Armutsdelikte und Ersatzfrei-
heitsstrafen gearbeitet.
Institutionalisierte Akteur*innen als
Impulsgeber*innen für Vielfalt (Teil
1): Diversitätspolitischer Auftrag
von Personalverwaltung, Personal-
und Schwerbehindertenvertretung,
Gleichstellungsbeauftragten sowie AGG-
Beschwerdestellen
Zusammenfassung
Dieser Beitrag widmet sich der Frage, welche Stellung und Handlungsmöglichkeiten
die Personalverwaltung, Personal- und Schwerbehindertenvertretung, Gleichstellungs-
beauftragte sowie AGG-Beschwerdestellen in der öffentlichen Verwaltung haben,
um Vielfalt aktiv wertzuschätzen, zu fördern und wie durch ihr konsensorientiertes
Zusammenwirken ein kultureller Wandel in der Verwaltung gestärkt und erreicht
werden kann. Dabei wird das Bundesrecht zugrunde gelegt.
Schlüsselwörter
T. M. Hillermann ( )
Hamburg, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 315
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_24
316 T. M. Hillermann
1 Einleitung
Die Frage danach, wie der öffentliche Dienst vielfältiger, inklusiver und offener gestaltet
werden kann, bietet eine große Chance, bestehende Strukturen der deutschen Ver-
waltung weiterzudenken, institutionalisierte Akteur*innen handlungsstärker zu machen
sowie deren zeitliche und sachliche Ressourcen und Expertisen zusammenzuführen. Nur
durch eine Bündelung von unterschiedlichen Erfahrungswerten und Perspektiven kann
Diversity als Querschnittsthema nachhaltig Eingang in verwaltungsinterne Prozesse und
Strukturen finden.
Dieser Beitrag widmet sich der Frage, welche Stellung und Handlungsmöglichkeiten
verschiedene Akteur*innen in der Verwaltung haben, um Vielfalt aktiv wertzuschätzen,
zu fördern und wie durch ihr konsensorientiertes Zusammenwirken ein kultureller
Wandel in der Verwaltung gestärkt und erreicht werden kann. Dabei wird das Bundes-
recht zugrunde gelegt.
In Teil 1 dieses Fachbeitrages wird zunächst der maßgebliche Rechtsrahmen auf-
gezeigt. Sodann werden die entscheidenden Akteur*innen der Verwaltung und deren
rechtlichen Aufgabenbereiche und Handlungsoptionen zur gemeinsamen Umsetzung von
Diversity-1Ansätzen vorgestellt. In einem Zwischenfazit wird resümiert, inwieweit von
einem diversitätspolitischen Mandat gesprochen werden kann.
Die Fortführung im späteren Teil 2 des Fachbeitrages verdeutlicht an den konkreten
Beispielen Gleichstellungsplan, Inklusionsvereinbarung, Fortbildungsangebot und
Stellenausschreibungen, wie ein gewinnbringendes diversitätspolitisches Zusammen-
wirken aussehen kann. Die Ansätze und Ergebnisse der Untersuchung werden schließlich
in einem Fazit und Ausblick zusammengeführt.
Vorliegend werden vor allem Organisationen, Strukturen und Prozesse in den Blick
genommen. Bei der Lektüre aller hier betrachteten strukturellen Fragen soll aber die
Einzigartigkeit jeder Diskriminierung und der damit einhergehenden Erfahrung hiervon
betroffener Personen nicht vergessen werden.
1 Diversity wird im Deutschen mit dem Begriff Vielfalt übersetzt und meint die Vielfalt aller
Menschen zum Beispiel in Bezug auf Alter, geschlechtlicher Identität, Religion/Weltanschauung
oder sexueller Identität. In diesem Kontext wird der Begriff Diversity vor allem als Organisations-
und Personalentwicklungsinstrument verwendet, das auf Qualitätssicherung in der Entscheidungs-
findung, Konsens und Kreativität in Arbeitsprozessen und mehr sozialer Gerechtigkeit führt, siehe
zur Definition: Diversity-Prozesse in und durch Verwaltungen anstoßen: von merkmalsspezifischen
zu zielgruppenübergreifenden Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit – Eine Hand-
reichung für Verwaltungsbeschäftigte –, Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2015, S. 10 ff.
Institutionalisierte Akteur*innen als Impulsgeber*innen … 317
2 Rechtlicher Rahmen
Es gibt eine Reihe gesetzlicher Grundlagen, die Vielfalt und Diversität in der Verwaltung
ermöglichen, vorsehen und unterstützen. Antidiskriminierungsrecht des öffentlichen
Dienstes soll hier in einem weiten Sinne verstanden werden. Es umfasst demnach alle
rechtlichen Grundlagen zum Schutz vor Diskriminierung sowie der Förderung von
Chancengleichheit und Gleichbehandlung und alle Normen, die Vorurteile und dis-
kriminierende Verhaltensweisen abbauen können.
Verfassungsrechtliche Vorgaben, die für Antidiskriminierung und Chancengleichheit
im öffentlichen Dienst eine Rolle spielen, ergeben sich insbesondere aus dem Gleich-
berechtigungsgebot in Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz (GG)2 und den Diskriminierungs-
verboten des Art. 3 Abs. 3 GG. Zudem sichern Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 GG mit
dem Prinzip der Bestenauslese einen diskriminierungsfreien, am Leistungsprinzip
orientierten, Zugang zu öffentlichen Ämtern.3 Daneben können sich Pflichten aus völker-
rechtlichen Verträgen ergeben.4
Diese Vorschriften werden durch einfache Gesetze näher ausgestaltet und
konkretisiert. Besonders hervorzuheben sind dabei das Allgemeine Gleichbehandlungs-
gesetz (AGG)5, das Schwerbehindertenrecht (SGB IX)6 sowie Gleichstellungsgesetze
(z. B. BGleiG7) und Behindertengleichstellungsgesetze (z. B. BGG8) des Bundes und der
Länder.
2 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949, BGBl. 1, zuletzt geändert
durch Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 87a) vom 28. Juni 2022,
BGBl. I, 968.
3 Hinnerk Wißmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Ver-
durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. Mai 2022, BGBl. I, 768.
6 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch vom 23. Dezember 2016, BGBl. I, 3234, zuletzt geändert durch
durch Artikel 7 des Gesetzes vom 23. Mai 2022, BGBl. I, 760.
318 T. M. Hillermann
9 Care-Arbeit bezeichnet Sorgearbeit oder Sorgetätigkeiten für Menschen. Davon umfasst sind
alle Arbeiten, die gesellschaftlich und individuell der Versorgung, Unterstützung, Erziehung,
Zuwendung und Pflege anderer Menschen dienen sowie die Gestaltung von Beziehungen, sozialem
Miteinander und Alltagsmanagement. Neben der Sorge für andere ist auch die Selbstsorge umfasst.
Care-Arbeit kann bezahlt und im Rahmen der Erwerbstätigkeit oder unbezahlt und ehrenamtlich
erfolgen. Die Organisation, Bedeutung und Praxis von Care-Arbeit hängen dabei im Einzelfall von
dem Kontext und den Lebensumständen ab, in denen sie ausgeübt wird. Der Begriff wird in ver-
schiedenen Fachgebieten verwendet, Kirsten Schleiwe, NZFam 2022, 45; Regina Frey, GiP 3/2020,
51.
10 Pflegezeitgesetz vom 28. Mai 2008, BGBl. I, 874, 896, zuletzt geändert durch Artikel 3b des
durch Artikel 7 des Gesetzes vom 20. Juli 2022, BGBl. I, 1174.
12 Bundespersonalvertretungsgesetz vom 9. Juni 2021, BGBl. I, 1614.
13 Bundesbeamtengesetz vom 5. Februar 2009, BGBl. I, 160, das zuletzt durch Artikel 1 des
Gesetzes vom 28. Juni 2021, BGBl. I, 2250, geändert worden ist.
14 Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) vom 11.06.2020, GVBl. 2020, 532.
15 Gesetz zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin vom
05.07.2021, GVBl. 2021, 842. Siehe zu diesem Gesetz den Beitrag von Belma Bekos/Kathleen
Jäger in diesem Handbuch.
Institutionalisierte Akteur*innen als Impulsgeber*innen … 319
Institutionalisierte Akteur*innen können alle Organe und Stellen der Verwaltung sein, die
einen bestimmten Aufgabenbereich haben und denen für die Aufgabenerfüllung bestimmte
Befugnisse oder Rechte zugewiesen sind. Diese Befugnisse und Rechte sind gleichsam
Instrumente, um Handlungsschwerpunkte in der Organisation und in den Abläufen der Ver-
waltung zu implementieren. Die diversitätsorientierte Ausübung dieser Instrumente kann ein
Motor für Diversity in der öffentlichen Verwaltung sein. Durch ihr Zusammenspiel auf unter-
schiedlichen Ebenen können Chancen zum Wandel hin zu einer vielfältigeren Verwaltung
gebündelt werden.
Die Organe und Stellen, um die es hier primär gehen soll, sind die Personalver-
waltung, die Gleichstellungsbeauftragte, der Personalrat, die Schwerbehinderten-
vertretung und die AGG-Beschwerdestelle als zentrale Gestalter*innen von
Verwaltungsorganisation und Schlüsselfiguren bei der Bearbeitung antidiskriminierungs-
relevanter Themenbereiche. Ihr gesetzlich angelegtes Tätigkeitsfeld in diesen Bereichen
soll hier auch als diversitätspolitischer Auftrag bezeichnet werden.
3.1 Personalverwaltung
Frauen und Jugend, 06.2017, S. 128; vgl. Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung,
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 06.2017, S. 128; vgl. auch Harald
Steiner, ZfPR 2010, 86 (88).
17 Vgl. Kyrill-Alexander Schwarz, in: Brinktrine/Schollendorf, BeckOK BBG, 20. Ed. 10.2020,
§ 106 Rn. 8.3; Torsten v. Roetteken in: v. Roetteken/Rothländer, Beamtenstatusgesetz, 29. Akt.
06.2020, § 50 Rn. 157.
320 T. M. Hillermann
18 Diversity Mainstreaming für Verwaltungen, Schritt für Schritt zu mehr Diversity und weniger
Diskriminierung in öffentlichen Institutionen – Ein Leitfaden für Verwaltungsbeschäftigte –, Anti-
diskriminierungsstelle des Bundes, 2015, S. 29 ff.
19 Siehe dazu auch IV. 4.
umgesetzt und überwacht werden. Sie hat zudem entsprechend der gesetzlichen Vor-
gaben die Gleichstellungsbeauftragte (§ 27 Abs. 1 BGleiG) und die Schwerbehinderten-
vertretung (§ 178 SGB IX) (frühzeitig) bei der Entscheidungsfindung, d. h. bevor eine
Entscheidung getroffen wird, umfassend zu informieren und zu beteiligen. Beiden
Stellen ist durch die Personalverwaltung Gelegenheit zur aktiven Teilnahme an allen Ent-
scheidungsprozessen zu personellen, organisatorischen und sozialen Angelegenheiten,
die dort bearbeitet werden, zu geben (§ 30 Abs. 2 BGleiG). Für die Schwerbehinderten-
vertretung ist diese Beteiligung auf die Prozesse, die die Belange schwerbehinderter
Menschen berühren, beschränkt. Für die Gleichstellungsbeauftragte ist ein (sehr weit zu
verstehender) Gleichstellungsbezug erforderlich. Zudem muss die Personalverwaltung
im Anschluss an die Willensbildung der Dienststelle – also zeitlich nach der Beteiligung
der Gleichstellungsbeauftragten und der Schwerbehindertenvertretung – eine (mit-
bestimmungspflichtige) Maßnahme in Personalangelegenheiten dem Personalrat zur Mit-
bestimmung vorlegen (§ 78 Abs. 1 BPersVG).
3.2 Gleichstellungsbeauftragte
22 Nicht zu vernachlässigen ist, dass die Person, die das Amt der Gleichstellungsbeauftragten
durchaus bereits als role model in der Verwaltung Ausstrahlungswirkung haben kann. So kann
es sich lohnen, sich bei der Kandidatinnenaufstellung der repräsentativen Wirkung des Amtes
bewusst zu sein und entsprechende Kandidatinnen gezielt zur Übernahme des Amtes anzusprechen
und zu motivieren.
322 T. M. Hillermann
falen, Beschluss vom 21.12.2012–1 A 2043/11 –, juris, Rn. 13; siehe dazu ausführliche Tessa
Hillermann/Christiana Ijezie, KritV 2/2021, 159.
25 Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 04.05.1994–6 A 690/93 –, NVwZ-RR 1995, 98.
26 Eine an Sinn und Zweck und am Wortlaut orientierte Auslegung, gebietet eine großzügige Inter-
pretation der Beteiligung an Auswahlverfahren, Wankel, PersR 1997, 400 (402); Schattat-Fischer,
PersR 1994, 541 (545).
27 Mandy Geithner-Simbine, in: Breger/Späte/Wiesemann, in: Handbuch Sozialwissenschaftliche
Zudem hat sie das Recht, eine jährliche Versammlung der weiblichen Beschäftigten
einzuberufen und inhaltlich frei zu gestalten – so kann dort auch eine fachliche Aus-
einandersetzung zu Diversity-Konzepten stattfinden (§ 25 Abs. 3 S. 1 2. Hs. BGleiG).
Sie kann zudem an Personalversammlungen teilnehmen und dort Themen, insbesondere
mit Blick auf intersektionale Diskriminierung, platzieren (§ 25 Abs. 3 S. 3 BGleiG).
Die Gleichstellungsbeauftragte ist berechtigt, Sprechstunden abzuhalten (§ 25 Abs. 3
BGleiG). Die Ausgestaltung kann und sollte sie barrierefrei gestalten und die Zeiten und
Formate so wählen, dass Menschen, die Care-Arbeit übernehmen, die Sprechstunden
wahrnehmen.
Diese Rechte kann die Gleichstellungsbeauftragte gegebenenfalls auch gegen den
Willen der Dienststellenleitung durchzusetzen versuchen. Nach den Gleichstellungs-
gesetzen des Bundes und der Länder hat die Gleichstellungsbeauftragte in bestimmten
Fällen ein Beanstandungsrecht gegenüber der Dienststellenleitung (§ 33 Abs. 1 BGleiG).
Daran knüpfen die Klagerechte der Gleichstellungsbeauftragten an, soweit solche im ein-
schlägigen Gesetz verankert sind (vgl. § 34 BGleiG).
Für das Verhältnis der Beteiligung der Gleichstellungsbeauftragten und des Personal-
rates ist wichtig, dass die Beteiligung der Gleichstellungsbeauftragten der Beteiligung
des Personalrates vorausgeht (§ 27 Abs. 3 BGleiG). Wenn in Ausnahmefällen eine
parallele Beteiligung von Personal- oder Schwerbehindertenvertretung, z. B. wegen
Zeitdringlichkeit, erfolgen muss, ist die Gleichstellungsbeauftragte über die Gründe zu
informieren. Das bedeutet, dass die Beteiligung und Mitwirkung der Gleichstellungsbe-
auftragten, die im Rahmen der Willensbildung der Verwaltung und bei der Vorbereitung
einer Maßnahme stattfindet, in der Regel vollständig abgeschlossen sein müssen,
bevor eine Maßnahme der Dienststellenleitung das personalvertretungsrechtliche Mit-
bestimmungsverfahren durchläuft.
3.3 Personalrat
Der Personalrat ist die Personalvertretung im öffentlichen Dienst. Der Personalrat ist
eine Gruppe von Beschäftigten, die die Interessen der Beschäftigten in einer Dienststelle
zu vertreten hat (§§ 13, 62 BPersVG). Seine personelle Zusammensetzung muss die
Vielfalt der Beschäftigungsarten und der Geschlechter in der Dienststelle abbilden (§ 18
BPersVG).
Ein Blick in das BPersVG zeigt vielfältige Handlungsmöglichkeiten und Mandate
des Personalrates, wenn es um die Verankerung die Förderung von diversitätsorientierten
Entscheidungen, Maßnahmen und Prozessen in der Dienststelle geht.
Sein diversitätspolitisches Mandat ist in seinem gesetzlich umrissenen Aufgabenfeld
in besonderer Weise angelegt. Der Personalrat vertritt alle Beschäftigten einer Dienst-
stelle (vgl. § 62 BPersVG). Er nimmt eine gestaltende Rolle dadurch ein, dass er Anträge
für Maßnahmen stellt, die im Sinne der Beschäftigten sind (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG).
Zudem hat er einen Überwachungsauftrag im Hinblick auf die Durchführung der
324 T. M. Hillermann
29 Vgl. zum Betriebsrat Ingrid Schmidt, in: ErfK, GG, 2021, Art. 3 Rn. 94.
Institutionalisierte Akteur*innen als Impulsgeber*innen … 325
3.4 Schwerbehindertenvertretung
Die Vertrauensperson für schwerbehinderte Menschen ist ein gesetzliches Organ der
Dienststellenverfassung mit der Aufgabe die Eingliederung schwerbehinderter Menschen
in der Dienststelle oder dem Betrieb zu fördern und deren Interessen zu vertreten. Sie
steht Menschen mit Schwerbehinderung beratend und helfend zur Seite.
Die Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung sind vielfältig und zentral, um
dienststelleninterne Abläufe inklusiver zu gestalten. Die Schwerbehindertenvertretung
bringt also eine wichtige Perspektive und Expertise mit, wenn es um die Belange von
Menschen mit einer Behinderung geht.
Die gesetzlichen Grundlagen zur Schwerbehindertenvertretung befinden sich in
den §§ 176 bis 183 SGB IX. Die Aufgaben und Rechte sind vor allem in § 178 SGB
IX geregelt. Die Schwerbehindertenvertretung bzw. die Vertrauensperson für schwer-
behinderte Menschen fördert allgemein die Eingliederung schwerbehinderter Menschen
in den Betrieb oder die Dienststelle, vertritt dort ihre Interessen und steht schwer-
behinderten Menschen beratend und helfend zur Seite. Sie wirkt daher von Gesetzes
wegen auf Verwaltungsebene auf inklusive Strukturen hin und ist zugleich Ansprech-
partnerin für die Beschäftigten.
Sie hat darüber zu wachen, dass die zugunsten schwerbehinderter Menschen
geltenden Gesetze, Verordnungen, Tarifverträge, Betriebs- oder Dienstverein-
barungen und Verwaltungsanordnungen durchgeführt und die schwerbehinderten-
rechtlichen Pflichten der Dienststelle wie zum Beispiel präventive Schutzmaßnahmen
oder Inklusionsvereinbarungen (§§ 164 bis 167 SGB IX) eingehalten werden (§ 178
Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IX). Mit ihrem Antragsrecht gem. § 178 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB
IX kann die Vertrauensperson für schwerbehinderte Menschen (präventive) Maßnahmen,
die Menschen mit Schwerbehinderung dienen, in der Dienststelle beantragen. Nach
§ 178 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB IX muss die Schwerbehindertenvertretung Anregungen und
Beschwerden von schwerbehinderten Menschen entgegennehmen. Wenn diese berechtigt
erscheinen, hat sie durch Verhandlung mit dem Arbeitgeber auf die Beseitigung und
Erledigung der Angelegenheit hinzuwirken.
§ 178 Abs. 2 SGB IX regelt die Unterrichtungs- und Beteiligungsrechte der Schwer-
behindertenvertretung. Sie ist in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die
schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu
unterrichten. Die Beteiligungs- und Unterrichtungsrechte setzen voraus, dass eine
Angelegenheit schwerbehinderte Menschen in besonderer Weise bzw. anders betreffen
kann als Menschen, die nicht unter die Vorgaben des SGB IX fallen. Beteiligungs-
pflichtige Maßnahmen sind z. B. die Kündigung schwerbehinderter Menschen, Ein-
stellungen, Vorstellungsgespräche, Versetzung, Umgruppierung und Kündigung von
Schwerbehinderten. Findet eine Beteiligung nicht statt, wird die Entscheidung ausgesetzt
(§ 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX).
Die Schwerbehindertenvertretung kann mindestens einmal im Jahr eine Versammlung
schwerbehinderter Menschen im Betrieb oder in der Dienststelle durchzuführen
(§ 178 Abs. 6 SGB IX), um Bedarfe zu kommunizieren und sich auszutauschen.
Institutionalisierte Akteur*innen als Impulsgeber*innen … 327
Die Schwerbehindertenvertretung kann auch die Foren des Personalrates nutzen und
kann zudem dessen Beschlüsse blockieren, wenn sie gegen die Belange von Menschen
mit Schwerbehinderung verstoßen. Elementar zur Zusammenarbeit mit der allgemeinen
Personalvertretung bei Anliegen der Beschäftigten mit Schwerbehinderung ist das
Recht der Schwerbehindertenvertretung, beratend an Sitzungen des Personalrates teilzu-
nehmen (§ 178 Abs. 5 SGB IX, § 37 BPersVG) sowie die Teilnahme- und Rederechte
bei Personalversammlungen (§ 178 Abs. 8 SGB IX). Die Vertrauensperson der schwer-
behinderten Menschen kann überdies nach § 36 Abs. 3 Nr. 4 BPersVG eine Beratung
beim Personalrat beantragen in Angelegenheiten, die besonders schwerbehinderte
Beschäftigte betreffen. Sie hat auch die Möglichkeit, die zwingende Aussetzung eines
Beschlusses des Personalrates zu beantragen, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung
wichtiger Interessen der durch sie vertretenen Beschäftigten droht (§ 42 BPersVG).
Nach § 182 SGB IX wirken Arbeitgeber*innen, Inklusionsbeauftragte, Schwer-
behindertenvertretung und Betriebs-, Personal-, Richter-, Staatsanwalts- oder Präsidial-
rat zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben in dem Betrieb oder der
Dienststelle eng zusammen und unterstützen sich gegenseitig bei der Erfüllung ihrer
Aufgaben.
3.5 AGG-Beschwerdestelle
Die AGG-Beschwerdestelle ist eine seitens der Leitungsebene zuständige Stelle und
Ansprechperson innerhalb einer Dienststelle, an die sich Beschäftigte bei (potenziellen)
Diskriminierungen, die unter § 1 AGG fallen, wenden können.30 Beschäftigte haben
das Recht und die Möglichkeit, sich bei den Beschwerdestellen nach § 13 AGG
zu beschweren, wenn sie sich zum Beispiel rassistisch, geschlechtsbezogen oder
religiös diskriminiert fühlen oder wegen eines anderen in § 1 AGG genannten Gründe
(potenziell) benachteiligt werden. Die Beschwerde muss dann inhaltlich geprüft werden
und das Ergebnis muss der beschwerdeführenden Beschäftigten mitgeteilt werden. Die
Beschwerde ist ein wichtiges Mittel, um verschiedene Formen von Diskriminierungen
im öffentlichen Dienst zu begegnen.31 Insgesamt wirkt die AGG-Beschwerdestelle im
Vergleich zu den anderen Akteur*innen eher reaktiv, indem sie erst in (meist) bereits
abgeschlossenen Sachverhalten eingeschaltet wird und zum Beispiel einen Auf-
arbeitungsprozess anstoßen kann. Sie nimmt dann die Beschwerden an und wird nur auf
Antrag von Beschäftigten tätig.
30 Monika Schlachter, in: Erfurter Kommentar, AGG, 22. Aufl. 2022, § 13; Ute Wellner, GiP
3/2007, 19.
31 Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung
4 Diversitätspolitischer Auftrag?
Dr. Tessa Maria Hillermann studierte an den Universitäten Trier und Thessaloniki (Griechen-
land) Rechtswissenschaft (Schwerpunkt Umwelt und Infrastruktur) und promovierte anschließend
im Gleichstellungsrecht des öffentlichen Dienstes. Nach Abschluss ihres Rechtsreferendariats am
Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg ist sie seit März 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin
für die Gleichstellungsberichte der Bundesregierung bei der Bundesstiftung Gleichstellung.
Daneben ist sie freiberufliche Referentin und Beraterin für die öffentliche Verwaltung.
Institutionalisierte Akteur*innen als
Impulsgeber*innen für Vielfalt (Teil 2):
Diversitätspolitisches Zusammenwirken
von Personalverwaltung, Personal-
und Schwerbehindertenvertretung,
Gleichstellungsbeauftragten sowie AGG-
Beschwerdestellen
Zusammenfassung
Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie ein gewinnbringendes Zusammen-
wirken institutionalisierter Akteur*innen der Verwaltung für einen vielfältigeren
und inklusiveren öffentlichen Dienst aussehen kann. Hierzu werden anhand der aus-
gewählten Erarbeitungs- und Gestaltungsprozesse zum Gleichstellungsplan, der
Inklusionsvereinbarung, den Fortbildungsangeboten und den Stellenanzeigen Hand-
lungsmöglichkeiten für ein gemeinsames diversitätspolitisches Tätigwerden in den
Blick genommen. Schließlich werden die untersuchten Aspekte und Ansätze in einem
Fazit und Ausblick zusammengeführt.
Schlüsselwörter
T. M. Hillermann ( )
Hamburg, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 329
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_25
330 T. M. Hillermann
1 Einleitung
Nachdem Teil 1 dieses Fachbeitrages der Frage nach den zentralen Rechtsgrundlagen
und den Schlüsselfiguren mit Blick auf deren diversitätspolitischem Auftrag nach-
geht, betrachten die folgenden Ausführungen, wie ein gewinnbringendes Zusammen-
wirken institutionalisierter Akteur*innen der Verwaltung für einen vielfältigeren und
inklusiveren öffentlichen Dienst aussehen kann.
Hierzu werden anhand der ausgewählten Erarbeitungs- und Gestaltungsprozesse zum
Gleichstellungsplan, der Inklusionsvereinbarung, den Fortbildungsangeboten und den
Stellenanzeigen Handlungsmöglichkeiten für ein gemeinsames diversitätspolitisches
Tätigwerden in den Blick genommen. Schließlich werden die untersuchten Aspekte und
Ansätze in einem Fazit und Ausblick zusammengeführt.
Auch in diesem Teil des Fachbeitrages stehen Organisation, Strukturen und Prozesse
im Fokus. Bei der Lektüre aller hier betrachteten strukturellen Fragen soll die Einzig-
artigkeit jeder Diskriminierung und der damit einhergehenden Erfahrung hiervon
betroffener Personen nicht vergessen werden.
2 Diversitätspolitisches Zusammenwirken
dass beide insbesondere darüber zu wachen haben, dass „jede Benachteiligung von
Personen wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Abstammung oder sonstigen Herkunft,
ihrer Nationalität, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Behinderung, ihres Alters,
ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung oder wegen
ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität unterbleibt.“ Insofern ist ein diversi-
tätsorientiertes Zusammenwirken ausdrücklich angelegt. Auch betont § 17 AGG die
soziale Verantwortung der Beteiligten dahingehend, dass Tarifvertragsparteien, Arbeit-
geber*innen, Beschäftigte und deren Vertretungen dazu aufgefordert, im Rahmen ihrer
Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten an der Verwirklichung des in § 1 genannten
Ziels mitzuwirken.
Wie die einzelnen Akteur*innen der Dienststelle sich in Erfüllung der vorgenannten
Handlungsgebote gegenseitig unterstützen und gemeinsam auf eine vielfältigere und
inklusivere Verwaltung hinwirken können, soll beispielhaft am Gleichstellungsplan,
der Inklusionsvereinbarung, der Erstellung von Fortbildungsangeboten und Stellen-
ausschreibungen veranschaulicht werden. Diese Beispiele sind nicht abschließend
zu verstehen. Vielmehr stellen sie nur einige wenige Aspekte einer Bandbreite an
Betätigungsfeldern dar.
2.1 Gleichstellungsplan
1 Anja Rudek/Ulrike Schultz, BGleiG, 1. Aufl. 2012, § 11 Rn. 2, 3; Torsten v. Roetteken, BGleiG,
83. Akt. 01.2021, § 11 Rn. 7.
2 Bernhard Franke, Das Gesetz zur Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Männern,
Auch der Personalrat hat Möglichkeiten, die Umsetzung der Vorgaben im Gleich-
stellungsplan zu überwachen und durchzusetzen. Er kann gemäß § 78 Abs. 5 Nr. 1
BPersVG seine Zustimmung zu einer personellen Maßnahme, z. B. einer Einstellung oder
Beförderung verweigern, wenn die Maßnahme gegen den Gleichstellungsplan verstößt.
Zudem bestimmt der Personalrat in organisatorischen Angelegenheiten mit. Zu diesen
organisatorischen Maßnahmen gehören alle Maßnahmen, die der Familienfreundlichkeit,
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Durchsetzung der Geschlechtergleichstellung
sowie der Vermeidung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen dienen
(§ 80 Abs. 1 Nr. 13 Hs. 2 BPersVG). Um eine solche organisatorische Maßnahme handelt
es sich auch beim Gleichstellungsplan, der konkrete Maßnahmen und Zielvorgaben zu
ebendiesen Themen beinhaltet. Er kann also nicht nur seine Zustimmung verweigern,
wenn gegen den Gleichstellungsplan verstoßen wird, sondern bestimmt schon bei dessen
Erlass mit und kann hier konstruktive Kritik einbringen.
Die Schwerbehindertenvertretung ist gem. § 178 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX, Abs. 2 S. 1
SGB IX zu unterrichten bzw. anzuhören, wenn Aspekte des Gleichstellungsplans
einzelne oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren.
Bei der Erstellung des Gleichstellungsplans kann eine Abfrage bei der AGG-
Beschwerdestelle hilfreich sein, um Verbesserungsbedarfe und erforderliche Maßnahmen
im Bereich des Diskriminierungsschutz zu erreichen. Auch ist der Gleichstellungsplan für
die AGG-Beschwerdestelle ein wichtiges Instrument mit Blick auf die Bearbeitung von
Beschwerden mit Bezug zur geschlechtlichen Identität, etwa wenn es zum Beispiel um die
mangelhafte Umsetzung von im Gleichstellungsplan vorgeschriebenen Maßnahmen geht.
Der Gleichstellungsplan kann also insgesamt als umfassendes Diversity-Instrument
aufgefasst und gestaltet werden. Inhaltlich kann er in unterschiedlichen Bereichen durch
Maßnahmen der Antidiskriminierung und Chancengleichheit durch die Akteur*innen
angereichert werden. Auch haben. Letztere haben unterschiedliche Möglichkeiten die
Umsetzung des Plans zu kontrollieren.
2.2 Inklusionsvereinbarung
3 Christian Rolfs, in: Erfurter Kommentar, SGB IX, 22. Aufl. 2022, § 166 Rn. 1 ff.
334 T. M. Hillermann
2.3 Fortbildungsangebot
bildung sind Frauen mindestens entsprechend ihres Anteils an der jeweiligen Zielgruppe
der Fortbildung zu berücksichtigen. Neben der Pflicht der Dienststelle zur Ermög-
lichung von Fortbildungen der Beschäftigten, sind gemäß § 10 Abs. 4 BGleiG auch die
Beschäftigten der Personalverwaltung und die Beschäftigten mit Vorgesetzten- oder
Leitungsaufgaben verpflichtet, sich über Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen
und Männern sowie zur Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Berufstätigkeit zu
informieren und entsprechende Fortbildungen zu besuchen. Denkbar sind hier Diversity-
Management-Trainings, Antirassismus-Trainings oder Fortbildungen auf den Gebieten
der Antidiskriminierung oder zu Fragen der Integration, Inklusion oder beispielweise
sexueller oder geschlechtlicher Identität.4
Zuständig und verantwortlich für die Erstellung des Fortbildungsangebotes ist
regelmäßig die Dienststellenverwaltung. Die Gleichstellungsbeauftragte ist bereits im
Erarbeitungsprozess seitens des Fortbildungsangebotes frühzeitig zu beteiligen, da es sich
um eine organisatorische Maßnahme handelt und Fortbildungsprogramme zentral für die
geschlechtergerechte Personalentwicklung sind (§ 27 Abs. 1 Nr. 1 lit. c, Nr. 2 BGleiG).
Vom Beteiligungsrecht erfasst ist auch die Auswahl an Teilnehmer*innen.
Der Personalrat hat ein Beteiligungsrecht bei allgemeinen Fragen der Fortbildung der
Beschäftigten (§ 80 Abs. 1 Nr. 10 BPersVG). Nur, wenn dies auch im jeweils geltenden
Personalvertretungsgesetz verankert ist, bestimmt er auch bei der Auswahl der Teil-
nehmer*innen an Fortbildungsveranstaltungen mit (§ 78 Abs. 1 Nr. 13 BPersVG).
Dienststellenverwaltung, Gleichstellungsbeauftragte und Personalrat können
also bei der Konzipierung von Fortbildungsprogrammen gemeinsam diversitäts-
politische Schwerpunkte setzen. Dadurch kann einerseits eine Sensibilisierung bei
allen Beschäftigten, insbesondere Personalverantwortlichen geschaffen werden.
Andererseits können über entsprechend gestaltete Qualifizierungsangebote berufliche
Weiterentwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten geebnet werden.
2.4 Stellenausschreibungen
Die Ausgestaltung des gesamten Bewerbungs- und Auswahlverfahren ist ein wichtiges
Instrument für die Steuerung von diversitätsorientierter und chancengerechter Personal-
entwicklung. Hierdurch kann insbesondere auch Einfluss auf die Repräsentanz
bestimmter Personengruppen in der öffentlichen Verwaltung genommen werden.
Das Auswahlverfahren beginnt mit der Erarbeitung der Stellenausschreibung. Diese
stellt also eine wichtige Weichenstellung bei der Frage des Zugangs zum öffentlichen
Dienst. Die wesentlichen Vorgaben zur diskriminierungsfreien Gestaltung von Stellen-
ausschreibungen ergeben sich aus dem AGG. Andere Gesetze enthalten ergänzende
Regelungen zur Gestaltung (z. B. § 6 Abs. 1 BGleiG) oder verweisen auf das AGG (z. B.
§ 164 Abs. 2 SGB IX).
Die Stellenausschreibung wird durch die Dienststellenleitung, d. h. in der Praxis vor
allem durch die Personalverwaltung, gestaltet. Eine Stellenausschreibung darf nicht
gegen § 7 Abs. 1 AGG (Benachteiligungsverbot) verstoßen (§ 11 AGG, § 24 Nr. 1 AGG).
Sie darf also nicht so formuliert sein, dass Personen nach § 1 AGG diskriminiert werden.
Die mögliche Benachteiligung muss sich dabei nicht zwingend direkt und unmittelbar
aus dem Ausschreibungstext selbst ergeben, sondern kann sich auch aus den Umständen
ergeben (z. B. Verwendung des Begriffs „Muttersprachler“). Eine Diskriminierung kann
sich auch aus dem Gesamtkontext der Ausschreibung ergeben.5
Eine Ausschreibung, die bestimmte durch das AGG geschützte Merkmale ausdrück-
lich und gezielt anspricht, ist nur zulässig, wenn das Differenzierungskriterium wegen
des Vorliegens von Ausnahmen oder Rechtfertigungsgründen verwendet werden darf
(§§ 8 ff. AGG).6 § 6 Abs. 1 BGleiG macht zur Arbeitsplatzausschreibung insbesondere
die Vorgabe, dass diese geschlechtsneutral formuliert sein müssen (§ 6 Abs. 1 S. 1 bis S
. 3 BGleiG) und dass auf die Teilzeitfähigkeit hingewiesen werden muss (§ 6 Abs. 1 S. 4
BGleiG). Zudem müssen Angehörige des in dem jeweiligen Bereich unterrepräsentierten
Geschlechts verstärkt zur Bewerbung aufgefordert werden (§ 6 Abs. 1 S. 3 HS. 2
BGleiG).
Die Dienststelle beteiligt die Gleichstellungsbeauftragte frühzeitig an der Vor-
bereitung personeller Angelegenheiten wie z. B. der Vergabe von Ausbildungsplätzen
und der Einstellung und Versetzung, was auch die Erstellung und Formulierung von
Arbeitsplatzausschreibungen betrifft (§ 27 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und lit. b BGleiG).
Inwieweit der Personalrat an der Erstellung und Formulierung von Arbeits-
platzausschreibungen zu beteiligen ist, hängt davon ab, ob das jeweils einschlägige
Personalvertretungsgesetz ein solches Recht verankert. Teilweise sehen Landes-
gesetze Beteiligungsrechte des Personalrates bei der Ausschreibung von Stellen
vor (z. B. § 88 Abs. 6 Nr. 1 HmbPersVG). Nach § 78 BPersVG ist der Personal-
rat an der Formulierung von Arbeitsplatzausschreibungen grundsätzlich nicht ver-
pflichtend zu beteiligen. Er hat jedoch ein Mitbestimmungsrecht an Einstellungen
(§ 78 Abs. 1 Nr. 1 BPersVG) und kann die Zustimmung zu einer Einstellung verweigern,
wenn die Dienststellenleitung die geltenden Gesetze, wie etwa die diskriminierungsfreie
Gestaltung der Stellenausschreibung gemäß § 11 AGG, nicht eingehalten hat. Darüber
hinaus kann der Personalrat auf den Abschluss von Dienstvereinbarungen zur Gestaltung
von Stellenausschreibungen hinwirken. Der Personalrat kann zudem die Zustimmung
verweigern, wenn die Dienststellenleitung auf eine Ausschreibung verzichtet (§ 78 Abs.
1 Nr. 12, Abs. 5 BPersVG).
Die Schwerbehindertenvertretung hat über die Einhaltung der Vorgaben zur dis-
kriminierungsfreien Ausgestaltung von Arbeitsplatzausschreibungen gem. § 164
Abs. 2 SGB IX iVm §§ 11, 7, 1 AGG zu wachen (§ 178 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Die
Schwerbehindertenvertretung ist allerdings anders als die Gleichstellungsbeauftragte
nicht schon bereits bei der Formulierung der Stellenausschreibung zu beteiligen
(§§ 81 Abs. 1 S. 6, 95 Abs. 2 SGB IX).
Die gemeinsame Gestaltung von Stellenausschreibungen als Eingangstür zur Ver-
waltung birgt – in Kombination mit einem entsprechend diversitätsorientierten Ablauf
des weiteren Auswahlverfahrens – große Potenziale zur Entwicklung. Insgesamt zeigt
sich bei ihrer Erstellung aufgrund der verschiedenen Beteiligungszeitpunkte und
-ebenen, dass verschiedene Akteur*innen hier bei der richtigen Zusammenarbeit und
Absprache erheblichen Einfluss nehmen können.
Der Fachbeitrag hat gezeigt, dass alle institutionalisierten Akteur*innen der Verwaltung
einen diversitätspolitischen Auftrag haben und daher wichtige Impulsgeber*innen,
Gestalter*innen, Moderator*innen und Multiplikator*innen von Diversity in der
öffentlichen Verwaltung sind.
Besonders nachhaltig wird sich ein diversitätspolitisches Zusammenwirken aus-
wirken bei der Erstellung von Organisations- und Personalentwicklungsinstrumenten,
die auf struktureller Ebene ansetzen (z. B. Gleichstellungsplan, Inklusionsvereinbarung).
Daneben ist die Zusammenarbeit etwa bei Personalentscheidungen (z. B. im Auswahl-
verfahren) elementar zur Vermeidung und Verhinderung von Benachteiligungen.
Die verschiedenen Zeitpunkte und Ebenen von Beteiligung und Mitbestimmung
ermöglichen nicht nur Eigeninitiative. Durch Absprachen ermöglichen sie den ver-
waltungsinternen Akteur*innen auch, Schallverstärker*innen für die diversitäts-
politischen Impulse der jeweils anderen Stelle zu sein.
Voraussetzung, um das volle Potenzial für Vielfalt in der Verwaltung zu entfalten,
ist, dass alle Beteiligten transparent, kooperativ und konsensorientiert zusammen-
arbeiten. Von Vorteil dürfte dafür gerade bei größeren Dienststellen auch eine räumliche
Nähe zwischen den aufgezeigten Stellen und Organen sein. Ein Grundstein für die Ver-
wirklichung von Vielfalt in der Verwaltung ist dabei in jedem Fall eine ausreichende
sachliche, räumliche und personelle Ausstattung der zentralen Akteur*innen.
Dr. Tessa Maria Hillermann studierte an den Universitäten Trier und Thessaloniki (Griechen-
land) Rechtswissenschaft (Schwerpunkt Umwelt und Infrastruktur) und promovierte anschließend
im Gleichstellungsrecht des öffentlichen Dienstes. Nach Abschluss ihres Rechtsreferendariats am
Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg ist sie seit März 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin
für die Gleichstellungsberichte der Bundesregierung bei der Bundesstiftung Gleichstellung.
Daneben ist sie freiberufliche Referentin und Beraterin für die öffentliche Verwaltung.
Teil VI Mit Diversity Verwaltungsinnovationen
fördern
Jana Janze
Zusammenfassung
Innovation entsteht durch Diversity. Vielfältige Teams sorgen für vielfältige Ideen,
nehmen vielfältige Sichtweisen ein und sorgen dafür, dass viele verschiedene
Menschen gesehen und gehört werden. In dem Fachbeitrag wird beleuchtet, ob und
wie Vielfalt Innovationen unterstützen kann und wie vielfältige Sichtweisen ein-
genommen werden können. Organisationen, die sich mit Diversity beschäftigen,
passen sich flexibler auf neue Situationen an und entwickeln innovative Geschäfts-
modelle. Sie laufen seltener Gefahr, die eigene Organisation zu gefährden: Diversity
hat einen positiven Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen oder
auf die Reputation von Verwaltungen. Unternehmen müssen verstehen, wer hinter
Kaufentscheidungen steckt. Die Verwaltung muss wissen, ob es regionale oder
kulturelle Unterschiede bei der Nutzung von Services gibt – und, wie sich das auf die
Zufriedenheit der Bürger*innen auswirkt.
Schlüsselwörter
J. Janze ( )
GovMarket GmbH, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 341
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_26
342 J. Janze
Innovation leitet sich von dem Wort „innovatio“ ab, welches bereits um 200 n. Chr. ver-
wendet wurde – entdecken, erfinden oder auch nach Neuerungen suchen. Der heutige
Begriff der Innovation wurde von dem österreichischen Nationalökonomen Joseph Alois
Schumpeter (1883 bis 1950) geprägt: „The doing of new things or the doing of things
Diversity und Innovation – eine zukunftsweise Wechselwirkung 343
that are already done, in a new way“ (Vgl. Fligstein 2021). Ebenso hat Emese Borbély
(2008) fünf Kategorien in Anlehnung an Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Ent-
wicklung von 1912 (Vgl. Röpke et al. 2006) definiert:
Deutlich wird, dass Innovation nicht nur die Schaffung neuer Produkte ist. Innovation
erfordert Dynamik und hat Einfluss auf die Wirtschaft. Eine Innovation kann von der
Durchsetzung am Markt geprägt sein, die eine Adaption von etwas Bestehendem dar-
stellt. Sie muss also nicht zwangsläufig etwas ganz Neues, nie Dagewesenes sein. Das
stellt damit den Unterschied zu einer Erfindung dar. Eine Erfindung ist ein neuartiges
Konzept oder eine neue Technlogie – etwas nie Dagewesenes.
2.1 Innovationsprozesse
Über den Innovationsprozess werden die Wege beschrieben, wie neue Produkte, Dienst-
leistungen oder auch Services entstehen. Der systematische Prozess wird für jede
Organisation anders aussehen. Dennoch ist es empfehlenswert, den Prozess strukturiert
durchzuführen, um sicherzustellen, dass Neuerung erfolgreich ist. Diese kann man in
fünf Schritte zusammenfassen (siehe Abb. 1):
1. Verstehen
Im ersten Schritt werden die Herausforderungen betrachtet. Es geht dabei vor allem
um die Relevanz der Fragestellung. Das Problem wird systematisch hinterfragt und
aus den verschiedenen Perspektiven betrachtet, diskutiert und bewertet. Diese Phase
ist eine wichtige Grundlage, mit dem Ziel der Problemidentifikation.
2. Ideen-Phase
In der „Ideation“ werden gemeinsam Ideen entwickelt. Die Idee kann ein Vor-
schlag zur Lösung des Problems sein. Es werden verschiedene Ideen gesammelt und
priorisiert. In dieser Phase werden Methoden wie „Design Thinking“ genutzt, welche
die verschiedenen Sichtweisen von Menschen zusammenfassen.
3. Design- und Prototyping-Phase
In der Konzeptionsphase (Design & Prototyping) wird die Produktidee konkretisiert:
menschorientiert und validiert. Methoden wie Lean Start-up werden hier eingesetzt,
sodass Lösungen bereits prototypisch umgesetzt werden. Die Prüfung findet durch
User Tests statt.
4. Pilotierung
Die Validierung wird auch in der vierten Phase fortgesetzt: Ein MVP (Minimal Viable
Product – ein minimal funktionsfähiges Produkt) wird erstellt und mit weiteren
„echten Kund*innen“ (z. B. durch Marktforschung) verfeinert. In Vorbereitung auf
die nächste Phase werden Strategien für den „Go-To-Market“ entwickelt.
5. Skalierung und Weiterentwicklung
Die Skalierungsphase ist von der iterativen Weiterentwicklung geprägt. Das Produkt
wird durch kontinuierliches Feedback weiterentwickelt.
Im Innovationsprozess und den einzelnen Phasen ist die Menschzentrierung ein wesent-
licher Bestandteil. Innovationen können anhand ihrer Entstehung oder auf Basis der
Neuartigkeit eingeteilt werden.
1. Erhaltende Innovationen zielen auf die fortlaufende Verbesserung des Services oder
des Produkts ab, man baut auf bereits Bekanntem auf. Diese Art von Innovation ist
auf Erhaltung ausgerichtet und ist daher im Zusammenhang mit „Neu- und Weiter-
entwicklungen“ negativ behaftet.
Erhaltende Innovationen betrachten, wie Menschen mit einem Service oder einem
Produkt umgehen. Sie setzen darauf, dass etwas beibehalten wird. Natürlich kann
Diversity bei der initialen Entwicklung eines Produktes bedacht worden sein. Gibt
es bei der Nutzung durch eine Personengruppe, welche vielleicht in der initialen
Betrachtung nicht eingebunden wurde, Probleme, werden diese in der Regel nicht
346 J. Janze
Hoch
Inkrementelle Innovation
Innovation
Erfindung
Weiterentwicklungsgrad
Erhaltende Innovationen
Radikale Innovation
Innovation
Weiterentwicklung
oder
Nachahmung
Disruptive Innovationen
Gering
Niedrig Hoch
Grad der Neuheit
betrachtet. Man fokussiert sich auf die Erhaltung und den Ausbau des Marktes.
Diversity steht selten im Fokus.
2. Inkrementelle Innovationen bedeutet die Weiterentwicklung von bestehenden
Services oder Produkten. Ein Beispiel ist die Speichererweiterung von Smartphones.
Die inkrementelle Innovation kann somit bei der Veröffentlichung einer neuen Version
des Produkts oder des Services am Markt beobachtet werden.
In der Regel haben inkrementelle Innovationen eine technologische Ausrichtung.
Gleichzeitig geht es bei dieser Art von Innovation um die Einbeziehung weiterer Ziel-
gruppen, um ein Produkt oder Service für mehr Menschen attraktiver zu gestalten.
Diversity spielt eine – wenn auch untergeordnete – Rolle. Die Zufriedenheit von
Kund*innen oder Mitarbeiter*innen steht ebenso im Fokus wie die Erreichung
organisatorischer oder finanzieller Ziele.
3. Disruptive Innovationen beginnen in der Regel in einer „Nische“ des Marktes,
wodurch sie zunächst nur einen kleinen Teil der Menschen ansprechen. Die Markt-
durchdringung findet meist über einen längeren Zeitraum statt, wie z. B. bei der
Nutzung von Streaming-Diensten im Vergleich zur CD. Durch die Disruption, welche
der „Marktinnovation“ zugeordnet wird, findet eine Verschiebung von Verhältnissen
am Markt statt.
Diversity und Innovation – eine zukunftsweise Wechselwirkung 347
Bei der Disruption spielt Diversity in der Weiterentwicklung eine wichtige Rolle:
Wie kann ein Produkt oder Service so verändert werden, dass sie für mehr Menschen
attraktiver werden? Gleichzeitig gehört auch das Überzeugen von Menschen dazu,
etwas Neues auszuprobieren. Dieses „Neue“ muss für die neue Zielgruppe interessant
gemacht werden, bzw. einen Mehrwert zeigen. In der Regel entstehen disruptive
Innovationen aus Start-ups heraus, welche per se menschzentriertes Arbeiten in ihrer
Organisation verankert haben.
4. Radikale Innovationen (Breakthrough Innovation) stellen die komplette Neuent-
wicklung von Produkten, Services oder Organisationen dar und sind in der Regel
nicht planbar. Sie sind vergleichbar mit Erfindungen: Die Neuartigkeit hat es in dieser
Form noch nicht gegeben. Die Erfindung des iPhones ist eine radikale Innovation.
Eine radikale Innovation kann, muss aber nicht zwangsläufig mit Diversity
zusammenhängen. Es braucht für die ersten Gedanken und Fragestellungen natürlich
verschiedene vielfältige Sichtweisen. Anschließend wird experimentiert, Expert*innen
werden zu Rate gezogen, es braucht viele Iterationen und den Perfektionismus von
einzelnen Personen. Eine Demokratisierung von Innovation führt zum Durchschnitt –
was keine Radikalität darstellt.
Leadership und Führung bezieht sich auf das Management von Organisationen, in denen
Menschen zusammenkommen und Ressourcen genutzt werden. Dazu zählt der Aufbau
der Strategien zur Weiterentwicklung, die Aktivität zur Erreichung von gesetzten Zielen,
aber auch die Entscheidungsfindung. Leadership bezieht sich zusätzlich auf die Fähigkeit
der Führungskräfte, andere Menschen zu inspirieren und zu motivieren, um gemeinsam
Ziele zu erreichen.
3.2 Wissen
Wissen ist von Informationen und Erkenntnissen geprägt, die Personen erwerben und
verstanden haben – das kann sowohl Faktenwissen als auch die Fähigkeit, das Wissen
in bestimmten Situationen anzuwenden, sein. Gleichzeitig wird eine gewisse Reflektion
und Integration von Informationen impliziert. Wissen trägt zur Vielfalt in der Fachlich-
keit bei.
verlieren die Kolleg*innen die Scheu und die Lernfähigkeit der Organisation wird ver-
stärkt.
Um Innovationen in der Organisation zu fördern, können Zukunftsworkshops genutzt
werden. Externes Know-How (z. B. durch Kooperationen oder Partnerschaften mit
Forschungseinrichtungen, Universitäten oder externen Unternehmen) kann dabei unter-
stützen, Trends kennenzulernen. Durch den Transfer dieser Erkenntnisse können Ver-
besserungen im eigenen Arbeitsumfeld entstehen.
Ebenfalls wichtig ist, dass Menschen an marktrelevanten Problemen arbeiten und die
volle Verantwortung hierfür haben. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, einen Impact in
der Organisation und darüber hinaus zu erzeugen.
Offenheit muss vorgelebt werden, auf allen Ebenen. Transparenz ist ein Schlüssel-
erfolgsfaktor.
Alles Wissen der Menschen ist relevant – sowohl das ausgesprochenen als auch das
unausgesprochenen.
Schulungen und die Wissensvermittlung zur Durchführung von Nutzer*innen-
befragungen unterstützen die Sensibilität zu erlangen.
Diverse Teams erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass kreative Lernansätze in der
Organisation implementiert werden.
3.3 Kommunikation
Die Kommunikation beschreibt den Austausch von Informationen, Ideen und Gefühlen
durch Sprache, Schrift oder andere Symbole. Sie kann sowohl verbal als auch non-
verbal stattfinden. Über Distanzen tauscht man sich z. B. mithilfe von Technologie
Diversity und Innovation – eine zukunftsweise Wechselwirkung 351
(Telefon, E-Mail, Social Media, …) aus. Gleichzeitig kann Kommunikation auch direkt
bei persönlichen Treffen stattfinden. Die Kommunikation ist ein wichtiger Bestandteil
der Interaktion und sozialen Beziehungen zwischen Menschen und spielt damit eine
wichtige Rolle für die Organisation.
Alle Themen ansprechen: Auch wenn es schwer ist, muss man in einem hetero-
genen Team Konflikte ansprechen. Coaches oder Mediator*innen unterstützen diesen
Prozess.
Zuhören und nicht direkt eine Lösung für ein Problem, was man vielleicht erkannt
hat, suchen. Die Wahrheit liegt zwischen den Zeilen.
Aktives Zuhören (und Fragen stellen statt Antworten geben) schafft Verständnis.
Kritisch Denken und Reflektieren in der eigenen Arbeit.
Sichtweisen, die man aufgenommen hat, hinterfragen, im Sinne von „Überträgt man
vielleicht die eigenen Annahmen und Glaubensätze zu Märkten, Technologien oder
Zielgruppen auf die Situation?“.
3.4 Umgebung
Unter der Umgebung versteht man eine Lokalität (einen physischen Raum), in der eine
Person wohnt oder aufgewachsen ist. Gleichzeitig beschreibt die „Umgebung“ auch die
Lebensbedingungen der Personen – in einer Gruppe oder einer Organisation. Klima, die
Landschaft und nutzbare Ressourcen prägen die Umgebung und haben damit Einfluss
auf das Verhalten von einzelnen Personen. Die Umgebung spielt daher unter Diversity-
Gesichtspunkten eine wichtige Rolle.
sie sich nicht in andere Sichtweisen hineinversetzen. Die Bedürfnisse der Kund*innen
werden, wie z. B. die Erfahrungen mit der Nutzung von ÖPNV-Angeboten, nicht ver-
standen.
Die Vielfältigkeit der Menschen kann man durch die Diversitätsdimensionen der Charta
der Vielfalt definieren: Es geht um die individuellen Unterschiede und Einzigartig-
keiten der Menschen. Neben den Faktoren wie Alter, Geschlecht oder auch sexuelle
Orientierung spielen die verschiedenen Perspektiven, Erfahrungen und Wissensgebiete
eine wichtige Rolle. Alle Aspekte bedingen sich.
Raum für den Austausch schaffen: Begnungszonen sorgen für den Austausch und
schaffen Vertrauen.
Diversity durch Diversity-Schulungen bewusst machen. Die Unterschiedlichkeit muss
transparent und offen angesprochen werden. Schulungen unterstützen den Aufbau
von Empathie und Wertschätzung und stellen den Perspektivenwechsel in den Mittel-
punkt.
Themenabende: Stammtische und/oder ein „Runder Tisch“ ermöglichen es, sich über
die Unterschiedlichkeit auszutauschen. Das kann sowohl geschlossen in einer Gruppe
(z. B. in Form eines Austausches von Best Practices) oder als offener Austausch statt-
finden.
Informationsecken (z. B. zum Thema sexuelle Vielfalt) fördern ebenfalls das gegen-
seitige „voneinander lernen“.
Auch wenn es anstrengend ist, Innovation und Diversity zusammenzudenken, ist der
Mehrwert für die gesellschaftlichen Fragestellungen, in denen wir uns bewegen, wichtig.
Gerade für die öffentliche Verwaltung. Das Zusammenspiel von beiden Bereichen
bedingt die Innovationskraft von Deutschland – von innen aus der öffentlichen Hand
heraus und von außen durch externe Unternehmen oder Personen. Die Nutzung von
Technologien und die damit verbundene Gestaltung der Zukunft ist eine Bereicherung
für die deutsche Verwaltung – und schlussendlich für uns Bürger*innen. Gemeinsam
können wir mit Erfindergeist wichtige und zukunftsweisende Impulse setzen, denn neue
Technologien begünstigen den Wirtschaftsstandort Deutschland, machen ihn langfristig
konkurrenzfähig, sorgen für künftige Steuereinnahmen (von Unternehmen) und erhöhen
die Standortattraktivität.
Diversity und Innovation gehören ganz klar zusammen! Vielfalt fördert Innovationen.
Innovation unterstützt dabei, vielfältige Sichtweisen aufzunehmen. Durch vielfältige
Meinungen und Sichtweisen kann Innovation entstehen. Vielleicht keine große neue
Erfindung oder eine radikale Erneuerung des Markts – aber Neuerung, die Bürger*innen,
Mitarbeitenden von Verwaltungen und allen anderen Menschen einen Mehrwert bieten.
Literatur
Zusammenfassung
Im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der Verwaltung lassen sich Effekte von
Diversity in der Außenwirkung sowie der Innenwirkung beobachten. So kann die
Berücksichtigung und der kritische Umgang mit der Diversität von Bevölkerung
und Wirtschaft eine bessere Adressierung der Anliegen von Bürger*innen und
Unternehmen gewährleisten, was zu einer Erhöhung der Servicequalität führen
kann. In der Innensicht ist in der heutigen Zeit für funktionierende, leistungsfähige
Organisationen auch im öffentlichen Bereich ein Diversity-Management der Schlüssel
zu Mitarbeitendengewinnung und -retention mit unmittelbaren Auswirkungen auf die
jeweilige Organisationskultur. Dies gewinnt vor dem Hintergrund des Fachkräfte-
mangels und der demografischen Entwicklung an Bedeutung. Letztendlich ist eine
funktionierende Verwaltung sowohl für die Aufrechterhaltung der Demokratie als
auch für die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts elementar.
I. Köran ( )
PricewaterhouseCoopers GmbH, Berlin, Deutschland
I. Eckardt
PwC Strategy& (Germany) GmbH, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 357
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_27
358 I. Köran und I. Eckardt
Schlüsselwörter
1 Einleitung
Diversity gewinnt als wichtiger Faktor für die Effektivität und Effizienz von
Organisationen an Bedeutung. Dies gilt auch, oder besser: insbesondere für den
öffentlichen Sektor, für den die Anforderung einer diversen Gesellschaft zu dienen, auch
eine Belegschaft erfordert, welche diese repräsentiert. In Deutschland, wo die Gesell-
schaft seit Jahrzehnten ein stetig steigendes Maß an Diversität aufweist, wird es auch
immer wichtiger Mitarbeitende in die Verwaltung zu bringen, welche die Diversität der
deutschen Gesellschaft spiegeln, um den Bedarfen der jeweiligen Gemeinschaften besser
Rechnung zu tragen. Dies gilt im Übrigen auch für die Belange der Wirtschaft, die sich
in Unternehmensgrößen (vom multinationalen DAX-Konzernen bis hin zu Start-ups)
und ihren Fähigkeiten und Aufwänden im Hinblick auf Interaktion mit der Verwaltung
erheblich unterscheiden. Am status-quo einer Verwaltung, deren digitales Leistungs-
angebot stark an den Bedarfen von Bürger*innen und Wirtschaft vorbeigeht und
Nutzungs- und Akzeptanzraten in vielen Fällen auf sehr niedrigem Niveau sind, ist es
notwendig, auch den Einfluss von Diversity auf das Serviceangebot und die Leistungs-
fähigkeit der öffentlichen Organisationen zu prüfen. Im Hinblick auf Gender-Pari-
tät wurden in den vergangenen Jahren Fortschritte erzielt, wenngleich der öffentliche
Sektor seit jeher auch bezüglich Führungspositionen durchaus (im Hinblick auf diese
Dimension der Diversität) ausgeglichener aufgestellt ist als die Privatwirtschaft. Weiter-
hin ist Nutzer*innenzentrierung ein wichtiger Erfolgsfaktor bei der Digitalisierung
von Verwaltungsleistungen an der Schnittstelle zu Bürger*innen sowie Unternehmen
(und insbesondere zu den Menschen, die innerhalb jener mit der Verwaltung inter-
agieren). Hinsichtlich der Nutzer*innen ist die bestehende, faktische Diversität unserer
deutschen Gesellschaft zu berücksichtigen. Diese muss auch den Bereich von digitalen
Verwaltungsleistungen für Unternehmen einschließen, da insbesondere KMUs von
Bürger*innen unterschiedlicher kultureller Herkunft gegründet werden.
In diesem Fachbeitrag soll dargestellt werden, wie Diversity die Leistungsfähig-
keit der deutschen Verwaltung im Hinblick auf die Erbringung von Leistungen an
Bürger*innen und Unternehmen erhöhen kann und es werden die Effekte auf die Ver-
besserung verwaltungsinterner Prozesse und Kultur diskutiert. Dabei werden bisherige
Erfolge, aber auch Herausforderungen anhand von Beispielen und Studien aus Privat-
wirtschaft und internationalem Raum beleuchtet.
Ein neuer Aspekt der Nutzer*innenzentrierung: … 359
Wir kennen das Konzept der „Leichten Sprache“ für Menschen, denen das Erfassen
komplexer Satzstrukturen schwerfällt. In der Barrierefreien-Informationstechnik-Ver-
ordnung (BITV) 2.0 sind entsprechende Anforderungen enthalten, die auf den Web-
seiten der Bundesverwaltung verpflichtend umgesetzt werden müssen und zu großen
Teilen auch bereits sind. Oftmals wird aber weder auf den englischen noch aufseiten
in weiteren Sprachen ein Bereich angeboten, der die komplexen Inhalte der Webseiten
in eine andere als die deutsche Sprache übersetzt. Vor allem für Menschen, für die
Deutsch keine Muttersprache ist und die komplexe Texte nur schwer nachvollziehen
können, stellt dies eine Hürde dar.
Die Beantragung, auch digitaler Verwaltungsleistungen erfolgt mehrheitlich
Formular-gestützt. Im Rahmen der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG)
sind viele Anstrengungen unternommen worden, bestehende, Papier-gestützte Ver-
waltungsverfahren nicht einfach nur zu digitalisieren, sondern auch zu optimieren.
Dies umfasste auch die in den Verwaltungsverfahren verwendeten Formulare. In
Bremen leben gegenwärtig 157.391 Menschen mit Migrationshintergrund. Das
sind 28,77 % der Stadtbevölkerung (Freie Hansestadt Bremen 2011). Von diesen
Menschen mit Migrationshintergrund in Bremen werden sich nicht wenige in der
Lebenslage Geburt befinden und Elterngeld beantragen. Bremen hat einen ver-
einfachten Elterngeldantrag entworfen und online gestellt, der die Beantragung
signifikant vereinfachen soll. Auch wenn auf der ELFE-Webseite (Freie Hanse-
stadt Bremen 2023) der Knopf „information in english“ gedrückt wird und man
dann scrollt, bis man die „Application for parental allowance“ und die „Annex
– Declaration of income“ erreicht, so öffnen sich beide Formulare in Deutsch. Das
ist durchaus in Übereinstimmung mit unseren rechtlichen Rahmenbedingungen.
Nutzer*innen dieser Formulare müssen sehr viele Angaben machen – sowohl im
Online-Dialog als auch im Papierformular. ELFE ist nutzer*innenzentriert ent-
wickelt worden und ein echter Leuchtturm für das OZG. Dennoch mit Blick auf die
diverse Bevölkerungsstruktur von Bremen – sind in die entsprechenden Digitallabore
zur Konzeptionierung von ELFE ausreichend Eltern mit Migrationshintergrund ein-
bezogen worden? Haben sie darauf hinweisen können, dass einige Fachbegriffe in den
Formularen für Menschen, deren Muttersprache nicht deutsch ist, nur sehr schwierig
nachzuvollziehen sind? Und gibt es in den Elterngeldstellen in Bremen auch Mit-
arbeitende mit Migrationshintergrund, die nicht nur die Formulare erklären können,
sondern auch die kulturellen Besonderheiten verstehen, wenn bspw. Einkommens-
nachweise in der Detailtiefe angefordert werden, wie es das Formular beinhaltet?
360 I. Köran und I. Eckardt
Destatis hat am 12. April 2022 veröffentlicht, dass 22,3 Mio. Menschen und somit
27,2 % der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund haben (Destatis
2022). Viele von diesen Menschen sind Gründerinnen und Gründer. Das Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz veröffentlicht in einer Studie von 2021,
dass 20 % der Start-ups Gründerinnen und Gründer mit Migrationshintergrund
haben (BMWK 2021). Die KfW hat bereits 2018 eine Sonderauswertung des KfW-
Gründungsmonitors durchgeführt und festgestellt, dass Menschen mit Migrations-
hintergrund eine „überdurchschnittliche Gründungsaktivität“ aufweisen. Als Ursachen
führt die KfW den Wunsch nach Selbstständigkeit und Arbeitsmarktnachteile an
(KfW 2021). Gehen wir davon aus, dass die Ursachen seit 2018 unverändert sind und
gehen wir auch davon aus, dass der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund
in Deutschland weiterhin steigt, so muss ohne Zweifel der Schluss gezogen werden,
dass gerade in den Gewerbe- und Finanzämtern unseres Landes diverse Teams die
entsprechende Fallbearbeitung nutzer*innenzentrierter umsetzen können.
Es gibt sicher noch viele weitere Beispiele, die aufgeführt werden können. Diversität in
der Verwaltung bedeutet vor allem, dass wir uns den Realitäten unserer Bevölkerungs-
struktur stellen. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) hat in einer
Pressemitteilung aufgeführt, dass Personen mit Migrationshintergrund zu 12 % in der
Bundesverwaltung vertreten sind (BiB 2022) – bei 27,2 % Bevölkerungsanteil. Daten zu
den Anteilen auf kommunaler oder Landesebene waren nicht auffindbar.
Vorbildlich schneidet die Bundesverwaltung bei der Beschäftigungsquote von Frauen
ab: 40 % Frauen arbeiten der BiB-Studie zufolge in der Bundesverwaltung bei 49 %
Anteil an der gesamten Erwerbsbevölkerung. Diese hohe Beschäftigungsquote ist ein
großer Diversity-Erfolg, der sich nicht von allein eingestellt hat. Vielmehr waren gezielte
Maßnahmen dafür erforderlich – und sind es noch heute, um die Vertretung von Frauen
in den Leitungsebenen zu stärken.
Aus dem Erfolg oder auch Misserfolg dieser Maßnahmen kann gelernt werden, wenn
es darum geht, den Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in den Verwaltungen
zu erhöhen.
Grundsätzlich gibt es eine Vielzahl möglicher Vorteile, die Diversity für die Verwaltung
mit sich bringen kann. Dazu gehören die unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen,
die eine diverse Belegschaft abbilden und die in der Folge zu kreativeren oder effektiveren
Lösungen führen können. Diversity kann auch ein Treiber von Innovation sein, da unter-
schiedliche Ideen und Standpunkte aufeinandertreffen können und damit große Potenziale
für neuartige Ansätze bilden. Zugleich kann Diversity auch unter bestimmten Voraus-
setzungen zu höherer Mitarbeitenden-zufriedenheit und -retention führen, da sie zu einer
inklusiven und unterstützenden Organisationskultur beitragen kann.
Ein neuer Aspekt der Nutzer*innenzentrierung: … 361
In diesem Abschnitt soll näher auf die unterschiedlichen positiven Effekte von Diversity
auf die Mitarbeitendengewinnung, -weiterbildung und -retention sowie die Schaffung
einer Innovationskultur eingegangen werden. Nicht zuletzt soll an dieser Stelle auch
auf die Bedeutung des demografischen Wandels in diesem Zusammenhang eingegangen
werden. Dabei werden auch Beispiele aus der Privatwirtschaft und Best-Practices zur
Etablierung von Diversity im öffentlichen Sektor angeführt.
Betrachtet man die Vorteile, die Diversity für die Gewinnung neuer Mitarbeitender
haben kann, so zeigt sich schnell, dass eine vielfältige Belegschaft ein wahrer Magnet
für neue Talente sein kann. Der Weg dahin führt über einen größeren Pool bezüg-
lich Herkunft, Ausbildungswegen und anderen Faktoren, die das Feld der möglichen
Kandidat*innen in einem hart umkämpften Arbeitsmarkt erweitern. Auch auf die
Willkommenskultur einer Organisation hat Diversity Auswirkungen, die die Arbeit-
geberattraktivität stark steigern können. Für den öffentlichen Sektor hat zudem auch
die Aufgabe einer zunehmend diversen Gesellschaft zu dienen eine Bedeutung und
stellt für einige Individuen auch einen ganz wesentlichen Teil ihrer Motivation bei der
Arbeitsplatzwahl dar. Dies ist auch für die Performance der letztendlich eingestellten
Kandidat*innen relevant, die sich dadurch merklich erhöhen kann, wie Studien zu einer
signifikant höheren Profitabilität im Hinblick auf Genderdiversity in der Privatwirtschaft
nahelegen (Simionescu et al. 2021; Bertrand 2018).
Ein weiterer Vorteil von Diversity in der Verwaltung, insbesondere mit Blick auf
direkte Erbringung von Leistungen „an“ dem oder der Bürger*in, ist die Tatsache,
dass verschiedene Blickwinkel und Erfahrungen direkt in die Überlegungen einfließen
können. Diese können für die Lösung der zumeist komplexen Herausforderungen und
die Erfordernisse diverser Gemeinschaften sehr wertvoll sein. So kann beispielsweise
ein Team mit einer Mischung aus verschiedenen kulturellen Hintergründen besser dazu
in der Lage sein, die Belange und Bedarfe einzelner Gruppen innerhalb der jeweiligen
Gemeinschaft zu verstehen und daher effektivere und gezieltere Lösungen zu entwickeln.
Hier greift auch eine kulturelle Dimension, die andernfalls eine (sich in Teilbereichen
bereits realisierende) Gefahr der Entkopplung von der Gesellschaft mit sich bringen
kann. An dieser Stelle sind insbesondere durch eine gezielte Organisation der internen
Wissensweitergabe auch positive Effekte auf Fortbildung und professionelle Weiter-
entwicklung möglich.
Für die Innovationsfähigkeit einer Organisation bringen diverse Teams weitere Vor-
teile, die im Hinblick auf ihre Bedeutsamkeit für neuartige Problemlösungskompetenz
insbesondere im öffentlichen Sektor eine Rolle spielen können. Dafür finden sich im
Privatsektor Belege wie, dass die Wahrscheinlichkeit von diversen Führungsteams einen
Anstieg des Marktanteils ihrer jeweiligen Unternehmen zu berichten 45 % höher ist und
für die Erschließung neuer Märkte gar um 70 % höher als bei nicht-diversen Teams der
Vergleichsgruppe (Hunter und Cushenbery 2011). Die Gründe dafür können unterschied-
362 I. Köran und I. Eckardt
lich sein: von der Etablierung einer offeneren und inklusiveren Unternehmenskultur, die
das Teilen von Ideen und die kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Geschäfts-
modellen fördert, bis hin zu einem stärkeren „out-of-the-box“-Denkens durch gezielte
interne Challenges zur Lösung spezifischer Herausforderungen einzelner Anspruchs-
gruppen. Eine Übertragbarkeit dieser Maßnahmen in den Bereich der öffentlichen Ver-
waltung erscheint naheliegend.
Diversität innerhalb der öffentlichen Verwaltung stärker zu fördern, ist ein Lösungs-
weg, den Folgen des demografischen Wandels zu begegnen. Dieser wird bis zum Jahr
2030 zu einem prognostizierten Fachkräftemangel von ca. 1 Mio. Verwaltungsmit-
arbeitenden führen (PwC Strategy& 2022). Der Fachkräftemangel in dieser Dimension
kann nicht mehr mit den bekannten Maßnahmen, wie bspw. einer umfangreicheren
Digitalisierung, mitigiert werden. Vielmehr ist die Lücke bereits heute so groß, dass sie
auch perspektivisch nur zu Anteilen gefüllt werden kann. Deshalb kommt der Steigerung
von Effektivität und Effizienz (im Hinblick auf die Erhaltung der Handlungsfähigkeit)
eine besondere Bedeutung zu. Hinter einem besseren Diversitätsmanagement in der
Verwaltung versteckt sich folglich nicht nur die Einstellung diverser Teams. Vielmehr
sollten jene Effekte zum Tragen kommen, für die Wirtschaftsunternehmen Diversi-
tät massiv fördern: effizientere und effektivere Zusammenarbeit. McKinsey hat in der
2020 veröffentlichten Studie „Diversity wins – How inclusion matters“ deutlich heraus-
gearbeitet, dass „Inklusion und Diversität ein wichtiger Faktor für den Geschäftserfolg
sind“ (McKinsey & Company 2020). Geschäftserfolg entsteht, wenn Unternehmen
erfolgreich ihre Produkte an den Markt bringen und zufriedene Kund*innen diese
Produkte erwerben. Dazu gehört vor allem, dass entsprechend der Kund*innenbedarfe
neue, innovative Produkte entwickelt werden, mit denen ein hoher Grad an Kund*innen-
zufriedenheit erzeugt wird. Kund*innenzufriedenheit mit der Verwaltung ist ein
gesellschaftlicher Stabilisierungsfaktor. Gerade in Zeiten, in denen unser gesellschaft-
licher Zusammenhalt durch innere und äußere Krisen auf den Prüfstand gestellt wird,
kann ein breiteres Diversitätsmanagement dazu beitragen, dass dieser Stabilisierungs-
faktor aktiv genutzt wird.
Die großen Potenziale der Vielfalt am Arbeitsplatz zu heben, erfordert vor allem ein
strategisch gut aufgestelltes und proaktives Diversitätsmanagement. Im Rahmen einer
Meta-Analyse existierender Literatur zu dem Gebiet (Ding & Riccucci 2022) zeigt
sich, dass die Vorteile von Diversität dann besonders zum Tragen kommen, wenn eine
vorausschauende Steuerung erfolgt, wohingegen auch nachteilige Auswirkungen auf
die Funktionsfähigkeit von Organisationen möglich sind, wenn dies nicht der Fall ist
(Miller & del Carmen Triana 2009). Dies lässt sich oft auf Unterschiede in der sozialen
Identifikation, den Werten sowie daraus entstehenden Konflikten innerhalb der Beleg-
schaft zurückführen und damit unweigerlich die Behinderung von Entscheidungs-
prozessen bedingen, wie Beispiele aus der Privatwirtschaft zeigen (Jehn et al. 1999).
Augenmerk sollte also stets auf Inklusion, Wertschätzung, Einbeziehung und Schutz
von Meinung und Perspektiven verschiedener Gruppen innerhalb der Belegschaft gelegt
werden. Hinzu treten dann mit dem Bezug zur Weiterbildung der Individuen und Weiter-
Ein neuer Aspekt der Nutzer*innenzentrierung: … 363
BÜRGER“ steht im Urteil! Insofern ist eine diverse Verwaltung Voraussetzung dafür,
dass Teilhabe und Partizipation gleichberechtigt für alle Bevölkerungsgruppen aus-
geübt werden kann und so in der Konsequenz auch staatliches Handeln nachvollziehbar
legitimiert.
Wenn Diversität in Unternehmen wesentlichen Einfluss auf deren Positionierung im
globalen Wettbewerb hat, so entfaltet eine diverse Verwaltung in einer demokratischen
Gesellschaft einen Einfluss auf die Glaubwürdigkeit staatlichen Handelns, auf die
Integration von Menschen mit Migrationshintergrund und auf die Innovationskraft
unserer deutschen Wirtschaft.
Literatur
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Dr. Irina Eckardt, PwC Strategy& (Germany) GmbH, Berlin. Dr. Irina Eckardt beschäftigt sich
seit mehr als 20 Jahren mit der Digitalisierung von Verwaltungsleistungen, v. a. an der Schnitt-
stelle zu Bürger*innen und Unternehmen. Das wesentliche Erfolgskriterien für alle Projekte und
Programme in diesem Themenfeld ist für Frau Dr. Eckardt die Umsetzung eines hohen Grades an
Nutzer*innenorientierung. An diesem hat Frau Dr. Eckardt in den von ihr betreuten Projekten stets
gearbeitet. Frau Dr. Eckardt arbeitet als Directorin bei Strategy& im Public Sector Team. Davor
war sie viele Jahre in IT-Unternehmen wie Capgemini tätig.
Braucht Service Design mehr Diversity? –
Vorstellung und kritische Analyse
Zusammenfassung
Der Schrei nach mehr Nutzer*innenzentrierung in der Verwaltung ist laut. Service
Design ist die Antwort. Service Design ist ein Framework, in welchem unterschied-
liche Methoden bereitgestellt werden, um mehr Empathie für unterschiedliche
Nutzer*innen von Verwaltungsservices aufzubauen und dadurch Verwaltungsservices
nutzungsfreundlicher zu gestalten. Der Fachbeitrag stellt den Ansatz des Service
Designs vor und beleuchtet anschließend, welchen Stellenwert Diversity für das
Service Design hat. Dabei wird analysiert, warum gerade Service Design-Teams in
Verwaltungen divers zusammengestellt sein sollten.
Schlüsselwörter
J. Meister ( )
Freie und Hansestadt Hamburg, Hamburg, Deutschland
M. Hörmeyer
KGSt, Köln, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 367
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_28
368 J. Meister und M. Hörmeyer
Die digitale Transformation der Verwaltung schreitet mit einem rasanten Tempo
voran. Nicht zuletzt das Onlinezugangsgesetz (2017) bzw. „Onlinezugangsgesetz 2.0“
(2023) schaffen rechtliche verbindliche Vorgaben zur Umsetzung digitaler Anträge
und digitaler Strukturen in öffentlichen Verwaltungen. Wichtig ist allerdings, dass
die digitale Transformation der Verwaltung nicht erfolgreich sein kann, wenn keine
konsequente Beteiligung von Nutzer*innen stattfindet. Es geht nicht darum, bestehende
Verwaltungsprozesse lediglich digital abzubilden, sondern diese radikal zu hinterfragen
und organisatorisch auf Basis technologischer Strukturen komplett neu zu denken. Nur
so können Mehrwerte geschaffen werden für Verwaltungskund*innen (zum Beispiel
Bürger*innen oder Unternehmen), aber auch für die Verwaltungsmitarbeitenden. Die
Forderung ist klar: Jede digitale Transformation muss bedarfsgerecht für Nutzer*innen
sein und den Nutzer*innen sinnstiftende Mehrwerte bringen. Ansonsten setzt eine Ver-
waltung regelmäßig „Geld in den Sand“.
Angesichts dieser hohen Betonung von Bedürfnissen von Nutzer*innen stellt sich
die Frage, inwiefern Service Design und Diversity sich wechselseitig beeinflussen.
Service Design hat das Potenzial, ein ganzheitlicher Ansatz zu sein, um Verwaltungs-
leistungen und Prozesse menschenorientiert zu verbessern, gar komplett neu zu denken
und nutzer*innenzentrierte Innovationen zuzulassen. Vor dem Hintergrund vielfältiger
Nutzer*innen in der heutigen Gesellschaft müssen dabei aber auch Diversity-Aspekte
beachtet werden. Auf diese Weise wirkt Diversity wie ein „Quality Gate“ als eine sinn-
stiftende Qualitätssicherung für echtes, menschenorientiertes Service Design in der
öffentlichen Verwaltung.
Der nachfolgende Fachbeitrag geht auf diese Aspekte ein und schafft ein Grundver-
ständnis über den Zusammenhang von Service Design und Diversity.
Vor dem Hintergrund sich verändernder Rahmenbedingungen ist Service Design eine
neue Art, um an Probleme oder komplexe Fragestellungen heranzugehen. Die öffentliche
Verwaltung, insbesondere die kommunale Ebene, versteht sich in großen Teilen als
Service- und Dienstleistungsanbieterin. Zentrales Element hierbei ist der Begriff
„Kund*innenorientierung“, der schon seit Mitte der 1990er-Jahre etabliert ist (vgl. KGSt
1993). Im Service Design wird der Begriff Kund*innenorientierung nunmehr grund-
legend modifiziert, indem die Orientierung an den Bedürfnissen und Ansprüchen von
Nutzer*innen deutlich konsequenter und nachhaltiger verfolgt wird. Darüber hinaus
wird mit Service Design eine neue Haltung („Mindset“) im Verwaltungsdenken und Ver-
waltungshandeln verbunden. Diese Haltung zeigt sich in einer veränderten, positiven
und innovationsfreudigen Grundeinstellung in der öffentlichen Verwaltung (z. B.
„Experimentierkultur“) um die Werte Nutzer*innenzentrierung, Veränderungswille,
Braucht Service Design mehr Diversity? – … 369
Optimismus, Freiraum und Dinge auch einmal anders zu denken (Hörmeyer 2019).
Um diese Werte mit Leben füllen zu können, bietet Service Design der öffentlichen
Verwaltung zudem ein Set an diversen Methoden und Werkzeugen. Damit lernen Ver-
waltungen, ihre Nutzer*innen besser zu verstehen und so das Handeln stärker an deren
tatsächlichen Bedürfnissen auszurichten.
Service Design beschreibt demnach die Gestaltung von Verwaltungsservices und Ver-
waltungsprozessen konsequent aus Sicht der Nutzer*innen. Quasi setzt die Verwaltung
die Brille von Nutzer*innen auf und betrachtet Verwaltungsprozesse nicht aus der
eigenen Sichtweise, sondern aus der Sichtweise von Nutzer*innen. Dabei wird unter-
schieden zwischen externen sowie internen Nutzer*innen (KGSt 2020, 8):
Das Service Design betrachtet den Verwaltungsprozess auf mehreren Ebenen und ganz-
heitlich aus Sicht aller Nutzer*innen. Wieso das relevant ist, lässt sich einfach am Bei-
spiel einer typischen Verwaltungsleistungen, der Ausstellung eines Ausweises, erklären.
Beispiel
Aus Sicht der Verwaltung fängt der Prozess „Ausweis ausstellen“ dann an, wenn
eine Person einen Antrag hierauf schriftlich gestellt hat. Der Prozess endet wiederum
mit der Ausgabe des Ausweisdokuments. Zwischen dem Startereignis „Antrags-
eingang“ und Endereignis „Dokumentenausgabe“ wird betrachtet, welche Arbeits-
370 J. Meister und M. Hörmeyer
schritte seitens der Verwaltung (durch die internen Nutzer*innen) ausgeführt werden,
welche Daten den Prozess durchlaufen und welche IT-Systeme für die einzel-
nen Prozessschritte benötigt werden. Was aber in der Praxis häufig nicht betrachtet
wird, ist der Blick der externen Nutzer*innen (in diesem Fall ein*e Bürger*in) auf
die Verwaltungsleistung „Ausweis ausstellen“. Aus Sicht der externen Nutzer*innen
könnte die Leistung zum Beispiel deutlich früher beginnen; etwa dann, wenn man
Informationen zum Ausweisdokument einholt („Wann brauche ich überhaupt einen
neuen Ausweis? Wo/wie kann ich einen Antrag stellen? Welche Unterlagen werden
benötigt?“) oder wenn eine Person erst einmal darauf aufmerksam werden muss, dass
der Personalausweis abgelaufen ist und ein neuer benötigt wird („Warum erinnert
mich niemand daran, dass mein Personalausweis abgelaufen ist?“).
Frontstage Hierunter fallen alle Servicemomente, die aus Sicht der externen
Nutzer*innen „auf der Bühne“ stattfinden. Diese Momente im Service können durch
externe Nutzer*innen bewusst wahrgenommen werden (z. B. Informationsangebote auf
dem Serviceportal einer Verwaltung, Servicegespräche am Kund*innenschalter im Rat-
haus oder ein ausgestellter Bescheid) (KGSt 2020, 9).
Backstage Hierunter fallen alle Servicemomente, die „hinter der Bühne“ ablaufen.
Diese Momente im Service können durch externe Nutzer*innen nicht bewusst wahr-
genommen werden, da sie rein verwaltungsintern stattfinden. Hierzu gehören zum Bei-
spiel die Arbeit und Abläufe in IT-Fachverfahren, durch einen Antrag angestoßene
verwaltungsinterne Bearbeitungsschritte oder notwendige interne Abstimmungen
zwischen verschiedenen Fachbereichen (ebd.).
In der praktischen Betrachtung von Verwaltungsservices werden das Front- und Back-
stage stets zusammenhängend analysiert. Wichtig Ansatzpunkte zur Analyse von Ver-
waltungsservices sind häufig dort zu finden, wo es Kontaktpunkte zwischen dem
Front- und Backstage gibt (beispielsweise, wenn ein Antrag abgegeben wird, wenn
ein Telefonat zwischen Verwaltung und Kund*in stattfindet oder wenn die Verwaltung
Statusmeldungen an Antragstellende herausgibt). Anlässe für Optimierungspotenziale
ergeben sich dabei häufig aus sogenannten „Schmerzpunkten“, also Kontaktpunkten,
die von internen und/oder externen Nutzer*innen als negativ wahrgenommen werden.
Das kann aus Sicht der externen Nutzer*innen zum Beispiel ein Bescheid sein, der nicht
verständlich geschrieben ist oder aber eine lange Wartezeit auf dem Amt. Aus Sicht der
internen Nutzer*innen sind typische Schmerzpunkte unvollständig ausgefüllte Anträge
oder wiederholte Rückfragen durch Kund*innen.
Braucht Service Design mehr Diversity? – … 371
Erkunden-Phase
Stakeholderanalysen
Interviewtechniken zur Befragung von Nutzer*innen
Fokussieren-Phase
Personamethoden
Nutzer*innenreisen/Customer Journeys
Service Blueprints
Entwickeln-Phase
Kreativ-Brainstorming
Prototypings
Umsetzen-Phase
Der Großteil der hier genannten Methoden kann nur in Teamarbeit erfolgen. Grundsätz-
lich gilt für das Service Design, dass Teams aus mehreren Personen zusammenarbeiten
sollten, um so Synergien zu nutzen, kreatives und gemeinschaftliches Arbeiten zu
fördern sowie Aufgaben aufzuteilen.
Grundfrage: Kann ein Service Design-Team, welches nicht divers ist, in der Lage
sein, die Bedürfnisse von Nutzer*innen in einer vielfältigen Gesellschaft zu erfassen
und zu verinnerlichen?
Legitimationsfrage: Ist es vertretbar, wenn ein nicht diverses Service Design-Team
postuliert, die Bedürfnisse vielfältiger Gruppen von Nutzer*innen verstehen und
repräsentieren zu können?
Methodenfrage: Können professionell angewandte Service Design-Methoden
fehlende Diversität im Team kompensieren, gar ersetzen?
Braucht Service Design mehr Diversity? – … 373
gefährlich (vgl. Charta der Vielfalt 2014). Insbesondere homogene Teams laufen
Gefahr, unter dem Phänomen von Unconscious Bias zu geraten. Durch unbewusste
Voreingenommenheit werden zum Beispiel die Ergebnisse von Interviews, die mit
Nutzer*innen geführt werden, fehlerhaft ausgewertet und interpretiert.
Beispiel
Manfred S., ein etwas „älterer“ Bürger, der zu seinen Erfahrungen zu einem
Online-Dienste der Verwaltung befragt wird, gibt an, dass der Online-Dienst nicht
komfortabel ist. Ein Service Design-Team ohne jegliche Altersdiversität läuft mög-
licherweise Gefahr, pauschal abzuleiten, dass dies an der mangelnden Digital-
kompetenz älterer Menschen liege – statt zu hinterfragen, ob der Online-Dienst nicht
zu wenig barrierefrei oder generell unkomfortabel ist.
Ein weiteres Beispiel ist, dass sich zum Beispiel männerdominierte Teams schwertun,
geschlechtsspezifische Bedürfnisse richtig zu verstehen und zu priorisieren. Dieses
Phänomen wird auch als Gender Bias bezeichnet.
Beispiel
Zeynep L., eine Kundin im Rathaus, sagt im Interview, sie hätte gern im Wartebereich
auch Rückzugsorte, etwa um ihr Baby zu stillen. Das Service Design-Team registriert
das Bedürfnis im Rahmen der Erkunden-Phase. In den anschließenden Phasen wird
das Anliegen aber depriorisiert, weil mehrheitlich die Auffassung vertreten wird, dass
das Problem „nicht so wichtig“ sei.
Die soeben aufgezeigte Auflistung von Phänomenen ist keineswegs abschließend. Die
kursorische Auseinandersetzung mit einigen – typischen – Negativphänomenen von
homogenen Teams soll gleichwohl deutlich machen, weshalb es ein Trugschluss ist,
Service Design und Diversity gegeneinander auszuspielen.
Braucht Service Design mehr Diversity? – … 375
Damit ist die Grundfrage (s. o.) soweit geklärt: Auch im Service Design ist es not-
wendig, den Blick nach innen zu richten und Projektteams so divers wie möglich zu
gestalten.
Damit verbunden ist auch die Beantwortung der Legitimationsfrage (s. o.): Die
Erhöhung der inneren Diversität erhöht einerseits die Funktion des Teams als „Spiegel-
bild der Gesellschaft“, sodass die Akzeptanz des Teams bei den Nutzer*innen selbst
(Input-Legitimation) erhöht wird. Das fördert ein offenes Klima, generiert wechsel-
seitiges Vertrauen und erleichtert die Zusammenarbeit mit den Nutzer*innen. Die
Fähigkeit zur Co-Kreation wird auf diese Weise nachhaltig gesteigert. Eine hohe innere
Diversität leistet darüber hinaus aber auch einen signifikanten Beitrag, die methodische
Orientierung an den Bedürfnissen der Nutzer*innen noch stärker sicherzustellen.
Dadurch wird die Qualität der erarbeiteten Ergebnisse weiter gesichert und gesteigert
(Output-Legitimation).
Mit diesen Erkenntnissen ist schließlich auch die Methodenfrage (s. o.) geklärt:
Nein, die professionelle Anwendung von Service Design-Methoden kann eine fehlende
Diversität im Team nicht kompensieren. Wenn wir die Orientierung an den Bedürfnissen
von Nutzer*innen wahrhaftig und konsequent meinen, führt auch im Service Design kein
Weg an Diversity vorbei.
4 Fazit
Service Design ist ein Framework, welches ermöglicht, durch Berücksichtigung einer
innovationsförderlichen Haltung und durch Anwendung von Methoden Verwaltungs-
services und Verwaltungsprozesse neuzugestalten, die eine hohe Orientierung an die
Bedürfnisse von Nutzer*innen aufweisen können. Damit ist Service Design geeignet, um
zum Beispiel Digitalisierungs-, Organisations- und Fachprojekte nutzer*innenzentriert
zu entwickeln.
Service Design ist gleichwohl, trotz der hohen methodischen Nähe zu den Para-
digmen von Diversity, nicht per se als „Diversity-affin“ zu sehen. Auch im Rahmen von
Service Design bedarf es einer aktiven Auseinandersetzung mit Phänomenen mangelnder
Vielfalt, insbesondere in der Zusammensetzung von entsprechenden Teams in Service
Design-Projekten. Die bewusste Befassung mit Diversity schützt Teams im Service
Design davor, in „Bias“-Situationen zu geraten, welche Wahrnehmungen und Ergeb-
nisse signifikant verzerren und mithin die Effektivität von Service Design massiv beein-
trächtigen können. Vor diesem Hintergrund wirkt eine aktive Gestaltung von Diversity
im Service Design-Kontext wie ein Quality Gate: Es wird insgesamt deutlich, dass
Service Design und Diversity stets zusammen gedacht werden müssen. Gemeinsam
entsteht eine vielfältige Innovationshaltung, die einen diversitätsbewussten Methoden-
einsatz in der öffentlichen Verwaltung ermöglicht. Durch Diversity wird sichergestellt,
dass mit Service Design tatsächlich das gelingt, was mit der Methodik beabsichtigt
376 J. Meister und M. Hörmeyer
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Dr. John Meister ist Experte für Reform- und Transformationsthemen in der öffentlichen Ver-
waltung. Er verfügt über breite interdisziplinäre Verwaltungserfahrung von über 15 Jahren und
war u. a. in Sozial-, Finanz-, Justiz-, Digitalisierungsressorts sowie auf Staatskanzleiebene tätig.
Er leitet aktuell das Referat „Inklusive Jugendhilfe“ in der Hamburger Sozialbehörde und ver-
antwortet die inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe. Daneben ist er Dozent für
Public Management mit Schwerpunkt in sozialwissenschaftlichen Themen an der Hochschule für
Angewandte Wissenschaften Hamburg.
Zusammenfassung
Diversität hat viele Gesichter. Das „Team OnlineRathaus“ (kurz gennnt „ToR“) der
Landeshauptstadt Wiesbaden ist eines davon. Das innovative Nachwuchskräfte-
projekt „Team OnlineRathaus“ in der Abteilung „Standesamt und Bürgerbüro“ des
Ordnungsamtes ist eine Kooperation mit dem Personalamt der Stadt und fördert
zum einen die Entwicklung einer zukunftsorientierten Stadtverwaltung und zum
anderen eine vielseitige Ausbildung der Nachwuchskräfte. Unter dem Arbeitstitel
„Team OnlineRathaus“ arbeiten Nachwuchskräfte jeden Alters aus unterschiedlichen
Fachbereichen und Ausbildungsberufen an der Zukunft der modernen Verwaltung.
Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die Entwicklung von Standards in der
Kommunikation der Verwaltung, Optimierungen von Arbeitsabläufen und Prozessen
im Fachbereich sowie die Entwicklung neuer Onlinedienste für die Bürger*innen
Wiesbadens gelegt. Dieser Fachbereich zeigt, wie das „Team OnlineRathaus“ sowie
die Zusammenarbeit mit den Fachbereichen organisiert ist und welche Mehrwerte
sich hieraus für die Verwaltungsentwicklung ergeben.
J. Klumb ( ) · E. Meier
Landeshauptstadt Wiesbaden, Wiesbaden, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 377
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_29
378 J. Klumb und E. Meier
Schlüsselwörter
1 Einleitung
Schaut man im alten Rathaus in Wiesbaden direkt hinter dem Eingang im Gebäude rechts
durch die Schalterluke, so trifft man vielleicht auf ein für eine Verwaltung ungewöhnliches
Bild: Mehrere Personen im Alter von circa 14 bis 35 teilen sich einen Arbeitsbereich und
verrichten ihre Aufgaben gemeinsam und auf Augenhöhe. Es ist der Urkundenservice
des Standesamtes, welcher zu einem Großteil von Nachwuchskräften betrieben wird.
Angeleitet von zwei Standesbeamt*innen stellen hier Schüler- und Jahrespraktikant*innen,
Auszubildende und Studierende Urkunden aus den Wiesbadener Personenstandsregistern
aus. Doch nicht nur im Urkundenservice, sondern auch im Bereich der Eheschließung, der
Geburtsanmeldung, der Namensänderungen und Sterbefälle, im Pass- und Ausweiswesen
des Bürgerbüros sowie in den übrigen Fachbereichen des Standesamtes und Bürgerbüros
leisten Nachwuchskräfte einen großen Beitrag. Dabei unterstützen sie die Mitarbeitenden
sowohl in der alltäglichen Sachbearbeitung als auch in kleinen und größeren Projekten ver-
schiedener Komplexität und Tragweite.
Die Annahme, ein Nachwuchskräfteprojekt dieser Größe erzeuge viel Mehrauf-
wand, liegt nicht fern. Schließlich denkt man zuerst, dass Nachwuchskräfte intensiv
von Mitarbeitenden der Sachbearbeitung eingearbeitet und umfangreich betreut werden
müssen. Doch die tatsächliche Einarbeitung und Betreuung zeigt, dass dies eine falsche
Annahme ist und nur bedingt der Realität entspricht. Warum also wurde das „Team
OnlineRathaus“ ins Leben gerufen? Wie wird dort gearbeitet? Wie wird ein hohes
Arbeits- und Betreuungsniveau garantiert? Welche Unterstützung stellt das „Team
OnlineRathaus“ bei der Gestaltung und Entwicklung innovativer Online-Dienste dar?
Bereits im Jahr 2009 begannen erste Überlegungen zur Etablierung eines Nachwuchs-
kräfteprojektes. Die zugrundliegende Idee war, das Potenzial junger, technikaffiner
Menschen zu nutzen und ihnen im Gegenzug eine zeitgemäße und zukunftsorientierte
Ausbildung zu bieten. So startete das Projekt mit einer Testphase noch im selben Jahr
im Personalamt. Hierfür wurden gemeinsam mit der dortigen Abteilung für Aus- und
Fortbildung Kriterien und Bedingungen für eine fachübergreifende Projektausbildung
festgelegt. Mit dem Wechsel der damaligen Projektleitung vom Personalamt ins Standes-
amt zog auch das „Team OnlineRathaus“ in das alte Rathaus in Wiesbaden mit ein. Die
traditionelle, ursprüngliche Art zu Arbeiten reichte bis zu diesem Zeitpunkt im Jahr 2014
Diversität über die Authentifizierung hinaus. Wie das … 379
hinein. So fanden sich neben einer gelegentlich noch genutzten Schreibmaschine über-
durchschnittlich viele Aktenschränke in den Büros und auch der Servicegedanke war
im Vergleich zu heute noch nicht so fest im kollektiven Gedächtnis der Mitarbeitenden
verankert. Seitdem hat das Standesamt eine große Entwicklung hinter sich gebracht,
stets begleitet vom „Team OnlineRathaus“, das dabei half, die Behörde von/mit einem
traditionell und historisch gewachsenem Fach- und Aufgabenbereich zu einem „Leucht-
turm“ zu transformieren, der nicht nur innerhalb der Stadtverwaltung Wiesbadens,
sondern auch bundesweit Vorreiter in Sachen Digitalisierung und Innovation wurde.
Das „Team OnlineRathaus“ setzt also auf ein Team, das aus unterschiedlichen Nach-
wuchskräften jeden Alters, beruflicher und schulischer Ausbildung besteht. Neben den
Auszubildenden und Inspektoranwärt*innen der Stadt (Duales Studium) werden auch
Schülerpraktikant*innen, Jahrespraktikant*innen, Volontär*innen und Gastauszu-
bildende von Bund und Land integriert. Diese absolvieren ihre Praktika als Teil ihrer
Ausbildung, ihres (dualen) Studiums oder aus eigener Initiative. Die Zeit, die sie dabei
im Projekt verbringen, ist ebenfalls unterschiedlich. Während die Nachwuchskräfte
der Stadt Praxisabschnitte von drei bis sechs Monaten absolvieren müssen, decken die
Praktika der externen Teilnehmenden alle Zeiträume von einer Woche bis zu einem Jahr
ab.
Nachdem die Projektleitung 2019 aus dem Dienst ausschied, wird das „Team
OnlineRathaus“ von zwei Mitarbeitenden der Abteilung weitergeführt. In diesem Zuge
erfolgte eine Erweiterung auf das Bürgerbüro, wo nach dem Vorbild des Standesamtes
die Digitalisierung, Innovationen und Bürgerservice mithilfe der Nachwuchskräfte
vorangetrieben werden sollen.
Grundpfeiler der erfolgreichen Arbeit des „Team OnlineRathaus“ ist die Diversität der
Mitglieder des Teams. Diese ergibt sich insbesondere aus den unterschiedlichen Altern
sowie den unterschiedlichen fachlichen Hintergründen und Erfahrungen der Mitglieder.
Die Diversität führt insbesondere dazu, dass mehr Diskussionspotenzial und Kreativität
im Team entstehen. Hierdurch erhöht sich die Chance, dass Projektergebnisse des „Team
OnlineRathaus“ stärker an den Bedarfen von Kund*innen (zum Beispiel Antragstellenden)
ausgerichtet sind.
Um eine erfolgreiche Integration der zahlreichen Nachwuchskräfte in die Fach-
bereiche sicherzustellen, distanzierte man sich von der bisherigen Art der Einarbeitung.
Dies bedeutet, konkret dass nicht mehr Mitarbeiter*innen mit einer Nachwuchskraft
über einen längeren Zeitraum zusammen am Arbeitsplatz Prozesse und Abläufe durch-
gehen. Seit Beginn des Projekts haben die Nachwuchskräfte eigenständig und seit-
dem kontinuierlich Schritt-für-Schritt-Anleitungen für jegliche Prozesse erstellt. Diese
Anleitungen werden „ReadMe“ genannt, mit denen sich die neuen Nachwuchskräfte
Wissen aneignen und bei Bedarf nachlesen können. Durch die „ReadMes“ sind ein-
fache Arbeitsabläufe zu Beginn des Praktikums eigenständig bearbeitbar, wie im Bereich
Urkundenservice beispielsweise die Bearbeitung einer Urkundenbestellung vom Eingang
der Bestellung, über das Heraussuchen des Personenstandseintrages in den standesamt-
lichen Registern bis hin zur Erstellung einer Rechnung oder die Digitalisierung eines
Papier-Personenstandseintrages ins elektronische Personenstandsregister.
Die Nachwuchskräfte lernen hierbei selbständiges und eigenverantwortliches Arbeiten.
Bei Rückfragen, Unsicherheiten oder dem Wunsch einer individuellen Einarbeitung in
einen Prozess stehen die Mitarbeitenden der Fachbereiche auch zur Verfügung.
Neben den „ReadMes“ werden Erklärvideos und Visualisierungen unterschiedlichster
Art genutzt, um die Nachwuchskräfte auf ihre Aufgaben vorzubereiten – auch um die
verschiedenen Lerntypen anzusprechen. Während manche einen Prozess am ehesten
mithilfe einer schriftlichen Anleitung verstehen und verinnerlichen können, bevor-
zugen wiederum andere ein besprochenes Erklärvideo. Um Lerneffekte zu verstärken
und Wissen zu vertiefen, liegt die Erstellung von „ReadMes“, Erklärvideos und anderen
Medien zu einem großen Teil in ihrem Verantwortungsbereich der Nachwuchskräfte.
Eine weitere Besonderheit der Arbeitsweise des „Team OnlineRathaus“ ist die gegen-
seitige Einarbeitung der Nachwuchskräfte. Die dienstälteren, erfahrenen und versierteren
Nachwuchskräfte geben ihr Wissen und ihre Erfahrungen an diejenigen weiter, die ihre
Zeit im „Team OnlineRathaus“ gerade beginnen. Eine besondere Herausforderung ist die
Diversität über die Authentifizierung hinaus. Wie das … 381
Keine Terminsuche, kein Warten beim Amt: Wer in Wiesbaden heiraten möchte, kann
seit Dezember 2020 aufgrund der Covid-19-Situation die Anmeldung zur Eheschließung
(früher: das Aufgebot) online durchführen. Üblicherweise müssen Traupaare persön-
lich und gemeinsam vor Ort erscheinen, um sich auszuweisen und die Anmeldung zu
unterschreiben. Das können die Traupaare in Wiesbaden bequem nach Feierabend von
Zuhause aus digital per Qualifizierter Elektronischer Signatur (QES) signieren.
Das Standesamt Wiesbaden schuf Ende 2020 die Möglichkeit mit seinen Projekt-
partner*innen, dass Traupaare bequem nach Feierabend von Zuhause aus die Anmeldung
der Eheschließung im Traukalender mit Video-Ident durchführen und digital per Quali-
fizierter elektronischer Signatur (QES) unterschreiben können. Bereits 2018 stießen
die Kolleg*innen des Standesamtes Wiesbaden auf Video-Ident als digitale und ein-
fache Lösung für die Online-Authentifizierung. Das Standesamt Wiesbaden startete
gemeinsam mit dem Nachwuchskräfteprojekt „Team OnlineRathaus“ und anderen
städtischen Behörden die Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen für einen Einsatz
in seinen Fachbereichen. Sie nahmen Kontakt zum Dienstleister auf – auch ein Besuch
direkt vor Ort im Hochsicherheits-Ident-Center folgte. Aufgrund rechtlicher Hindernisse
konnte eine Umsetzung der Idee zunächst nicht erfolgen.
Entsprechend dem Fachgesetz soll die Anmeldung der Eheschließung persönlich und
vor Ort im Standesamt vollzogen werden. Trotz des Onlinezugangsgesetzes (OZG) ist
bislang das Personenstandsgesetz als bindendes Fachgesetz nicht angepasst worden. Nur
in Ausnahmesituationen kann laut dem Fachgesetz auf die persönliche Anwesenheit der
Traupaare verzichtet werden. So mussten die ersten Überlegungen aus 2018 erstmal in
der „Schublade verschwinden“.
Die Begebenheiten der Corona-Pandemie ermöglichten dann die oben genannte Aus-
nahmeregelung für die Anmeldung der Eheschließung zu nutzen. Mit dem Lockdown
fiel fast von einem Tag auf anderen der Zugang zur Anmeldung der Eheschließung als
eine der (emotional) wichtigsten Dienstleistungen aus. Gleichzeitig jedoch entstand eine
neue Situation: Das Personenstandsgesetz erlaubte jetzt von der persönlichen Anwesen-
heit abzusehen, da ein wichtiger Grund vorlag – die Pandemie. Nun konnte auf Vorüber-
legungen zurückgegriffen werden.
Bei der Ausgestaltung des Pilot-Prozesses war einerseits zu beachten, dass alle not-
wendigen Aspekte der Rechtskonformität gewahrt wurden und die Weiterbearbeitung
der Anmeldung im Amt möglich war. Auf der anderen Seite sollte eine größtmögliche
Nutzungsfreundlichkeit erreicht werden und der Prozess im Lebensalltag anwendbar
sein. Beispielsweise musste es möglich sein, dass das Brautpaar getrennt, örtlich und
Diversität über die Authentifizierung hinaus. Wie das … 383
zeitlich unabhängig voneinander, die Anmeldung unterzeichnet, die Signaturen aber auf
derselben Anmeldung zusammengeführt werden.
Nachdem die rechtlichen und praktischen Voraussetzungen geprüft waren, ging es an die
Gestaltung des Prozesses. Hierfür wurde das „Verwaltungs-Canvas“ genutzt. Dieses von
den Nachwuchskräften des „Team OnlineRathaus“ mit den Mitarbeitenden des Standes-
amtes entwickelte Werkzeug ist die optimierte Form der Ist- und Soll-Analyse. Durch
gezielte Fragestellungen im Canvas wurden in mehreren Workshops gemeinsam mit den
Nachwuchskräften und den Mitarbeitenden der Prozess hinterfragt, entwickelt und dann
neu gestaltet. Die technische Umsetzung der Online-Anmeldung und die Programmierung
der Schnittstelle zum Dienstleister der Authentifizierung mit Video-Ident gestaltete sich
anschließend problemlos und verlief zügig.
Viele Onlinedienste sind kompliziert, umständlich und verschachtelt aufgebaut. Die
Onlinedienste werden zudem von langen und komplexen Dienstleistungsbeschreibungen
begleitet. Ein besonderes Augenmerk in der Entwicklung wurde hier auch auf die
Sprache gelegt. So wurden intern definierte „Klartext“-Regeln im Satzbau und in der
Satzgestaltung befolgt. Die Beschreibung für die Online-Anmeldung besteht aus nur 38
Wörtern. Ergänzt wird diese durch ein Erklärvideo. Die „Munnis“, individuell gestaltete
Strich-Männchen, erklären den Onlinedienst anschaulich, auditiv und visuell.
Der neue Onlinedienst ist sehr gut angenommen worden: Seit der Einführung im
Dezember 2020 meldeten sich bereits über 2000 (Stand Dezember 2022) Paare digital
zur Eheschließung an, was einer Nutzungsquote von 98 % entspricht. Hierbei ist
besonders interessant, dass die Nutzung hauptsächlich zur Mittagszeit (vermutlich in der
Mittagspause) oder am Abend ab 19:30 Uhr erfolgt.
Das Standesamt konnte seit Einführung der Online-Anmeldung auf 4000 Personen-
kontakte verzichten und Bürger*innen sowie Standesbeamt*innen in der Pandemie
schützen. Denn gerade in der Anfangszeit der Covid19-Pandemie war es besonders
wichtig, die Personenkontakte strikt zu reduzieren. Aufgrund der regen Nutzung des
neuen Onlinedienstes meldeten sich bereits im ersten Quartal 646 Menschen online
zur Eheschließung an. Im Oktober 2021 erfolgte eine Erweiterung um eine ePayment-
Schnittstelle. So war es nicht nur möglich, die Eheschließung schnell und einfach digital
anzumelden, sondern auch gleich die dafür anfallenden Gebühren digital zu begleichen.
Zur Begleichung der Gebühren stehen PayPal und Giropay als Zahlungsvariante zur Ver-
384 J. Klumb und E. Meier
fügung. Damit erreicht die Anmeldung der Eheschließung mit Video-Ident die komplette
OZG-Konformität.
Im Dezember 2022 konnte zum zweijährigen Jubiläum die 4000ste Nutzung ver-
zeichnet werden. Gleichzeitig wurde die eID-Ausweisfunktion als etablierte Art der
Authentifizierung als Alternative zum Video-Ident-Verfahrens eingeführt. Es wurde
damit ein Onlinedienst entwickelt, welcher verschiedene Varianten der Authentifizierung
in einem Onlinedienst anbietet. Die hier geschaffene Auswahlmöglichkeit ermög-
licht den Nutzer*innen selbst zu entscheiden, welche Art der Authentifizierung bevor-
zugt wird. Das Prinzip der Auswahlmöglichkeit kennen Antragstellende bereits aus
dem privaten Online-Verhalten (zum Beispiel beim Online-Shopping die Auswahl ver-
schiedener (Online-)Zahlungsalternativen).
Grundsätzlich werden zur Überprüfung, Bewertung und zur iterativen Weiter-
entwicklung der Onlinedienste diese mit einem Feedback-Modul am Ende versehen.
Über drei farblich abgrenzende „Smileys“ können Bürger*innen direkt ein Feedback
hinterlassen. Ebenso besteht die Möglichkeit der Abgabe eines Kommentars. In der
Online-Anmeldung der Eheschließung ist das Feedback-Modul integriert worden. So
lassen sich aktuelle Feedbacks und Kommentare auswerten. 85,8 % der Bürger*innen
sind sehr zufrieden und 9,9 % zufrieden (Stand Dez. 2022) mit dem Onlinedienst.
4 Résumé
Die Personen hinter dem Projekttitel „Team OnlineRathaus“ zeigen, dass fern von
klassischen Hierarchien und Erfahrungswerten neue Methoden, Instrumente und Online-
dienste entwickelt werden können.
Gerade durch die Diversität der Nachwuchskräfte in Zusammenarbeit mit Mit-
arbeitenden aus der Sachbearbeitung kann zusammenfassend gesagt werden, dass daraus
eine besondere Symbiose entsteht. Junge Nachwuchskräfte bringen neue Perspektiven
und Ansprüche an die Arbeitsgestaltung in den Arbeitsalltag der Sachbearbeitung mit
ein. Diese können mit den Erfahrungswerten aus den Fachbereichen optimal gematcht
werden, sodass regelmäßig bessere Ergebnisse erzielt werden.
Um aber schlussendlich alle vorgeschriebenen Verwaltungsleistungen gemeinsam mit
den Nachwuchskräften und den Mitarbeitenden im Fachbereich zu digitalisieren, müssen
darüber hinaus auch die Fachgesetze angepasst werden. Nur mit digital umsetzbaren
Fachgesetzen lässt sich eine Skalierung über alle Verwaltungsdienstleistungen hinaus
erwirken. Das Beispiel der Online-Anmeldung der Eheschließung beweist, dass Fach-
gesetze hier Defizite in der Umsetzbarkeit einer digitalen, innovativen und modernen
Verwaltung aufzeigen. Die hohe Nutzungsquote zeigt eindeutig, dass die Gesellschaft
gewillt ist Onlinedienste zu nutzen, dies gleichermaßen fordert und auch den Anspruch
an eine digitale und zeitgemäße Verwaltung hat.
Jana Janze
Zusammenfassung
Start-ups und Verwaltung: Zwei Welten, die auf dem ersten Blick unterschied-
licher nicht sein könnten. Kaum ein Arbeitsfeld hat so ein angestaubtes Image wie
das der öffentlichen Hand. Auf der anderen Seite die Start-ups-Szene: Innovation,
neue Arbeitsweisen, junge Menschen, Diversity und der Einsatz von Technologie.
Das sind (Vor-)Urteile: Die beiden Welten sind in sich geschlossen wenig vielfältig,
jedoch untereinander unterschiedlich – schlussendlich liegt das Potenzial in genau
diesem Unterschied. Start-ups und die Verwaltung können sich bereichern, wenn sie
sich nähern, Synergien nutzen und schlussendlich gemeinsam Lösungen für unsere
gesellschaftlichen Herausforderungen entwickeln. Um dahin zu kommen, braucht es
neben der Entfaltung von Diversity die Umsetzung verschiedener Forderungen, die zu
innovativen Ideen und einer kollaborativen Verwaltung führen. Diese werden im vor-
liegenden Fachbeitrag erläutert.
Schlüsselwörter
J. Janze ( )
GovMarket GmbH, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 387
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_30
388 J. Janze
1 Einführung
Start-ups und Verwaltung. Zwei Welten, die auf dem ersten Blick unterschiedlicher nicht
sein könnten. Auf der einen Seite die Verwaltung: Kaum ein Arbeitsumfeld hat so ein
angestaubtes Image wie die öffentliche Hand. Gleichzeitig sorgt die Verwaltung dafür,
dass unsere gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen funktionieren und die öffentliche
Sicherheit gewahrt wird. Sie steht für Unerschütterlichkeit, Sicherheit, Struktur ebenso
wie für Zuverlässigkeit und Neutralität.
Auf der anderen Seite Start-ups: Innovation, neue Arbeitsweisen, junge Menschen
und der Einsatz von Technologie sind Begriffe, die in diesem Zusammenhang fallen.
Oft verbindet man mit Start-ups auch Diversität. Start-ups sind in der Regel komplett
auf Wachstum ausgerichtet. Wir verbinden mit Start-ups auch deshalb Risiken, hohen
Arbeitsaufwand, finanzielle Unsicherheit und großen Konkurrenzdruck.
Beide Seiten kämpfen mit vielen (Vor-)Urteilen – und können sich gleichzeitig
bereichern, wenn sie sich nähern, Vorurteile überwinden, Unterschiede und Gemeinsam-
keiten erkennen, potenzielle Synergien nutzen und schlussendlich gemeinsam Lösungen
für unsere gesellschaftlichen Herausforderungen entwickeln. Das ist es auch, was
Diversity ausmacht. Diversity ist mit Vielfalt gleichzusetzen. Vielfalt und unter-
schiedlichen Eigenschaften, die Menschen aufweisen. Sie bietet Potenzial für Gleich-
behandlung und Chancengleichheit in den Strukturen, in denen wir uns bewegen.
Um Diversity zu erreichen, sind verschiedene Sichtweisen und Menschzentrierung
wichtig. Beide Seiten müssen sich öffnen, denn ein divers aufgestelltes Team, welches
aus Menschen verschiedener Hintergründe und Perspektiven besteht, kann zu einem
breiteren Denkansatz und zu innovativen Ideen beitragen. Wir müssen zusammen-
arbeiten, um die Entwicklung von neuen Ideen voranzutreiben. Wir brauchen Techno-
logie, um Prozesse zu automatisieren. Wir wollen verschiedene Sichtweisen, um
passgenaue Lösungen zu erarbeiten. Wir müssen Barrieren beseitigen, die aktuell den
Zugang von unterrepräsentierten Gruppen zu Unternehmensgründungen und Wachstum
behindern. Wir brauchen den offenen Zugang zur Verwaltung, der z. B. für Menschen
mit Migrationshintergrund das Ankommen in der Gesellschaft bedeutet.
Doch: Wie steht es eigentlich um Diversity in Start-ups im Vergleich zur Ver-
waltung und der Erwerbsbevölkerung Deutschland? Sind Start-ups wirklich so viel-
fältig aufgestellt, wie gemeinhin angenommen wird? Welche Herausforderungen in
der Zusammenarbeit gibt es für beide Seiten? Um zu mehr Kollaboration zu gelangen,
die Unternehmen und Verwaltung zusammenbringt und das „Cultural Gap“ zwischen
beiden Welten verkleinert, identifizieren wir Forderungen aus der Praxis der aktuellen
Zusammenarbeit von Start-ups und Verwaltung, die Diversität beflügeln und aufzeigen,
welche Potenziale in den wahrgenommenen Unterschieden von Start-ups und Ver-
waltung liegen.
Potenzial im Unterschied – Wie sich Verwaltung und Start-ups … 389
Die Innovationskraft, die Nutzung von Technologien und die damit verbundene
kollaborative Gestaltung der Zukunft ist eine Bereicherung für die Gesellschaft. Sie
zahlen in die Zukunftsfähigkeit Deutschlands ein – und den damit verbundenen Steuer-
einnahmen und seiner Standortattraktivität. Kreative Start-ups setzen mit Erfindungsgeist
wichtige und zukunftsweisende Impulse, die helfen, Rohstoffe nachhaltig zu nutzen oder
mit Hilfe von künstlicher Intelligenz Prozesse effizienter und ressourcenschonender zu
organisieren, um zwei Beispiele zu nennen.
Als ein Start-up definiert Prof. Dr. Tobias Kollmann im European Startup Monitor
ein junges Unternehmen, das maximal zehn Jahre alt ist. Es hat eine skalierbare – im
besten Fall innovative – Geschäftsidee, wobei die Innovation sowohl die eingesetzte oder
zu entwickelnde Technologie als auch das Geschäftsmodell umfassen kann. In der Regel
sind Start-ups durch externe Kapitalgeber*innen finanziert. Dies ermöglicht es ihnen,
auch in einer sehr frühen Phase, Arbeitsplätze schaffen zu können, was die Bedeutung
von Start-ups für den Wirtschaftsstandort Deutschland unterstreicht (vgl. European
Startup Monitor 2015, o.S.).
Start-ups, KMUs (kleinen und mittleren Unternehmen) und Unternehmen, die sich
auf die Arbeit mit und in der öffentlichen Verwaltung fokussieren bzw. auf die Ent-
wicklung von Technologien für den öffentlichen Sektor spezialisiert haben, nennt man
Government Technologies (GovTechs). Ihre Lösungen, Produkte oder Services bieten
einen Mehrwert für die öffentliche Hand bzw. Bürger*innen (B2G2C – Business to
Government to Citizen) und forcieren die Effektivität bzw. Effizienz der Verwaltung
(B2G – Business to Government). In Deutschland gibt es ca. 300 GovTech Start-ups
(Vgl. Govtech in Deutschland 2021, Seite 7). Die Zusammenarbeit mit GovTechs ist
für den Public Sector von großem Nutzen, da sie die Möglichkeit bietet, von Innovation
und Flexibilität der Start-ups zu profitieren und neue Technologien und Innovationen zu
nutzen.
Der Begriff „GovTech“ spiegelt in allen Facetten auch die Komplexität der Ver-
waltung wider: Bildung und Schule, Krankenversorgung und Pflege, Soziales, Bau,
Sicherheit oder auch Verkehr sind nur einige Felder, die GovTechs abbilden. Sie
orientieren sich damit an den Strukturen der Verwaltung und subsumieren sich unter
HealthTech, EduTech, AgeTech usw. – aber schließen auch FinTechs ein, die beispiels-
weise für Kämmereien einen Mehrwert bieten.
390 J. Janze
Die soziale Herkunft von Personen hat nach wie vor starken Einfluss auf Bildungs- und
Arbeitsmarktchancen – so auch auf die Gründungen von Start-ups. Menschen haben
aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht keinen Zugang zu
Netzwerken, Bildung oder auch zu Vermögen, welches in der Anfangsphase eines Unter-
nehmens ohne Investor*innen relevant ist. In der Diversitätsdimension „Soziale Her-
kunft“ betrachten wir den Bildungsabschluss.
Wie Abb. 1 zeigt, sind Gründer*innen von Start-ups in der Regel Akademiker*innen.
Sie verfügen zu 87,2 % über einen Hochschulabschluss, zu 4,7 % über Abitur oder haben
zu 4,1 % eine Berufsausbildung abgeschlossen. MINT-Fächer (46,6 %) und Wirtschafts-
* Erwerbsbevölkerung: Vgl. Statistisches Bundesamt 2021a | Start-ups: Vgl. Bundesverband Deutsche Startups e. V. et al. (2022)
Abb. 1 Vergleich Soziale Herkunft. (Eigene Darstellung. Zahlen nach Statistisches Bundesamt
2021a, Statistisches Bundesamt 2021b.)
Im Durchschnitt liegt das Alter der Erwerbsbevölkerung bei 43,3 Jahren – selb-
ständige Personen sind im Schnitt 50,9 Jahre alt (Vgl. Statistisches Bundesamt 2021a).
Das Durchschnittsalter in der öffentlichen Verwaltung (Beamt*innen und Angestellte
Personen) liegt bei 43,9 (die Bundesverwaltung liegt im Altersschnitt von 41,4 unter dem
übergreifenden Schnitt) (Vgl. Statistisches Bundesamt 2021b). Start-up Gründer*innen
2 Die Ableitung vom Dienstgrad der Mitarbeitenden aus der öffentlichen Verwaltung auf die Aus-
bildung wurde auf Basis der Eingruppierung des Bundes getroffen (Bildungsabschlüsse im TVöD
Bund – https://t.ly/Zkrl). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Eingruppierungen im Regel-
fall auf Basis der beruflichen Ausbildung (zum Beispiel Bachelor-Abschluss) getroffen werden.
Darüber hinaus können aber auch abschlussäquivalente Leistungen (zum Beispiel besondere beruf-
liche Erfahrungen oder ein Aufstieg über Qualifikation/Weiterbildung) für die Eingruppierung ent-
scheidend sein.
392 J. Janze
* Erwerbsbevölkerung: Vgl. Statistisches Bundesamt 2021a | Öffentliche Hand: Vgl. Statistisches Bundesamt 2021b | Start-ups: Vgl. Bundesverband Deutsche
Startups e. V. et al. (2022)
Abb. 2 Vergleich Alter. (Eigene Darstellung. Zahlen nach Statistisches Bundesamt 2021a,
Statistisches Bundesamt 2021b.)
sind mit einem durchschnittlichen Alter von 36,4 Jahren in allen Vergleichsfällen deut-
lich jünger (vgl. Abb. 2).
Ethnische
Herkunft und
25,9% 12,8% 21,1%
Nationalität 2021 2020 2022
* Erwerbsbevölkerung: Vgl. Statistisches Bundesamt 2021c | Öffentliche Hand: Vgl. Statistisches Bundesamt 2021c | Start -ups: Vgl. Bundesverband Deutsche
Startups e. V. et al. (2022)
Abb. 3 Vergleich Ethnische Herkunft und Nationalität. (Eigene Darstellung. Zahlen nach Bundes-
verband Deutsche Startups e. V. et al., Statistisches Bundesamt 2021c.)
Potenzial im Unterschied – Wie sich Verwaltung und Start-ups … 393
Geschlecht und
geschlechtliche
46,8% 55,8% 36,6%
Identität 2021 2021 2022
* Erwerbsbevölkerung: Vgl. Statistisches Bundesamt 2021a | Öffentliche Hand: Vgl. Statistisches Bundesamt 2021b | Start-ups: Vgl. Bundesverband Deutsche
Startups e. V. et al. (2022)
Abb. 4 Vergleich Geschlecht und geschlechtliche Identität in den Teams bzw. der Belegschaft.
(Eigene Darstellung. Zahlen nach Bundesverband Deutsche Startups e. V. et al. 2022, Statistisches
Bundesamt 2021a, Statistisches Bundesamt 2021b.)
394 J. Janze
Start-ups und die Verwaltung sind sehr verschieden – aber dennoch auf ihre eigene Art in
sich geschlossen und teilweise wenig divers.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der durchschnittliche Start-up Gründer männ-
lich ist, 1985 geboren wurde, eine deutsche Staatsangehörigkeit und einen Studien-
abschluss im Bereich MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und
Technik) hat. Sein Start-up hat den Sitz in Nordrhein-Westfalen.
Die Verwaltung ist dagegen diverser aufgestellt: die durchschnittliche Verwaltungs-
mitarbeiterin ist weiblich, hat keinen Migrationshintergrund, wurde 1979 geboren und
ein Studium abgeschlossen. Sie arbeitet in der Landes- oder Kommunalverwaltung (vgl.
Abb. 5).
Diversity im Vergleich
Start-ups
Männlich – deutsche Staatsangehörigkeit – 1986 geboren – MINT-Studiengang abgeschlossen – Start-up Gründung in Nordrhein-Westfalen
Hochschul- Durchschnitts- ohne Migrations- männlichen Sexuelle Religion und Körperliche und
abschluss alter hintergrund Geschlecht Orientierung Weltanschauung geistige
zugeordnet Fähigkeiten
Verwaltung
Weiblich – deutsche Staatsangehörigkeit – 1979 geboren – eher Studium abgeschlossen – Arbeitet für ein Bundesministerium
Neben den Zahlen, welche Diversität messbar machen, ist die tägliche Arbeitsweise ein
Unterscheidungsmerkmal zwischen Verwaltung und Start-ups.
1. Diversität als Merkmal der Unternehmenskultur: Einige Start-ups haben sich bewusst
dafür entschieden, diverse Teams aufzubauen und eine inklusive Unternehmens-
kultur zu fördern. In der Regel profitieren die Unternehmen von dieser Strategie. Eva
Balmaks, CEO und Gründerin von „winkt“ sagt: „Start-ups, die langfristig und groß
denken, brauchen diverse Teams. Das liegt am Arbeits- und Absatzmarkt, denn in
beiden Bereichen spielen bisher vernachlässigte Gruppen eine immer größere Rolle.
Frauen, Senior*innen, Migrant*innen und viele weitere Gruppen gewinnen also an
Bedeutung – das führt auch zu mehr Offenheit und einer Normalisierung von Diversi-
tät.“ (Vgl. Bundesverband Deutsche Startups e. V. et al. 2022)
2. Fokus auf das Kerngeschäft: Im Durchschnitt arbeiten 18,4 Personen (Vgl. Bundes-
verband Deutsche Startups e. V. et al. 2022) in einem Start-up. Durch die begrenzte
Anzahl von Mitarbeitenden müssen die Prioritäten sorgfältig gesetzt werden:
Start-ups müssen sich auf die wichtigsten Aufgaben und Ziele konzentrieren und
Ablenkungen vermeiden. Auch wenn Start-ups oft finanziert sind und damit leichter
an Personal kommen, werden Aufgaben stärker verteilt – Jede*r muss alles machen
können. Gleichzeitig ist die Teamarbeit ein entscheidendes Kriterium für die
Fokussierung auf das Kerngeschäft: Es ist wichtig, gut zusammenzuarbeiten und sich
gegenseitig zu unterstützen, um das Unternehmen voranzubringen.
3. Bereitschaft zur Innovation und Agilität: Start-ups sind innovativer und häufiger
bereit, Risiken einzugehen, um neue Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Das gilt
nicht nur für das initiale Geschäftsmodell, sondern auch für die Bereitschaft, schnell
auf neue Gegebenheiten einzugehen. Start-ups müssen schnell auf Veränderungen
reagieren und sich an neue Situationen anpassen: Es ist wichtig, offen für neue Ideen
und Herangehensweisen zu sein und sich nicht von Rückschlägen entmutigen zu
lassen. Im öffentlichen Sektor gibt es hingegen häufig Strukturen, formelle Prozesse
und Hierarchien, die die Arbeitsweise bestimmen und so Innovationen behindern.
4. Auswahl von Personal und Zusammenarbeit: Mitarbeitende in einem Start-up müssen
gut in das Team und die Kultur des Unternehmens passen. Sie sind gefordert, neue
Ideen einzubringen und sich gegenseitig zu unterstützen. In der Regel setzen Start-
ups auf eine offene und kooperative Arbeitsatmosphäre – deshalb ist es wichtig, dass
die Kandidat*innen für einen Job gut zum Team passen und bereit sind, sich aktiv
einzubringen. Auch wenn die Auswahl von neuen Teammitgliedern nach keiner fest-
gelegten Methode abläuft, ist die Auswahl von Transparenz und Schnelligkeit geprägt.
5. Ziel- und gleichzeitige Kund*innenorientierung: Start-ups haben in der Regel
klare Ziele und Visionen, die sie erreichen wollen. Es geht dabei vor allem um eine
Herausforderung, zu der eine Lösung gesucht wird. Die Lösung soll dabei möglichst
396 J. Janze
Eigentlich hört es sich einfach an: Start-up und die Verwaltung können sich optimal
ergänzen. Beide können Stärken einbringen, um gemeinsam die Digitale Trans-
formation voranzutreiben. Automatisierung, welche durch GovTech Start-ups voran-
getrieben wird, kann dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Lösungen bzw. Produkte
in einem nicht 100 %-igen Stand zu veröffentlichen, ermöglicht schnelles Feedback
und Menschenzentrierung. Die Verwaltung bringt große Erfahrung mit, mit unter-
schiedlichsten Kund*innenkreisen umgehen zu müssen. Ihre Prozessstabilität macht sie
langsam, garantiert aber Verlässlichkeit in einer langfristigen Zusammenarbeit. Doch
warum funktioniert eine schnelle und direkte Zusammenarbeit (noch) nicht? Schließlich
hat die Untersuchung des Bundesverband Deutsche Startups e. V. et al. aus dem Jahr
2022 gezeigt, dass Start-ups nur 4,4 % ihre Gesamtumsätze mit der öffentlichen Hand
erzielen.
GovTech Start-ups sehen sich in der Zusammenarbeit mit der Verwaltung mit einer
für sie wesentlichen Herausforderung konfrontiert: Beschaffung und Vergabe. Laut der
Befragung des Bundesverband Deutsche Startups e. V. et al. aus dem Jahr 2022 sagen
76,1 % der Start-ups, dass die Vereinfachung der öffentlichen Vergabe eine zentrale
Maßnahme zur Stärkung der Zusammenarbeit sei. Gleichzeitig zeigt die Studie, dass
sich nur 21,4 % der befragten Start-ups überhaupt um öffentliche Aufträge beworben
haben. Als Grund nennen Start-ups zu kompliziert gestaltete Ausschreibungen und die
Langwierigkeit der Verfahren. Für das „Nicht Bezuschlagen“ wird der „noch nicht reife“
Potenzial im Unterschied – Wie sich Verwaltung und Start-ups … 397
Entwicklungsstand der Produkte genannt. Schlussendlich heißt das, dass der Wesenskern
von Start-ups, innovative Ideen und Produkte anzubieten und damit neue Impulse zu
setzen, genau auf Grund dieser Neuheit abgelehnt wird. Werden fortlaufend die gleichen
Maßstäbe angesetzt, werden auch weiter die gleichen Unternehmen in den Vergaben
bezuschlagt.
Die Gründe für die bisher wenig etablierte Zusammenarbeit lassen sich auf drei
Felder zusammenfassen: Undurchsichtigkeit, Kulturelles Unverständnis und wechsel-
seitig wahrgenommene Risiken.
Gegenseitige Undurchsichtigkeit: Für Start-ups ist nicht klar, was genau in den Aus-
schreibungsunterlagen gefordert und wie die Vergabeprozesse strukturiert sind.
Viele Dokumente müssen immer wieder ausgefüllt werden. Zudem behindern lange
Beschaffungszyklen die Wachstumspotenziale von Start-ups. Gleichzeitig sagt die
Verwaltung, dass Start-ups sehr gut im Marketing sind – dadurch ist unklar, was sie
wirklich können und was von dem Produkt bereits existiert oder bereits eingesetzt
wird.
Kulturelles Unverständnis: Ausschreibungen, die einen höheren organisatorischen
Aufwand verursachen, als inhaltliche Fragestellung zu forcieren, schrecken viele
Start-ups ab. Oft werden in verschiedenen Ausschreibungen von der gleichen Behörde
gleiche Unterlagen gefordert. Sätze wie „In der Verwaltung wird aber immer so aus-
geschrieben.“ sind für die Unternehmen schwer hinnehmbar, arbeiten sie selbst doch
anders und passen sich auf die Bedürfnisse der Kund*innen und Partner*innen an.
Auch auf der anderen Seite – der Verwaltung – verhindert der „cultural gap“ die
Zusammenarbeit: Mangelndes Fachwissen über den Tech-Markt macht es der Ver-
waltung schwer, den Überblick zu bewahren.
Wechselseitig wahrgenommene Risiken: Start-ups müssen schnell handeln: Wenn
sich der Prozess länger zieht oder sie „fallen gelassen werden“ ist das riskant für ihre
Existenz. Die Vertriebskosten sind vergleichsweise hoch. Das häufigste Argument aus
Sicht der Verwaltung ist, dass die Beauftragung von Start-ups, deren Bestehen von
weiteren Kapitalgeber-Runden abhängig ist, ein zu hohes Risiko bzgl. der Kontinuität
in der Leistungserbringung darstellt.
Es gibt viele Unterschiede zwischen Start-ups und Verwaltung. Risiken werden von
beiden Seiten gesehen. Und schlussendlich könnten beide Seiten fragen: Warum
sollten wir eigentlich zusammenarbeiten? Start-ups machen bisher kaum Umsatz mit
Aufträgen aus der Verwaltung. Die Verwaltung setzt auf Sicherheit. Und gleichzeitig
stehen wir vor einem großen Fachkräftemangel. „Über eine Millionen Fachkräfte
könnten dem öffentlichen Sektor im Jahr 2030 fehlen.“, sagt die Fachkräftestudie von
398 J. Janze
Digitale Transformation
Kollaborative
der öffentlichen Verwaltung Verwaltung
(Ausblick)
GovTech
Abb. 6 Digitale Transformation der öffentlichen Verwaltung. (Quelle: Eigene Darstellung, Weit-
entwicklung in Anlehnung an Dener et al. 2021, S. 3)
Potenzial im Unterschied – Wie sich Verwaltung und Start-ups … 399
5.1 Arbeitskultur
Die Arbeitskultur bezieht sich auf die Werte, Normen und Verhaltensweisen, die in
einer Organisation herrschen. Durch sie wird die Art und Weise zusammengefasst, wie
Menschen miteinander arbeiten und sich engagieren oder auch, wie die Führungskultur
aufgebaut ist. Elemente der Kultur sind Diversität, agile Arbeitsweisen, die Innovations-
kultur oder auch das gegenseitige Feedback.
3 Informationen zum Unternehmen „Shift Digital Government Solutions GmbH“ gibt es unter
https://shift-studio.de/shift-digital. Informationen zum Unternehmen „Digital@M“ gibt es unter
https://digital-at-m.de/.
400 J. Janze
arbeitende aus der Verwaltung mit z. B. Gründungserfahrungen). Durch das Teilen der
Perspektiven wird die gemeinsame Diversität gefördert.
5.2 Strukturen
Ein Unternehmen oder auch die Verwaltung kann auf verschiedene Weisen strukturiert
sein: funktional (entsprechend der Fachgebiete oder verschiedenen Fragestellungen), in
einer Matrix (mit parallel verlaufenden Hierarchieebenen), in Projekten oder als Netz-
werk. Die Arbeitsweisen der einzelnen Mitarbeitenden haben Einfluss auf die Strukturen.
Gleichzeitig hat jede Struktur einer Organisation Auswirkung auf Diversity.
Einzelne Organisationen, wie OTT (Orga Think Tank) öffnen sich, um Impulse nach
außen zu geben (z. B. über Podcasts).4
5.3 Prozesse
Wie bereits beschrieben, sind die Beschaffungsprozesse eine große Herausforderung für
die Zusammenarbeit und für die Nutzung des Potenzials von Start-ups und Verwaltung.
Die Forderungen beziehen sich auf diesen Prozess.
5.4 Strategie
Strategien sind Pläne oder Methode – sie helfen einer Organisation die Ausgangslage
zu beschreiben, ein Ziel zu definieren und die Schritte zu beschreiben, um dahin zu
kommen. Schlussendlich geht es um eine gemeinsame Sichtweise: über die Verwaltungs-
grenzen hinweg. Eine Fokussierung auf Innovation und Unternehmertum fördert neue
Ideen und Technologien. Gleichzeitig darf es nicht bei der Strategie bleiben. Ohne die
Umsetzung ist eine Strategie nichts wert.
6 Fazit
In Deutschland gibt es bereits erste Ansätze, die Verwaltung mit externen Sichten zu
bereichern: Bürger*innenbeteilungen oder Wettbewerbe, die für alle Unternehmen offen
sind. Diese ermöglichen die Potenziale aus beiden Welten – Verwaltung und Start-ups –
zu nutzen.
Auch in anderen Ländern entwickelt sich die Verwaltung weiter zu mehr Inklusion.
In Schweden wird das Konzept der „Gemeindeentwicklung“ umgesetzt, bei dem
Gemeinden und andere Akteur*innen zusammenarbeiten, um lokale Probleme zu lösen
und die Lebensqualität in der Gemeinde zu verbessern. „Malmö Innovation“ (Vgl.
Unops Global Innovation Challenge 2022 for Startups 2022) ist ein Programm der
Stadt Malmö, welches Start-ups und andere Akteure zusammenbringt, um gemeinsame
Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu entwickeln. In den USA gibt
Potenzial im Unterschied – Wie sich Verwaltung und Start-ups … 403
Literatur
Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023): GovTech – Der Staat der Zukunft ist
digital [online] https://www.de-hub.de/blog/post/govtech-der-staat-der-zukunft-ist-digital/.
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Dener, Cem/Hubert Nii-Aponsah/Love Ghonney/Kimberly Johns (2021): GovTech Maturity
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startupgenome.com/reports/gser2022. Zugegriffen: 21. Dezember 2022
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PricewaterhouseCoopers (2022): Fachkräftemangel im öffentlichen Sektor, PwC, [online]
https://www.pwc.de/de/branchen-und-markte/oeffentlicher-sektor/fachkraeftemangel-im-
oeffentlichen-sektor.html. Zugegriffen: 10. Dezember 2022
Statistisches Bundesamt (2021a): Destatis Arbeitsmarkt, [online] https://www.destatis.de/DE/
Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Publikationen/Downloads-Erwerbstaetigkeit/
statistischer-bericht-mikrozensus-arbeitsmarkt-2010410217005.xlsx?__blob=publicationFile.
Zugegriffen: 20. Dezember 2022
404 J. Janze
Zusammenfassung
Künstliche Intelligenz (KI) gilt als eine der Zukunftstechnologien für Kommunen.
Gleichzeitig leben wir in einer von Vielfalt geprägten Welt: Vielfalt beispielsweise mit
Blick auf die geschlechtliche Identität, die Herkunft oder die Religion und Weltan-
schauung. Der Beitrag beschreibt, welche Potenziale Kommunen im Einsatz von KI
sehen und geht sodann darauf ein, wie KI und Diversity im Sinne einer modernen
Demokratie zusammen gedacht werden müssen. Denn KI kann zum einen dazu
beitragen, Entscheidungen diskriminierungsfreier zu treffen. Sie kann Vorurteile
und Stereotypen aber auch verstärken. Dafür bedarf es frühzeitig eine gesellschaft-
liche Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie KI von der öffentlichen Hand
und Kommunen eingesetzt werden sollte und es braucht Managementinstrumente,
Prozesse und Strukturen, um einen Diversity-orientierten Einsatz von KI zu gewähr-
leisten. Erste Ansätze dafür beschreibt der zweite Teil des Beitrags.
A. Krellmann ( ) · M. Groß
Co:Lab e. V. Berlin, Berlin, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 405
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_31
406 A. Krellmann und M. Groß
Schlüsselwörter
Der Einsatz von KI ist also einer der zentralen Trends, um Kommunen zukunftsfähig zu
gestalten. Aber welche Rolle spielt vor diesem Hintergrund das Thema Diversity? Und
was haben Kommunen beim Einsatz von KI mit Blick auf Diversity zu berücksichtigen?
Diversity beschreibt zunächst einmal eine „Perspektivenvielfalt“ (KGSt 2022,
S. 3). Sie rückt die Individualität der Menschen in den Mittelpunkt und berücksichtigt
deren individuelle Erfahrungen, aktuelle Lebenssituationen oder Bedürfnisse. Dies
wird in einer globalisierten und zugleich zunehmend individualisierten Welt immer
wichtiger. In hochindustrialisierten Gesellschaften spielt in diesem Kontext die Theorie
des Pluralismus eine große Rolle: Der Pluralismus zielt auf ein freies politisches und
gesellschaftliches Zusammenleben in einer modernen Demokratie ab. D. h. unterschied-
liche Lebenskonzepte, Ideen und Interessen stehen gleichberechtigt nebeneinander.
Etwaige Konflikte werden in einem gesellschaftlich akzeptierten Aushandlungsprozess
ausgetragen bzw. gelöst (vgl. Woyke 2021). Um dies zu erreichen, ist zunächst ein
professioneller Umgang mit Diversity sowie eine dementsprechende Gestaltung des
gesellschaftlichen Zusammenlebens, aber auch der Unternehmen und Organisationen
gefragt. Ansätze und Maßnahmen dafür werden mit einem Diversity Management
umgesetzt (vgl. KGSt 2022, S. 3).
Diversity bedeutet also unter anderem „Vielfalt gestalten“. KI hingegen arbeitet viel-
fach mit Mustern, die sie auf Basis bekannter Daten analysiert und der Wahrscheinlich-
keitsrechnung folgend interpretiert. Dabei ist eine KI immer nur so gut, wie die Daten,
die ihr aus vergangenen Entscheidungen vorliegen. Denn eine KI wird mit einem
sog. Trainingsdatensatz trainiert und die ihr zugrunde liegenden Algorithmen ziehen
Korrelationen auf Basis dieses Datensatzes in Form von Entscheidungsregeln heran.
Wie genau sie mit diesen Datensätzen arbeitet, lässt sich aber durchaus beeinflussen
(vgl. Zweig 2019, S. 202). Die Arbeit mit „Mustern“ trifft also auf ein Konzept, das
Individualität groß schreibt: KI trifft auf Diversity. Oder umgekehrt: Diversity trifft auf
KI.
So viele Potenziale KI auch hat, sie hat auch ihre Schattenseiten. Sowohl im behörd-
lichen als auch im wirtschaftlichen Kontext gibt es mittlerweile zahlreiche Beispiele, die
gezeigt haben, dass KI diskriminieren kann.
408 A. Krellmann und M. Groß
In Österreich etwa wurde ein algorithmisches System zur Sortierung von Arbeitslosen
von Wissenschaftler*innen scharf kritisiert. Zwar durfte der Arbeitsmarktservice Öster-
reich (AMS) ein System einsetzen, um die Arbeitsmarktchancen von Jobsuchenden zu
bewerten. Expert*innen wiesen aber mehrfach darauf hin, dass Diskriminierungen nicht
ausgeschlossen seien (vgl. Kolleck & Orwat 2020, S. 47–49). So würde der Algorithmus
etwa Frauen offen benachteiligen, da sie aufgrund ihres Geschlechts niedrigere Chancen
prognostiziert bekommen, wieder Arbeit zu finden. Dies wurde vom AMS zwar zurück-
gewiesen, ließ sich aber nicht wissenschaftlich belegen, da der Faktor „Geschlecht“
stets in die Kategorisierung einbezogen würde. Selbst wenn die KI hier am Ende keine
Entscheidungen trifft, so sei laut der Wissenschaftlicher*innen zumindest eine Beein-
flussung der Sachbearbeiter:innen gegeben. Ein Lösungsansatz wird in einer ethischen
Evaluierung aller Systeme der öffentlichen Hand gesehen (vgl. Köver 2019).
Ein anderes Beispiel kommt aus den USA: Dort wurde ein algorithmisches Ent-
scheidungssystem (AES) namens COMPAS eingesetzt. Es wurde bei Risikoab-
schätzungen im Strafvollzug herangezogen. Diese Software beurteile das individuelle
Rückfallrisiko von dunkelhäutigen Straftäter*innen systematisch als zu hoch und
das der hellhäutigen Straftäter*innen als zu niedrig – so lautete der Vorwurf. Für die
Beurteilung werden Daten zum sozialen, ökonomischen und familiären Hintergrund
einer Person sowie zu Persönlichkeitsmerkmalen herangezogen, die teils durch Akten-
analyse, teils durch eine Befragung erhoben werden (Kolleck & Orwat 2020, S. 50).
In der Konsequenz schafften einige US-Richter entsprechende KI-Systeme ab (vgl.
Fesefeldt 2018, S. 26). Auch hier gilt es einen gesellschaftlichen Konsens zu finden:
Über das Fairnessmaß können nicht einzelne Entwickler*innen entscheiden, es braucht
eine „öffentliche und transparente Entscheidung“ (Zweig 2019, S. 225).
Es wird deutlich, dass der Einbezug von Faktoren wie beispielsweise Hautfarbe
oder Geschlecht problematisch sein kann, da die KI an dieser Stelle aufgrund von
Daten aus der Vergangenheit womöglich falsche und mit Bias behaftete Empfehlungen
für die Zukunft gibt. Diese „Bias“ (Vorurteil, Voreingenommenheit, Verzerrung) sind
den Menschen häufig nicht bewusst (sog. „Unconscious Bias“) und geraten so auch in
die Algorithmen der KI. Denn diese verfügt keinesfalls über eine eigene „Intelligenz“.
„Selbstlernend“ darf auch nicht dahingehend missverstanden werden, dass sie mensch-
liche Fehler aus der Vergangenheit hinterfragen und ausmerzen könnte. An dieser Stelle
müssen also ganz gezielt Maßnahmen ansetzen, die eine diskriminierungsfreie KI sicher-
stellen. Ansätze sind etwa die bewusste ethische Bewertung von Kriterien, mit denen die
KI arbeitet und evtl. auch der Ausschluss von solchen oder die systematische Gestaltung
des Prozesses der Entwicklung einer KI, die ausdrücklich nicht einzig der IT überlassen
wird. Wie mit sog. Bias in Algorithmen umgegangen wird, ist vielmehr eine gesellschaft-
liche Frage als eine technische.
Richtig entwickelt, trainiert und eingesetzt kann KI Diversity aber auch fördern.
Denn es sind ja die Menschen, die nicht frei von Vorurteilen sind und sich dadurch auch
– bewusst oder unbewusst – den Potenzialen von Diversity verschließen. Besonders
deutlich werden die Chancen von KI bei einer genaueren Betrachtung der Diversity-
Wenn Künstliche Intelligenz und Diversity aufeinandertreffen: … 409
Dimensionen, wie sie die Charta der Vielfalt vorschlägt. Die sieben Kerndimensionen
sind demnach das Alter, die ethnische Herkunft und die Nationalität, das Geschlecht
und die geschlechtliche Identität, körperliche und geistige Fähigkeiten, Religion und
Weltanschauung, die sexuelle Orientierung und die soziale Herkunft (Charta der Viel-
falt e. V. 2023). Der Einbezug von Daten in den Algorithmus einer KI, die auch nur
eine dieser Dimensionen betreffen, ist also systematisch und intensiv zu hinterfragen.
Vielfach spielen sie für den Sinn und Zweck einer KI-basierten Auswertung keine
Rolle. KI ermöglicht auf diese Weise beispielsweise die Personalauswahl, um Faktoren
wie Geschlecht, ethnische und soziale Herkunft und weitere zu bereinigen. Auf diese
Weise trägt sie dazu bei, den Prozess der Personalauswahl diskriminierungsfreier zu
gestalten. Bestenfalls werden Entscheidungsträger*innen sogar für „Unconscious
Bias“ sensibilisiert und Offenheit, Transparenz und Respekt werden durch den Einsatz
von KI gestärkt sowie „Verzerrungen“ minimiert. Zu beachten ist allerdings, dass auch
bei diesen sog. „sensitiven Daten“ ein einfacher Ausschluss nicht immer die richtige
Entscheidung sein kann, da Diskriminierung auch durch das Weglassen sensitiver
Informationen entstehen oder verstärkt werden kann, nämlich dann, wenn diese Eigen-
schaften ursächlich für unterschiedliches Verhalten sind (Zweig 2019, S. 216 ff.).
Die westliche Welt ist geprägt von einer diversen Gesellschaft. In der EU und in
Deutschland teilen die Menschen einen entsprechenden Wertekanon. Die öffentliche
Hand und so auch die Kommunen sind daher in einer besonderen Verantwortung,
wenn sie KI einsetzen: Sie müssen diesen Werten auch beim Einsatz der Technik
gerecht werden. Nur so lassen sich sowohl die Daseinsvorsorge für die Bürger*innen
als auch individuelle Leistungen der Verwaltung zukunftsfähig und im Einklang mit
einer modernen Demokratie gestalten. Wenn Kommunen KI also als eine „Schlüssel-
technologie“ betrachten, wie es eingangs auf Basis der Umfrage deutlich wurde, so
kommen sie nicht umhin, den gesamten Prozess des KI-Einsatzes Diversity-orientiert zu
gestalten und KI und Diversity zusammenzudenken. Das oberste Ziel muss daher eine
diskriminierungsfreie KI sein, die im Einklang mit Recht und Gesetz, aber auch mit
ethischen Gesichtspunkten eingesetzt wird. Letztere sind gesellschaftlich zu diskutieren.
Zu beachten ist, dass KI immer auch risikobasiert, d. h. mit Blick auf das Schadens-
potenzial zu betrachten ist. Eine recht simple Möglichkeit, algorithmische Ent-
scheidungssysteme anhand ihres Schadenspotenzials zu beurteilen, bietet die
Risikomatrix nach Zweig. Das Schadenspotenzial setzt sich dabei zusammen aus den
Schäden von Individuen, insbesondere bei Fehlurteilen der Maschine, und einem mög-
licherweise darüber hinausgehenden Schaden für die Gesellschaft bei Einsatz des Ent-
scheidungssystems (vgl. Zweig 2019, S. 234). Beispielsweise sind individueller und
gesellschaftlicher Schaden gering, wenn dem Nutzenden einer Online-Plattform eine
410 A. Krellmann und M. Groß
sexuellen Orientierung keine Berücksichtigung finden. Aus einem solchen Konsens wird
dann über die Diskussion und Verabschiedung in politischen kommunalen Ausschüssen
ein entsprechender gesellschaftlicher Standard.
Bei der Entwicklung solcher Leitlinien muss keine Kommune auf der „grünen Wiese“
beginnen. Die Ethik-Leitlinie für eine vertrauenswürdige KI kann beispielsweise heran-
gezogen und auf die individuelle Ausgangslage angepasst werden. Diese Leitlinie wurde
von einer Expert*innengruppe erarbeitet, die von der Europäischen Union eingesetzt
wurde (vgl. Europäische Kommission 2019). Hilfestellung für ein systematisches Vor-
gehen bietet in diesem Zusammenhang auch der KGSt-Prozesskatalog und die Methode
des Verwaltungsscreenings (vgl. KGSt 2019). Darüber können Entscheidungen und vor
allem Prozesse entsprechend der festgelegten Kriterien in der Leitlinie betrachtet und
analysiert werden.
Viele mögliche Sorgen und Herausforderungen mit dem Einsatz von KI sind nicht
von Anfang an erkennbar. Um diese nach Möglichkeit präventiv zu adressieren, sollte
eine strukturelle Verankerung gerade des Themas KI und Diversity erfolgen. Eine
solche Verankerung schafft Verbindlichkeit und verleiht diesen beiden wichtigen Themen
den entsprechenden Stellenwert in der Verwaltung, in der Politik aber auch in der ört-
lichen Gemeinschaft.
Eine Möglichkeit für eine solche strukturelle Verankerung ist beispielsweise ein
„Board der Vielfalt“, wie es die Initiative KIDD – KI im Dienste der Diversität – vor-
schlägt. Denn Fragen nach Fairness, Gerechtigkeit und den Dimensionen der Vielfalt
müssen von Menschen beantwortet werden, die die konkrete Situation und Umstände
beurteilen können. Diese Initiative ist im Oktober 2020 als vom Bundesministerium
für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördertes Forschungsprojekt unter dem Dach der
Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) gestartet (vgl. female.vision e. V. 2023).
Ein solches Board hat die Aufgabe, Bewertungskriterien für den Einsatz von KI zu
entwickeln, KI-Anwendungen mit Blick auf diese Kriterien zu testen und die Testergeb-
nisse mit einer Empfehlung an Politik und Verwaltung zu kommunizieren. In ein solches
Board der Vielfalt müssen daher Personen aus Politik und unterschiedlichen Bereichen
Verwaltung berufen werden. Dazu gehört beispielsweise die fachliche Expertise aus
Personalrat, Datenschutz, Gleichstellung, Orga, IT und Diversity. Darüber hinaus
braucht es aber auch Akteur*innen aus allen Bereichen des kommunalen Ökosystems,
d. h. insbesondere auch aus der Zivilgesellschaft. Nicht zuletzt ist darauf zu achten,
dass Menschen unterschiedlichen Geschlechts, sexueller Orientierung, Alters etc. dieses
Board repräsentieren. Nur so kann die erforderliche Wirkung und Akzeptanz für den Ein-
satz von KI erzeugt werden.
Wenn Künstliche Intelligenz und Diversity aufeinandertreffen: … 413
4 Fazit
Literatur
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Fesefeldt, J.: Künstliche Intelligenz im Personalmanagement. dgp Informationen 68, 6–36 (2018)
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Zweig, K.: Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl. Wo künstliche Intelligenz sich irrt, warum uns
das betrifft und was wir dagegen tun können. Wilhelm Heyner Verlag, München (2019)
Anika Krellmann, Co:Lab e. V. Berlin. Anika Krellmann ist Geschäftsführerin des Ver-
eins Co:Lab e. V. Hauptberuflich ist sie Referentin im Programmbereich Organisations- und
Informationsmanagement in der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement
(KGSt) und verantwortet Themen wie Digitalisierungsstrategien, Rollenkonzepte, Technologische
Trends sowie Digitale Souveränität und Open Source.
Marc Groß, Co:Lab e. V. Berlin. Marc Groß ist Co-Vorsitzender des Vereins Co:Lab e. V.
Hauptberuflich leitet er den Programmbereich Organisations- und Informationsmanagement
in der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) und Vertritt
dort den Vorstand. In dieser Rolle verantwortet er die Vision und die Strategie einer zukunfts-
fähigen kommunalen Digitalisierung und eines progressiven Organisations- und Informations-
managements.
Teil VII Schlussbetrachtung: Diversity und
Verwaltung zusammenführen
Diversity in der öffentlichen Verwaltung
– eine Zusammenfassung in 15 Thesen
Zusammenfassung
In diesem Kapital werden die zentralen Erkenntnisse aus den Fachbeiträgen dieses
Buchs zusammengefasst und weiterentwickelt. Die Erkenntnisse werden in Form
eines Manifest formuliert, welches 15 Thesen für ein zukunftsweisendes Diversity
Management in der öffentlichen Verwaltung umfasst.
Schlüsselwörter
J. Meister ( )
Freie und Hansestadt Hamburg, Hamburg, Deutschland
M. Hörmeyer
KGSt, Köln, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 417
Teil von Springer Nature 2023
J. Meister und M. Hörmeyer (Hrsg.), Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41702-4_32
418 J. Meister und M. Hörmeyer
Deutschland ist vielfältiger geworden. Den Verwaltungen von Bund, Ländern und
Kommunen kommt bei der Gestaltung der wachsenden gesellschaftlichen Vielfalt eine ent-
scheidende Rolle zu.
Als größter Arbeitgeber Deutschlands haben sie eine Vorbildfunktion und müssen
sich stärker als bisher für alle Bürgerinnen und Bürger – unabhängig von ihrer Herkunft
– öffnen. Unsere plurale Gesellschaft sollte sich in einer vielfältigen Verwaltung wider-
spiegeln. Davon haben alle Vorteile, denn vielfältig zusammengesetzte Verwaltungsbeleg-
schaften können oft viel zielgerichteter auf die Bedürfnisse und Anliegen unterschiedlicher
Bürgerinnen und Bürger eingehen. Verwaltungen müssen soziale Verantwortung über-
nehmen und wichtige demokratische Werte wie „Chancengleichheit“, „Gleichberechtigung“
und „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ im Alltag leben und stärken.
In den vergangenen Jahren konnte vieles angestoßen und umgesetzt werden, um
Behörden und Verwaltungen zu attraktiven Arbeitgebern für Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter unterschiedlichster Herkunft zu machen. Dies geschieht jedoch nicht von allein,
sondern erfordert aktives Handeln mit unterschiedlichen Maßnahmen. Auf den vielen guten
Erfahrungen und Ansätzen lässt sich aufbauen und weitere gemeinsame Schritte auf dem
Weg zu vielfältigen, offenen und inklusiven Verwaltungen gehen.
Das vorliegende Buch folgt diesen Prämissen und leistet einen Beitrag, jenes Handeln
und jene Maßnahmen in der Praxis zu fördern und vielfältige Erfahrungen und Ansätze
zu vermitteln. Wir sind überzeugt: Diversity und öffentliche Verwaltung gehören
zusammen.
In Teil 1 des Buchs erfolgte zunächst die Entwicklung einer theoretischen, zugleich
praxisorientierten Fundierung von Diversity. Diesem Buch liegt ein Diversity-Modell
zugrunde, welches die Vielfalt von Menschen 1) mit unterschiedlichen körperlichen
und geistigen Fähigkeiten, 2) unterschiedlichen Alters, 3) unterschiedlicher ethnischer
Herkunft und Nationalität, 4) mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, 5) mit
unterschiedlicher sozialer Herkunft und unterschiedlichen Lebenssituationen, 6) unter-
schiedlicher Geschlechter und unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten und 7)
unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen beschreibt. Diversity bedeutet,
diese Vielfalt von Menschen uneingeschränkt positiv wertzuschätzen und einen ganzheit-
lichen Ansatz zu verfolgen, der sich auf alle Dimensionen bezieht.
Eine offene, diverse und inklusive Gesellschaft anzustreben, bedeutet, dass Diversity
uns alle angeht. Die Bedeutung des Leitsatzes „Diversity geht uns alle an“ wird gleich-
Diversity in der öffentlichen Verwaltung – … 419
1 Der Gedanke hinter diesen Ansätzen beruht auf dem ursprünglichen „Allyship-Konzept“ aus
der Rassismusforschung. Über den Begriff Allyship wird inzwischen kontrovers debattiert. Im
Raum steht vor allem die Kritik der Vereinnahmung des Begriffs durch Weiße*, durch die ins-
besondere eine Reduzierung von Allyship zu einem bloßen „Label“ und eine Zweckentfremdung
von Allyship hin zu einer opportunen Selbstdarstellung erfolge, ohne dass das Handeln tatsächlich
verändert werde (vgl. Bonköst 2021, S. 2). Infolge dieser Kritik werden in Forschung und Praxis
inzwischen alternative Begriffsvorschläge vielfach diskutiert. Die Kritik richtet sich demnach
nicht an das theoretische Konzept von Allyship, sondern vielmehr an die Verfehlungen in der
Implementierung bzw. an die Zweckentfremdung des Begriffs. Vor diesem Hintergrund erfolgt hier
eine praxisorientierte Übertragung der theoretischen Fundierung des Konzepts, die weiterhin über
ein anerkanntes, normativ wertvolles und praktisches Gehalt verfügt, das auch für Diversity sinn-
stiftend genutzt werden kann, ohne sich den Begriff „Allyship“ eigen zu machen. Die Herausgeber
empfehlen für eine erstmalige Befassung mit dem Thema „Allyship“ das Kurzpaper von Bonköst
2021, in welchem der kritische Diskurs kompakt beschrieben wird.
420 J. Meister und M. Hörmeyer
werden (vgl. Charta der Vielfalt 2022, S. 3). Diversity in der öffentlichen Verwaltung
bedarf eines langen Transformationspfades, der schließlich sichtbare Wirkungen ent-
faltet, von denen alle gemeinsam profitieren. Zu diesem Zweck befassen sich die Teile
2–6 mit interdisziplinären Themengebieten, die miteinander eng verwoben sind und in
ihrer Gesamtheit zu einem ganzheitlichen Diversity Management in der öffentlichen
Verwaltung beitragen: Verwaltungskultur (Teil 2), Führungsverantwortung (Teil 3),
Verwaltungsorganisation (Teil 4), Personalmanagement (Teil 5) und Verwaltungs-
innovationen (Teil 6). Um die Erkenntnisse aus diesen Teilen zu verdeutlichen und daran
praxisorientiert anzuknüpfen, werden im Nachfolgenden „15 Thesen für ein zukunfts-
weisendes Diversity Management in der öffentlichen Verwaltung“ abgeleitet. Die
Erkenntnisse aus den Fachbeiträgen werden mit den konzeptionellen Ansätzen, welche
die Charta der Vielfalt für öffentliche Verwaltungen entwickelt hat, kombiniert und ver-
zahnt2 (vgl. Charta der Vielfalt 2017). Dieses Manifest trägt dazu bei, ein gemeinsames
Verständnis über Eckpunkte und Vorgehen bei der Implementierung eines Diversity
Management in der öffentlichen Verwaltung zu schaffen. Das Manifest erhebt keines-
wegs den Anspruch, 1:1 in der Praxis umgesetzt werden zu müssen. Es liefert viel-
mehr grundsätzliche Paradigmen für die strategische Entwicklung und Umsetzung des
Diversity Management, an denen sich orientiert werden kann.
These 1 – Diversity ist Kulturarbeit: Es geht nicht nur darum, eine vielfältige
Belegschaft aufzubauen, sondern auch wechselseitige Wertschätzung und
Empathie innerhalb der Belegschaft zu fördern.
Eine Verwaltung, die „Spiegelbild der Gesellschaft“ ist, ermöglicht die
Repräsentanz aller gesellschaftlichen Gruppen in der Belegschaft. Auf Basis dieses
Fundaments muss eine Verwaltungskultur gepflegt werden, die von wechselseitiger
Wertschätzung und Empathie für jede einzelne Person geprägt ist. Führungskräfte
wie auch Mitarbeitende müssen diese Paradigmen erkennen, teilen und leben.
Damit dies gelingt, müssen gemeinsam geteilte Werte, Normen und Symbole
entwickelt werden. Dieser Entwicklungsprozess gelingt nur partizipativ. Ziel
muss es sein, allen Mitarbeitenden und Führungskräften einer Verwaltung eine
Orientierung für ein vielfaltsförderndes Verwaltungsdenken und -handeln zu geben
sowie gleichzeitig kulturelle Perspektivwechsel und Austausche zu fördern.
2 DieHerausgeber bedanken sich noch einmal herzlich bei Ana-Cristina Grohnert und der Charta
der Vielfalt e. V. für die Unterstützung dieses Buchs.
Diversity in der öffentlichen Verwaltung – … 421
These 3 – Diversity braucht Mut: Nicht alles läuft von Anfang an gut und
richtig. Ein langer Atem wird die Entwicklung des Diversity Management
beflügeln.
Unterschiede aufgrund persönlicher Merkmale dürfen nicht mehr Anlass für
Ungleichbehandlung sein oder als Mittel der Hierarchisierung dienen, auch nicht
auf informeller Kulturebene, wo immer noch Diskriminierungen verschleiert statt-
finden. Im Diversity Management geht es häufig um sehr sensible Themen und
Erfahrungen. Vielen Menschen fällt es nicht leicht, beispielsweise über ihre Erleb-
nisse von Diskriminierung zu sprechen. Gleichzeitig tun sich auch Verwaltungs-
organisationen (genau wie privatwirtschaftliche Unternehmen) schwer damit, nach
innen und außen dazu zu stehen, dass es in der Organisation Missstände in Bezug
auf Diversity-Themen gibt. Dabei ist der Dialog über Erfahrungen und Missstände
das Fundament eines funktionierenden Diversity Management. Nur wenn klar und
offen adressiert wird, was nicht funktioniert und woran gearbeitet werden muss,
werden Entwicklungen für die Zukunft auch authentisch angestoßen. Der Weg zum
Idealbild, in dem Vielfalt die neue Verwaltungsnormalität darstellt, ist daher lang –
und erfordert Übung, Mut und langem Atem.
Unsere Gesellschaft ist im Wandel. Sie wird immer diverser und ist bereits heute von
vielfältigen Lebens- und Arbeitsformen geprägt. Diese vielfältige, offene und inklusive
Gesellschaft ist längst Alltagsnormalität, trägt zu unserer hohen Lebensqualität bei und
ist zugleich unsere große gemeinschaftliche Stärke. Der Wandel zu mehr Vielfalt ver-
dient deshalb in der öffentlichen Verwaltung eine starke Aufmerksamkeit und erfordert
neue Denk- und Arbeitsweisen, damit die öffentliche Verwaltung
Mit Diversity können wir die öffentliche Verwaltung nachhaltig stärken. Es ist deutlich
geworden, dass die öffentliche Verwaltung langfristig nur erfolgreich sein wird, wenn
sie die Vielfalt der Menschen anerkennt und nutzt. Die Vielfalt in der öffentlichen Ver-
waltung ist eine politische, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Chance.
Als Herausgeber freuen wir uns, dass Sie das Buch bis zum Abschluss gelesen haben.
Wir hoffen, dass wir Sie an der einen oder anderen Stelle wachrütteln konnten. Trotz
der Handlungsnotwendigkeit sollten Sie aber unbedingt „unaufgeregt“ und – in einem
angemessenen Maße – „gelassen“ bleiben. Diversity ist keine spontane, affektuelle
Hauruckaktion, sondern wird nur dann erfolgreich gestaltet sein, wenn Sie das Thema
empathisch, strukturiert und langfristorientiert angehen.
Lassen Sie uns diesen verantwortungsvollen Transformationsprozess gemeinsam
gehen – mit professioneller Expertise und selbstbewusster Entschlossenheit. Wir freuen
uns, von Ihnen zu hören.
Literatur
Bonköst, J. (2021). White Allyship: Keine Selbstbeschreibung, sondern Handeln. Berlin: Institut
für diskriminierungsfreie Bildung.
Charta der Vielfalt (2017). Vielfalt, Chancengleichheit und Inklusion – Diversity Management in
öffentlichen Verwaltungen und Einrichtungen. Berlin: Charta der Vielfalt e. V.
Charta der Vielfalt (2022). Factbook Diversity. Berlin: Charta der Vielfalt e. V.
Trunk, M. (2023). Dinge, die ich am Anfang meiner Karriere gerne gewusst hätte: Warum im
Berufsleben nicht alle die gleichen Chancen haben - und wie wir uns trotzdem durchsetzen.
München: Penguin Verlag.
Dr. John Meister ist Experte für Reform- und Transformationsthemen in der öffentlichen Ver-
waltung. Er verfügt über breite interdisziplinäre Verwaltungserfahrung von über 15 Jahren und
war u. a. in Sozial-, Finanz-, Justiz-, Digitalisierungsressorts sowie auf Staatskanzleiebene tätig.
Er leitet aktuell das Referat „Inklusive Jugendhilfe“ in der Hamburger Sozialbehörde und ver-
antwortet die inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe. Daneben ist er Dozent für
Public Management mit Schwerpunkt in sozialwissenschaftlichen Themen an der Hochschule für
Angewandte Wissenschaften Hamburg.