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Stefan Stenzel

Die Zukunft des


Coaching-Business
Neuausrichtung an der Lebens- und
Arbeitswelt des Klienten von morgen
Die Zukunft des Coaching-Business
Stefan Stenzel

Die Zukunft des Coaching-­


Business
Neuausrichtung an der Lebens- und
Arbeitswelt des Klienten von morgen
Stefan Stenzel
Karlsruhe, Deutschland

ISBN 978-3-662-64420-1    ISBN 978-3-662-64421-8 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-662-64421-8

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Meinem Sohn und seiner Generation Z
Geleitwort: Von der Komplexität der Welt hin zu
der Veränderung des Coachings

Dr. Uwe Böning, Pionier des Business-Coachings in Deutschland


So wie diese Überschrift lautet, hätte auch das Buch von Stefan Stenzel lauten können.
Nur zwei Worte wären noch anzufügen, um den Satz noch etwas spezifischer zu machen:
„Arbeit“ und „unumgänglich“. Somit würde der Satz lauten: „Von der Komplexität der
Arbeitswelt hin zu der unumgänglichen Veränderung des Coachings.“ Und das ist die
Hauptbotschaft des Autors.
Also folgt daraus ein mit vielen Themen, Erkenntnissen, Konzepten, Überlegungen und
auch Zukunftsphantasien gespicktes Buch, das von dem Leser einiges verlangt: Interesse.
Durchhaltekraft. Englisch, nicht Latein. Aber es schult auch Perspektivwechsel, macht
Rückblicke und Voraussagen. Und es schützt den Leser nicht vor weitreichenden Erkennt-
nissen und – soweit das geht – auch nicht vor den Zumutungen der Zukunft. Denn diese ist
vielen Beteiligten und Betroffenen noch längst nicht so klar, wie das Stefan Stenzel sehr
nachvollziehbar beschreibt.
Hier kommt ihm etwas entgegen, was eine Voraussetzung für seine Sichtweise und
seine nicht leicht zu nehmenden Aussagen ist: Er ist seit langem bei SAP, und dort u. a. als
Experte für externes Coaching zuständig. Dies prägt seinen Blick. Das heißt z. B., seine
strikte Ausrichtung knüpft nicht einfach an klaren Problemen oder Zielen von Coaching-­
Klienten an, wie das oft üblich ist unter Coaches und jenen, die das erst noch werden
wollen. Vielmehr an einer unternehmerischen Perspektive eines deutschen, jedoch über
die Jahrzehnte amerikanisch geprägten Wirtschaftsunternehmens, das an dem Stoff arbei-
tet, an dem wohl unsere Zukunft ausgerichtet ist – an der IT, der Digitalisierung, der tech-
nischen Revolution, die unser Leben in den industrialisierten Ländern völlig verändern
wird. An radikalen Wachstumszielen der Zukunftsbauer. Er kennt die Kultur eines inter-
nationalen Großunternehmens und den Atem eines internationalen Wettbewerbs. Die
damit verbundenen Chancen, aber auch die zu erlebenden Probleme und Gefahren dieser
Entwicklung.
Aus dieser Perspektive setzt er sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen aus-
einander und überträgt die Spielregeln dieses Wirtschaftsunternehmens auf die ge-
sellschaftlichen Prozesse – und bestimmt von dort her die Zukunftsanforderungen und die

VII
VIII Geleitwort: Von der Komplexität der Welt hin zu der Veränderung des Coachings

aus ­seiner Sicht zu erwartenden Veränderungen, die letztlich auch die Anforderungen an
Coaching auslösen.
An dieser Konsequenz wird man nicht vorbeikommen, ob einem das schmeckt oder
nicht. Diese Radikalität, die Anforderungen und Bedingungen von der Kundensicht her zu
verstehen, zu beschreiben und das auch noch öffentlich zu äußern, das macht einen Reiz
dieses Buches aus, das bei allen unvermeidbaren Limitierungen auf jeden Fall eine Be-
reicherung darstellt: mit seiner Perspektive, mit seinen vielen beachtenswerten Aspekten,
die er in Überfülle anzusprechen gewohnt ist, und mit der Beschreibung der künftig zu
erwartenden Arbeitswelt. Vom Kunden her zu denken, was er braucht und erwartet – ob
gesagt oder ungesagt, ob bewusst oder unbewusst, ob angenehm oder unangenehm. Diese
von Stenzel praktizierte Klarheit ist weder in der Coaching-Branche noch in vielen ande-
ren Arbeits- und Lebensbereichen üblich. In der Coaching-Szene könnte dies leicht als
Radikalität und Überforderung gewertet werden, die auch zu Ablehnung führen könnte.
An den Wettbewerb mit China zu denken oder an die alle Lebensbereiche überwältigende
Digitalisierung löst nicht nur eine rational leicht zu erreichende Überzeugungsbereitschaft
aus, sondern bei manchen Menschen auch schnell die Frage: „Wollen wir das?“
Diese Frage ist ja der Ausdruck jener Geisteshaltung und Gemütsverfassung, die die
quasi-religiösen Zukunftspropheten gerne vereinfachend „Zukunftsverweigerung“ nennen.
Stenzel setzt sich damit aber nicht selbstquälerisch auseinander, sondern erfrischend
selbstverständlich, und setzt seine Punkte und Schlussfolgerungen.
Ich habe im Buch viele anregende Informationen wie eigene Gedankengänge gefunden,
also mit großem Gewinn gelesen. Selbstverständlich habe ich auch inhaltliche Punkte ge-
funden, die zur Ergänzung anregen oder gar zum Widerspruch reizen, z. B. Stenzels Zu-
kunftsfokussierung auf das interne Coaching.
Neugierigen Lesern sei gesagt: Lassen Sie sich nicht von dem aus meiner Sicht wenig
erotischen Inhaltsverzeichnis abschrecken, dessen Aussehen und repetitive Struktur
(Klient, Service, Coach/Coaching) an Fahrstuhl-Aushänge in Hochhäusern erinnert: Dafür
steht im Inneren des Buches so viel an interessanten Aspekten und Überlegungen – be-
sonders im Kap. 5 –, die mit großer Kenntnis beschrieben sind, dass ich einfach allen
Coaching-­Profis und denen, die mit Coaching etwas gestalten wollen, sage: Lesen. Un-
bedingt lesen! Und noch besser: Unbedingt darüber auseinandersetzen! Denn die Zukunft
kommt auf uns zu, ob wir wollen oder nicht.

Geschäftsführender Gesellschafter der BÖNING-CONSULT GmbH, F. a. M., Senior-­


Business Coach im Topmanagement, Frankfurt a. M., Deutschland

Frankfurt a. M., Deutschland Uwe Böning


September 2021
Geleitwort

Prof. Dr. Berninger-Schäfer, Wissenschaftsvertreterin und Pionierin des Online-­


Coachings
Coachs erarbeiten mit ihren Klientinnen und Klienten Zukunftsvisionen, stimmige
Ziele und kreative Lösungsmöglichkeiten, um diese Ziele zu erreichen. Sie arbeiten mit
vielfältigen Perspektiven, berücksichtigen systemische Kontexte, steuern professionelle
Prozesse und nutzen dafür ein breites Methodenrepertoire auf einer ethisch und wissen-
schaftlich fundierten Basis.
All dies sollte selbstverständlich sein im professionellen Coaching. Somit stellt sich die
Frage, inwiefern die Profession Coaching selbst Zukunftsvisionen, stimmige Ziele und
kreative Lösungsmöglichkeiten zur Erreichung dieser Ziele angesichts der aktuellen ge-
sellschaftlichen Veränderungen nutzt. Otto Scharmer spricht in seiner Veröffentlichung
„Theorie U“ darüber, wie wichtig es ist, von der Zukunft her zu denken, damit schöpferi-
sche Prozesse möglich werden. Doch um von der Zukunft her zu denken, ist es wichtig,
den Ausgangspunkt zu kennen.
Hierfür liefert das Buch von Stefan Stenzel eine multiperspektivische, differenzierte
und wertvolle Bestandsaufnahme. Es ruft dazu auf, über eine Zukunft nachzudenken, die
vor wenigen Jahren noch gar nicht vorstellbar war, es sei denn von Science-Fiction-­
Autoren. Der Autor spricht von einem Paradigmenwechsel und weist darauf hin, dass
etwas Neues beginnt und beginnen muss, da wir mit alten Maßstäben, Gewohnheiten und
Sichtweisen an eine Grenze gekommen sind. Angesichts der Vernetzung der Menschen
durch technische Möglichkeiten, wie es noch nie zuvor der Fall war, ist auch die Coaching-­
Branche aufgerufen, sich vernetzt, interaktiv und integrierend den neuen Heraus-
forderungen zu stellen.
Stefan Stenzel ist mir seit vielen Jahren als engagierter und hoch professioneller Kol-
lege bekannt, der sich mit Offenheit, Interesse und einem breiten Wissens- und Erfahrungs-
schatz mit Coaching, seiner Entwicklung, seiner Fundierung und organisationalen Ein-
bettung auseinandersetzt.
Mit diesem Buch teilt er mit seiner Leserschaft sein persönliches Engagement und
Know-how, um Coaching in eine Zukunft zu führen, die diskursiv in der Coaching Com-
munity gestaltet werden sollte. Hierfür gibt er vielfältige, wertvolle Impulse und

IX
X Geleitwort

I­nspirationen und schafft den Brückenschlag zwischen der persönlichen Erfahrungswelt


eines Profis mit einem breit gespannten Blick auf grundlegende Veränderungen durch
technische Möglichkeiten, organisationale Einflüsse, gesellschaftliche Veränderungen und
der psychologischen Perspektive auf das Individuum mit seinen Werten, Bedürfnissen,
Ansprüchen, Erlebenswelten und Verhaltensweisen.
Er richtet den Blick auf den zukünftigen Arbeitsmarkt und auf Deutschland in seiner
globalen und wirtschaftlichen Verantwortung und beschreibt verschiedene Szenarien mit
metaphorisch gehaltvollen Überschriften, die den zu erwartenden gesellschaftlichen Ver-
änderungen Rechnung tragen.
Stefan Stenzel betrachtet die aktuelle Situation gesamtgesellschaftlich, politisch, öko-
nomisch und ökologisch aus einer soziologischen und psychologischen Perspektive. Er
spricht von einer Zeitenwende, einem epochalen Umbruch der aktuellen gesamt-
gesellschaftlichen Situation, die durch Nationalismus, Populismus, Kriegsszenarien sowie
ökonomische und ökologische Katastrophen gekennzeichnet ist. Ein weiterer Treiber der
Zeitenwende ist der rasante technologische Fortschritt, der zur zunehmenden Digitalisie-
rung aller Lebens- und Arbeitsbereiche führt, auch des Coachings. Hier sind insbesondere
die Datenverarbeitungsmenge und -geschwindigkeit sowie die globalen Verbindungs-
möglichkeiten Treiber der Veränderung. Dies betrifft z. B. die Rolle von Plattformen im
Coaching, der Digitalisierung von Coaching-Abläufen bis hin zum Einsatz Künstlicher
Intelligenz. Dadurch verändern sich die Zielgruppen des Coachings, die Steuerung von
Coaching-­Prozessen, die Beauftragungsprozesse, die Marktchancen von Coaching-An-
bietern, die Business-Modelle und auch das methodische Vorgehen, z. B. durch den Ein-
satz von interaktiven Online-Tools.
Die Veränderung der HR-Technologie spiegelt sich in besonderem Maße im Zu-
sammenspiel zwischen Organisation, Rollen, Arbeitsgestaltung und Individuum wider.
Zum digitalen Leben gehören die Neugestaltungen dieser Bereiche, aber auch die persön-
liche Identitätsveränderung und -darstellung mit der Gefahr der Entgrenzung und Selbst-
entfremdung, auch für Klienten und Coachs. In Menschen wird zwar investiert, z. B. in
ihre Gesundheit als Leistungsträger, sie werden aber auch „materialisiert“ im Sinne von
vermessen, analysiert, in Zahlen-Daten-Fakten codiert und prognostiziert.
Der Autor ruft dazu auf, diesen großen Umbruch wahr- und ernst zu nehmen, sich mit
seinen disruptiven Folgen auseinanderzusetzen und die Konsequenzen für die Coaching-­
Branche werteorientiert und verantwortungsvoll zu gestalten. Dies verlangt nach einem
Mindset, welches eine hohe Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Kontextbedingungen
und eine hohe Selbststeuerungskompetenz ermöglicht. Diese Anforderung gilt sowohl für
Coaches als auch für die Themen im Coaching. Der Autor geht auf das Konzept der „refle-
xiven Lebensführung“ ein als die angemessene Anpassungsfähigkeit an die verschiedenen
Dimensionen des modernen Lebens verbunden mit einer ganzheitlichen Betrachtungs-
weise dessen, was Mensch-Sein in unserer Zeit ausmacht und wie dies im Sinne einer
gesunden, werte- und sinnerfüllenden Lebensgestaltung aussehen könnte. Das Manuskript
ist ein Plädoyer dafür, die veränderten Unternehmens-, Arbeits- und Lebenswelten in das
Coaching mit einzubeziehen. Dies betrifft z. B. die sich ausdifferenzierenden und viel-
Geleitwort XI

fältigen Varianten von Beschäftigungsverhältnissen, die hierfür nötige Kompetenzent-


wicklung und die Führungsmodelle, welche der Autor in ein Metamodell der Führung und
des Coachings einmünden lässt.
Möge das vorliegende Buch nicht nur eine große Leserschaft gewinnen, sondern auch
Wegweiser sein für die Profession Coaching und ihre Zukunftsfähigkeit. Dieses Buch in-
spiriert, ermuntert und gibt reflexive und praktische Hilfestellungen für die Co-Kreation
von Coaching als zukunftsfähiger Serviceleistung.

Professorin an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim,


Gründerin und geschäftsführende Gesellschafterin der CAI GmbH, Inhaberin des
Karlsruher Instituts für Coaching, Führung und Gesundheit, Karlsruhe, Deutschland
Karlsruhe, Deutschland Elke Berninger-Schäfer
September 2021
Geleitwort

Daniel Vonier, SAP SE


Als mir Stefan Stenzel die Unterlagen mit der Bitte um die Verfassung eines Geleit-
wortes übergab und ich mir diese durchlas, war es für mich sehr erfreulich zu sehen, dass
diesmal offensichtlich – ganz i. S. unseres Hauses und unserer Unternehmenskultur –
Innovationsimpulse nicht nur aus dem Produktbereich, sondern aus dem HR-Bereich der
SAP SE in den Markt ausgehen würden.
Selbst lange Jahre in anderen Unternehmen u. a. für dieses Thema im Bereich Leader-
ship Development zuständig, war ich nach dem Studium des Inhaltsverzeichnisses auch
erfreut zu erkennen, dass es sich überdies um ein Buch mit sehr starkem Businessbezug
handelt. Ferner, dass das Thema vom Endkunden her in seiner sich in den letzten Jahren
dramatisch wandelnden Arbeits- und Lebenswelt gedacht wurde. Weiterhin wurde es mit
einem multiperspektivischen Ansatz konzipiert.
Denn ganz wie bei der SAP SE haben diese innovativen Impulse Tradition. Zwar rei-
chen diese nicht – wie bei der Firma insgesamt – nun fast schon 50 Jahre zurück. Aber
nach Angaben von langjährigen Kolleg:innen (ich stieß erst 2019 zur SAP SE) verbinden
sich diese, wenn es um das Thema „externe Coaching Services“ geht, seit 2001 eindeutig
mit dem Namen des Autors. Ausgehend von einer Liste von sechs Namen von Coaches im
Anfangsjahr 2001, baute dieser im Rahmen seiner thematischen Verantwortung für die
deutsche Führungskräfteentwicklung als neuer Mitarbeiter der damaligen „SAP Uni-
versity Germany“ u. a. ein komplettes Servicepaket mit einer schnell wachsenden Anzahl
an Freelancer-Coaches für das untere und mittlere Management auf. Parallel dazu wurde
2003 in einer dezentralen PE-Abteilung der Grundstein für unseren heutigen, global
ca. 650 Coaches umfassenden und vom ICF Chapter Germany bereits zweifach aus-
gezeichneten, internen Coach-Pools gelegt. Einer Umstrukturierung von HR folgend,
transformierte Herr Stenzel 2011 das nationale Angebot mit einem damals noch seltenen
Serviceanbieter mit einem nationenübergreifenden Coach-Pool in ein globales Portfolio,
welches bis heute genutzt wird. 2017 wurde das Entwicklungsangebot vom Autor auf die
spezielle Zielgruppe des Top Management bis hin zum Vorstand erweitert und durch
das maßgeschneiderte Angebot eines Executive-Team-Coaching und ein spezielles
Präsentations-­Coaching erweitert. Bei letzterem freuen wir uns wiederum, uns die neu-

XIII
XIV Geleitwort

esten ­Entwicklungen der VR-Technologie auf diesem Gebiet zunutze machen zu können.
Ganz i. S. eines IT-Unternehmens werden wir nun ab 2022 den Service von einem Digital
Coaching Provider, d. h. von einem Plattformanbieter, unterstützen lassen. Obwohl sich
damit die eigentliche Arbeit zwischen Coach und Coachee nur geringfügig ändert, ist es
der neue Distributionsweg, welcher, bei allen Herausforderungen hinsichtlich des Daten-
schutzes, insbesondere der nächsten Generation an Mitarbeitern bzw. deren geänderten
Kommunikations- und Konsumgewohnheiten gerecht werden soll.
Schaut man in die Gegenwart, bzw. wagt wie Stefan Stenzel einen Blick in die Zukunft
des Coaching-Business, sind die von ihm aufgeführten Rahmenthemen nicht nur in unse-
rem eigenen Hause mehr als relevant. Vielleicht mit einem Unterschied, dass die VUCA-­
Welt in der IT-Branche nicht das „new normal“, sondern eher das „old normal“ darstellt.
Selbstredend sind die vom Autor angesprochenen Veränderungen unserer HR-Software
(SAP SuccessFactors) an die Entwicklungen bzw. Bedarfe unserer Kunden und deren VU-
CA-Welten ein wichtiger Teilaspekt unseres Kerngeschäftes. Wie viele andere Großunter-
nehmen arbeiten auch wir z. B. gerade an den sich durch den massiven „Brain-Drain“ der
in Rente gehenden Babyboomer-Generation ergebenden Herausforderungen, die auf
Wunsch natürlich auch von entsprechenden Angeboten unseres internen oder externen
Coach-Pools begleitet werden. Durch unsere sehr dynamischen Organisationsstrukturen
gilt Gleiches auch für die Themen „Lernen“, „Karriere“ bzw. High-Potential-Entwicklung
und die damit einhergehende Diskussion um die zukünftig benötigten Skills & Competen-
cies und wie diese zeitgemäß erworben werden können. Geht es dabei um das Thema des
lebenslangen Lernens, gibt hoffentlich eine neue Initiative „Learning.Circle.Experience“
allen Interessierten vielfältige Anregungen. Ganz oben auf der HR-Agenda stehen seit
Jahren im Rahmen unserer umfangreichen „Diversity & Inclusion“-Aktivitäten auch die
insbesondere für IT-Unternehmen in Bezug auf die Rahmenbedingungen (zu wenige
Frauen studieren Informatik) sehr herausfordernden Themen „Frauen in der IT-Branche“
bzw. der unweigerlich damit zusammenhängende Aspekt „Frauen in Führungspositionen“.
Was Post-COVID- oder „New Work“ anbelangt, stellen wir unseren Mitarbeitern mit
unserem neuen, vertrauensbasierten Homeoffice-Programm „Pledge to Flex“ weitgehend
frei, wo, wann und wie sie arbeiten wollen, und sorgen parallel für ein entsprechendes
IT-Equipment, welches diese selbstbestimmte Arbeitsweise auch technisch ermöglicht.
Das Pilot-Programm „Focus Friday“ soll zu einem Überdenken der Meeting-Kultur und
damit indirekt zur Reduzierung der allseitig beklagten „ZOOM-Fatigue“ beitragen. Unser
quartalsweise erscheinendes und von HR herausgegebene Magazin „How to Home Of-
fice“ gibt darüber hinaus weitere Anregungen, wie das Arbeiten im Homeoffice mit seinen
vielfältigen Facetten optimiert werden kann. Die mit dem Thema „Homeoffice“ ver-
bundenen gesundheitlichen Aspekte werden u. a. durch zahlreiche Programme unserer
sehr breit aufgestellten „Global Health“-Abteilung präventiv wie kurativ unterstützt. Für
unser aktuell wichtigstes, d. h. strategisches Thema – das des Cloud-Business bzw. des
damit einhergehenden, sogenannten „Cloud-Mindset“ – deuten unsere aktuellen, jedoch
eher langfristig angelegten Projekte „Unlearning Hierarchy“ und Entwicklungsprogramme
für Führungskräfte unter dem Motto „Leadership is a Mindset – not a formal role“ auf die
Geleitwort XV

von Herrn Stenzel im Kapitel „LeadersSHIFT“ skizzierten Szenarien in der von uns zu-
künftig angestrebten Führungskultur hin.
Vielleicht oder hoffentlich auch inspiriert durch sein oben beschriebenes Arbeitsum-
feld bei der SAP SE, leistet Stefan Stenzel mit diesem Buch daher wertvolle Trans-
formationsarbeit zwischen Einkäufer bzw. Kunden/Coachees und Coaching-Anbieter –
könnte man das Buch auch als eine wichtige Kundenstimme in einem von Coaches
durchgeführten Design-Thinking-Workshop zum Produkt „Coaching der Zukunft“ sehen.
In diesem Sinne bleibt mir nur noch, Herrn Stenzel für sein Buch intensive Resonanz
im Markt zu wünschen. Auf dass wir Firmenvertreter dort auch in Zukunft externe
Coaching-­Services vorfinden, welche uns in unseren Themen unterstützen bzw. auf der
Höhe der Zeit und damit für uns als Einkäufer und Nutzer interessant sind, und die SAP
SE insgesamt dadurch ihre Kunden auf ihrem Weg in eine erfolgreiche Zukunft unter-
stützen kann.

Global VP, People & Organizational Growth, SAP SE, Walldorf, Deutschland
Walldorf, Deutschland
September
Daniel 2021 Vonier
Vorwort

Wurde auf den Coaching-Fachtagungen und -Kongressen der letzten Jahre die „Zukunft
des Coachings“ thematisiert, geschah dies oft mit einer starken Einengung auf die Einsatz-
möglichkeiten und Wirksamkeitsstudien verschiedener digitaler Medien in der Coach-­
Coachee-­Interaktion. Ferner wurden Veränderungen eher aus der Coach- als aus der Coa-
chee-, d. h. Kunden-/Klienten- und Umwelt-/Marktperspektive gedacht. Der Kunde resp.
Coachee in seiner Arbeits- und Lebenswelt existierte scheinbar für manche Coaches nicht.
Es scheint fast so, als wäre einigen Business-Coaches das Interesse an der sich ändernden
Business-Welt ihrer Klienten verloren gegangen. Im Rahmen der Kompetenzanforderung
für Coaches nennt man so etwas Feldkompetenz. Dies ist umso verwunderlicher, da viele
der Fragestellungen der Klienten genau durch diese Umwelt bzw. deren Wahrnehmung
angestoßen und das systemische Denken von manchen Coaches wie eine Monstranz vor
sich hergetragen wird.
Um jedoch umfassender abzuschätzen, wie ein zeitgemäßer Service „Coaching“ in
den kommenden 10–20 Jahren aussehen könnte, ist es notwendig, – neben den zukünftigen
Einflüssen auf die direkte Interaktionsgestaltung – weitere Entwicklungen hinsichtlich der
Demografie wie auch der Digitalisierung zu berücksichtigen, d. h. die dahinterliegenden,
grundsätzlichen technologischen Innovationen (z. B. Big Data, Cloud, Hyperkonnektivi-
tät etc.) auf der Klientenseite einzubeziehen. Ferner wird in diesem Zusammenhang von
den damit verbundenen ethischen Herausforderungen bzw. der (Neu-)Definition des
„Menschlichen“ und der Humanität zu sprechen sein. Eine weitere, zentrale Fragestellung
in diesem Kontext ist, warum wir überhaupt die Digitalisierung im Coaching (nicht) ein-
beziehen wollen/sollen, bzw. die nach der dahinterliegenden Motivation. Was sagt das
alles über uns Coaches aus?
Das Buch umreißt damit eine Art „Coaching 4.0“, welches jedoch einmal nicht
aus der dyadischen Perspektive seiner Hauptakteure, Coach und Coachee,1 skizziert
wird, sondern aus der eines Beraters und unternehmensinternen Service-Designers

1
Obwohl der Begriff „Klient“ oder „Kunde“ – insbesondere im Rahmen des Begriffes „Dienstlei-
tung“ – sich mit etwas Passivem oder gar Rezeptivem verbindet und im Coaching-Kontext daher
nicht stimmig ist (der Coachee oder Coaching-Partner sollte eine aktive bzw. co-kreative Rolle
haben), soll er hier bewusst verwendet werden, um die Business- Perspektive des Buches zu betonen.

XVII
XVIII Vorwort

(z. B. ­Personalentwickler). Die Basisdaten für die neuen „Features and Functions“ im
Rahmen eines potenziellen „Product Relaunch“ stammen dabei aus den wahrgenommenen
Veränderungen und Tendenzen der Arbeits- und Lebenswelt i. w. S. und eben nicht nur aus
dem Umfeld von Coaches oder (der HR-Abteilung in) Unternehmen.
Schon jetzt sei darauf hingewiesen, dass der Coach auch in Zukunft aller Wahrschein-
lichkeit nach keine eierlegende Wollmilchsau sein muss oder eines fernen Tages komplett
von „Robocoaches“ ersetzt werden wird. Coaches (wie auch alle anderen Zeitgenossen)
werden jedoch nicht umhinkönnen, sich intensiver mit den wirtschaftlichen und den sie
begleitenden, technischen Neuerungen zu beschäftigen. Definierte sich der „Business-­
Coach“ bisher eher über die anvisierte oder vornehmlich bediente Kundengruppe, ist nach
Ansicht des Autors zukünftig ein tieferes Verständnis der neuen Lebens- und Arbeitswelt
der Erwerbstätigen unerlässlich, um bei den kommenden Klienten mit ihren enorm wach-
senden und immer mehr Lebensbereiche umfassenden Anforderungen an das Selbst-
management überhaupt noch glaubhaft ankoppeln zu können. Die hier geforderte
Glaubwürdigkeit wird – wie schon immer – dann am größten sein, wenn in den kommen-
den Jahrzehnten auch die Coaches ihr eigenes Coaching-Business zumindest in Teilen
den Markt- und Kundenerwartungen einer neuen Generation anpassen.
Letztere sind z. B. durch „To go“-Angebote, Identitäts- und Realitätsvielfalt, hohe
Mobilität, kürzere Aufmerksamkeitsspannen, permanent verfügbare und sehr nutzer-
freundliche Smartphone-Anwendungen und IT-Zahlverfahren geprägt. Diese neuen
Kundengenerationen Y (ca. ab 1980) und Z (ca. ab 1995) sind z. B. „always on“, sehr gut
vernetzt, teilen sich gerne mit bzw. teilen (z. B. Bewertungen) schnell mit anderen. Sie
schätzen einfache Prozesse, sind eher ungeduldig, mittels Messenger-Diensten und Feeds
stets informiert, durch permanente Vergleichsmöglichkeiten preissensitiv und wenig
markenloyal. Mit ihrem Wissen um den permanenten bzw. akzeptierten Datenabfluss bei
jeder Nutzung ihrer Endgeräte erwarten sie im Gegenzug einen stark individualisierten
Servicezuschnitt. Dass bei all dem der Spaß und die Umwelt nicht zu kurz kommen dür-
fen, versteht sich von selbst! So weit die zugegebenermaßen sehr grobe Skizze der
neuen Kunden.
Doch der bei dieser Generation allseits erwartete Spaß soll sich dabei natürlich nicht
nur auf die Rolle des privaten Konsumenten und gewerblichen Produzenten bzw. Erwerbs-
tätigen beschränken. Denn diese scharfe inhaltliche, zeitliche und räumliche Rollenteilung
wird es ohnehin zukünftig immer seltener geben. Die Wortneuschöpfung aus „Produzent“
und „Konsument“ zum „ProSument“ ist dafür ein schöner Beleg. Damit ist potenziell
jedoch auch die heute noch proklamierte Begrifflichkeit des „Business-Coaching“ (DBVC
e.V.) in einem polarisierenden Sinne eigentlich nicht mehr passend. „Life-Coaching“ –
oder Ähnliches – wäre daher wohl treffender, wäre wahrscheinlich aber bei Teilen der
heutigen Leserschaft dieses Buches (im Gegensatz zur USA) in der Breite vielleicht je-
doch (noch) nicht anschlussfähig. Allgemeiner Erwartungsmaßstab für diese Anschluss-
fähigkeit auch von Coaching-­Dienstleistungen sind somit die Serviceleistungen von Goo-
gle, Amazon, eBay, Facebook, Netflix, Spotify, Uber und Konsorten. Deren Entwicklung
Vorwort XIX

sowie neue, digitale ­Dienstleistungen am Markt stellen zukünftig eine permanente Heraus-
forderung für jeden Anbieter dar und sollten daher wachsam beobachtet werden.
Ursache bzw. Kontext für diese veränderten Kundenerwartungen ist die sogenannte
„Internet-, New oder Digital Economy“. In diesem Kontext gilt es zwei weitere Begriffe
näher zu beleuchten: Disruption und Plattform. Disruption beschreibt dabei einen asym-
metrischen Wettbewerb zwischen z. B. verschiedenen Geschäftsmodellen, bei denen das
angegriffene Unternehmen das eigene Modell meist modifizieren oder gar revidieren
muss. In vielen Branchen ist dabei die Digitalisierung ein wichtiger Disruptionstreiber.
Die viel zitierten Plattformen sind dabei die Voraussetzung für so ein digitalisiertes Ge-
schäftsmodell, bei dem sich ein IT-Anbieter mit einem virtuellen Marktplatz zwischen den
Hersteller/Anbieter und den Endkunden schiebt und damit Geld verdient, dass man als
Anbieter – bildlich gesprochen – einen Stand auf diesem Marktplatz aufmachen darf.
Ohne meist selbst etwas Konkretes zu verkaufen, definiert er potenziell mit zunehmender
Marktmacht im kritischsten Fall sukzessive die Ausgestaltung, Preise und Spielregeln des
Marktgeschehens. Weitere Einnahmequellen sind die Unmengen von Daten („Big Data“),
die beim Handel auf dem Marktplatz anfallen. Daten darüber, wer, was, wo, wann, wie etc.
gekauft hat, gilt es in sogenannten „Smart Data“ (z. B. durch Korrelationsanalysen) so
aufzubereiten, dass sie wiederum den Kaufanreiz durch das verbesserte oder neu daraus
entwickelte Produkt selbst und/oder das Kauferlebnis steigern – und dies möglichst
schnell, effizient und effektiv, um mit einer weiteren, den Markt und die Kunden über-
raschenden Innovation Erstgewinne abschöpfen zu können.
Infolge der national wie international sehr unterschiedlichen Reifestufen hinsichtlich
der Digitalisierung in den verschiedenen Branchen wird es nicht zu vermeiden sein, dass
manche Leser je nach Herkunft die beschriebenen Konzepte als irreal, unrealistisch und
auch verunsichernd bewerten. Wer es angesichts des sich aktuell vollziehenden Wandels
jedoch vorzieht, im Elfenbeinturm der eigenen akademischen Sozialisation und bis-
herigen unternehmerischen Erfahrungen zu verbleiben, wird wahrscheinlich nur noch
die buchstäblich aussterbende Zielgruppe der Traditionalisten und Babyboomer be-
dienen können.
So bleibt wie bei allen Veränderungsprozessen einiges sicher bestehen, anderes wird in
etwas Neues transformiert oder erhält auch einfach nur eine zeitgemäßere Verpackung –
ist in Teilen der berühmte alte Wein in neuen Schläuchen. Einiges wird aber entweder nur
durch Spezialisierung und/oder in einem sehr vielfältigen Ökosystem an ergänzenden
Anbietern bzw. Themen in Kombination mit Coaching als Service angeboten werden.
Vielleicht geht aber auch der geheime Wunsch mancher Coaches in Erfüllung, dass das
Coaching sich in seiner heutigen Form als zwar etwas angestaubtes, aber deshalb umso
hipperes Nischenprodukt am Markt weiterhin behaupten kann. Das vorliegende Buch soll
angesichts der vielen neuen Entwicklungen eine Einschätzung der Chancen zur Erfüllung
dieses Wunsches ermöglichen.
Als Mitglied bzw. Mitbegründer des „Deutschen Bundesverband Coaching e.V.“
(DBVC e.V.) 2004 und damit als Teil der Verbandslandschaft in der Rolle des Unter-
nehmensvertreters bzw. Einkäufers von Coaching-Leistungen würde der Autor jede Form
XX Vorwort

der Resonanz und Diskussion auf die z. T. sicher irritierenden Informationen und Heraus-
forderungen mit dem Ziel der notwendigen, diskursiven Fortentwicklung des Formates
„Coaching“ begrüßen. Eine von ihm speziell dazu entwickelte Webpage (www.coa-
ching-reset.de) lädt daher zu konstruktiven Kommentaren und Austausch ein.

Karlsruhe, Deutschland Stefan Stenzel


Danksagung

Wie allen Autoren liegt es auch mir am Herzen, mich bei meinem Umfeld für die In-
spiration, Geduld und Kraft zu bedanken, ohne die dieses Buch nicht zustande ge-
kommen wäre.
Da ist zunächst meine Familie als Kraft- und Inspirationsquelle. Besonderer Dank gilt
hier als Erstleserin zunächst meiner Frau. Ihren vergleichsweise niedrigen „Preis“ von
drei exklusiven Abendessen werde ich mit Dankbarkeit und voller Vorfreude erfüllen.
Dass sie sich selbst nach den unzähligen ausgeschlagenen Wochenendausflügen bzw.
-wanderungen bzw. meinen Schreibstunden während unserer Urlaube nicht von mir hat
scheiden lassen, würde ich gerne auf die anhaltende Gültigkeit unseres gegenseitigen Ver-
sprechens „in guten wie in schlechten Tagen“ zurückführen. Aber wir werden dies sicher
zumindest bei einem der Abendessen thematisieren.
Meinem Sohn und seinen Altersgenoss:innen als Angehörigen der nächsten „Genera-
tion Z“ möchte ich danken, dass sie mir mein zuweilen etwas verwundertes Nachfragen
hinsichtlich ihrer anderen Lebens-, Arbeits- oder zuweilen überraschenden Denkweise
geduldig nachgesehen haben. Bewundernswert war für mich, zu erleben, wie (zumindest
oberflächlich) nüchtern und mit welchem Realismus sie auf die vielfältigen, von uns
Babyboomern hinterlassenen Herausforderungen blicken. Gespannt bin ich, zu erfahren,
ob mein Sohn nach seinem baldigen Eintritt ins Berufsleben und nach 3–5 Berufsjahren
einige meiner Hypothesen zu der neuen Lebens- und Arbeitswelt um die Jahre 2030/35
bestätigen wird und ggf. das Buch dann affirmativ nickend oder aber mitfühlend lächelnd
wieder in sein noch verbliebenes, kleines, physisches Bücherregal zurückstellt. Deshalb
möchte ich voller Stolz dieses Buch insbesondere ihm und seiner Generation bzw. den sich
bei ihm konstant zeigenden Veränderungen, seinem Wachstum, seiner zunehmenden,
persönlichen Autonomie, der großen Leidenschaft für seine Themen, seiner inneren Stärke
und Lebensfreude (wegen bzw. trotz COVID-19) widmen. Ganz im Sinne des von mir (als
Leitstern für die Kindererziehung) sehr geschätzten Gedichtes „Eure Kinder“ von Khalil
Gibran hoffe ich als „Bogen“ fest genug gewesen zu sein.
Als einer der letzten Vertreter der Arbeitnehmer- bzw. Babyboomer-Generation, die in
ein und demselben Unternehmen für mehr als zwei Dekaden arbeiten, muss ich im Falle
meines Arbeitgebers, der SAP SE, feststellen, dass er es mir überwiegend einfach ge-

XXI
XXII Danksagung

macht hat, ihn als meine berufliche Heimat zu sehen und zu seinem Erfolg zumindest in
Mikroaspekten beitragen zu können. In menschlicher Hinsicht durch viele inspirierende
Kolleg:innen wie auch die sich durch große Weltoffenheit, Innovationsfreude, Professio-
nalität, den Liberalismus und das Vertrauen und (zuweilen etwas zu viel) Dynamik aus-
zeichnende SAP-Kultur. Sehr gerne denke ich hier an die ritualisierten Spaziergänge nach
dem Mittagessen mit meinem früheren bzw. langjährigen Kollegen und Freund, Peter
Boback, bei denen wir u. a. die kleinen und großen Linien der Personal- und Führungs-
kräfteentwicklung bzw. von HR insgesamt mit Leidenschaft diskutierten.
Fachlich ermöglichte mir die SAP SE tiefere Einblicke und vielfältige Erfahrungen
bzgl. der verschiedensten Entwicklungen der digital geprägten Unternehmenswelt im All-
gemeinen bzw. neuester Innovationen in der IT- bzw. Softwarebranche im Speziellen.
Ohne dieses anregende „Biotop“ wäre das Buch nicht zustande gekommen. So hat mir das
Surfen auf meinem „beruflichen Meer“ über Jahre viele interessante, zuweilen jedoch
auch herausfordernde Stunden bereitet.
Die Basisfertigkeiten, um mich dort als „blutiger Anfänger“ überhaupt über Wasser
halten zu können, habe ich wahrscheinlich der breiten und fundierten Ausbildung bei
„Machwürth Team International“ (MTI) insbesondere jedoch durch den OE-Profi Helmut
Meyer zu verdanken. Seine Mentorenschaft in Praxisprojekten während meiner „Lehr-
jahre“ bei MTI bzw. seine große konzeptionelle Expertise als langjähriger, ehemaliger
Redakteur der traditionsreichen Zeitschrift „Organisationsentwicklung“ legten einen sehr
soliden Grundstein für meinen weiteren beruflichen Werdegang.
Durch meine lange Verantwortlichkeit für das Thema „externe Coaching-Services“ bei
der SAP SE ergab sich infolge der Mitbegründung des „Deutschen Bundesverbandes Coa-
ching“ (DBVC e.V.) im Jahre 2004 eine weitere professionelle Heimat. Auch hier waren
es die Menschen, welche indirekt zu diesem Buch beitrugen.
Da ist zum einen Uwe Böning, der seit meinem Universitätspraktikum bei ihm und
seiner Frau und Geschäftspartnerin, Brigitte Fritschle, meine Maßstäbe hinsichtlich eines
hohen, professionellen Anspruchs im Coaching, Interessenvielfalt bzw. geistiger Offen-
heit, Kreativität, Kommunikationskultur und einer erfrischend-stimulierenden Streitbar-
keit gesetzt hat. Dass er als Pionier des Business-Coachings in Deutschland seit Mitte der
1980er (neben dem ebenfalls heute noch aktiven Wolfgang Loos) sich bereit erklärte, das
Geleitwort zu schreiben, war mir eine besondere Freude.
Der Mann, der meine „Liaison“ mit dem DBVC e.V. anbahnte, d. h. mich zur Mit-
begründung des DBVC e.V. als ersten Unternehmensvertreter einlud, war Bernd Schmid.
In den gemeinsamen Anfahrten zu verschiedensten Veranstaltungen hat er fachlich wesent-
lich zur Erweiterung meines Coaching-Horizonts beigetragen. Menschlich ist er eines
dieser eher seltenen, aber immer wieder wohltuenden Beispiele dafür, dass Menschen
von Substanz und mit Format eher bescheiden, unprätentiös, nahbar und freundlich-­
wohlwollend sind.
Beeindruckt mit ihrem großen unternehmerischen Tatendrang sowie ihrer besonderen
Fähigkeit, Theorie und Praxis zu vereinen, hat mich meine sehr geschätzte DBVC-­Kollegin
Elke Berninger-Schäfer. Als die mutige Vorreiterin eines möglichst wissenschaftlich
Danksagung XXIII

fundierten Online-Coachings hat sie mich unwissentlich in meinem Entschluss bekräftigt,


noch einmal generell über das Coaching-Business nachzudenken.
Karsten Drath möchte ich dafür danken, dass er mir die Relevanz des Themas dadurch
aufgezeigt hat, dass er – nachdem ich ihm über Inhalte und Struktur des Buches im Früh-
sommer 2019 berichtete – dies sogleich in einen entsprechenden Artikel (Drath, 2019)
umsetzte.
Den letzten Anstoß, meine Ideen in einem Buch zu veröffentlichen, gab mir jedoch die
DBVC-Kollegin und Mitarbeiterin im Springer-Verlag, Monika Radecki. Mit ihren be-
harrlichen Ermutigungen und ihrer Bereitschaft, mir die Tür zur Verlagswelt zu öffnen,
ließ ich mich schließlich auf die geistige Schwanger- bzw. Autorenschaft ein.
„Hebammen“ – um im Bild zu bleiben – waren zwei der wohl geduldigsten Projekt-
managerinnen bzw. Lektorinnen, die sich ein Greenhorn mit seinem „Erstlingswerk“ wün-
schen kann: Zum einen Christine Sheppard und Mareike Teichmann vom Verlag Sprin-
ger Gabler. Durch ihre Unterstützung sorgten sie immer wieder dafür, dass ich aus dem
Dilemma zwischen Schreiblust und beruflichen Verpflichtungen gut herauskam, und stan-
den mir – falls nötig – ganz pragmatisch und jederzeit mit Rat und Tat zur Seite. Ohne die
Akribie und den gekonnten Feinschliff der freien Lektorin, Katharina Harsdorf, wären
manche Passagen meiner Texte zuweilen sehr sperrige und unansehnliche Bretter geblieben.
Als Inspirationsquelle der besonderen Art möchte ich zudem Charles Grey, dem 2. Earl
Grey, danken, dass er dem gleichnamigen, wundervoll aromatischen Tee (mit ein wenig
Zitrone) seinen Namen gegeben hat. Er hat mich in inspirierender Weise in so manchen
Denkpausen begleitet. Und zu guter Letzt den meist friedlich grasenden und schnauben-
den Pferden auf der Koppel neben unserem Haus, die mit diesen Signalen ihrer Ent-
spannung, Zufriedenheit und Sicherheit in mir immer wieder ein wohliges Gefühl zum
Lesen, Denken und Schreiben geschaffen haben. Meine Muse heißt mit Vornamen daher
nicht „Pampel“, sondern „Pferd“.

Literatur

Drath, K. (August 2019). Das Coaching der Zukunft. Training aktuell, 40–43.
Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 24
2 
Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data. . . . . . . . . . . . . 27
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!?������������������ 31
2.1.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 38
2.1.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 44
2.1.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 61
2.2 Big Data fürs „Big Business“: jederzeit und von jedem������������������������������ 64
2.2.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 67
2.2.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 69
2.2.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 74
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 75
3 
Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen:
Diversity als Chance und Herausforderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in
Deutschland�������������������������������������������������������������������������������������������������� 96
3.1.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 96
3.1.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 109
3.1.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 118
3.2 Die Gender-Diversität: eine nur vermeintliche Frauenfrage ������������������������ 124
3.2.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 132
3.2.2 Vermutete Konsequenzen für den Service „Coaching“�������������������� 137
3.2.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 138
3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt ������� 140
3.3.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 147
3.3.2 Vermutete Konsequenzen für den Service „Coaching“�������������������� 154
3.3.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 159
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 161

XXV
XXVI Inhaltsverzeichnis

4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen:
ambidextrisches Handeln in VUCA-Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma ���������������� 168
4.1.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 172
4.1.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 190
4.1.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 195
4.2 Lern- und Veränderungsfähigkeit als die einzige Konstante������������������������ 197
4.2.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 198
4.2.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 201
4.2.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 203
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy
Quilts“ ���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 208
4.3.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 213
4.3.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 219
4.3.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 223
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“������ 230
4.4.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 234
4.4.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 240
4.4.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 247
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 251
5 
Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“
Geld zu machen! ������������������������������������������������������������������������������������������ 263
5.1.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 267
5.1.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 269
5.1.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 276
5.2 Die Digitalisierung von HR und von Führung: Daten als
Produktivitäts- und Innovationstrigger �������������������������������������������������������� 282
5.2.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 285
5.2.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 291
5.2.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 292
5.3 Die neuen Beschäftigungsverhältnisse: typisch oder nicht? Je nachdem! ������ 293
5.3.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 298
5.3.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 301
5.3.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 303
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! ������������������ 305
5.4.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 314
5.4.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 326
5.4.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 327
Inhaltsverzeichnis XXVII

5.5 Von der Laufbahn und Karriere zur Erwerbsbiografie in einem


sehr langen Erwerbsleben ���������������������������������������������������������������������������� 332
5.5.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 333
5.5.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 334
5.5.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 335
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“�������������������� 338
5.6.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������� 344
5.6.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������� 374
5.6.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������ 380
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 381
6 
Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching) . . . . 393
6.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten�������������������������������������������������� 408
6.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“�������������������������������� 416
6.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching������������������������ 428
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 434
7 
Statt eines Nachwortes: Vordenken in Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 443
Über den Autor

Stefan Stenzel absolvierte sein Studium der Arbeits- und


Organisationspsychologie mit dem Nebenfach Betriebswirt-
schaft in Heidelberg und Mannheim. Nach einer Tätigkeit als
Trainer Consultant bei der Unternehmensberatung „Mach-
würth Team International“ (MTI) arbeitet er seit 2001 bei der
SAP SE als HR Senior Expert Consultant in den Rollen eines
Projekt- und Programmmanagers, Instructional Designers,
Moderators, Trainers im Bereich Führungskräfteentwicklung
im globalen Kontext. Dies gilt auch für seine Tätigkeit als in-
terner Coach bei der SAP SE seit 2002.
Konkret war und ist er neben laufenden Projekten und oben
genannten Tätigkeiten nahezu durchgängig zuständig für die
globale Bereitstellung externer Coaching-Services für alle
Managementlevels der SAP SE.
Seine erste kombinierte OE-Coaching-Ausbildung erhielt er
bei MTI durch den damaligen Redakteur der Zeitschrift
„Organisationsentwicklung“, Helmut Meyer, im Jahr 1998,
seine erste reine Coaching-Ausbildung im Jahr 2003 im
„Helm-Stierlin-Institut“ in Heidelberg bei Wilhelm Back­hausen.
2004 war er erweitertes Gründungsmitglied bzw. erster
Unternehmensvertreter (FCIO) im DBVC e.V. Dort ist er
heute Co-Lead im Fachausschuss Forschung und Mitglied des
Sachverständigenrats sowie der Fachgruppe der Unter-
nehmensvertreter.
In Intervallen ist er Jury-Mitglied für den Coaching-Award
des ICF Deutschland.
Als Autor und Speaker schreibt bzw. spricht er zu den
vorab genannten Themen.
Kontaktdaten:
E-Mail-Adresse: kontakt@coaching-reset.de

XXIX
XXX Über den Autor

Webpage: www.coaching-reset.de
LinkedIn-Profil: https://de.linkedin.com/in/stefan-­
stenzel-­3949854
XING-Profil: https://www.xing.com/profile/Stefan_
Stenzel2
Abbildungsverzeichnis

Abb. 2.1 Die exponentiell zunehmende Rechenleistung gemäß dem Moore´schen


Gesetz. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ������������������������������������ 32
Abb. 2.2 Die Singularität und exponentiell zunehmende Rechenleistung.
© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ������������������������������������������������ 32
Abb. 2.3 Die vier Arten und Reifestufen von Chatbots. © Stefan Stenzel 2022.
All Rights Reserved �������������������������������������������������������������������������������������� 36
Abb. 2.4 Themenumfang und Konversationskomplexität als Indikatoren der
Natürlichkeit. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������������� 37
Abb. 2.5 Mit Wearables über alle Sinne jederzeit bzw. allerorts informiert sein.
© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ������������������������������������������������ 41
Abb. 2.6 Einsatzmöglichkeiten von KI im Coaching-Prozess in den nächsten
5–10 Jahren. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved���������������������������� 49
Abb. 2.7 Ideen zukünftiger Servicevarianten im digitalen Coaching © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved ���������������������������������������������������������������� 56
Abb. 3.1 Anzahl Gesamtbevölkerung und Personen mit Erwerbspotenzial
zwischen 20 und 66 von 2022–2060 (Datenquelle: 14. Koordinierte
Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland; Variante 1). © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved ���������������������������������������������������������������� 82
Abb. 3.2 Altersverteilung der Bevölkerung von 2022–2060. (Quelle: 14.
Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland; Variante 1).
© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ������������������������������������������������ 83
Abb. 3.3 Handlungsfelder der lebensphasenorientierten Personalpolitik.
(Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Rump 2011, S. 32; erstellt
durch den Autor) �������������������������������������������������������������������������������������������� 89
Abb. 3.4 Altern in den verschiedenen Zeitaltern. (Quelle: GDI, 2015, S. 4; mit
freundlicher Genehmigung durch © GDI 2015; erstellt und modifiziert
durch den Autor) ������������������������������������������������������������������������������������������ 100
Abb. 3.5 Die vier Szenarien des digitalen Alterns. (Quelle: GDI, 2015, S. 36; mit
freundlicher Genehmigung durch © GDI 2015; erstellt und modifiziert
durch den Autor) ������������������������������������������������������������������������������������������ 101

XXXI
XXXII Abbildungsverzeichnis

Abb. 3.6 Zusammenstellung der Ursachen (bzw. Ansatzpunkte) für fehlende bzw.
mehr Gendergerechtigkeit (© Stefan Stenzel, All Rights Reserved) ���������� 133
Abb. 3.7 Das EPRG-Modell und seine speziellen Coaching-Varianten. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������� 142
Abb. 3.8 Die Abhängigkeit der Interkulturalitäts- von der Internationalisierungs-
strategie. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved�������������������������������� 156
Abb. 4.1 Die Kondratjew-Zyklen und die Beschleunigung technischer
Erfindungen. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved�������������������������� 169
Abb. 4.2 Das VUCA-Akronym als Diagnoseraster, Handlungsleitfaden und
im Erleben. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved; adaptiert nach
Hieronymi, 2016, S. 10–16) ������������������������������������������������������������������������ 171
Abb. 4.3 Managementansätze gestern und heute. © Stefan Stenzel 2022. All
Rights Reserved ������������������������������������������������������������������������������������������ 173
Abb. 4.4 Die Unterschiede des Managements 1. und 2. Ordnung. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������� 183
Abb. 4.5 Das Tetralemma in verschiedenen Kontexten; adaptiert nach F.
Simon, 2007, S. 72: mit freundlicher Genehmigung von © F. Simon, 2007 ������186
Abb. 4.6 Der Mensch bzw. die Organisation zwischen festen und losen
Zuständen; adaptiert nach F. Simon, 2007, S. 84; mit freundlicher
Genehmigung von F. Simon, 2007 �������������������������������������������������������������� 187
Abb. 4.7 Dilemmata/Paradoxa im „Service Coaching“ und deren mögliche
Auflösung. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ���������������������������� 190
Abb. 4.8 Idee eines dreistufigen, integrierten (syst.-konstrukt.) Serviceangebotes
im Coaching. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ������������������������ 194
Abb. 4.9 Entstehungsbedingungen und Kontexte von Zeit- und Leistungsdruck
(Quelle: Handrich et al., 2016, S. 155–168; Zusammenstellung
durch den Autor; © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved)������������������ 234
Abb. 4.10 Erscheinungsformen von Zeit- und Leistungsdruck (Quelle:
Handrich et al., 2016, S. 169–178; Zusammenstellung durch den
Autor; © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved) ���������������������������������� 235
Abb. 4.11 Gestaltungsoptionen zur Reduzierung von Zeit- und Leistungsdruck
(Quelle: Handrich et al., 2016, S. 184–190; Zusammenstellung durch
den Autor; © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved)���������������������������� 239
Abb. 4.12 Konsequenzen von Zeit- und Leistungsdruck. (Quelle:
Handrich et al., 2016, S. 226–232; Zusammenstellung durch den
Autor; angelehnt an © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved) ������������ 240
Abb. 5.1 Technologiewechsel durch Disruption – „The Innovator’s Dilemma“.
© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ���������������������������������������������� 260
Abb. 5.2 Die vier Stufen der industriellen Revolution. © Stefan Stenzel 2022.
All Rights Reserved ������������������������������������������������������������������������������������ 260
Abbildungsverzeichnis XXXIII

Abb. 5.3 Die vier wichtigsten Technologiefelder der Industrie 4.0. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������� 261
Abb. 5.4 Die Unterschiede zwischen Old und New Economy. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������� 262
Abb. 5.5 Two-sided Markets/Plattformen im Coaching. © Stefan Stenzel
2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������������������� 265
Abb. 5.6 Der Gewinn je Mitarbeiter bei DAX- und US-Tech-Riesen 2017.
(Quelle: Statista, Mathias Brandt¸ Creative Commons: BY/ND)
(https://de.statista.com/infografik/14844/dax-unternehmen-versus-us-
tech-riesen/. Zugegriffen am 18.02.2021)���������������������������������������������������� 266
Abb. 5.7 Die Überlegenheit des Plattform-Index. (Quelle: mit freundlicher
Genehmigung von © Holger Schmidt, TheOriginalPlatformFund.de
(Quelle: TheOriginalPlatformFund.de; mit freundlicher Genehmigung
von Dr. H. Schmitt. Zugegriffen am 21.09.2021) 2021)������������������������������ 267
Abb. 5.8 Die sechs Stellschrauben des Produktnutzens („Utility Levers“).
(Quelle: Angelehnt an Chan & Mauborgne, 2005, S. 121; übersetzt,
modifiziert und ausgefüllt durch den Autor© Stefan Stenzel 2022. All
Rights Reserved)������������������������������������������������������������������������������������������ 274
Abb. 5.9 Eine Auswahl von Geschäftsmodellen des „Business Model Navigator“
(BMN) und ihr Transfer in den Coaching-Bereich. © Stefan Stenzel
2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������������������� 275
Abb. 5.10 Einschätzung der aktuellen (2021) Situation der Plattformen bzw. deren
Betreiber. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ������������������������������ 280
Abb. 5.11 Privatleute als Kunde/Coachee/Nutzer einer Plattform für Coaches.
© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ���������������������������������������������� 280
Abb. 5.12 Unternehmensvertreter als Kunde/Nutzer einer Plattform für
Coaches. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved�������������������������������� 281
Abb. 5.13 Coaches als Kunde/Nutzer einer Plattform für Coaches. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������� 281
Abb. 5.14 Reifestufen und Kernthemen der Digitalisierung von HR-Systemen
(© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved) �������������������������������������������� 283
Abb. 5.15 Erwerbsarbeit zwischen Entgrenzung/Orts(un)abhängigkeit und
Digitalisierungsgrad. (Quelle: Adaptiert nach BMAS, 2016, S. 19,
modifiziert durch den Autor; mit freundlicher Genehmigung durch
das © IIT, 2016) ������������������������������������������������������������������������������������������ 296
Abb. 5.16 Plattformarbeitstypen und ihre Entgrenzung/Orts(un)abhängigkeit bzw.
spezielle Zielgruppe. (Quelle: Adaptiert nach Friedrich-Ebert-Stiftung,
2017, S. 7, adaptiert durch den Autor; mit freundlicher Genehmigung
der © Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017) �������������������������������������������������������� 297
XXXIV Abbildungsverzeichnis

Abb. 5.17 Plattformarbeitstypen und ihr Integrationsgrad beim Auftraggeber bzw.


ihre Autonomie. (Quelle: BCG Henderson Institut, 2019, S. 8, adaptiert
durch den Autor; mit freundlicher Genehmigung der © Boston
Consulting Group (BCG), 2019) ���������������������������������������������������������������� 297
Abb. 5.18 Vor- und Nachteile der neuen Arbeitsformen für Erwerbstätige und die
Organisation. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ������������������������ 299
Abb. 5.19 Potenzielle Vor- und Nachteile der Homeoffice-Arbeit für Beschäftigte.
© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ���������������������������������������������� 301
Abb. 5.20 Potenzielle Vor- und Nachteile der Homeoffice-Arbeit für Unternehmen.
© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ���������������������������������������������� 302
Abb. 5.21 Erfolgreiches Verhalten als Ergebnis einer Wechselwirkung vieler
Faktoren. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ������������������������������ 308
Abb. 5.22 Räumliche Gestaltungsmerkmale und ihre intendierten Assoziationen
und Wirkungen. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������� 311
Abb. 5.23 Paradigmenwechsel von der Qualifikation zur Kompetenz (© Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved) ������������������������������������������������������������ 313
Abb. 5.24 Die Schwerpunktverschiebung von den Fertigkeiten zu den Fähigkeiten
(© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved) �������������������������������������������� 314
Abb. 5.25 „Co-Destiny“: Erfolgsfaktoren einer Change- und Risikogemeinschaft.
(Quelle: Angelehnt an Rump, Sattelberger & Fischer (2006), S. 82;
adaptiert durch den Autor; mit freundlicher Genehmigung von © Gabler
Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, 2006. Wiesbaden.
All Rights Reserved)������������������������������������������������������������������������������������ 316
Abb. 5.26 Die 13 Schlüsselkompetenzen, um Beschäftigung zu erlangen oder zu
erhalten. (Quelle: Angelehnt an Rump, Sattelberger & Fischer, 2006,
S. 21 f.; modifiziert durch den Autor; mit freundlicher Genehmigung
von © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH,
Wiesbaden 2006. All Rights Reserved) ������������������������������������������������������ 317
Abb. 5.27 Das alte, lineare und neue, nonlineare Lebensmodell. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������� 320
Abb. 5.28 Das Verhältnis von Qualifizierungs- und Anwendungsphasen im
Wandel der Zeit. (Quelle: Angelehnt an: Baitsch, 1998, mit freundlicher
Genehmigung von © Waxmann bzw. des Autors 1998. All Rights
Reserved) ���������������������������������������������������������������������������������������������������� 321
Abb. 5.29 Das zukünftige Verständnis der Karriereentwicklung (adaptiert nach
Josh Bersin; mit freundlicher Genehmigung von Josh Bersin, © The
Josh Bersin Company 2021) ������������������������������������������������������������������������ 334
Abb. 5.30 Die Gen Z als Kooperationspartner in Konsumentenrolle. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������� 341
Abb. 5.31 Die Gen Z als Kooperationspartner in Produzentenrolle
(d. h. Mitarbeiter- oder FK-­Rolle). © Stefan Stenzel 2022. All Rights
Reserved ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 341
Abbildungsverzeichnis XXXV

Abb. 5.32 Themenaufriss des Kapitels „LeaderSHIFT“. © Stefan Stenzel


2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������������������� 344
Abb. 5.33 Themenaufriss für den Begriff des „Selbst“. © Stefan Stenzel 2022.
All Rights Reserved ������������������������������������������������������������������������������������ 345
Abb. 5.34 Super- und Self-Leadership als „Missing Link“ bei den postheroischen
Führungsmodellen. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������� 356
Abb. 5.35 Aspekte der Macht beim individuen- und prozesszentrierten
Führungsansatz. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������� 358
Abb. 5.36 Unterscheidungskriterien von ver- und geteilter Führung. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������� 359
Abb. 5.37 Potenzielle Vorteile von Shared Leadership für verschiedene
Zielgruppen. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved�������������������������� 360
Abb. 5.38 Vorteile und Herausforderungen räumlich verteilter Teams.
© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ���������������������������������������������� 362
Abb. 5.39 Denk- und Handlungsweisen traditioneller und offener Führungsansätze.
(Quelle: angelehnt an Li, 2010, S. 213; übersetzt durch den Autor; mit
freundlicher Genehmigung von © Wiley 2010. All Rights Reserved) �������� 371
Abb. 5.40 Prinzipien und (Kern-)Aufgaben des Network-Leaders (© Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved) ������������������������������������������������������������ 372
Abb. 5.41 Das „Ambidextrie-Triplett der Führung“. Ein integratives Metamodell
zukunftsweisender Führung. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ����� 373
Abb. 5.42 Ambidextrie als Folge eines Transformationsprozesses über Super- und
Self-­Leadership. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved�������������������� 376
Abb. 5.43 Das „Ambidextrie-Triplett des Coachings“. Ein integratives
Metamodell zukunftsweisender Coaching-Themen. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved �������������������������������������������������������������� 377
Abb. 5.44 Der Transformationsprozess im Rahmen des „Ambidextrie-Tripletts
des Coachings“. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved ������������������ 379
Abb. 6.1 Unterscheidungskriterien zwischen Mensch und Maschine hinsichtlich
des „Innenlebens“. (© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved) ������������ 397
Abb. 6.2 Digitale Ethik als die bewusste Identifikation, Reflexion bzw.
Entscheidung über Zielkonflikte. (adaptiert nach Initiative D21, 2017;
mit freundlicher Genehmigung der © Initiative D21, 2017) ���������������������� 430
Einleitung
1

„Der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie selbst zu gestalten.“ (Abraham Lincoln)1

Vergeht aktuell scheinbar kein Tag, ohne dass die verschiedensten Medien über Vorfälle
berichten, welche die meisten von uns zumindest kurz schlucken oder sogar länger inne-
halten lassen, könnte dies als ein Indikator dafür gesehen werden, dass wir momentan in
einer Art Zeitenwende leben. Um diese sich kurz zu vergegenwärtigen bzw. in ihrer
Komprimiertheit wirken zu lassen, nachfolgend eine kurze Zusammenfassung: Auf politi-
scher Ebene ist dies für die meisten von uns der bedrohlich erstarkende Nationalismus und
Populismus in den westlichen wie östlichen Regionen des Globus, wie auch die immer
wieder aufbrechenden Konflikte in der arabischen Welt, das Desaster in Afghanistan
sowie – leider auch im Juni 2022 immer noch aktuell – der Krieg in der Ukraine. Auch die
Umwelt präsentiert uns nach und nach in ökologischen Katastrophenmeldungen (wie
z. B. die Großbrände in Australien, Brasilien und Kalifornien), aber eben auch Europa
(Griechenland, Türkei) oder aber Überschwemmungen im asiatischen Bereich und selbst
im Herzen Deutschlands etc. unerbittlich die Rechnung für unsere Versäumnisse, unsere
ökologische Ignoranz der letzten Jahrzehnte. Voller Bangen wartet die Menschheit auf eine
neue Mutante des Corona-Virus der sich Mitte 2022 abschwächenden Omikron-­Variante.
Der Risk-Report2 des World Economic Forum kann hier als Schwarzbuch all der
menschlichen Verfehlungen herangezogen werden. Für Menschen, die es noch hören kön-
nen und wollen, berichten inzwischen nicht mehr nur die Fachzeitschriften von bahn-
brechenden technischen Neuerungen im Bereich der Digitalisierung. Plattformen,
­Blockchain, die Kryptowährungen (wie z. B. Bitcoin) oder Quantencomputing sind die

1
https://1000-zitate.de/6305/Die-beste-Moeglichkeit-die-Zukunft-vorherzusagen.html. Zugegriffen
am 02.12.2020.
2
https://www.weforum.org/reports/the-global-risks-report-2020. Zugegriffen am 02.12.2020.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 1


von Springer Nature 2022
S. Stenzel, Die Zukunft des Coaching-Business,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-64421-8_1
2 1 Einleitung

entsprechenden Stichwörter. Und – leider nicht zu vergessen – es gab ab 2020 dann noch
eine Pandemie infolge von COVID-19; wahrscheinlich hervorgerufen durch den Verzehr
exotischer Tiere in der chinesischen Provinz und verbreitet durch die grenzenlose Mobili-
tät des Menschen von heute.
Mit dem berühmten halb gefüllten/leeren Wasserglas oder der Schere im Kopf kann
dies alles sehr unterschiedlich bewertet bzw. unterschiedlich darauf reagiert werden. Aber
nach Ansicht einiger Ökonomen ist dies eigentlich nur mit epochalen Umbrüchen, wie
z. B. der Renaissance, vergleichbar (Goldin & Kutarna, 2017). Dieser Sichtweise möchte
sich der Autor anschließen. Denn bei all den enormen Herausforderungen, Unsicherheiten
und auch Gefahren ist es eine enorm stimulierende Zeit, eine Zeit der Neuausrichtung oder
gar eines nun unaufschiebbaren Paradigmenwechsels. Auf jeden Fall aber eine Zeit des
Wachstums – wenn man sich denn ein Herz fasst!
Wer sich dabei auf der Höhe des Zeitgeistes präsentieren will, redet in diesem Zu-
sammenhang heute von der sogenannten VUCA-Welt, d. h. einer von vielen als extrem
volatil, unsicher, komplex und ambivalent erlebten Umwelt. Dazu mehr in Abschn. 4.1.
Hinsichtlich dieser Wahrnehmungsmuster nicht ganz auf der Höhe ihrer Zeit ist jedoch
(nicht nur) nach Einschätzung des Philosophen Richard David Precht (2018) nicht nur die
deutsche Politik. Denn sie scheint „[…] den großen Umbruch nicht ernst zu nehmen. Sie
dekoriert noch einmal auf der Titanic die Liegestühle um. Andere warnen vor der Diktatur
der Digitalkonzerne aus dem Silicon Valley. Und wieder andere möchten am liebsten die
Decke über den Kopf ziehen und zurück in die Vergangenheit“.
Beobachtet man die Coaching-Szene, könnte man leider einen ähnlichen Eindruck ge-
winnen. Doch nach deren heimeliger Selbstzufriedenheit der letzten Jahrzehnte (dazu
auch Böning & Strikker, 2020) sieht auch sie sich nun immer häufiger mit folgenden,
potenziell disruptiven Situationen und Fragen konfrontiert:

• Mit einer Industrie- und Arbeitswelt, die sich gerade aufmacht, ihr „Release 4.0“ in
seinen Implikationen zu verstehen.
• Mit Klienten, welche die Herausforderungen einer sich zunehmend entgrenzenden
und subjektivierenden Arbeitswelt psychisch und physisch verarbeiten müssen.
• Mit der Frage, inwieweit sich die Verschmelzung von Business und Life (besonders
ab den Homeoffice-Erfahrungen im Rahmen von COVID-19) zukünftig mit einem
marketinggeprägtem, reinen Business-Coaching-Ansatz bearbeiten lässt.
• Eine Generation von Klienten (Traditionalisten und Babyboomer), welche Coaching
meist nur in der traditionellen Face-to-face-Form als attraktiv empfindet und ihr Coa-
ching vielleicht noch von einem Unternehmen bezahlt bekommt, verlässt in spätestens
10–15 Jahren die Unternehmen.
• Mit einem veränderten Such- und Kaufverhalten für (Produkte und) Dienstleistungen
im Internet (nicht nur) bei der Generation Y – mit Sicherheit aber bei der Generation
Z. Werde ich als Soloselbstständiger mit meiner eigenen, kleinen Homepage im Ozean
des WWW überhaupt noch gesucht, geschweige denn gefunden?
• Mit der Frage: Wie stehe ich als Coach zu Online-Coaching? Will ich das – kann
ich das?
1 Einleitung 3

• Mit dem Heraufziehen von situativ veranlassten, zuweilen ad hoc nur 1–2 Stunden um-
fassenden Kurz- oder „To go“-Formaten, welche zuweilen überdies mit stark standar-
disierten, aber kurzen Trainingseinheiten versehen sind.
• Mit strukturell immer schwerer greifbaren Organisationen bzw. keinen oder konstant
wechselnden Ansprechpartnern für die externen Coaching-Services innerhalb der
Unternehmen.
• Mit zunehmender „Konkurrenz“ infolge der kontinuierlich steigenden Anzahl an Coa-
ches auf dem freien, heimischen Markt, wie die immer häufiger anzutreffenden unter-
nehmensinternen Coaching-Pools.
• Das traditionelle Geschäftsmodell in der Coaching-Szene ermöglicht nur wenigen
Coaches, ausschließlich vom Coaching zu leben. Der Beweis, ein Business-Coach zu
sein, wird sich daher nicht mehr nur über die anvisierte Zielgruppe definieren lassen,
sondern auch darüber, dass Coaching wirklich wie ein Business betrieben wird. Dies
müsste jedoch mit einem tiefen Verständnis der sich gerade dramatisch verändernden
Arbeitswelt (Stichworte: Arbeit 4.0, Industrie 4.0) einhergehen (wozu dieses Buch bei-
tragen soll).
• Die Coaching-Verbände haben es auch in mehreren Jahrzehnten nicht geschafft, einen
Titelschutz für die heute inflationär genutzte Berufsbezeichnung „Coach“ zu etablie-
ren. So kann – egal welche Qualifikation die Person hat bzw. wie sie „Coaching“ mit
wem oder was praktiziert – heute noch jedermann/jedefrau sich ohne Reue als Erwe-
ckungs-, IT-, Tanz-, Hundecoach oder aber eben Business-Coach bezeichnen, ohne
dass eine entsprechende Organisation Einspruch (nach § 132a StGB, Missbrauch von
Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen) erheben kann.
• Mit einem potenziell höheren Preisdruck auf die Honorare – durch ein „Überangebot“
an Coaches, fehlende verbindliche Ausbildungsstandards, immer mehr unternehmens-
interne Coaches, durch die gerade erst beginnende Internationalisierung und macht-
hungrige Plattformen.
• Die Frage, welche Vor- und Nachteile sich durch eine Vermarktung des Coachings über
eine Plattform ergeben und inwieweit sich Coaches bewusst sind, als Angehörige
eines solchen „Digital Coaching Provider“ (DCP) indirekt zu „Datenbeschaffern“
einer gesellschaftlich sehr einflussreichen Zielgruppe (Führungskräfte) zu werden,
bzw. sie im schlimmsten Falle mit ihrer Plattform-Kollaboration – im übertragenen
Sinne – potenziell zu den „Taxifahrern eines Uber-Konzerns“ oder „Buchhändlern bzw.
Autoren von Amazon“ werden könnten.
• Ferner ergibt sich im Zusammenhang mit den DCPs zukünftig die Frage, inwieweit sie
eher im Kontext eines datengestützten, stark kommerzialisierten „Bestseller-­
Coachings“ und/oder einer Art „Kunsthandwerks-Coaching“ arbeiten möchten, wel-
ches weniger stark durch die ambitionierten Gewinn- und Wachstumsinteressen der
Plattformen definiert wird.
• Mit der Angst vor der Ersetzung (sowie den ethischen Bedenken) des Serviceangebotes
durch Coaching-Apps – Chatbots oder augmentierende Co-bots – bzw. die dahinter
sich verbergende, mehr oder minder starke, künstliche Intelligenz (KI).
4 1 Einleitung

• Mit der permanenten Frage, ob bzw. wie man die Wirksamkeit von Coaching nach-
weisen und verbessern kann. Ferner die sich daraus ergebende Frage für die Wissen-
schaft, inwieweit sie Interesse daran hätte, die im Coaching-Prozess anfallenden Daten
(in Absprache mit dem Kunden und der Plattform, für die die Coaches ggf. arbeiten)
zur besseren, empirischen Fundierung heranzuziehen.
• Mit einer Coaching-Forschung, die in ihrer Arbeit (vergleichbar mit den Anfängen der
Führungstheorien und den Eigenschafts- oder „Great-Man“-Ansätzen) schwerpunkt-
mäßig auf der Person des „Great Coach“ und seinen Eigenschaften und Fähigkeiten
bzw. deren Einfluss auf die Interaktion mit dem Coachee zu verharren scheint. Die
Arbeits- und Lebenssituation, in der der Coach und vor allem sein Klient agieren, wird
nach Eindruck des Autors eher als zu ignorierende Störvariable behandelt.
• Mit dem Fakt, dass Coaching sinnigerweise immer stärker als integrativer Teil von
Organisationsentwicklungsmaßnahmen oder auch Trainingsprogrammen dis-
kutiert wird, Coaches aber dadurch zuweilen als Teil eines größeren OE-Programms
die „Intimität“ ihrer individuenzentrierten Dienstleistung opfern müssten bzw. selbst in
der Masse der (über einen Plattformanbieter georderten) Coaches untergehen würden.
Zudem will und kann nicht jeder Coach als Trainer agieren – es verbinden sich damit
verschiedene Qualifikationen.
• Welche Entwicklung würden Sie als Leser ergänzen?

Schaut man jedoch angesichts dieser nicht trivialen Herausforderungen kritisch auf die
Titel der Coaching-Bücher und -Artikel der letzten Jahre, begegnet man ihnen entweder
mit der Kopplung an Trendthemen (z. B. Design Thinking, Agility-, Wolfs- oder
­Pferde-­Coaching), mit einem scheinbar neuen Methodenmix oder aber dem Buch mit den
nun wirklich ultimativen Coaching-Killerfragen. Verwendet das Buch mit dem Konzept
des „ambidextrischen Tripletts des Coachings“ bzw. des dafür grundlegenden „ambi-
dextrischen Tripletts der Führung“ ebenfalls einen aktuellen Trendbegriff („Ambi-
dextrie“) in der Szene, geschieht dies einerseits bewusst nicht werbewirksam im Titel
(z. B. als „Triplett-“ oder „Ambidextrie-Coaching“) – andererseits steht die Verwendung
des Begriffs im Buch erst am Ende einer längeren Hinführung über das in der Historie des
Systemdenkens wurzelnde, begrifflich jedoch etwas sperrige „Sowohl-als-auch-Denken“.
Es proklamiert daher keinen neuen Trend i.e.S., sondern arbeitet nur die potenziellen kon-
zeptionellen Synergien seit Langem vorhandener Denk- bzw. Lernmodelle3 für ein zu-
künftiges ­Coaching heraus. Es verwendet letztlich eher aus sprachlichen Gründen den
vielleicht auch nicht ohne Zufall in den letzten Jahren erneut auftauchenden Begriff der
Ambidextrie.

3
Die grundlegende Idee der notwendigen Balancierung bzw. der Synergie von Exploration und Ex-
ploitation im Hinblick auf das organisatorische Lernen wurde bereits 1991 von dem bekannten
Organisationstheoretiker James G. March (March, 1991) beschrieben und bescheiden im zusammen-
fassenden letzten Abschnitt des richtungweisenden Artikels mit dem Titel „Little Models and Old
Wisdoms“ (1991, S. 85) überschrieben.
1 Einleitung 5

Der Blick auf die sich für die Klienten der Coaches rasant verändernde Unternehmens-,
Arbeits- und Lebenswelt in der Version 4.0 scheint nur am Rande eine Rolle zu spielen.
Obwohl viele Coaches ihre systemische Ausrichtung wie eine Monstranz vor sich her-
tragen, wird das die Klienten umgebende System scheinbar oft ausgeblendet oder zu-
mindest marginalisiert. So auch in den 2019 erschienenen „Leitlinien und Empfehlungen
für die Entwicklung von Coaching als Profession“ des Deutschen Bundesverbandes Coa-
ching e.V. (DBVC.e.V., 2019). Ohne irgendeine weitere, vertiefende inhaltliche Aus-
führung im Kompendium werden nur im Vorwort (DBVC e.V., 2019, S. 7) die Begriffe
„Arbeit 4.0“/„New Work“ und „agile Organisation“ aufgeführt. Das im September 2020
überraschend vom DBVC e.V. durchgeführte „Digitalforum“ erscheint daher eher wie ein
plötzliches Erwachen nach einer tiefen Schlafphase. Doch besser später als nie; und an-
dere Verbände sind überdies nicht viel progressiver. Auch die Diskussion oder gar Aus-
richtung des Service auf den Klienten von morgen, die Generation Z und folgende, z. B. auf
Kongressen oder in der Wissenschaft, hat erst vor ca. 1–2 Jahren begonnen. Dabei könnten
die Denk- und Handlungsmodelle des Coachings für die kommenden Generationen zur
Bewältigung all dieser Neuerungen sehr fruchtbar sein. Doch wie konkret?
Wurden Veränderungen im Erleben der Menschen früher noch eher als stetig, evolutio-
när und analog erlebt, ist der Wandel heute immer häufiger von disruptiven (= sprung-
hafter Wechsel), eher digitalen (= z. B. Gewinner oder Verlierer) und extremen Er­
eignissen (= große Intensität) unterbrochen. Wie bei den Kippbildern der
Wahrnehmungspsychologie wird dabei aus der Vase plötzlich die Profilansicht eines Ge-
sichtes. Neu wahrzunehmen bzw. zu denken und letztlich anders zu handeln ist damit
offensichtlich das Gebot der Stunde – Unterstützung und Ermutigung, veraltete und/oder
dysfunktional gewordene (Wahrnehmungs-)Muster aufzugeben, wird zur Handlungs-
maxime dieser neuen Realität. Entsprechende Fachleute erkennen hier unschwer den Kern
jedes Coaching-Ansatzes. Peter Senge bezeichnete es in seinem Klassiker „Die fünfte
Disziplin“ (Senge, 1999) als „Metanoia“ – als fundamentales Umdenken oder tief-
greifende Sinnesänderung. Bevor man jedoch dysfunktional gewordene (Wahrnehmungs-)
Muster aufgeben kann, gilt es – und dies wird leider oft übersehen – diese wahrzunehmen.
Ein Wissen und eine Art Achtsamkeit für die eigene, sehr menschliche, d. h. gelegentlich
auch selektive oder gar „verzerrte“ Art der Informationsverarbeitung (z. B. verein-
fachende Generalisierungen) in dieser dynamischen VUCA-Welt zu entwickeln, wird
immer wichtiger. Praktisch heißt dies, sich immer bewusster zu werden, wie jeder von uns
Umweltinformationen aufnimmt, verarbeitet und dann z. B. als Meinung (→ d. h. Fra-
ming, Awfulizing etc.) oder als (im schlimmsten Falle internationale Fake-)News weiter-
gibt. Gehören die Analyse individuenspezifischer, potenzieller dysfunktionaler Wahrneh-
mungs- und Handlungsmuster und deren Modifikation zum Arbeitsbereich professionellen
Coachings, kann deren zunehmende Bedeutung für die zukünftige Lebenswelt noch deut-
licher erkennbar werden. Der Autor wäre daher geneigt, hinsichtlich der kommenden De-
kaden womöglich sogar vom Beginn eines „Zeitalters des Coaching-Mindsets“ zu spre-
chen. Ein zweiter Aspekt dieses Mindsets ist die reflexive Fähigkeit zur permanenten
gedanklichen Neuausrichtung, die handlungsbezogene Selbststeuerung bzw. Autonomie
6 1 Einleitung

und Emanzipation des Individuums (in der Arbeitswelt) – wahrscheinlich einer der
Erfolgsfaktoren in nicht allzu ferner Zeit. Ein in seinen verschiedenen Facetten gut ent-
wickeltes und resilientes Selbst ist dabei sicher von Vorteil. Denn bei den alltäglichen
(neuen) Anforderungen gilt es nicht selten das „Entweder-oder“ in ein „Sowohl-als-auch“
(die aktuellen Trendbegriffe dazu sind „hybrid“ oder „ambidextrisch“) zu transformieren
und die eigene Ambivalenztoleranz daran zu entwickeln. Nicht zu vergessen ist auch der
schadlose Übergang zwischen realen und virtuellen Welten mit vielleicht multiplen
Selbstentwürfen. Inwieweit damit jedoch auch die Gefahr der Überforderung einher-
gehen kann und welche kritische Reflexion bzw. Neuausrichtung von gängigen Werten
insbesondere durch die Digitalisierung auch gesellschaftlich erforderlich ist, wird im Rah-
men mehrerer Themen zumindest anzudiskutieren sein.
Mit der Redlichkeit des Sozialwissenschaftlers hinsichtlich der Prognosemöglich-
keiten für Individuen oder sogar ganze Gesellschaften geht es dem Autor mit dem Buch
nicht darum, „recht zu haben“, sondern darum, für das Coaching auf der Basis aus-
gewählter und bereits existierender Gegebenheiten (z. B. Demografie, Geschäftsmodelle,
Digitalisierung bzw. Big Data etc.) das Thema aus verschiedensten Blickwinkeln und
Denkrichtungen zu beleuchten. Wie ein Produkt- bzw. Serviceentwickler gilt es die
Marktbedingungen für den neuen Bestseller zu eruieren oder falls möglich sogar vorher-
zusagen (= Future Studies Approach). Setzt sich der Autor den Hut des Beraters auf und
agiert eher i. S. von Gunther Schmidts „Realitätskellner“ (Schmidt, 2017), welcher in
einem „koevolutionären Konstruktionsritual“ für „zieldienliche Netzwerkaktivierungen“
nach Jahren des weitgehenden Stillstandes im Coaching-Feld eine gemeinsame und
hoffentlich lebhafte Diskussion aller Beteiligten anregen möchte. Die speziell dazu ein-
gerichtete Webseite (www.coaching-­reset.de) bietet entsprechende Möglichkeiten. Mit
einem systemisch-konstruktivistischen Denkansatz sind die vorgestellten Sichtweisen
natürlich immer eine Selektion aus „alles in allem“ des Autors und könnten i. S. der Kon-
tingenz auch ganz anders gesehen und natürlich auch voller Leidenschaft diskutiert wer-
den. Daher ist das Buch als Ermutigung und Anstoß für die Akteure in diesem Feld zu
verstehen, im Geiste des Kapitelzitates von Abraham Lincoln die Zukunft zu machen, d. h.
in einem „Future-Making Approach“ aktiv und verantwortlich zu gestalten – eine neue
(Coaching-)Wirklichkeit zu konstruieren.
Als die an dem Zukunftsentwurf des Coachings beteiligten Akteure und damit poten-
ziellen Interessenten an diesem Buch werden die Coaches selbst (und hier insbesondere
heute in der Ausbildung befindliche Coaches), Coaching-Weiterbildungsanbieter, die
themenverantwortlichen HR- bzw. PEler in Unternehmen, Wissenschaftler (Forscher, Do-
zierende und Studierende) in diesem Bereich, aber auch die Vielzahl der Verbandsangehö-
rigen aller Coaching-Verbände im deutschsprachigen Raum, des „Roundtable Coaching
e.V. (RTC)“ (RTC, 2019), gesehen. Alters- bzw. generationsmäßig zielt dieses Buch auf
die Gruppe der Babyboomer (ca. ab 1955) und vielleicht sogar noch einige Traditionalis-
ten (vor 1954) ab – falls sie denn noch Interesse haben, über etwa 2030 hinweg beruflich
aktiv zu sein. Als Coaches der Generation X (ca. ab 1965) und Y (ca. ab 1980) gelebt bzw.
durch entsprechende Entscheidungen konkret gestaltet, wird das „Coaching der Zukunft“
1 Einleitung 7

für die heute z. T. noch recht jungen Berufseinsteiger der Generation Y (ca. 1980 bis
1994), insbesondere jedoch der Generation Z (ca. 1995 bis 2010) wirksam werden. Da
nach Einschätzung des Autors die meisten Leser dieses Buches der Babyboomer- oder der
X-Generation angehören werden, wäre es daher zur Konkretisierung der Zeitperspektive
bzw. des „Coachings der Zukunft“ hilfreich, sich ihre Kinder (Gen Y oder Z) als zu-
künftige Coaches und ihre Enkel (Gen Z oder Gen α; 2011–2025) als die Klienten oder
Coaches vorzustellen.
Mit der weiteren Vorannahme, dass vielen unter den eher geistes-, sozial- oder wirt-
schaftswissenschaftlich vorgebildeten Coaches und Lesern die zahlreichen mit der Digita-
lisierung verbundenen technischen Begriffe (z. B. Cloud, Plattform, Big Data, Machine/
Deep Learning etc.) nicht geläufig sind, versucht das Buch besonders in Kap. 2, diese
möglichst einfach und zuweilen etwas ausholender – letztlich aber immer mit deren Be-
deutung für die Thematik des Buches – grundlegend zu erläutern. Um manche Neuerun-
gen buchstäblich anschaulicher zu machen, hielt es der Autor zudem für hilfreich, auf
themenspezifische Science-Fiction-Filme hinzuweisen. Ferner wird immer wieder auf
zusätzliche bzw. weiterführende oder vertiefende Literatur verwiesen, die den konzep-
tionellen Rahmen des Buches ansonsten sprengen würde. Als ideale Begleit- oder Er-
gänzungsliteratur wird das 2020 erschienene, eher technik- bzw. toolorientierte Buch
von Stella Kanatouri „The Digital Coaching“ (Kanatouri, 2020) empfohlen. Es ist für sei-
nen Bereich als ebenso grundlegend wie wegweisend anzusehen, da es den Einfluss der
Digitalisierung auf das Coaching i.e.S. behandelt. Mit seinem Fokus auf das „Big Picture“
ist es Ziel dieses Buches, das Coaching-Business in den größeren Kontext dieser techni-
schen wie auch industriellen und damit einhergehenden gesellschaftlichen Revolution oder
Disruption zu stellen. Ohne dabei jedoch die Implikationen für die Praxis zu vergessen.
So ist die Publikation als thematisch möglichst breiter und integrativer Aufriss kon-
zipiert – als Anstoß für weitergehende Diskussionen in der Zukunft, die dadurch zuweilen
jedoch nicht mehr nur auf das Thema „Coaching“ begrenzt werden können (z. B. „das
Menschliche“ in Zeiten der Digitalisierung im Allgemeinen oder die künstliche Intelli-
genz im Speziellen) und durch die Neuigkeit des Themas hoffentlich auch in einem grö-
ßeren Kontext (z. B. in Fachverbänden) zu diskutierender Fragen oder der Formulierung
von Hypothesen münden. Zahlreiche Abbildungen und Tabellen mit der Gegenüber-
stellung der Vor- und Nachteile eines Sachverhaltes sollen dem Praktiker als Ent-
scheidungshilfe dienen oder in ihrer zuweilen vereinfachenden Polarität Anregung zur
Vertiefung sein.
Der Aufbau der Kapitel erfolgt dabei strukturell immer aus verschiedenen Perspektiven
bzw. in einem Drei- bzw. Vierschritt: Zunächst kommt es zur hinführenden Beschreibung
der als relevant erachteten Umwelt und ihrer Veränderungen. Sodann zu einer Ein-
schätzung von deren potenziellen Auswirkungen auf den Kunden/Klienten/Coachee. Ge-
folgt von den Gestaltungsoptionen des „Service Coaching“ mit dem dazugehörigen
Servicedesign/-konzept über beispielsweise das Marketing oder die Durchführung oder
die Kundennachbetreuung bis hin zur Bezahlung für die Dienstleistung. Es beschreibt
daher i.w.S. das Design und die Implementierung von externem Coaching in einem Unter-
8 1 Einleitung

nehmen durch den zuständigen Personalentwickler in Abgleich mit seiner Organisation


(bzw. deren Reifegrad). Dabei sei nochmals explizit darauf hingewiesen, dass der
1:1-„Coaching-Service“, die „Dienstleistung Coaching“ generell nicht als devotes (Be-)
Dienen, sondern als koaktiver bzw. kokreativer Prozess zwischen einem Klienten und
einem Coach verstanden wird. Im letzten Schritt soll es um den Coach und die direkte
Coaching-Arbeit mit den Klienten selbst gehen. Daher versuchen immer die letzten zwei
Unterkapitel mit dreistelliger Indizierung (also z. B. Abschn. 2.2.2 und 2.2.3), die „Zu-
kunft des Coaching-Business“ i. e. S. zu skizzieren.
Hierbei variiert die Flughöhe der Betrachtung bzw. der Fokus je nach Themenbereich.
Auf einer Mikroebene (→ der einzelne Klient oder Coach bzw. die Klienten-Coach-­
Interaktion sowie das Lernformat bzw. Konzept und damit auch die Praxis des Coachings
selbst) sind dies oft sehr spezielle und nach Einschätzung des Autors an Bedeutung gewin-
nende Themen. Die Mesoebene bezieht sich auf Ausführungen hinsichtlich des Coachings
als Service bzw. die besonderen Merkmale in einem sehr speziellen Marktsegment und
einer sehr speziellen Branche. Oder aber auf Communitys mit Bezug zum Coaching, d. h.
Weiterbildner oder Wissenschaftler, die mit dem Thema betrauten Unternehmensvertreter
sowie die Verbände. Die Helikopterperspektive der Makroebene beschreibt aktuelle und
zukünftige Tätigkeitsfelder bzw. Märkte, auf denen sich Klienten und Coaches bewegen
(werden), sowie das wirtschaftliche, technische und gesellschaftspolitische Umfeld. Alle
drei Ebenen werden mit unterschiedlicher Intensität bei den im Folgenden zu be-
schreibenden Kapiteln herangezoomt.
Inhaltlich befasst sich das eröffnende Kap. 2 mit der für jeden allgegenwärtigen und
nahezu alles durchdringenden Digitalisierung, wie auch mit dem für die meisten nicht
bewussten oder gar bekannten Thema der Big Data – also der gezielten Sammlung und
Verarbeitung zuvor nicht gekannter und beherrschbarer Datenmengen. Dabei beginnt die
Darstellung mit des „Pudels Kern“ – d. h. der in den letzten Jahren exponentiell ge-
wachsenen Verarbeitungsmenge bzw. -geschwindigkeit der Halbleiter sowie der so-
genannten „Hyperkonnektivität“, d. h., dass immer mehr von uns überall und jederzeit
über das Internet miteinander verbunden sind. Als hardwaretechnische Herzstücke unserer
Smartphones, Laptops, Tablets, Wearables, VR-Brillen etc. machen sie das heutige „mo-
derne Leben“ mit Social Media, Einkaufsplattformen à la Amazon, Kommunikationstools
wie ZOOM oder gar Chatbots erst möglich. Dass diese neuen Möglichkeiten sowohl
Chancen als auch Risiken in sich tragen, kann jede(r) in der mehr oder minder intensiven
Nutzung der Geräte im Alltag sowohl bei sich selbst als auch in den Medien erfahren. Und
wäre da nicht COVID-19 gewesen, hätten viele Coaches ihre Vorbehalte gegen das Online-­
Coaching weiterhin gepflegt bzw. die disruptive Kraft für den Coaching-Markt der zu-
sehends erstarkenden „Digital Coaching Provider“ (DCP; Plattformanbieter für Coaches)
weiterhin bewusst oder unbewusst ignoriert. Ziel der Unterkapitel ist es daher, über die
aktuellen und sich bereits am Technologiehorizont abzeichnenden Möglichkeiten zu infor-
mieren, ohne die Risiken kleinzureden. Schießt der Autor wahrscheinlich für den Ge-
schmack einiger Leser:innen dabei über das Ziel hinaus, sollten diese sich bitte immer
bewusst machen, dass es sich um eine Beschreibung einer Zukunft handelt, welche (als
1 Einleitung 9

heutige(r) Babyboomer:in!?) Szenarien der Lebens- und Arbeitswelt ihrer Kinder – meist
aber ihrer Enkelkinder – skizziert. Als Beleg, dass es auch dem Autor letztlich jedoch um
einen sinnvollen bzw. ethisch verantwortungsvollen Umgang mit den neuen Technologien
geht, soll schon an dieser Stelle auf das letzte Kap. 6 (→ Ethik als Imperativ für die kom-
menden Veränderungen) hingewiesen werden.
Kap. 3 befasst sich mit den verschiedenen Aspekten der demografischen und damit
auch soziologischen bzw. sozialpsychologischen Veränderungen (nicht nur) in Deutsch-
land. Dringen z. B. die Themen des kritischen demografischen Altersaufbaus unserer Ge-
sellschaft und die wiederholten Erhöhungen des Renteneintrittsalters für viele nur über
Nachrichtenmeldungen oder Schlagzeilen in anderen Medien ins Bewusstsein, reflektie-
ren vermutlich auch nur wenige Coaches, was dies für die quantitative und qualitative
Veränderung der Themen ihrer Klienten bzw. deren Kaufkraft in den nächsten 10–20 Jah-
ren heißt. Ähnlich verhält es sich mit der Rolle und der Bedeutung der Frauen für die
Arbeitswelt, die – um die Risiken der tendenziell fragileren Beschäftigungsverhältnisse in
der Unternehmenswelt mit den Partnern (Stichwort „doppelter Lebenslauf“) aufzu-
fangen – in der Zukunft immer häufiger parallel oder abwechselnd für einen soliden und
möglichst stabilen Finanzzufluss sorgen müssen. Denn dieser sollte nicht nur für gutes
Auskommen in der Gegenwart sorgen, sondern angesichts sich schleichend verringernder
staatlicher Rentenbezüge durch jede Form der Vermögensbildung auch noch im späten
Seniorenalter (75+) ein zumindest menschenwürdiges Leben ermöglichen. Ein für alle
gleiches, „bedingungsloses Grundeinkommen“ auch bei der Rente ist ein Szenario, das
schon heute viele verunsichert. Das „weibliche Kapital“, wie es Scott (2020) nennt, wird
daher dringend benötigt! Einen verstärkten „Kapitalzufluss“ – um im Bilde zu bleiben –
wird es wahrscheinlich jedoch nur geben, wenn Frauen in jeder Hinsicht die gleichen
Chancen (z. B. auf einen Vorstandsposten) wie Männer haben. Das aktuelle Schnecken-
tempo in Fragen der Gleichberechtigung stimmt hier trotz einiger Fortschritte nicht opti-
mistisch. Womöglich braucht es wie beim Thema Diversity bzw. Migration eine stärker
aufrüttelnde Begebenheit, wie beim Einwanderungsthema die Flüchtlingswelle von 2015.
Ähnlich dem Gleichberechtigungsthema hat das „älter, bunter, weiblicher“ bzw. haben die
heutzutage mit dem Begriff der „Diversity & Inclusion“ zusammenhängenden Heraus-
forderungen eine längere Historie in Deutschland. Gemeinsam ist ihnen überdies, dass es
ihnen hinsichtlich ihrer Bearbeitung auf gesellschaftlicher oder Unternehmensebene zu-
weilen an Stringenz, Nachhaltigkeit oder sogar an Ernsthaftigkeit fehlt. Kap. 3 entfaltet
die potenziellen Themen und Herausforderungen dieser neuen Zielgruppen für Coaches.
Ferner wird sich in diesem Bereich zeigen, wie ernst es den Coaches mit dem oftmals ge-
äußerten Ausbildungsmotiv, „nun endlich etwas mit und für Menschen machen zu wol-
len“, wirklich ist. Denn der potenzielle Glanz von Status, Macht und Geld eines Business-
bzw. Executive-Coachings ist zumindest im Bereich der von Haushalt und Kindern
gestressten Doppelverdiener, der Senioren und Migranten wahrscheinlich etwas matter.
Das Kap. 4 spannt den Bogen von dem Zeitgeistphänomen VUCA über die sich daraus
ergebenden, lebenslangen Anforderungen an das Lernen und die Veränderungsbereitschaft
der Menschen sowie den Einfluss dieser permanenten Flexibilitätsanforderung auf deren
10 1 Einleitung

Identität und Lebensführung. Um den Trendbegriff VUCA als Diagnoseraster und Arbeits-
hilfe praktikabler zu machen, wird er anhand des Beispiels der Strategieentwicklung
(Abschn. 4.1) in seinen einzelnen Begriffen durchdekliniert und mit entsprechenden Kon-
zepten angereichert. Die grundsätzliche Anlehnung an die Wahrnehmungsphysiologie
und -psychologie bei diesen Ausführungen führt beim Thema der Komplexität zu einem
Exkurs in die Theorie der sozialen Systeme. Dass an deren Ende mit Dirk Baecker (1997)
als Forderung an Coachees und Coaches nicht eine Vereinfachung, sondern die Erhöhung
der Eigenkomplexität steht, wird Anhänger systemisch-konstruktivistischer Perspektiven
nicht verwundern.
Eine Maßnahme, um diese Eigenkomplexität zu erhöhen, ist es, Lernen (Abschn. 4.2)
als lebenslange Aufgabe zu begreifen. Wie, wann und wo dieses Lernen geschieht, wird
für die kommenden Generationen mit den neuen technologischen Möglichkeiten jedoch
völlig anders aussehen als heute. Lebens- und damit Tätigkeitsnähe, kurze und themen-
spezifische Einheiten (Microlearnings) oder komplette Online-Kurse (MOOCs), Lernen
im virtuellen Raum (Augmented- oder Virtual-Reality-Anwendungen) oder die (lebens-
lange) Dokumentation erworbener Abschlüsse oder Kurszertifikate in einer entsprechenden
Blockchain sind nur einige Stichworte für diese moderneren Lernwelten, die sich schon
heute klar abzeichnen. Obwohl Lernen und Verlernen in all ihren Facetten immer schon
das indirekte Thema des Coachings waren und sind, kommt der Rolle des „Lerncoaches“
nach Ansicht des Autors eine immer größere Bedeutung zu. Insbesondere deshalb, da
durch die Flexibilisierung der Unternehmen und damit auch der Beschäftigungsver-
hältnisse eine orientierende, (individuell) betreuende und mit maßgeschneiderten Lern-
inhalten und -prozessen versorgende Personalentwicklungsabteilung im traditionellen
Sinne nach und nach verschwinden – oder nur noch einer stabilen Kernbelegschaft zur
Verfügung stehen – wird (siehe dazu auch Abschn. 5.2). Mit „Self-Service“ als Schlüssel-
begriff des „neuen HR“ gilt es daher für den Rest der Erwerbstätigen (mit Zeitverträgen!?),
überwiegend selbst dafür zu sorgen, für den Betrieb hinsichtlich der eigenen Fertigkeiten
und Fähigkeiten (vgl. dazu auch die Abschn. 5.3 und 5.4) attraktiv zu bleiben; und dies
erfordert die Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen, die (unternehmensinterne!) Lern-
coaches unterstützen könnten. Den Lernfortschritt und letztlichen Lernerfolg mit ent-
sprechenden Wearables oder AR- oder VR-Geräten messbar zu machen und die dabei ge-
nerierten Daten auch auswerten und verstehen zu können, muss aus dem zukünftigen
Coach zwar noch keinen Data-Scientist machen – es erfordert mit Sicherheit jedoch eine
größere Affinität zu Technologie und Zahlen, als sich dies mit dem heutigen Bild des Coa-
ches verbindet. Dass diese insgesamt neuen Rahmenbedingungen des Lernens auch Aus-
wirkungen auf die Karrieremodelle (siehe dazu Abschn. 5.5) und beruflichen Identitäten
von morgen haben werden, liegt auf der Hand. So ist Letzteres auch Gegenstand des fol-
genden Kapitels.
Formulierte Greverus bereits 1995 in ihrem Buch „Die Anderen und ich. Sich erkennen,
erkannt und anerkannt werden“ (Greverus, 1995) den „Arbeitsauftrag“ zur Identitäts-
arbeit für den Menschen der Postmoderne, wird diese Forderung durch die digitalen
Möglichkeiten zu multiplen und von der realen Welt völlig losgelösten virtuellen Identi-
1 Einleitung 11

täten sicher nicht einfacher. So ist für viele Erwachsene (von morgen) schon heute eine
wichtige Frage, wie („gephotoshopt“) ich mich in den verschiedenen sozialen Medien
darstelle, um für die Freund:innen oder eben auch potenziellen Arbeitgeber:innen attraktiv
zu sein. Die im Jahr 2003 gestartete, virtuelle Onlinewelt „Second Life“ war hier sicher
nur ein erster Vorgeschmack, was zukünftig infolge der sich stetig weiterentwickelnden
Technologie der Virtual oder Mixed Reality möglich sein wird. Heute, 2022, spricht man
daher nicht mehr nur von der einen virtuellen Welt, sondern von dem sogenannten „Meta-
versum“, also einer Vielzahl von virtuellen Parallelwelten, durch die man sich zudem mit
einem (!) portierbaren Avatar bewegen kann. So zumindest die Ideen der Spieleentwickler
im Silicon Valley (Schuler, 2021). So thematisiert Abschn. 4.3 den Wandel von der Identi-
tät zur We-Dentität anhand der dazu schon seit Längerem existierenden, meist sozio-
logisch geprägten Modelle der „Lebensbastler“, die u. a. den „Crazy Quilt“ als Vorlage
ihrer Lebensgestaltung sehen, oder aber Richard Sennetts „flexiblem Menschen“, welcher
herausgelöst aus allen sozialen Bezügen überall ist, nur nicht bei sich. So scheint es nur
konsequent, dass dieser Verlust einer klar abgrenzbaren Identität bzw. der Verlust einer in
einem, sozialen Bezugssystem stabil verankerten Identität die eigene Selbstvergewisserung
z. B. in der immer populärer werdenden Selbstvermessung sucht. Der ironische Titel des
Buches des Philosophen und Publizisten Richard David Precht von 2007 „Wer bin ich –
und wenn ja, wie viele?“ (Precht, 2007) steht beispielhaft nicht nur dafür, dass multiple
Persönlichkeiten heutzutage nur noch in extremen Fällen ein pathologischer Befund sind,
sondern eine Anforderung des modernen, digitalen Lebens. Dass auch für die damit ver-
bundenen Themen (und Gefahren) des digitalen Identity-Managements wiederum eigen-
ständig Strategien entwickelt werden müssen, verweist auf einen weiteren Aspekt des
Themenkreises: die stärkere Subjektivierung und Responsibilisierung des Individuums.
Die ebenfalls leicht ironische Definition unternehmerischer Selbstständigkeit – „selbst
ständig, und ständig selbst“ – ist eine Andeutung der tiefergehenden Problematik in den
für dieses Kapitel wichtigen Konzepten des „Arbeitskraftunternehmers“ von Pongratz und
Voß (2003) und des „unternehmerischen Selbst“ von Bröckling (2016). Beschreibt erste-
res den Zwiespalt zwischen den Freuden der Selbstbestimmtheit und den damit einher-
gehenden Gefahren der „Selbstverwertung“ bis hin zur Selbstausbeutung dieser „Ich-­
AGs“, warnt zweiteres vor der heutigen ideologischen Aufladung des (Start-up-)
Unternehmers und dem Sog der damit einhergehenden Selbstoptimierungbestrebungen,
die ihrerseits von einer findigen (Weiterbildungs- und Beratungs-)Industrie gezielt mone-
tarisiert werden. Gehören zu dieser Industrie selbstredend auch die Coaches, ist der Autor
besonders auf die Reaktionen der Leserschaft hinsichtlich des in den Abschn. 4.4.2 bzw.
4.4.3 vorgeschlagenen Lösungsraums gespannt.
Abschn. 4.4 plädiert u. a. für eine Ersetzung des schon begrifflich eingeengten, mono-
thematischen Business-Coachings durch ein der zunehmenden Entgrenzung der Lebens-
und Arbeitswelt (Stichwort „Homeoffice“) gerecht werdendes Coaching. Ein Coaching,
welches einer eher ganzheitlich angelegten, „reflexiven Lebensführung“ einen Rahmen
bietet. Dieses von Hildebrandt und Linne (2000) entwickelte Konzept beschreibt dabei die
Bewältigung konkreter Alltagssituationen in zeitlicher, räumlicher, sachlicher, techni-
12 1 Einleitung

scher, sozialer, emotionaler, sinnhafter und genderbezogener Hinsicht bzw. die mehr oder
minder bewusste Festlegung und Koordination der genannten Dimensionen. Sie hilft bei
der Bewältigung der täglichen Lebensanforderungen, sorgt dafür, dass der Alltag bzw.
dass „man“ funktioniert. Aber genau darin besteht jedoch potenziell auch die Gefahr der
schleichenden Selbstentfremdung. So setzten beide Autoren diesem „automatischen Funk-
tionieren“ das Konzept der „reflexiven Lebensführung“ entgegen, welches ein möglichst
bewusstes und „agiles“ Anpassen an neue Alltagsgegebenheiten als zentrale Anforderung
an das „moderne Leben“ erachtet. Dass Coaching für das Durchbrechen potenziell er-
starrender Handlungsmuster, diese Neuorientierung in den verschiedensten Lebens-
bereichen eine wertvolle Hilfe sein kann, ist selbstredend. Zeit bzw. spezielle, durch Lage,
Dauer, Rhythmisierung etc. definierte Arbeitszeitmuster und die Herrschaft darüber be-
stimmen letztlich das Ausmaß an Selbstbestimmung bzw. Zeitsouveränität. Doch bis zu
dieser Zeitsouveränität muss ein beachtliches Stück an Organisation und Zeitmanagement –
an zusätzlicher Arbeit (!) – geleistet werden. So sorgt z. B. die Grenzverschiebung des
Homeoffice auch für eine Aufgabenverschiebung, welche mit ihren Strukturierungs-
zwängen zumindest latent auch das Risiko der Überlastung in sich birgt. Die Entstehungs-
bedingungen und Entstehungsformen von Zeit- und Leistungsdruck genauer zu durch-
leuchten, aber auch die Konsequenzen und entsprechende Gestaltungsoptionen
aufzuzeigen, ist in Anlehnung an Handrich et al. (2016) Kernthema dieses vierten Kapi-
tels. Wie eingangs des Abschnittes erwähnt, verbindet sich bei einer integrativen Be-
trachtung aller Lebensbereiche bzw. der Erörterung des Coachings als Service die Dis-
kussion um die Reichweite der Inhalte und damit die Benennung des (Business- und/oder
Life-)Coachings. Der kurze, historische Abriss des Themas „Life-Styling“, welches im
deutschsprachigen Bereich insbesondere von Rolf Stiefel seit den 80ern leidenschaftlich
vertreten wurde, soll dabei zeigen, dass die Gründe für die Fokussierung des Berufsstandes
auf das Business wohl eher in der jugendlichen Notwendigkeit zur Identitätsbildung und
der leichteren Monetarisierung (in der Unternehmenswelt) als wirklich inhaltlich be-
gründet waren. Als weiteren Ansatzpunkt für einen stärker integrativen und forschungs-
basierten Ansatz sieht der Autor die Forschungsarbeit des Soziologen Gerd-Günter Voß
zur „Lebensführung als Arbeit. Über die Autonomie der Person im Alltag der Gesellschaft“
(Voß, 1991). Kernmerkmale des Ansatzes sind seine Ganzheitlichkeit i.S.v. alle Lebens-
bereiche umfassend, sein Praxisbezug bzw. seine Praxisrelevanz (i.S. einer Sinnhaftigkeit
für das Individuum) sowie sein Bezug zu regelmäßigen bzw. alltäglichen Tätigkeiten und
deren Regulation. Ob das „neue“ Coaching dann z. B. „Life Leadership Coaching“ oder
ganz anders heißen soll, lässt der Autor offen und präsentiert stattdessen sechs Dis-
kussionsanstöße, welche der Coach-Community dazu dienen könnten, die Fragestellung
eingehender zu erörtern. Zentrale inhaltliche Themen der sich dabei vollziehenden Neuak-
zenturierung der Coaching-Services sind psychische und physische Gesundheit bzw. Re-
silienz, das Thema der (relationalen) Selbstsorge und alle Themen, die Buer und Lellek
(2008) in ihrem Buch des Life-Coaching zusammengestellt haben. Mit der Annahme, dass
man Menschen in einer globalen, digitalisierten und zuweilen als sinnlos empfundenen
Arbeits- und Lebenswelt nur dann wirksam und nachhaltig unterstützen kann, wenn man
1 Einleitung 13

ihr ganzes Leben in den Blick nimmt, reihen sich hier mühelos Konzepte wie das der
Lebenskunst, des Glücks und Sinns oder der Verantwortung etc. aneinander, ohne dabei
jedoch in die Niederungen eines flachen Lebensratgebers abzugleiten. Darauf aufbauend
wird mit Böning (2015) hinterfragt, ob durch eine geclusterte, individuelle bzw. sub-
gruppenspezifische Antwort auf obige Lebensthemen nicht auch ein milieuspezifischer
Zuschnitt von Coaching-Services sinnvoll wäre.
Den Einfluss der Veränderungen in der Wirtschaft bzw. Unternehmenswelt auf Klient,
Coaching und Coach entfaltet das Kap. 5. Als sich wandelnde Bereiche werden in den
Unterkapiteln die Geschäftsmodellinnovationen der „New (Platform) Economy“
(Abschn. 5.1), die voranschreitende Digitalisierung der HR-Bereiche in den Unternehmen
(Abschn. 5.2) und die auf größere Flexibilität abzielenden Varianten von Beschäftigungs-
verhältnissen (Abschn. 5.3) erörtert. Eng miteinander verwoben sind die Themen des
Kompetenzaufbaus und -erhaltes (Abschn. 5.4) sowie der Neudefinition des Karriere-
begriffs (Abschn. 5.5). Der Neologismus des „LeaderSHIFT“ (Maxwell, 2019) in der
Überschrift des Abschn. 5.6 verweist auf das bereits bei den Ausführungen zur VU-
CA-Welt in Abschn. 4.1 herausgearbeitete Leitthema des „Sowohl-als-auch“ bzw. der so-
genannten Beidhändigkeit (= Ambidextrie; Duwe, 2020) im Rahmen des sogenannten
Managements 1. und 2. Ordnung (Backhausen, 2009). Synergetisch zusammengeführt
werden die damit verbundenen und lange bekannten Führungsmodelle des Full-Range-,
Super- und Shared Leadership durch den Autor in einem Metamodell der Führung (Ambi-
dextrie-Triplett der Führung) in dieser neuen Lebens- und Arbeitswelt. Dieses wird er-
gänzt durch ein entsprechendes Konzept für das Coaching (Ambidextrie-Triplett des
Coachings).
Ist im Rahmen der in Abschn. 5.1 skizzierten New Economy eine der Disruptionen im
Dienstleistungsbereich die Plattform-Idee, sind auch Coaching-Services gezwungen, sich
durch die immer stärker werdenden, sogenannten „Digital Coaching Provider“ (DCP) mit
diesem neuen Distributionskanal auseinanderzusetzen. Wie in der realen Welt nimmt die
Macht (z. B. über die selektive Vergabe und die qm2-Kosten für den Stellplatz) eines
Marktplatzbetreibers (für z. B. Obst und Gemüse) u. a. in dem Maße zu, wie leicht es
z. B. geografisch (z. B. hinsichtlich Lage und Anfahrtsweg) für den Käufer ist, alternative
Einkaufsmöglichkeiten zu finden bzw. wie viele alternative Marktplätze es gibt und wie
breit gestreut das Warenangebot auf dem Marktplatz ist. Denn kann der Kunde möglichst
viele Bedürfnisse auf ein und demselben Markt befriedigen, wird er dort mehr Geld aus-
geben. Die damit verbundene Beliebtheit dieses einen Markplatzes beim Kunden wird
wiederum die Standgebühr für den Quadratmeter hochtreiben und den Marktplatzbetreiber
bei jedem Kauf prozentual kräftig mitverdienen lassen, ohne dass er selbst realwirtschaft-
lich ein Produkt anbietet. Er schiebt sich zwischen den Produzenten und den Konsumenten
und versucht alles, um mittels gezielten Marketings möglichst schnell bekannt und beliebt
zu werden, um derart möglichst schnell zu wachsen und andere Wettbewerber verdrängen
oder aufkaufen zu können. Im Extremfall besitzt der Plattformbetreiber ein Entscheidungs-
monopol darüber, was, wie, wann, wie lange, wo etc. verkauft wird und vor allem, welche
Standkosten er dafür verlangen möchte. Obwohl das Marktvolumen des Nischenmarktes
14 1 Einleitung

„Coaching“ vergleichsweise verschwindend gering ist, beobachten nicht wenige Coaches


das beschriebene Geschäftsgebaren der Plattform-Giganten Amazon oder Alibaba auch
bei den DCPs. Aber vielleicht geht es den Plattformen perspektivisch ja auch nicht nur
darum, Coaching-Services anzubieten!? Diese und weitere negative, wie auch positive
Auswirkungen der DCPs auf den Coaching-Markt mit seinen Coaches, Einkäufern von
Coaching-Services in Unternehmen und auch den Verbänden sind einer der zentralen In-
halte des Abschn. 5.1.1 und 5.1.2. Geschäftsmodellinnovationen (basierend auf dem
Canvasmodell von Osterwalder und Pigneur (2010)) können jedoch nicht nur in der Neu-
gestaltung der Vertriebswege bestehen. Dies zeigt die beispielhafte Nutzung des „Blue
Ocean“-Konzeptes von Kim und Mauborgne (2005) speziell zur Stärkung des Nutzenver-
sprechens oder aber des „Business Model Navigators“ (Gassmann et al., 2014), um nach
weiteren Innovationsmöglichkeiten bei dem Geschäftsmodell für Coaching-Services zu
suchen. Welche Bedeutung das neue, alternative Nutzenversprechen eines stärker
kommerzialisierten „Bestseller-Coachings“ im Vergleich zu dem situativen Über-
raschungspaket des „Kunsthandwerks-Coachings“ bekommen wird, bleibt abzuwarten.
Die soeben genannten Themen bestimmen auch die in Abschn. 5.1.3 dargestellten neuen
Rollen- und Tätigkeitsaspekte für den Coach selbst. Definierten sich Coaches bisher ggf.
über ihre Klientel im Business, werden die kommenden Jahre zeigen, wer von ihnen auch
den Business-Aspekt der eigenen Services erfolgreich zu managen weiß und ihn durch
Innovationen auch in einer veränderten Lebens- und Arbeitswelt erfolgreich anbieten kann.
Die soeben erwähnte, sich verändernde Arbeitswelt kommt durch die Darstellung der
verstärkten Digitalisierung der HR-Abteilungen in Unternehmen in Abschn. 5.2 zur Spra-
che. Nach einem kurzen Ausflug in die Historie und die Neuerungen der HR-Software als
der Informations- und Kommunikations-Schnittstelle zwischen Unternehmen und Beleg-
schaft verweisen die dabei durchlaufenen Reifestufen auf mögliche nächste Entwicklungs-
schritte, jedoch auch auf neue Funktionalitäten, welche durch Entwicklungen im Unter-
nehmensumfeld eigentlich unerlässlich sind. Mit Bezug auf den Analysten für
HR-Technologie, Josh Bersin (2017), werden in Abschn. 5.2.1 daher 6 seiner 10 als „Dis-
ruptionen“ bezeichneten Trends näher beleuchtet. Dazu zählen unter der Überschrift der
Flexibilisierung erstens die Fähigkeit zur Abbildung informeller organisatorischer Netz-
werke, zweitens eine Software, welche der geforderten, größeren Dynamik von Rollen-
bzw. Stellendefinitionen bzw. ihren Inhabern hinsichtlich Beschreibungsmöglichkeiten
gerecht werden kann. Drittens eine Softwarelösung, welche mit der Komplexität z. B. bei
Verträgen, den Vergütungs- und Steuersystemen (in verschiedenen Ländern) durch einen
zukünftig vermutlich wachsenden Anteil an „fluider Belegschaft“ (Stichwort „atypische
Arbeitsverhältnisse“, Abschn. 5.3) strukturell und inhaltlich gewachsen ist. Feedback-
möglichkeiten in jeder Richtung und jeder Situation auf individueller (→ Leistungs-
feedback) wie organisatorischer Ebene (→ Employee Engagement) sind das zweite große
Thema, um die vermeintlich gesunkene Produktivität der letzten Jahre wieder wettzu-
machen. Als Unternehmen am Puls der Arbeitnehmer zu sein bzw. als einzelner Mit-
arbeiter jederzeit eine umfassende Standortbestimmung erhalten zu können, darum dreht
sich der zweite und dritte Punkt. Gegenstand der vierten Disruption ist die Lerntechno-
1 Einleitung 15

logie. Hier geht es im Wesentlichen um die (durch KI) sehr starke Personalisierung sowie
die Integration sehr heterogener Lernangebote, die jederzeit und auf allen Endgeräten ab-
rufbar sein müssen und auch in ihren Ergebnissen dokumentiert werden können. Ent-
sprechende Plattformen unterstützen kollaborative Lernformate oder stellen internes Wis-
sen oder Serviceangebote (z. B. internes Coaching) allseits zur Verfügung. Ein besonderes
Lernthema soll dabei zukünftig der Bereich der physischen, insbesondere aber auch psy-
chischen Gesundheit sein. Neben der in Deutschland ohnehin juristisch festgelegten Für-
sorgepflicht des Unternehmens für seine Mitarbeiter:innen in Bezug auf diese fünfte
Neuerung lässt sich das nicht ganz uneigennützige Interesse der Unternehmensleitung am
Gesundheitszustand und damit an der Leistungsfähigkeit seiner Mitarbeiter nicht ver-
hehlen. Dies umso mehr, als die sechste Disruption das Themengebiet der sogenannten
People oder Embedded Analytics umfasst. Mehr oder weniger bemerkbar sollen die
„Humanressourcen“ hinsichtlich möglichst vieler Merkmale vermessen, analysiert und
heutzutage sogar prognostizierbar gemacht werden. Dass dies eine ethische bzw. daten-
schutztechnische Gratwanderung darstellt, braucht nicht eingehender erläutert zu werden.
Die sich durch die vorangegangenen Ausführungen ergebenden Konsequenzen für den
Service Coaching (Abschn. 5.2.2) sind im Hinblick auf eine Bedeutungsaufwertung und
ggf. einen Ausbau des internen Coachings offensichtlich. In Bezug auf das externe Coa-
ching ist die (datenschutz-)technische wie inhaltliche Ankopplungsfähigkeit der DCPs
entscheidend. Je nach Entwicklungsstand des zukünftigen Reifegrades könnten die Daten
aus einer IT-gestützten Laufbahnberatung für das interne und externe Coaching einen
wertvollen Input liefern. Gleiches gilt für die Daten aus KI- oder VT-/AR- augmentierten
Coaching-Prozessen. Insgesamt könnte der Service stärker auf Zahlen, Daten und Fakten
basieren, was dem Coach (Abschn. 5.2.3) wiederum die Bereitschaft und Fähigkeit ab-
verlangen würde, diese auch in das Coaching einfließen lassen zu können. Zunächst
müsste er jedoch um die Existenz dieser zukünftig in HR verfügbaren Daten wissen, um
gezielt danach fragen zu können. Als Freelancer meist selbst in einem atypischen Arbeits-
verhältnis, können externe Coaches die spezielle Situation ihrer Klient:innen dieser Kon-
stellation leicht nachvollziehen. Werden diese auf maximale Flexibilität bzgl. Be-
schäftigungsdauer und Arbeitszuschnitt ausgerichteten Vertragsvarianten gesellschaftlich
im Falle prekärer Arbeitsbeziehungen zu Recht auch kritisch gesehen, ist dennoch zu ver-
muten, dass diese als eine Beschäftigungsvariante auf dem Arbeitsmarkt bestehen bleiben.
Angesichts der sich in den letzten Jahren global verfünffachenden Anzahl an digitalen
Plattformarbeitgebern muss es darum gehen, (global) für faire Arbeitsbedingungen zu sor-
gen (Oxford Internet Institute, 2021a) und sich in den kommenden Jahren zu organisieren.
Voran gehen hier die bis dato ausgebeuteten Lieferdienste (Oxford Internet Institute,
2021a). Zudem wird in diesem Unterkapitel 5.3 gezeigt, dass Freelancer nicht gleich Free-
lancer ist und dass mit atypischen Arbeitsverträgen neben den vielen Nachteilen und Risi-
ken auch Vorteile verbunden sein können. So haben Beschäftigte mit häufiger wechseln-
den Arbeitgebern beispielsweise einerseits die größere Freiheit, ihre Loyalität bzw. den
psychologischen Kontrakt mit dem jeweiligen Arbeitgeber stärker zu variieren, oder aber
auch die Möglichkeit, viele Unternehmenskulturen kennenzulernen (bevor man sich dann
16 1 Einleitung

ggf. doch für länger bindet). Andererseits ist eine längerfristige Lebensplanung durch
einen unsicheren Kapitalzufluss aus der Erwerbsarbeit eher schwierig und geregelte
Arbeitszeiten eher selten. Ähnliches gilt für das spezielle Arbeitssetting „Cloudwork“
(Oxford Internet Institute, 2021b) – sowohl für den Arbeitnehmer im Homeoffice wie für
das beauftragende Unternehmen –, gleich ob dieses auf einem regulären oder atypischen
Arbeitsvertrag basiert. Konsequenzen für den Coach selbst und das Coaching
(Abschn. 5.3.3) könnten sein, dass der Coach sich stärker als Rollenmodell für das Auf-
bauen von Netzwerken sieht, welche zwar über das Coaching i.e.S. hinausgehen, aber
dennoch mehr oder minder große Coaching-Anteile (beispielsweise zu den Themen
Gesundheit, Start-up, Erwerbstätigkeit, Familie/Partnerschaft, Vermögensbildung, Rente
etc.) besitzen können. In einer rasant wachsenden Plattformökonomie könnten sie auch
Rollenmodelle für ihre Klienten im Hinblick auf eine gewerkschaftsähnliche Interessen-
vertretung der Soloselbstständigen bzw. Cloudworker sein. Ferner werden Coaches und
ihr Coaching zukünftig das Thema Selbstmanagement mit Blick auf ihre Weiterbildung
sowie ihre (Erwerbs-)Biografie intensiv auch aus der eigenen Erfahrung kennenlernen und
die Entwicklung der Resilienz in vermehrt von Unsicherheit und Dynamik geprägten Zei-
ten insbesondere für heute noch junge Coaches wird zu einer der Lebensaufgaben werden.
Das Abschn. 5.4 widmet sich dem in der Zukunft unerlässlichen Kompetenzaufbau
und -erhalt. Ausgangspunkt dafür sind auch in diesem Kontext die Veränderungen am
Arbeitsplatz (→ virtueller, entgrenzter, dynamischer und immer schwächer als Stelle vor-
definiert), der Arbeitsinhalte und -prozesse (interdisziplinärer, technisch augmentiert,
orientiert am Ergebnis statt an einer Regelarbeitszeit) sowie der Belegschaft (→ fluider
und diverser in jeder Hinsicht). Durch die insgesamt zunehmend selbststeuernden, aber
auch kollaborativen und kreativ-problemlösenden Anforderungen an die Arbeit gewinnen
die „weichen“ Kompetenzbereiche der in Deutschland oft als „Orchideenfächer“ be-
zeichneten Studienbereiche (→ die künstlerischen, philosophischen, sprachlichen oder
sozial- und humanwissenschaftlichen Fakultäten) eine größere Bedeutung. Damit einher
geht die Neuakzentuierung des Weiterbildungsfokus von den sich durch den Technologie-
fortschritt schnell wandelnden Fertigkeiten (z. B. CNC-Fräsen) hin zu stärker generischen
bzw. „zeitloseren“ Fähigkeiten (z. B. Kreativität, Teamarbeit, Selbstmotivation etc.). Neu
ist in diesem Zusammenhang die immer häufiger auch indirekte „Stimulation“ dieser im
klassischen Sinne schwer schulbaren Fähigkeiten – z. B. über Raumgestaltung. Eine sicht-
bare Folge davon ist, dass die (nach COVID-19 verbleibenden) Räumlichkeiten in den
Unternehmen unter dem Label „New Work“ noch nie so bunt, verspielt, heimelig und
flexibel waren – eher wie „Spielecken für Erwachsene“ als wie Büros aussehen.
Für den Klienten oder Coachee (Abschn. 5.4.1) bedeutet dies, dass das nicht ganz neue
Thema der (lifelong) Employability (statt „Employment Security“) – oder der „Selbst
GmbH“ aus den 1990er-Jahren – erneut wichtig wird. Damit zusammen hing die Dis-
kussion um die Forderung nach der Entwicklung der sogenannten „Schlüsselkompetenzen“,
welche sich jedoch mit den soeben genannten „Fähigkeiten“ sehr stark überlappen. Geht
es daher um das „was“ beim Lernen, ist zum einen die Tendenz zum Überdauernden fest-
zustellen – zum anderen belegen Studien z. B. des „World Economy Forum“ (WEF), dass
1 Einleitung 17

es selbst bei den als basal angenommenen Fähigkeiten über die Jahrzehnte ein dynami-
sches Ranking unter den „Top 10“ gab und gibt. Hinsichtlich der zukünftig relevanten
Arbeits- oder -themenbereiche fasste der ehemalige Arbeitsminister von Bill Clinton, Ro-
bert Reich, diese in seiner einprägsamen „5C“-Formel zusammen: Computerisation,
Caring, Catering, Consulting, Coaching. Ähnlich den Zukunftstrends beim Lernen
­
(Abschn. 4.2) sind es fünf Adjektive, welche das „wie“ des Kompetenz- und Fähigkeits-
erwerbs in den kommenden Dekaden treffend beschreiben könnten. Da ist zum einen
natürlich das schon länger thematisierte (1) lebenslange Lernen, zum anderen das sich (2)
nonlinear über das Leben erstreckende Lernen, welches die herkömmlichen drei Phasen
„Ausbildung, Arbeit, Rente“ durch ein eher patchworkartiges, die sehr individuelle
Lebenssituation widerspiegelndes sowie sich potenziell wiederholendes Muster an Reskil-
ling oder Upskilling-Aktivitäten oder aber auch den Gang in die phasenweise Erwerbs-
losigkeit ersetzen wird. Eine stärkere (3) Parallelität ergibt sich beim Lernprozess im in-
tensiveren Verschmelzen von Lernen und Tun in der Betonung des erfahrungsbasierten
Lernens. Referenzierend auf das Modell der arbeitsbezogenen Identität („working iden-
tity“) von Herminia Ibarra (2004) wird Arbeit auch als explorative und (4) zyklisch zu ak-
tualisierende Identitätsarbeit gesehen. Dabei gilt es das, was wir sein wollen, wer wir sind
und was wir tun, zu harmonisieren, indem Wertigkeiten, (Vor-)Urteile der Person über sich
(z. B. die eigenen Kompetenzen) und die Umwelt im Selbstkonzept permanent den neuen
Gegebenheiten angepasst werden. Die fünf Schritte der „Serial Mastery“ von Linda Grat-
ton (2011) wiederum verweisen darauf, dass nur ein einziger, lebenslang auszubauender
Bereich der Expertise in einer sich kontinuierlich und dynamisch verändernden Arbeits-
welt – welcher zusätzlich zu potenziell sehr viel längeren Zeiten der Erwerbslosigkeit und
einem weitreichenden Generalistentum gesellt – nicht ausreichen wird. Wie im „T“-Mo-
dell der Qualifikation gilt es zwar themenübergreifendes bzw. -verbindendes Breiten-
wissen (horizontaler Strich im „T“) zu besitzen; viel wichtiger ist jedoch der vertikale, (5)
in die Tiefe gehende Wissensanteil (vertikaler „Fuß“ des „T“), welcher sich zudem idealer-
weise um ein möglichst neues Spezialthema mit Alleinstellungsmerkmalen rankt. Die
Auswirkungen dieser neuen Akzente beim Kompetenz- und Fähigkeitserwerb auf den
„Service“ Coaching (Abschn. 5.4.2) sind die Kollaboration der Coaches mit anderen Spe-
zialisten, die Betonung und Förderung praxisorientierter Lernformen (d. h. Reflexion des
Alltagslernens bzw. von unbewusster zu bewusster Kompetenz) wie auch die Fokussie-
rung auf Kundengruppen, die sich in der letzten Phase ihres regulären beruflichen Lebens
befinden und über die Ausgestaltung der Folgejahre nachdenken wollen. In der Konse-
quenz für den Coach (Abschn. 5.4.3) bedeutet dies, dass ein vertieftes, andragogisches
Wissen über „Lernen im Alter“ sowie in Zusammenarbeit mit anderen Spezialisten ggf.
eine vertiefte Digital Literacy (siehe auch Abschn. 6.2) den Weg ebnen sollten. Eine zen­
trale Kompetenz, die es beim Coach und bei seinen Klienten insbesondere in beruflicher
Hinsicht angesichts der dynamisierten Lebens- und Arbeitswelt und der permanenten An-
forderungen (sich zu verändern) zukünftig zu stärken gilt, ist die Resilienz. Im Idealfall
wäre der Coach daher Rollenmodell für die erfolgreiche Bewältigung der vielfältigen
Lernanforderungen, welche sich auch aus den tätigkeitsspezifischen Kompetenzmodellen
18 1 Einleitung

ableiten könnten. Dabei wäre jedoch von den entsprechenden Urhebern (wie z. B. dem
DBVC e.V.) darauf zu achten, dass diese auf der Höhe der Zeit sind und damit auch
Praxisrelevanz haben. Dass Coaches durch die Zusammenarbeit der vielen Verbände in
diesem Bereich zu einer verbindlichen Definition von Kompetenzen, welche es durch ver-
schiedene Abschlüsse zu erwerben gilt, gelangen, um über den Titelschutz zu einer drin-
gend benötigten, einheitlichen, abgrenzbaren Berufsbezeichnung zu kommen, ist auf-
grund der aktuellen politischen Lage im unvollständigen Zusammenschluss der
Coaching-Verbände im deutschsprachigen Raum (Roundtable Coaching e.V.; RTC) leider
nicht zu erwarten (Fietze & Salomon, 2021).
Dass in immer schlankeren, virtuelleren, netzwerkartigeren und temporär etablierten
Organisationsstrukturen mit atypischen Beschäftigungsformen die klassische, lineare
Karriere oder berufliche Laufbahn immer seltener anzutreffen sein wird, ist die Grund-
annahme des Abschn. 5.5. Ergänzt oder gar abgelöst werden diese durch das Konzept der
Erwerbsbiografie, welches die mit Karriere verbundenen Assoziationen von dem schnur-
geraden und ungebrochenen, vertikalen Aufstieg in Richtung einer Patchworkarbeit, eines
Kaleidoskops oder Mosaiks verschieben wird. Merkmale dieser bunten Erwerbsbiografie
sind die Integration des Zufalls bzw. geringere Vorhersagbarkeit, deren strukturelle Multi-
direktionalität, inhaltliche Variabilität hinsichtlich der Tätigkeit sowie deren instabile Ziel-
position i.S. eines „moving target“ (Abschn. 5.5.1). Ferner tut man infolge wahrscheinlich
häufiger wechselnder (Projekt-)Manager gut daran, sich nicht nur auf deren Engagement
für das eigene Fortkommen zu verlassen und selbst verstärkt als Schmied des eigenen
Glückes initiativ bzw. aktiv zu werden. Diese größere Variabilität bleibt logischerweise
nicht ohne Folgen für den Service Coaching (Abschn. 5.5.2). So bedarf es neuer, flexibler
Honorarmodelle, die hinsichtlich des Preises variabler sind (z. B. durch Flatrates oder
Standardmodule oder Phasen des eigenständigen, Online- bzw. lernbotgestützten Lernens)
oder die – wie zuweilen bereits in der Beratung immer wieder praktiziert – erfolgsabhängig
sind oder durch einen Aufschlag auch Zahlungspausen zulassen. Nicht nur hinsichtlich
des Lernformates „Coaching“ wäre es in einem dynamischen Arbeitsmarkt für alle Be-
troffenen hilfreich, sämtliche Lernaktivitäten in einer Blockchain dokumentieren zu kön-
nen. Doch obwohl technisch realisierbar, sind wir hier von der allseitigen und nachhaltigen
Implementierung heute noch weit entfernt. Als Konsequenz für die Rolle des Coaches
bzw. die Themen im Coaching sieht der Autor in diesem Kontext (Abschn. 5.5.3) die
Unterstützung permanenter Transformationsanforderungen bzw. die Beantwortung der
folgenden Fragen des Coaches an sich selbst wie an den Klienten im Coaching: Was heißt
„Karriere“ – oder besser: „beruflicher Erfolg“ – für mich unter den aktuellen Gegeben-
heiten? Wie bewege ich mich im Spannungsfeld zwischen Identitätswandel und -wah-
rung? Wann passe ich mein bestehendes Selbstkonzept den neuen Tätigkeits- oder Lern-
anforderungen an, und wann exploriere und stimuliere ich selbst durch eine Neugestaltung
des Tätigkeits- oder Kompetenzprofils (z. B. durch Job Sculpting oder Workdesign) die
Erweiterung meines Selbstbildes? Um diesem immanenten Wachstumsgebot auch ange-
sichts verlängerter Lebens- und Erwerbsarbeitszeiten standzuhalten, bekommt auch die
Planung und Gestaltung von „kreativen (Lern-)Pausen“ in Form von Sabbaticals im Coa-
1 Einleitung 19

ching wahrscheinlich einen ganz neuen Stellenwert. Die schon in Abschn. 5.4 an-
gesprochene Rolle des Lerncoaches, des Designers von sehr unterschiedlichen Lern-
formaten und Lernsettings wird daher auch in diesem Kontext relevant. Gleiches gilt für
die Rolle des Diagnostikers, der zukünftig mit den zur Verfügung stehenden, vielfältigen
Wearables wahrscheinlich jedoch ganz neue Wege der Status- und Prozessanalyse bzgl.
des Lernens gehen kann.
Das mit dem Neologismus des „LeaderSHIFT“ (Maxwell, 2019) betitelte Abschn. 5.6
akzentuiert, worum es gehen soll: die Notwendigkeit einer Verschiebung i. S. einer syner­
getischen Zusammenführung bereits bestehender, bis dato jedoch wenig rezipierter
Führungsmodelle. Die Synergien der sich ideal ergänzenden Modelle ergeben sich dabei
aus dem bereits in Abschn. 4.1 herausgearbeiteten Leitthema des „Sowohl-als-auch“ bzw.
der sogenannten Beidhändigkeit (= Ambidextrie; Duwe, 2020). Als Ursachen dieser Not-
wendigkeit zu einer umfassenderen Betrachtung werden auf der Makroebene die in Kap. 7
ausführlicher dargestellten regionalen und globalen Wirtschafts- und Gesellschafts-
szenarien angeführt, auf der konzeptionellen Mesoebene der Paradigmenwechsel bei den
Organisations- und Führungstheorien; die Mikroebene fokussiert auf das veränderte Ver-
halten der zukünftigen Rolle als „Produzent“ und Konsument. Beschreiben die soeben
erwähnten Aspekte die situativen Veränderungen, stellt der Autor in Abschn. 5.6.1 das
Konzept des „Selbst“ in seinen mannigfaltigen Bezügen (Dependency, Independency und
Interdependency) zum Thema ins Zentrum der personen- bzw. klientenbezogenen Über-
legungen. Wie sich die affektiven (→ Selbstgefühl) und kognitiven (→ Selbstkonzept)
Facetten des Selbst zeigen, wird anhand der Phänomene Selbstwertgefühl, Selbstkenntnis,
Selbstaufmerksamkeit, Selbstverantwortung, Selbstfürsorge, Selbstentwicklung und
Selbstregulation entfaltet. Das von Letzterem nicht unabhängige Phänomen der Selbst-
führung wird anhand der meist in ihrer englischen Begrifflichkeit publizierten Führungs-
konzepte Self-Leadership, Super-Leadership, Full-Range-Leadership und Plural bzw.
Shared Leadership entfaltet. Ein konzeptionelles Update bzw. eine Ergänzung erhält das
Self-Leadership durch die wachsende Bedeutung des Führens auf Distanz, das Super-­
Leadership (zuweilen als Empowering Leadership bezeichnet) infolge der Notwendigkeit
zu stärkerer Außenkommunikation bzw. sozialer Vernetzung (→ Network-­Leadership)
von Unternehmen sowie der Kommunikation über die verschiedenen Social-Media-Ka-
näle (→ Open Leadership). Daraus entwickelt der Autor ein Metamodell der Führung,
welches er durch seine konzeptionell dreidimensionale „Beidhändigkeit“ als „Metamodell
der Führung“ (Ambidextrie-Triplett der Führung) bezeichnet. Abgeleitet daraus ergibt
sich das „Ambidextrie-Triplett des Coachings“. Aus obigen Metamodellen wiederum ent-
wickelt der Autor einen Serviceansatz (Abschn. 5.6.2), welcher die drei bekannten Arbeits-
bereiche des Coachings (Individual-, Team- und Organisationscoaching) in komplementä-
rer Weise integriert. Da sich jedoch die Rolle des Coaches und die des Trainers im Kern
grundsätzlich unterscheiden – nicht jeder gute Coach ist auch ein guter Trainer (und vice
versa) –, könnten sich Coaches angesichts des sich aus dem Metamodell ergebenden
Trainingsbedarfs fragen, ob sie ihr Serviceangebot um ein Trainingsangebot erweitern
oder aber mit einem entsprechenden Partnernetzwerk zusammenarbeiten wollen. Dies gilt
20 1 Einleitung

für das damit einhergehende Trainings- bzw. Seminardesign – insbesondere jedoch für das
Thema des Social-Media-Branding und -Networking im Rahmen der Konzepte Open bzw.
Network-Leadership. Im Unterkapitel 5.6.3 wird erörtert, dass das zuvor dargestellte, um-
fassende Serviceangebot auch zusätzliche Qualifikationen vom Coach verlangt bzw. die
Bedeutung des klassischen Individualcoachings in diesem umfassenderen Setting relati-
viert wird. Eine weitere Relativierung würde sich durch die Einbettung des einzelnen Coa-
ches in ein Partnernetzwerk ergeben. Sind die erforderlichen Qualifikationen, um als Trai-
ner arbeiten zu können, relativ einfach durch einen systematischen Entwicklungsplan zu
bewerkstelligen, sollte sich jeder Coach fragen, wie wichtig ihm – womöglich nach einem
bewegten Berufsleben in einer Organisation – die nun endlich erworbene Unabhängigkeit
auf seiner kleinen, dyadischen „Coaching-Insel“ und die umfassende Soloselbstständig-
keit sind – was ihn zu dieser eigentlich isolierenden Tätigkeit als (Individual-)Coach be-
wogen hat.
Das Kap. 6 widmet sich der Ethik als einem unerlässlichen Bestandteil der sich an-
deutenden Neuerungen im Coaching. Denn so wie viele Menschen 2020 im Kontext von
COVID-19 zum ersten Mal in der Tagespolitik vom Deutschen Ethikrat und seinen Emp-
fehlungen hörten, so neu wird es in den kommenden Jahren für die Coaches bzw. ihre
Verbände sein, in ihren ggf. vorhandenen Ethikrichtlinien über den Umgang mit ver-
schiedenen Aspekten der Digitalisierung (z. B. Online-Coaching, die Nutzung von VR-/
AR-Brillen und Wearables oder aber Chat- bzw. Cobots mit immer stärkerer künstlicher
Intelligenz) nachzudenken. So macht es wahrscheinlich Sinn, schon heute darüber zu dis-
kutieren, wie sich der Mensch (auch zukünftig noch) von den Maschinen unterscheiden
kann und welches „Verhältnis“ er zu den Maschinen angesichts ihrer schon heute in Teil-
aspekten übermenschlichen Fähigkeiten haben will. In der Welt des Theaters, Films oder
der Literatur und Musik reicht das Beziehungsspektrum dabei beidseitig vom (Arbeits-
oder Sex-)Sklaven oder aber eben Sklavenhalter bis hin zu einer Partnerschaft. Um die
Unterscheidungsmöglichkeiten bei den den Menschen simulierenden Maschinen mit wei-
teren Kriterien anzureichern, erörtert der Autor neben äußerlichen Merkmalen (z. B. ani­
maloid, anthropomorph, humanoid, android etc.) die größeren bzw. zuweilen auch eine
philosophische Tiefenschärfe verleihenden, „inneren“ Merkmale wie z. B. Intelligenz,
Lernen, Bewusstsein und Emotionen. Diese kleinen, philosophischen Ausblicke lassen
wiederum das sich daran anschließende „Kleine 1 × 1 der Maschinenethik“ bzw. einen
kurzen Aufriss der digitalen Ethik und ihrer Grundlagen in den deskriptiv und normativ
orientierten Theoriegebäuden als sinnvoll erscheinen. Ethische Wertegebäude, Perspekti-
ven oder gar Leitlinien reichen jedoch im Alltag nicht aus. Was es braucht, ist ein speziel-
les Wissen bzw. ein Set an Kompetenzen – die sogenannte Human, Privacy und Digital
Literacy.
Daher wendet sich das Folgekapitel 6.1 den eher lebenspraktischen Aspekten dieser
Thematik zu, indem es um die beim Klienten (und auch beim Coach) erwünschten Litera-
cies für eine sinn- und verantwortungsvolle Nutzung der digitalen Technologien geht.
Dabei thematisiert die „Human Literacy“, was uns als Menschen einzigartig, aber auch
anfällig für die Risiken digitaler Technologien macht. Als Beispiele für die Gefahren wer-
1 Einleitung 21

den die Suchtneigung (Beispiel: pathologische Abhängigkeit bei der Handynutzung),


Anthropomorphismus (Beispiel: Benamsung von Maschinen) und die Media Equation
(Beispiel: Anfluchen der Ampel oder des Computers durch die Gleichsetzung von Maschi-
nen mit Menschen, obwohl Maschinen keine Gefühle wie Tücke, Schadenfreude, Liebe
etc. kennen) und weitere Vulnerabilitäten des Menschen, die die Grenze zwischen ihm und
den Maschinen verwischen, genannt. Bei der Privatheitskompetenz (Privacy Literacy)
geht es um das Wissen um den Wert und das Recht der Privatheit bzw. die sich aus der
Digitalisierung ergebenden Chancen (z. B. Sicherheit durch Gesichtserkennung oder Er-
weiterung der Realität bzw. Probehandeln durch VR), Risiken (z. B. die Gefahr eines
Überwachungsstaates bzw. des Eskapismus) und Dilemmata, die eigentlich eines ge-
sellschaftlichen Wertediskurses bedürfen. Bei der Technology, Digital oder Computer Li-
teracy geht es zum einen um Informationskompetenz, d. h. die Fähigkeiten, Wissens-
ressourcen mithilfe digitaler Medien erwerben und teilen zu können. Zum anderen um
grundlegendes Funktionswissen über Programmanwendung sowie den Schutz vor Cyber-
attacken. Sie ist damit eine der Grundlagen für eine erfolgreiche Teilhabe an der Gesell-
schaft. Die vorgestellte Definition soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Viel-
zahl der dazu existierenden Konzepte eine eindeutige und allgemeingültige Ausgestaltung
von Lehrplänen noch sehr erschwert. Beispielhaft werden die zwei populärsten („4K-Mo-
del“, „8 Cs of Digital Literacy“) skizziert. Die Erkenntnis, dass in der Realität trotz dieser
konzeptionellen Uneinigkeit durch Gründung entsprechender Organisationen von privater
(https://www.hopp-­foundation.de) oder staatlicher (https://www.innovationsbuero.net/)
Seite gehandelt wird, war dabei erfreulich festzustellen. Ethische Denkanstöße hinsicht-
lich der Konsequenzen für den Service des Coachings gibt Unterkapitel 6.2. Konkret heißt
dies: Auf welche Weise sollten Coach, Einzelklient/Coachee, das Unternehmen als Kunde
und die Verbände unter ethischen Maßgaben auf die vielfältigen Herausforderungen der
Digitalisierung agieren bzw. was sind ethisch bedenkliche Verfahrensweisen? Bezogen
auf den Service Coaching i.e.S. werden das Online-Coaching sowie der Einsatz von VR-/
AR-/MR-Systemen oder von augmentierenden Assistenzsystemen (Co- oder Chatbots) in
den verschiedenen Phasen des Coachings unter ethischen Gesichtspunkten beleuchtet.
Obwohl auch in naher Zukunft noch unrealistisch (und wünschenswert oder gar not-
wendig?), wird auch die vollständige Substituierung des Coaches durch ein Konversations-
system mit starker KI in seinem Für und Wider thematisiert. Durch die starke Gefährdung
unseres politischen Systems erläutert ein kurzer Ausflug in die Technik des Nudgings bzw.
Microtargetings derzeit noch legale, aber ethisch hochbedenkliche Strategien zur gezielten
Verhaltensbeeinflussung. Das Unterkapitel 6.3 bietet zum einen ein sehr praxisbezogenes
Analyseraster für ethische Überlegungen des Coachings selbst bzw. es schließt das
Gesamtthema mit Reflexionen zum Humanismus und ­Transhumanismus und dem klaren
Bekenntnis zu dem von Nida-Rümelin und Weidenfeld (2018) formulierten „Digitalen
Humanismus“ ab.
Statt eines summarischen Nachwortes möchte der Autor im Schlusskapitel 7 eher die
Situation bzw. (potenzielle) Rahmenbedingungen auf der Makroebene beleuchten; denn
sie entscheiden mit darüber, was und wie sich die Coaching-Branche weiterentwickeln
22 1 Einleitung

wird. Ganz im Sinne von Böning und Strikker (2020, S. 7) geht es darum, sich auch als
Coach mit Business-Bezug wieder mit diesen vermeintlich fernen, aber doch so nahen
Themen zu beschäftigen. Mit Fokus auf Deutschland schaut er dazu (1) auf (Szenario-)
Analysen des Arbeitsmarktes im Jahr 2030, (2) auf die Zukunft der Arbeit bis 2050 und (3)
auf Deutschland als Player in einer globalisierten Weltwirtschaft.
Die Szenarien des nationalen, deutschen Arbeitsmarktes im Jahr 2030 (Bertelsmann
Stiftung, 2016) kommen dabei mittels der Methode des sogenannten „Foresight Lab“ zu
sechs Szenarien, welche mit folgenden, sehr illustrativen Titeln überschrieben wurden:
„Ingenieursnation mit Herzchen“, „Silicon Countryside mit sozialen Konflikten“, „Rhei-
nischer Kapitalismus 4.0“, „Digitale Hochburgen mit abgehängtem Umland“, „Digitale
Evolution im föderalen Wettbewerb“ und „Digitales Scheitern“. Als Tenor der Schluss-
folgerung machen die Verfasser der Studie deutlich, dass es zum einen um die konstruktive
Bearbeitung der mit den Themen verbundenen, unvermeidlichen Konflikte zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmern geht, zum anderen in der bis dato noch vorhandenen,
weitgehenden Entscheidungsoffenheit bzw. deren diskursiver Gestaltungmöglichkeit be-
steht. Um sich darauf jedoch schon heute aktiv vorbereiten zu können, wird es langsam
Zeit, diesen Prozess in der Gesellschaft aktiv anzustoßen und zu moderieren.
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem gleichen Jahr (Bertelsmann Stiftung,
2016) zu der Zukunft der Arbeit im Jahr 2050 auf internationaler Ebene kommt mittels
einer methodisch auf der Delphi-Technik beruhenden Studie bzw. der Befragung von 298
Expert:innen zur einem Kondensat von acht Kernthemen, welche in der Zukunft größere
Relevanz haben werden. Konkret geht es dabei um die zu erwartende starke Zunahme der
Arbeitslosigkeit, falls die bestehende Belegschaft nicht ein Re- oder Up-Skilling erfährt
bzw. „Lernen“ in allen Lebensphasen und hinsichtlich der Formate generell kein Update
erfährt. Nicht unabhängig vom vorherigen Thema werden die Entwicklungen in der KI-
und Robotertechnologie genannt bzw. deren Integration und Einfluss in allen Lebens-
bereichen. Gekoppelt an den vorgenannten Bereich sind das zu aktualisierende Verständ-
nis von Erwerbsarbeit (was, wie viel, wozu etc.) wie auch die Modalitäten (wann, wo, wie
etc.) der Arbeit selbst. Einig waren sich die Experten, dass gerade hinsichtlich der beiden
vorgenannten Themen das Thema des umfassenden Selbstmanagements sehr viel relevan-
ter werden wird und zu einer Differenzierung der arbeitenden Bevölkerung führen wird.
Die in Kap. 6 genannte „Digital Literacy“ und sogar basale Programmierkenntnisse sehen
die befragten Expert:innen als erfolgskritische Kompetenzen zukünftiger Arbeitnehmer.
Ob die durch die infolge der Digitalisierung enormen Produktivitätszuwächse potenziell
mögliche komplett arbeitsfreie Gesellschaft (mit einem bedingungslosen Grundein-
kommen) als Utopie oder aber Dystopie gesehen wird, überlassen die Autoren ihrer Leser-
schaft. Die seit einigen Jahren zum Dauerthema gewordene Migration sieht die Expert:in-
nengruppe als starken Hinweis darauf, dass die meisten der vorgenannten Themen immer
im internationalen Kontext gedacht und angegangen werden müssen. Die Energie, diese
Veränderung loszutreten, sieht das Forscherteam überdies nicht bei den für sie zu be-
häbigen staatlichen Organisationen, sondern bei einzelnen Vertretern der in den kommen-
den Jahren in das Berufsleben einsteigenden Generation Z.
1 Einleitung 23

Eine Roadmap für Deutschlands Stellung in einer globalisierten Weltwirtschaft bis


2030 möchte die 2019 veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung (2019) liefern.
Nach einer kurzen Darstellung der Historie sowie des Pro und Kontra kommt das Forscher-
team zu dem Schluss, dass es, um den Wohlstand der Nation zu sichern, in der Diskussion
nicht mehr um das „ob“ der Globalisierung gehen kann, sondern nur noch um das „wie“
auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Auf nationaler Ebene plädieren sie
dabei für ein Update des Erfolgsmodells für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg:
der sozialen Marktwirtschaft. Trotz der nicht unerheblichen Herausforderungen der EU
(Stichwort „Erosion“ wie z. B. durch den Brexit oder aber den in einigen osteuropäischen
Mitgliedstaaten aufkeimenden Nationalismus und Populismus) sehen die Autoren diese
Modell als den einzig erfolgversprechenden Weg an. Dies wird sich zumindest mittel-
fristig jedoch nur dann erfüllen, wenn zuweilen auch „klare Kante“ nach innen wie nach
außen gezeigt werden kann. Durch den Bezug im Publikationsjahr 2019 auf die Regierungs-
zeit von Donald Trump in den USA heute (2021) nicht mehr ganz aktuell, können diese
mit Joe Biden wieder als verlässlicherer Partner gelten; und dieser wird angesichts der
Wirtschafts- und Vormachtansprüche von Russland und China auch dringend benötigt!
Neben dem Überdenken der Außenbeziehungen und der Industriepolitik der EU rät das
Autor:innengespann daher zur stärkeren Annäherung an die südostasiatischen und afrika-
nischen Staaten wie auch zur erneuten Stärkung internationaler Wirtschaftsorganisationen
wie der WTO, der OECD oder des IWF.
Trotz der bereits sichtbar gewordenen vielfältigen Querbezüge der Kapitel und Unter-
kapitel sind diese so verfasst, dass sie auch einzeln gelesen werden können.
Der soeben dargestellte Exkurs durch die Inhalte macht hoffentlich bereits deutlich,
dass das vorliegende Buch i. S. einer Expedition und einer Exploration zu den schon
heute sich abzeichnenden z. B. physischen und (sozial-)psychologischen Gesellschafts-
veränderungen sowie der zunehmend digitalisierten Unternehmens- und Lebenswelt zu
verstehen ist. Ferner ist es dem Autor wichtig, immer wieder „ressourcenorientiert“ auch
auf den oft so guten „alten Wein in neuen Schläuchen“ hinzuweisen. Womöglich ist es ja
doch so, dass einige Konzepte – und sind sie auch noch so gut – erst ihre Zeit finden müs-
sen, um rezipiert oder gar implementiert zu werden. Denn ist die Zeit dann reif dafür und
wurden sie begrifflich „getunt“, erscheinen sie plötzlich wie die so lange gesuchten, alter-
nativen Denk- und Handlungsansätze. Dies ist natürlich nicht immer der Fall, und daher
ist zuweilen auch der „neue Wein in neuen Schläuchen“ einfach gut! So würde sich das
Buch mit seinem Angebot aus Informationen, seinen Denk- und Diskussionsanstößen
gerne als Impuls zu einer zukünftig wahrscheinlich sehr vielgestaltigeren und aus-
differenzierten Coaching-Landschaft verstehen. Einer Landschaft, die – wie bereits
z. B. bei Restaurants geschehen – vom exklusiven „Slow Food Gourmet-Coaching“ über
das heute schon existierende, komplett digitalisierte und roboterisierte Restaurant bzw. ein
„Coaching to go“ reicht.
Zur Gewährleistung einer guten Lesbarkeit wird auf die durchgehende/gleichzeitige
Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämt-
liche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter. Wo passend,
24 1 Einleitung

wird eine gendergerechte Schreibweise verwendet, wie z. B. Mitarbeiter:in oder Mana-


ger:innen.
Die zentrale Frage dabei wird jedoch sein, wer bei dieser Neuausrichtung (noch) mit-
diskutieren kann und will bzw. dadurch die konkrete Ausgestaltung bestimmen wird. So
freut sich der Autor schon heute auf kontroverse Diskussionen (auf der dazu erstellten
Webpage www.coaching-­reset.de), die jedoch hoffentlich immer von einer konstruktiven
Geisteshaltung getragen werden. Der dem Bauhaus-Gründer, Walter Gropius, zu-
geschriebene Aphorismus „Der Geist ist wie ein Fallschirm: Er kann nur funktionieren,
wenn er offen ist“ würde diese Denkhaltung wohl am besten beschreiben.

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Technologische Veränderungen:
Digitalisierung bzw. Big Data 2

Obgleich es wohl schon immer in der Natur unternehmerischen Handelns liegen musste,
sich mit zukünftigen Entwicklungen in den relevanten Märkten, Lebensbereichen bzw.
Umwelten zu beschäftigen, war es John Naisbitt, der mit seinem 1982 erschienenen und
in mehr als 50 Ländern publizierten Bestseller „Megatrends“ (Naisbitt, 1982) die Be-
schäftigung mit den großen Trends ab da zum Pflichtprogramm eines jeden Managers
machte. Die Nachteile seiner wie auch vieler folgender derartiger Publikationen waren,
dass sie sich vermutlich auch aus Komplexitätsgründen auf die drei, sechs oder 10+ Mega-
trends beschränkten, die gegenseitigen Wechselwirkungen der ausgewählten Megatrends
nur mäßig bearbeitet wurden (oder nur wenn ein vertieftes Wissen bei dem oder den Au-
toren bestand), sie meist von einem Autor oder einem kleinen Autorenkollektiv erstellt
wurden und nach der Publikation in den Folgejahren oder -jahrzehnten auf ihre (aus-
bleibende) Verifizierung warteten.
Mit dem Ziel, die von den wirtschaftsnahen, aber dennoch sehr diversen Besuchern
des jährlichen World Economic Forum (World Economic Forum, 2021) in Davos ge-
forderte strategische Intelligenz sowohl zu nutzen als auch z. B. bei Entscheidungs-
prozessen zu unterstützen, publizierte die Organisation 2017 sogenannte „Transformatio-
nal Maps“ (World Economic Forum (WEF) 2021). Diese neue Dimension internetbasierter,
dynamisch-­visueller Analysen und Prognosen von mehr als 120 Aspekten unserer moder-
nen Lebenswelten über Wirtschaftssysteme, Industrien und Nationen hinweg ermöglicht
jedermann, nach Anmeldung zu jedem der Themengebiete unter dem Reiter „Summary“
mittels einer kompakten Zusammenfassung ein Grundverständnis der Problematik zu
erwerben. Der Zukunftsinteressierte erhält unter „Feed“ die neuesten Analysen und
­
Forschungsergebnisse, wird über die kuratierenden Personen und Institutionen (themen-
spezifisch führende Universitäten, Thinktanks und internationale Organisationen) infor-
miert und bekommt unter den Reitern „Sessions“ und dem Reiter „Project“ Updates zu

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 27


von Springer Nature 2022
S. Stenzel, Die Zukunft des Coaching-Business,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-64421-8_2
28 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

unter der Schirmherrschaft des WEF initiierten Veranstaltungen und Arbeitsgruppen. Zwar
sind diese nicht so bunt und so begrifflich trendig aufbereitet wie die mancher kommer-
ziellen Zukunftsinstitute. Dennoch werden diese Seiten ein intellektueller Genuss für
jeden systemisch orientierten oder vernetzt denkenden Coach sein bzw. alle Leser, die sich
mit marketingorientierten, eindimensionalen Beschreibungen oder Erklärungsversuchen
nicht zufriedengeben wollen.
Mit dem Verweis auf die umfangreiche und anregende Internetressource des WEF wird
hier auf dann nur erneut eindimensionale und statische Darstellung aller globalen Mega-
trends verzichtet und nur auf das Thema „Digitalisierung“ fokussiert, denn sie hat aktuell
wohl die disruptivste Wirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft. Sie schafft nie dagewesene
Chancen wie Risiken, welche wir ergreifen bzw. denen wir uns stellen müssen. Ohne die
Bedeutung der damit verbundenen, großen gesellschaftlichen Fragen (wie Wahlbeein-
flussung, Konsum, Demokratieverständnis, Teilhabe, Bildung, Journalismus, Wahrheits-
begriff etc.) minimieren zu wollen, fokussieren wir in den Folgekapiteln auf die Bedeutung
für die Wirtschaft bzw. Arbeitswelt und damit auf deren möglichen Einfluss auf das Lern-
format „Coaching“.
Doch was versteht man unter „Digitalisierung im wirtschaftlichen Bereich“? Die Kern-
bestandteile eines jeden Unternehmens sind die Produktion (Produkt- oder Service-­
Portfolio), die Distribution (Vertrieb, Marketing und Kundenbetreuung) sowie die Ad-
ministration und die Belegschaft. Diese werden auch als wesentliche Elemente der
Unternehmensdimension herangezogen. Je nach beabsichtigter Veränderungstiefe der so-
eben aufgeführten Kernelemente dient sie nur der (Teil-)Optimierung der drei genannten
Aspekte unternehmerischen Handelns oder aber – am anderen Ende der Veränderungs-
dimension – der tiefgreifenden Umgestaltung oder Transformation dieser Aspekte. Spre-
chen wir hier von Digitalisierung, wird überwiegend der weitergehende, transformative
Pol berührt. So führt diese zu einer integrierten, kundenorientierten Ausrichtung über alle
Unternehmensaspekte (Produktion, Distributionskanäle, Administration und Belegschaft)
hinweg bzw. ermöglicht, den Kunden als PROduzenten wie auch als Konsumenten (→
PROsument) z. B. abstrakt über Auswertungen jeglicher Form von Kundendaten (→ spä-
ter als Big Data thematisiert) oder aber konkret über die netzbasierten Individualisierungs-
möglichkeiten eines Produktes (z. B. eines Sportschuhs) in das Unternehmen „hereinzu-
holen“. Die letzten beiden Punkte bilden den wesentlichen Unterschied zu dem schon seit
Jahrzehnten wachsenden Einsatz und dem Ausbau von Hard- und Software. Die eigent-
liche Transformation des kompletten Geschäftsmodells wurde jedoch erst durch die Ent-
wicklungen dieser beiden Bereiche in den letzten 5–15 Jahren möglich, von denen wir die
Treiber auf der Hardwareseite etwas näher beleuchten möchten, da sie auch für die zu-
künftige Entwicklung des Gesamtthemas eine entscheidende Rolle spielen werden.

Die Treiber der Digitalisierung


Der auch für jede Privatperson sichtbarste, aber auch grundlegendste Aspekt der Digitalisie-
rung sind wohl die aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenkenden (1) Smartphones oder –
allgemeiner gesprochen – „mobile, internetfähige Endgeräte“. So schätzt man, dass es allein
2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data 29

in Deutschland 2018 57 Millionen Smartphones gibt (Statista, 2020) – und global rund 3
Milliarden Smartphone-Nutzer (Mobilbranche.de, 2017). Die Anzahl der netzfähigen End-
geräte schätzte man bereits 2014 für das Jahr 2020 auf dann 33 Milliarden (telecoms.com,
2014), wonach jeder Mensch auf der Erde dann 3–4 netzfähige Endgeräte haben müsste.
Speziell bei Desktops und Smartphones scheint der Zuwachs laut diesen Prognosen global
jedoch nur noch gering zu sein. Als Meilenstein kann 2015 gesehen werden, denn ab da gab
es global mehr Handyanschlüsse als Menschen auf der Erde (statista, 2015). Der drastisch
sinkende Preis der immer kleiner werdenden Prozessoren bei gleichzeitiger Leistungs-
steigerung machte diesen Siegeszug erst möglich. Mit ihnen ist jeder überall und jederzeit
erreichbar und es hat neben Telefon, Uhr, Kamera, Taschenrechner, Spielkonsole, Bestell-
katalog, Diktiergerät, Fotoalbum, Schrittzähler und Fitness-­ Coach, sozialem Treffpunkt,
Wörterbuch, Wetter- und Nachrichtendienst etc. bei Bedarf auch unzählige weitere Dienste
oder Anwendungen parat. Daher hat es als „Multidevice“ trotz der Unvollständigkeit obiger
Aufzählung seinen Namen wahrlich verdient. Das alte „Monodevice“ (z. B. eine Uhr) hat sich
zum Accessoire von Liebhabern oder Nostalgikern entwickelt. Die Statussymbole von heute
definieren sich über die Geschwindigkeit der Prozessoren, die Pixelzahl der Bildschirme, die
Betriebsdauer des Akkus, die Linsenqualität der Kamera und ein edles Design.

Doch diese hoch mobilen Endgeräte sind weitgehend wertlos ohne die technische Er-
rungenschaft des World Wide Web – das (2) Internet. Erst Ende der 60er-Jahre von Leo-
nard Kleinrock in Form des sogenannten „Arpanet“ zur Vernetzung von Großrechnern von
Universitäten und Forschungseinrichtungen eher als Nebenprodukt entwickelt, war sein
globaler Siegeszug mit Social-Media-Anwendungen wie Facebook spätestens seit dem
Jahr 2008 nicht mehr aufzuhalten. Man schätzt, dass 2018 weltweit ca. 3,9 Milliarden
Menschen das Internet nutzen. Ob sich die Schätzung für 2021 auf 4,14 Milliarden be-
stätigt, wird sich zeigen (statista, 2019). Infolge dieser globalen, potenziell hochgradigen
Vernetzung spricht man auch von „Hyerconnectivity“. Was in den vergangenen Jahr-
hunderten Schiffsrouten, Schienen, Straßen, Telegrafen- oder Telefonleitungen waren, ist
heute ein leistungsfähiges Internet möglichst auf 5G-Niveau. Und die u. a. dazu not-
wendigen Glasfaserkabel werden eben nicht nur in unserer Wohnstraße vor unseren Häu-
sern unter die Erde gebracht, sondern sind global gesehen in erster Linie ein Geflecht aus
Tausenden von Kilometern an Tiefseekabeln. Waren es anfänglich die großen Tele-
kommunikationsanbieter, welche in das Netz investierten, beherrschen heute wiederum
Google, Amazon, Facebook und Apple dieses Geschäft. Das letzte High-Speed-Kabel mit
dem Namen „Marea“ zwischen Virginia Beach in den USA und dem spanischen Bilbao
wurde 2017 fertiggestellt und soll mit 160 Terabit pro Sekunde die schnellste unter den
bestehenden Tiefseeleitungen zwischen den USA und Europa werden (Trinkwalder,
2017). So machen heute ca. 340 Tiefseekabel 99 % der transkontinentalen Internetver-
bindungen aus und die Assoziation eines weltumspannenden Nervengeflechts bzw. eines
Gehirns mit einer Art „Weltbewusstsein“ erscheint für die kommenden Dekaden nicht
mehr zu absurd. Doch diese globale Hyperkonnektivität ist auch erforderlich, denn es soll
in der Zukunft nicht nur Menschen, sondern durch das sogenannte „Internet of Things“
30 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

(IoT) auch Maschinen bzw. Dinge – auch auf verschiedenen Kontinenten – verbinden. Die
heute nur teilweise erkennbaren Einsatzmöglichkeiten und die Bedeutung für die Unter-
nehmen bzw. die nationale Wirtschaftskraft und internationale Wettbewerbsfähigkeit der
Nationen sind daher kaum zu überschätzen.
Kauften wir gestern unsere dann aufzuspielenden Softwareprogramme noch auf CDs,
erhalten wir bei Abschluss eines entsprechenden Servicevertrages (z. B. Software as a Ser-
vice = SAAS) oder gar Abonnements die neuen Releases/Updates auf der Basis des so-
genannten (3) Cloud Computing automatisch über das Internet von global verteilten
­Servern des Anbieters auf unseren heimischen Rechner gespielt. Oder aber wir haben die
Möglichkeit, den Freunden oder Verwandten überall und jederzeit von jedem verfügbaren
Endgerät die Urlaubsfotos der vergangenen Jahre zeigen zu können, ohne sie auf den Ge-
räten lokal gespeichert zu haben. Cloud Computing ist daher mehr ein Distributionsmodell
als ein Produkt i. e. S. Dass der Komfort bzw. die dafür benötigte Zeit für die Datenüber-
tragung von einer möglichst leistungsfähigen Netz-Infrastruktur abhängt, ist selbstredend.
Die globalen Serverfarmen der Giganten von Cloud Services wie Amazon AWS, Micro-
soft Azure und Google und anderen, vergleichsweise kleinen Anbietern haben laut den
Analysen von cloudcruiser.com eine Marktmacht von heute weltweit über 80 Milliarden
US-Dollar. Diese sollte bis 2019 auf 128 Milliarden US-Dollar anwachsen (cloudlist,
2016). Das Umsatzwachstum aller Cloud-Service-Varianten prognostiziert Gartner (2020)
bis 2022 sogar ungefähr auf das Dreifache – also 364,062 Milliarden US-Dollar.
So ist neben dem Internet das Cloud Computing die Entwicklung, welche unseren di-
gitalen Alltag meist unbemerkt, aber massiv durch die Auswertung der dabei eingehenden
bzw. zu verarbeitenden Datenmengen beeinflussen wird. Wahrnehmen werden wir dies
nur daran, dass z. B. die Informations-, Produkt- oder Serviceangebote sich immer stärker
an den durch die Aktivitäten im Internet gezeigten, aber auch prognostizierten Präferenzen
orientieren. Sei es heute (2022) die Empfehlung eines ähnlichen Buches, der Vorschlag
eines Songs, der einem auch gefallen könnte, oder aber das von vielen gehypte Kultur-
event. Was wir derzeit schon erleben, ist wahrscheinlich nur ein leichter Vorgeschmack
dessen, was mit dem Ausbau der Internetinfrastruktur- und Rechnerleistung der kommen-
den Jahrzehnte möglich sein wird. Gleiches gilt für die bereits angesprochene Fähigkeit
zur Verarbeitung von gigantischen Datenmengen – von Big Data.
Doch was ist „Big“, wenn man von (4) Big Data spricht? Nach der eher populärwissen-
schaftlichen Definition alles, was die Kapazität des Tabellenkalkulationsprogramms
„Excel“ von Microsoft überschreitet, d. h. mehr als eine Million Zeilen und 16000 Spalten
hat. Die benötigten Daten können in nahezu allem bestehen, was wir persönlich mit unse-
rem „Multidevice“ erzeugen (Bilder, Töne, Texte etc.) oder aber was dieser „Multisensor“
automatisch an Daten über uns und unsere Lebensweise (Einkaufs-, Suchverhalten, Be-
wegungsprofil etc.) und körperliche Aktivität (Temperatur, Herzfrequenz, Bewegungen,
Schrittzahl etc.) aufzeichnet. Daten produzierende Sensoren sind jedoch nicht nur in
unserem Smartphone, der Smartwatch oder dem Fitnesstracker verbaut, sondern heutzu-
tage auch schon in Haushaltsgeräten, Pkws, Industriemaschinen. Und – bei entsprechender
Finanzstärke und Technikaffinität – sogar schon im kompletten Haus, bzw. dann „Smart
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 31

Home“ genannt. Des Pudels Kern ist jedoch nicht nur das Sammeln möglichst vieler
Daten, sondern deren Analyse bzw. das „Data Mining“ hinsichtlich von Mustern und Zu-
sammenhängen, die Vorhersagen ermöglichen (z. B. Kaufverhalten eines speziellen
Kundentyps kombiniert mit dessen Bewegungsprofil) und so zu sogenannten „Smart
Data“ werden lassen. Wir werden dieses für das Coaching potenziell sehr interessante
Thema in Abschn. 2.2 weiter vertiefen.
Ursprung, Basis und Entwicklungstreiber aller vorgenannten Aspekte sind die (5)
(Halbleiter-)Prozessoren, das Herzstück jedes Computers. Als ein miniaturisiertes,
programmierbares Rechenwerk bzw. eine elektronische Schaltung steuern sie gemäß der
vorgeschriebenen Befehle andere Maschinen oder elektrische Schaltungen und treiben
dabei durch die Verarbeitung von Daten einen Algorithmus (Prozess) voran. Da sie im
Folgekapitel eingehender bearbeitet werden, wird an dieser Stelle auf eine Darstellung des
Themas verzichtet

2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende


in Sicht!?

Fragt man nach dem Anfang und der Basis der Digitalisierung, könnte man die Erfindung
des ersten integrierten Schaltkreises im Jahre 1958 sicher als eine Art Urknall dieser Ent-
wicklung sehen. Mit dem Bau des ersten Mikroprozessors in den 1970er-Jahren wurde
eine exponentiell wachsende Leistungsdynamik entfacht, die sich erst heute offensichtlich
etwas abschwächt und im sogenannten Moore´schen Gesetz ihren Ausdruck findet. Die
Leistungsfähigkeit i. S. der möglichen Packdichte der Transistoren auf einem Halbleiter
verdoppelt sich danach bei gleichbleibenden Kosten alle 2 Jahre. Würde man in einem
Gedankenexperiment daher die Rechenleistung eines Chips im Jahr 2010 mit dem Wert 1
versehen, steigert sich dieser infolge der exponentiellen Natur des Wachstums im Jahr
2020 auf das 32-Fache, 2030 auf das 1024-Fache, 2040 auf das 32768-Fache. Nach 30
Jahren von heute (2020) im Jahr 2050 würde er bereits das 1-Million-Fache gegenüber
2010 erreicht haben (siehe Abb. 2.1)
Rein technisch könnte möglicherweise spätestens ab diesem Zeitpunkt der von Stanley
Kubrick 1968 für seinen Film „2001 Odyssee in Weltraum“ erdachte und eine eigene
„Persönlichkeit“ besitzende Superrechner „HAL 9000“ mit 49 Jahren Verspätung Realität
werden. Aber was sind schon 49 Jahre für diesen relativ gesehen nicht allzu fernen Zeit-
punkt, wenn Computer mittels künstlicher Intelligenz sich nicht nur selbst erschaffen,
sondern auch kontinuierlich verbessern können und der Leistungsfähigkeit aller mensch-
lichen Gehirne zusammen potenziell in nichts mehr nachstehen? Wie wir dann mit dem als
(technische) Singularität (→ Abb. 2.2) bezeichneten Zustand dieser dann selbst denken-
den und entscheidenden Systeme bzw. deren Ideen für ihre und unsere Zukunft umgehen,
kann heute jedoch nur Stoff für weitere SciFi-Streifen sein
Experten vermuten jedoch, dass der zu der Singularität erforderliche, gigantische
Leistungssprung mittels der heute nur ansatzweise verstandenen Prinzipien der
32 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Abb. 2.1 Die exponentiell


Jahr Relative Rechenleistung
zunehmende Rechenleistung gemäß
dem Moore´schen Gesetz. © Stefan 2010 1
Stenzel 2022. All Rights Reserved 2020 32x
2030 1024x
2040 32.768x
2050 1.000.000x
Das Moore´sche Gesetz:
Alt: Die Prozessor-Leistung für Computer verdoppelt sich ca. alle 2 Jahre.
Neu: Die Anzahl an Transistoren, die in einen integrierten Schaltkreis festgelegter
Größe passen, verdoppelt sich ca. alle 1,5 Jahre (18 Monate).

Rechenschritte
pro Sekunde
1040 Singularität Computer
erreicht
1030 Alle menschlichen
Gehirne vereint
1020
Menschliches Gehirn

1010 Mäusegehirn
Insektengehirn

10-10
Jahr
1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020 2040 2060 2080 2100

Abb. 2.2 Die Singularität und exponentiell zunehmende Rechenleistung. © Stefan Stenzel 2022.
All Rights Reserved

­ uantenmechanik zumindest momentan unserer Fantasie noch näher ist als der aktuelle
Q
wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt im Bereich des Super- oder Quantencomputing.
Den aktuellen Stand der Forschung dazu findet man auf den Seiten des Fraunhofer-Insti-
tutes (Fraunhofer-Gesellschaft, 2021a, b) oder der Helmholtz-Gemeinschaft (2021). Wer
sich mit möglichen Szenarien dieser durch eine „Superintelligenz“ angestoßenen Revolu-
tion näher beschäftigen will, dem sei das faszinierende Buch von Nick Bostrom (2016)
empfohlen. Getrieben von dem Wunsch nach Marktdominanz und Gewinnstreben in-
vestieren bezeichnenderweise schon heute die „Big 5“ Google, IBM, Microsoft, Intel oder
auch HP gigantische Summen, um diesen (Alb-)Traum wahr werden zu lassen.
Der Maximierung der Rechenleistung steht als zweite, gut sichtbare Parallelent-
wicklung die kontinuierliche Minimierung oder besser Schrumpfung der in den Anfängen
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 33

ganze Räume füllenden Mainframe-Rechner der 50er bis auf die uns heute bekannten
Kleinstcomputer bzw. Smartphones entgegen. Die gegenwärtig teilweise nur noch steck-
nadelgroßen, z. B. in Kleider oder sogar Körperteile integrierbaren Mikroprozessoren
haben sich dabei hinsichtlich der Leistungsfähigkeit jedoch um Lichtjahre von den An-
fangsmodellen entfernt. Ferner ist seit ca. 2003 der Preis für Prozessoren zudem gegen-
läufig zur Leistungsfähigkeit der Halbleiter. Echte Gewinne verspricht heute und zukünftig
nur noch intelligente, am besten KI-bezogene Software mit einer cleveren ­(Cloud-)Preis-
gestaltung. An der Maximierung der Rechenleistung wird auch die Entwicklung künst-
licher Intelligenz (KI) hängen.

KI als Gehirn des neuen „Robocoaches“? Alexa, Siri, Cortana und Bixby
lassen grüßen!
Ein Blick in die Geistesgeschichte des Menschen lässt vermuten, dass unabhängig von
Ethnie, Kultur oder Zeit ein geheimer Wunsch unserer Spezies besteht, von sich ein gott-
gleiches, ein physisches und/oder psychisches Ebenbild bzw. Alter Ego zu schaffen (Borr-
mann, 2001). Was bis heute jedoch literarisch (z. B. „Frankenstein“ von Mary Shelley)
oder filmisch (z. B. „Metropolis“ von Fritz Lang; „A.I. – Artificial Intelligence“ von Ste-
ven Spielberg) bislang eher lächerlich oder noch surreal daherkam, könnte in den nächsten
Dekaden in Ansätzen zur Wirklichkeit werden. Infolge der voranschreitenden Miniaturi-
sierung – aber besonders der Leistungsmaximierung der Mikroprozessoren – arbeiten
Wissenschaftler in allen Forschungslaboren der Welt daran, den Maschinenkörpern der
schon recht weit vorangeschrittenen Robotertechnologie auch mentale Fähigkeiten, so-
genannte „künstliche Intelligenz“ einzuhauchen und sie so ihren Schöpfern immer ähn-
licher oder zukünftig vielleicht sogar einmal überlegen werden zu lassen. Der über-
geordnete Fachbereich „Künstliche Intelligenz“ (= KI; engl. Artificial Intelligence = AI)
hat das Ziel, Maschinen dazu zu befähigen, ähnlich dem Menschen wahrzunehmen (=
sensorische Intelligenz), die aufgenommenen Informationen zu verstehen und sinnvoll zu
verarbeiten (= kognitive Intelligenz) und darauf basierend folgerichtig zu entscheiden und
ggf. handeln (= Aktion) zu können. Thematische Unter- bzw. Forschungsbereiche sind das
maschinelle Sehen (Computer Vision), die Wissensabbildung (Knowledge Representa-
tion), das Schlussfolgern (Reasoning), das automatische Planen und Terminieren (Auto-
mated Planning and Scheduling), das Lernen von Maschinen (Machine Learning), die
Verarbeitung der gesprochenen Sprache (Natural Language Processing = NLP) – Alexa,
Siri und Bixby lassen grüßen –, die Robotertechnik (Robotics) zur ggf. physischen Um-
setzung der Handlung und die noch sehr visionäre starke, künstliche Intelligenz („Strong
AI“ oder „General AI“), bei der die menschliche Intelligenz als Maß der Dinge gesehen
wird. Mithin könnte dieses System eigene „Gedanken“ entwickeln, eigene Entscheidungen
treffen, Gefühle z. B. anhand des Gesichtsausdrucks beim Gegenüber erkennen, ver-
arbeiten und selbst angemessen emotional darauf reagieren. Somit ist die „Strong AI“ der
Bereich, welcher bei manchem – zu Recht oder Unrecht – Respekt oder gar Unbehagen
auslöst.
34 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Machine Learning als die „Konfektionsware“ …


Als Teilgebiet der KI geht es bei dem soeben erwähnten „Machine Learning“ (ML) nicht
um eine allumfassende Intelligenz, sondern um Mustererkennung im Datendschungel. In
der Verarbeitung von Massendaten ermöglichen die dahinter liegenden statistischen Ver-
fahren (z. B. Varianten der Regressions- und Diskriminanzanalyse – um nur die etwas be-
kannteren zu nennen), zu analysieren, was passiert ist (→ deskriptive Analyse), was wahr-
scheinlich passieren wird (→ prädikative Analyse) und was getan werden sollte (→
präskriptive Analyse). Der Schwerpunkt des ML liegt auf den beiden letzteren Varianten.
Die wichtigsten Typen des ML sind das überwachte, das unüberwachte und das be-
stärkende Lernen. Analysiert das überwachte Lernen mögliche Zusammenhänge zwischen
gegebenen Input- und Outputdaten (z. B. Input: alle Mitarbeiter einer Firma; Output:
Employee-­Engagement-Index von 2015–2020 der Generation X), versucht das unüber-
wachte Lernen zunächst einmal Muster in den ungeordneten Daten zu erkennen (z. B. in
den demografischen Daten eines Unternehmens). Beim bestärkenden Lernen bildet der
programmierte Algorithmus eine Art Belohnungs- bzw. Bestrafungsprinzip nach. Sobald
das System als schnellstes eine richtige Entscheidung in einem dynamischen System
(z. B. Wertpapierhandel in der Börse) trifft, erhält es als „Belohnung“ eine Wertmarke –
genauer gesagt einen Bitcoin – für diesen auf Maximierung angelegten Bereich (z. B. der
Wert eines Investmentportfolios). So lernt das System mit jeder richtigen bzw. falschen
Entscheidung. Der im Beispiel angedeutete computergestützte Hochfrequenzhandel mit
Wertpapieren ist ein anschauliches Beispiel dafür.

… und das Deep Learning als „Haute Couture“


Ist der Algorithmus zur Mustererkennung darüber hinaus in der Lage, die Millionen ein-
mal abgespeicherter Kombinationen aus Strukturen und Mustern etc. (z. B. in Form des
Abbildes eines weißen Kleinwagens oder die mimischen Veränderungen bei leichtem
Grinsen) unabhängig vom Ursprung flexibel auch auf andere, ähnliche (z. B. ein rot-­
weißer Sportwagen oder die mimischen Veränderungen bei einem offenen Lachen) Ob-
jekte zu transferieren und damit die generellen Merkmale bzw. die Kategorie oder das
Skript „Personenkraftwagen“ oder „Lachen“ gelernt zu haben, spricht man von „Deep
Learning“ (= DL – als einem Spezialbereich des Machine Learning). Der Mimikkatalog
des Unternehmens Affectiva1 mit seinen 7,5 Millionen in 87 Ländern erfassten Gesichts-
ausdrücken ist dazu eine beeindruckende Ressource, um z. B. Müdigkeit oder temporäre
Unaufmerksamkeit eines Autofahrers zu erkennen und anzumahnen. Der große Vorteil
dieses auf Flexibilität angelegten und der menschlichen bzw. kindlichen Wissensaneignung
sehr ähnlichen Lernprozesses ist die zunehmende Unabhängigkeit von den parallel variie-
renden Umfeldern oder Hintergründen des Objektes (z. B. Erkennen eines Pkws auf der
Straße oder auf dem Parkplatz bzw. das Lachen bei verschiedenen Menschen). Wie auch
die Beispiele schon nahelegen, wird das DL aktuell hauptsächlich zur Bild-, Schrift-, Ge-

1
www.affectiva.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 35

sichts-, Fortbewegungs-, aber auch Stimmen- bzw. Stimmungserkennung eingesetzt, und


mit je mehr verschiedenen Pkws oder Varianten des Lachens es trainiert wird, desto treff-
genauer wird es beides erkennen. Unter der nächsten Überschrift werden wir dazu einige
schon heute beeindruckende Beispiele anführen.

Wer als Nichtfachmann wissen möchte, wo und wie sehr unser Alltag schon von Algorith-
men bestimmt wird bzw. sie zuweilen bereits für uns unsichtbar entscheiden, dem sei das
Buch des Wissenschaftsjournalisten Christoph Drösser empfohlen (2016). Die „gute Nach-
richt“ ist: Es liegt in der Natur der Sache, dass die meisten von uns (für die ­IT-­Spezialisten)
„total berechenbar“ sind! Die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff (2018) sieht dadurch
jedoch auch die Gefahr eines Zeitalters des Überwachungskapitalismus heraufziehen.
Damit wird bzw. ist das Gebiet der künstlichen Intelligenz die Grundlage von allem, was
wir an dieser neuen Technologie fürchten. Daher bedarf es eines wissenschaftlichen (→
Technikfolgeabschätzung) wie gesellschaftlichen Diskurses, wie, wo, wann und – als Kern-
frage – warum wir überhaupt KI (im Coaching) einsetzen wollen bzw. welche Konsequen-
zen dies für uns haben würde. Eine solche gemeinnützige Organisation mit dem Ziel, Pro-
zesse algorithmischer Entscheidungsfindung zu betrachten und einzuordnen, die eine
gesellschaftliche Relevanz haben, ist AlgorithmWatch2 oder das Projekt „Governance of
Emerging Technologies (GET)“ der Oxford University3 der Oxford University. Relevanz
haben die Algorithmen dann, wenn sie entweder menschliche Entscheidungen vorhersagen
oder vorbestimmen oder Entscheidungen automatisiert treffen. Aber auch transnationale Or-
ganisationen wie die EU verkündeten Ende 2018 (Europäische Kommission, 2018), dass sie
die Entwicklung und Nutzung der KI in Europa fördern wollen, was die Entwicklung ethi-
scher und vertrauenswürdiger Leitlinien für KI einschließen soll (European Comission, 2019).
Vier sehr interessante KI-Zukunftsszenarien zwischen Utopia und Dystopia ent-
wickelte dazu unter der Überschrift „Wer oder was in Zukunft denkt“ das Beratungshaus
KPMG (2018, S. 38–59). Das Thema Ethik werden wir in Kap. 6 zumindest andiskutieren.
Interessanterweise zählen zu den größten Bedenkenträgern dieser neuen Technologien ei-
nige ihrer Wegbereiter, wie z. B. der VR-Pionier Jaron Lanier (2018) oder aber Joseph
Weizenbaum (2003), von dem im nächsten Abschnitt berichtet wird.

Chatbots, eine besondere Beziehung – oder wie mit Joseph und ELIZA alles
begann …
Sie wirkte in ihren einfachen Antworten und Rückfragen offensichtlich so einfühlsam und
menschlich, dass ihre realen Dialogpartner dem ersten Chatbot „ELIZA“ zur Über-
raschung ihres Schöpfers, des Informatikers Joseph Weizenbaum am M.I.T., über viele
Minuten ungewöhnlich private Details über sich mitteilten, ohne dass sie diese sogleich
als Maschine erkannten. Als künstliches Dialogsystem hatte 1966 dieser erste „Chatbot“ –

2
www.algorithmwatch.org/was-wir-tun. Zugegriffen am 10.01.2021.
3
https://www.oii.ox.ac.uk/research/projects/governance-of-emerging-technologies/#:~:text=Rela-
ted%20Topics-,Overview,and%20are%20shaped%20by%2C%20society.
36 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

eine Wortschöpfung aus den englischen Begriffen „to chat“ und „(Ro-)Bot“ – eine Tür
aufgestoßen, hinter der uns heute text- oder sprachbasierte Assistenten zur Mensch-­
Maschine-­Interaktion im Konsumbereich in einer einfachen Version z. B. als „Alexa“,
„Siri“, „Cortana“ oder „Bixby“ begegnen. Der von Weizenbaum gewählte therapeutische
Kontext lässt jedoch vermuten, dass auch er in diesem Bereich Einsatzfelder sah. Generell
unterscheidet man wie in Abb. 2.3 heute vier Arten von Bots, wobei die Systeme auf der
letzten Stufe durch ihre Fähigkeiten zum Sprachverständnis (Natural Language Under­
standing: NLU), zur Sprachverarbeitung (Natural Language Processing: NLP), Sprach-
generierung (Natural Language Generation: NLG) und Emotionserkennung beim Nutzer
bzw. empathischen Reaktionsweisen (Affective Computing) menschlichen Interaktions-
prozessen schon recht nahekommen, sich „natürlich anfühlen“.

Kam man offensichtlich dem Ziel, den Dialog natürlich, angenehm und menschlich zu
gestalten, schon damals zumindest für kurze Zeit sehr nahe, erzielte der zur Analyse der
Natürlichkeit eingesetzte, nach dem Mathematiker und Logiker Alan Turing (1912–1954)
benannte „Turing-Test“ in den folgenden Jahrzehnten immer bessere Ergebnisse. „Ana-
lyse der Natürlichkeit“ heißt dabei, dass eine Gruppe von Personen per Zufall einem Dia-
log mit einem Menschen oder einem Chatbot zugeordnet wurde. Nach 5 Minuten sollen
die Probanden unterscheiden, ob sie sich mit einem Menschen oder einer Maschine unter-
halten haben. Gelang dies nicht, hat das System den Test erfolgreich bestanden. Da der
Test in seiner Ungenauigkeit immer wieder kritisiert wurde, wurde mit dem 1991 ein-
geführten und jährlich vergebenen Loebner-Preis der AISB (Society for the Study of Arti-
ficial Intelligence and the Simulation of Behaviour) ein neuer Standard gesetzt. Erfolg-
reich zum vierten Mal war 2018 der Chatbot des Programmierers Steven Worswik mit dem
asiatischen Namen „Mitsuku“ (Pandorabots, 2018). Auf einer Skala mit einem Wert für

Reifestufe 1 Reifestufe 2 Reifestufe 4


Reifestufe 3
Repetitive Aufgaben/ Repetitive Aufgaben/ Komplexe personalisierte
Personalisierte Konversationen
begrenztes Fragenrepertoire begrenzt variables Fragenrepertoire Konversationen/Fallbearbeitung
(ca. ab 1990)
(ca. ab 1960) (ca. ab 1970) (ca. ab 2015)

Virtual Assistant/Agent/
„Digital Human“
 Conversational Artificial Intelligence
NLU*- (CAI) ermöglicht personalisierte,
Chatbot + komplexe Fallbearbeitung durch
leistungsstarke NLU, NLP, NLG etc.
 Affektive Reaktionen durch
 Personalisierter Service durch NLU
Emotionserkennung, „Empathie“
Regelbasierter/ (*= Natural Language Understanding)
 Flexible Dialogstrukturen
+
 Basale, natürliche Sprachverarbeitung
Skript-Bot (NLP)
 Leistungsstarkes Kontextgedächtnis
 Selbstlernend
 Basales Kontextgedächtnis
 Hohes Volumen repetitiver
FAQ- Aufgaben mit leichten Variationen
Bot +  Vordefinierte Dialogbäume
 Führt Prozesse aus
 Hohes Volumen repetitiver Aufgaben
 Schlagwort oder Auswahlmenüs
 Informationenanzeige

Abb. 2.3 Die vier Arten und Reifestufen von Chatbots. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 37

menschenidentisches Antwortverhalten in dem fünfminütigen Dialog erreichte der Chat-


bot 33 %. Damit ist er das Beste, was es heute in diesem Bereich gibt. Kostenlos getestet
werden kann diese Menschenähnlichkeit im schriftlichen Dialog von Mitsuku unter fol-
gendem Link4: www.pandorabots.com/mitsuku/. Die Dialoge mit dem Chatbot erscheinen
dabei umso natürlicher oder menschenähnlicher, je inhaltlich offener die Gesprächs-
themen sein können und je länger diese offenen Konversationen durchgeführt werden kön-
nen. Und obwohl z. B. Alexa schon mit der heute leistungsfähigsten selbstlernenden KI
ausgestattet ist, ist die Begrenztheit beider Parameter heute sehr schnell erfahrbar.
Ein spannendes Gedankenexperiment zu einer wenn auch perfiden Weiterentwicklung
des Turing-Tests bietet der erstmals 2014 in Kinos gezeigte SciFi-Streifen des britischen
Regisseurs Alex Garland „Ex Machina“ (Wikipedia, 2020b). Der attraktive, weibliche,
humanoide Roboter Ava soll dabei nicht nur durch „echtes“ menschliches (Kommunikati-
ons-)Verhalten überzeugen, sondern dem eigentlich zu Testzwecken eingesetzten Pro-
grammierer Caleb eine „Verliebtheit“ vortäuschen (!), die diesen dazu bringen soll, ihr bei
der Flucht aus dem Forschungslabor zu helfen. Mit ihrer äußerst strategischen und sub-
tilen Kommunikation würde man Ava daher hinsichtlich ihrer Konversationskomplexität
und ihres Themenumfangs heute ebenfalls in der Abb. 2.4 dem Quadranten „Generative
bzw. selbstlernende KI“ – jedoch auf Perfektionsstufe – zuordnen. Zwischen Alexa und
Ava liegen zumindest Stand heute eben noch Welten (an Forschung und Entwicklung).

Abb. 2.4 Themenumfang und Konversationskomplexität


Konversationskomplexität als Kurze Lange
Indikatoren der Natürlichkeit. Konversationen Konversationen
© Stefan Stenzel 2022. All
Rights Reserved

Generative/
Themenfelder

Unmöglich/
Offene

Selbstlernende KI
Unsinnig
(Sehr schwer)
Beisp.: Alexa, Siri
Themenumfang

Allgemeine KI
Themenfelder

Regelbasiert
Begrenzte

(Einfach) (Schwer)
Beisp.: Cleverbot Beisp.: Woebot

4
Zugegriffen am 10.01.2021.
38 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

2.1.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Die Konsequenzen der Kombination von Größenminimierung, Leistungszuwachs und


Preisverfall sind schon heute für jeden erlebbar. In der Privatsphäre des Klienten durch den
mobilen, intensiven und vielfältigen Einsatz des Smartphones, Tablets, GPS oder
­Wearables. Das damals backsteingroße, meist in Autos verbaute „Single-Use-Mobiltele-
fon“ der Funktionseliten Ende der 50er-Jahre ist nach 60 Jahren dem äußerst handlichen
Multifunktions-­Smartphone – dem PC im Hosentaschenformat – für jedermann gewichen.
Eine ähnliche Verbreitung ist in den kommenden Jahrzehnten bei der Nutzung elektrischer
bzw. autonomer Fahrzeuge zu erwarten – wenn nicht sogar ein völliger Neuansatz des
Themas „Mobilität“ (Stichwort „integrierte Mobilitätskonzepte“), der jedoch auch erst
durch den breiten und vielfältigen Einsatz der Digitalisierung möglich wurde. Schon heute
haben die meisten Menschen zumindest einmal von den großen Erfolgen von Herzschritt-
machern gehört – einige vielleicht sogar Berichte über Implantate in der Hörschnecke des
Ohrs mitbekommen. So erlauben schon jetzt die miniaturisierten Dimensionen der darin
verbauten Mikroprozessoren eine „Verschmelzung“ mit dem menschlichen Körper.
Handelt es sich bei dem Klienten um ein Belegschaftsmitglied eines Unternehmens,
welches z. B. „SAP Enterprise Analytics“-Software5 nutzt, besteht für den User die
Möglichkeit, sämtliche im Unternehmen verfügbaren Daten überall in Echtzeit z. B. auf
dem Smartphone „dabeizuhaben“ und ggf. steuernd einzugreifen. Will man sich in einer
größeren Gruppe gemeinsam über die Daten austauschen, hilft der wandgroße „SAP Digi-
tal Boardroom“,6 sich einen Überblick über die aktuelle Datenlage und die verschiedenen
Datenabhängigkeiten zu verschaffen. Die dafür notwendigen Datenquellen sind im Falle
von Produktionsunternehmen z. B. Tausende von winzigen, physischen Sensoren, die
heute in fast allen Maschinen eingebaut werden können. Oder es handelt sich um program-
mierte Messpunkte in einem speziellen Unternehmensbereich, wie z. B. der F&E-­
Abteilung, dem Einkauf, der Produktion bis letztlich zum Verkauf, welche dann zielgenau
abgerufen und verarbeitet werden können. Mit dem Kauf über das Internet und/oder eine
Kreditkarte sowie der letztlichen Nutzung des Produktes oder Services schließt sich der
Kreis infolge der dabei übermittelten und gesammelten Daten in der Produktentwicklungs-
bzw. F&E-Abteilung des Unternehmens.
Mit den soeben nur beiläufig erwähnten in Maschinen eingebauten Sensoren wurde
zudem die Vernetzung über das Internet nicht nur von Menschen, sondern im sogenannten
„Internet of Things“ (IoT) auch von Maschinen möglich gemacht. Das sogenannte „Smart
Home“ – die vernetzte und nahezu komplett computergesteuerte Elektronik im Wohn-
bereich – macht jedoch deutlich, dass diese Entwicklungen wiederum nicht nur auf den
Produktionsbereich von Unternehmen beschränkt bleiben werden.
So kann man zusammenfassend hinsichtlich der Konsequenzen aus der Größen- und
Preisminimierung feststellen, dass uns Mikroprozessoren unsichtbar in verschiedensten

5
www.sap.com/products/analytics.html. Zugegriffen am 10.01.2021.
6
https://www.sap.com/products/board-room.html. Zugegriffen am 04.09.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 39

Anwendungen jederzeit und überall begleiten und auch nutzbar sind. Diese Allgegenwart
beschreibt jedoch auch die potenziell problematische Seite als Nutzer (meist mehrerer
Geräte!): In der Rolle als „Datengenerator“ oder „Datenbeschaffer“ hat er nur teilweise
(bewusst) die Kontrolle oder die Ausübung der Kontrolle ist mit Aufwand, an sehr viel
Disziplin oder technisches Wissen gekoppelt. Für alle Coaches, die für kommerzielle
Plattformen arbeiten, bzw. Coachees, die ihre Coaches über Plattformen finden und sich
online coachen lassen, wird dies ein Thema sein. Doch zunächst zu den Daten-
generatoren selbst.

Wearables – körpernahe Begleiter in jeder Lebenslage


Vor allem die soeben beschriebene und mit Siebenmeilenstiefeln voranschreitende Minia-
turisierung der Mikroprozessoren (und Akkus) hat dazu geführt, dass sogenannte Weara-
bles sogar zur Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten – ein Aspekt des sogenannten
„Human Enhancement“ – entwickelt werden konnten und in Form von z. B. Fitness-­
Trackern sowohl im Privat- wie im Berufsleben ihren Siegeszug angetreten haben. Dabei
unterscheidet man grob (a) On-Body-Electronics wie die bereits genannten Fitness-­Tracker
oder z. B. die Smart-Glasses von Google, die wie Accessoires am oder wie ein Tattoo auf
dem Körper getragen werden, von den chirurgisch z. B. unter die Haut implantierten (b)
In-Body-Electronics, die als Sensoren Daten über das Körperinnere nur weiterleiten oder –
wie z. B. eine heute schon existente, implantierte Insulinpumpe – direkt die Körper-
funktionen beeinflussen, steuern oder sogar erweitern. Letzteres führte zu der aktuell für
viele noch sehr befremdlich wirkenden „Gesellschaft zur Förderung und kritischen Be-
gleitung der Verschmelzung von Mensch und Technik“ (Cyborgs e.V., 2021) und ihren
heute teilweise wie „Aliens“ anmutenden Mitgliedern, wie dem unter Achromatopsia
(sieht nur Grautöne) leidenden Neil Harbisson, der über eine am Hinterkopf implantierte
Antenne sogar ultraviolette Frequenzen sehen kann. Eine dritte Kategorie sind die (c)
textilintegrierten Wearables, die als intelligente Kleidung („Smart Clothing/Textiles“)
über den Ladentisch gehen und kontinuierlich Körperfunktionen wie die Herzschlag- und
Atemfrequenz, Schweißabsonderung, Bewegungsaktivitäten oder die Muskelermüdung
aufzeichnen können.

Für die möglichen Einflüsse auf den „Service Coaching“ wollen wir uns hier auf On-­
Body- und textilintegrierte Wearables als Accessoires für Personen mit Entscheidungs-
funktionen im Unternehmenskontext beschränken. Obwohl es im Produktionsbereich
schon weitaus mehr bzw. real existierende Beispiele gibt, die zahlreiche Arbeitgeber von
„Workforce Superpowers“ (Schatsky & Kumar, 2018) nicht nur träumen lassen. Zahl-
reiche Anwendungsbeispiele finden sich auch im Artikel der Deloitte University (Khan &
Marcec, 2014).
40 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Wearables zur umfangreicheren Informationsverarbeitung


Im Bereich „Smart Clothing“ könnte die heute noch wie Science Fiction anmutende Idee
des Schweizer Thinktanks „Gottlieb Duttweiler Institute“7 eines Ganzkörperanzuges für
Manager ein Fingerzeig für eine „Smart Clothing“-Anwendung sein. Basierend auf der
Erkenntnis, dass wir nicht zum Multitasking bzw. zur gleichzeitigen Verarbeitung vieler
Informationen in der Lage sind, macht der Anzug wirtschaftliche Zusammenhänge bzw.
deren z. B. das Unternehmen gefährdende Folgen mittels elektrischer z. B. Druck- oder
Wärmesignale auf dem ganzen Körper spürbar. Das dahinterstehende Prinzip ist schon
heute in Form des bei Überfahren der Mittel- und Begrenzungsstreifen vibrierenden Lenk-
rades vieler Pkws der oberen Mittelklasse buchstäblich erfahrbar. So können viel mehr
Informationen über verschiedene Sinneskanäle aufgenommen werden und im Idealfall zu
informierteren Entscheidungen führen. Eine weitere Hoffnung ist es, dass Manager da-
durch ihre Intuitionen für Sachverhalte oder Situationen entwickeln, die für sie nur schwer
verbalisier- oder darstellbar sind. Ein erster Prototyp eines solchen Ganzkörperanzuges (=
Holosuit) wurde von Kaaya Tech8 Ende 2018 auf den Markt gebracht (MIXEDx, 2018).
Ein ähnliches Angebot macht die Kooperation der Social-VR-Plattform „Somnium Space“
und dem Haptik-Entwickler „Teslasuit“9 mit ihrem Ganzkörper-Motion-Capture-Anzug.
Dieser ist mit 68 haptischen Punkten ausgestattet und kann dadurch eine Vielzahl von
körperlichen Empfindungen simulieren. Im Zusammenwirken der Somnium VR-Welt und
des Anzugs können so schon heute Anwender z. B. das Auftreffen der Regentropfen eines
leichten Nieselregens oder starken Regenschauers auch körperlich spüren. Aber auch sanft
berührt oder sogar gestoßen zu werden kann ohne weiteres simuliert werden. Basierend
auf dieser neuen Art des Informationsinputs könnte zukünftig im Coaching das wichtige
Manager- bzw. VUCA-Welt-Thema „Intuition“ vielleicht durch zusätzliche Wahr-
nehmungsarten angereichert und besser thematisiert werden. Die sprichwörtliche
Informationsflut könnte so durch neue Wege der Informationsaufnahme und -verarbeitung
zumindest besser kanalisiert werden. Aktuell fehlt jedoch für solche „Ganzkörper-
lösungen“ wahrscheinlich noch die Akzeptanz im Markt bzw. sind diese für den Massen-
markt noch zu teuer. Abb. 2.5 präsentiert die schon heute überwiegend akzeptierten
Lösungen.

Wearables zur Stresswahrnehmung und -regulation


Etwas realistischer erscheint heutzutage schon die Anreicherung des Service Coaching
durch die aktuell bereits verfügbaren Wearables bzw. die Analyse der gemessenen Körper-
vitaldaten über den Arbeitsalltag hinweg. Dabei könnte z. B. die Aufzeichnung des
Muskeltonus, der Herzfrequenz oder des Hautwiderstandes zur genaueren Analyse und
Rekonstruktion stressender (Lern-)Situationen oder (Lern-)Themen dienen – aber sie

7
www.gdi.ch/de/publikationen/trend-updates/infografik-job-enhancement. Zugegriffen am 10.01.2021.
8
www.holosuit.com. Zugegriffen am 10.01.2021.
9
www.teslasuit.io/. Zugegriffen am 15.01.2022.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 41

Headset Computer (oder Ear Buds)


 eher verbale u. auditive Info:
 Informationsaustausch/Kommunikation
 Simultanübersetzung AR-/VR-/MR-Brille
 Ortung  eher visuelle Informationen:
 Unterhaltung (Musik)  Informations-/Dateneinblendung
 Etc.  Partnererkennung und -information
 Kommunikation
 Orientierung/Navigation
Clip-Sensor oder Kamera
 Fotografieren & Vergrößern
 eher äußere Körperzustände:
 Unterhaltung (Spiele, Video, Musik)
 Bewegungen/Schritte
 Etc.
 Bewegung(-skontrolle)
 Bewegungserinnerung
 Diskrete Vibrationsinformation
 Ortung
 Unterhaltung (Musik) Fitness-Band
 Etc.  eher innere Körperzustände:
 Vitaldaten messen
 Bewegung/Schritte
 Ortung
Smart Watch  Etc.
 Kurzinfo & -antwort:
 Zeit- & Kalendermgt.
 Messenger-Dienste
 E-Mails
 Internetinfos
 Telefonieren
 Unterhaltung (Musik)
 Etc.

Abb. 2.5 Mit Wearables über alle Sinne jederzeit bzw. allerorts informiert sein. © Stefan Stenzel
2022. All Rights Reserved

kann natürlich auch dort erzielte Lernerfolge besser sichtbar machen. Coaching insgesamt
könnte dadurch datenbasierter werden und Veränderungen besser messen bzw. nach-
weisen. Dazu mehr unter 2.1.2.

Wearables zur Informationsanreicherung in sozialen Situationen


Die genauere Betrachtung des GPS-basierten Bewegungsprofils einer Führungskraft auf
den meisten Smartwatches oder aber – falls in der Belegschaft akzeptiert – über z. B. „Goo-
gle Glasses10 könnte für das Coaching objektive Belege dafür liefern, ob und wie intensiv
z. B. „Management by walking around“ gelebt wird und wen die Führungskraft dabei wie
lange kontaktiert. Wie die dadurch mögliche, bedarfsgerechte Zurverfügungstellung –
sprich die Einblendung aller Informationen zu jedem Mitarbeiter auf der Linse – zu be-
werten ist, wird zu diskutieren sein. Allerdings sieht es ohnehin so aus, als würde auch die
zweite Generation der Smart Glasses im Militär und in der produzierenden Industrie An-
wendung finden (MIXEDx, 2019). Daher werden auch die „Google Glasses“ zum Zeit-
punkt des Erscheinens des Buches mit großer Wahrscheinlichkeit schon wieder „Schnee
von gestern“ sein, da Intel mit seiner „Vaunt-Technologie“11 bzw. die Smart Glasses von

www.x.company/glass/. Zugegriffen am 10.01.2021.


10

www.pcwelt.de/a/intel-vaunt-ar-brille-projiziert-inhalte-direkt-ins-auge,3449661;
11
https://www.
youtube.com/watch?v=bnfwClgheF0&t=427s. Zugegriffen am 10.01.2021.
42 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

North12 sich bereits auf der Überholspur befinden. Wer generell hinsichtlich des Wearable-­
Marktes auf dem neuesten Stand bleiben will, findet auf der Seite „Wearable Technologies“
die neuesten Entwicklungen.13 Wie eine nicht nur visuelle Komplettüberwachung einer Per-
son in der Konsequenz aussehen könnte, zeigt der 2017 in den Kinos gezeigte, dystopische
Spielfilm nach dem Bestseller-Roman von Dave Eggers „The Circle“. Darin erhält die
Berufseinsteigerin Mae Holland einen Job bei „The Circle“, einem Unternehmen, dessen
Produkt „TruYou“ Benutzerprofile, Konten und Zahlungssysteme einer Person zusammen-
führt. Zunächst ist Mae skeptisch, doch dann begeistert sie sich immer mehr für die Vision
des Firmengründers, mit Technologie eine Welt der völligen ­Transparenz zu schaffen – bis
sie ein Kollege hinter die Kulissen des „Circle“ blicken lässt (Wikipedia, 2021).

Wearables als Lerntagebuch oder Logbuch des Alltags


Wird Coachees zuweilen angeboten, ihr alltägliches (Lern-)Verhalten durch ein klassi-
sches Lerntagebuch zu dokumentieren, böte sich in den ansteckbaren Kleinstkameras von
z. B. getnarrative14 zusätzlich die Möglichkeit, die Aufnahmen von Verhalten und Inter-
aktion z. B. in einem Meeting genauestens zu analysieren und Lernthemen nicht nur aus
der Eigenwahrnehmung zu identifizieren. Die damit gekoppelten, ungeklärten Fragen des
Datenschutzes bzw. der Persönlichkeitsrechte seien hier bewusst ausgeklammert. Was
diese (Berufs-)Lebensprotokollierung – oder neudeutsch „Lifelogging“ – des Menschen
für das Individuum wie auch die Gesellschaft in Zukunft bedeuten könnte, beschreibt der
bereits erwähnte Soziologe Stefan Selke in seinem Buch (Selke, 2016) auf sehr anschau-
liche Weise. Dazu mehr in Abschn. 4.3.

Wearables zur Entspannungsförderung


Ähnliches gilt für die Fitness- und Wellnessaktivitäten im Freizeitbereich. Dabei könnten
neben der schon bekannten Messung der Schlafdauer und -tiefe, der Atem- und Herz-
frequenz zur Analyse bzw. Verbesserung körperlicher Fitness nun auch mentale Zustände
analysiert werden. Durch Messung der EEG-Ströme und deren visuelle Rückkopplung in
Form verschiedener Wetterlagen soll die Kopfklammer von Muse15 die Entspannungstiefe
der Meditation sichtbar machen. Die nach ähnlichen Prinzipien funktionierende Apparatur
von Emotiv16 verspricht sogar, die Zustände Stress, Entspannung, Konzentration, Interesse,
Engagement und Erregung in Echtzeit differenziert aufzeichnen zu können. Diese Renais-
sance der in verhaltenstherapeutischen und lerntheoretischen Ansätzen wurzelnden Bio-
Feedback-Bewegung vergangener Jahrzehnte könnte so auch für das Coaching wieder inte-
ressant werden. Instrumentelles, objektives Feedback über das individuelle Befinden und
Verhalten war eben immer schon ein sehr guter Ansatzpunkt für die (Eigen-)Wahrnehmung.

12
www.bynorth.com. Zugegriffen am 10.01.2021.
13
https://www.wearable-technologies.com/more-news/. Zugegriffen am 10.01.2021.
14
www.getnarrative.com. Zugegriffen am 10.01.2021.
15
www.choosemuse.com. Zugegriffen am 10.01.2021.
16
www.emotiv.com. Zugegriffen am 10.01.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 43

Wearables zur Stimulierung der geistigen Wachheit


Eine dagegen noch eher bizarr anmutende Zukunftsmusik für den Einsatz von Wearables
im Coaching-Bereich ist z. B. die zusätzliche elektromagnetische Stimulierung der geisti-
gen Wachheit mittels Wearables wie z. B. dem von Thync.17 Inwieweit die von den Pro-
banden berichteten Energieschübe (Digital Bodies, 2015) bzw. die zugrunde liegenden
bioelektronischen Wirkungsweisen auf solider Forschung beruhen, werden die nächsten
Dekaden zeigen. Die Tester zumindest sahen die gute und weitaus billigere Tasse Kaffee
bis dato noch als eine ernst zu nehmende Konkurrenz zu dem Hightech-Spielzeug. Dass
diese Ansätze zur neuronalen Leistungssteigerung jedoch wahrscheinlich unumkehrbar
sind, belegt auch die beunruhigende Liste zukünftiger Forschungsprojekte (DARPA,
2021a, b) der „Defense Advanced Research Projects Agency“ (DARPA, 2021a, b) des
US-Militärs. So ist – wie schon seit eh und je – das Militär bzw. das Kriegshandwerk Trei-
ber bzw. „Vater“ neuer Entwicklungen (MIXEDx, 2019).

Wearables zur Rückmeldung des Sozialverhaltens


Für das dagegen harmlos daherkommende, kontinuierliche, soziale Feedback zum
Managerverhalten in Echtzeit reicht heute schon jedes handelsübliche Smartphone.
Spezielle Software bzw. eine Plattform (z. B. impraise, www.impraise.com, www.butter-
fly.ai oder LSS18) mit maßgeschneiderten Auswertungsmöglichkeiten für die Rück-
meldungen ermöglicht kürzere Lernschleifen als die heutigen, meist noch sehr auf-
wendigen 360-Grad-Feedbacksysteme und reichert die Coaching-Sitzungen mit
potenziell lebendigen Verhaltensdaten an. Aber auch mit dieser neuen Technologie gilt
weiterhin, was Simon Werther in einer vorangestellten Kurzzusammenfassung für seinen
Artikel „Digitales Feedback – Chancen und Grenzen der aktuellen Entwicklung“ (Wer-
ther, 2019) schreibt: „Der Einsatz digitaler Feedbackmethoden ermöglicht schnelle
situationsbezogene Rückmeldungen. Doch eine nachhaltige Veränderung der Unter-
nehmenskultur braucht Zeit.“

„Wearables“ zur Unterstützung des (parallelen Trainingsprozesses im) Coaching


Eine ebenso direkte wie praktikable Unterstützung ebenfalls durch ein Smartphone oder
Wearables im Coaching-Prozess selbst ist die komplette Abbildung des Coaching-­
Prozesses in einer App (idealerweise als Frontend einer Plattformlösung). Beispielhaft
(d. h. ohne jede Empfehlung) sei hier die App „ezra“19 von Lee Hecht Harrison (LHH)
genannt mit ihrem Unternehmensteil „WorkLifeLabs“,20 mit dem sie schon heute eine
nahezu komplette Abbildung des Coaching-Prozesses inklusive Reporting erlauben wird.
Andere Unternehmen, die eine integrierte, webbasierte und mobile SaaS-Lösung zum

17
www.thync.com. Zugegriffen am 10.01.2021.
18
www.ls-s.com/feedback-tools. Zugegriffen am 10.01.2021.
19
www.helloezra.com. Zugegriffen am 10.01.2021.
20
www.worklifelabs.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
44 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Coaching anbieten, sind z. B. Pluma21 oder betterUp.22 Die von ihnen angebotenen Coa-
ches stehen für Video-Sessions und In-App-Messaging über das Smartphone oder die
Smartwatch bereit. Bei fast allen diesen Systemen werden alle Prozesse bzw. die dabei
anfallenden Daten parallel automatisch dokumentiert und können im Nachhinein
­hinsichtlich des Lernerfolges analysiert bzw. dem Abrechnungssystem zur Verfügung ge-
stellt werden.

Bedienen sich beide Firmen der Wearables wie z. B. dem Smartphone und der Chat-
bzw. der Kommunikationsfunktionalität einer App, um den realen Coaching-/Lernprozess
alltagsnah und in Echtzeit abzubilden bzw. zu unterstützen, werden wir im nächsten
Abschnitt unter dem Leitgedanken der Leistungsmaximierung der Mikroprozessoren die
schon heute eigenständigen und zumindest Laien beeindruckenden „Coaching“-Möglich-
keiten von künstlicher Intelligenz bzw. Chatbots sehen.

2.1.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Wearables in der Coaching-Welt der Zukunft


Fragt man nach den Konsequenzen für den Service Coaching, ist die Antwort, was die
Wearables anbelangt, – wie im vorherigen Kapitel dargestellt – relativ einfach: Der Coa-
ching- und damit Lernprozess kann durch Echt(zeit)daten ergänzt werden. Das wiederum
heißt im technischen Sprachgebrauch: Der Zielwert einer messbaren Verhaltenseigen-
schaft („im Führungsalltag entspannter werden“) kann über Feedbackschleifen kontinuier-
lich mit dem Istwert (z. B. der Puls oder Blutdruck), abgeglichen werden. Und Möglich-
keiten für ein dann potenziell stärker datenbasiertes Coaching gibt es bereits sehr viele.
So können bereits diese sehr „einfachen“ Technologien die Lernprozesse des Klienten
innerhalb des Service Coaching durch (a) personen- und situationsangepasste Informations-
vermittlung über z. B. unternehmens- und wirtschaftsrelevante Umwelten, (b) die Echt­
zeit-­Diagnostik und -Dokumentation des (z. B. Stress-)Verhaltens sinnvoll unterstützen.
Die technische Verarbeitung, persönliche Besprechung oder gar Intervention auf Basis
dieser Daten ist damit nicht nur im Nachgang möglich, sondern – falls notwendig – in time
bzw. on demand. Damit ist eine noch nie dagewesene zeitnahe Lernunterstützung des
Klienten (der Zukunft) im Coaching möglich. Inwieweit die Technologien zur Steigerung
der mentalen Leistungsfähigkeit (mit den angesprochenen ethischen Fragestellungen) sich
als Bestandteil eines Coaching-Prozesses etablieren können, werden die Lebens- und
Leistungsanforderungen und Lifestyle-Trends der Klienten-Generationen Y und Z und
auch die Offenheit der Coaches für diese neuen Technologien entscheiden.

21
www.pluma.co/. Zugegriffen am 10.01.2021.
22
www.betterup.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 45

KI in der Coaching-Welt: Chatbots zum „Selbstcoaching“: Einfach nur zuhören


können …!
Die Prognose, wie und wo genau KI im Coaching „reinspielen“ wird, zeigt sich aktuell
eher schemenhaft. Sicher jedoch ist, dass sie spätestens in 10–15 Jahren „irgendwie“ dazu-
gehören wird. Wie genau, ist jedoch auch von der schwerer vorhersehbaren Akzeptanz
bzw. den Präferenzen der kommenden Kundengenerationen abhängig.

Denn die realen Fortschritte, welche seit ELIZA bei Dialogsystemen mit „therapeuti-
schem“ Charakter gemacht wurden, zeigen sich heute zum einen im Beispiel des Bots zum
Selbstcoaching „Pocketconfidant“,23 zum anderen z. B. in dem kostenlosen, putzigen
„Self-care Expert“ Woebot,24 Tess,25 der Helferin in seelischen Notlagen, dem herzigen
kleinen Pinguin von Wysa26 oder aber in einer App namens Replika.27 Die mehr als
100.000 User des letztgenannten Chatbots berichten in einem schriftlichen Dialog mit
Replika über ihre Ängste, Sorgen und auch Freuden. Die besondere Stärke dieses virtuel-
len Gegenübers steckt nach Angaben der Schöpferin, Eugenia Kuyda, im geduldigen Zu-
hören und in den offensichtlich sehr situationsgerechten bzw. „einfühlsamen“ Reaktionen.
Die Anonymität bzw. „Intimität“ der Situation sowie die wertfreien und fürsorglichen
Kommentare des Bots schaffen eine Atmosphäre, die beim Nutzer ein Gefühl des Ver-
trauens und der Offenheit hervorruft und so letztlich entlastend wirkt. Ein Übersicht mit
weiteren Chatbots findet sich bei Kanatouri (2020, S. 146).
Ein fiktives, aber buchstäblich sehr anschauliches Beispiel für die Kraft des Zuhörens
und einfühlsamen Nachfragens oder Kommentierens eines technischen Systems bietet das
romantische Science-Fiction-Filmdrama (Wikipedia, 2019a, b) von Spike Jonze aus dem
Jahr 2014. Darin kommuniziert der sich nach der Trennung von seiner Frau einsam füh-
lende Protagonist, Theodore Twombly, über Headset und Videokamera immer intensiver
mit Samantha – der Stimme eines sprachbasierten Betriebssystems. Über die sozialen
Interaktionen und die bereits über Theodore im System (über KI) gespeicherten Präferenz-
daten lernen sich beide sehr schnell „schätzen“. Die hinter Samantha stehende KI stellt
sich dabei immer genauer auf Theodores Denk- und Handlungsweisen ein, sodass er am
Ende eine Art „Seelenverwandtschaft“ verspürt. Wohl wissend, dass es sich bei Samantha
um ein künstliches System handelt, ist Theodore ebenso fasziniert von ihrer sanften
Stimme und ihren „Fähigkeiten“, Empathie glaubhaft zu simulieren (bzw. von der starken
KI). Nach immer längeren und „persönlicheren“ Gesprächen wird aus der zunächst nur
„freundschaftlichen“ eine „intime“ Beziehung. Durch die Interaktion mit Samantha er-
wacht in Twombly erneut die so lange vermisste Lebensfreude. Er stabilisiert sich psy-
chisch immer mehr, und auch in beruflicher Hinsicht fasst er wieder Fuß. Die folgenden

23
https://pocketconfidant.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
24
https://woebothealth.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
25
https://www.x2ai.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
26
https://www.wysa.io/. Zugegriffen am 10.01.2021.
27
https://replika.ai/. Zugegriffen am 10.01.2021.
46 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Verwicklungen dieser Beziehung ausklammernd, erinnert der Film im Kern an die


berühmt-­berüchtigten Gespräche mit dem geheimnisvollen Fremden in einem Zugabteil
bzw. zeigt die Wirkmacht von vermeintlicher „Anonymität“, Empathie und Selbst-
läuterung, wie sie zuweilen auch im Rahmen der Beichte oder eben in Coaching-­Sitzungen
zu finden ist.
Doch was ist der Stand der Wissenschaft in der realen Welt? Die Studie von Bendig,
Erb, Schulze-Thuesing et al. (2019) über den Einsatz von Chatbots zur Förderung men-
taler Gesundheit sieht diese Verwendung noch in der Testphase und die Studien haben
daher vorwiegend Pilotstudiencharakter. Hinsichtlich der Praktikabilität, Durchführbar-
keit und Akzeptanz von Chatbots zur Förderung mentaler Gesundheit lassen die
Forschungsergebnisse zwar hoffen, sind derzeit jedoch noch nicht direkt auf den psycho-
therapeutischen Kontext übertragbar.

Chatbots als Tutoren


Eine das Coaching begleitende, fachliche Beratung oder kleinere Lerneinheiten zu vorab
definierten Themen sind sicher keine neue Idee, könnten aber in 10–15 Jahren vielleicht
auch von Chatbots übernommen werden! Ein erstes Beispiel aus dem Jahr 2016 am Geor-
gia Institute of Technology (Georgia Tech, 2021) ist das der vermeintlichen Tutorin eines
KI-Seminars (!), Jill Watson. Mit einer speziellen Programmierung, die den Fragekontext
mit einbezieht und erst bei 97 % Antwortsicherheit reagiert, waren die Studenten be-
geistert von einer fachlich überaus kompetenten und zuverlässigen Unterstützung. Dass
sie es jedoch mit einem KI-System zu tun hatten, vermuteten die meisten der 300 Studen-
ten nur, da sie die Antworten durchgängig sehr schnell, präzise und umfassend sowie zu
jeder Tages- und Nachtzeit erhielten. Aber auch weil einige Versuche, sich mit der intelli-
genten und offensichtlich überdies charmant plaudernden Ratgeberin zu verabreden,
natürlich fehlschlugen.

Chatbots als Serviceassistenten: Die gruselig schönen Freund:innen von Amelia,


Sophie, Sahra, Cora, Ava, Mike und „Baby X“
Als besonders vertrauenserweckend und menschlich wirken aber offensichtlich nicht nur
empathisches Zuhören oder Antwortverhalten, sondern die fehlende Perfektion in den
Aussagen und im Sprachstil des Chatbots. Zwar hat der telefonische Reservierungs-
assistent „Duplex“28 von Google keinerlei „therapeutischen Bezug“, dennoch können die
scheinbaren Denkpausen, ein ab und zu gemurmeltes „Mhmm“ und unvermittelt auf-
tretende Sprechpausen eine Natürlichkeit des Gespräches inzwischen so gut vortäuschen,
dass Nutzer ihn als „gruselig gut“ empfanden. Und wie wichtig diese paraverbalen
Kommunikationselemente zur kontinuierlichen Stabilisierung des Rapports sind, wissen
Coaches am besten. Den letzten Stand der Technik bei den Assistenzsystemen für den

28
https://www.googlewatchblog.de/2018/11/google-duplex-der-assistent-2/. Zugegriffen am 10.01.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 47

kommerziellen Bereich bietet „Amelia“29. Eine andere Firma, die bestimmen wird, wo die
Reise bei den „Digital Humans“ hingehen wird, ist das im nächsten Abschnitt vorzu-
stellende Unternehmen mit dem vielsagenden Namen „Soul Machines“.

Denn anziehend wirkt nicht nur die „geistige“ Leistungsfähigkeit eines Chatbots! Um
die auch über physische Attraktivität beeinflusste Interaktionsbereitschaft auf Nutzerseite
bzw. die entsprechenden Fähigkeiten systemseitig zu optimieren, arbeitet das neusee-
ländische Unternehmen Soul Machines30 seit vielen Jahren an virtuellen Kunstmenschen –
sogenannten „Digital Humans“ (Avataren). Diese können sich parallel zu ihren verbalen
Kommunikationsmöglichkeiten auch über eine situationsangepasste Mimik und Gestik
non- und paraverbal ausdrücken. Die attraktiven, weiblichen Avatare mit den wohl-
klingenden Namen Sophie, Sahra, Cora, Ava etc. machen es den Kunden aus dem Gesund-
heitsbereich der Automobil-, Finanz- oder Luftfahrtindustrie mit ihrer hochauflösenden
Grafik und den nahezu perfekt umgesetzten Merkmalen emotionaler Intelligenz im Ge-
sichts- und Körperausdruck sehr angenehm, mit ihnen zu interagieren. Wer z. B. die Kino-
filme „Avatar“ oder „King Kong“ sah – bei denen es sich nicht um einfache Animationen
handelt –, bekam unwissend bereits einen ersten Eindruck von dem Potenzial dieser techno-
logischen Speerspitze. Eher fast schon ein wenig verstörend wirkt dagegen deren neuestes
Projekt „Baby X“,31 das in Echtzeit den Aufbau der (non-)verbalen Kommunikationsfähig-
keiten bzw. die Lernentwicklung eines komplett virtuellen Gehirns bzw. Babys durch ent-
sprechende Umweltinputs simuliert. So erweitert das System mit jedem sensorischen Input,
mit jeder Interaktion mit einem realen Menschen das Repertoire seiner nahezu mensch-
lichen Reaktions- und Verhaltensweisen. Und womöglich wird bei intensiver Gehirn-
stimulation und technisch beschleunigter körperlichen Alterung dadurch in weniger als 20
Jahren auch ein „Coach“ (für die „einfacheren Themen“ bzw. mit Beratungsschwerpunkt)!

Das Abbild einer „Coach-Novizin“: Simsensei


Ein ebenfalls beeindruckender Meilenstein in diese Richtung wurde bereits 2016 an der
University of Southern California Institute for Creative Technologies (ICT) gelegt. Hier
komplettierte man den Kopf- und Brustbereich eines Avatars mit einem wiederum voll
kommunikations- bzw. interaktionsfähigen, sichtbaren Körper und verwendet dieses Sys-
tem für den diagnostisch-therapeutischen Bereich. Heraus kam der schon sehr stark wie
eine Therapeutin oder ein Coach anmutende Avatar „Simsensei“,32 welcher schon heute
sehr zuverlässig Indikatoren für psychologische Phänomene wie Depression, Angst und
PTSD diagnostizieren kann. Das dahinterliegende Diagnosesystem „Multisense“ ana-
lysiert dabei nach eigenen Angaben der Universität in Echtzeit parallel zum Dialog die
Mimik, die Körperhaltung, paraverbale und andere linguistische Indikatoren sowie Merk-

29
https://amelia.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
30
https://www.soulmachines.com. Zugegriffen am 10.01.2021.
31
https://www.soulmachines.com/resources/research/baby-x/. Zugegriffen am 10.01.2021.
32
https://ict.usc.edu/prototypes/simsensei/. Zugegriffen am 10.01.2021.
48 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

male für Aufmerksamkeit und Unruhe. Dieser Dateninput wiederum steuert automatisch
die verbale, non- und paraverbale Kommunikation des Avatars in einer derart subtilen
Weise, dass er von den Klienten nach einiger Zeit offensichtlich auch nicht mehr als künst-
lich wahrgenommen wird. Dieser Erfolg ermutigte offensichtlich die ICT, einen Bau-
kasten33 für derartig fortgeschrittene Avatare zu entwickeln. Auf der genannten Homepage
finden sich auch zahlreiche Anwendungsbeispiele. Der dabei bereits aufgeführte „Coach
Mike“ entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als einfacher Berater bzw. als eine das
Klassenraumtraining „ELITE“ für Führungskräfte ergänzende Simulation.

So ist es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit bzw. der Leistungsfähigkeit der Mikro-
prozessoren geschuldet, wann hier der erste echte Coach-Avatar (für spezielle Situationen)
auf den Markt kommt. Der aus dem gleichen Hause stammende SimCoach34 beschränkt
basale Beratung hinsichtlich spezieller Themen bzw. über generelle Hilfsangebote in die-
sem Kontext.
Die angeführten Beispiele machen jedoch schon heute deutlich, dass Chatbots als Lern-
begleiter, für einfache Beratungsgespräche oder in einigen Jahren sogar für ein „Coaching
Light“ bei einfacheren Fragestellungen und Themen des Alltages in der Breitenanwendung
kostengünstig eingesetzt werden könnten. Im Umkehrschluss heißt dies jedoch auch, dass
zukünftig wahrscheinlich nur wirklich Coaches mit hohen professionellen und ethischen
Standards (z. B. denen des DBVC e.V.35 oder ICF36 ) einen Unterschied machen bzw. sich
zu wirtschaftlich interessanten Honorarsätzen am Markt verkaufen können.
In den kommenden 5–10 Jahren wird Chatbot-KI wohl eher in der Form eines „Digital
Coach Assistant“ nach dem Vorbild von „Amelia“ von IPSoft auf den Markt kommen.
Wobei und wie sie den Coach beim Coaching unterstützen könnte, fasst Abb. 2.6 zusammen.
Hinsichtlich der Vorteile von Chatbots ist Kanatouri (2020, S. 148) zuzustimmen, dass
sie ggf. geduldig und immer (unmenschlich!?) freundlich-lächelnd bzw. wertfrei bzw.
neutral ihre Aufgaben verrichten. Aber was Replika, Duplex, Jill, Sophie, Simsensei in
ferner Zukunft für ein einfaches und für die nächste Generation attraktives „Chatbot-­
Coaching“ fehlt, ist nur noch die körperliche bzw. räumliche Präsenz. Kein Problem!

Wenn der „Chatbot-Coach“ ein Gesicht bekommt: Wie aus 2D-Datenbildern in der
„Mixed Reality“ „3D-Menschen“ werden
Führt man sich die oben genannten Chatbot-Beispiele gesammelt vor Augen, kann man
zumindest erahnen, was bereits schon auf dem Bildschirm in 2D möglich sein wird,
wenn – basierend auf dem Moore’schen Gesetz – die Leistungsfähigkeit der Mikrochips
im Vergleich zu 2010 im Jahr 2030 auf das 1024-Fache und im Jahr 2040 auf das
32768-Fache anwachsen wird. Aber diese neue Generation von Mikroprozessoren wird

33
https://ict.usc.edu/prototypes/vhtoolkit/. Zugegriffen am 10.01.2021.
34
https://ict.usc.edu/prototypes/simcoach/. Zugegriffen am 10.01.2021.
35
https://www.dbvc.de/standards/kompendium. Zugegriffen am 10.01.2021.
36
https://www.coachfederation.de/icf-d/werte-und-ethik.html. Zugegriffen am 10.01.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 49

 Administration
Vorbereitung o Terminfindung, -vereinbarung, -erinnerung, -änderung
o Kundendatenaufnahme (Personal- und Personendaten)
o Profilerstellung (MBTI, Big 5 etc.)
o 360-Grad-Feedbackadministration
 Erwartungsabfrage
o Thema (1. Anlauf bzw. vorbereitend)
o Ziele (1. Anlauf bzw. vorbereitend)
o Coach-Profil/-Präferenzen
 Matching
o Coachauswahl bzw. -vorschläge basierend auf Formaldaten (1. Anlauf, vorbereitend)

 Administration
o Termin- und Prozessmonitoring
o Inhalts- und Prozessdokumentation
Durchführung  Prozesssupport
o Basis-Feedback bzgl. 360er, Persönlichkeitsprofil etc.
o Stimmen-, Mimik-Analyse und -reporting
o Datenanalyse und -reporting aus Wearables
o Lerntransfersicherung kurzfristig / nach jeder Sitzung (Lernempfehlungen und -
erinnerungen)
o Prozessevaluation / prozessuales Feedback nach jeder Sitzung
o Zusätzliche/ergänzende Lernempfehlungen zu Coaching-Thema

 Administration
o Abrechnungsprozess
o Finales Prozess- und Ergebnisreporting
Nachbereitung  Endsupport
o Endevaluation / finales Feedback
o Lerntransfersicherung mittel- & langfristig (nach 3, 6, 9 Monaten)
o Spezielle Weiterbildungsangebote zum Coaching-Thema (anderer Anbieter)
 Follow-up
o Kundennachbetreuung/-kontaktpflege (Fest- und Geburtstage etc.)
o (Sonder-)Aktionen/Angebote
o Cross-Selling ( „Das könnte Sie auch interessieren!“)

Abb. 2.6 Einsatzmöglichkeiten von KI im Coaching-Prozess in den nächsten 5–10 Jahren. © Ste-
fan Stenzel 2022. All Rights Reserved

nicht nur die Leistungsstärke der Algorithmen im Machine bzw. Deep Learning befeuern,
sondern – für uns alle ganz wahrnehmbar – die Qualität der 3D-Grafik, womit wir indirekt
beim nächsten Themenkreis der Augmented, Virtual oder Mixed Reality wären.

Ausgangspunkt einer „Tauchexpedition“ in die simulierten bzw. erweiterten Realitäten


(Extended Reality) ist die uns umgebende, eine, „reale“ Welt (→ Real Environment). Mit-
tels der sogenannten Immersion erreichen wir nach der ersten Stufe der nur ergänzten
Realität (Augmented Reality = AR) die dann ergänzte Virtualität (Augmented Virtuality =
AV). Von allen Realitätsbezügen losgelöst sind wir jedoch erst in der künstlichen Realität
(Virtual Reality = VR). Bei dieser können noch die „Qualitätsstufen“ „low immersion“ (→
Desktop VR) und „high immersion“ (→ iVR) unterschieden werden. Sprechen wir in die-
sem Kontext ganz allgemein von VR, ist jedoch immer iVR gemeint. Immersion als
psychologisches Phänomen hängt mit Kanatori (2020, S. 117) generell von sechs Faktoren
ab: der Inclusiveness (→ inwieweit wir uns selbst als Teil der virtuellen Szenerie erleben),
der Extensiveness (→ die Verfügbarkeit und Abgestimmtheit mit anderen, sensorischen
50 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Eindrücken, wie visuellem, taktilem oder akustischem Feedback), der Surrounding View
(→ der unabhängige Panoramablick um möglichst 360 Grad), der Vividness (→ der Grad
an Realismus und Tiefenschärfe des Bildes in allen Situationen), dem Matching (→ die
Passung und Schnelligkeit zwischen eigenen Aktionen und Re-Aktionen in der virtuellen
Welt) und zu guter Letzt dem Ausmaß der Egocentric Perspective (→ Echtheit der Eigen-
wahrnehmung hinsichtlich der Sinne und Extremitäten, das virtuelle „Ich-Gefühl“). Wird
diese doch schon sehr umfassende Simulation von Realität auch noch – wie heute schon
möglich – durch haptische (z. B. durch den Datenhandschuh von den Firmen ­„manus-­vr“,37,
„haptx“38 oder „sensorialxr“39) und gar olfaktorische Sinneseindrücke (z. B. durch Nosu-
lus Rift von UbiSoft40) ergänzt, steht dem kompletten Eintauchen in eine völlig künstliche
Welt (= Immersion) nichts mehr im Wege. Die möglichen Mischformen auf diesen
Immersionsdimensionen bezeichnet man sinnigerweise als gemischte Realitäten (Mixed
Reality = MR). Die letzte, hybride Realitätsdimension scheint dabei die für zukünftige
Entwicklungen auf dem durch die hohen Preise (bis zu ca. € 3500,– für die MS Holo-
Lense) der entsprechenden Brillen oder „head-mounted displays“ (HMD), wie z. B. Ocu-
lus VR, VR Gear, HTC Vive, Playstation VR oder MS HoloLense, noch nicht wirklich
boomenden Markt das größte Potenzial zu haben. Doch zunächst zu den technischen Va-
rianten der Immersion im Einzelnen.

Die ergänzte Realität – So, gibt es das auch?!


Die 2016/2017 erschienenen und wohl populärsten und illustrativsten Beispiele für eine
Augmented-Reality-Anwendung sind die App „Snapchat“ oder das Spiel „Pokemon Go“.
Wird bei dem kostenlosen Snapchat einfach ein mittels eines Smartphones geschossenes
Kopf-Brust-Foto einer Person mit z. B. einem Bart, Hasen- oder Katzenohren, einem Blu-
men- oder Siegerkranz etc. zielgenau ergänzt, benötigt das komplexere Such- und Punkte-
spiel, bei dem die Spieler virtuelle Fantasiewesen fangen, entwickeln und in virtuellen
Kämpfen gegeneinander antreten lassen können, u. a. GPS-Daten der realen Umwelt. Fah-
rer eines Oberklasse-Pkws kennen diese Technologie durch ihre Head-up-Displays, wel-
che ihnen wichtige Informationen auf die Windschutzscheibe projizieren. Augmented-­
Reality-­Anwendungen sind daher eher offene, die Realität ergänzende Systeme, bei denen
der Nutzer noch vollständig in der realen Welt agiert. Die dazu benötigte Technik reicht
vom einfachen Smartphone bis hin zu der nicht frei erhältlichen, aber auch datenschutz-
technisch wie ethisch nicht unumstrittenen Brille „Google Glass“ (Wikipedia, 2020a).
Komplexere Anwendungen benötigt die im übernächsten Abschnitt vorzustellende „Holo-
Lense“ von Microsoft. Diese findet man heute in einer einfacheren Version schon in der
Automobilindustrie im Design, Training und in der Konstruktion oder im medizinischen
Bereich in der Chirurgie.

37
https://manus-vr.com/haptic-gloves. Zugegriffen am 10.01.2021.
38
https://haptx.com/. Zugegriffen am 15.01.2022.
39
https://sensorialxr.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
40
https://buzzman.eu/fr/campagnes/nosulus-rift. Zugegriffen am 10.01.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 51

Die virtuelle Realität: Das gibt’s doch nicht!


Als ein eher geschlossenes System könnte man dagegen die Virtual-Reality-­Anwendungen
klassifizieren, da die Nutzer durch die bis dato etwas klobig anmutenden VR-Brillen voll-
ständig von der Umwelt abgekapselt sind. Und die Anwendungsmöglichkeiten (Dörner
et al., 2014) dieser „Experience on Demand“ (Bailenson, 2018) werden immer vielfältiger.
Deloitte (Cook et al., 2020) sieht die VR-Technologie sogar als sehr effektive Methode,
die immer wichtiger werdenden „Soft Skills“ (siehe dazu Abschn. 5.4) zu entwickeln. An-
wendungsbereiche für i. V. R im Coaching sieht Kanatouri (2020, S. 123) neben (auch
schulischen) Trainingssettings in szenariobasierten Lernfeldern. Eine hier sehr interes-
sante Nutzung bei dem Thema trainingsergänztes Präsentationscoaching bietet das Unter-
nehmen VirtualSpeech.41 Freies Sprechen kann hier ohne die Gefahr der Blamage in ver-
schieden großen, sehr lebensnahen Szenarien eingeübt und Ängste ggf. systematisch
abgebaut werden. Eine Kombination mit dem AI-basierten Lernsystem Orai42 zur syste-
matischen Reduktion von Sprechangst bietet sich hier regelrecht an. Darüber hinaus er-
möglicht diese Technologie – ebenfalls ergänzt durch einen AI-Assistenten – das Ab-
halten von Telepräsenz-Meetings. In z. T. selbst gestaltbaren, virtuellen Räumen arbeitet
der Coach mit einem Klienten oder ganzen Teams. Dabei stehen ihnen je nach System
eine Vielzahl visueller Darstellungsmöglichkeiten (z. B. Erstellung von 3D-­ Skulpuren
oder -Zeichnungen) zur Verfügung. Vorbereitete Materialien können heruntergeladen, ge-
teilt und gemeinsam bearbeitet werden. Eine sehr hilfreiche Übersicht zu den aktuell
angebotenen Lösungen findet sich ebenfalls bei Kanatouri (2020, S. 126). Eine in
Deutschland arbeitsrechtlich wahrscheinlich schwierig zu realisierende Lösung ist das
von ihr vorgestellte Shadowing in Echtzeit und via Live-­Streaming (Kanatouri, 2020,
S. 130). Aber auch der lernende „Shadow“ muss hier bereit sein, permanent eine Mikro-
kamera als Clip an seiner Kleidung oder um seinen Hals zu tragen. Ein Meilenstein für
die weitere Verbreitung der VR-und AR-Technologie könnte das sich zunehmend konkre-
tisierende Gerücht43 in der Branche sein, dass Apple mit seinen sich in den letzten Zügen
der Entwicklung befindlichen „Apple Glasses“ (mit einer VR- oder AR-Funktionalität)
Google mit seinen schon in die Jahre gekommenen Google Glasses überholen will und
den kommerziellen Erfolg der „Apple Watch“ wiederholen will. Nahezu perfekt wird die
technische Vermischung von virtueller und realer Welt jedoch erst bei den Mixed Reality-­
Lösungen.

Die gemischte Realität – das gibt es, und das gibt es doch nicht!
Bei Mixed Reality können reale, physische Objekte mit künstlich erschaffenen/virtu-
ellen in Echtzeit in 3D koexistieren und sogar interagieren. Eine sehr anschauliche Ein-
führung liefern hier Schart & Tschanz (Schart & Tschanz, 2017). Konkret könnte dies eines
Tages heißen, dass der Coach als hologrammähnliche Gestalt im Besprechungszimmer

41
https://virtualspeech.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
42
https://www.orai.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
43
https://mixed.de/apple-vr-brille-infos/. Zugegriffen am 16.05.2021.
52 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

des ­Unternehmens sitzen würde, oder aber die Unsicherheit vor dem Kritikgespräch
mit dem Mitarbeiter könnte mit einem stellvertretenden Avatar im eigenen Büro durch-
gearbeitet werden. Die technische Voraussetzung für diese neue Dimension der Virtuali-
tät heißt z. B. „Microsoft HoloLense“.44 Die speziell für die Mixed Reality entwickelte
und wesentlich komfortablere Brille eröffnet in ihrer zweiten Version insbesondere beruf-
lichen ­Anwendungen (z. B. Produktentwicklung, Chirurgie, Architektur etc.) ungeahnte
­Möglichkeiten. Einblick gibt hier z. B. das Video „HoloLens 2: inside Microsoftֹ’s new
headset“.45 Doch erst der von Microsoft aktuell mit dieser Technologie noch zurückhaltend
bediente Spielebereich gibt einen Eindruck von dem Potenzial, welches sich auch für Coa-
ching erschließen könne. Insbesondere ist hier das Kriminalrollenspiel „Fragments“46 der
ASOBO-­Studios47 zu nennen. Es ermöglicht schon heute einen technischen Vorgeschmack
auf die oben skizzierten, potenziellen Szenarios und eröffnet so eine völlig neue, virtu-
elle Dimension des Coachings. Dass die im genannten Rollenspiel agierenden Avatarfi-
guren heute noch etwas geister- bzw. maskenhaft daherkommen, wird im kommenden
Jahrzehnt durch kleinere und noch leistungsfähigere Mikroprozessoren behoben. An einer
sich am Spieler orientierenden und situationsangemessenen Mimik und Gestik arbeiten
wiederum bis dato unabhängig von Microsoft die schon erwähnten Unternehmen Affec-
tiva und Soul Machines. Mit ihren 3D-Gesichtern setzten sie ebenfalls zum Sprung in
eine räumlich erlebbare Interaktion an. Ein besonders interessantes Gedankenexperiment
wäre daher deren Verschmelzung mit dem bereits erwähnten Avatar „Simsensei“ bzw. dem
dahinterstehenden System „Multisense“. Mit den soeben beschriebenen, heute noch uto-
pisch erscheinenden Möglichkeiten kann man Kanatouri (2020, S. 143) nur zustimmen,
dass dies die eigentliche Disruption der aktuell doch sehr begrenzten Coaching-Welt dar-
stellen würde. Wegbereitend in der breiten Masse könnte dafür die neue, ZOOM und MS
Teams unterstützende bzw. vernetzende Plattform „Mesh“48 von Microsoft sein, die eine
virtuelle Kopräsenz und damit Kollaboration über die genannten Systeme hinweg ermög-
licht. Über die AR-Brille „HoloLens 2“ von Microsoft und VR-Brillen anderer Hersteller
(z. B. Apple, s. o.) wird damit die Tür zu holografischen Meetings im Alltag aufgestoßen.
Bis dato agieren die Akteure in diesen Meetings jedoch nur als Avatare.

Doch damit nicht genug. Denn wünscht man sich zudem eine angenehmere Alternative
zu der klobigen Brille, könnte dieser Wunsch durch eine Art Kontaktlinsen in maximal
5–10 Jahren in Erfüllung gehen. Denn mit „Bildschirmen“ von der Größe und mit dem
Komfort einer Kontaktlinse würde dann das Bild direkt ins Auge projiziert werden. Einen

44
https://www.microsoft.com/de-de/hololens. Zugegriffen am 10.01.2021.
45
https://www.theverge.com/2019/2/24/18235460/microsoft-hololens-2-price-specs-mixed-reality-
ar-vr-business-work-features-mwc-2019?xing_share=news. Zugegriffen am 10.01.2021.
46
https://www.youtube.com/watch?v=m6Wndguve8U. Zugegriffen am 10.01.2021.
47
https://www.asobostudio.com/games/fragments. Zugegriffen am 10.01.2021.
48
https://news.microsoft.com/de-de/microsoft-erklaert-was-ist-microsoft-mesh/. Zugegriffen am
03.06.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 53

Eindruck, wie das buchstäblich aussehen könnte und welchen Einfluss dies jedoch auch auf
unsere Interaktionen haben könnte, vermittelt der SciFi-Kurzfilm „Sight“.49 Berichte über
entsprechende Forschungen und entstehende Produkte lieferte der „Spiegel“ bereits im Jahr
2011 (Spiegel online, 2011). Ein erstes Modell bietet heute die Firma Mojo Vision (2020).

Andere Bereiche als Vorreiter oder sogar Wegbereiter für medial vermittelte
Hilfsangebote!?
Die bislang in der Coaching-Szene eher unbeachteten Erfolge und Fortschritte im Rahmen
der sogenannten „Cybertherapie“ oder „Cyberpsychologie“50 im Bereich der Medizin
oder der klinischen Psychologie wurden im (Business-)Coaching bislang kaum rezipiert.
Durch Pioniere wie z. B. John Suler (The Psychology of Cyberspace, 2021) oder Brenda
K. Wiederhold wurde mit den Forschungsaktivitäten unter dem Dach der „International
Association of CyberPsychology, Training, and Rehabilitation“51 ein Fundus an Wissen
geschaffen, dessen Schätze es für das Coaching noch zu heben gilt. Besonders für thera-
peutisch vorgebildete Coaches könnte hier zukünftig der Bereich des Gesundheits-
coachings enorm profitieren. Aber auch Themen wie die Sprechangst vor Gruppen oder
andere Aspekte mit stärkerem Trainingsbezug könnten sich dieser bewährten Technik be-
dienen. Belege z. B. für die erfolgreiche Integration von Simulationen in die Verhaltens-
therapie bei verschiedenen Angstformen (z. B. Platz-, Höhen- oder Spinnenangst) liefern
Emmelkamp und Meyerbröcker (2011) oder ganz aktuell Pauli, Gromer et al. mit ihrem
Buch „Virtual Reality Therapie“ (Pauli et al., 2021). Wie ein Instantkaffee ist die Hilfe der
ausgebildeten Therapeuten überall und jederzeit zu einem festgelegten Preis buchbar. Die
großen Vorteile, aber auch Grenzen dieser Interventionsmethode finden sich z. B. im Arti-
kel von Cristina Botella et al. (2009). Aktuelle Beispiele für psychotherapeutische
Online-­Services über Text, Audio oder Video und ohne Terminvereinbarung sind z. B. die
Unternehmen Instahelp52 und BetterHelp.53 Einen ersten Überblick über Online-­
Interventionen in Therapie und Beratung liefern hier Justen-Horsten & Paschen (2016).
Andere (therapeutenergänzte) Selbsthilfeprogramme bzw. internetgestützte Schreib-
therapie auch ohne Chatbots zeigen die Ausführungen von Knaevelsrud und Wagner in
ihrem Buch zur Online-Therapie und -Beratung (2017).

Dass diese Community dabei ethische Fragestellungen nicht ausklammert, belegen ent-
sprechende Veröffentlichungen (Pase, 2009; Kotsopoulo et al., 2015). Der in Deutschland
nicht unbekannte Mainzer Kognitionswissenschaftler Thomas Metzinger könnte mit seiner
Veröffentlichung zu ethischen Richtlinien für die Wissenschaft wie auch das öffentliche
Leben (Metzinger & Madary, 2016) ggf. sogar Maßstäbe setzen. Dazu mehr in Abschn. 6.2.

49
https://www.youtube.com/watch?v=lK_cdkpazjI. Zugegriffen am 10.01.2021.
50
http://www.cybertherapyandrehabilitation.com/about-us/. Zugegriffen am 10.01.2021.
51
http://iactor.ning.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
52
https://instahelp.me/de. Zugegriffen am 10.01.2021.
53
https://www.betterhelp.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
54 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Wegbereitend bzw. unterstützend für rein mediale oder medial gestützte Ansätze auf
längere Sicht (bzw. vielleicht sogar auf kürzere Sicht durch COVID-19) könnte hier auch
die in Skandinavien und Großbritannien bereits erfolgreich angewandte Telemedizin oder
eHealth (electronic Health) wirken. Einen Überblick bieten hier die Seiten der Bundes-
ärztekammer (Bundesärztekammer Berlin, 2019). Die eigene Gesundheitsversorgung in
den Bereichen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie bei der ärztlichen
­Entscheidungsberatung auch über räumliche Entfernungen (oder zeitlichen Versatz) zu
erhalten, wird bedingt durch den weiter steigenden Kostendruck des Gesundheitssystems
bzw. eine überalternde Gesellschaft in den kommenden 10–15 Jahren mehr und mehr zur
Normalität werden. Beispielhaft könnte hier das Gesundheitsportal ZAVA (2021) genannt
werden. Einen Überblick über die vielfältigen Initiativen und Projekte bietet das
Informationsportal „vesta“ für Telemedizin in Deutschland (gematik, 2019), welches im
Rahmen der eHealth-Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit unter enger Mit-
arbeit der Bundesärztekammer aufgebaut wurde.

Und zum Schluss der technologische Anfang im medial gestützten Coaching: E-


oder Online-Coaching
Interessanterweise ohne direkten Bezug auf die dort gewonnenen Einsichten zu dem oben
genannten, schon über 20 Jahren existierenden Arbeits- und Forschungsbereich der klini-
schen Psychologie oder Telemedizin erschlossen Harald Geißler mit seinem E-Coaching
(Geißler, 2012) oder Elke Berninger-Schäfer 2017 in ihrem Buch zum Online-Coaching
(Berninger-Schäfer, 2017) als Pioniere diesen Bereich für das Coaching. Geißler wie
Berninger-­Schäfer fokussieren mit ihrem Ansatz auf die Situation, dass Coach und Coa-
chee zwar räumlich getrennt sind, beide jedoch gebunden an bzw. sich vor dem PC oder
sonst einem elektronischen Medium befinden und direkt oder über einen Avatar (Bredl
et al., 2017) miteinander interagieren. Berninger-Schäfer schuf darüber hinaus jedoch mit
der von ihr entwickelten Plattform CAI54 eine neue Welt von den Coaching-Prozess gezielt
unterstützenden Tools, wie auch einen unter der „Karlsruher Schule“ firmierenden Phasen-
ablauf. Insbesondere ihre Systematisierung (Berninger-Schäfer, 2017, S. 35) des Online-­
Coachings anhand der benötigten Voraussetzungen in vier Stufen kann überdies als weg-
weisend gelten. Dass dieser Markt des Online-Coachings sehr groß, aber auch heiß
umkämpft ist, zeigt Kanatouri (2020, S. 91) eindrucksvoll in ihrer Angebotsübersicht der
medialen, prozessunterstützenden Tools. Und deren Heterogenität ist – basierend auf den
10 von Kanatouri entwickelten Unterscheidungkriterien – zudem groß! Dass auch die er-
wartete Nachfrage von Einkäuferseite als hoch eingeschätzt wird, zeigt womöglich die
Feststellung Kanatouris (2020, S. 97), dass von den in ihrer Übersicht vorgestellten
61Tools nur 10 vor 2004, aber 51 in den letzten 8 Jahren entwickelt wurden. Inwieweit mit
jedem dieser Tools für den Kunden ein Mehrwert im Coaching-Prozess erzielt wird, wird
deren Lebensdauer am Markt zeigen. Zudem gilt in diesem Kontext, wie auch beim

54
https://www.cai-world.com/. Zugegriffen am 10.01.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 55

Face-2-Face-Coaching: A fool with a tool is still a fool! Das heißt, um die unterschied-
lichen Qualitäten entlang des Coaching- Prozesses (dazu Berninger-Schäfer, 2017, 194
oder Kanatouri in Wegener et al., 2020, S. 40–50) realisieren zu können, benötigt es auch
weiterhin nicht nur hinsichtlich der Toolnutzung sehr gut ausgebildete Coaches. Diese
sind jedoch nach Einschätzung des Autors nicht nur durch ihre Vorbehalte hinsichtlich der
Technologienutzung (i. S. mangelnder Technologieaffinität) (Bachmann, 2019) bei einer
bislang von menschlicher Nähe geprägten Arbeitsweise eher zögerlich, sondern vermut-
lich auch wegen der damit einhergehenden, grundlegenden Änderung ihres Geschäfts-
modells (siehe Abschn. 5.1). Doch auch hier wird wahrscheinlich COVID-19 bzw. blanke
Existenzängste dazu führen, dass immer mehr Coaches den Sprung über den Rubikon
wagen und zunehmend auch online coachen werden. Unterstützung und Anleitung dazu
finden sie in der zu diesem Thema bereits boomenden Ratgeberliteratur und den wahr-
scheinlich in den nächsten Jahren wie Pilze aus dem Boden schießenden, speziellen Aus-
bildungsangeboten. Einen praxisbezogenen Einsatz von digitalen Medien im Coaching
bzw. einen Überblick zu Coaching-Plattformen und digitalen Coaching-Formaten bietet
das gleichnamige Herausgeberwerk von Jutta Heller et al. (2017).

Wie das alles aus der Sicht eines Personalentwicklers bzw. Servicedesigners zukünftig
zusammenkommen könnte, zeigt Abb. 2.7. Die aktuellen Angebote in Unternehmen fo-
kussieren dabei zunächst auf eine Standardversion des digitalen Coachings. Wie auch bei
den Coaches selbst, deutet sich mit und wahrscheinlich nach COVID-19 an, dass „Unter-
nehmen auch im Homeoffice stattfindet“ und daher generell die Nachfrage nach Online-­
Angeboten steigen wird. Die rasante technologische Entwicklung in der KI, AR und MR
sowie der um 2030 bevorstehende Generationenwechsel der Belegschaft in den Unter-
nehmen werden dort für eine noch höhere Akzeptanz für solche Angebote und infolge-
dessen auch für eine verstärkte Nachfrage hinsichtlich der Basis- und Premiumversion
sorgen. Dabei gilt wie auch schon im bereits stark digitalisierten Kundengeschäft der Ban-
ken: Je „wertvoller“ der Kunde, desto mehr persönlicher „High Touch“ bei gleichzeitig
individualisierten „Hightech“-Analysen (der Vermögensanlage) wird dem Kunden zuteil.
Diese Entwicklung kann man beklagen, sie ist jedoch ein weitgehend akzeptiertes Zeichen
der Zeit.
Da jedoch die hier skizzierte Premiumversion durch die Nutzung der hochimmersiven
Mixed-Reality-Technologie über die von Berninger-Schäfer (2017, S. 38) genannten
Merkmale – insbesondere die 3D-Welt mit Avataren auf einem 2D-Monitor der Stufen III
und IV – weit hinausgeht, wird vom Autor für dieses Feld bereits jetzt eine weitere Stufe
V vorgeschlagen. Deren Überschrift würde dann lauten: „Integrierte, interaktive, profes-
sionelle Coaching-Plattform für Mixed-Reality-Welten“. Denn einer bzw. beide Akteure
begegnen sich in diesen Welten nicht mehr als stellvertretende, ggf. konstruierte „3D-­
Puppen“ in einem 2D-Monitor, sondern als holografische Abbildung ihrer selbst. Natür-
lich (noch) ohne Bezug zum Coaching vermittelt das entsprechende Werbevideo von
56 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Basis- Standard-Version Premium-Version


Version („Bestseller-Coaching“) („Kunsthandwerks-“ oder „Manufaktur-Coaching“)
Selbst-Coaching, komplett (ggf. noch mit  Coaching, welches oft auch (datenbasiert)  Coaching personen- und situationszentriert; F-2-F
Coaching-
dazu buchbaren Einzelstunden; To-go- standardisierte Trainingsthemen unterstützt; F- oder virtuell, hightouch oder lowtouch – je nach
Format Format) 2-F oder virtuell – je nach Kontext bzw. Wunsch Kontext bzw. Wunsch
App (herunterladbar von App-Store für  Coach-Plattform mit mehr oder minder  MR-Technologie für (holografische) Meetings,
„Coaching- Smartphone oder Tablet); heute mit noch (datenbasiert) vorstrukturierten und Verhaltenssimulationen und Tools (auch) im
Technologie“ eher begrenzter Kommunikations- und vorgefertigten Prozessen und Inhalten für die virtuellen Raum oder F-2-F – oder explizit hightouch
Interaktionsfähigkeit Online-Coaching-Plattform und lowtech

Coaching-  III–IV  IV–V**


Stufe*
Coaching-Chatbot (je nach Preisniveau)  Basal bis mittel qualifizierte und erfahrene und  (Sehr) hoch qualifizierte, erfahrene und sehr
mit mehr oder minder leistungsfähiger KI technikaffine Coaches von Breiten-Plattformen, technikaffine Coaches (als Einzelkämpfer oder
im Hintergrund) die auch vorstrukturierte bzw. vorgegebene Angehöriger einer kleinen, exklusiven Plattform),
Inhalte, Tools und Prozesse schätzen bzw. welche die Erschließung neuer Möglichkeitsräume
spez. Kundenwünsche damit befriedigen in digitale Medien umsetzen und in diesen voll-
 Einfache KI oder Chatbots zur Nachbereitung ständigen Kunstwelten alternatives Probehandeln
bzw. nachbereitende bzw. begleitende, bzw. Perspektivenwechsel für ebenfalls
Coach- bzw.
standardisierte Trainingseinheiten oder zur technikaffine Coachees erlebbar machen.
Chatbot-Profil Administration (Terminierung, Abrechnung etc.) (Vgl. Kanatouri, 2020, S. 137–142)
 High-End-Assistenz-Chatbots („Digital
Humans“) zur administrativen Prozessvor-
(„Anamnese“) und -nachbereitung (mittel- bis
langfristige Lerntransfersicherung) bzw. -begleitung
(kurzfristige Lerntransfersicherung); Administration
(Terminierung, Abrechnung etc.)
Kostenfrei bzw. niedrig bis mittel  Mittel bis hoch  Hoch bis sehr hoch
Preisniveau (je nach Entwicklungsstand)
(Online-)Trainings (Mikro-Learnings,  (Online-)Trainings (Einzeltage bis Curricula)  Großes Netzwerk an sehr erfahrenen Coaches und
Produkt-
Kurz- oder Tagestrainings) und andere und andere ergänzende Lernmaterialien Beratern für Spezialthemen
ergänzung ergänzende Lernmaterialien  Live Shadowing
Alle mit hoher Kostensensibilität  Alle  Alle, die es sich leisten können und wollen (in der
Zielgruppen Generation Z und folgende)
* Die Coaching-Stufen orientieren sich an Berninger-Schäfer, 2017, S. 35.
** Die Stufe V ist ein Vorschlag des Autors, um die neue Dimension und die neuen Möglichkeiten der Mixed Reality (MR) einzubeziehen (siehe Text). Die Technologie ist jedoch noch
nicht für eine Anwendung im Coaching-Bereich konfiguriert.

Abb. 2.7 Ideen zukünftiger Servicevarianten im digitalen Coaching © Stefan Stenzel 2022. All
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Microsoft HoloLens55 bzw. die heutige (2022) Marketing-Chefin der SAP SE, Julia White,
jedoch einen guten Eindruck, was bereits 2019 mit dieser Technologie möglich war. Dass
die Muttersprache des Nutzers durch eine Kombination mit AI simultan (im Video vom
Englischen ins Japanische) übersetzt werden kann, eröffnet dem Arbeiten ohne jede phy-
sische bzw. räumliche Grenze zusätzliche, völlig neue Möglichkeiten. Der in der Ein-
leitung zitierten „Realitätskellner“-Rolle des Coaches von Gunther Schmidt würden sich
hier ungeahnte, neue Angebotsmöglichkeiten eröffnen. Ferner wird das Trendwort des
Arbeitens in einer „glocal world“ plötzlich real erlebbar. Die nächsten 5–10 Jahre lassen
hier große Fortschritte bei den immersiven Technologien erwarten – wenn denn die
Rahmenbedingungen sich mit gleicher Geschwindigkeit entwickeln! Denn wie schnell
und warum diese „Hightech-Träume“ zumindest teilweise aktuell noch an Lowtech-­
Voraussetzungen und anderen Hindernissen scheitern, beschreibt der nächste Abschnitt.

55
https://www.youtube.com/watch?v=auJJrHgG9Mc. Zugegriffen am 22.12.2020.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 57

Von Hightech-Träumen und Lowtech-Voraussetzungen: die banale Realität und


ihre Herausforderungen
Nach einer zwölf Wochen währenden Versteigerung im Sommer 2019 gab der Bund in
Mainz bei mehr als 6,5 Milliarden den Zuschlag für die 5G-Lizenzen an die Deutsche
Telekom, Vodafone, Telefónica und 1&1 Drillisch. Mit dem neuen, ultraschnellen Mobil-
funkstandard 5G soll die Geschwindigkeit der Datenübertragung mindestens 100 Mal
schneller sein als beim aktuellen 4G-Standard. Für künftige Schlüsseltechnologien einer
Digital Economy mit ihren autonomen Pkws, der virtuellen Realität z. B. in der VR und
AR im Bereich der Telemedizin oder der vernetzten Produktion bzw. ihren miteinander
kommunizierenden Maschinen (IoT = Internet of Things) im Rahmen der Industrie 4.0. ist
5G unabdingbar. Die Nutzungsrechte für die ersteigerten Frequenzen gelten jedoch erst ab
2021. Dass die großen Konzerne wie beispielsweise BMW, BASF, Bosch, Daimler und
Siemens so lange nicht warten wollen und können, wird durch deren Ankündigung sicht-
bar, eigene 5G-Netze für ihre Produktionsstätten aufbauen zu wollen – unabhängig von
den großen Mobilfunkkonzernen. Für den Coach als potenziellen Privat- bzw. Einzel-
anwender sieht das vorerst sicher anders aus. Je nachdem, wo der Endanwender wohnt,
bleibt abzuwarten, ab wann die höheren Übertragungsraten und geringeren Latenzzeiten
wirklich „an jeder Milchkanne“ für umfassende VR-Nutzung problemlos verfügbar sind.

Neben dem vorgenannten Flaschenhals des Infrastrukturausbaus sind auch die Voraus-
setzungen für das zu Beginn von Kap. 2 angesprochene Cloud Computing noch un-
zureichend gegeben. Das heißt, die Möglichkeiten des Zugriffs auf die notwendige Soft-
ware, Infrastruktur und Rechenleistung von Servern an einem beliebigen Standort auf der
Welt (und eben nicht dem heimischen PC) bereitet den Anbietern aufgrund verschiedener
Plattform- und Technikstandards zuweilen noch große Schwierigkeiten. Entspräche in
einer Analogie eines Essenslieferservice die genannte Infrastrukturqualität der Fahrstrecke
und -geschwindigkeit des Boten, wären die verschiedenen Boxenbeschaffenheiten, die
Vielfalt und Größen der Mahlzeiten und z. B. die erforderlichen Liefertemperaturen etc.
die „logistischen“ Herausforderungen der Cloud-Anbieter. Der Vergleich macht darüber
hinaus deutlich, dass eben nur die möglichst zeitgleiche Optimierung beider Elemente am
Ende den gewünschten Erfolg bringen wird. Dass dies in nächster Zeit geschehen wird, ist
aktuell jedoch nicht ersichtlich! Um hier auch hinsichtlich des Datenschutzes unabhängiger
von den großen amerikanischen Playern zu werden, hat die Bundesregierung 2019 das
Projekt GAIA-X ins Leben gerufen, welches unter dem Label „Trusted Cloud“ (Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Energie, 2021c) mit seiner vernetzten Dateninfrastruktur
„als Wiege eines vitalen, europäischen Ökosystems“ (Bundesministerium für Wirtschaft
und Energie, 2021b) verstanden werden soll. Allerdings liegt nach dem Chef von Europas
größtem Softwarehersteller SAP SE, Christian Klein, noch vieles im Argen, sind noch zu
viele Fragen ungeklärt (CIO, 2020). Die deutsche Vorherrschaft unter den bis dato be-
teiligten Firmen ist dabei nur eine der organisatorischen Unzulänglichkeiten, welche diese
schon überlang notwendige Initiative bereits am Anfang infrage stellt.
58 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Überdies empfinden viele Nutzer das Design der heute gängigen VR-Brillen (Oculus,
HTC etc.) berechtigterweise als nutzerunfreundlich, da der taucherbrillenartige Aufsatz
den User um die Augenpartie zu sehr schwitzen lässt bzw. durch die klobige Form und das
Eigengewicht die Nackenmuskeln bei längerer Nutzung ermüden und dadurch Ver-
spannungen auslösen kann. Ferner kommt es bei einigen Nutzern zur sogenannten „VR-­
Sickness“ mit Symptomen wie Kopfschmerz, Übelkeit oder generell zu Augentrockenheit,
Desorientierung, Depersonalisierung oder Informationsüberlastung. Dem allgemeinen
Trend zur Miniaturisierung aller technischen Gerätschaften folgend, werden Forschung
und Entwicklung hier jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten 10–20 Jahren
durch die im Abschnitt zur Mixed Reality bereits erwähnte Kontaktlinse Abhilfe schaffen.
Ein eher hybrides Thema sind in diesem Zusammenhang der Datenschutz bzw. die
Datenschutz- Grundverordnung in Deutschland (DSGVO) (Bundesministerium für Wirt-
schaft und Energie, 2021a) oder auf EU- bzw. internationaler Ebene die „General Data Pro-
tection Regulation“56 (GDPR). Denn neben den eher normativ zu diskutierenden Frage-
stellungen (s. o.) reichen diese auch tief in die Entwicklungen und die Diskussion der
technischen Herausforderungen. Wurde bislang das Online- oder E-Coaching – wie bereits
erwähnt – oft nur im Rahmen einfacherer Anwendungen untersucht, lag dies teilweise sicher
auch an diesen unzureichenden technologischen Voraussetzungen für die zuvor dargestellten,
anspruchsvolleren digitalen Medien, wie z. B. die MS HoloLense. Diese Anwendungen sind
jedoch umso komfortabler, je schneller das dafür notwendige Mobilfunknetz ist.
Die oben angerissenen Fragen- bzw. Themenkomplexe sind teilweise – sofern es um
die Technik geht – leider eher deutschlandspezifisch. Die datenschutzbezogenen, ins-
besondere aber die ethischen Aspekte sollten zumindest eine europäische – besser noch
globale – Verbindlichkeit haben. Hinsichtlich des GDPR ist ein gewisser Optimismus hier
sicher nicht unberechtigt.
Empfinden Angehörige der Babyboomer-Generation die oben beschriebenen, doch
noch sehr visionären 3D-Szenarien womöglich eher als befremdlich, wird dies wahr-
scheinlich von Vertretern der Generation Y – mit Sicherheit aber denen der Generation
Z – in der Zukunft als vertraute Normalität erlebt. Aufgewachsen mit z. B. Snapchat,
Pokemon Go, vTime, rollenbasierten Computerspielen in 2D und in einigen Jahren immer
häufiger in 3D (wie z. B. „Young Conker“57 oder das angesprochene Rollenspiel „Frag-
ments“ der ASOBO-Studios), stellt für technikaffine Vertreter dieser Wechsel zwischen
realen und virtuellen Welten, wie einst für die Babyboomer-Generation das Anschalten
des Fernsehgerätes in den 60er-Jahren, keine echte Herausforderung mehr dar. Als An-
gehöriger der Generation Z zwischen 2030 und 2040 voll in den Beruf eines Ingenieurs,
Designers, Architekten, Chirurgen etc. integriert, gehört es in diesen Bereichen wahr-
scheinlich zum Alltag, in Mixed-Reality-Welten und mit der dann aktuellen HoloLens
oder einem Vergleichsprodukt zu arbeiten. Welchen Einfluss die Generationenzuge-
hörigkeit generell auf das zukünftige Coaching haben könnte, wird in Abschn. 3.1 näher

56
https://gdpr.eu/. Zugegriffen am 10.01.2021.
57
https://www.asobostudio.com/games/young-conker. Zugegriffen am 10.01.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 59

beleuchtet werden. Wie auch bei vorhergehenden Generationswechseln sorgen wahr-


scheinlich die primäre, frühkindliche Entwicklungsphase sowie die rollen- und normative
Entwicklungsphase (sekundäre Sozialisation) für die Eingliederung bzw. Anpassung des
heranwachsenden Menschen in die ihn umgebende Gesellschaft und deren technische Er-
rungenschaften. Mögliche Herausforderungen der neuen Technologie könnten sich – wenn
überhaupt – eher bei den dann ebenfalls älteren Kohorten der Gen X ergeben.
Inwieweit diese Bedenken oder gar Warnungen hinsichtlich der Gefahren für „das
Menschliche“ schlechthin wirklich berechtigt sind, wird dabei im Wesentlichen davon
abhängen, wie wir diesen Begriff füllen. Verbindet man damit auf psychologischer Ebene
landläufig eine nuancenreiche Kommunikation, die z. B. in Humor, Ironie, gezieltem
Schweigen, aber auch Sarkasmus zur Hochform aufläuft, die damit verbundenen und nicht
prognostizierbaren Stimmungsschwankungen oder aber die kreativen Werke der
­Kulturschaffenden (z. B. Gedichte, Bilder, Musik etc.) als Antworten auf ihre Zeit sowie
das sich ggf. bei den Rezipienten einstellende ästhetische Empfinden, relativiert sich die
auch beim Autor gelegentlich durchklingende branchenbedingte IT-Euphorie sehr schnell.
Gleiches gilt für die noch wenig erforschten Phänomene Intuition (Gigerenzer, 2008) und
Weisheit (Scobel, 2017). Denn diese „Kronjuwelen des Menschlichen“ sind auf absehbare
Zeit technisch nicht oder nur in Ansätzen reproduzierbar bzw. wirken ggf. eher lächerlich.
Nicht nur für den Bereich Coaching kommt damit die im ersten Moment seltsam an-
mutende Frage auf, was generell unsere Spezies und im Speziellen einen „menschlichen
Coach“ ausmacht. Und wie bereits angemerkt: Das reine „empathische“ Zuhören von An-
gesicht zu Angesicht und mehr oder minder geschickt angebrachte Fragen werden bei den
nächsten Generationen nicht mehr dafür ausreichen und können – wie dargestellt – durch
Chatbots heute schon sehr gut simuliert werden. Also was macht das Besondere, Einzig-
artige des (menschlichen) Coaches aus, was ist im Marketingsprech die USP (= Unique
Selling Proposition), wenn es darum geht, sich gegen immer leistungsfähigere, virtuelle
Dialogsysteme abzugrenzen, um noch einigermaßen interessante Honorare beim Kunden
zu erzielen? Und „schnauzen“ auch Sie nicht schon gelegentlich Alexa oder Ihr sprechen-
des Navigationsgerät an? Weitere Gedanken dazu finden sich im nächsten Abschn. 2.1.3.
In einem größeren Kontext rückt damit aber auch das Thema Ethik, Technikfolge-
abschätzung bzw. Maschinenethik ins Blickfeld und ist 2020 bei Amazon auch bereits mit
10 deutschsprachigen Publikationen vertreten. Gleiches ist hinsichtlich der Entstehung von
(halb-)öffentlichen Organisationen zu berichten. Beispielhaft sollen hier das „Institut für
digitale Ethik“58 der Hochschule der Medien in Stuttgart, der „Deutsche Ethikrat“59 oder das
erst 2018 gegründete, größte gemeinnützige Netzwerk für die Digitale Gesellschaft „D21“
genannt werden. „Bestehend aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
Mandatiert durch Wirtschaft und öffentliche Hand arbeiten hier einige der besten Köpfe ge-
meinsam daran, die gesellschaftlichen Herausforderungen im digitalen Wandel zu durch-

58
https://www.hdm-stuttgart.de/digitale-ethik/home. Zugegriffen am 10.01.2021.
59
https://www.ethikrat.org/. Zugegriffen am 10.01.2021.
60 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

leuchten, jährliche Lagebilder zu liefern und Debatten anzustoßen, um die Zukunft der Digi-
talen Gesellschaft sinnvoll zu gestalten“ (Initiative D21, 2021). Dazu mehr in Kap. 6.

Ein Letztes – aber sicher nicht das letzte Wort


Die dargestellten technischen Entwicklungen bieten potenziell eine Vielzahl von Möglich-
keiten, den Service „Coaching“ zu ergänzen oder vielleicht sogar einmal Teilaspekte
davon zu ersetzen. Ob und wie es zu „echten“ Verbesserungen (i. S. v. der Service Coa-
ching wird genutzt, weil er wirkt) kommt bzw. zu welchem Preis wir diese Verbesserungen
erkaufen, wird die Zukunft zeigen. Noch ist es zu früh bzw. der Stand der technischen
Anwendungen (und Voraussetzungen; s. o.) zu neu, um hier klare Trends zu erkennen.
Aber der Siegeszug der angesprochenen immersiven Technologien hat auch gerade erst
begonnen. Mit ihnen verbindet sich zumindest für den Autor die eigentliche, disruptive
Veränderung des Coaching-Marktes.

Gleiches gilt für die Themen Daten und Datennutzung im Bereich „Coaching“. Die
Datenquellen erstrecken sich dabei von der Interessensbekundung, ein Coaching durch-
führen zu wollen, bis zur Prozessevaluation parallel zu den Sicherungsmaßnahmen des
Lerntransfers. Mehr dazu in Folgekapitel 3.2.
Unzweifelhaft aus Sicht des Autors ist weiterhin, dass die digitalen Medien ein fester
Bestandteil des Service „Coaching“ werden. Nach wie vor muss jedoch der Klient mit
seinem Anliegen bzw. der Coaching-Prozess und nicht die Technik im Vordergrund ste-
hen! Dies ist jedoch nur möglich, wenn diese souverän beherrscht wird. Ein zentrales
Thema ist daher die Entwicklung der zusätzlich erforderlichen Kompetenzen bei den
Coaches bzw. die Erweiterung der Curricula der Coaching-Ausbilder (siehe auch
Abschn. 2.1.3). Die von Harald Geißler geforderte Professionalität in diesem Kontext wird
jedoch nicht ausschließlich in der Beherrschung des neuen Formates bestehen, sondern im
„Blended Coaching“ (Fietze, 2016). Das heißt, dem situationsgerechten bzw. maß-
geschneiderten „Sowohl-als-auch“, welches darüber hinaus sogar Teil einer Organisations-
entwicklungsmaßnahme sein kann. Diese wird ausführlich in Abschn. 4.1 diskutiert.
Vieles ist heute noch gestalterisch möglich bzw. wurde schon auf den Weg gebracht –
aber alles könnte (im Coaching) auch ganz anders sein! So ist Bachmann und Fietze
(Bachmann & Fietze, 2018) zuzustimmen, dass es ganz wesentlich von sämtlichen Play-
ern der Coach-Community (Coaches, Coaching-Ausbildern, Wissenschaftlern) und den
Coaching-Plattform-Anbietern abhängen wird, wie sich dieser (Geschäfts-)Bereich letzt-
lich entwickelt. Bezeichnend leider auch für diesen Artikel ist jedoch, dass der Endkunde
(Unternehmen und Privatpersonen) nur sehr generisch als „Markt“ thematisiert wird. Man
könnte zuweilen den Eindruck gewinnen, dass für manche Coaches der Kunde nicht wirk-
lich Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und Bemühungen ist, dass das Serviceangebot für
ihn attraktiv sein bzw. in seiner Lebenswelt einen Mehrwert stiften muss.
Welche Auswirkungen die geschilderte Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung in
den nächsten Dekaden für die Rolle des Coaches und das Coaching haben könnte, wird im
nächsten Abschnitt dargestellt.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 61

2.1.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Dass unter dieser Überschrift die speziellen Kompetenzen des Coaches für das digitale
Coaching bzw. deren Entwicklung zur Sprache kommen müssen, versteht sich nach den
vorhergehenden Ausführungen von selbst. Übereinstimmend mit z. B. Berninger-Schäfer
(2017, S. 88) steht daher außer Frage, dass für das Online-Coaching zusätzliche und spe-
zielle Kompetenzen gefordert sind.
Zentrale Herausforderung mit Deplazes & Künzli (2020) oder im Online-Coaching ist
die sogenannte „computervermittelte Kommunikation“ (CVK) mit ihren verschiedenen
Theorien. Den für Deplazes & Künzli (2020, S. 33) differenziertesten Ansatz im Rahmen
der CVK liefert das „Hyperpersonal Model“. Ohne das Modell hier eingehender vorstellen
zu wollen, hilft es im Rahmen des Online-Coachings zu verstehen, warum infolge der
fehlenden F-2-F-Kommunikation Anreize zur positiven Selbstdarstellung (i. S. sozialer
Erwünschtheit) reduziert werden und dem Coachee die Kommunikation schuld- oder
schambehafteter Themen leichter fallen kann. Infolge des Wegfalls von non- und para-
verbalen Hinweisreizen – der eigentlich von Coaches oft beklagten Kanal- bzw.
Informationsreduzierung – kommt es beim Coachee potenziell jedoch zu einer stärkeren
Konzentration auf sich und das Thema. Weitere psychologische Vorteile neben der ein-
facheren und schnelleren Selbstoffenbarung sind die vermehrte und sorgfältigere Verbali-
sierung von Gefühlen sowie die Anpassung der Sprache an den Interaktionspartner. Beides
sorgt wiederum für eine Verbesserung der Beziehungsqualität. So scheinen die Bedenken
vieler Coaches hinsichtlich des Online-Coachings nicht wirklich gerechtfertigt. Denn der
geäußerten bzw. erlebten, größeren physischen und psychischen Distanz, Anonymität
bzw. Unsichtbarkeit stehen potenziell größere Offenheit, ein höheres Kontrollerleben und
stärkere Aufmerksamkeitsfokussierung nicht nur aufseiten des Coachees entgegen. Nach-
teile, die nachgewiesen werden konnten, sind zum einen ein schwächeres Commitment zu
dem Prozess, das Abschweifen (z. B. parallel E-Mails bearbeiten) bzw. die Dissoziation
während des Coaching-Prozesses sowie fehlende Ernsthaftigkeit im Arbeitsprozess. Bei-
des kann bei zu großer Dominanz zu einem Abbruch nach wenigen Sitzungen führen.
Jeder erfahrene Coach weiß jedoch, dass die Gründe dafür nicht unbedingt in der Methode
selbst liegen müssen (als beispielhaftes Stichwort: „Besucherrolle“).
Mit den von Berninger-Schäfer (2017, S. 55) dargestellten Wirkfaktoren für das Coa-
ching und Online-Coaching ergeben sich für sie folgende, für das Online-Coaching
hervorzuhebende fünf sehr konkrete Kompetenzfelder (Berninger-Schäfer, 2017, S. 88).
Da sind zum einen die (1) Medien- bzw. Multimedia-Kompetenz, die (2) Fähigkeit zur
Medienkommunikation (z. B. (non-)verbal, in Texten oder Grafiken, über verschiedene
Materialien wie Briefe, Tafeln bzw. verschiedene technische Medien wie Telefon oder
YouTube etc.), (3) die Prozess(steuerungs)kompetenz des Coachingverlaufes selbst bzw.
(4) die Methodenkompetenz (z. B. hinsichtlich des Chattens, der Nutzung des White-
boards, des Einsatzes einer Präsentation etc.) sowie die (5) Format- und Designkompetenz
bei Kombination der Formate (z. B. Gruppen, Team-Konflikt-Coaching etc.) oder der Er-
62 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

stellung von Medienkonzeptionen. Der interessierte Leser sei hier auf die sorgfältig aus-
gearbeitete Originalquelle verwiesen.
Ausführungen zu den Entwicklungsmöglichkeiten der genannten Kompetenzen im
Rahmen einer entsprechenden Coaching-Ausbildung bei Geißler (2020) oder Deplazes
und Künzli (2020) zur Kompetenzentwicklung könnten hier als Orientierung dienen. Was
dies für die Inhalte heißen könnte, umreißt Kanatour auf konzeptioneller Ebene. Nach
ihrer Ansicht (Kanatouri, 2020, S. 164) sollten vier Themenfelder zur Sprache kommen:
(1) eine überblicksartige Darstellung der verfügbaren Online-Coaching-Tools, (2) eine
Einheit darüber, wie man die Tools am besten nutzt, (3) die synergetischen Integrations-
möglichkeiten von F-2-F- und Online-Coaching bzw. wie bisherige persönliche Vorlieben
im F-2-F-Coaching ggf. modifiziert werden müssen und (4) wie man das Online-Coaching
ganz konkret aufsetzt und dem Kunden anbietet. Deplazes und Künzli skizzieren deren
Ausbildung am Institut für Angewandte Psychologie (IAP) der Zürcher Hochschule für
Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in der Nordschweiz. Die Curricula zu den auch im
IAP verwendeten CAI-World60 von Berninger-Schäfer finden sich auf ihrer Homepage. Es
bleibt abzuwarten, ab wann diese Elemente zumindest in den Grundlagen Bestandteil
jedes Curriculums sein werden – und Online-Coaching endgültig seinen „Exotenstatus“
verliert.
Plant ein Coaching-Berufseinsteiger der Generation Y und bald auch Z, seine Services
seinen Zeitgenossen anzubieten, werden ihm die angesprochenen Technologien durch teil-
weise eigene Nutzung relativ vertraut sein. Dennoch gilt für ihn wie auch für alle Vor-
gängergenerationen (X, Babyboomer und ggf. sogar Traditionalisten), dass nur ein nach-
haltiges Interesse an diesen technischen Entwicklungen und Erfahrungen mit der
eigenen Nutzung das Wissen und die Glaubwürdigkeit gibt, welche es für einen professio-
nellen Einsatz braucht. Kommt es durch diese Technikaffinität bzw. die darauffolgende,
praktische Nutzung zu einem Kontrollerleben hinsichtlich der Technik, sind Coaches (in
Kombination mit dem Wunsch, vermeintlichen sozialen Erwartungshaltungen gerecht zu
werden) nach einer Studie von Bachmann & Barth (Bachmann et al., 2020) offener für
Online-Coachings. Ist diese Technikaffinität generell nicht gegeben, braucht er wie James
Bond zumindest seinen Rüstmeister „Q“ als Kooperationspartner innerhalb eines Pools
oder Netzwerkes, der beratend und ermutigend zur Seite steht.
Die immer wieder geäußerte Frage bzw. Befürchtung, ob bzw. wann ein sehr weit ent-
wickelter Chatbot als „Digital Human“ oder „Robocoach“ (i. S. von Chat- oder Cobots)
die Arbeit übernehmen wird und Coaches ihren Job verlieren, ist nach dem Kapitel eigent-
lich einfach zu beantworten. Coaches wird es so lange geben, solange sie (zumindest) die
dem Kunden geläufigen, technischen (Kommunikations-)Möglichkeiten i. S. der Rapport-
bildung sinnvoll und gekonnt einsetzen (oder sogar die Generation Y und Z mit Innovatio-
nen überraschen). Entscheidend überdies wird sein, dass der Coach sich gerade durch
seine besonderen, menschlichen Eigenschaften von der technischen (Chatbot-)Lösung
und natürlich wegen der hohen Professionalität klar von der technischen Lösung abhebt

60
https://www.cai-world.com/weiterbildung. Zugegriffen am 10.01.2021.
2.1 Hardware- bzw. Prozessorenentwicklung: kein Ende in Sicht!? 63

und damit dem Kunden einen Unterschied und echten Mehrwert (für den auch wesentlich
höheren Preis) bietet. Dass es parallel zukünftig jedoch mehr „Robocoaches“ geben wird,
ist schon heute klar erkenn- und auch erwartbar. Ein indirekter Indikator dafür ist wahr-
scheinlich die global steigende Popularität von Google Assistant, Alexa, Siri und Konsor-
ten. Denn was wir hier mit jeder Anfrage an diese Kommunikationssysteme meist un-
wissend trainieren, sind zum einen sinnvolle Antworten auf (zunehmend) komplexe
Fragen, zum anderen unsere Akzeptanz, im Alltag mit künstlichen Systemen zu
interagieren.
So stellt sich die fast schon philosophische Frage nach der (neuen?) Professionalität,
Persönlichkeit des Coaches und Begegnung mit dem Coachee oder Klienten in dieser
digitalisierten Welt. Wie entwickelt man sich als Mensch bzw. Professioneller unter diesen
Bedingungen (Schmid & Gérard, 2012)? Was sind im Rahmen von Schmids „Theater-
metapher“ die neuen Themen, Storys, Bühnen und Rollen und der spezielle Stil der In-
szenierung, die der Coach mit dem Klienten aufführen will (Schmid, 2003b)? Worin be-
steht der Unterschied, der (für den Kunden) einen Unterschied im Coaching mit einer
realen Person macht und einen die Mehrkosten rechtfertigenden Mehrwert gegenüber
Coaching-Apps, -Bots oder Avataren schafft? Und wie sieht das „Drei-Welten-Modell“
aus, wenn Professions- und Privatwelt beim Klienten und Coach immer stärker ver-
schmelzen und die Organisationswelt des Klienten sich im Extremfall in einer virtuellen
Organisation auflöst (Schmid, 2003a)? Fragen, auf die jeder Coach zukünftig eine (neue)
Antwort entweder durch Selbstreflexion, in Supervision-Sessions und/oder im gemein-
schaftlichen Austausch im Rahmen eines Verbandes (Schmid, 2003c) entwickeln sollte.
Die sich seit Jahren intensivierende Nutzung von digitalen Medien brachte individuell
wie gesellschaftlich das Thema der suchtartigen Nutzung (Alter, 2018) der Informations-
und Kommunikationsangebote im Netz auf (Montag, 2017). So könnte es sein, dass der
Coach, bevor er mit dem eigentlichen Thema eines Coachings (z. B. emotionale Intelli-
genz bzw. empathisches Zuhören in sozialen Situationen) beginnt oder aber zumindest
parallel, an der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit im Rahmen eines „Digital
Detox“ arbeiten muss. Infolge der Multikausalität des Phänomens ist es jedoch fraglich,
ob zu pragmatische Ansätze (Otto, 2016) wirklich nachhaltig wirken. Ein therapeutischer
Hintergrund beim Coach selbst oder die Kollaboration mit einem spezialisierten Fach-
kollegen sind daher bei schwierigeren Fällen sicher hilfreich. Einen umfassenden Über-
blick über die Vielzahl der Gefahren im Umgang mit Social Media liefert das Buch von
Sheldon, Rauschnabel, Philipp & Honeycutt „The Dark Side of Social Media: Psycho-
logical, Managerial, and Societal Perspectives“ (Sheldon et al., 2019).
Die Nutzung mechanischer und noninvasiver und/oder gar invasiver Enhancements
(Hildt et al., 2002) oder gar pharmakologischer Enhancements (Gesing, 2020) soll hier
bewusst ausgeklammert werden. Dass auch sie bereits heute zuweilen Teil der Lebens-
wirklichkeit sind, dokumentieren der Ge- bzw. Missbrauch von Gedächtnisleistung und
Konzentrationsfähigkeit beeinflussenden Medikamenten, wie Ritalin, Modafinil oder
Fluoxetin, die nicht nur Kindern in den USA verabreicht werden. Ein anderes, trauriges
Beispiel ist das leistungssteigernde Doping im Spitzen-, aber zunehmend auch Breitensport.
64 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Mehrfach angesprochen, und im folgenden Abschn. 2.2 ausführlich behandelt, wurde


bereits das mit der Digitalisierung – sprich dem Einsatz von Wearables – untrennbar ver-
bundene Thema der Datengewinnung, -auswertung und -nutzung. Warum soll bei wem,
womit, wann (nicht) und wie oft gemessen werden? Wie bisher bei der Handhabung von
(psychometrischen) Testverfahren wäre ein solider Wissenshintergrund zur redlichen Inter-
pretation und Verwertung der Daten aus Wearables als verantwortungsvoller Umgang damit
anzusehen. Ansonsten empfiehlt sich auch hier die enge Kollaboration mit entsprechenden
Experten (Stichwort: Data Scientist) aus dem ggf. vorhandenen Netzwerk oder Pool.
Klang daher im letzten und vorletzten Abschnitt bereits die mit diesen Entwicklungen
unvermeidlich einhergehende ethische Diskussion um das Thema „Enhancement“
­(Savulescu & Bostrom, 2011) (durch den Einsatz von Messinstrumenten/Wearables, Phar-
maka etc.) an, wird der verantwortungsvolle Coach nicht darum herumkommen, sich hier
eine Meinung, „rote Linien“ und (ethische) Handlungsrichtlinien für das (digital ge-
stützte) Coaching in seiner digitalisierten Welt zu erarbeiten. Einerseits als Orientierung
für sich selbst – andererseits zur Unterstützung einer bewussten Entscheidung des Klien-
ten für die Nutzung dieser teilweise auch langfristig nicht folgenlosen Technologien. Denn
wo liegt z. B. die Grenze zwischen zweckdienlicher Nutzung einer Technologie und Inter-
ventionen der Selbstoptimierung? Anregungen zur generellen Bearbeitung derartiger ethi-
scher Fragestellungen im Coaching-Prozess finden sich z. B. bei Buer (2008). Dass auch
die Coaching-Verbände ein vorzüglicher Resonanzboden für die eigenen, ethischen Refle-
xionen des Coaches sein könnten und sollten, liegt auf der Hand. Erste Gedanken dazu
finden sich in Kap. 6.

2.2 Big Data fürs „Big Business“: jederzeit und von jedem

Wie fast an jedem Tag stehen Sie um 6:30 Uhr auf, veranlassen noch auf der Bettkante die
mit dem Smartphone zu steuernde Kaffeemaschine, Ihren Lieblingskaffee zuzubereiten,
fragen auf dem Weg ins Bad Alexa kurz nach dem Wetter und vertiefen sich frisch geduscht
selektiv während des Frühstücks in Ihre abonnierte Online-Zeitung bzw. Ihren Nachrichten-
dienst. Durch eine plötzlich auf dem Tablet eingeblendete Werbeanzeige wird Ihnen bei der
letzten Tasse Kaffee bewusst, dass Sie Ihre Suche nach ein paar neuen Schuhen vor zwei
Tagen nicht durch eine Bestellung finalisiert haben, und Sie holen dies deshalb noch schnell
nach. Gekrönt wird der Beutezug dadurch, dass Sie diesen Erfolgsmoment mit Ihrem lang-
jährigen Freund teilen und inklusive eines entsprechenden Fotos natürlich auch in diversen
sozialen Medien posten. Nach der Versendung des gestern unvollendeten E-Mails an einen
Kollegen beschließen Sie, Ihr Frühstück unter lautstarker Nutzung der Angebote eines
Musikstreamingdienstes zu beenden, und machen sich fertig. Beim Verlassen der Wohnung
erinnert Sie der Kühlschrank via Smartphone an die zur Neige gehende Milch (oder bestellt
sie direkt beim Lebensmittelhändler), Sie stellen die Temperaturwerte in Ihrem Smart-
Home-System für die Haustechnik ein und fahren mit Ihrem GPS unter Umgehung der
morgendlichen Staus in dieser Region zu Ihrem neuen Kunden.
2.2 Big Data fürs „Big Business“: jederzeit und von jedem 65

Sind Sie im Jahr 2022 um die 35 Jahre alt, ist das obige Schlaglicht aus der Privatsphäre
eines „modernen Lebens“ nur in Teilaspekten bzw. abhängig vom Einkommen Zukunfts-
musik. Ganz real bei diesem Szenario jedoch ist, dass Sie in den skizzierten 2–3 Stunden
bei der Nutzung des Internets über die sogenannten „Cookies“ unzählige Datenspuren
hinterlassen haben und sich die dahinterstehenden Anbieter sehr darüber freuen, Sie als
Kunden mit Ihren Lebensgewohnheiten, Wünschen und Präferenzen immer besser kennen-
zulernen. Ihr sogenannter elektronischer Zwilling oder „digital twin“ – eine aus ca. 5000+
Datenpunkten bestehende, digitalen Repräsentation Ihres Selbst – wird mit jedem Tag
genauer.
So ist es dem Online-Anbieter (z. B. auch einem Coaching-Anbieter!?) möglich, die
Werbeanzeige in Bezug auf Inhalt, Ort und Zeitpunkt noch besser zu platzieren und Sie
letztlich zum Kauf zu verführen. Rechnet man die bei den Transaktionen entstehende
Datenmenge nur auf ca. ein Achtel der deutschen Bevölkerung hoch – also ca. 10 Millio-
nen –, bekommt man zumindest ein vages Gefühl dafür, was man unter „Big Data“ ver-
steht. Die meisten großen Online-Anbieter agieren jedoch nicht nur deutschlandweit!
Neben diesen – quasi „nebenbei“ – durch den zunehmenden privaten Onlinehandel
anfallenden Datenmengen findet sich das „Gold des 21. Jahrhunderts“ natürlich auch im
industriellen Bereich. Beginnend bei dem Zulieferer für sämtliche materiellen (sämtliche
Rohstoffe), personellen (Mitarbeiter) und immateriellen (z. B. Beratung) Elemente zur
Erstellung eines Produktes oder einer Dienstleistung. Extreme Mengen an Prozess- bzw.
Steuerdaten fallen auch über die Sensoren und Kameras in den Maschinen über die
Produktionshallen an. Gleiches gilt für die Logistik, die beim Warenein- und -ausgang
über eine Zulieferer- bzw. Kundendatei dafür sorgt, dass die Auslieferung des richtigen
Produktes zur richtigen Zeit in der richtigen Menge und Qualität erfolgt und schließlich
auch für positive oder kritische Rückmeldungen zum erworbenen Produkt aufnahmebereit
ist. Dass die zwei genannten Unternehmensbereiche nur stellvertretend für alle Bereiche
eines Unternehmens genannt wurden, versteht sich von selbst. Damit ist der Unter-
nehmens- bzw. Wirtschaftsbereich die Goldgrube des digitalen Zeitalters. Einer der welt-
weit führenden Anbieter für diese Art von Realwirtschaft unterstützender Software ist im
Jahr 2022 seit nun 5 Jahrzehnten das deutsche DAX-Unternehmen SAP SE.
Stellt ein Unternehmen i. e. S. jedoch selbst nichts mehr her, sondern vertreibt nur noch
Produkte oder Dienstleistungen verschiedenster Hersteller auf einer sogenannten Plattform,
dann heißen diese Unternehmen z. B. Amazon, eBay oder Alibaba. Diese Unternehmen ver-
treten damit jedoch ein völlig neues Geschäftsmodell. Davon mehr im Abschn. 5.1. Gleich
ob im Privatleben oder im erwerbswirtschaftlichen Bereich, fallen heute durch die enorm
gestiegene Leistungsfähigkeit der Prozessoren bzw. konstante Erhöhung der Speicherfähig-
keit (beides bei sinkendem Preis!) und dank immer genauerer Sensoren täglich Datenmengen
an, an deren Verarbeitung man vor 10–20 Jahren noch nicht einmal gedacht hat. Wer einmal
sehen möchte, welche und wie viel physikalische Daten alleine schon das eigene Smart-
phone konstant generiert (und ggf. auch weiterleitet), dem sei die testweise Installation der
kostenlosen App „phyphox“61 der Universität Aachen empfohlen.

61
https://phyphox.org/de/download-de/. Zugegriffen am 04.06.2020.
66 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Daten statt raten! Aber: Viel hilft nicht immer viel!


Also nochmal: Was sind also „Big Data“ nach der eher hemdsärmeligen Definition am
Anfang des Kapitels 2.0? Hinsichtlich des Begriffsteils „Big“ empfahl das Beratungs-
unternehmen McKinsey schon 2011 (McKinsey Global Institute, 2011), was „big“ ist zu-
mindest nicht scharf nach oben zu begrenzen, da bis dato kein Ende des Wachstums der
Verarbeitungs- und Speicherkapazität in diesem Bereich für Daten abzusehen ist. Nur so
viel: Ein normaler Desktop-Rechner besitzt heutzutage standardmäßig 1 Terabyte (= 1000
Gigabyte) Speicher. In der industriellen Anwendung reden wir heute jedoch schon von
Datenmengen im Petabyte- (= 1000 Terabyte) oder gar Exabyte-Bereich (= 1 Million Te-
rabyte)! Man schätzt, dass global bereits 2012 Daten im Umfang von 2,7 Zettabyte (= 1
Billion Terabyte) vorhanden waren und seitdem bis heute jährlich ein Wissenszuwachs
von mindestens 50 Exabyte dazukommt (Marquardt, 2015). Bei einer 2012 von IBM
durchgeführten Befragung (IBM Institute for Business Value, 2012) würden zum Be-
fragungszeitpunkt (!) die Hälfte der Teilnehmer Datengrößen zwischen einem Terabyte
und einem Petabyte als „big“ ansehen. Dass diese Definition jedoch immer zeitabhängig
und damit immer relativ sein wird, liegt auf der Hand.

Bei dem Begriffsteil „Data“ bzw. Daten ist eine ähnliche Unschärfe festzustellen. Um
zu definieren, was denn diese Massendaten kennzeichnen soll, hatte man sich zunächst auf
die sogenannte V3- Formel verständigt – die Praxis erweiterte sie in der Folge jedoch auf
eine V4-Formel. Die vier „Vs“ stehen dabei für Volumen (= Masse/Anzahl der Datensätze:
Daten mindestens im Tera-Bereich), Variety (= Vielfalt: Daten in verschiedensten struktu-
rierten oder unstrukturierten Formaten, z. B. Texte, E-Mails, Tweets, Blogs, Zahlenwerte,
Multimediaformate etc. ), Velocity (= Geschwindigkeit der Datenströme: der Zeitraum
zwischen Erstellung bzw. Erfassung der Daten und dem Zeitpunkt, an dem auf die Daten
zugegriffen werden kann – auch Latenzzeit genannt; Ziel ist die Echtzeitübertragung)
und – von besonderer Praxisrelevanz – Veracity (= Richtigkeit: der Grad der Zuverlässig-
keit und Vorhersagbarkeit von ungenauen Datentypen). Spätere Autoren (Rijmenam,
2014)) plädierten sogar mit der Erweiterung auf Variability (= Variabilität: Veränderlich-
keit des Datenstroms bzgl. Zeit, Art etc.), Visualization (= Veranschaulichung: die leicht
verständliche und nachvollziehbare grafische Aufbereitung von Daten) und Value (= Wert:
der praktische Nutzen für z. B. Vorhersagen bzw. informiertere Entscheidungen) für eine
V7-Formel. Bleibt abzuwarten, welche Anzahl sich letzten Endes in Praxis und Wissen-
schaft bewährt. Gerade die letzte Dimension „Value“ unterstreicht, dass Daten einen Kon-
text benötigen, um zur Information zu werden, und einen vernetzten Kontext, um als Wis-
sen mittels Entscheidungen bzw. Handlungen Probleme zu lösen. Masse ohne Klasse,
große Datenmengen sind an und für sich daher wertlos! So hinkt der Vergleich von Big
Data als dem „Öl der Neuzeit“ gewaltig. Denn aus dem „Rohöl“, den Rohdaten, könnten
eben nicht direkt schrittweise Erkenntnisse bzw. verschiedene Treib- und Schmierstoffe
„raffiniert“ werden! Vielmehr bieten sich für ein besseres Verständnis die wesentlich sub-
tileren Prozesse der Landwirtschaft und Nahrungsmittelerzeugung an. Nach einer zu-
2.2 Big Data fürs „Big Business“: jederzeit und von jedem 67

nächst sorgfältigen Planung hinsichtlich der Art, Zeit, Fruchtfolge, Umfang und letztlicher
Verwertung des Ernteertrages für ein spezielles Gericht oder Rezept (Fragestellung, Hypo-
these und potenziell passende statistische Verfahren) sowie einer Analyse der Umwelt-
gegebenheiten wie z. B. der Bodenqualität, Temperatur, Regenhäufigkeit, Umweltricht-
linien etc. (→ Umfang, Art, Restriktionen und Qualität der Datenquellen) kann über die
Ernteparameter (→ wann, wo und wie) für die Pflanzen (Rohdaten) nachgedacht werden.
Nach erfolgreichem Einholen der Feldfrüchte gilt es diese auf der Basis des ursprünglich
geplanten Gerichtes zuzubereiten (→ statistisch-mathematische Analyse) und letztlich
einem Geschmackstest zuzuführen (→ Wurden Modellannahmen bestätigt? Ergaben sich
neue Einsichten?), welcher dann die erwarteten Ergebnisse bestätigt und manchmal sogar
auch neue, überraschende Einsichten mit sich bringt. Die allseits vollmundigen Ver-
sprechungen hinsichtlich der „Schatzkiste Big Data“ werden sich daher nur erfüllen, wenn
sehr kundige „Landwirte“ – sprich „Data-Scientists“ (Davenport & Patil, 2012) – in enger
Zusammenarbeit mit verschiedensten Köchen (Fachexperten, Führungskräften) am Werke
sind (McAffee & Brynjolfsson, 2012).
Das Problem ist jedoch: In der Wirtschaftswelt mangelt es bis dato offensichtlich an
allen dreien! Jedoch ohne diese werden aus dem aktuell gehypten Wirtschaftskatalysator
„Big Data“ – mit dem zudem stark interdisziplinär geprägten Prozess des sogenannten
Data Mining (= Analyse und Interpretation der mit statistischen Verfahren aufbereiteten
Rohdaten) – keine für die Vohersage der Kundenwünsche wirklich nützlichen, d. h.
„Smart Data“. Analysierte Datenmuster und errechnete Korrelationen sind eben nicht
gleichbedeutend mit Erklärungen und Begründungen von Ursachen – also Kausalität. Fal-
sche Schlussfolgerungen sind daher möglich. Sind die Datenmengen jedoch sehr groß
bzw. umfassen sie fast alle Fälle oder Vorgänge – der Statistikkundige schreibt dann „n =
alle“ –, wird die nicht zu vermeidende Messungenauigkeit von Einzeldaten irrelevant und
die Ergebnisse untauglich als Entscheidungsgrundlage. Der „gesunde Menschenverstand“,
menschliche Urteilskraft sowie ein solides Basisverständnis für die Bewertung und Inter-
pretation der Datensätze bleiben auch weiterhin unerlässlich. Das bringt uns zu den Kon-
sequenzen für die Klienten.

2.2.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Mithin ist der Weg bis zu den „Smart“ – i. S. v. „Predictive Data“ nicht so leicht wie er-
hofft. Besonders für länger gediente Führungskräfte, die es nicht gewohnt sind, ihr
(hoffentlich zutreffendes) Bauchgefühl mit Daten legitimieren zu müssen, bzw. bei denen
die Definitionsmacht ihres HiPPO-Status (= Highest-Paid Person’s Opinion; vgl. McAffee
& Brynjolfsson, 2012, S. 65) allein nicht mehr ausreicht, um ihren Willen durchzusetzen.
Der „Data-Driven Leader“ (Dearborn & Swanson, 2018) bzw. die „Data-Driven Organi-
zation“ (Anderson, 2015) ist das neue Leitbild, welches Lernen zuweilen selbst auf
Top-Positionen nun offensichtlich unausweichlich macht. So gibt es z. B. auf der deut-
68 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

schen Webseite des renommierten Harvard Business Manager „die besten Tipps für den
Umgang mit Big Data“ (Fricke, 2014), die neben den richtigen Fragen an Datensätze,
den Unterschieden von Korrelation und Kausalität und Spielregeln zur Datenvisualisierung
mit einem Statement von Nate Silver für den Umgang mit Statistik schließen: „Wenn man
sich selber die Finger schmutzig macht und sich ganz konkret mit einem Datensatz be-
schäftigt, ist das, glaube ich, sehr viel besser, als Zeit in die Theorie und das Lesen von
Fachliteratur zu investieren“ (Fricke, 2014, S. 3).
Es sollte nie vergessen werden, dass Daten bzw. eine individuenbasierte, ggf.
interessengeleitete Auswahl immer nur ein Phänomen repräsentieren, aber nicht das Phä-
nomen selbst sind. Jedes Mal, wenn man eine Entscheidung aufgrund von Daten trifft,
basiert diese also immer nur zum Teil auf der Wahrheit und Daten beziehen sich zudem
immer nur auf die Vergangenheit. Man braucht solides Wissen, um bewerten zu können,
welche Kausalität dahintersteht. Managemententscheidungen nur aufgrund von Daten zu
treffen, ist daher potenziell riskant. Gerade wenn es um große, erfolgskritische Ent-
scheidungen geht, macht schon der Titel des PwC-Artikels „Gut & Gigabites“ (Pricewa-
terhouseCoopers, 2014) deutlich, was von Entscheidern für strategische Entscheidungen
gefordert wird, um vorhandene Daten adäquat zu nutzen und sich derart einen Wett-
bewerbsvorteil zu verschaffen. Laut dieser Studie sehen sich jedoch mehr als die Hälfte
der befragten Entscheider bisher nicht dazu in der Lage. In dem schon genannten HBR-­
Artikel von McAffee & Brynjolfsson empfehlen auch diese sehr nachdrücklich, zusätzlich
eine Kultur der Entscheidungsfindung bzw. sogar einen neuen Führungsstil (McAffee
& Brynjolfsson, 2012, S. 65–68) zu entwickeln, die einerseits sehr viel stärker auf Daten
setzen, andererseits jedoch Intuition, Visionsbildung und menschliche Erkenntnisfähigkeit
in einem synergetischen Verhältnis sehen („Big data´s power doesn´t erase the need for
vision or human insight“).
Neben den bereits oben genannten, sehr pragmatischen Tipps zum rechnerischen Um-
gang mit Big Data würde für Entscheider die Beschäftigung mit den Risiken bei der
Big-Data-Anwendung Sinn machen. Obwohl in der Praxis in seiner Gesamtheit und Ab-
hängigkeit zu betrachten, zeigen die thematischen Risiken in den Phasen der Modell-
bildung (Fragestellung, Modellauswahl, Entwicklung und Anwendung) und der Inter-
pretation (Ergebnisinterpretation) im Leitfaden des Verbandes der IT-Wirtschaft, BITKOM
(2014), dass dies nicht immer beachtet wird. Als Folge davon kommt es durch unbewusste
und ggf. auch bewusste Fehlinterpretation im harmlosesten Falle entweder zu nur skurri-
len, im kritischsten Fall jedoch zu falschen Aussagen und damit eigentlich unbrauchbaren
Entscheidungsvorlagen. In einem Worst-Case-Szenario jedoch wird der gesamte Verlauf
der Entscheidung zusätzlich von (sozial-)psychologischen Prozessen überlagert. Damit
wären wir bei einem potenziell neuen Wirkungsbereich von Coaches. Ihre Aufgabe wäre
es in diesem Kontext, die nun sogar auf Massendaten basierte „Verführung zur Gewiss-
heit“ auf Nachfrage mit dem Bauchgefühl bzw. der Intuition und „gesundem Menschen-
verstand“ in Einklang zu bringen und/oder die (sozial-) psychologischen Verzerrungen (=
Bias) der beteiligten Individuen oder Teams vor und während des Entscheidungsprozesses
2.2 Big Data fürs „Big Business“: jederzeit und von jedem 69

bewusst zu machen. Denn in der Übersetzung bzw. Abwandlung des schon genannten
Buches (Finkelstein et al., 2008) treffen auch gute Manager schlechte Entscheidungen.
Und diese gilt es möglichst z. B. im Rahmen eines Team-Coaching des Entscheidungs-
gremiums zu verhindern!

2.2.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Daten sind kein Wissen und noch lange keine Entscheidung! Ein strammes Statement!
Doch was bedeutet es? Nicht erst seit dem Bestseller des Nobelpreisträgers Daniel Kahn-
eman „Schnelles Denken, langsames Denken“ (Kahneman, 2016) wissen Psychologen,
dass unser Denken und Entscheiden verzerrenden Informationswahrnehmungs- und Ver-
arbeitungsmustern unterliegt. Gleich dem Baron von Münchhausen können wir uns eben
nicht selbst aus diesem Sumpf der eigenen „Wahr-Gebung“ (!) herausziehen. Der poten-
zielle Mehrwert eines (Team- oder Individual) Coachings oder einer Supervision bei (Ent-
scheidungs-)Meetings bzw. deren Vorbereitung liegt daher nahe. Als Gegengewicht zu
dem potenziell mit dem „Big Data“-Hype einhergehenden potenziellen Zahlenfetisch
rückt wahrscheinlich das noch junge Forschungsgebiet der Intuition in den Blickpunkt des
Interesses. Denn wie auch Thomas Davenport am Ende seines Beitrags in der Harvard
Business Review (Davenport, 2013) anmerkt: „One might even say that developing the
right mix of intuition and data-driven analysis is the ultimate key to success with this
movement. Neither an all-intuition nor an all-analytics approach will get you to the pro-
mised land.“ Die Soft-Skill-Aspekte dieses Themenfeldes vertiefend, sollen daher mög-
liche Ansatzpunkte für interpsychische (Biasreduktion in der Gruppe, Meeting-Prozess)
und intra-psychische (Biasreduktion beim Individuum, Intuition) Interventionsmöglich-
keiten für den Service „Coaching“ dargestellt werden.
Hinsichtlich der interpsychischen bzw. sozialpsychologischen Interventionsmöglich-
keiten ist in der Branche der Service Team- bzw. Gruppencoaching sicher bekannt, hat
anzahlmäßig wahrscheinlich jedoch nicht die gleiche Bedeutung wie das Individual-
coaching. Als Serviceleistung oft nur für das Topmanagement angeboten, fokussiert es
hier bis dato meist auf die Bearbeitung dysfunktionaler (sozial-)psychologischer Prozesse
in diesen Managementteams. Wie z. B. in dem Klassiker von Lencioni (2002) sehr an-
schaulich dargestellt, geht es dabei um fehlendes Vertrauen im Team, die Angst vor Team-
konflikten, fehlendes Commitment, die Vermeidung von Verantwortlichkeiten und die
fehlende Stringenz in der Verfolgung von Zielen. Praktische Lösungsansätze bietet Len-
cioni in seiner Handreichung für Moderatoren (Lencioni, 2005). Dass generell Coaching-­
Formate in der Zukunft über die individuelle Face-to-Face-Begegnung zwischen Coach
und Coachee hinausgehen und integrativer Bestandteil von OE-Prozessen werden, ver-
mutet auch der DBVC e.V. (2017) als einer der führenden Coaching-Verbände in
Deutschland.
70 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

Sehr selten hört man bis heute von Unterstützungsangeboten, die sich explizit auf die
Begleitung von strategischen Meetings bzw. Entscheidungsprozessen in Teams rich-
ten. Dies ist umso überraschender, da eine 2010 von McKinsey (Lovallo & Sibony, 2010)
durchgeführte Studie belegt, dass dies potenziell zu besseren finanziellen Ergebnissen
führt. Dabei berichten nur 8 % der befragten Executives, dass die Quantität (Big Data!)
und der Detaillierungsgrad der Analysen (Smart Data!) zum Gelingen der Entscheidung
beitrugen. Maßgeblicher waren eine breite Diskussion von Unternehmens- und Branchen-
variablen mit 39 % und mit 53 % die Qualität des Prozesses während der Analyse und der
Entscheidung. Dazu zählten die explizite Auslotung von Unsicherheitsfaktoren, die Ein-
beziehung von Perspektiven, die dem Senior Management widersprechen, und von Perso-
nen, die ihre Teilnahme nicht über den Rang oder Titel, sondern durch Fähigkeit und Er-
fahrung legitimieren. Mittels einer regressionsanalytischen Bereinigung der Daten zeigte
sich, dass Prozessfaktoren gegenüber der Datenanalyse sechs Mal mehr ins Gewicht fie-
len! Die retrospektive Analyse von belegbaren ROI-Werten von 673 getroffenen Ent-
scheidungen offenbarte überdies einen Unterschied zwischen unterem und oberem Quartil
von 1,6 Prozentpunkten bei den oben genannten qualitativen (6,9) und quantitativen (5,3)
Entscheidungseinflüssen. Diese beeindruckenden Ergebnisse führen bei den Autoren Lo-
vallo & Sibony (2010 S. 6) zu dem Schluss: „Good process, in short, isn´t just good hygi-
ene; it’s good business.“ Doch warum haben diese Erkenntnisse bis dato am Markt noch
nicht zur Nachfrage nach entsprechenden Unterstützungsangeboten geführt?
Wie schon oben angesprochen, schlagen bei manchen Vertretern des Topmanagements
im Rahmen von Entscheidungsprozessen – und besonders im Falle von der eigenen Sicht-
weise widersprechenden Datenlagen – Verhaltensweisen durch, welche durch die speziel-
len Selektionsprozesse bei Führungskräften, die Aufstiegs- und Gehaltssysteme für Exe-
cutives, Trainingsinhalte bzw. -methoden bei dieser Zielgruppe sowie die sich daraus
ergebende Unternehmenskultur gefördert wurden (Lovallo & Sibony, 2010, S. 7). Letzt-
lich darf man jedoch auch nicht vergessen, dass Bias generell ein Merkmal der mensch-
lichen Natur sind und per se nichts Negatives, denn sie haben uns über Jahrtausende zu der
erfolgreichsten Spezies auf Erden gemacht – zumindest bis jetzt!
Doch wie könnte ein Service-Portfolio aussehen, welches zum einen bei diesen starken,
menschlichen Wahrnehmungsmustern – wenn schon nicht eliminieren – dann doch zu-
mindest moderieren kann, zum anderen bei den (in-)formalen Aspekten des Meetings an-
setzen kann? Wer einmal das Verhalten und die Einstellungen mancher Executives erlebt
hat, wenn es um Lernen bzw. Feeback geht, weiß, dass Zeitaufwand und schnell sichtbare
Effekte zumindest bei der heutigen Generation noch ein bestimmender Faktor sein müs-
sen. Vorstellbar wäre hier ein 3- bis 6-monatiges Design von Gruppen-Coachings realer
Entscheidungsmeetings, welches aus 4–6 Microlearnings zu den häufigsten und business-
kritischsten Bias (Lovallo & Sibony, 2010), 1- bis 4-stündigen, erfahrungsbasierten
Trainingseinheiten mit Checklisten für den Entscheidungsprozess (Kahneman et al., 2011)
sowie Individualcoachings aller Mitglieder des Entscheidungsteams bestehen würde. Die
ersten Sitzungen könnten ferner mit einer Selbstreflexion zum präferierten Entscheidungs-
stil (Lovallo & Sibony, 2013) unterfüttert werden. Die anfänglich zu begleitenden, echten
2.2 Big Data fürs „Big Business“: jederzeit und von jedem 71

Entscheidungsmeetings hätten dabei selbstredend Themenstellungen von geringerer


unternehmerischer Tragweite zum Gegenstand und dienten als On-the-Job-„Trainings-
feld“ für mit Sicherheit folgende Zusammenkünfte von letztlich unternehmensstrategischer
Relevanz. Die Frage für Coaches heute ist, wann der Markt aufnahmefähig für solche
Formate wäre. Nach Einschätzung des Autors wird dies bei den meisten Unternehmen erst
dann der Fall sein, wenn bei einigen Unternehmen trotz immenser Investitionen in mehr
Big bzw. Smart Data keine echten Wettbewerbsvorteile sichtbar werden. Oft beobachtete
Reaktionsweisen könnten dann sein: (a) die radikale Elimination des Programms als ge-
hyptes Modethema inklusive seiner Initiatoren oder Promotoren, (b) es immer mehr auf
Sparflamme fahren, um es klammheimlich letztlich sterben zu lassen, oder (c) den Er-
kenntnissen (nicht nur) von McKinsey folgend und in einem ganzheitlicheren Ansatz nicht
nur auf „Smart Data“ vertrauen, sondern auch in „smart social decision making“ zu in-
vestieren. Bei entsprechenden Marketingaktivitäten für diesen neuen Service wäre es für
Coaches wahrscheinlich hilfreich, auf einige Vorzeigeunternehmen verweisen zu können,
die genau wegen ihres klugen Managements von Daten und der daraufhin notwendigen
Entscheidungsprozesse an die Spitze gekommen sind.

Wir wissen mehr, als wir zu sagen vermögen62


Intra- bzw. individualpsychische Interventionsmöglichkeiten in diesem Themenfeld ge-
hören dagegen schon seit Jahren zum Standardrepertoire vieler Coaches. Für Ent-
scheidungsthematiken im Individualcoaching nennt allein die Tool-Datenbank von
Christopher Rauen63 14 Coaching-Tools verschiedener Quellen zur Prozessunterstützung
des Klienten. Maja Storch ergänzte 2011 mit ihrem Buch „Das Geheimnis kluger Ent-
scheidungen: Von Bauchgefühl und Körpersignalen“ die zuweilen etwas kopflastigen
Praktiken mit den Aspekten der Intuition bzw. Somatik. Einige Jahre zuvor publizierte
jedoch bereits der Pionier der Intuitionsforschung in Deutschland, Gerd Gigerenzer, sein
viel gelobtes Werk „Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die
Macht der Intuition“. Er verwendet darin die Begriffe Bauchgefühl, Intuition oder Ah-
nung gleichwertig, um ein Urteil zu beschreiben, (a) das rasch im Bewusstsein auftaucht,
(b) dessen tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind und (c) das stark genug ist, um da-
nach zu handeln (Gigerenzer, 2008, S. 25). Sehr anschaulich wird nach Lektüre seines
Buches klar, dass erstens Bauchentscheidungen nicht zweitklassig sind und die (Big-­
Data-)Optimierungsansätze eben nicht automatisch bessere Vorhersagen und Ent-
scheidungen ergeben, zweitens komplexe Probleme nicht immer auch komplexe (Daten-)
Lösungen erfordern oder – allgemein gesprochen – mehr Informationen, mehr Be-
rechnungen und mehr Zeit letztlich nicht immer zu besseren Ergebnissen führen. Im Tenor
des Zitates von Davenport stellt sich auch für Gigerenzer nach Jahren der Forschung nicht
mehr die Frage, ob überhaupt, sondern in welchen Situationen wir uns auf Intuition

Referenzierend auf das Buch von Michael Polany (1985) Implizites Wissen. Suhrkamp F. a. M.
62

https://www.coaching-tools.de/thematische-tools/entscheidungsfindung.html Zugegriffen am
63

22.06.2020.
72 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

v­ erlassen sollten. Unter diesen neuen Vorzeichen könnten (trotz Big Data) Ermutigungen
des Coachees, auch weiterhin – nun aber durch Zahlen relativiert – der Intuition zu ver-
trauen und diese sogar explizit zu stärken, ein neuer Themenbereich in zukünftigen Coa-
ching-Settings werden. Bleibt abzuwarten, was die Forschung hier in den nächsten 10–20
Jahren an weiteren, hilfreichen Erkenntnissen beitragen kann. Helmut Willke (2020) warnt
in seiner Diskursschrift jedoch davor, Intuition als Flucht aus der Komplexität bzw.
­Rationalität zu missbrauchen, und plädiert für ein bewußt hybrides Entscheiden. Seiner
Ansicht nach gilt es situativ eine möglichst begründete Balance zwischen einer völlig in-
transparenten Bauchentscheidung und einer rein faktenlogischen, auf implizitem (und ex-
plizitem) Wissen beruhenden Entscheidung zu finden (Willke, 2020, S. 558). In eine ähn-
liche Richtung geht auch das neueste Buch von Gerd Gigerenzer mit dem Titel „Klick: Wie
wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen
können“ (Gigerenzer, 2021)

Der „Gesundheitscoach“ in der Hosentasche und am Armgelenk


Gelten neben den Finanz- und Versicherungsdienstleistern sowie den Großhandelsketten
das Gesundheitswesen und die Life Sciences (= Modellentwicklung aus Simulationen und
Laborexperimenten infolge der wachsenden Anhäufung von biologischen Daten) als große
Gewinner der schönen neuen Big-Data-Welt, deutet sich womöglich ein weiteres Ent-
wicklungsfeld für neue (kombinierte) Coaching-Services an. Obwohl heute eher noch eine
Art Expertenberatung und trainingsbasiert, bereiten gesetzliche Krankenkassen wie
z. B. die Techniker Krankenkasse unter dem Label „TK-GesundheitsCoach“64 oder die
AOK65 nicht nur für die Generation Y und Z einem weitgehend apersonalen Gesundheits-
coaching den Boden. Die medizinisch fundierten und meist auf 12 Wochen angelegten,
kostenlosen Angebote der TK zur Steigerung des psychischen Wohlbefindens, Raucher-
entwöhnung, Fitnesssteigerung, Gewichtsreduzierung, zum Stressmanagement etc. böten
einen Rahmen für ergänzende F-2-F- und/oder virtuelle Coachings mit einem realen oder
KI-basierten Coach. Ob dies schließlich die dabei erhoffte Wirksamkeitssteigerung bei
den Teilnehmern mit sich bringt, könnten die Interaktionsmuster mit dem Programm
sowie zusätzlich für die Zeit der Programmnutzung zum Einsatz kommende Wearables
(z. B. eine entsprechende Smartwatch) bzw. deren nach Einwilligung übertragene Mess-
daten zeigen. Fänden solche Programme z. B. durch Beitragsnachlässe oder andere An-
reizsysteme Interesse bei einer breiteren Bevölkerungsschicht (für die das Smartphone
und die Smartwatch alltägliche Begleiter sind), könnte man durch die Kombination der
dabei generierten Daten mit den bei den Kassen bereits vorhandenen Big Data dem (Alb-)
Traum einer personalisierten medizinischen Vorhersage, Betreuung oder gar Therapie ein
Stück näherkommen. Beispiele für basale Gesundheitsberatung sind hier das Gesundheits-

64
https://ecoach.tk.de/de/info/coaching. Zugegriffen am 22.06.2020
65
https://www.aok-bv.de/engagement/gesundheitscoach/. Zugegriffen am 22.06.2020.
2.2 Big Data fürs „Big Business“: jederzeit und von jedem 73

portal ZAVA66 oder Well-Advised67 in den USA. Dass hier generell zuvor schwerwiegende
Datenschutzfragen geklärt werden müssen, versteht sich von selbst. Weiterer Klärung be-
darf es auch bei der professionellen Ausdifferenzierung für diesen Bereich. Wie z. B. grenzt
sich der Gesundheitscoach gegenüber dem Personal Trainer, dem Wellnesscoach oder dem
Ernährungscoach ab?

Die Big-Data-Quelle „Plattform“


Eine heute im Coaching-Markt sich anbahnende Anwendung von Big Data ist die Dis-
tribution des Coaching-Services über Plattformen – sogenannte „Digital Coaching Provi-
der“ (DCP) wie betterCoach, betterUp, Sharpist, XING etc. (das Auswahlkriterium war
ausschließlich die Repräsentation der Buchstabenfolge im Alphabet durch den Firmen-
namen bzw. ist mit keiner Empfehlung verbunden). Kommt es durch die Konkurrenz der
aktuellen Vielzahl und Unübersichtlichkeit der Plattformen sicher in den nächsten fünf
Jahren zu einer Konsolidierung auf einige wenige Anbieter, ergeben sich hier potenziell
eine Flut organisatorischer Basisdaten, wer, wann, wo, wie, zu welchem Preis, wie lange
etc. Coaching bucht, Daten über aktuelle Coachingthemen, Erfolgsprofile von Coaches
oder aber vom Klienten und Coach (nach Klärung der Datenschutzfragen) akzeptierter
Evaluationsverfahren. Diese Goldader an Informationen würde völlig neue Möglichkeiten
der Vorhersageforschung bzgl. neuer Coaching-Formate und des Klientenverhaltens er-
möglichen bzw. wie auch schon in der normalen Produktwelt das Herz jedes Marketing-­
Professionals höherschlagen lassen. Ob diese Daten am Ende auch für die Wirksamkeits-
forschung im Coaching ausreichen, hängt von den Datenschutzregelungen und der
Einstellung bzw. dem Bedürfnis nach Datenschutz der Coaching-Klienten der Zukunft ab.

Ferner bleibt zu hoffen, dass die Coaching-Verbände dieses Feld nicht völlig den rein
kommerziellen Anbietern überlassen und selbst Plattformen aufbauen. Denn die heutigen
Plattformanbieter sind historisch meist keine wirklichen Experten hinsichtlich der Thema-
tik Coaching, sondern Unternehmer bzw. IT-Fachleute, wie der Gründer der Online-
handelsplattform Amazon, Jeff Bezos, der davor nie mit Handel i. e. S. oder gar mit den
auf der Plattform angebotenen Produkten (zunächst nur Bücher) zu tun hatte. Die sehr
persönlichen Daten über Entwicklungs- und Lernbedarfe sind in der Zukunft wahrschein-
lich jedoch Gold wert! Dies ist vermutlich auch ein Grund, warum die HV Holtzbrinck-­
Gruppe in eine der gezwungenermaßen nun marketingtechnisch am aggressivsten auf-
tretenden Plattformen CoachHub ca. 6 Millionen Euro investiert (Ermisch, 2019).
Inwieweit bei dem sich dadurch einstellenden Investorendruck nicht auch die Qualität auf
der Strecke bleibt, muss abgewartet werden. Eine vertiefte Darstellung der im vorherigen
Abschnitt anklingenden Bedenken und des Geschäftsmodells hinter dem Plattform-
business erfolgt in Abschn. 5.1.

66
https://www.zavamed.com/de. Zugegriffen am 27.06.2020.
67
https://well-advised.com/. Zugegriffen am 27.06.2020.
74 2 Technologische Veränderungen: Digitalisierung bzw. Big Data

2.2.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Sieht man die Konsequenzen für den Coach und seine konkrete Coaching-Session als Ab-
leitung der neu hinzukommenden oder nur neu akzentuierten Services, ergeben sich für
die Coaches in Zukunft vier Rollen bzw. Themen- und ggf. auch Lernbereiche.
Da ist zum einen erwartungsgemäß der „Datenversteher“. Diese auf Statistik, Wahr-
nehmungspsychologie und Verhaltensökonomie gründende Rolle sollte den meisten
akademisch-psychologisch vorgebildeten Coaches nicht unbekannt sein. Die aktuell
wohl (bezeichnenderweise) populärste Publikation ist das Buch von Hans Rosling
­„Factfulness“ (Rosling, 2019). Sein Untertitel klingt dabei wie eine Aufgabenbe-
schreibung eines (Team-)Coaches in diesem Kontext: „Wie wir lernen, die Welt zu sehen,
wie sie wirklich ist“.
Weiß der erfahrene Team-Coach, dass in dem kleinen Wort „wirklich“ die Sprengkraft
für eine derartige Session liegt, besinnt er sich als Entscheidungsmoderator oder
(System-)Klärungshelfer (Thomas & Schulz von Thun, 1988) auf die evtl. vorhandenen
Kenntnisse der (bereits oben genannten) Tools und Konzepte zur Unterstützung von Ent-
scheidungsprozessen in Gruppen bzw. bei Individuen. Bei Letzteren gilt es mit den
z. B. auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Gerd Gigerenzer (2008) beruhenden
Erkenntnissen die Intuition des Klienten ggf. in einer sinnvollen Kombination aus Trai-
ning (10 %), Coaching (20 %) und Peer- oder Experiential Learning (70 %) zu stimulie-
ren. Dass generell mit entsprechenden Professionalisierungsmaßnahmen die Ent-
scheidungskompetenz von Führungskräften entwickelt werden kann, diese Auffassung
vertritt auch Willke (2020, S. 562). In Abschn. 4.1 werden wir diese Thematik erneut
aufgreifen.
Bestimmen in der Durchführung gruppendynamische Prozesse den Entscheidungs-
workshop, können wahrscheinlich eher ältere Coaches auf eine entsprechende Ausbildung
zurückgreifen, da die 70er- und 80er-Jahre wohl zu den Hochzeiten dieser Konzepte zählen.
Bei einer hoffentlich vorab vermeidbaren Verhärtung der Parteien können die Vor-
gehensweisen der Mediation (durch einen anderen unabhängigen Experten) zu einem
guten Ende führen.
So wenig neu – ja fast schon trivial – diese Rollenanforderung in diesem Kontext (bis
auf vielleicht den Datenversteher) für viele Leser klingen mag, so gut weiß der in diesem
Bereich praxiserfahrene Coach oder Moderator, wie herausfordernd diese Themen sein
können und in ihrer Komplexität wahrscheinlich auch zukünftig jede künstliche Intelli-
genz überfordern würden. Aber genau das wird den auch zukünftig (noch) nachgefragten
Coach auszeichen: die analoge, „weiche“ Welt (und ihre „Eisberge“ und „heimliche Spiel-
regeln“) mit dem oder den Klienten interpretieren zu können und daraus (für alle) Sinn-
angebote ableiten zu können.
Literatur 75

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Demografische und soziologische
Gesellschaftsveränderungen: Diversity als 3
Chance und Herausforderung

Die Demografie als ein Ausgangspunkt von Diversity Management in deutschen


Unternehmen
Wie eingangs schlaglichtartig beleuchtet, ist das Thema „Demografie“ seit den 80er-­Jahren
in Deutschland (wie in den meisten westlichen Industrieländern) durchgängig mehr oder
minder prominent in den Medien vertreten. Jedoch ist es bei all den nach Aufmerksamkeit
heischenden Buch-, Magazin- oder Zeitungstiteln zuweilen hilfreich, einfach nur auf die
nüchternen Zahlen des Statistischen Bundesamtes zu schauen.1 So zeigt die dynamische
Grafik für die Bevölkerungsvorausberechnung von 2022–2060,2 wie sich die Alters- und
Genderstruktur der deutschen Gesellschaft unter speziellen Bedingungen verändern wird.
Startet man mit der Animation 1950 und lässt sie bis 2060 durchlaufen, lassen sich indirekt
die Auswirkungen von drei Einflussfaktoren auf ihre Verformung erkennen. Die höhere
Lebenserwartung (Schätzungen schwanken hier zwischen 1,5 und 3,5 Jahren pro Jahr-
zehnt) bzw. geringere Sterberate in der vertikalen Variation bzw. Streckung, in der horizon-
talen Variation i. S. einer „Bauchigkeit“ in Jahren mit hohen Geburtenraten (genannt Baby-
boom; am höchsten 1964) und einer „Schnürung“ in Jahren mit abnehmenden Geburtenraten
(1965 als „Pillenknick“ bezeichnet). In der Variation der beiden Dimensionen spricht man
bei einer volkswirtschaftlich idealtypischen Altersschichtung (= hohe Anzahl an Geburten,
eher geringere Personenanzahl mit hohem Alter) von der „Pyramide“. Die Altersschichtung
hat sich jedoch über das letzte Jahrhundert von der Pyramide über eine Art „Tannenbaum“
(ca. 2010) entwickelt bzw. wird sich 2040 zu etwas verändern, was eher einem Pilz und
2060 eher einem Dönerspieß ähneln wird. Wichtig ist dabei zu beachten, dass diese Be-
rechnungen keine Prognosen darstellen, sondern immer an bestimmte Randbedingungen

1
https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/. Zugegriffen am 04.04.2021.
2
https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/#!y=2040&o=2022v1. Zugegriffen am
04.04.2021.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 81


von Springer Nature 2022
S. Stenzel, Die Zukunft des Coaching-Business,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-64421-8_3
82 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

(Geburtenhäufigkeiten = G, Lebenserwartung = L, Wanderungssaldo = W) in verschiedenen


Ausprägungen (niedrig = 1, moderat = 2, hoch = 3) und an spezielle Wenn-dann-Be-
ziehungen geknüpft sind. Dies ermöglicht, verschiedene Szenarien bzw. Varianten (mit spe-
ziellen Codes, z. B. G2-L2-W1) durchzuspielen.
Unter den soeben genannten Vorbedingungen (G2-L2-W1) ist von 2022 (86,6 Mio.) bis
2060 (74,4 Mio.) ein Bevölkerungsrückgang um 12,2 Mio. Menschen zu verzeichnen. Die
sinkenden Geburtenraten einerseits und die steigende Lebenserwartung andererseits füh-
ren in den nächsten Jahrzehnten damit nicht nur zu einer rapiden Überalterung, sondern
auch zu einer Schrumpfung der Gesamtbevölkerung. War das 20. Jahrhundert das Zeit-
alter, in dem die Jugend neu erfunden wurde, verlagert sich dies im 21. Jahrhundert auf die
Neuerfindung des Alters.
Relevant im Kontext des Buchthemas ist zunächst die Anzahl bzw. der Anteil der Per-
sonen im Erwerbsalter bzw. mit Erwerbspotenzial zwischen 20 und 66. Abb. 3.1. liefert
dazu die grafische Umsetzung der entsprechenden statistischen Vorausberechnungen.
Aber erwerbsfähig bedeutet nicht automatisch erwerbstätig. Das Verhältnis beider Zahlen
beschreibt die sogenannte Erwerbsquote. Mit „Potenzial“ ist gemeint, dass in der Realität
derzeit nur circa die Hälfte der Bevölkerung im Alter von 20 bis unter 65 Jahren auch
wirklich erwerbstätig ist. Zu der Gruppe der Nichterwerbstätigen zählen u. a. Arbeitslose,
(junge) Menschen in Aus- und Fortbildung, Hausfrauen und Mütter, die ihre Erwerbstätig-
keit wegen Kindererziehung oder Pflege unterbrochen oder ganz aufgegeben haben, Er-
werbsgeminderte sowie Bezieher einer vorgezogenen Altersrente. Diese Personen haben
kein Erwerbseinkommen und zahlen daher teilweise auch keine Einkommensteuer bzw.
Sozialversicherungsbeiträge. Mithin sind sie mit Einschränkungen auf öffentliche oder
private Transfers angewiesen, die von der erwerbstätigen Bevölkerung erwirtschaftet und
aufgebracht werden müssen. Nach einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes

Anzahl Gesamtbevölkerung und der Personen mit Erwerbspotenzial von 2022 - 2060
90
83,6 83 80,8 77,6
80 74,4
70
Anzahl in Millionen

60
51,6
50 48,4
44,8 43,2 40
40
30
20
10
0
2022 2030 2040 2050 2060
Anzahl der Pers. Zw. 20-66 (mit Erwerbspotenzial) Anzahl Gesamtbevölkerung

Abb. 3.1 Anzahl Gesamtbevölkerung und Personen mit Erwerbspotenzial zwischen 20 und 66 von
2022–2060 (Datenquelle: 14. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland; Va-
riante 1). © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved
3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity … 83

wies Deutschland 2017 mit 79 % EU-weit die zweithöchste Erwerbstätigenquote bei den
20- bis 64-Jährigen nach Schweden (82 %) auf. Im EU-Durchschnitt lag sie bei 72 %
(Statistisches Bundesamt, 2018).
Analysiert man die prozentuale Altersverteilung unter den genannten Bedingungen ge-
nauer, ist bei der Simulation bis zum Jahr 2060 die in Abb. 3.2 dargestellte Altersver-
teilung3 festzustellen, welche den stetigen Zuwachs an über 67-Jährigen sowie die Ab-
nahme des Anteils der Erwerbsfähigen (20–66) deutlich macht. In dieser Gruppe befinden
sich auch die sogenannten Babyboomer. Zwischen 1955 und 1969 geboren, werden diese
zwischen 2020 und 2035 das Rentenalter erreichen und damit eine Lücke von 4–6 Millio-
nen Erwerbstätigen zurücklassen. Dadurch werden sich die Auswirkungen der demo-
grafischen Alterung auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme deutlich
verstärken bzw. sich der Anteil der über 67-Jährigen gegenüber der Bevölkerung im er-
werbsfähigen Alter erheblich vergrößern. Die Altersgruppe der über 67-Jährigen wächst
bis 2030 um 18 %, die der 80-Jährigen und Älteren um 8 % gegenüber heute. Für die
Sozialsysteme verschiebt sich damit jedoch der sogenannte Altenquotient (Statistisches
Bundesamt, 2021a, b). Er definiert, für wie viele potenzielle Rentenbezieher Menschen im
Erwerbsalter im weitesten Sinne sorgen müssen: finanziell durch Beiträge in den Renten-

Altersverteilung der Bevölkerung von 2022 - 2060


120,0%

100,0%
20,0% 23,0% 26,0% 27,0% 28,0%
80,0%
Anteil

60,0%
62,0% 58,0% 56,0% 56,0% 54,0%
40,0%

20,0%
18,0% 19,0% 18,0% 17,0% 18,0%

0,0%
2022 2030 2040 2050 2060
Jahr
Alter<20 Alter 20-66 Alter>67

Abb. 3.2 Altersverteilung der Bevölkerung von 2022–2060. (Quelle: 14. Koordinierte Be-
völkerungsvorausberechnung für Deutschland; Variante 1). © Stefan Stenzel 2022. All Rights
Reserved

3
Quelle der Daten ist die „14. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland; Va-
riante 1“ (https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/) in der Fixierung der Jahre 2022, 2030,
2040, 2050 und 2060. Die Daten wurden dort aus der Tabelle rechts neben der Pyramide vom Autor
abgelesen und aufbereitet. Zugegriffen am 22.11.2020.
84 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

und Krankenversicherungen, aber auch durch medizinische Versorgung, Pflegeleistungen


oder unterstützende Dienstleistungen im Haushalt. Von 1960 an veränderte er sich wie
folgt: von 1:5,2 (1960) über 1:4,2 (1990), 1:2,7 (2020) zu einem Verhältnis 2030 auf 1:2,1.
Damit kommen auf einen Erwerbstätigen 2,1 Rentenbezieher (Bundesministerium des In-
nern, für Bau und Heimat, 2020).
Dieser numerische Ausblick zwingt nicht nur die HR-Abteilungen der Unternehmen
(Stichwort: Fachkräftemangel) zum einen, (weiterhin) das noch unausgeschöpfte Poten-
zial durch verschiedenste Maßnahmen (z. B. Qualifikation) noch besser zu erschließen
und parallel dazu über entsprechende Initiativen4 die über 67-Jährigen zur Weiterarbeit
oder zu Nebentätigkeiten als „Silver Worker“5 zu bewegen. Der Katalog der personal-
politischen und personalentwicklerischen Maßnahmen innerhalb des Unternehmens sollte
dabei neben einem ganzheitlichen und nachhaltigen Diversity-Management Ansätze zu
Arbeits(zeit)gestaltung, Gesundheitsprävention und altersgerechten Lernangeboten ent-
halten, die eher individuell i. S. eines Cafeteria-Systems frei gewählt werden können. Von
staatlicher Seite aufgrund der steigenden Lebenserwartung das Renteneintrittsalter daher
noch einmal (dann auf z. B. 70 Jahre oder mehr) zu erhöhen, wäre je nach Branche sicher
machbar, aber wahrscheinlich sehr stark von der physischen und psychischen Gesundheit
bzw. Motivation des Einzelnen beeinflusst. Ob – und zu welchem Preis – „am anderen
Ende“ bzw. zum Anfang der Ausbildungszeit die verkürzte Schulzeit (Stichwort „G8“),
stärker verschulte Studiengänge und bei jungen Männern der entfallende Wehrdienst die
Jugendlichen und jungen Erwachsenen früher in den Arbeitsmarkt gebracht hat, soll hier
nicht erörtert werden. Die Wechselwirkungen zwischen demografischem Wandel, Arbeits-
markt und ökonomischen Faktoren zu erforschen bzw. entsprechende Entwicklungen der
Erwerbsbevölkerung von heute und morgen aufzeigen zu können, hat sich die interdiszi-
plinäre Forschungsgruppe „Demografie der Arbeit“ des Max-Planck-Instituts für demo-
grafische Forschung (MPIDR)6 in Rostock zur Aufgabe gemacht. Ziel ist es, heraus­
zufinden, welchen Einfluss demografische Entwicklungen auf die Größe und
Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung haben, und der Politik entsprechende Emp-
fehlungen geben zu können. Ob und wie sich der immer ungünstiger werdende Alten-
quotient auch auf den Lebensstandard der Menschen auswirken wird, hängt wiederum
sehr stark mit den lenkenden Maßnahmen der Politik hinsichtlich der Arbeitsmärkte und
des Sozialsystems des Staates ab.
So bedarf es von staatlicher Seite, um die fehlenden Steuerabgaben und Sozialbeiträge
auszugleichen (Stichwort: kollabierendes Sozialsystem), eigentlich umfassender Refor-
men des Arbeitsmarktes und/oder der Sozialversicherungssysteme. Was davon wann und
wie nachhaltig – im Idealfall mit der Zustimmung der Bevölkerung – umgesetzt werden

4
Als Beispiel einer Initiative in Deutschland: https://www.generation-ue.de/sie-werden-gebraucht/.
Zugegriffen am 04.03.2021.
5
Als Beispiel einer Initiative in Italien, Belgien, Portugal, Spanien und Großbritannien: http://www.
silverworkers.net. Zugegriffen am 04.03.2021.
6
https://www.demogr.mpg.de/de/. Zugegriffen am 04.03.2021.
3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity … 85

kann, wird nach einer Simulationsrechnung des Direktors für Sozialpolitik am


Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik7 Axel Börsch-Supan darüber ent-
scheiden, ob wir 2050 den materiellen Lebensstandard von 2005 zumindest halten kön-
nen. Wie schwierig es dabei sein kann, die Bevölkerung von grundlegenden Reformen
(z. B. Renteneintrittsalter mit 67) und dem Verzicht auf einmal besessene Privilegien zu
überzeugen, zeigte sich besonders drastisch 2019 in Frankreich im Protest der sogenannten
„Gelbwesten“. Ob wir zukünftig die faktisch nur geringfügig änderbare, demografische
Entwicklung (z. B. durch Migration) national bzw. international als „Demochance“ oder
als „Demokalypse“ erleben werden, wird daher maßgeblich von der Sinnhaftigkeit, Ent-
schlossenheit, Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der getroffenen Entscheidungen auf allen
Ebenen der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft abhängen.

Das Alter als zu „alter Hut“ zur Beschreibung der Lebenswirklichkeit


Neben den vom Alltag der Menschen weit entfernten demografischen Aspekten des Alterns
ist es wohl eher dessen chronologisches, biologisches, psychologisches Erleben in den ver-
schiedenen Lebensphasen, welches beim Einzelnen Reaktionen zu diesem Thema hervor-
rufen kann. So verdeutlicht der alljährliche Geburtstag den chronologischen Beginn der
eigenen Existenz und die Vergänglichkeit der Zeit bzw. die Zugehörigkeit zu einer be-
stimmten Generation und ihren verbindenden Erlebnissen (z. B. Kriegs- oder Nachkriegs-
generation). Der biologische Altersbegriff dagegen verweist einerseits auf die mit den
Lebensverhältnissen und Einflüssen der speziellen Generation in Zusammenhang stehende
Lebenserwartung, andererseits auf die individuelle, physische und psychische Leistungs-
fähigkeit bzw. Produktivität des eigenen Organismus. Der sozialpsychologische Aspekt
kommt in populären Bonmots („Man ist so alt, wie man sich fühlt!“) zum Ausdruck, aber
auch dadurch, wie dieses individuell gefühlte Dasein im Alter im sozialen Kontext gesehen
(Stichwort: Altersstereotype) und beeinflusst wird. Der vierte, lebensnahe Zugang zum
Thema des Alterns sind die verschiedenen Berufs- und Lebensphasen, wie z. B. Jugend und
Ausbildung, ggf. Elternschaft und Beruf sowie die Verrentung und womöglich eine Groß-
elternschaft. Dass es schon heute auch andere Kategorisierungsmöglichkeiten gibt, ist Fakt
(Bruch et al., 2010). Dass diese sich jedoch zunehmend verändern (z. B. eine Lern- und
Ausbildungszeit nicht mehr nur in der Phase der Kindheit und Jugend) oder hinsichtlich
ihrer Grenzen immer stärker auflösen, ist ein Indikator einer Zeitenwende bei diesem Thema.

Spielt der Generationsbegriff in seinen marketingtechnischen und medialen Aus-


prägungen hinsichtlich der Kohorten der Generationen wie z. B. Babyboomer, X, Y und
Z im Bewusstsein der Öffentlichkeit aktuell die wohl prominenteste Rolle, ist er auf
wissenschaftlicher Seite ein eher schwieriger, weil nicht universal zu fassender Begriff.
Denn je nach lokalem Ursprung und den historisch und/oder kulturell als prägend für die-
se(-n) Zeit(-geist) angenommenen Einflüssen in den verschiedenen Nationen variiert die
zeitliche Gliederung um 2–5 Jahre bei Intervallen von 10–15 Jahren. So ist aufgrund der

7
https://www.mpisoc.mpg.de/. Zugegriffen am 06.03.2021.
86 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

hohen Streuung innerhalb einer Generation (Intragenerationsvarianz) eine trennscharfe


Betrachtung anhand eindeutiger Jahreszahlen eigentlich nur schwer möglich. Befürworter
der Intervallbildung verweisen jedoch auf die nicht zu vernachlässigenden Unterschiede
zwischen den Mittelwerten (Intergenerationsdifferenz) der jeweiligen Generationen. So
bilden die Kohorten zwar keine homogene Masse mit identischen Ansichten ab, lassen
aber für die Nutzer ausreichend klare Tendenzen erkennbar. Damit schimmern unverkenn-
bar die Ursprünge des Konzeptes im Marketing durch. Denn zur einfacheren bzw. einheit-
lichen Bewerbung von Produkten und Services teilen Werbeleute ihre Kunden in Seg-
mente (Kunden- oder Zielgruppen) ein, die darüber hinaus mit sogenannten Personas
(d. h. komprimierten Konsumenten- oder Nutzerbeschreibungen, die als Person proto-
typische Merkmale eines speziellen Segmentes vereinen) charakterisiert werden. Die
marketingtechnischen Wurzeln werden auch in ihren oft sehr kreativen Benennungen
(z. B. die Gen X als Slacker, Generation Golf oder die Gen Y als Gen Me, Gen Why,
Smombies oder Millennials oder die Gen Z als Zoomer, Digital Natives) und den allerorts
und zahlreich anzutreffenden, bunten Illustrationen und (Info-)Grafiken deutlich. In dem
vorliegenden Buch soll diese Generationsperspektive daher nur herangezogen werden,
wenn es um die Kundengewinnung geht bzw. sie sich – trotz der Kenntnis der Schwä-
chen – als praktisch und zielführend erweist. Doch wahrscheinlich ist dies nicht mehr
allzu lange notwendig. Denn wer den Marketingbereich auch nur oberflächlich verfolgt,
weiß, dass man bei dieser populären Art der Kundensegmentierung zwar mit hübsch ver-
zierten, aber doch sehr altertümlichen und groben Hiebwaffen arbeitet. Die heutigen
„Marketingchirurgen“ aus dem Hause Google oder Facebook bearbeiten den Kunden da-
gegen mit dem Präzisionsinstrument des sogenannten Microtargeting, d. h. auf einer Big-­
Data-­Basis von mindestens 5000 Datenpunkten pro Person und damit äußerst genau im
Hinblick auf die sekündliche, psychische und physische Verfasstheit des Individuums
bzw. des „digitalen Zwillings“ der Person. Obwohl diese Präzision für den Themenkreis
des Buches (heutzutage) weder machbar noch vollumfänglich wünschenswert erscheint,
sollen dennoch mögliche Konsequenzen für den Klienten und das Coaching in den Folge-
kapiteln angesprochen werden. Die digitalen Coaching-Plattformen stehen als potenzielle
Datenverwerter hier schon in den Startlöchern!
Kann die Einordnung in eine der „Generationsschubladen“ durch die damit verbundene
Stereotypisierung zuweilen sogar Reaktanz hervorrufen, ist die mit einer Generation ver-
bundene durchschnittliche (sogenannte „fernere“ oder prognostizierte) Lebenserwartung
auf mathematischen Berechnungen eher sinnvoller Anlass, darüber nachzudenken, wie
man die längere Lebenszeit bei möglichst stabiler körperlicher und mentaler Gesundheit
verbringen will. Denn der Zuwachs ist enorm! So hat sich in Deutschland die Lebens-
erwartung in den letzten 140 Jahren (seit 1871) nahezu verdoppelt. Daher können heute
(2020) Frauen mit 25,6 zusätzlichen Jahren nach ihrem 60sten Geburtstag rechnen und
werden somit 85,6 Jahre alt. Männer mit zusätzlichen 22 Jahren werden daher 82 Jahre alt.
2060 soll sich dieser dann prognostizierte Zuwachs an Jahren auf 29,1 Jahre (89,1) bei
Frauen und 26,1 für Männer mit dann 86,1 Jahren steigern. Eine anschauliche, grafische
Darstellung zu der soeben beschriebenen, ferneren Lebenserwartung im Alter von 60 Jah-
3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity … 87

ren nach Geschlecht, 1871 bis 2060, findet sich auf den entsprechenden Seiten der Bundes-
zentrale für politische Bildung.8
So erhöhte sich die Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten um rund 3 Monate pro
Jahr, wobei vor allem die Sterblichkeit in den höheren Altersgruppen abnimmt. Noch op-
timistischere, internationale Vergleichsstudien9 prognostizieren für die Hälfte der 2007
geborenen Babys sogar 42 zusätzliche Jahre und damit 102 Jahre Lebenszeit. Am lang-
lebigsten sind bei gleichem Geburtsjahr in diesen Prognosen global gesehen die Japaner
mit 107 Jahren. In immer wieder erscheinenden Medienberichten zu den Ursachen der
Langlebigkeit der Japaner10 schwanken die Hypothesen zwischen speziellen Genen, einer
eher pflanzlichen bzw. ausgewogenen Ernährung und einem an der Ikigai-Philosophie
orientierten Lebensstil, welcher den Lebenssinn ins Zentrum stellt. Ohne auch zukünftig
wahrscheinlich den einen Grund ausmachen zu können, haben in Deutschland die Ver-
besserungen im Bereich der Hygiene, der Ernährung, des Wohnens, der Arbeits-
bedingungen und die generellen Sicherheitsstandards über das letzte Jahrhundert dazu
beigetragen, das Leben der Menschen zu verlängern. So ist es auch weiterhin sehr gut
möglich, dass das gestiegene Bewusstsein für die Risiken des Rauchens und des über-
höhten Alkoholkonsums und zu viel dysfunktionalen Stresses wie auch die weiteren Ver-
besserungen hinsichtlich der medizinischen Versorgung auch künftig den Anstieg der
Lebenserwartung positiv beeinflussen werden.
Doch was nützt ein chronologisch längeres Leben, wenn man im schlimmsten Fall die
zusätzlichen Jahre in einer Pflegeeinrichtung vor sich hindämmert? So verbindet sich mit
dem Mehr an Jahren die Hoffnung und Erwartung psychischer und physischer Gesund-
heit. Neben sozialer Schicht, persönlicher Lebenssituation und Bildungsstandard (was zu-
mindest in Teilen bereits für ein aktiv gelebtes Leben spricht) sind es die mentale und
körperliche Verfassung, die erworbenen Erfahrungen und Fähigkeiten sowie die Motiva-
tion generell, die den Alterungsprozess und mithin die damit verbundene Leistungsfähig-
keit und Produktivität im Kern beeinflussen (Bruch et al., 2010, S. 55). Wurde früher im
Kontext der stark generalisierenden Defizithypothese von deren linearer Abnahme aus-
gegangen, legt die neuropsychologische Forschung der letzten Dekaden eine stärker diffe-
renzielle Betrachtung nahe. Konkret heißt dies, dass hinsichtlich der kognitiven Leistungs-
fähigkeit die sogenannte fluide Intelligenz (schnelle Anpassung, Reaktionen auf neue
Situationen, Gedächtnisspanne etc.) eher abnimmt, dagegen die kristalline Intelligenz
(z. B. Erfahrungs- bzw. Fachwissen und soziale Kompetenzen etc.) jedoch zunimmt bzw.
die kristalline die fluide teilweise kompensieren kann. Bei guter körperlicher Gesundheit
ist bei den meisten nicht körperlichen Tätigkeiten durch die hohen Reserven des Organis-
mus und die Kompensationsstrategie meist kein sichtbarer Leistungsabfall beobachtbar.

8
https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61547/
lebenserwartung. Zugegriffen am 09.03.2021.
9
https://www.mortality.org. Zugegriffen am 15.03.2021.
10
https://www.zentrum-der-gesundheit.de/news/gesundheit/allgemein-gesundheit/langlebig-
keit-der-japaner-190905113. Zugegriffen am 15.03.2021.
88 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

Viel stärker wirken hier psychosoziale Faktoren. Dazu mehr bei den Konsequenzen für
den Klienten in Abschn. 3.1.1.
Vielleicht hatte Gina Pell genau diese Gegenbeispiele vor Augen, als sie 2016 den Be-
griff der „Perennials“ prägte und die stereotypen Generationsschubladen mit der
­Beschreibung dieser Geisteshaltung (!) einer Person öffnete. Pell (Pell, Daily, 2016b) be-
schreibt deren Vertreter:innen als Menschen jeden Alters, die jeglichen (Alters-)Stereo-
typen widerstehen bzw. auf das Verbindende zwischen den Menschen fokussieren. Wesent-
liches Merkmal sind ihre anhaltende Neugier und der nachhaltige Wunsch nach
Weiterentwicklung der eigenen Person (i. S. des Growth Mindset; (Dweck, 2015) (Pell,
Meet the Perennials, 2016a). Die deutsche Übersetzung des aus der Botanik stammenden
und die Gattung der „Mehrblüher“ beschreibenden Begriffes illustriert diese Grundein-
stellung eigentlich sehr schön. Der Abschied von den bisherigen, allzu groben Kate-
gorisierungsversuchen einer Belegschaft anhand der Generationszugehörigkeit scheint
damit auch begrifflich eingeleitet.
Verfolgt man darüber hinaus die Diskussionen im Themenkreis „Demografie“ in den
letzten 10 Jahren, ist bzw. war eine weitere Entwicklung zwar nicht immer offensichtlich –
jedoch unübersehbar. Diese formulierte Linda Gratton (Gratton & Scott, 2020, S. 10) sehr
prägnant mit „age is not stage“, bzw. von „age to stage“ bezeichnet die „stages“ als die „new
building blocks“ (Gratton & Scott, 2020, S. 167). Das heißt, innovativere Ansätze der
Personalarbeit steuern von sehr generalisierenden, ausschließlich auf das Alter bzw. Ge-
burtsjahr der jeweiligen Generation (z. B. X, Y) bezogenen zu stärker differenzierenden Be-
trachtungen. Diese stützen sich dann auf Daten der jeweiligen Lebens- und Berufsphase
des Mitarbeiters und ermöglichen derart substanziellere und weitaus individuellere Denk-
und Handlungsansätze. Es ist zu vermuten, dass diese Ansätze durch die aktuelle Digitalisie-
rungs- bzw. Big-Data-Welle in den nächsten Jahrzehnten neuen Schwung erhalten könnten,
denn die zur Verarbeitung benötigte Datenfülle bzw. die dabei auftretende Komplexität ist
geradezu prädestiniert für eine solche Verwendung. Erste Prototypen sind hier z. B. im dia-
gnostischen Bereich die Software von Swarm Visions bzw. deren Swarm Profilor,11 welcher
die Analyse des Innovationspotenzials eines Mitarbeiters nicht am Alter bzw. an der Genera-
tion (z. B. Y oder Z) festmacht. Im Bereich der HR- bzw. Personalentwicklungsarbeit zeigt
sich dieser Denkansatz zumindest schemenhaft in dem Excel-­Programm LOBOX (Rump
et al., 2011, S. 57), welches ein Nebenprodukt des Forschungsprojektes zur „Lebensphasen-
orientierten Personalpolitik 2.0“ von Jutta Rump am „Institut für Beschäftigung und Em-
ployability“ (IEB) an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigshafen war
(Rump et al., Lebensphasenorientierten Personalpolitik 2.0. Leitfaden für Unternehmen zur
Bindung und Gewinnung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 2011). Wie in Abb. 3.3 zu
sehen, wäre es möglich – anstatt der sehr breiten und unspezifischen Maßnahmen z. B für die
Gruppe der Babyboomer oder der Gen X –, aus dem Zusammentreffen typischer Berufs- und
Lebensphasen sehr viel individuellere Handlungsfelder (Rump et al., 2011, S. 30) aufzu-
setzen. Als Berufsphasen werden hier Einstieg und Orientierung, Reife, Führung, Ausland

11
https://www.swarmvision.com/. Zugegriffen am 18.03.2021.
3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity … 89

Berufs-
HANDLUNGSFELDER
phasen

Unternehmenskultur Führung

Ausstieg

Organisation Personalentwicklung

Ausland

Gesundheitsförderung Mitarbeitergewinnung
Führung
Anreiz- und
Beruflicher Werdegang
Motivationssysteme
Reife

Steuerung und Erfolgsbewertung


Einstieg/
Orientierung

Lebens-
Lebens- und

des Partners
Arbeitssituation

Soziale
Netzwerke

Weiterbildung
Privat initiierte
Nebentätigkeit
Hobby

Kritisches

ereignis
Lebens-
Elternschaft

Krankheit
Ehrenamt

Verschuldung
Pflege

phasen

Abb. 3.3 Handlungsfelder der lebensphasenorientierten Personalpolitik. (Quelle: Mit freundlicher


Genehmigung von Rump et al., 2011, S. 32; erstellt durch den Autor)

und Ausstieg genannt. Die Lebensphasen, die zuweilen eher auch Ereignischarakter haben,
werden über 11 Themen wie z. B. Elternschaft, Pflege, Lebens- und Arbeitssituation der
Partners, Soziales Netzwerk etc. definiert.
Würden diese Informationen noch kombiniert mit den in HR-Systemen ohnehin vor-
liegenden Basisdaten wie Alter, Geschlecht, Familienstand, Karriere- bzw. Gehaltsstufe,
absolvierte Schulungen, Beschäftigungsgrad, Standort etc. und zusätzlich zu erhebenden
persönlichen (z. B. Work-Life-Balance, Lerntyp, Kommunikationsstil, Wertepräferenzen
oder sogar auf dem MBTI oder den BIG 5 beruhende Persönlichkeitsprofile etc.) sowie
arbeitsbezogenen Präferenzen (z. B. Karriereziele, Mobilitätsbereitschaft, eher individu-
elle oder Teamarbeit, mit oder ohne Kundenkontakt etc.), würde (unter Beachtung des
Datenschutzes) eine Mikrosegmentierung der Belegschaft wie in der digitalbasierten
Werbung in greifbare Nähe rücken. Dies würde darüber hinaus der enorm gestiegenen
Vielfalt der heutigen – und vor allem zukünftigen – Belegschaften Rechnung tragen –
womit wir beim Thema „Diversity“ wären.

Diversity – ein mehr oder minder sichtbares Dauerthema


Klammert man den Nationalsozialismus mit seiner generellen, programmatischen
Menschenverachtung aus, begleitet das Thema der Diversität die deutsche Öffentlichkeit
seit ca. 30–40 Jahren. So warnte 1989 z. B. Reimer Gronemeyer mit seinem Buch „Die
Entfernung vom Wolfsrudel. Über den drohenden Krieg der Jungen gegen die Alten“ vor
einem heraufziehenden Konflikt der Generationen, der u. a. auch mittels der Reform der
90 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

gesetzlichen Rentenversicherung 2000/2001 durch ihren Namensgeber, Walter Riester,


abgemildert werden sollte. Mit dem reißerischen Titel „Das Methusalem-Komplott“
(Schirmacher, 2005) schilderte 2005 der Publizist Frank Schirrmacher die Folgen einer
überalternden Gesellschaft für den Einzelnen. In teils drastische Bilder fasste das ZDF in
seiner dreiteiligen Doku-Fiction „2030 – der Aufstand der Alten“ (Wikipedia, 2020a, b, c,
d, e) zwei Jahre später diese uns alle betreffende Herausforderung. Als die drei Mythen des
demografischen Wandels dagegen bezeichnete Albrecht Müller im gleichen Jahr in seinem
Buch „Die Reformlüge“ (Müller, 2005) die Behauptungen, dass der Geburtenrückgang,
die Überalterung sowie der zunehmend brüchig werdende Generationenvertrag in einer
nationalen Katastrophe enden würde, und rief zur Versachlichung und Relativierung der
Fakten auf. Im Jahr 2015 wurde das Thema des demografischen Wandels bzw. der konflikt-
behafteten Altersdiversität infolge der Grenzöffnung für die in Ungarn festsitzenden
Flüchtlinge durch die Bundeskanzlerin und begleitet von äußerst kontroversen Dis-
kussionen um das der kulturellen Diversität wie auch das der bereits Ende der 1990er-­
Jahre thematisierten „Leitkultur“ erweitert. Aktuell (2021) geht es auf gesellschaftlicher
Ebene um die gerechte Verteilung des knappen Impfstoffes gegen COVID-19 zwischen
den über 80-Jährigen und den Jüngeren. Das Thema ist daher von wiederkehrender bzw.
anhaltender Aktualität und wird nach Ansicht des Autors in den kommenden Jahren ins-
besondere durch die Rententhematik um das Ausscheiden aller Babyboomer aus dem Er-
werbsleben – jedoch spätestens in den 2030ern – erneut an Dynamik gewinnen.

Ebenfalls eher negativ konnotiert, kam das Thema der Diversität im Wirtschafts-
bereich seit den 2010er-Jahren indirekt im Zusammenhang mit den staatlich unterstützten,
äußerst strittigen Abfindungs- bzw. Frühverrentungsprogrammen der Unternehmen in die
Presse. Das Gerechtigkeitsthema in anderem Gewande zeigt sich bis heute in der an-
haltenden ungleichen Bezahlung von Frauen bzw. in Form der heiß diskutierten Frauen-
quote für die Vorstandsetagen deutscher DAX-Unternehmen. Diversity wird in seinen ver-
schiedenen Facetten daher auch weiterhin – mehr oder minder medienwirksam – eines der
Themen des nächsten Jahrzehnts sein.
Aber was genau verbindet sich mit dem Konzept von „Diversity“ als die unterscheidende
Vielfalt oder Heterogenität? Welche Unterschiede sind hier konstituierend? Auf das in die-
sem Zusammenhang bereits sehr etablierte 4-Ebenen-Modell von Gardenswartz und Rowe
(1998) zurückgreifend, trennt man zunächst wahrnehmbare (z. B. Geschlecht, Alter, Spra-
che etc.) von nicht wahrnehmbaren (z. B. Werte, Einstellungen, Einkommen, Religion etc.)
sowie graduell veränderliche Unterschiede Ohne den Begriff konzeptionell zu präzisieren,
wird der Kern bzw. die Ebene 1 durch die Persönlichkeit des Menschen bestimmt. Dieser
folgen auf der zweiten Ebene die inneren, bis dato nahezu unveränderbaren und nicht
immer eindeutig bestimmbaren Kriterien Alter, soziale und nationale Herkunft, Geschlecht
etc. Auf der dritten Ebene befinden sich eindeutiger wahrnehmbare, aber veränderliche
Dimensionen wie Wohnort, Familienstand, Elternschaft, Berufserfahrungen usw. Die vierte
Ebene umfasst die organisationalen Dimensionen, welche durch die Zugehörigkeit zu
einem Unternehmen definiert werden. Darunter fallen die Arbeitsinhalte bzw. der Arbeits-
3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity … 91

bereich, die funktionale Einstufung, die Dauer der Firmenzugehörigkeit, der Arbeitsort und
einige mehr. Harrison und Klein (2007) unterscheiden für die Indexmessungen der Alters-
diversität zudem die Typen (1) Separation (Spaltung durch Unterschiede auf einem hori-
zontalen Kontinuum z. B. hinsichtlich Einstellungen, Werten und Überzeugungen), (2) Va-
riety (i. S. der Vielfalt bzgl. einer Art oder Kategorie z. B. des Wissens, der Berufserfahrung
oder Expertise) und (3) Disparity (i. S. der Ungleichheit durch Unterschiede auf einem
vertikalen Kontinuum z. B. hinsichtlich Einkommen, Autorität, Status oder Prestige). Ge-
messen werden diese Unterschiede über spezielle, statistische Maßzahlen wie z. B. den
sogenannten Blau-Index für die Bestimmung der Vielfalt.
Insgesamt sind nach ca. 40 Jahren der Diskussion des Themas nach Thomas und Ely
(1996) drei bzw. vier Entwicklungsstufen in der Diversity-Diskussion erkennbar. Drehte
es sich anfangs um das Thema „Fairness und Antidiskriminierung“, könnte die zweite
Phase mit „Zugang und Legitimität“ (i. S. der Abbildung der globalen Kundenstruktur
auch in der Mitarbeiterstruktur) überschrieben werden. Im Zentrum der dritten Phase der
„Effizienz und Lernfähigkeit“ steht die Entwicklung oder gar Akzentuierung der
Individualität durch die Minimierung des Konformitätsdruckes. Die Einzigartigkeit der
Zusammensetzung soll in der Folge zum einen zu Wettbewerbsvorteilen infolge der
schwereren Kopierbarkeit der Unternehmenskultur führen, zum anderen für Vorteile bei
der (globalen) Mitarbeitergewinnung sorgen. Seit den 2010er-Jahren deutet sich nach den
beiden Autoren eine vierte Phase an, bei der das Thema generell nicht mehr als Option,
sondern als gesellschaftliche und wirtschaftliche Notwendigkeit angesehen werden muss.
Ein pragmatisches Modell, jedoch mit ähnlichem Leitgedanken, bietet Deloitte (Bourke &
Dillon, 2018, S. 93) mit seinem 4-stufigen Reifegrad-Modell. Folgt die Diversity & In-
clusion (D&I) auf Stufe 1 nur den Compliance-Vorgaben durch die Rechtsabteilung, ist
das Tandem auf Stufe 2 bereits programmatischer Bestandteil einer HR- oder sogar spe-
ziellen D&I-Abteilung. In Stufe 3 sehen sich (Top-)Führungskräfte oder gar der Vorstand
persönlich verantwortlich für den nachhaltigen Erfolg der Maßnahmen. Als voll integriert
bzw. Normalität würde die Stufe 4 das D&I-Thema beschreiben. Zwischen Stufe 2 und
Stufe 3 sehen die Autoren Bourke & Dillon den Übergang zwischen mandatierter Pflicht-
übung hin zu einer tiefer verankerten Bewegung.

Die Diversität des Denkens und die Inklusivität des Handelns


Ein Blick auf die bisherige Historie macht deutlich, dass dieser entscheidende, qualitative
Sprung lange auf sich hat warten lassen. So standen bzw. stehen die Chancen, unter den oben
geschilderten, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der „Diversität“ innerhalb eines
Unternehmens eine positive Konnotation zu geben, nicht immer unter einem guten Stern.

Als Ausgangspunkt ist wahrscheinlich die im „Melting Pot“ USA in den 90er-Jahren
im Rahmen der Antidiskriminierungsgesetze angestoßene Debatte zu sehen. Durch ameri-
kanische, in Deutschland agierende Konzerne (z. B. McDonald‘s) wurde diese über den
Atlantik getrage und manifestierte sich dann 2006 in Form des Allgemeinen Gleich-
behandlungsgesetzes (AGG). Seitdem versucht man auch in einigen Chefetagen eher grö-
92 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

ßerer, deutscher Firmen, auch die überaus positiven Seiten der Vielfalt oder Heterogenität
für sich zu entdecken, d. h. die potenziellen Vorteile zu maximieren und die Nachteile zu
minimieren. Was jedoch bei diesem Diversity Management unter dem Motto „älter,
­bunter, weiblicher“ entsteht, erweist sich zuweilen als zu bruchstückhaft und/oder es man-
gelt an Nachhaltigkeit, um mittel- oder gar langfristig Wirkung erzielen zu können. Die in
Intervallen aufkeimenden Diskussionen um die immer wieder gleichen Themen lassen
daran keinen Zweifel. Damit wird offenkundig, dass es im Kern wahrscheinlich um nicht
weniger als einen (auch gesellschaftlichen) Kulturwandel geht. Blickt man in diesem
Zusammenhang z. B. auf die Studiererlaubnis oder Wahlberechtigung für Frauen oder die
Entkriminalisierung der Homosexualität mit der Streichung des § 175, wird deutlich, dass
man hier generell leider eher mit Entwicklungsphasen zwischen 50 und 100 Jahren rech-
nen muss. So geht es eben auch in Unternehmen nicht nur um die Analyse bzw. den quan-
titativen Umbau in Richtung einer diverseren Personalstruktur, sondern immer auch um
die qualitative Integration bzw. Inklusion der „Andersartigkeit“ und Fremdheit bzw. die
Bearbeitung der oft daran gekoppelten Ängste (Tirpitz et al., 2019). Dabei definiert sich
Inklusion z. B. nach Bourke und Dillon (2018, S. 86) über Fairness und Respekt, Wert-
schätzung und Zugehörigkeit, Sicherheit und Offenheit sowie Empowerment und Wachs-
tum für alle. Programmatisch macht Diversity Management ohne Inklusion daher wenig
Sinn und wird nur als Tandem eines „Diversity & Inclusion“ (D&I)-Management zu den
gewünschten Vorteilen führen.
Unter der Überschrift „Vielfalt nutzen: Diversity Management in mittleren und großen
Betrieben – Zehn Gründe für Diversity Management“ „nennen die Beauftragten der
Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (BfMFI, 2016) zehn Gründe,
warum Diversity Management Diskussionsthema in den Chefetagen der genannten Unter-
nehmenstypen sein sollte. So soll es zu einer Umsatzsteigerung beitragen, die Expansion
in andere Märkte unterstützen, das Image des Unternehmens verbessern, die Arbeitgeber-
beliebtheit erhöhen, die Unternehmensbindung stärken und die Potenziale der Belegschaft
besser nutzen, das Ranking durch Analysten verbessern, den Zugang zu ethisch orientier-
tem Kapital über politisch korrekte Investmentfonds vereinfachen sowie eine frühzeitigere
Antizipierung internationaler Regulierung ermöglichen (BfMFI, 2016, S. 3).

D&I jenseits des sozialen oder gar moralischen Imperativs


Die größten Studien zum Nachweis des Einflusses von Diversity auf den Geschäftserfolg
sind aktuell die der Boston Consulting Group (Lorenzo et al., 2017), von McKinsey (Hunt
et al., 2018) und Deloitte (Bourke & Dillon, 2018). Fokussierte die Boston Consulting
Group (BCG) auf den Zusammenhang zwischen Innovation und Diversity, legte McKin-
sey den Schwerpunkt seiner Studie auf die etwaige Korrelation zwischen D&I und Ge-
schäftserfolg. Deloitte untersuchte beide Korrelate und betont zudem den Inklusionsaspekt.

Die Hauptergebnisse der mit der TU München durchgeführten Studie der BCG (Lo-
renzo et al., 2017, S. 3) machten zunächst deutlich, dass eine positive wie auch signi-
fikante Beziehung zwischen der Diversität des Managements (über alle Ebenen) und In-
3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity … 93

novation besteht und dies in einem höheren Gewinn aus neuen Produkten und Services
resultiert. Weiterhin ließ sich dieser Innovationsschub nicht auf eine einzige Diversity-­
Quelle (z. B. Gender, Alter, Geburtsland etc.) zurückführen. Die Anwesenheit von weib-
lichen Führungskräften aus zudem anderen Ländern, Branchen oder Firmen kann jedoch
förderlich wirken. Die dritte Erkenntnis machte überdies deutlich, dass die positiven
­Effekte eines diversen Managementteams nur bei eher größeren und komplexen Unter-
nehmen bestehen und diese auch mit der Firmengröße ansteigen. Vergleicht man die
statistische Signifikanz der Beziehung zu Innovation über alle untersuchten Di-
­
versity-Merkmale hinweg, nehmen der Branchenhintergrund, das Herkunftsland sowie
der bisherige Karriereweg die Spitzenplätze ein. Weniger signifikant waren Gender und
das Alter. Keine Bedeutung hatte der akademische Hintergrund.
Mit dem Fokus auf Finanzkennzahlen ergab die Studie von McKinsey im Jahr 2017
an über 1000 Unternehmen in 12 Ländern und in verschiedenen Industrien erneut (i. S. der
Vorläuferstudie 2015) die durchgängige und globale Bedeutung der Korrelation zwischen
Diversität12 und größerem finanziellem Erfolg13 bei größeren Unternehmen. Die 17 bzgl.
D&I aktivsten der 1000 Unternehmen waren zudem erfolgreicher hinsichtlich ihrer
Attraktivität für Toptalente, ihrer Kundenorientierung, Mitarbeiterzufriedenheit, Ent-
scheidungsqualität und gesellschaftlichen Akzeptanz bzw. Betriebslizenz. Obwohl die er-
mittelten Korrelationen naturgemäß keinerlei kausale Aussagen zulassen, legt die wieder-
holte und übergreifende statistische Signifikanz zwischen Diversität und wirtschaftlichem
Erfolg dies nahe.So rechtfertigen, nach Einschätzung einiger innovativer Großunter-
nehmen, bereits die soeben genannten, positiven Nebeneffekte die nicht unerheblichen
Anstrengungen. Eine Rückwirkung auf die Gesellschaft wäre – wenn auch nicht be-
absichtigt – sicher eine sehr willkommene Begleiterscheinung.
Gemäß der Studie der D&I-themenverantwortlichen Deloitte-Mitarbeiterin in Austra-
lien, Juliet Bourke (2016), hat eine inklusive Kultur für ein Unternehmen potenziell
mehrfache Vorteile. So übertrifft es mit doppelt hoher Wahrscheinlichkeit seine finanziel-
len Ziele, gehört mit dreifach hoher Wahrscheinlichkeit zu den leistungsstärksten Unter-
nehmen, agiert dabei mit dem Multiplikator sechs innovativer und agiler und erzielt mit
8-fach höherer Wahrscheinlichkeit bessere Geschäftsergebnisse. Zudem vermindert sich
durch das diverse Denken in gemischten Teams das Risiko von Fehlentscheidungen um
30 % und erhöht sich die Chance für innovative Lösungen um 20 %. Denn es verhindert
das gefürchtete „Groupthink“ homogener Gruppen, ermöglicht Multiperspektivität hin-
sichtlich eines Sachverhaltes und kompensiert die individuellen und kulturellen Bias der
Wahrnehmung eines jeden Menschen. Mitglieder hoch performanter, diverser Teams be-
schreiben das eigene Erleben in solchen Gruppen als „vertraut und inspirierend“ (Bourke
& Dillon, 2018, S. 86).

12
Definiert als größerer Anteil an Frauen und ethnischer bzw. kultureller Durchmischung in den
oberen Führungsebenen. Zugegriffen am 24.03.2021.
13
Gemessen am EBIT, d. h. dem Gewinn vor Zinsen und Steuern und der Gewinnmarge. Zugegriffen
am 24.03.2021.
94 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

Förderliche Umgebungsfaktoren für Diversity als Innovationskatalysator


Neben der soeben beschriebenen inklusiven Kultur als „Muss“ für die wirksame Ent-
faltung der Vorteile einer diversen Belegschaft hinsichtlich Branchenherkunft, Herkunfts-
land und Karriereweg zeigte eine frühere Studie von BCG (Lorenzoet al., 2017, S. 13),
dass es weiterer (kultureller) Rahmenbedingungen bedarf, um das anvisierte Innovations-
potenzial einer Diversity-Initiative realisieren zu können. An erster Stelle wurde hier von
den Befragten aus 171 deutschen, schweizerischen und österreichischen Unternehmen ein
partizipativer Führungsstil (Item: Der Manager beteiligt den Mitarbeiter an Ent-
scheidungen) mit 68 % genannt. Mit 62 % in der Bedeutung nicht sehr viel weniger rele-
vant kam die Offenheit für kognitive Diversität (Item: Mitarbeiter können sich offen äu-
ßern) auf den Platz zwei. Platz drei belegte mit 56 % die Tatsache, dass die Initiative
wahrnehmbar strategische Priorität hat (Item: Das Topmanagement unterstützt Diversität
für alle sichtbar). Etwa nur halb so wichtig wie den stärksten Katalysator sahen die Teil-
nehmer der Studie mit 37 % die teaminterne Kommunikation (Item: Teams initiieren oft
persönliche Gespräche) als entscheidend zur Hebung des Innovationspotenzials. Taten
(des Topmanagements) sind offenbar auch hier wichtiger als Worte. Überraschenderweise
nur 17 % der Befragten sahen die Gleichbehandlung aller Mitarbeiter (Item: Gleiche Be-
zahlung für gleiche Arbeit) als förderlichen Faktor. Unternehmen, welche diese Um-
gebungsfaktoren aufwiesen, konnten im Durchschnitt mit den entstandenen, innovativen
Produkten und Services ihren Gewinn um 33 % steigern, im Gegensatz zu nur 24 % bei
den Firmen ohne diese begünstigenden Einflüsse. Ferner erzielten diese Unternehmen
einen EBIT von 17 % (vs. 13 %) und eine Gewinnsteigerung von 3,9 % (vs. 3,4 %). Die
durch Diversity-Maßnahmen oft erhoffte Stärkung der Innovationskraft wird sich daher
nur unter ergänzenden Rahmenbedingungen einstellen und verlangt von den Verantwort-
lichen eine eher ganzheitliche Betrachtungs- und Handlungsweise sowie die Berück-
sichtigung der Unternehmensgröße (mehr oder weniger als 10.000 Mitarbeiter). Eine Ver-
tiefung des Themas erfolgt in Abschn. 3.3.

D&I als gesamtgesellschaftliches Thema in unser aller Lebens- und Arbeitswelt


Dafür, dass einige Unternehmen neben den soeben erläuterten, internen Wechselwirkungen
auch die Relevanz der externen Wechselwirkung von Gesellschaft und Wirtschaft er-
kannt haben, spricht z. B. die von Mercedes-Benz gesponserte und preisgekrönte Mit-
machausstellung „Ey Alter“,14 welche von 2015–2019 an den Standorten Bremen, Stutt-
gart sowie Berlin zu sehen war und in sehr konstruktiver und unterhaltsamer Weise für die
mit dem demografischen Wandel einhergehenden Chancen und Aufgaben in der Arbeits-
welt sensibilisierte. Das Bundesfamilienministerium setzt sich im Rahmen des Programms

14
http://www.eyalter.com/de. Zugegriffen am 24.03.2021.
3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity … 95

„Altersbilder“15 mit der Wanderausstellung „Was heißt schon alt?“16 dafür ein, ein neues
und differenziertes Bild vom Alter in unserer Gesellschaft anzustoßen. Als weitere, für die
Bewusstseinsbildung17 und praktische Umsetzung förderliche Maßnahme kann in neuerer
Zeit die „Charta der Vielfalt“18 mit ihren bis dato (2021) 3800 Unterzeichnern (darunter 27
der 30 DAX-Konzerne) unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel
mit ihrer speziellen Sektion zum Diversity Management19 gesehen werden. Denn die in
der Gesellschaft vorherrschenden Altersbilder entsprechen oft nicht den vielfältigen
Lebensentwürfen und Stärken der älteren Menschen von heute – beeinflussen jedoch zum
einen maßgeblich das Miteinander der Generationen, zum anderen die Erwartungen an
den eigenen Alterungsprozess. Die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales ge-
tragene „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ (INQA)20 setzt auf ähnlich breiter Front an.
Wie weitreichend das Engagement hier schon gediehen ist, zeigt die Vielzahl an Vereinen,
Verbänden und Stiftungen,21 die nahezu alle Bereiche und Institutionen um das Thema
abdecken und in ihrer vermittelnden wie auch multiplikativen Rolle einen wertvollen Bei-
trag leisten. Eine Übersicht über aktuelle, regionale Projekte zu den Folgen des demo-
grafischen Wandels findet sich unter „Gute Praxis“ des Demografie-Portals von Bund und
Ländern.22

Doch was bedeutet die geschilderte demografische Datenlage oder -prognose bzw. die
größere Diversity mit ihrem „älter, bunter, weiblicher“ für die individuelle Lebenswirk-
lichkeit wie auch das Miteinander für regulär Beschäftigte in den Unternehmen? Antwor-
ten auf diese Fragen sollen im thematischen Kontext dieser Publikation auf die drei eher
unveränderlichen Diversity-Merkmale Alter bzw. Lebenserwartung, Gender sowie mit
der interkulturellen Thematik verbundene Fragen der Ethnie eingegrenzt werden.

15
https://www.programm-altersbilder.de/programm/ueber-das-programm-altersbilder.html. Zuge­
griffen am 24.03.2021.
16
https://www.programm-altersbilder.de/wanderausstellung/wanderausstellung-was-heisst-schon-alt.
html. Zugegriffen am 26.03.2021.
17
https://www.charta-der-vielfalt.de/erfolgsgeschichten/zeige/unbewusste-denkschubladen/. Zuge­
griffen am 26.03.2021.
18
https://www.charta-der-vielfalt.de. Zugegriffen am 26.03.2021.
19
https://www.charta-der-vielfalt.de/fuer-arbeitgebende/diversity-management. Zugegriffen am
26.03.2021.
20
https://inqa.de/DE/wissen/vielfalt/uebersicht.html. Zugegriffen am 26.03.2021.
21
https://www.charta-der-vielfalt.de/diversity-verstehen-leben/diversity-management/vereine-verba-
ende-stiftungen/. Zugegriffen am 26.03.2021.
22
https://www.demografie-portal.de/DE/Gute-Praxis/Gute-Praxis.html. Zugegriffen am 26.03.2021.
96 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung


nicht nur in Deutschland

Ein langes Leben und hohes Alter: Traum oder Albtraum?


Verband sich mit der oben zitierten Verschiebung von „age to stage“ zunächst nur ein
konzeptioneller Perspektivenwechsel vom reinen Alter zu Lebensphasen, wandelte sich
für eine breitere Öffentlichkeit erst mit Gratton und Scott (2020, S. 3) die berufliche Trans-
formation von einer „three-stage view“ (Ausbildung, Karriere, Rente) zu einer „multi-­
stage view“. Dieser Perspektivenwechsel war infolge der in den nächsten Jahren um
20–30 Jahre steigenden Lebensdauer gekoppelt an eine Phasenerweiterung oder auch
Neuaufteilung (z. B.: Kindheit 0–12; Jugendphase bis 20/25; Erwachsenenalter bis 40/45;
fortgeschrittenes Erwachsenenalter bis 60/65; frühes Seniorenalter bis 75/80 und das
Greisenalter bis 100). Im Volksmund reflektiert sich diese Verschiebung der wahr-
genommenen Altersgrenzen in Statements wie z. B. „Die 60 sind die neuen 40!“. Zwar
sind wir mit 100+ Lebensjahren vom Menschheitstraum des ewigen Lebens noch etwas
entfernt – die eigentliche Frage sollte jedoch auch lauten: Wozu ein chronologisch länge-
res Leben, wenn man im schlimmsten Fall die potenziell längste Lebensphase (von
65–100+ Jahre) trotz guter Gesundheit in einer Pflegeeinrichtung zwischen geregelten
Mahlzeiten, heiteren Gesellschaftsspielen und vorabendlichen Fernsehserien bzw. der
Tagesschau dahindämmert? Möchte man die in einem größeren Zusammenhang um ein
würdiges Leben und Sterben im Alter immer wieder aufkommende Diskussion zur aktiven
Sterbehilfe hier nicht eröffnen, kann die Lösung eigentlich nur lauten, dass wir ge-
sellschaftlich und vor allem individuell Antworten auf die Herausforderungen wie auch
die großen Möglichkeiten eines 100-jährigen Lebens finden müssen. Denn: „Wie wir in
einer digitalen Gesellschaft alt werden, hängt immer weniger von der Kultur und Natur ab
und immer mehr von der individuellen und kollektiven Fantasie“ (Höchli et al., 2015, S. 62).

3.1.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Altern beginnt im Kopf und wird neu bewertet


Startpunkt für diesen Neuaufbruch ist – wie bereits im Begriff der Perennials, d. h. der
Mehrblüher, angeklungen – die Geisteshaltung, das Mindset gegenüber dem Altern. Denn
nicht nur nach dem wohl bekanntesten Gerontopsychologen Hans-Werner Wahl (2017)
beginnt „altern im Kopf!“. Besonders geeignet scheint hier i. S. des Modelllernens zu-
nächst die bewusstere Wahrnehmung der bereits in der Öffentlichkeit stehenden Rollen-
modelle für gelungenes bzw. aktives Altern. Je nach Wertekanon und Vorlieben könnten
das die immer noch tourenden Rolling Stones, der Übervater der Philosophie und Sozio-
logie, Jürgen Habermas, Altkanzler Helmut Schmidt, Ex-Familienministerin Rita Süss-
muth, Papst Franziskus, der Bezwinger der brennenden Ölquellen am Ende des zweiten
Golfkrieges, Paul Neal „Red“ Adair, das älteste Model, Iris Apfel, oder die YouTuberin
Greta Silver, die Schauspieler:innen Dustin Hoffman, Sean Connery, Judi Dench, oder
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 97

aber Sophia Loren sein. Es ist bezeichnend, dass es den meisten Lesern wohl leichtfallen
würde, weitere Beispiele zu finden. Können diese Vorbilder im ersten Schritt zur In-
spiration und Motivation dienen, bleibt im zweiten Schritt immer noch die Frage, wie ge-
lungenes Altern „funktioniert“ bzw. was man dazu wann tun sollte, um diese nach dem
großen Entwicklungspsychologen Erik H. Erikson naturgegebene Reifungskrise, diesen
Übergang in einen neuen Lebensabschnitt erfolgreich zu meistern (Wahl, 2017, S. 14).

Altern ist ein fluider Prozess und will aktiv gestaltet werden
Umfasst die Antwort für Gratton und Scott (2020) die parallele und frühzeitig erforder-
liche Planung der als nahezu untrennbar gesehenen Wirkungsbereiche „Business und
Life“, fokussiert Wahl (2017) mit seinen sieben Prinzipien der neuen Alterspsychologie
stärker auf (eigene) Einstellungen und Erwartungen an das Alter bzw. Macht und Ohn-
macht im Alterungsprozess selbst und klammert auch den Tod dabei nicht aus. Der ganz-
heitliche Ansatz von Gratton und Scott (2020, S. 17)23 ist nach eigenen Angaben dazu
bestimmt, die Chancen des nun sehr viel längeren Lebens letztlich als Segen und nicht als
Fluch erleben zu müssen. In einer zunehmend alterslosen Gesellschaft ist es nach Ansicht
beider Autoren essenziell, dass jede(r) schon im frühen Erwachsenenalter beginnt, aktiv
nach individuellen, lebensphasenbezogenen Lösungen im Bereich Finanzen, soziale Be-
ziehungen bzw. Arbeits- und Lebensgestaltung zu suchen, bzw. diese systematisch auf-
und ausbaut. Ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von selbst initiierten und aktiv selbst
gesteuerten und selbstverantwortlich vorangetriebenen Maßnahmen scheint dabei umso
wichtiger, als bei zukünftig stärker fließenden Lebensentwürfen („fluid life“) (Frick et al.,
2013, S. 17) (Frick et al., 2013) markante, rituelle Übergänge (z. B. Schul- oder Uni-Ab-
schluss) infolge ihrer potenziellen Häufung (man macht z. B. mehrere Ausbildungen oder
hat mehrere Lebensabschnittspartner) oder ihres Wegfalls (z. B. ein klarer Übergang zur
Rente) ihren strukturierenden Einfluss verlieren. Die wiederkehrende Herausforderung für
die prinzipiell offenen, zahlreicheren und fließenden Lebensentwürfe der Perennials ist
wie bereits angeklungen die unaufhörliche Notwendigkeit, Ideen für die nächste Lebens-
phase zu entwickeln. Konkret heißt dies, eine möglichst bewusste Entscheidung bzw. Aus-
wahl aus der Vielzahl der Möglichkeiten zu treffen, den Übergang von der bisherigen zur
neuen Phase (vielleicht durch eigene Rituale, wie das „My Last …“-Ritual an amerikani-
schen Hochschulen) zu gestalten und letztlich diese aktiv zu leben.

Identität als der rote Faden, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet
So geht es letztlich dabei um nicht weniger als um die permanente Transformation der
Identität und das Durchspielen verschiedener Szenarien, um für die „Mehrblüher“ immer
wieder optimale Umgebungsbedingungen zu schaffen. Eine unglückliche Berufswahl in
den Jugendjahren des Lebens, falls sie sich als unpassend herausstellt, kann durch die
größere Lebensspanne korrigiert werden. Die sich daraus ergebenden, individuellen
Lebenswege und Lebensstile könnten daher so divers wie nie zuvor werden, und bei aller

23
http://www.100yearlife.com. Zugegriffen am 28.03.2021.
98 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

sinnvollen Vorabplanung entstehen gelegentlich Wege auch, indem man sie einfach geht
oder zuweilen einfach auch die Gunst der Stunde bzw. unerwartet auftauchende Chancen
ergreift. Die von Gratton und Scott (2020, S. 282) angeführte Definition von Identität des
Philosophen Derek Parfit als das psychische Erleben von Verbundenheit und Kontinuität
als dem roten Faden, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet, würde dafür
sorgen, dass in dem einer Patchworkarbeit gleichenden Leben ein Muster und damit Sinn
(im Nachhinein) erkannt wird und das gelebte Leben mithin noch stärker zum Spiegel
eines einzigartigen Individuums wird.24 Zur sicheren Verbindung der „Patches“ – sprich
Lebensphasen – nennen Gratton und Scott (2020, S. 282) vier Faktoren, die sich möglichst
als Aktivposten darstellen sollten. Dies sind erstens die eigene Produktivität sichernde
Faktoren wie z. B. Wissen, Erfahrung, Können, Reputation etc., zweitens die Vitalität
(z. B. psychische und physische Gesundheit, ein balancierter Lebensstil, Freundschaften
für Freizeitaktivitäten etc.), welche sie auch als immaterielle Vermögenswerte („intangible
assets“) bezeichnen. Im Kontrast dazu sehen sie drittens die materiellen Vermögenswerte
(„tangible assets“) wie Geld, Wertpapiere oder Immobilien. Als ungewöhnliches, aber für
ihren Ansatz zentrales viertes Asset nennen die Autoren die „transformationalen“ Ver-
mögenswerte, d. h. die Breite und Tiefe verschiedener Netzwerke sowie das Wissen um
die Fähigkeit zum eigenen Veränderungsmanagement. Dazu zählen sie auch die Schaffung
sogenannter Transitionsphasen entweder zur physischen und psychischen Erholung (re-
charge), nach der man erfrischt und energiegeladen wieder zum selben Job zurückkehrt,
oder aber Kreativpausen (re-creation), die – metaphorisch gesprochen – dazu dienen, das
Sägeblatt (z. B. das Netzwerk) neu zu schärfen oder gar das Werkzeug (i. S. neuer Kom-
petenzen) zu wechseln – um die Dinge besser und/oder gar einen anderen Job zu machen
(Gratton & Scott, 2020, S. 197). Wie sich die unterschiedliche Ausgestaltung dieser vier
Assets in verschiedenen Lebensläufen auswirken kann, zeigen die Autoren beispielhaft an
drei Protagonisten. Neben dem starken, grundlegenden Wachstumsbedürfnis, welches
sich in dem bereits genannten Growth Mindset (nach C. Dweck) zeigt, scheinen für ge-
lingendes Altern insbesondere die Selbstführungs-, -verantwortungs- und -entwicklungs-
fähigkeit sowie das Wissen um die eigenen Bedürfnisse (i. S. von Selbstkenntnis) von
zentraler Bedeutung zu sein. Im Bereich des Glücksstrebens sowie im Falle von Finanzan-
lagen ist es die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub, welche es der Person ermöglicht,
z. B. entweder (frühzeitig) zu sparen oder sich zunächst weiterzubilden, um dann später
etwas auf der hohen Kante bzw. mehr Spaß und Erfüllung im dann passenderen Beruf zu
haben. Kreativität und eine gewisse Neugier oder Risikoaffinität eröffnen Neuem den not-
wendigen Experimentierraum.

Ein neuer Diversity-Aspekt in der Person: Lernen im Alter – altern lernen


So wird es wahrscheinlich diese ungebrochene Neugier und Offenheit für digitale Techno-
logien der Babyboomer (als IT-Pioniere bzw. erste Nutzer der Lochkarten in den 70ern
oder des Atari Heimcomputers oder des sehr beliebten Commodore C64 in den 80ern)

24
Eine Vertiefung der sich generell wandelnden Identität findet sich in Abschn. 4.3.
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 99

sein, die es ihnen ermöglicht, im regulären Erwerbsprozess der nächsten 10–15 Jahre oder
sogar darüber hinaus anschlussfähig zu bleiben. Durch die rasante Geschwindigkeit der
durch die Digitalisierung angestoßenen Innovationen in allen Bereichen gilt Gleiches für die
Generation X als „Digital Immigrants“ wie auch für die Generation Y oder Millennials als
die Prototypen der „Digital Natives“. Die lebenslange Lernbereitschaft und -fähigkeit wird
in einer tendenziell alterslosen digitalen Gesellschaft zentrales Klassifikationskriterium sein.
Die gesonderte Wertschätzung signalisierenden Kohortenbezeichnungen wie Silver Human
Resources, Silver Worker, Best Ager, Senior Potentials werden durch ihre mitschwingende,
vermeintliche Notwendigkeit zur sprachlichen Aufwertung einer als speziell angesehenen
Zielgruppe dann hoffentlich bald der Vergangenheit angehören. Denn einerseits werden die
über 50-Jährigen ab 2020 rein zahlenmäßig ca. 40 % der Erwerbstätigen stellen und dadurch
keine Sonderbehandlung verdienende oder benötigende Minorität mehr sein, andererseits
wird vergessen, dass jede Lebensphase Besonderheiten im Prozess des lebenslangen Ler-
nens/Lernverhaltens hat bzw. Dinge besser (z. B. Langzeitgedächtnis) oder schlechter
(z. B. Psychomotorik und Kurzzeitgedächtnis) kann. Die Plastizität des Gehirns im Alter
ist jedoch höher als früher vermutet. Damit stehen Ältere (zumindest bis in die 70er) hin-
sichtlich der Anpassung an eine sich verändernde Umwelt nur wenig schlechter da als Jün-
gere bzw. sind in der Lage, etwaige Mankos mit ihrer kristallinen Intelligenz zu kompen-
sieren. Viel entscheidender für die mentale Fitness ab 70 scheinen mit Siebert (2011)
einerseits die vorangehende Lebens- und Berufsbiografie bzw. die damit verbundene
Lerngeschichte wie auch das Milieu (am besten „gehoben“, d. h. mit akademischer Bil-
dung, finanziell abgesichert, mobil, bildungsinteressiert, außenweltinteressiert, kommuni-
kativ) zu sein, andererseits die Stimulusvielfalt und Stimulusintensität der den 70-Jährigen
umgebenden Umwelt. Korreliert das Milieu bzw. besondere Persönlichkeitseigenschaften
(z. B. IQ oder Neugierverhalten z. B. in den „Big Five“) eher mit der sogenannten Habitu-
almotivation – der generellen Neugier –, fördern die konkreten, situativen Stimuli des Um-
feldes eher die Aktualmotivation, zu lernen. Diese zwei Typen der Lernmotivation mode-
rieren ihrerseits lebenslang die Lernfähigkeit, d. h. die Kapazität des Lernens, der
Leichtigkeit und Nachhaltigkeit des Lernens, der Anregbarkeit zum Lernen wie auch der
Lernintensität (Siebert, 2011, S. 3–5). Was sich mit zunehmendem Alter verändert, sind die
Lernmuster, diese gehen jedoch nicht automatisch mit einer Verringerung der Lernfähig-
keit einher. Das Buch des Molekularbiologen John Medina „Brain Rules fürs Älterwerden“
(Medina, 2017) gibt dazu viele praktische Tipps. In Abschn. 4.2.1 wird diese Lern- und Ver-
änderungsfähigkeit im Hinblick auf neue Lernformen dargestellt. Bereichert um das
Thema „Employability“ werden die Ausführungen im Abschn. 5.4.1.

Im Kern ist es somit die Intensität der Wechselwirkung zwischen Situation und Person,
welche die Lernprozesse des (alternden) Menschen wachhält bzw. fördert. Hinsichtlich
der Person integriert dabei der oben angeführte Identitätsbegriff von Derek Parfit das zeit-
liche Erleben des Alterungsprozesses. Carol Dwecks „Growth Mindset“ verweist auf das
wünschenswerterweise auch noch im Alter (immer) noch vorhandene, psychologische Be-
dürfnis nach Wachstum und Selbstaktualisierung als Motor des Lernens, wobei das Wis-
100 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

sen um die potenziell auch im Alter noch gegebene neurobiologische Plastizität darüber
hinaus weitere Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet.

Das Zeitalter der Digitalisierung und seine Varianten des „Digital Aging“
Ob von der unaufhaltsam voranschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche auf den
alternden Menschen eher Druck ausgeht oder diese mit Erleichterungen verbunden ist,
kann wahrscheinlich nur mit einem differenzierenden „Sowohl-als-auch“ beantwortet
werden. Wodurch sich der Alterungsprozess soziokulturell über die Jahrhunderte infolge
der Digitalisierung unterscheidet, skizziert Abb. 3.4.

Die Tabelle wie auch der gesunde Menschenverstand legen dabei jedoch nahe, dass die
möglichen (z. B. körperlichen) Erleichterungen und (z. B. neue erwerblichen) Chancen der
Digitalisierung ohne eine gewisse Technikaffinität und Lerninvestment nicht zu haben sind.
Die damit verbundene Studie des Schweizer Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI, 2015) mit
1000 Teilnehmern zwischen 30 und 80 zum Thema „Digital Aging“ untersucht dies anhand
von zwei Dimensionen. Zum einen mit den Endpolen „Neugier und Offenheit für Neues“ vs.
eine entsprechende „Zurückhaltung“ hinsichtlich der digitalen Technologien, zum anderen
der zweiten Dimension mit den Endpolen „Wunsch nach Wachstum“ vs. „Drang zur Be-
wahrung des Status quo“. Ergebnis waren vier, wenn auch teilweise etwas klischeehafte,
Prototypen samt ihren speziellen Lebenswelten (GDI, 2015, S. 36). Abb. 3.5 zeigt die vier
statistisch errechneten Prototypen auf der Basis der zwei bipolaren Dimensionen.
Die Szenarien skizzieren dabei das Wirken der Prototypen auf den Bereich Wirtschaft,
Konsum, die Arbeitswelt und Gesellschaft, Werte sowie den Bereich der Politik. Dabei gilt
die Annahme, dass sich „Rebel Ager“ und „Ageless Ager“ die Vorteile der Digitalisierung
eher zunutze machen und diese rückwirkend durch ihre vielfältigen Stimuli im Idealfall
(geistig) länger jung hält. Stellen ca. ab 2030 mit wachsender Tendenz die über 67-­Jährigen
fast ein Viertel der Deutschen, werden sie je nach Ausprägung auf den zwei Dimensionen

Altern im präindustriellen Zeitalter Altern im industriellen Zeitalter Altern im digitalen Zeitalter

Kategorie „Alter“ verschwimmt (multi-stage life), löst sich auf; es


Kategorie „Alter“ bzw. „älter werden“ als Befreiung vom
Kategorie „Alter“ bzw. „alt/fertig sein“ akzeptiert und im Idealfall kommt darauf an, wie man es vorbereitet hat und was man daraus
Erwerbsleben oder als Bürde erleben – als Übertritt in die dritte
wertgeschätzt; man lebt auf sein Ende hin, welches womöglich im macht; man lebt im Moment oder sogar auf die noch kommenden
Phase des Lebens (3-stage life); man lebt im Moment bzw. auf sein
Jenseits weitergeht Jahre hin; lebt eher in einem Zustand der „permanenten
Ende hin
Unfertigkeit“
Arbeiten so lange wie möglich (z.B. durch plattformbasierte Mini-
Arbeiten so lange wie möglich, kein spezielles Rentenalter Arbeiten bis zum 60./62./65./67. Lebensjahr, spezielles Rentenalter
und Midi-Jobs), kein fixes Rentenalter
Abnehmende staatl. Altersrentenbezüge (je nach nationalem
Staatl. (plus ggf. private und betriebliche) Altersrentenbezüge in
Keine Altersrentenbezüge – höchstens Almosen (z.T. durch Kirche Rentensystem) bei zunehmend eigenverantwortlicher bzw.
Abhängigkeit vom Verdienst im vorherigen Erwerbsleben bzw.
oder staatlich finanziert)  eher familiäre soziale Verantwortung zusätzlicher Vermögensbildung und erweiterten Erwerbsmöglich-
Einzahlhöhe  eher Fremdverantwortung
keiten  eher Eigenverantwortung (bei potenzieller Altersarmut)
Altersbetreuung geschieht auf verschiedenste Weise, z.T.
Altersbetreuung im Rahmen starker Familieneinbindung; Austausch Altersbetreuung weitgehend an professionelle Institutionen gegen
unterstützt durch (digitale) Technologie (z.B. Wearables,
gegen Land oder Hilfe im Haushalt Bezahlung abgegeben
Pflegeroboter etc.)
Geringere gesellschaftliche Marginalisierung, da durch Überzahl
Gesellschaftliche Integration; Teil des familiären, häuslichen und Gesellschaftliche Marginalisierung; Überantwortung an staatliche
nicht möglich (und durch Fachkräftemangel benötigt),
öffentlichen Lebens oder privatwirtschaftliche Institutionen
Überantwortung an die/den Einzelnen
Keine besondere Wertschätzung des Wissens und ggf. der Wertschätzung des kristallinen Wissens des Alters komplementär
Wertschätzung des Wissens und ggf. der Weisheit des Alters
Weisheit des Alters zum fluiden Wissen der Jüngeren

Das relativ kurze Leben als Schule und die Älteren als Lehrmeister Lebenslanges Lernen als Idee Lebenslanges Lernen unabdingbar

Abb. 3.4 Altern in den verschiedenen Zeitaltern. (Quelle: GDI, 2015, S. 4; mit freundlicher Ge-
nehmigung durch © GDI 2015; erstellt und modifiziert durch den Autor)
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 101

Wachstum

Selbstverwirklichungs- Transformations-
Ein- und Auswirkungen auf: szenario Ein- und Auswirkungen auf:
 Wirtschaft u. Konsum szenario  Wirtschaft u. Konsum
 Gesellschaft u. Werte  Gesellschaft u. Werte
 Politik  Politik
 Arbeit Rebel Ageless  Arbeit
Aging Aging
Wir erfinden das Wir „hacken“
Alter neu das Alter
Zurückhaltung

Offenheit*
Conservative Predictive
Aging Aging
Ein Rückzugs- Wir kalkulieren
Ein- und Auswirkungen auf: gefecht gegen das Alter
 Wirtschaft u. Konsum die Zeit Ein- und Auswirkungen auf:
 Gesellschaft u. Werte  Wirtschaft u. Konsum
 Politik  Gesellschaft u. Werte
 Arbeit Bewahrungs- Kontroll-  Politik
szenario  Arbeit
szenario

Bewahrung * Für die Nutzung neuer Technologien

Abb. 3.5 Die vier Szenarien des digitalen Alterns. (Quelle: GDI, 2015, S. 36; mit freundlicher Ge-
nehmigung durch © GDI 2015; erstellt und modifiziert durch den Autor)

das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben der Nation in den genannten Bereichen
maßgeblich mitbestimmen. Der Zeitpunkt ihrer (vorzeitigen) Verrentung bzw. die Motiva-
tion dahinter spielt zukünftig dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle für die weitere
gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung nicht nur in Deutschland.
Eine adaptive Flexibilität wiederum auf psychologischer Ebene umreißt der renom-
mierte Lebenslaufforscher und Gerontopsychologe Paul B. Baltes (2001) mit seinem Kon-
zept der Ich-Plastizität. Alltagssprachlich beschreibt sie „[…] das Ausmaß, in dem
Einzelne sich als veränderbar, als resistent, entwicklungsfähig und entwicklungswillig er-
leben“ (Baltes, 2001, S. 31). Im Bereich der Psychologie als Wissenschaft referenziert er
dabei auf Forschungsthemen wie Optimismus, positives Denken, Offenheit für Neues,
Selbstwirksamkeit und persönliche Handlungskontrolle. Für ihn ist dies die Schlüssel-
kompetenz einer lebenslangen Entwicklung. Dabei sieht Baltes Deutschland im Vergleich
zu den USA mit seinem Kultur- und Entwicklungspessimismus eher im Nachteil (Bal-
tes, 2001, S. 31). Denn hier trennt man ohne jegliche moralische Bedenken z. B. die in der
Schule oder Universität gemessene, objektiv gezeigte Leistung von dem subjektiv empfun-
denen Leistungspotenzial. Dies befreit den Einzelnen von der deterministischen Ei­
nengung durch Noten und Bewertungen früher Lernphasen und ermutigt nach dem Motto
„Was interessieren mich meine schlechten Leistungen von gestern, wenn ich es heute bes-
102 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

ser machen kann und werde!“, in jeder Phase des Lebens neu anzufangen bzw. die eigene
Entwicklung (erneut) in die Hand zu nehmen. Mithin gilt: „Es ist nie zu früh, um gesund
zu altern.“

Das Zeitalter des „permanent unfertigen Menschen“ – in allen Situationen


des Lebens
In der soeben beschriebenen, jederzeit und allseitig für die individuelle Entwicklung offe-
nen (Lebens-)Situation bzw. Atmosphäre sieht Baltes bereits 2001 ein Zeitalter des perma-
nent unfertigen Menschen (Baltes, 2001, S. 26) heraufziehen – mit all den damit einher-
gehenden positiven und negativen Seiten. Zu letzteren zählt für ihn dabei das potenziell
auf der Strecke bleibende Gefühl, angekommen zu sein, den „Entwicklungsexpress“ auch
anhalten zu können, um das Sein, das Erreichte mit Zufriedenheit und in vollen Zügen zu
genießen. Als Ursachen für diese Entwicklung sieht er fünf Faktoren. Erstens: Die Kultur
(z. B. Pharmakologie, Medizin, Digitalisierung) hilft zwar die Einschränkungen des bio-
logischen Alterns teilweise immer wieder auszugleichen, der Aufwand dafür wird jedoch
immer höher bzw. der Effektivitätszugewinn immer geringer. Dennoch ist bis dato die
Frage offen, wie diese an die Parabel von Hase und Igel erinnernde Konstellation zum
Stehen kommen wird. Zweitens sieht Baltes die immer kürzere Halbwertszeit von
z. B. Qualifikationen bzw. des damit verbundenen Wissens, Status und Prestiges, von
Lebensstilen etc. als verantwortlich für die zukünftig permanente Unfertigkeit. Erschafft
Sprache Wirklichkeit(en), macht er drittens darauf aufmerksam, dass auch eine immer
feinere Ausdifferenzierung von Lebensphasen (im Alter) das Erleben der Unfertigkeit
auch immer wieder aufs Neue anstößt; denn wann ist oder soll das Ende des oben er-
wähnten „multi-stage aging“ erreicht sein? Als Folge der zunehmenden Säkularisierung
des Lebens und des damit einhergehenden schwindenden Glaubens, sich zumindest in
einem wie auch immer gearteten Jenseits weiterentwickeln zu können, sieht Baltes die
vierte Quelle dieser geradezu kosmischen Offenheit. Die fünfte Ursache der chronischen
Unfertigkeit ist für ihn die Globalisierung. Den im Altersdurchschnitt größten Anteil an
jungen Menschen hat Afrika vor Lateinamerika. Am stärksten von Überalterung betroffen
ist im Westen bekanntermaßen Europa, gefolgt von Nordamerika, und im Osten Japan vor
China. Im Wettbewerb um die stärkste wirtschaftliche Innovationskraft wird Unfertigkeit
bzw. kontinuierliches und lebenslanges Lernen die einzige Möglichkeit sein, ihre aktuel-
len wirtschaftlichen Spitzenpositionen auch zukünftig halten zu können. So wird sich der
„War for Talents“ womöglich in 5–10 Jahren auch auf ältere, lernfähige und lernwillige
Arbeitskräfte erstrecken müssen, falls man sich nicht entschließt, verstärkt in Afrika oder
Südostasien zu rekrutieren. Dies würde wiederum den Druck auf die ältere, inländische
Belegschaft zusätzlich erhöhen.

Digital Aging und das Risiko des schlechten Images der Arbeit
Ein Indikator dafür, dass der oben genannte Trend auch auf die Belegschaften in den meis-
ten Unternehmen zutrifft, sind die nicht nur in größeren Unternehmen anzutreffenden,
maßgeschneiderten Lern- und Arbeitsplatzangebote für die sogenannten Silver Liner oder
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 103

Worker, Senior Potentials, Golden Ager – oder wie immer man die 50- bis 67-Jährigen
auch zwecks (nur sprachlicher?) Abgrenzung nennen mag. Fakt ist, dass diese trotz der
doch sehr attraktiv anmutenden Ausphasungsangebote und trotz Rentenabschlägen das
Unternehmen meist vor Erreichung des 67sten Geburtstages verlassen. So lag im Jahr
2019 das durchschnittliche Renteneintrittsalter in Deutschland bei etwa 64,3 Jahren. Dies
sind zwar zwei Jahre mehr als vor 20 Jahren. Dennoch hat sich nach Ansicht des Arbeits-
mediziners Hans Martin Hasselhorn als Leiter der sogenannten LidA-Studie25 (= Leben in
der Arbeit) der Bergischen Universität Wuppertal eine regelrechte „Kultur des Frühaus-
stiegs“ herausgebildet. Die Gründe dafür sind vielfältig. Mit ca. 6500 Babyboomern als
Teilnehmern versuchte das Forschungsprojekt zwischen 2011 und 2018 herauszufinden,
wie die Wechselwirkungen zwischen den Kernvariablen Erwerbsmotivation, Arbeitsfähig-
keit, Arbeitsorganisation und -inhalt sowie der Gesundheit der Probanden mit einer etwai-
gen Nutzung des Vorruhestandes zusammenhängen. Sehr stark abstrahierend, schätzen die
meisten Babyboomer (1959–1965) ihre alltägliche Arbeit hinsichtlich der Organisation
und Inhalte und sind zudem relativ gesund. Dennoch wollten – da es in ihrem persönlichen
Umfeld als „normal“ gilt – knapp drei Viertel trotz finanzieller Einbußen eher früher (30 %
mit 60, 26 % mit 63 und 15 % mit 65) als später (3 % mit 67) aus dem Erwerbsleben aus-
scheiden. Die Ursachen sieht Hasselhorn (2019) zum einen in den gegebenen Arbeits-
bedingungen, die stärker den Grundprinzipien der Persönlichkeits- und Gesundheits-
förderlichkeit entsprechen sollten, zum anderen sind Politik und Sozialpartner gefordert,
den Wert bzw. das Image der Arbeit glaubwürdiger hervorzuheben. Als Vorbilder nennt
er hier Programme skandinavischer Länder, wie Norwegen und Schweden, welche gesamt-
gesellschaftlich zu einer positiveren Arbeitskultur geführt haben. Diese wiederum würde
das Anspruchsniveau an die Qualität des gesamten Erwerbslebens anheben, und bei
schlechten Arbeitsbedingungen würden die Menschen den Arbeitgeber schneller wech-
seln. Dass hier wahrscheinlich auch die Arbeitsmarktsituation eines speziellen Berufs-
bildes, der Branche in dem jeweiligen Land auch eine Rolle spielt, versteht sich von selbst.

Mit dieser Steigerung der Erwartungen bzw. verfeinerten Befragungen tritt womöglich
auch der starke Einfluss nicht untersuchter, persönlicher bzw. psychosozialer Faktoren
zutage. Ganz konkret sorgen vielleicht zu seltene (monetäre) Anerkennung, geringe Ent-
scheidungsspielräume bzw. Mikromanagement, Arbeit ohne sichtbare Ergebnisse, Zeitdruck
(aufgrund unzureichender Planung), wenig durchdachte und daher als sinnlos empfundene
Neuerungen oder Reorganisationen in schneller Folge – kurzum der Einfluss schlechter Füh-
rung – für eine sich über die längeren Berufsjahre aufschaukelnde Demotivation. Folgen
davon wären (nicht nur bei älteren Mitarbeitern) eine geringere Produktivität, geringeres
Commitment und letztlich der Wunsch nach Vorruhestand. Der Wert der Arbeit kann eben
nur erkannt und gefühlt werden, wenn er mir durch Führungskräfte oder Peers rückgemeldet
wird. Und hier gilt gerade in Deutschland wohl eher die „schwäbische Regel“, nach der
keinerlei Rückmeldung schon Lob genug ist. Gegebenenfalls zur Verfügung gestellte, aber

25
www.lida-studie.de. Zugegriffen am 30.03.2021.
104 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

oft für erfahrenere Mitarbeiter ungeeignete Lernangebote zum Up- oder Reskilling bleiben
so oft nicht aus Altersgründen i.e.S. ungenutzt. In Abschn. 4.4 werden diese und andere
Faktoren für Zeit- und Leistungsdruck und ihre Folgen ausführlicher dargestellt. Die im Jahr
2006 von der Bundesregierung beschlossene „Rente mit 67“ macht daher rein wirtschafts-
politisch und fiskalisch sicherlich Sinn – was jedoch, wenn keiner bis 67 arbeiten will und
auch Arbeitgeber diese große Kohorte der Arbeitnehmer (Babyboomer) mit ihren zudem oft
noch langen Betriebszugehörigkeiten und den damit verbundenen Lohnzuwächsen lieber
früher als später (über Abfindungsprogramme) loswerden wollen? Die Bedeutung des
chronologischen Alters für die Erwerbsdauer scheint sich zumindest jedoch mit der aktuell
vorherrschenden Arbeitskultur zu relativieren.

Digital Work und seine Chancen und Risiken für ältere Mitarbeiter
Ist – wie soeben dargestellt – das längere Verbleiben in der regulären Erwerbsarbeit eher
fragwürdig, wäre im nächsten Schritt zu fragen, welche Chancen und Risiken sich für ältere
Mitarbeiter aus der sich aktuell allerorts vollziehenden Digitalisierung (nicht nur) in den
Unternehmen ergeben bzw. welche Auswirkungen dies auf ihre Gesundheit haben könnte.

Die 2016 an der Universität St. Gallen von Stephan A. Böhm und Kolleg:innen (Böhm
et al., 2016) durchgeführte Studie zur „Auswirkung der Digitalisierung auf die Gesund-
heit von Berufstätigen“ an 8019 Teilnehmern fokussiert zwar nicht speziell auf ältere
Mitarbeiter, sie lässt jedoch mit ihrer für Deutschland repräsentativen Stichprobe (28,7 %
der Teilnehmer waren zwischen 40 und 49 Jahren; 27 % der Probanden waren zwischen
50 und 59 Jahren; 9,4 % der Teilnehmer waren zwischen 60 und 77 Jahren) mit einem
Gesamtanteil von 65,1 % älteren Mitarbeitern (40–77 Jahre) Trends erkennen. Zur Mes-
sung des Digitalisierungsgrades über 36 verschiedene Branchen erstellten Böhm et al.
einen sogenannten Digitalisierungsindex, bestehend aus dem sozialen Umfeld der digita-
lisierten Arbeit (→ virtuelle Führung und Teamarbeit), dem Arbeitskontext (→ Flexibilität
hinsichtlich der Arbeitsorte und -zeiten) sowie den Arbeits- und Wissensinhalten (→ Viel-
falt der Inhalte, Informationsmenge, Kommunikationsrauschen, technologische An-
forderungen, technologischer Anpassungsdruck, Interdependenzen der Inhalte). Unter
Berücksichtigung von zusätzlich wirkenden organisatorischen und individuellen Ein-
flussfaktoren untersuchten Böhm und Kolleg:innen die Auswirkung der subjektiv empfun-
denen Digitalisierung auf die psychische und physische Gesundheit sowie spezielle Ver-
haltensweisen und Einstellungen der Probanden. Hinsichtlich der im Zentrum der
Untersuchung stehenden Gesundheit der Berufstätigen scheint jeder Alarmismus unan-
gebracht. So korreliert die Anzahl der Krankentage der Probanden nur sehr schwach mit
der wahrgenommenen Digitalisierung. Signifikante Zusammenhänge ergeben sich jedoch
mit emotionaler Erschöpfung sowie Konflikten zwischen Arbeit und Familie. 23 % aller
Befragten fühlten sich emotional erschöpft. Zu erwartende, bedeutsame Unterschiede hin-
sichtlich der subjektiv empfundenen Digitalisierung ergaben sich über die Branchen hin-
weg. Das heißt, IT- oder naturwissenschaftliche Dienstleistungsberufe erleben diese inten-
siver als z. B. eine Reinigungskraft. Interessant für diese vorliegende Publikation ist, dass
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 105

nur von eher geringen altersbezogenen Unterschieden hinsichtlich Technologieoptimis-


mus, technologischen Fähigkeiten und Angst vor Arbeitsplatzverlust infolge der objekti-
ven Digitalisierung berichtet werden kann. Aus verständlichen Gründen ist jedoch die
Angst vor einem Arbeitsplatzverlust infolge der Digitalisierung bei unter 30-Jährigen
­größer als bei den über 60-jährigen Teilnehmern der Studie. Erstere werden diese noch
sehr viel länger in all ihren Facetten bzw. Folgen erleben.
Die „Chancen und Risiken der Digitalisierung für ältere Produktionsmitarbeiter“ be-
leuchtet der IAB- Forschungsbericht von Lutz Bellmann aus dem Jahr 2017 (Bellmann,
2017). Dabei steht der Titel programmatisch für die Erkenntnisse der Untersuchung. Die
Chancen der Digitalisierung ergeben sich gerade im Produktionsbereich durch körper-
liche Entlastungsmöglichkeiten mittels einer engeren Mensch-Maschine-Kollaboration
(z. B. Erleichterungen beim schweren Heben durch Wearable Robotics wie z. B. ein Exo-
skelett oder einen Chairless Chair, technische Anleitung durch ein Augmented-­Reality-­
System etc.). Menschen arbeiten mit Robotern Hand in Hand. Die Herausforderungen
bestehen – jedoch nicht nur – für Ältere in der Notwendigkeit zur Weiterbildung ihrer
Fähigkeiten und Kompetenzen in diesem Bereich. Die Ergebnisse der Untersuchung für
die Jahre 2013–2015 stimmten dabei sehr optimistisch – sprachen sogar für einen „Weiter-
bildungsboom“. Entscheidend nach Ansicht der Autoren sind jedoch die Kontinuität,
Quantität und Qualität möglichst zielgruppenspezifischer Bildungsangebote. Unabhängig
vom Alter sollten diese für alle Mitarbeiter möglichst niedrigschwellig sein, was das Auf-
finden, den inhaltlichen Einstieg und den unmittelbaren Nutzen für die aktuelle Tätigkeit
angeht, um so möglichst schnell durch erlebbare Lernerfolge für weitere Lernanstrengungen
motiviert zu bleiben. Lernungewohnte Menschen sollten unabhängig vom Alter an Online-­
Fortbildungsangebote herangeführt werden. Um diese „Entwöhnung“ bei Jung und Alt
zukünftig generell gar nicht erst aufkommen zu lassen, empfiehlt die Studie eine frühzeitig
einsetzende und altersgerechte Weiterbildung, die z. B. durch geistig anregende Arbeits-
inhalte, kurz- oder langfristige Rotationen oder eine ergonomische Arbeitsplatzgestaltung
gekennzeichnet wäre. Obwohl man Jüngeren von den Grundvoraussetzungen her tenden-
ziell eine größere Lernbereitschaft und -fähigkeit, körperliche Belastbarkeit, Flexibilität
und Kreativität zuschreibt, betonen die Betriebe – wie bereits mehrfach erwähnt –, dass
die realen Unterschiede sehr viel stärker durch die individuellen Lebensweisen (wie
Lebensstil, Bildungsinteresse, körperliche Aktivität etc.) des einzelnen Beschäftigten be-
einflusst werden als durch das chronologische Alter. Diese Sichtweise fokussiert stärker
den Alterungsprozess als das Alter selbst.
Summarisch kann festgehalten werden, dass der Einfluss des Alters durch physische
und psychische Ab- oder Umbauprozesse zwar nicht wegzudiskutieren ist, sich die alte
Binsenweisheit „Wer rastet, der rostet“ jedoch erneut bewahrheitet – und zwar altersun-
abhängig. Obwohl auch „rasten“ zu einem balancierten Lebensstil dazugehört, stellt sich
zukünftig daher sehr viel stärker die Frage, wo, wie, wann und wie lange man rastet. Denn
es zeichnet sich schon heute ab, dass der Anteil der erwerbsfreien Zeit wahrscheinlich zu-
nehmen wird. Womit wir wiederum bei der gesamten Lebensführung der Menschen in der
Zukunft wären. Diese Querschnittsaufgabe beginnt durch etwaige Vorbilder in der Fami-
106 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

lie, setzt sich fort in den Einflüssen von Bildungsinstitutionen und Unternehmen bis hin zu
den politischen Rahmenbedingungen. Immer mehr Arbeitgeber haben dies erkannt und
beginnen (durch den sich abzeichnenden Mangel an jungen Fachkräften) ihrer auch ge-
sellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden.

Das Alter und das Altern im Unternehmen: 8+ Stunden am Tag für 40+ Jahre!?
Die etwas sperrige Zwischenüberschrift soll hervorheben, was in der alltäglichen Routine
leicht übersehen wird: Der Zeitanteil der Erwerbsarbeit in unser aller Leben ist enorm. Je nach
Verweildauer altern wir im und zuweilen auch mit dem oder den Unternehmen – und das auf
sehr unterschiedliche Weise. Dies haben die Unternehmen im Zuge der Diversity-­Thematik
erkannt und stellen sich mehr oder minder darauf ein. Allerdings ist zu fragen, ob die unbe-
absichtigten Stigmatisierungen durch Abgrenzungen wie z. B. „Silver Worker“ zwar gut ge-
meint, aber eben doch eher schlecht gemacht sind. Gemäß Sattelberger in Rump (2006,
S. 140) könnte generell thematisiert werden, ob nicht eine komplette Eliminierung des Krite-
riums „Alter“ als Entscheidungs- und Handlungsgrundlage Sinn machen würde. Denn die
eigentlich anvisierte, langfristige Beschäftigungsfähigkeit (Employability) aller ist im Kern
weniger eine Altersfrage als eine der Lebensphasenorientierung, die vom ersten Job bis zum
letzten Gehaltszettel eher als „Spannungsbogen des Lernens und Veränderns“ zu sehen ist,
welcher zukünftig womöglich über 8+ Stunden am Tag für 40+ Jahre gehalten werden sollte.

Besondere Verantwortung kommt hier einer Personalentwicklungsabteilung zu, die


sich frühzeitig an genau diesen Lebensphasen orientiert und Lernen eher als Teil der Arbeit
versteht denn als Seminarzirkus. Proaktiv und integrativ sind daher die Schlüssel-
begriffe, welche die Mitarbeiter in ihrer durchgehenden Lernhistorie begreifen und es zu
einer Lernentwöhnung bzw. den damit heraufziehenden Lernängsten oder fehlender Lern-
motivation gar nicht erst kommen lassen. Damit dieser Spannungsbogen gehalten werden
kann, braucht es jedoch eine durchgehend lernförderliche Umgebung, welche z. B. durch
flexible Arbeitszeitregelungen das On-, Near- und Off-the-Job-Lernen zum integrativen
Bestandteil der Arbeit macht oder auch kürzere oder längere Rotationsmöglichkeiten er-
öffnet. Aber auch schon die klassischen arbeitspsychologischen Kriterien für die Lernför-
derlichkeit der Inhalte und des Zuschnitts der Arbeit selbst (z. B. Vollständigkeit, Selbst-
ständigkeit, Durchschaubarkeit bzw. Sinnhaftigkeit, geringere Routinenanteile, d. h. die
Problemlösefähigkeit fordernd etc.) legen ein starkes Fundament an durchgängigen Lern-
stimuli. „Integrativ“ kann jedoch nicht nur in Bezug auf die inhaltliche Ausgestaltung der
Arbeit verstanden werden, sondern auf die Miteinbeziehung der entsprechenden Ziel-
gruppen in die Identifizierung, Planung und die Erstellung der Weiterbildungsmaßnahme
in Form von Arbeitsgruppen oder Soundingboards. Dass die letztliche Umsetzung vom
Design und von der Durchführung her den Leitlinien einer altersgerechten Didaktik
(Sattelberger in Rump, 2006, S. 142) folgt, bedarf wiederum entsprechender Expert:innen.
Der Einsatz von erfahrenen Mitarbeitern als Trainer, Mentoren oder gar Coaches sollte
von Unternehmensseite durch eine sorgfältige Vorauswahl und eine sich daran an-
schließende, gründliche Ausbildung erfolgen. Die vorhandene Expertise und/oder Willens-
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 107

bekundung von Interessenten reicht hier selten, da oft ein falsches oder nur sehr un-
zureichendes Verständnis der Aufgaben und Rollen vorliegt. Entsprechende Überlegungen
zum internen Coaching in diesem Kontext finden sich bei Stenzel (2010). Wie sich gene-
rell die Kompetenzen und deren Entwicklung zukünftig verändern werden, entfaltet
Abschn. 5.4. Deren Konsequenzen für die Ausgestaltung der Laufbahn – oder besser
­Erwerbsbiografie – erörtert Abschn. 5.5. All dies wird jedoch nur mit der notwendigen
zeitlichen und ressourcentechnischen Nachhaltigkeit geschehen, wenn insbesondere die
Firmenleitung dies in der Unternehmens- und Führungskultur kontinuierlich fordert, för-
dert und wachhält.
Gleiches gilt selbstverständlich für die Gesundheitsprävention und -förderung in
den Betrieben. Obwohl körperlich sehr beanspruchende Arbeiten zukünftig im industriel-
len Bereich immer häufiger von cyber-physischen Systemen (z. B. kollaborative Roboter)
abgenommen bzw. durch digitale Assistenzsysteme (z. B. Augmented-Reality-Systeme
basierend auf Datenbrillen) unterstützt werden können, bedarf es angesichts der potenziell
verlängerten Lebensarbeitszeit vorbeugender und begleitender physischer und psychi-
scher Fitnessprogramme, um die Leistungsfähigkeit und damit Beschäftigungsfähigkeit
insbesondere für die sogenannten „leistungsgewandelten Mitarbeiter“ möglichst lange
zu erhalten. Mit dem Rückgang der körperlichen Belastung steigt für die Dirigenten und
Solisten der „cyber-physischen Orchester“ in der digitalisierten Fabrik 4.0 oder „Smart
Factory“ zum einen die oben angesprochene Lernbereitschaft, zum anderen steigen aber
auch die mentalen Belastungen in diesem Arbeitskontext. Zu der klassischen Ergonomie
in der eher körperbezogenen Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine ergeben sich
mit der sogenannten Ergonomie 4.026 ganz neue Forschungsbereiche, wie der des „Vir-
tual Aging“ (d. h. Simulationen zur Berücksichtigung von altersbedingten Leistungsver-
änderungen bei der virtuellen Gestaltung von Prozessen oder Produkten) sowie der „ko­
gnitiven Ergonomie“. Diese möchte herausfinden, wie sich das „informatorische Umfeld“
des Menschen so gestalten lässt, dass Menschen möglichst effektiv und effizient mit tech-
nischen Systemen kooperieren oder interagieren können. Ziel des recht neuen Themas ist
es, Gestaltungs- und Handlungsempfehlungen für einen humanzentrierten Einsatz und
Umgang mit der „smarten“ Technologie zu entwickeln.27 Dass dies alles noch recht junge
Forschungsgebiete sind, belegen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ge-
förderte explorative Verbundstudien wie z. B. „Digitalisierung und Psyche – Rahmen-
bedingungen für eine gesunde Arbeitswelt“ (Bretschneider et al., 2020).
Hinsichtlich der Arbeitszeitregelung existieren neben den schon bekannten Ge-
staltungsmöglichkeiten wie flexiblen Arbeitszeiten, Homeoffice (nur für spezielle Ziel-

26
https://refa.de/blog-industrial-engineering/414-arbeitsplatzgestaltung-4-0-der-mensch-im-um-
feld-der-produktion. Zugegriffen am 03.04.2021.
27
https://www.wissenschaftsjahr.de/2018/neues-aus-den-arbeitswelten/das-sagt-die-wissenschaft/
kognitive-ergonomie-mensch-technik-interaktion-besser-gestalten/ ) oder https://www.iml.fraunho-
fer.de/de/abteilungen/b1/intralogistik-und%2D%2Dit-planung/dienstleistungen0/kognitive_ergo-
nomie2.html. Zugegriffen am 05.04.2021.
108 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

gruppen) oder Teilzeit (für Frauen) Altersteilzeit (beim Berufsausstieg), klassische


Arbeitszeitkonten und die bis dato eher selten angebotenen und genutzten Sabbaticals (für
„die Sinnkrise ab 35+“) und zumindest als Idee arbeitgeberunabhängige, blockchainba-
sierte Lebensarbeitszeitkonten. Die in Klammern gesetzten Zusätze sollen dabei ver-
deutlichen, dass diese Lösungen bis dato von den Unternehmen bzw. Mitarbeitern sehr
zielgruppen- oder anlassbezogen, selten aber i. S. der von Rump vorgeschlagenen, lebens-
phasenbezogenen und ganzheitlichen Personalpolitik genutzt werden.
Die Arbeitsgestaltung bzw. -organisation kann einerseits auch in diesem Kontext auf
das bewährte Konzept der altersgerechten, interindividuellen und damit differenziellen
Arbeitsgestaltung zurückgreifen. Die ermöglicht allen Beschäftigten das gleichzeitige
Angebot alternativer Arbeitsstrukturen, zwischen denen die Mitarbeiter im Rahmen ihrer
aktuellen Kompetenzprofile wählen können. Eine entsprechende Beratung mit der
Führungskraft und/oder der Personalabteilung sollte vermeiden helfen, dass der Mit-
arbeiter durch das Verbleiben in der Komfortzone in eine fachliche Spezialisierungsfalle
gerät oder durch eine Kaminkarriere im Falle von Umstrukturierungen für andere
­Unternehmensbereiche uninteressant wird. Ein zukünftiger Indikator qualitativ hoch-
wertiger Personalarbeit von der FK- und HR-Seite für Mitarbeitergespräche wäre daher
die richtige Balance zwischen Stabilität bzw. Kontinuität und Veränderung bzw. Neuaus-
richtung hinsichtlich deren beruflicher Entwicklung.
Projektarbeit in altersgemischten Teams (Bruch et al., 2010) mit hohem Selbstständig-
keitsgrad wiederum bietet nach Bruch et al. (2010, S. 143) allen Beteiligten eine Vielzahl
von Vorteilen infolge der kognitiven Diversität (z. B. Vermeidung von Gruppendenken,
Steigerung der Kreativität und Innovationsfähigkeit, hohes Kundenverständnis, Wissens-
transfer, wechselseitige Lern- und Motivationsanstöße), aber eben auch Risiken durch die
sozialpsychologischen bzw. gruppendynamischen Prozesse der Anziehung oder Identität
(z. B. Kommunikations- und Koordinationsprobleme, Gruppenkonflikte durch Vorurteile,
Stereotypisierung, Misstrauen und Missverständnisse, individuelle Unzufriedenheit,
hoher Zeitaufwand und Produktivitätsverluste). Zur Minimierung der Risiken empfehlen
Bruch et al. (2010, S. 157) einen dreiphasigen Teamentwicklungsansatz. Besonderes
Augenmerk gilt in Phase 1 der Vermeidung von Subgruppenbildungen mittels sogenannter
Faultlines, zu deutsch „Spannungs- oder Verwerfungslinien“. Das heißt konkret, die Paa-
rung von einem 60-jährigen Ingenieur mit einem 30-jährigen Marketingexperten und vice
versa gegenüber der Dyade von zwei Ingenieuren von 60 Jahren mit zwei 30-jährigen
Marketingexperten vorzuziehen. Den Umgang mit potenziellen Konflikten bzgl. der Be-
ziehungen, Aufgaben und Prozesse sehen Bruch et al. (2010, S. 176) eher als Querschnitts-
aufgabe über alle Phasen. Ferner bedarf es einer klaren Zielsetzung sowie einer eher kom-
plexen Aufgabenstellung, damit die Vorteile der Heterogenität auch wirken können.
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 109

3.1.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Das Thema „Alter“ ist in der Coaching-Szene angekommen! Mit den Suchbegriffen „Coa-
ching für Senioren“ erhält man bereits, wenn man die Suche auf Deutschland beschränkt,
zahlreiche Angebote von Coaches, die sich auf dieses Thema bzw. die entsprechende Ziel-
gruppe spezialisiert haben. Und das macht unternehmensstrategisch u. U. Sinn, denn die
demografische Bugwelle der Babyboomer rollt nicht nur in Deutschland28 bis Ende 2030
mit aller Macht an. So werden bereits bis 2022 in einer ersten Welle ca. 2 Millionen der
Babyboomer in den Ruhestand gehen. Mit der sich danach auftürmenden Hauptwelle wird
dann zum Ende des Jahrzehnts zu beobachten sein, wie über ca. 11 Millionen aus dem
Arbeitsleben geschwemmt werden. Nur etwa 7,5 Millionen junge Menschen werden da-
gegen den Arbeitsmarkt neu betreten. Rein zahlenmäßig betrachtet, verlieren die (in wach-
sender Anzahl auf den Markt drängenden) Coaches damit mehr potenzielle unternehmens-
finanzierte Altkunden (oft mit Festanstellung und langer Betriebszugehörigkeit), als dass
sie Neukunden (immer häufiger auch mit befristetem Vertrag und kürzeren Betriebszuge-
hörigkeiten) gewinnen könnten. Die Folgen für die Szene sind (auch aufgrund fehlender
Daten zu der Coach-Community) nur schwer zu prognostizieren. Vorauszusehen ist je-
doch, dass die Coaches ihre zahlungskräftigen Kunden im (Top-)Management der Unter-
nehmen – falls sie diese nicht sogar selbst in den Ruhestand begleiten – über kurz oder
lang verlieren werden – oder eben auch nicht.
So böten sich in einer Neuausrichtung des Service-Portfolios drei verschiedene Pro-
zesse an, um den Klienten auch weiterhin begleiten oder auch neue Klienten gewinnen zu
können. Eine bis dato noch eher selten anzutreffende Variante würde sich dadurch er-
geben, dass sich der noch seinen Beruf ausübende Klient der in einem vorhergehenden
Abschnitt beschriebenen „Kultur des Frühausstiegs“ nicht anpasst und in einer Art (1)
„betrieblichem Unruhestand“ bis zum regulären Alter von 67 durcharbeitet. Um diese
letzten Berufsjahre für alle Seiten so konstruktiv und produktiv wie möglich zu gestalten,
könnte eine speziell zugeschnittene Coaching-Begleitung von älteren Führungskräften
(Borck, 2015) für Unternehmen ein interessantes Angebot sein. Varianten (2) des „echten
Unruhestandes“ nach dem Austritt aus dem eigentlichen Erwerbsleben bestünden ent-
weder darin, dann (2a) als Privatperson parallel einer kleinen Nebenbeschäftigung nach-
zugehen oder aber durch den radikalen Neuanfang einer (2b) Unternehmensgründung
(Beumer, 2019) nochmals völlig neu „durchzustarten“. Zu guter Letzt sei auch die Be-
gleitung des Klienten in und während des (3) „klassischen Ruhestandes“ erwähnt
(Schmitt, 2018), bei der er sich nun ohne jeden äußeren Zwang den neu gewonnenen Frei-
heiten hingeben bzw. seinen Alltag frei gestalten kann (und muss).

28
http://www.ilo.org/global/topics/future-of-work/trends/WCMS_545604/lang%2D%2Den/index.
htm. Zugegriffen am 02.09.2020.
110 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

Der „betriebliche Unruhestand“ als „geplanter, guter Abschluss“


Um den Ausstieg aus dem Berufsleben vor dem 60sten Lebensjahr zu verhindern und
somit dem strukturellen Wandel der Alterspyramide in den Betrieben entgegenzuwirken
bzw. um auf der Seite des Angestellten „den Wert der sehr lange ausgeführten (Führungs-)
Arbeit“ wieder zu erleben, kann nach Borck (2015) das Coaching erfahrener, älterer Fach-
und Führungskräfte unterstützend wirken. Dabei liegen die „Verkaufsargumente“ in Rich-
tung des Unternehmens für ein zielgruppenspezifisches Coaching auf der Hand. Neben
dem mehrfach genannten Demografieproblem in den Unternehmen ist es nach Borck
(2015, S. 252) die der Charakter bzw. die Orientierung des Coachings als eine auf die Zu-
kunft und damit auf Innovation ausgerichtete Methode selbst. Zweitens die erneute Öff-
nung für die mit den Neuerungen verbundenen, betrieblichen und/oder persönlichen Än-
derungen bzw. den Abbau von Widerständen. Drittens deren Gewinnung für ein
Mentoren- oder Patenprogramm zur weiteren Nutzung – insbesondere aber der Weitergabe
deren umfangreichen Erfahrungssschatzes. Je nach Größe und altersmäßiger Personal-
struktur des Unternehmens könnte nach Ansicht des Autors daher der Aufbau eines Pools
an externen, vor allem aber internen Coaches (nicht nur) für diese Kohorte betriebs-
wirtschaftlich Sinn machen. Wird der Aufbau von Rapport durch Ähnlichkeiten zum Coa-
chee erleichtert, wäre sogar zu überlegen, ob man nicht sorgfältig ausgewählte Vertreter
aus dieser Zielgruppe für eine Coaching-Ausbildung gewinnen kann. Eine sorgfältige
Auswahl nach persönlicher Eignung vor dem Anwerben für ein solches Programm wäre
dabei insofern wichtig, um den Eindruck des berühmt-berüchtigten „Elefantenfriedhofs“
im Kontext solcher Initiativen tunlichst zu vermeiden (Stenzel, 2010). Um den eigentlich
von der Zielgruppe anvisierten Ruhestand in einen wieder passionsbasierten Unruhestand
zu transformieren, bedarf es nach Borck (2015, S. 255) jedoch der Bearbeitung spezieller
Themen. Aus den zwölf von ihm genannten Themen (Motivationsverlust, Wahrnehmung
langjähriger Mitarbeiter, Reflexionen über eingeschliffene Führungsphilosophie, ver-
änderte Führungsstile, lebenslanges Lernen, Organisationsveränderungen, Arbeitszeit
und -inhaltsgestaltung bei zunehmendem Lebensalter, Erfahrungsweitergabe etc.) sollen
auch nur die vier auch von Borck stärker ausgeführten Gegenstandsbereiche (a. Routine-
faktoren, b. Mitarbeiterwahrnehmung und -motivation, c. Karriereplateau, d. Ende des
Berufslebens) skizziert werden. Ferner werden diese auch an verschiedenen Stellen dieses
Buches eingehender dargestellt.

(a.) Routinefaktoren (Borck, 2015, S. 256): Ist es zum einen ein Zeichen von Professio-
nalität, etwas ohne großes Nachdenken „blind“, d. h. routiniert beherrschen zu kön-
nen, bergen zum anderen diese Komfortzonen die Gefahr, in diesen Routinen zu er-
sticken. Langeweile(-stress), Monotonie, Energie- und Lustlosigkeit, Unzufriedenheit
können die Folgen einer zu langen Verweildauer in diesen Automatismen sein. Wie so
oft im Leben gilt es daher, das Gefühl der Neugier und den Zustand kreativer Unruhe
oder Spannung der frühen Jahre erneut wachzurufen bzw. die Leidenschaft des „An-
fängergeistes“ für ein Thema mit der Erfahrung der Jahre zu vereinen. Der zuweilen
vorgeschobene Zeitmangel, etwas Neues zu beginnen, kann mit der Analogie der
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 111

produktivitätssteigernden Wirkung der geschärften Säge (z. B. durch neue Kompe-


tenzen, Sicht- und Herangehensweisen) relativiert werden, die dynamische Balance
zwischen Komfort- und Lern- bzw. Wachstumszone kann als Zielbild in einem sol-
chen Coaching-Prozess dienen.
(b.) Mitarbeiterwahrnehmung und -motivation (Borck, 2015, S. 257): Wurden über
lange Jahre Mitarbeiter i. S. der Selbstähnlichkeit von der Führungskraft ausgewählt
und in den Folgejahren entsprechend sozialisiert, führt dies nicht selten zu sehr homo-
genen Teams, in denen man sich folglich gut kennt, vertraut oder sogar schätzt. Man
weiß um die eigenen Stärken, Schwächen und Zuständigkeiten, wie auch die der Kol-
leg:innen. Doch diese Homogenität hat neben der sich dadurch bestenfalls ergebenden
hohen Effizienz und Effektivität auch ihren Preis: Das wie ein Uhrwerk funktionie-
rende Team kann nur noch Standards hervorbringen bzw. kann auf äußere Ver-
änderungen nicht adäquat oder schnell genug reagieren. Durch ein Coaching an-
gestoßene Reflexionen der gesamten Personalarbeit der Führungskraft sowie die
Einstellung und der Schutz (vor übermäßiger Sozialisation) eines neuen, ggf. auch
sehr viel jüngeren Mitarbeiters können dabei helfen, erstarrte Teamprozesse und -ri-
tuale aufzubrechen und damit Neuem den Wege zu bahnen. Auch eine Begleitung der
Mitarbeiter der Führungskraft durch ein entsprechendes Team-Coaching kann
­helfen, die übergroße Harmonie in einem positiven Sinne zu stören bzw. erneut zu
dynamisieren.
(c.) Karriereplateau (Borck, 2015, S. 258): Auch noch heute sind die überwiegend eher
pyramidalen Strukturen von Unternehmen, deren fehlende alternative (z. B. Exper-
ten-)Karrieremodelle wie auch die traditionelle Vorstellung von Mitarbeitern, wann
man „Karriere“ gemacht hat, Gründe dafür, warum die sogenannte „Glasdecke“ (=
Stagnation bei den beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten) ab einem gewissen Alter zu
Frustrationen oder gar Resignation bei Teilen der Belegschaft führt. Verlassen sie
trotz dieser Gegebenheiten nicht das Unternehmen, könnte ein Coaching durch die
Erkundung bislang nur ungesehener Perspektiven oder zum Ausloten wirklich neuer
(z. B. strukturell horizontaler bzw. lateraler) Gestaltungsspielräume und Handlungs-
ansätze auch im Privaten das Kränkungspotenzial solcher Karriereplateaus zumindest
abmildern. So wäre mit Möller und Volkmer (2005) mit dem Klienten zu explorieren,
inwieweit die größere Komplexität und eine Mehrdimensionalität des Selbstkonzeptes
das Ausbleiben des Ereignisses „Beförderung“ mit bis dato weniger gelebten Selbst-
aspekten (wie z. B. Sinn, Gesundheit, Hedonismus, Religiösität etc.), alternativen
Rollen (z. B. Vater und Großvater, Ehemann, Vereinsvorsitzender, Mentor, Coach
etc.) oder Vorlieben (z. B. bestimmte Hobbys, Sport etc.) emotional kompensieren
und (zukünftig) als persönliche Bereicherung erlebt werden könnten, ohne jedoch das
bisherige Streben abzuwerten. Um parallel auch diesen beruflichen Bereich in den
verbleibenden letzten Jahren so anregend und gewinnbringend wie möglich für alle
Beteiligten zu gestalten, könnten der Coach als ggf. arbeitspsychologischer Experte
und der Coachee als Kenner aller Facetten der Tätigkeit und des jeweiligen Unter-
nehmens sich gemeinsam auf die Suche nach als motivierend und als bedeutsam emp-
112 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

fundenen Arbeitsstellen und -inhalten in Kombination mit einer entsprechenden


Arbeitszeit- und -platzgestaltung begeben. Bei der Verortung einer neuen ­Arbeitsstelle
vor allem lateral Ausschau zu halten, erhöht wahrscheinlich die Chance, auch fündig
zu werden. Insbesondere in diesem Kontext kommen die Vorteile interner Coaches
zum Tragen. Zusammengenommen gelingt es derart womöglich, das mit Karriere-
plateaus für die meisten Betroffenen verbundene Kränkungspotenzial zumindest zu
reduzieren und den „betrieblichen Unruhestand“ noch als sinnvoll zu erleben.
(d.) Ende des Berufslebens (Borck, 2015, S. 260): Um es wie oben skizziert die letzten
Jahre eben nicht einfach mit einem „Dienst nach Vorschrift“ auslaufen zu lassen,
empfiehlt Borck, gemeinsam mit dem Coachee folgende Frage zu thematisieren:
„Was würde ich gerne vorfinden, wenn ich mein eigener Nachfolger wäre?“ (Borck,
2015, S. 261). Die Herausarbeitung der kognitiven und emotionalen Aspekte dieser
sehr konstruktiven Haltung sowie der damit verbundenen Tätigkeiten hilft dem Klien-
ten, einen guten Abschluss zu finden und in guter Erinnerung bzw. vielleicht sogar in
Kontakt mit dem Nachfolger und anderen Kolleg:innen zu bleiben. Gelingt eine der-
artige „saubere Übergabe“, schmerzt es den Coachee womöglich auch weniger, zu
sehen, dass „die/der Neue“ letztlich eben „ihr/sein Ding“ macht bzw. eigene und eben
auch neue Wege geht.

Um diesen sehr speziellen Anforderungen und Themenstellungen gerecht zu werden,


schlägt Borck (2015, S. 262) vor, maßgeschneiderte Coaching-Konzepte, -Anreize
und -Angebote zu entwickeln.

Der „echte Unruhestand“ als Neuanfang


Im Unterschied zum „betrieblichen Unruhestand“ beschreibt der „echte Unruhestand“
Existenzgründungen in der zweiten Lebenshälfte, d. h. jenseits der 50. Wie jedoch schon
der Untertitel des Artikels von Ullrich Beumer (2019) nahelegt, kann es dabei – ähnlich
wie durch die narzisstischen Kränkungspotenziale von Karriereplateaus – auch um Pro-
zesse der (1) Selbstheilung, (2) Angstabwehr und (3) Innovation gehen. Beumer sieht
diese drei Funktionen als grundlegende Reaktionsweisen, emotionale Zustände bzw. kom-
plexe Motivbündel, die mit der Entscheidung der Existenzgründung reaktiv verknüpft und
meist Folgen temporärer (gesundheitlicher) Bedrohungen oder gar Beeinträchtigungen im
physischen und/oder psychischen Bereich sind. Parallel zu den Motivkomplexen der
Existenzgründung skizziert Beumer durch die Beschreibung von deren präferierten
Arbeitsplätzen drei Prototypen der „späten Entrepreneure“.

Im Fall der (1) „Existenzgründung als Selbstheilung“ (Beumer, 2019, S. 9) hofft der
Coachee, mittels der Existenzgründung die schmerzlichen und beängstigenden Er-
fahrungen unter Kontrolle zu bringen. Der an sich sehr mutige Schritt in die Zukunft ist
mithin oft auch ein Schritt in die Vergangenheit, um die dort unerledigten Aufgaben, Kon-
flikte oder gar Traumata zu bewältigen oder einfach nur unerfüllte Wünsche bzw. „Kind-
heitsträume“ zu erfüllen (Beumer, 2019, S 11). Dabei kann der Erosionsprozess der
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 113

(Über-)Identifikation mit dem Unternehmen schleichend (z. B. durch den einfachen Aus-
schluss von E-Mail-Verteilern oder eine wachsende Marginalisierung der Rolle) oder aber
sehr massiv sein (z. B. durch den expliziten Ausschluss von wichtigen und potenziell
prestigeträchtigen Projekten). Schwindendes Vertrauen in die früheren Kollegen und die
Organisation als Ganzes, zunehmender Motivationsverlust und zuweilen aufflammender
Ärger oder sogar Aggressionen sind die Folge und Indikatoren des dadurch einsetzenden
Entfremdungsprozesses. In diesem Kontext erfüllt die Existenzgründung eine reparative
Funktion. Eher introvertiert, verletzlich und unsicher sucht der reparative Existenz-
gründertyp nach Beumer (2019, S. 16) nach einer längeren Phase der Erholung und De-
kontamination im Coach (oder Mentor) den Vater bzw. Halt, Stabilität und Bestätigung.
Das Coaching selbst sollte daher auch eher eine Mischung mit Beratungs- und Trainings-
elementen vorsehen und evtl. vorhandene Beziehungsressourcen mit einbeziehen und da-
durch den Coachee eng begleiten. Als Introvertierter vermeidet dieser Typus zu viel Kon-
takt bzw. verbindliche, personelle Abhängigkeiten und arbeitet lieber allein aus einer Art
Homeoffice heraus.
Eine protektive Funktion dagegen erfüllt die Existenzgründung als Angstabwehr.
Die Ängste konkretisierend, nennt Beumer (2019, S. 12) die Verlustangst hinsichtlich
einer geregelten Tätigkeit und des daran gekoppelten Einkommens, den Verlust der zeit-
lichen und räumlichen Strukturierung des Arbeitsalltags sowie die vollständige psycho-
soziale Desintegration aus einem Team- oder Gruppenverband und den vermeintlich damit
verbundenen sozialen Abstieg sowie die massive Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls.
Zusätzlich mit dem Verlassen des Unternehmens bzw. dem Eintritt in das letzte Lebens-
drittel verbinden sich fast schon zwangsläufig auch erste Gedanken an das Alter, die eigene
Endlichkeit bzw. den Tod. Ferner lassen entsprechende Beobachtungen im Umfeld
(z. B. versterbende oder schwerer erkrankende Angehörige, Freunde oder Kollegen) des
Coachees diese Phänomene immer konkreter werden. Eine Sichtweise der Gründung als
das „eigene Baby“ verleiht neue Energie, reaktiviert kreative Potenziale und die Hoffnung,
dass noch nicht alles vorbei ist. So schafft sich der protektive Existenzgründertyp nach
Beumer (2019, S. 16) eine institutionalisierte Form der Angstabwehr, bei der gleichzeitig
das Gefühl von Größe, Selbstständigkeit und Machertum (re-)aktiviert werden kann. In
ihrer eher extrovertierten Art schwingt jedoch immer eine etwas bemühte Selbstsicherheit
mit. Gezieltes Engagement mit Hyperaktivität gleichsetzend, hält er inhaltliche Vor-
bereitung, systematische Planung, eine Weiterbildung durch Seminare und eben auch
Coaching für nicht erforderlich. Hinsichtlich des Arbeitsortes schwankt nach Beumer
(2019, S. 17) dieser Typus je nach defensiver oder offensiver Variante des Typus zwischen
„Küchentisch-Büro“ und repräsentativem City-Büro.
Letzte Phänomenbeschreibung des Aufbruchs und der Zuversicht könnte man auch als
Grundtenor der Existenzgründung als biografische Neuerung sehen. Sie betont nach
Beumer (2019, S. 13) die innovative Funktion von Start-ups. Als ein zuweilen lang er-
sehnter Wunsch und von langer Hand vorbereitetes Projekt ist sie weniger Reaktion auf
durch die Umwelt erlebte Verletzungen, sondern atmet den Geist der Freiberuflichkeit – ist
durchdrungen von der Aus- und Aufbruchstimmung von Pionieren. Dominierte bei der
114 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

zuvor beschriebenen protektiven Funktion das „weg von“, überwiegt hier das „hin zu“.
Nach Jahren der „geistigen Schwangerschaft“, einem durchdachten Businessplan und
nicht ohne eine gewisse Risikobereitschaft will der Coachee die für ihn noch „offenen Ge-
stalten“ nun endlich schließen und sich endgültig aus alten Mustern herauslösen. Mit die-
ser im Kern auch biografischen Innovation ist er Beumer (2019, S. 17) zufolge der Ideal-
typus des Entrepreneurs. Der innovative Existenzgründungstyp unterscheidet sich von
den anderen Unternehmensgründern durch individuelle Stärken wie Optimismus, Risiko-
freudigkeit, Ambitioniertheit sowie ein stabiles Selbstbewusstsein. Zugleich ist er mit
­seiner gemäßigten Extraversion sozial solide in familäre und soziale Netzwerke ein-
gebunden. Hinsichtlich der Wahl und Ausgestaltung seines „Unternehmensstandortes“
wie auch bei der Geschwindigkeit und dem Aufbau einer Mitarbeiterschaft bzw. der etwai-
gen Kooperation mit Netzwerkpartnern dominieren unternehmerische Überlegungen. Alle
zielführenden Lern- und Fortbildungsangebote – so auch Coaching – finden sein großes
Interesse. Eine Garantie, dass die Unternehmensgründung ein Erfolg wird, sind selbst
diese sehr verheißungsvollen Voraussetzungen natürlich nicht.
Beumer (2019, S. 15) konstatiert, dass fast alle bestehenden Phasenmodelle zur
Existenzgründung sich auf Rahmendaten der letztlichen Entscheidung für ein Start-up bis
zur gesicherten Selbstständigkeit des Gründungsobjektes beziehen. Sein Ansatz, „die
psychosoziale Ebene der Entstehung und biografischen Einbettung der Existenzgründung
in die persönliche und berufliche Geschichte des Existenzgründers“ (Beumer, 2019, S. 15)
zu integrieren, ist daher als Novum und wertvolle Bereicherung anzusehen. Verortet Beu-
mer ein Manko hinsichtlich entsprechender, maßgeschneiderter Hilfsangebote seitens öf-
fentlicher (z. B. Arbeitsagenturen, IHK etc.) und privater (z. B. Outplacementberater, Ban-
ken etc.) Institutionen (Beumer, 2019, S. 18), sollten Coaches seiner Meinung nach mit
der Weiterentwicklung seiner Idee von Gruppen-Coaching (nicht zu verwechseln mit
Team-Coaching!) für Existenzgründer begegnen. Mit seinem Gedanken von der Schaf-
fung von „Experimentierräumen für neue Identitäten“ (Beumer, 2019, S. 19) weist er ein-
deutig in die Richtung neuer Formate und Betätigungsfelder von Coaches in der Zukunft.
Allerdings wäre es im Sinne eines Selbstversuches sicher auch für jeden Existenzgründer
im Coachingfeld interessant, hinter die eigenen Motivstrukturen zu schauen. Insbesondere
wenn sie von reparativen oder protektiven Dynamiken getrieben sind, denn von wem wür-
den Sie, lieber Leser, am liebsten beraten oder gar gecoacht werden?
Eine weniger tiefgreifende und weniger radikale Variante der beruflichen Aktivität ins-
besondere für die Babyboomer-Generation bietet in Deutschland seit 2017 die vom ehe-
maligen Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft und Wissenschaft des Saarlandes
(2004–2009) Dr. Christian Ege ins Leben gerufene Genossenschaft „Generation Ü“. Ziel
der als Netzwerk für soziales Unternehmertum29 gegründeten Organisation ist es, den
durch den demografischen Wandel hervorgerufenen Fachkräftemangel mit fachkundigen,
motivierten „Üs“ zu schließen. Bei den „Üs“ handelt es sich um (Vor-)Ruheständler aus
den unterschiedlichsten Branchen und Hierarchieebenen, welche aufgrund ihres im

29
https://www.generation-ue.de. Zugegriffen am 05.09.2020.
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 115

Berufsleben erworbenen Fachwissens, ihrer Berufs- und Lebenserfahrung auch weiterhin


Unternehmen oder aber Privathaushalte und Gemeinwesen aktiv unterstützen wollen. Die
Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit organisiert bundesweit Angebote für den individuellen
und gesellschaftlichen Bedarf zum Wohle und Nutzen der Mitglieder und der Gesellschaft
statt zur Maximierung von Profiten.30 Klaffen daher Lücken im Fachkräftebereich, wenn
Ehrenämter an Grenzen stoßen und öffentliche Leistungen nicht mehr zur Verfügung ste-
hen, bietet „Generation Ü“ zeitnah passende Lösungen. Coaches könnten von derartigen
Organisationen als Kunde (z. B. Bürokräfte, Interviewer etc.) profitieren oder sie mit An-
geboten (Coaching der „Üs“) unterstützen.

Der Ruhestand als besinnliche Rückschau und Reife für achtsame Momente
Ist die romantisch-verklärte Sichtweise des Ruhestands die einer Phase der besinnlichen
Rückschau, stellt er nach Antje Schmitt (2018) für nicht wenige (Früh-)Rentner nach einer
ersten „Honeymoon“-Phase einen herausfordernden Transformationsprozess in einem
neuen Lebensabschnitt dar. Infolge einer bislang fehlenden einheitlichen Konzeption und
damit auch Operationalisierungsmöglichkeiten für den Begriff des Ruhestandes wird nach
Schmitt (2018, S. 338) jedoch weder die grundlagenorientierte noch die anwendungsbe-
zogene Forschung hilfreiche Antworten für die Herausforderungen der kommenden Baby-
boomerwelle bereitstellen können. Einig ist man sich offensichtlich bislang nur darin, dass
die Antworten auf eine Maximierung der Entwicklungsgewinne (z. B. Erhalt der Fertig-
keiten und des persönlichen Wohlbefindens – aber auch der finanziellen Absicherung etc.)
und eine Minimierung der funktionalen mentalen und körperlichen Einschränkungen (z. B
der fluiden Intelligenz bzw. der Muskulatur und des Herz-Kreislauf-Systems) abzielen
sollen. Wie so oft ist jedoch die individuelle Wahrnehmung der Bilanz zwischen beiden
Anteilen entscheidender für das letztliche Wohlbefinden als die Faktenlage (Schmitt,
2018, S. 339). Wie diese Bilanz jedoch ausfällt, wird auch maßgeblich von den real vor-
handenen Ressourcen des Coachees mitbestimmt. Dazu zählen nach Schmitt (2018,
S. 342) interne (z. B. emotionale, kognitive, motivationale, soziale und finanzielle) und
externe Ressourcen (z. B. soziale Unterstützung in und außerhalb der Familie, gesellschaft-
liche Altersstereotype, Lebensqualität des Wohnortes etc.). Wie stark diese Ressourcen
wirken, wird wiederum von Persönlichkeitsfaktoren (z. B. Geschlecht, Familienstand,
Bildungsniveau) und Kontextfaktoren (z. B. staatliche Sicherungs- und Steuersysteme,
Gesetzgebung etc.) determiniert. Obwohl prinzipiell gerade für Coaches nicht neu, könnte
ein sehr viel breiter verstandener ressourcenbasiert-dynamischer Coaching-Ansatz
(Schmitt, 2018, S. 344) in diesem Kontext als zielführender angesehen werden.

Die soeben genannten externen bzw. sozialen Ressourcen machen wie das Heraus-
geberwerk von Friedrich-Hett, Artner & Ernst „Systemisches Arbeiten mit älteren Men-
schen“ (Friedrich-Hett et al., 2014) sinnigerweise darauf aufmerksam, dass das Altern sich
immer als, mit und im System vollzieht. Systemische Coaching-Ansätze finden daher ein

30
https://www.generation-ue.de/philosophie/. Zugegriffen am 05.09.2020.
116 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

neues Anwendungsfeld, und dies nicht ausschließlich für die Coachees bzw. Betroffenen
selbst. Denn nicht nur im Falle von altersbedingten Demenzerkrankungen werden auch
die Angehörigen zu einer potenziell wichtigen Zielgruppe von Coaches.31 So könnten
paar- und familienorientierte Coaching-Ansätze zukünftig eine sinnvolle Erweiterung
der Angebotsportfolios von Coaches werden und die heutige Zentrierung auf das Indivi-
duum überwinden. Inwieweit Coaches in dieser langjährigen Domäne von Psycho-
therapeuten ein inhaltlich wie methodisch profundes Angebot machen können, wird dabei
den professionellen und ethischen Maßstäben jedes Einzelnen überlassen bleiben.
Einen integrativen bzw. stark eklektischen Ansatz (z. B. aus der TZI, NLP und systemi-
schen Beratung) speziell für die „nachberufliche und nachfamiläre Lebenszeit“ haben Ul-
rich und Adelheid Schramm-Meindl (Meindl & Schramm-Meindl, 2007, S. 132) mit
ihrem sogenannten „Empowerment-Coaching“© entwickelt. Ziel dieses Ansatzes ist es,
die Personen in dieser Lebensphase zu ermutigen, „[…] ihre Identität neu zu justieren, um
damit den Herausforderungen des Älterwerdens so zu begegnen, dass Lebensfreude und
Lebensgenuss nicht auf der Strecke bleiben“ (Meindl & Schramm-Meindl, 2007, S. 134).
In einem Ausblick für die Erfordernisse erfolgreichen Alterns sieht das Autorengespann
Schramm-Meindl (2007, S. 152) die (1) Akzeptanz der nachberuflichen und nachfamilä-
ren Lebensphase, (2) die Begegnung mit dem eigenen Selbst zu suchen und zu bestehen,
(3) die eigenen Kräfte strategisch nutzen zu können und (4) mit den hinzugewonnenen
Kräften auch im gesellschaftlichen System zu wirken.
Mit dem Leitspruch „Back to the roots“ könnten vielleicht auch wieder Coachings ba-
sierend auf der humanistischen Psychologie mit ihren Ursprüngen in der Gestalttherapie
(Fritz Perls), der Gesprächspsychotherapie bzw. klientenzentrierten Psychotherapie (Carl
Rogers), des Psychodramas (Iacov Moreno) sowie der Logotherapie bzw. Existenzanalyse
(Viktor Frankl) stärker in das Interesse der Coach-Community rücken. Mit ihrem ge-
meinsamen Menschenbild bzw. therapeutischen Arbeitsprinzipien der Ganzheit, Auto-
nomie und sozialen Interdependenz, Selbstverwirklichung sowie Ziel- und Sinnorientierung
humanistischer Psychologie setzten sie als ,,dritte Kraft“ (neben der Psychoanalyse) in der
Psychologie ein klares Gegengewicht zum Behaviorismus, der als Vorreiter der Kognitions-
wissenschaften und damit als eine Wurzel der künstlichen Intelligenz gesehen werden
kann. In einer Zukunft, die sehr wahrscheinlich von Big-Data-­getriebener Effizienz und
Effektivität, von mehr oder minder abstrakten „Digital Humans“ bzw. generell durch abs-
trakte, digitale Technologien bestimmt wird, könnte die vormals „dritte Kraft“ mit ihrem
Menschenbild zu einem der bevorzugten „Kraftquelle des Humanen“ werden.
Selbiges gilt womöglich auch für die Philosophie als die älteste Humanwissenschaft
neben der Medizin. Haben die großen Geister dieser Fakultät (z. B. Platon, Aristoteles,
Cicero, Seneca, Montaigne etc.) schon immer über das (gute Leben im) Alter (Rentsch &
Vollmann, 2017) sinniert, könnten sie im Zuge der potenziell bevorstehenden „Ent-­
Menschlichung“ unserer Lebenswelt eine Renaissance im Rahmen eines stärker philo-

Angehörigen-Coaching https://blog.angehoerigencoaching.de/angehoerigenverantwortung-und-­
31

angehoerigenorientierung/. Zugegriffen am 06.09.2020.


3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 117

sophiebasierten Coachings erleben. Die Perspektive Altern zur Kunst zu erheben, könnte
hier eine „neue, alte“ Qualität einbringen (Höffe, 2019). Dass uralte Grundfragen der (So-
zial-)Ethik (als Teilaspekt der Philosophie) im Rahmen der Debatte, wie, wann und was
künstliche Intelligenz alles darf, bereits heute eine Wiederbelebung erfahren, ist dabei
unübersehbar. Dazu mehr in Kap. 6. Wie Philosophie schon heute erfolgreich als Lebens-
hilfe kommerzialisiert werden kann, zeigt das vor 10 Jahren in London von dem Philo-
sophen und Bestsellerautor Alain de Botton gegründete internationale Bildungsinstitut
„School of Life“.32 Gleich was akademische Philosophen davon halten mögen, zeigt der
Erfolg des Unternehmens, dass es einen Bedarf nach überdauernden Wahrheiten in einer
schnelllebigen VUCA-Welt gibt.

Finanzielle Ressourcen als Determinante zukünftiger Coaching-Services: Wer kann


was (zukünftig) noch bezahlen?
Wurde für das erfolgreiche Altern oben bereits die Notwendigkeit auch finanzieller Res-
sourcen thematisiert, trifft dies natürlich auch auf die Bezahlung für Coaching-Services zu.
So werden sich die Coaches von morgen auf der Suche nach zahlungswilligen und -fähigen
Klienten zwischen der wehmütigen Nostalgie unternehmensfinanzierter (Langzeit-)Coa-
chings für einen relativ großen und stabilen Pool festangestellter Führungskräfte (als Teil
eines relativ großen Anteils von erwerbstätigen Babyboomern) und der harten Realität von
„On demand“- oder „To go“-Coachings von in einem harten Wettbewerb stehenden, platt-
formbasierten Anbietern wiederfinden. Zudem gehören die Kunden für das „Business-­
Coaching für zwischendurch“ zu einem immer stärker schwindenden Anteil der Erwerbs-
bevölkerung, welche darüber hinaus zu einem wachsenden Anteil auch nur Zeitverträge
erhält. So werden die Unternehmen die „dicken Coaching-Pakete“ nur noch an die wenigen
Schlüsselpersonen vergeben, bei denen sich der „Return on Investment“ dann auch wirklich
messbar zeigen kann und muss.

Die anderen externen Coaches werden sich in größeren Unternehmen der wachsenden
Konkurrenz von immer populärer werdenden, internen Coach-Pools gegenübersehen.
„Coaching als Kurzzeitmaßnahme“ könnte daher eine ganz neue Bedeutung bekommen
und Business-Coaches werden noch stärker spüren, dass ihre ehemalige „Mission für die
Menschlichkeit in den Betrieben“ nun zu einem „echten“ Business werden muss. Arbeiten
sie für eine oder mehrere Plattformen, wird auf sie – wie auf die Verlage und freien Händler
bei Amazon – dieser wirtschaftliche Druck in der einen oder anderen Form weitergeleitet.
Fokussieren sich die Coaches (oder die Plattformbetreiber) weiterhin eher auf das
Business-­Coaching, wird deren Kundenbasis in den nächsten 10–20 Jahren zumindest
nicht größer. Bei den Privatzahlern außerhalb der Unternehmen gibt es im gleichen Zeit-
raum zum einen die (früh-)verrenteten Babyboomer oder aber die in der Mitte ihrer beruf-
lichen Laufbahn stehende Generation X, Y bzw. in den nächsten 5–10 Jahren die Berufs-
starter der Generation Z. Im Falle von wohlsituierten Senioren bzw. Rentnern der

32
https://www.theschooloflife.com/berlin/ueber-uns/ueber-uns-3/. Zugegriffen am 07.09.2020.
118 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

Babyboomer-Generation (1946–1964), welche als letzte Erbgeneration im Idealfall auch


bereits von ihren Eltern schon eine solide finanzielle Basis mitbekommen haben und Coa-
ching (im Unternehmenskontext) kennen und schätzen gelernt haben, sind bei ent-
sprechend maßgeschneiderten Angeboten (s. o.) und Preisen noch am ehesten interessante
Gewinnspannen zu erwarten. Die spannende Frage wird jedoch sein, ob diese sich nicht
lieber einen Golf-Coach zur Verbesserung des Handicaps als einen Coach zur Reflexion
ihres doch erwiesenermaßen erfolgreichen Lebens suchen. Falls sich diese doch wahr-
scheinlich eher kleine Zielgruppe einen Coach leistet, wird dieser wohl eher als Beleg für
die eigene Finanzkraft gesehen. Wie schon seit Langem im angelsächsischen Bereich üb-
lich, hat „man“ eben sein Haus, seinen SUV, sein Pferd und eben seinen Psychiater,
­Fitness-Trainer bzw. Personal Coach oder aber eben einen Life-Coach für alle Fälle (!).
Alles gerne selbstverständlich auch im Plural. Die Studie zur „Entwicklung der Alters-
armut bis 2036“ der Bertelsmann Stiftung33 ist für diese Zielgruppe bestenfalls interes-
sante Wirtschaftslektüre. Bei der Gruppe der Babyboomer, welche mit ihrem Rentnerda-
sein dagegen nicht auf der Sonnenseite des Lebens gelandet ist und noch einmal als
Existenzgründer (s. o.) durchstarten will, sind eine weitaus größere Preissensibilität sowie
eine höhere Erwartung an den Wirkungsgrad und damit möglichst kurze Dauer zu er-
warten. Wie und wo finanziell die Generation X, Y oder gar Z bei einem nur noch rudi-
mentär funktionierenden staatlichen Vorsorgesystem und milliardenschweren Sculden in-
folge von COVID-19, des Ukraine-­ Krieges oder weiteren plötzlich auftauchenden
„schwarzen Schwänen“ über 2050 hinaus einmal hinsichtlich ihrer Altersbezüge (dann in
ihren 70ern oder gar 80ern) landen, ist heute noch nicht abzusehen – aber ein wahrschein-
lich nicht unkritischer Zustand. Eines ist jedoch sicher: Mit den heutigen Coaching-Arrange-
ments sind in der Breite weder das Format noch seine Lieferanten zukunftsfähig. Dies war
u. a. auch für den Autor Anlass zum Verfassen des vorliegenden Buches.

3.1.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Wollen sich die heutigen Coaches für finanziell solide ausgestattete und/oder interessierte
Babyboomer vorbereiten, gilt es heute als Coach zwischen 45 und 60, in einem (Selbst-)
Coaching bzw. durch intensive Selbstreflexion zunächst die eigene Einstellung und Sicht-
weise des Alters und Alterns zu hinterfragen. „Was kann ich dem alternden Coachee (50+)
geben, was mich (als ebenfalls gealterter) Coach einzigartig macht?“ wäre ein Beispiel für
eine Leitfrage, die bei dem angebotenen Service hinsichtlich des Inhaltes und des Preises
letztlich einen Unterschied machen würde. Ferner wäre zu analysieren, wie die Motivlage
und der Weg in die Selbstständigkeit ausahen. Insbesondere wenn der Schritt in die
Existenzgründung von reparativen oder protektiven Dynamiken (s. o.) getrieben war, wäre
ein erneutes Durcharbeiten des Prozesses und des Motivkomplexes vermutlich von Vorteil.

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Ent-
33

wicklung_der_Altersarmut_bis_2036.pdf. Zugegriffen am 07.09.2020.


3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 119

Beantworten Sie sich als Leser unvoreingenommen die Frage, wie Ihr idealer „Best
Ager“-, „Golden Ager“- oder einfach „Seniorencoach“ wirken sollte, schätze ich, dass
von 70 % der Befragten Vokabeln wie weise, humorvoll, lebensbejahend, berufserfahren,
empathisch, inspirierend, gütig-wohlwollend, integer etc. – also viele Merkmale des
Archetypen „der/des alten Weisen“, d. h. einer reifen und deshalb eindrucksvollen Persön-
lichkeit – genannt werden würden. Der fachlich versierte Coach weiß natürlich, dass diese
Wünsche des Coachees nicht (nur) einem romantischen Idealismus entspringen, sondern
Voraussetzung der psychologischen Intervention überhaupt sind. In irgendeiner Weise
muss der Coachee die Interaktion mit dem Coach als einen „dialogue with a significant
other“ erleben, um wirksam zu werden (Scobel, 2011, S. 158). Da die meisten von uns
diesem Ideal nicht entsprechen, wäre zu fragen, wie man sich zumindest in die Richtung
dieses Gegenmodells zukünftig immer menschlicher werdender „Human Digitals“ ent-
wickeln kann, welche Themen relevant werden könnten (oder schon immer sind).

Ist Weisheit das, was fehlt?34


Wie oben schon angeklungen, ist in diesem Kontext das Phänomen „Weisheit“ von zen­
traler Bedeutung. Dies zukünftig umso mehr, als es in Zeiten von sich permanent ver-
ringernden Halbwertszeiten des Wissens als ein Jahrtausende überdauerndes und kultur-
übergreifend wertvolles (Lebens-)Konzept gesehen wird. Sieht Scobel (2011, S. 160)
Weisheit als eine Metakompetenz der Lebensgestaltung oder Lebenskunst, stellt sich in
diesem Kontext die Frage der Trainier- oder besser Kultivierbarkeit. Denn aus der Alltags-
erfahrung werden wohl die meisten Leser zustimmen, dass Alter allein zwar eine not-
wendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Weisheit ist. Gleiches gilt für das
Wissen über Weisheit. So werden weder das Studium von Weisheitstexten (Philosophie
und Philologie), die eingehende Erkundung von Weisheitstraditionen (z. B. Geschichte
der Ideen bzw. Geschichtswissenschaften) noch die Einbeziehung der Erkenntnisse der
empirischen Wissenschaften (z. B. Neurowissenschaften, Psychologie, Medizin bzw. Psy-
chiatrie und Biologie) ausreichen, um weise zu werden. „Weisheit ist eben kein mentaler
Rentenanspruch, für den es einfach genügt, auf eine Art ,Bildungskonto‘ einzuzahlen, um
dann am Ende Weisheit als Zins abheben zu können“ (Scobel, 2011, S. 88). Sie bedeutet
Arbeit am Umgang mit Komplexität bzw. dem, „was uns fehlt“ (so der Untertitel des
Buches von Scobel, 2011). Und was uns angesichts unserer neuropsychologisch sehr be-
grenzten Verarbeitungskapazität fehlt, ist zum einen das aristotelische Wissen, dass wir
eigentlich nichts wissen (und nicht einmal das) bzw. dass wir immer gefiltert und damit
selektiv wahrnehmen, zum anderen wir die Tendenz haben, diese „Fehlstellen“, diese Lü-
cken (automatisch) mit Fantasien, Ideen, Einbildung, Annahmen, Illusionen zu füllen, die
ihrerseits dann zu „verzerrten“ Wahrnehmungen führen. Mit großer Achtsamkeit diesen
Automatismen und dem dahinterstehenden Wunsch, (alles) zu wissen, nach Sicherheit und
damit Kontrolle, auf die Spur zu kommen, beschreibt den Ausgangspunkt für den Pfad der

In Anlehnung an den Untertitel des Buches von Gert Scobel „Weisheit. Über das, was fehlt“ Du-
34

mont 2011.
120 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

Weisheit. Erträglich werden die dabei unvermeidlichen, langfristigen Anstrengungen und


unzähligen Rückschläge auf dem Weg der Anerkennung der eigenen Unvollkommenheit
jedoch nur mit Demut, gütiger Nachsicht gegenüber der eigenen Schwäche oder aber
Humor. Nur ein Loslassen von jeglichen Allmachtsfantasien bringt die von vielen so er-
sehnte, heitere Gelassenheit angesichts einer als volatil, unsicher, komplex und zwie-
spältig wahrgenommenen (VUCA-)Welt. Es gilt i. S. des bereits erwähnten Paul Baltes
(2001, S. 26), (z. B. durch Meditation) bewusst entschleunigen zu können, um einfach nur
das Im-Hier-und-Jetzt-Sein zu genießen. Diese Erhöhung der Eigen- oder Selbst-
komplexität ermöglicht jedoch eine dialektische Form des Umgangs mit den Wider-
sprüchlichkeiten und den Paradoxien der Welt (Scobel, 2011, S. 168), denn sie erlaubt ein
„Sowohl-als-auch“ oder „Dazwischen“ (Scobel, 2011, S. 103). Dies erfordert jedoch da-
rüber hinaus ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz. Ein Dialog mit einem (z. B. Coach
als) „significant other“ über diese bzw. über die Bearbeitung dieser Themen kann für die-
sen Prozess sicher sehr unterstützend wirken. Im Abschn. 4.1 werden wir diesen Themen-
komplex erneut aus einer organisations- und managementtheoretischen Perspektive
aufgreifen.

Wenn aus der „Suche nach der verlorenen Zeit“ Versäumnisangst wird
Beobachtet man heutzutage im privaten Umfeld die hektische Geschäftigkeit von Rent-
nern (i. S. v. „von Arzttermin zu Arzttermin“), fällt es schwer zu glauben, dass mit dem
Renteneintritt eigentlich die „Zeit des Zeithabens“ beginnen sollte. Egal ob aus dem Be-
dürfnis nach einer sinnvollen Füllung oder Strukturierung der plötzlich unstrukturierten
Zeit oder – wie Olaf-Georg Klein (2010) in seinem Buch „Zeit als Lebenskunst“ formu-
liert – aus Vergangenheitsflucht (etwas endlich hinter sich zu lassen) oder einer Art Zu-
kunftsflucht (im Angesicht der endlichen Zeit bzw. eigenen Sterblichkeit): Für die meisten
Menschen ist es unendlich schwer, einfach im Moment, in der Gegenwart zu leben – und
damit einmal nicht das Gefühl zu haben, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein (Klein,
2010 S. 43) oder im Widerstreit (vermeintlicher) Prioritäten zerrieben zu werden. So sind
Versäumnisangst bzw. Zeitknappheit selbst für manche älteren Menschen schon heute das
bestimmende Lebensgefühl. Würden sie jedoch in der oft gehörten Klage „Ich habe keine
Zeit“ den Begriff „Zeit“ durch „Leben“ ersetzen (Klein, 2010, S. 13), würde ihnen wo-
möglich bewusst werden, was sie gerade sich und dem nun sicht- und zuweilen auch
körperlich spürbar sich „leerenden Lebenszeitkonto“ antun. Die während des Berufs-
lebens ggf. besuchten, eher technokratischen Zeitmanagement-Seminare à la Lothar Sei-
wert (Seiwert et al., 1984) helfen für die (spätestens) in diesem Lebensabschnitt geforderte,
neue Wahrnehmung bzw. das Erleben der Tiefendimensionen der Zeit jedoch nur wenig.
So gilt es für den gereiften (Coachee und) Coach neben der Kultivierung der Weisheit über
die Kultivierung der Zeit eine neue Zeitsouveränität, eine Eigenzeit zu entwickeln. Dies
heißt i. S. einer Selbstverantwortung einerseits die uneingeschränkten Hoheitsrechte
zurückzuerobern, zum anderen „sich einer besonderen Lage oder Aufgabe jederzeit ge-
wachsen zu zeigen“ Klein (2010, S. 157). Dies ist nach Olaf Klein jedoch nur mittels der
Entwicklung eines dem Gleichgewichtssinn ähnlichen Zeitsinns möglich. Dieser hätte die
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 121

„[…] Aufgabe, Veränderungsprozesse und Veränderungsgeschwindigkeiten innerhalb und


außerhalb des Körpers wahrzunehmen, zu sammeln, zu registrieren und zielgerichtet da­
rauf hinzuwirken, einen Zustand von Balance aufrechtzuerhalten oder wieder herzustellen“
(Klein, 2010, S. 162). Wer beim Lesen der vorangegangenen Zeilen an das Erlernen und
kontinuierliche Praktizieren von selbszentrierenden Meditations- und Achtsamkeits-
techniken denkt, liegt natürlich richtig (sowie im Trend der Zeit). Im Coaching-Kontext
bietet z.B. Günther Mohr (Mohr, 2014) dazu einen pragmatischen Zugang. Nur dafür
­finden dann auch viele wieder nicht die Zeit! Doch nur dem Coach (oder Coachee), dem
diese Neuausrichtung und Neujustierung zwischen Chronos (quantitativer, physikalischer
Aspekt der Zeit, Uhrzeit) und Kairos (qualitativer, psychologischer Aspekt der Zeit;
„Eigen-, Muße- oder Qualitätszeit“) gelingt, wird die (verbleibende Lebens-)Zeit wahr-
scheinlich nachhaltig genießen können und so den Gefahren der von Hartmut Rosa (2013)
beschriebenen Entfremdung durch Beschleunigung entgehen.

Gesundheitscoaching und die Renaissance bekannter Konzepte und Verfahren?


Obwohl es manchen (älteren) Menschen körperlich schwerfällt, aus dem Haus zu gehen, ist
es wohl auch in 10–20 Jahren eine eher schlechte Alternative, das Leben und selbst die so
wertvollen, weil zeitstrukturierenden und womöglich (im Wartezimmer) Sozialkontakte för-
dernden Arztbesuche ausschließlich über cybermedizinische Angebote abzudecken. Macht es
jedoch im Bereich der Medizin die zuweilen geforderte unmittelbar körperliche Untersuchung
noch zwingend notwendig, beim Arzt auch physisch präsent zu sein, ist dies beim virtuellen
Coaching nicht mehr erforderlich. Auch die Kontaktaufnahme, das Gespräch mit weiteren,
wichtigen Personen in der Familie und im Freundeskreis oder auch unbekannten Menschen
(Dating-Agenturen auch für Senioren) können durch soziale Medien abgedeckt werden. Im
Extremfall könnten darüber hinaus auch die meisten Einkäufe von Lebensmitteln und sonsti-
gen Gütern des täglichen Bedarfes über das Internet bestellt werden. Doch dieses „Second
Life“ im und durch den Cyberspace wäre ein (Senioren-)Leben aus zweiter Hand. So be-
steht – bei allen Segnungen, welche die digitale Welt (auch für ältere Menschen) mit sich
bringt – die Gefahr einer Art „Körpervergessenheit“ – und zwar in zweifacher Hinsicht.
Zum einen als soziales Wesen, welches über Bewegung die räumliche, direkte soziale Be-
gegnung erst möglich macht, zum anderen als Individuum mit einem Körper, um dessen
Wohlergehen und Gesundheit es sich i. S. einer Selbstsorge kümmern sollte, der aber durch
den PC als Lebensmittelpunkt Gefahr läuft, vernachlässigt zu werden. Karikierende Dar-
stellungen des potenziell damit einhergehenden, rekursiven Evolutionsprozesses vom ge-
bückten Affengang über den sich nach und nach aufrichtenden Homo sapiens bis hin zu der
erneut gebeugten und kauernden Sitzhaltung am PC bringen dies auf anschauliche Weise auf
den Punkt. Was nicht nur nach Ansicht des Autors in einer zunehmend digitalisierten Welt
daher (noch) wichtiger werden könnte, ist eine dynamische „Balance“ in mehrfacher Hinsicht.

Zum einen einer Balance als eine (1) „Körper-Geist-Balance“, resultierend aus der (ge-
schulten) Achtsamkeit des Geistes für die (Warn-)Signale des Körpers und vice versa (→
körperliche Verspannungen signalisieren mentalen Stress). Des Weiteren der daraus resul-
122 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

tierenden (2) „Wohlfühlbalance“ i. S. eines individuellen, dynamischen Gesundheitsver-


ständnisses, welches sich als Kontinuum zwischen den Polen „krankheitsförderlich“
(Pathogenese) und „gesundheitsförderlich“ (Salutogenese) definiert. Drittens einer (3)
„Verantwortungsbalance“, welche neben der ärztlichen Verantwortung für die Gesundung
bzw. Gesundheit auch die Selbstverantwortung bzw. die Fähigkeit des Patienten, gesund
zu werden bzw. sich durch Selbstsorge durch die Nutzung und Entwicklung der eigenen
Resilienz langfristig gesund zu erhalten, beinhaltet.
Die vermeintlich einfachste Balance ist die Körper-Geist-Balance. Sport und körper-
liche Fitness (mit all dem Auf und Ab durch marketinggesteuerte Trends) sind dabei die
wohl populärste Form, sich gesund zu erhalten. In den USA gehört – wie bereits erwähnt –
der Personal oder Fitness-Coach sogar zum Statussymbol der VIPs. Dennoch kennt jeder
die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der persönlichen Gesundheitsziele (Zander-­
Schreindorfer, 2021, S. 115) und meint diese auch mit digitalen Helfern (z. B. Wearables,
Health-Apps) und allerei teurem Equipment beseitigen zu können. Ob und wie das den
Erfolg unterstützen kann, beschreibt Zander-Schreindorfer (2021, S. 128). Ein Überblick
über die bereits gut etablierte Praxis verschiedener Modelle des Gesundheitscoachings
bzw. ein eigener, integrativer Ansatz findet sich z. B. bei Ostermann (2010). Ein syste-
misch orientierter Ansatz findet sich bei Ute Zander-Schreindorfer (Zander-Schreindorfer,
2021). Im Sinne der Einleitung nach der letzten Zwischenüberschrift wäre jedoch zu fra-
gen, ob angesichts der postulierten „Körpervergessenheit“ zur erneuten Sensibilisierung
der Körperwahrnehmung nicht auch wieder stärker Verfahren der körperorientierten
Psychotherapie (Müller-Braunschweig & Stiller, 2009) in den Blick (der Coaches) ­rücken
sollten, die teilweise selbst eine längere Tradition als das Gesundheitscoaching haben.
Gleich, ob es sich dabei um bewegungsorientierte Verfahren (z. B. Feldenkrais, Hakomi
etc.), atemorientierte (z. B. Atemtherapie nach Middendorf, Psychotonik nach Glaser
etc.), berührungsorientierte (z. B. Akupressur oder Rolfing etc.) oder tiefenpsychologisch
beeinflusste, körperlicheVerfahren (z. B. Bioenergetik nach Lowen oder Biodynamik nach
Boysen etc.) handelt. Die aktuell so gehypte „Mindfulness“ würde sich so um eine Art
„Bodyfulness“ ergänzen. Dass Coaches auch hier eine solide Ausbildung vorweisen müs-
sen und die Schwelle zur Therapie klar erkennen müssen, versteht sich von selbst.
Ob und wie der Klient oder Coach überhaupt auf die oben angeschnittenen Themen der
eigenen Gesundheit mit einer Haltung der Selbstverantwortung reagiert und sich um eine
„Wohlfühlbalance“ bemüht, beschreibt die sogenannte Kohärenz im Rahmen des Mo-
dells der Salutogenese von Aron Antonovsky (1997). Dieses Gefühl der Kohärenz wird
sich nach dem Autorengespann jedoch nur dann einstellen, wenn die Welt als einiger-
maßen verstehbar und berechenbar erlebt wird (Sense of Comprehensibility), der Glaube
oder gar das Vertrauen existiert, auch missliche Umstände im Leben bewältigen zu können
(Sense of Manageability), und die Überzeugung, dass das eigene Leben generell einen
Sinn hat (Sense of Meaningfulness). Sind diese drei Komponenten gegeben, ist die Chance
einer „gesunden Lebenseinstellung“ und des umfassenden Wohlfühlens sehr viel größer.
Ist die Stimmigkeit zwischen Denken und Handeln bei einem oder mehreren dieser drei
Faktoren nicht mehr gegeben, kommt es potenziell zur Störung der landläufig falsch ver-
3.1 Die Altersdiversität: eine demografische Herausforderung nicht nur in Deutschland 123

standenen „Work-Life-Balance“. Dabei liegt dieses Missverständnis mit Schmidt-Lellek


(2008, S. 214) in der gegensätzlichen Sichtweise (i. S. eines „Entweder-oder“ bzw. das
eine auf Kosten des anderen) der beiden Lebensbereiche und nicht der eigentlich not-
wendigen, integrativen Betrachtung (i. S. eines „Sowohl-als-auch“ bzw. „Und“). Unter
dieser Perspektive wäre die Frage nach dem Stellenwert des Berufes für das Lebensganze
bzw. einer sehr individuellen Balance zwischen den verschiedensten Teilaspekten des
­Lebens (z. B. Arbeitsleben und Familienleben, Fremd- und Selbstbestimmung, Rollen-
identifikation und Rollendistanz, Geben und Nehmen, Anspannung und Entspannung etc.;
siehe Schmidt-Lellek, 2008, S. 215) zielführender.
Bestimmen diese drei Verarbeitungsmuster das Thema Gesundheit in einem positiven
Sinne, wird der Klient trotz aller Hilfsangebote durch einen Coach oder Arzt sich immer
auch als Regisseur des eigenen Gesundungsprozesses (Zander-Schreindorfer, 2021, S. 22)
sehen wollen und i. S. einer „Verantwortungsbalance“ (re-)agieren. Im systemischen
Sinne ist diese eher selbstbestimmt und als sich selbst organisierendes System von außen
auch nur bedingt beeinflussbar (Zander-Schreindorfer, 2021, S. 23). So erhält das Konzept
der Selbstsorge einen sehr viel größeren Stellenwert. Das Gegenstück dazu wäre die
Fremdsorge, die idealerweise in Balance zur Selbstsorge stehen sollte und nach Schmidt-­
Lellek (2008, S 207) mit Bezug auf Foucault in „Selbsttechniken“ wie der Askese (zwi-
schen wichtigen und unwichtigen Dingen entscheiden können), dem Schreiben von Tage-
büchern, Briefen oder Notizbüchern und einer bewussten Einteilung der Zeit (Aus- und
Ruhezeiten vom Alltag) besteht. Diese Selbstsorge (Sedmak, 2013) trägt u. a. dazu bei, die
Resilienz, d. h. die inneren „Immunkräfte“, des Menschen zu stärken und selbst unter wid-
rigen Umständen zu wachsen und zu gedeihen (Sedmak, 2013, S. 16). In einer Analogie
erhält jemand im Leben Zitronen (i. S. v. erlebt Härten und Rückschläge), macht jedoch
Zitronensaft daraus (i. S. v. geht gestärkt daraus hervor). Im Sinne von Sedmak (2013,
S. 19) ist das Immunsystem der „Resilienz“ daher nicht als Abwehr-, sondern als Trans-
formationssystem zu verstehen. Wir werden das Konzept der Resilienz in diesem Buch
wiederholt in verschiedenen Kontexten aufgreifen. Denn nicht nur in Bezug auf das Altern
wäre zu fragen, wie man diese Transformationskräfte in einer zunehmend von verwirrender
Vielfalt, permanentem (Zeit-)Druck, Innovation, Schnelllebigkeit und damit auch großer
Oberflächlichkeit geprägten VUCA-Welt stärken kann. Nach Sedmack besteht eine Ant-
wort auf diesen „Dauerbeschuss“ von außen in einer neuen „Kultur der Innerlichkeit“, wel-
che er als „epistemische Resilienz“ bezeichnet. Dieser eher mentale Wissens- und Verste-
hensaspekt der Resilienz kultiviert nach Sedmak (2013, S. 34) eine phasenweise, bewusste
Distanzierung von dem Geschehen, ein zeitweises Verlassen des „Karussells des Lebens“,
um durch eine Zentrierung wie auch durch die erneute Öffnung des Blickes auf das große
Ganze des Lebens (Sedmak, 2013, S. 47) wieder Kraft zu schöpfen. Religiösität bzw. jede
Form der Spiritualität oder Kontemplation können hier probate Mittel sein. Ohne Letzteres
als Teil von Coaching zu sehen und eingedenk der Tatsache, dass Selbstreflexion und Zen-
trierung schon immer ein Wesensmerkmal von Coaching waren, könnte dennoch die er-
neute Besinnung oder stärkere Kultivierung des Konzeptes „epistemische Resilienz“ zu-
künftig nicht nur einem „Best-Ager-Coaching“ zum Vorteil gereichen.
124 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

3.2 Die Gender-Diversität: eine nur vermeintliche Frauenfrage

Die globale Situation von Frauen vor und nach Corona – die Makroebene
Es fällt schwer, beim Blick in die 2020 veröffentlichte Untersuchung des McKinsey Glo-
bal Institute (MGI) (2020) zu der globalen Situation der Geschlechtergerechtigkeit seine
Zuversicht nicht zu verlieren bzw. die heraufziehenden Gedanken an die unendliche Müh-
sal des Sisyphos zu unterdrücken. Denn hinsichtlich des fünften der 2015 von 193 Staaten
der UN unterzeichneten siebzehn Nachhaltigkeitsziele bis 2030 scheint es nach nun fünf
Jahren – wenn überhaupt – nur geringfügige Verbesserungen zu geben oder, infolge der
Pandemie, offensichtlich sogar rückwärtszugehen. So wirkt der von zahlreichen Statisti-
ken getragene Bericht von nachfolgend darzustellenden zehn die Geschlechtergerechtig-
keit umreißenden Themenfeldern fast ein wenig wie die nüchterne Bestandsaufnahme
nach einer Naturkatastrophe. Sie signalisiert jedoch auch den unbeugsamen Willen, erneut
zu beginnen, die kleinen Fortschritte wertzuschätzen, neue Chancen auszumachen und
den Weg unbeirrt fortzusetzen.

Erstens: Jenseits der natürlich auch moralischen Verpflichtung bei dieser Themen-
stellung zeigte schon eine bereits 2015 vom MGI veröffentlichte Studie, dass bei größerer
Gleichberechtigung bzw. Integration von Frauen in das Wirtschaftsleben das Brutto-
inlandsprodukt zusätzlich bis 2025 pro Jahr zwischen 8 und 12 Billionen US-Dollar über
den Normalwert wachsen könnte. In Modellrechnungen, in denen sich alle erwerbstätigen
Frauen über alle Branchen und alle Berufsgruppen hinweg gleichberechtigt einbringen
könnten, würde dies sogar einen Zuwachs des globalen Bruttoinlandsprodukts von bis zu
28 Billionen US-Dollar oder zusätzliche 26 % mit sich bringen. Angesichts der sich an-
deutenden globalen, wirtschaftlichen Folgen der Pandemie wäre es daher auch jenseits
jeder moralischen Verpflichtungen geboten, in den Anstrengungen nicht nachzulassen und
das nun dringend benötigte „weibliche Kapital“ (Scott, 2020) zu erkennen und die damit
verbundenen Maßnahmen endgültig von der Liste der „Nice-to-have“-Projekte zu
streichen.
Zweitens konstatiert die Studie, dass sich auch schon vor COVID-19 hinsichtlich der
10 gesellschaftsbezogenen und 5 arbeitsweltbezogenen Indikatoren für die Gleich-
berechtigung der Geschlechter nur marginale Veränderungen ergeben haben. Besonders
interessant bzw. handlungsleitend für zukünftige Aktivitäten ist dabei die Tatsache, dass
sich beide Indikatorencluster nicht unabhängig voneinander verändern bzw. ein korrelati-
ver Zusammenhang zwischen beiden besteht. Bei den arbeitsweltbezogenen Indikatoren
gab es im Vergleich von 2014 zu 2019 Zuwächse im Anteilsverhältnis „Mann-Frau“ hin-
sichtlich der Bereiche „Unpaid Care Work“ und „Professional & Technical Jobs“ um
0,3 %, bei den „Leadership Positions“ sogar um 1,4 %. Im Bereich der Gesellschafts-
indikatoren war hinsichtlich der „Political Representation“ mit 4,2 % der insgesamt größte
und einzige Zuwachs zu verzeichnen, bzgl. der „Child Marriages“ mit –2,4 % und „Mater-
nal Mortality“ mit –2,2 % die signifikantesten Verschlechterungen.
3.2 Die Gender-Diversität: eine nur vermeintliche Frauenfrage 125

Drittens: Konnten Frauen in Industrienationen in den letzten zwei Dekaden als Mit-
arbeiterinnen, Konsumentinnen und Sparerinnen Boden gut machen, sehen sie sich
auf der anderen Seite mit unverhältnismäßigen Kosten bzw. wachsender Unsicherheit
(z. B. Teilzeitjobs und andere anormale Arbeitsverhältnisse ohne Sozialversicherung, ge-
ringere Bezahlung) konfrontiert. Als Konsumentinnen sahen sich Frauen (und Männer)
einerseits von sinkenden Preisen für Kommunikation und Freizeit, andererseits jedoch von
steigenden Kosten im Bereich Gesundheit, Wohnen und den Ausbildungsinvestitionen be-
troffen. In Australien, Frankreich, Großbritannien und den USA verschlang dies 54–107 %
des durchschnittlichen Familieneinkommens. Als Sparerinnen besitzen Frauen selbst im
wohlhabenden Europa nur 62 % der mittleren (Median-)Vermögenswerte von Männern.
Viertens: Zusätzlich zu den bestehenden Ungerechtigkeiten in der Erwerbsarbeitswelt
bewältigen Frauen parallel auch weiterhin die Arbeit im Haushalt. So erstreckt sich ihr
Arbeitstag durchschnittlich über 9 Stunden, von denen aber nur ca. die Hälfte bezahlt
werden. In China arbeiten Frauen daher pro Woche insgesamt einen Tag mehr. In Indien
verrichten Frauen zehnmal mehr unbezahlte Arbeit als Männer. Gleiches gilt dabei auch in
den Industrienationen. So bewerkstelligen z. B. in den USA fast doppelt so viele Frauen
wie Männer unbezahlte Betreuungsarbeit und 54 % der Frauen, aber nur 22 % der Männer
verrichten nahezu komplett oder sogar vollständig die Hausarbeit. 81 % der Frauen in
einem Doppelkarriere-Haushalt kämpfen daher konstant an zwei Fronten. Dies gilt nur
für 56 % der Männer in einer vergleichbaren Konstellation.
Fünftens: Frauen wie Männer sind bzw. werden in den nächsten 10 Jahren wahrschein-
lich gleichermaßen von der zunehmenden Automation ihrer Arbeitsplätze betroffen sein.
Das heißt, 40–160 Millionen Frauen werden sich weltweit bis 2030 (in Deutschland 1–5
Millionen) eine neue Beschäftigung suchen oder sich für höher qualifizierte Jobs weiter-
bilden müssen. Erschwert wird dies Frauen und Männern durch die Spezifika der nach-
gefragten Qualifikationen, die mit der Stellensuche oft geforderte Flexibilität und Mobili-
tät, den fehlenden Zugang zu dem notwendigen Technologiewissen, um diese Entwicklung
für sich nutzen zu können oder diese sogar mitzugestalten. Auf gesellschaftlicher Ebene
sind es die immer noch existierenden, tiefsitzenden Vorbehalte, aber auch strukturelle Ge-
gebenheiten, die gegen Frauen in diesen Metiers arbeiten. Aufgrund der zuvor angeführten
Doppelbelastung von Beruf und Haushalt haben Frauen überdies im Vergleich zu Män-
nern weniger Zeit, sich fortzubilden bzw. nach einer neuen Arbeitsstelle zu suchen. Oft
fehlen dazu in den eher unterentwickelten Teilen der Erde auch einfach die finanziellen
Mittel, das Netzwerk oder die Sponsoren, welche die Neuorientierung erleichtern könn-
ten. Gleiches gilt für den Zugriff auf digitale Technologien und die immer noch als un-
passend gesehene Ausbildung in den naturwissenschaftlichen, technischen, ingenieur-
wissenschaftlichen und mathematischen Fakultäten. Die Überwindung all dieser
Hindernisse würde dafür sorgen, dass Frauen in Berufen mit größerer Produktivität und
höheren Gehältern arbeiten könnten. Die unerfreuliche Alternative wäre, dass sie weiter-
hin die bestehende oder sogar noch wachsende Gehaltslücke ertragen, oder aber dem
Arbeitsmarkt ganz den Rücken kehren.
126 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

Sechstens: Da Frauen 2020 1,8-mal häufiger als Männer in COVID-sensiblen Bran-


chen arbeiten, sind sie auch stärker von den Auswirkungen betroffen. Dazu zählen das
Hotel- und Gastgewerbe, der Einzelhandel, die Pflege, das verarbeitende Gewerbe, Finan-
zen und Versicherungen sowie Erziehung bzw. Bildung. Das heißt, dass sie infolge der
Pandemie die notwendige Kinderbetreuung oder das Homeschooling übernehmen und
dadurch (wieder) an Heim und Herd zurückkehren mussten. Die Analyse des MGI ver-
zeichnet dadurch einen täglichen Zuwachs von unbezahlter Arbeit von 1,5–2 Stunden. Das
mit der Lockdown-Situation einhergehende, sprunghafte Ansteigen der häuslichen Ge-
walt durch den (Ehe-)Partner ist wohl eines der traurigsten Kapitel in diesem Zusammen-
hang. Wird den geschilderten Pandemiefolgen nicht entgegengesteuert, schätzt das MGI
den weltwirtschaftlichen Gesamtschaden bis 2030 für die Bruttosozialprodukte aller Na-
tionen zusammen auf 1 Billion US-Dollar. Würde man diesem genderregressiven Trend
jedoch entschlossen entgegentreten, könnten sich diese 1 Billion US-Dollar zu dem im
ersten Punkt erwähnten 12 Billionen US-Dollar aus einer umfassenden Gleichberechtigung
bzw. Integration von Frauen ins Wirtschaftsleben auf 13 Billionen US-Dollar auf-
summieren. Beschreitet man diesen Weg erst nach Abklingen der Krise und dazu nur halb-
herzig, würde sich die potenzielle Wachstumschance um mehr als 5 Billionen US-Dollar
verringern.
Siebtens: Selbst wenn Politik und Unternehmen bei der Bekämpfung der ökonomischen
Folgen der Pandemie erfolgreich sind, gibt es keine Garantie dafür, dass diese Wieder-
belebung der Wirtschaft auch zu einer Reaktivierung der Anstrengungen hinsichtlich der
Geschlechtergerechtigkeit führt. Denn ein starkes Bruttoinlandsprodukt in den Ländern
löst dort eben nicht zugleich alle damit zusammenhängenden Probleme. Dies zeigte 2015
die MGI-Studie zu den 10 wirkungsvollsten Stellhebeln („impact zones“), um die Gleich-
berechtigung voranzubringen. Bei fünf dieser Stellhebel macht es keinen Unterschied, ob
die Frauen in wirtschaftlich starken oder schwächeren Ländern leben. Dazu zählt (1) die
freie Nutzung ihrer Potenziale in allen Bereichen der Wirtschaft, (2) der Anteil unbezahlter
Arbeit, (3) weniger Rechte, (4) politische Unterrepräsentation und (5) Gewalt gegen
Frauen. In diesen Bereichen würde nur proaktives, entschlossenes und nachhaltiges Han-
deln eine Änderung herbeiführen. Dafür, ob sie bei den fünf anderen Stellhebeln wirksam
werden können, spielt jedoch auch die Wirtschaftskraft der Landesregion eine Rolle. Dies
ist die (6) Möglichkeit zur Ausübung einer qualifizierten Tätigkeit, (7) die (reproduktive)
Gesundheit der Frauen bzw. (8) Müttersterblichkeit, die (9) Ausgrenzung von der finan-
ziellen und digitalen Welt sowie (10) die Vulnerabilität von Kindern bzw. Mädchen. Un-
verändert schlecht schneiden hier z. B. Südostasien bei den Punkten 6, 9 und 10 ab. Er-
folge in der akademischen Welt konnten z. B. in den USA verzeichnet werden. Nicht nur
dort überflügeln Frauen zunehmend die Männer mit der Anzahl der Abschlüsse wie auch
hinsichtlich der dabei erreichten Noten. So weit die makropolitische Betrachtungsweise.
Achtens: Auf der Mesoebene der Unternehmen wird bereits im Abschnitt zur Diversity
dargestellt, dass mehr „Women Power“ in den Betrieben wie ein Nachbrenner auf den
wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen wirken kann. Mit dem Fokus auf der Finanz-
kennzahl EBIT (= Gewinn vor Zinsen und Steuern) ergab eine bereits im Jahr 2014 von
3.2 Die Gender-Diversität: eine nur vermeintliche Frauenfrage 127

McKinsey durchgeführte Studie, dass Unternehmen, die sich hinsichtlich ihrer Gender-­
Diversity auf dem Executive-Level im oberen Quartil befanden, mit einer 15 % höheren
Wahrscheinlichkeit eine überdurchschnittliche Profitabilität gegenüber den Firmen im
unteren Quartil erzielen. Bei einer Erweiterung dieser Studie stieg dieser Wert sogar auf
21 % und war wie auch zuvor statistisch signifikant. Die gleiche Tendenz war auch für
ethische und kulturelle Diversität zu verzeichen. Diese blieb mit einer Wahrscheinlichkeit
von 35 % im Jahr 2014 und 33 % im Jahr 2017 auf einem ähnlich hohen Niveau und wie-
derum statistisch signifikant. Diese Effekte konnten in Folgestudien in den Jahren 2015,
2018 und 2020 bestätigt werden. Es wäre daher ein fataler Fehler, im Zuge bzw. nach der
Pandemie das Thema Diversity und insbesondere Geschlechtergerechtigkeit zu ver-
nachlässigen, denn genau sie bergen ein zusätzliches Potenzial, um gut oder sogar noch
stärker aus der Krise herauszukommen.
Neuntens: Im Mikrokosmos der Unternehmen wird immer deutlicher, dass Frauen ins-
besondere bei der Managementlaufbahn zwischen Einstieg und dem C-Level die Gefahr
droht, vergessen zu werden bzw. verloren zu gehen, d. h. aus dem Erwerbsleben auszu-
scheiden. Dies ganz im Gegensatz zu dem Anteil der Berufseinsteigerinnen. Hier zeigte
sich in der Studie des MGI in Kooperation mit der Organisation Leanin.org35 ein leicht
positiver Trend mit einem Anstieg von 45 % im Jahr 2015 auf 48 % im Jahr 2019. Kritisch
für Frauen wird es jedoch, wenn sie eine Managementlaufbahn einschlagen wollen. Denn
werden in den USA 100 männliche Aspiranten zu Führungskräften befördert, sind es bei
den Frauen nur 72. Im Falle farbiger Frauen sogar nur 58. Dass mithin für viele Frauen
bereits die erste Sprosse auf der Karriereleiter bricht, sorgt dafür, dass es für Frauen auf
den Folgestufen fast unmöglich ist, numerisch aufzuholen. Dass diese Gefahr sich sogar
seit 2015 vergrößert hat, belegen Zahlen aus den USA, die eine Repräsentanz von Frauen
auf dem C-Level von 21 % im Jahr 2015 zu 17 % im Jahr 2019 belegen. Sehr viel stärker
zeigen sich sämtliche Benachteiligungen für farbige Frauen.
Zehntens: Mit der seit Jahren intensiv an Fahrt aufnehmenden Automatisierung plus
der aktuell dazukommenden Pandemie wird eines noch deutlicher als zuvor: Nachhaltige
Veränderungen wird es nur im Rahmen einer konzertierten Aktion von Staat, Unter-
nehmen, aber eben auch eines jeden Einzelnen geben. Gilt die Familie seit jeher als Mikro-
kosmos der Gesellschaft, mahnt dies jedes Elternpaar, ihre Jungen und Mädchen im Geiste
der Diversity bzw. Geschlechtergerechtigkeit zu erziehen und diese unmittelbare Einfluss-
sphäre zu nutzen. Staaten müssten mittels gezielter wirtschaftlicher (z. B. bei den Steu-
ern – Stichwort „Ehegattensplitting“, der Kreditvergabe für Entrepreneurinnen, der
Kinderbetreuung etc.) und rechtlicher Stimuli (z. B. Quotenregelungen, Strafrechts-
änderungen bei Gewalt gegen Frauen, arbeitsrechtliche Bestimmungen etc.) einen Rah-
men schaffen, der die richtigen Impulse setzt. Unternehmen müssten ihre Anstrengungen
hinsichtlich Diversity- und Genderthemen intern besser koordinieren und fokussieren. Die
beiden letztgenannten Instanzen täten zudem gut daran, diese Bemühungen hinsichtlich
ihrer Effizienz und Effektivität systematisch zu evaluieren und damit als Thema wachzu-

35
https://leanin.org/. Zugegriffen am 18.09.2021.
128 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

halten. Der Gewinn könnte – wie (nicht nur) die Studien von McKinsey belegen – für alle
Seiten enorm sein. Insbesondere alle aktuellen Unternehmenslenker:innen sollten infolge
dieser doch sehr überzeugenden Datenbasis noch einmal in sich gehen. Kommen diese
Fakten doch von einem Beratungshaus, welches nicht unbedingt als ein Hort von Sozial-
romantikern gilt. Anderenfalls wird dieser Wandel erst durch den bevorstehenden, alters-
bedingten Generationenwechsel in den Führungsetagen der nächsten 10–15 Jahre bewerk-
stelligt werden. Allerdings wird sich dabei dann auch zeigen, wie viele bzw. in welchem
Geiste die Babyboomer- oder Gen-X-Eltern ihre Jungen und Mädchen (der Gen Y, Z) er-
zogen haben, wie ernst es dieser Generation durch entsprechendes Vorbildverhalten mit
dem gesellschaftlichen Wandel war – ob sie den angestrebten Wandel zumindest im priva-
ten Bereich bereits (vor-)gelebt haben.

Die Situation von Frauen am Arbeitsmarkt in Deutschland vor Corona im


Wandel – die Mesoebene
Obwohl Deutschland (und andere, meist westliche Industrienationen) als Teilnehmer der
soeben referierten MGI-Studie insbesondere coronabedingt mit sehr ähnlichen Heraus-
forderungen konfrontiert ist, belegte eine vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
e.V. (DIW) durchgeführte Analyse im Jahr 2015 (DIW Berlin, 2015), dass Frauen am
Arbeitsmarkt seit 2004 generell stetig an Bedeutung gewinnen und seitdem zum ersten
Mal eine Trendwende erkennbar wurde. (1) So stieg ab diesem Zeitpunkt die ­Erwerbsquote
der Frauen auf ca. 56 % an, bei den Männern dagegen sank sie auf 69 %. Insgesamt wuchs
seit 2004 die Anzahl der weiblichen Erwerbspersonen mehr als doppelt so stark wie bei
den Männern. (2) Strukturell interessant dabei war, dass die Erwerbsbeteiligung bei den
Frauen in allen Altersgruppen zunahm – bei den Männern jedoch nur unter den Älteren.
Die Zahlen insgesamt jedoch legen nahe, dass (3) die veränderte Altersstruktur in der Ge-
sellschaft wenig mit der verstärkten Erwerbstätigkeit bei den Frauen zu tun hat. Dies
scheint eher Folge des insbesondere bei den Frauen stark gestiegenen Bildungsniveaus zu
sein – und über alle Altersgruppen hinweg. Hier machen sich offensichtlich die politischen
Bildungsanstrengungen der 70er-Jahre positiv bemerkbar. Vergleicht man die Jahre 1999
mit 2019, haben Frauen im Alter von 55 bis 64 Jahren am meisten Boden gewonnen. Das
heißt konkret, dass der Anteil erwerbstätiger Frauen in dieser Altersgruppe um knapp 10
Prozentpunkte von 38,0 % auf 47,5 % anstieg und derart das Niveau der Gesamt-
bevölkerung erreichte (Statistisches Bundesamt, 2021). Im Falle jüngerer Frauen sind im
Zeitraum von 1999–2019 schwächere Veränderungen und Anstiege zu beobachten, da jün-
gere Frauen schon länger und viel häufiger berufstätig sind als frühere Jahrgänge. In der
Alterskohorte von Frauen unter 25 Jahren ging der Frauenanteil an den Erwerbstätigen im
Vergleich zu 1999 jedoch leicht zurück. Gründe dafür könnten sein, dass im Vergleich zu
früher eine wachsende Anzahl junger Frauen studieren, dadurch jedoch auch später an-
fangen zu arbeiten. Obwohl Frauen auch bis 2019 nicht komplett zu den Männern auf-
schließen konnten, weisen gemäß einer Analyse des Statistischen Bundesamtes (2021)
alle Kategorien (insgesamt, Vollzeit-/Teilzeitbeschäftigung; Stellung im Beruf) seit 1999
einen (leicht) positiven Trend auf. Ausgeblendet werden dabei jedoch die dramatischen
3.2 Die Gender-Diversität: eine nur vermeintliche Frauenfrage 129

konjunkturellen Folgen des Jahrhundertereignisses „COVID-19“, welches Frauen im


Dienstleistungssektor bzw. Einzelhandel (in Teilzeit) besonders traf und trifft. Aber gerade
dieser sektorale Wandel hin zu mehr Dienstleistung bwar es, der Frauen zuvor insbesondere
auch im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich eine Erwerbsmöglichkeit bot. Doch
auch vor der Coronakrise führten diese doch eher positiv anmutenden Rahmendaten nicht
zu der nachhaltigen bzw. in Zahlen sichtbaren Änderung der Situation von Frauen in den
Unternehmen. Mehr als bedenklich ist es allerdings, wenn man liest (BMFSJ, 2021), dass
78,2 Prozent der Unternehmen sich bei dem Frauenanteil im Vorstand sich entweder gar
keine Zielgröße angaben oder sogar unter dem Kampagnenname „Zielgröße Null“ Frauen
von diesen Positionen fernhalten wollen. Die Namen der 37 Unternehmen mit der „Ziel-
größe 0“ sind in der Veröffentlichung von 2021 der deutsch-schwedischen AllBright-­
Stiftung (2021) aufgelistet (AllBright-Stiftung, 2021, S. 8). Es wird interessant sein zu
beobachten, wie diese z. T. deutschen Vorzeigeunternehmen den heraufziehenden Fach-
kräftemangel mit dieser erheblichen Belastung für das Personalmarketing bewältigen.
Denn welche gut ausgebildete, junge Frau mit Karriereambitionen möchte zu einem Unter-
nehmen, das eine derart anachronistische Unternehmenskultur pflegt?

Die „heilige Ordnung“ der Männer als anhaltende gruppendynamische


Situation!? – die Mikroebene
Befürworten auch bereits viele Männer (zumindest in der Öffentlichkeit) mit „gender-­
political correctness“ den höheren Anteil von Frauen in Führungspositionen, fragt man
sich, wie die dahinterliegenden Mentalitätsmuster aussehen, die trotz der offiziell be-
jahenden Haltung kein konsequentes Handeln folgen lassen und die eine Studie des
BMFSFJ (BMFSFJ, 2010) sogar als „Hüter der gläsernen Decke“ bezeichnet. Die qua-
litative Studie konnte dabei folgende drei Varianten herausarbeiten: das Mentalitäts-
muster der (1) „konservativen Exklusion“, einer (2) „emanzipierten Grundhaltung“ sowie
des (3) „radikalen Individualismus“.

Wie die Benamsung des ersten Weltbildes in der Studie des BMFSFJ (2010, S. 17)
bereits verdeutlicht, geht es diesen Männern um die Ab- und Ausgrenzung mit dem Ziel,
ihre inneren Zirkel, Rituale etc. zu bewahren. Sinnbildlich dafür steht der traditionelle
„Gentlemen's Club“ in Großbritannien. Als Vereinigung männlicher Angehöriger der bri-
tischen Upper Class verstehen sie sich als Torwächter für die Privilegien eines eher natur-
oder sogar gottgegebenen Elitestatus. Hinter diesen Männern durfte bzw. musste selbst-
verständlich auch eine Frau stehen, die in früheren Jahrhunderten durch den Erfolg des
Ehemanns und als Hüterin der heimischen Sphäre in den zweifelhaften Genuss einer „Be-
förderung“ zur „Frau Geheimrat“ oder „Frau Ingenieur“ kam. Sie hielt ihm den Rücken
frei – sorgte für „geordnete Verhältnisse“ im Hintergrund. Für die Mitarbeiter und Ge-
schäftspartner schuf sie damit um den „Göttergatten“ eine Aura der Ordnung, Kontrolle,
Verlässlich- und Berechenbarkeit. Da eine Verkehrung dieser Rolle für deren Vertreter
unvorstellbar ist, lehnen Männer mit dieser Mentalstruktur alleinstehende Frauen in
Führungspositionen als entweder sozial verarmt ab (→ „Die hat eben keinen ab-
130 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

bekommen!“) oder diffamieren sie im Falle einer Verhaltensangleichung an die zielstrebige


und aggressivere Männerwelt als „Emanzen“, „verbissene Einzelkämpferinnen“ oder in­
strumentalisieren sie als „wertvolle Arbeitsbienen“. Männer mit dem mentalen Muster der
„emanzipierten Grundhaltung“ sind überwiegend im mittleren Management zu finden und
haben im Gegensatz zu den Vertretern der ersten Gruppe grundsätzlich eine auf-
geschlossene Grundhaltung gegenüber Frauen auf dem gleichen Managementlevel. Diese
Toleranz findet jedoch ihre Grenzen, wenn es um die raren Vorstandspositionen geht. Die
hier geforderte konsequente Ergebnisorientierung und zuweilen auch menschliche Härte
(z. B. im Falle einer Werkschließung) steht ihrer Ansicht nach im Widerspruch zum
Frauenbild in unserer Gesellschaft – vermutlich jedoch auch entgegen ihrem eigenen
Stereotyp von Frauen. Denn in ihren Augen repräsentiert die Frau das Soziale, Weiche,
Ganzheitliche und Nachhaltige. Dazu konträres Verhalten würden sie als „gezwungen
männlich“ und sogar als schädlich für das Unternehmensimage bewerten (BMFSFJ, 2010,
S. 18). Das dritte Mentalmuster beschreibt Männer mit einer individualistischen und
scheinbar sehr liberal daherkommenden Grundhaltung, nach dem Motto: „Wenn sie wirk-
lich das Zeug dazu hat – warum nicht? Letztlich zählt nur, was sie für die Stelle mit-
bringt!“ Und „mitbringen“ soll sie ganz egalitär, wie auch die Männer, Persönlichkeit,
fachliche Qualifikation, aber eben auch einen beruflich lückenlosen Lebenslauf. Gilt
normalerweise eine Vorstandsposition ab Mitte vierzig als realistisch, müsste jedoch unter
dieser Prämisse der Kinderwunsch einer Frau aufgrund biologischer Gegebenheiten un-
erfüllt bleiben. Ferner würde eine Frau, die sich zu sehr dem männlichen Habitus und
Gestus anpasst und so „ihren Mann steht“, als eher unweiblich gelten und derart ins-
besondere die im Topmanagement unerlässliche Authentizität einbüßen. So erzeugen
diese drei „[…] Mentalitätsmuster eine mehrfach gesicherte, soziale Schließfunktion mit
sehr selektiver Durchlässigkeit“ (BMFSFJ, 2010, S. 18). Dabei weisen die Autoren der
Studie explizit darauf hin, dass es sich bei den „Hütern der gläsernen Decke“ nicht um
einzelne Männer handelt, sondern um Mentalitätsmuster, „[…] die sich zu Rollenbildern
und Führungskulturen mit eigenen Ritualen, Sprachspielen und Habitusformen formiert
haben“ (BMFSFJ, 2010, S. 19).
Inspiriert wurde obige Konzeptbildung und -benennung womöglich durch die „Bibel“
des Gruppendynamikers und Religionsphilosophen Gerhard Schwarz aus dem Jahr 1985
(Erstauflage) „Die ,Heilige Ordnung‘ der Männer. Hierarchie, Gruppendynamik und die
neue Rolle der Frauen“ (Schwarz, 2007). Schwarz fragt in seinem Klassiker jedoch nicht
nach den Mentalitätsmustern Einzelner oder von Geschlechtsgruppen, sondern suchte
nach den typischen Kommunikationsmustern innerhalb von gleich- oder gemischtge-
schlechtlichen Gruppen. Mit Referenz auf die Frühgeschichte vermutet er bei unseren
noch im Wald lebenden Vorfahren eine eher „direkte Kommunikation“ (Schwarz, 2007,
S. 17). Mit der Entwicklung von immer stärkerer Arbeitsteilung bzw. von der Koordination
geprägten Arbeitsprozessen (z. B. von der jagenden Männergruppe in der Urzeit bis hin
zur tayloristisch organisierten Fabrik der Moderne), die in einer Verdinglichung und einer
von Logik geprägten Zweckrationalität im Industriezeitalter gipfelte, begründet er die Ent-
wicklung der „indirekten Kommunikation“, die sich in den entsprechenden Institutio-
3.2 Die Gender-Diversität: eine nur vermeintliche Frauenfrage 131

nen durch Zentralisierung (Schwarz, 2007, S. 161) zeigt. Die Struktur „kommuniziert“
dabei indirekt das Verhältnis von Menschen und/oder Dingen. Als Ursache der zunehmend
notwendigen Zentralisierung sieht Schwarz die Anpassungsgeschwindigkeit an sich rasant
verändernde (Umwelt-)Systeme. Heute würde man dies als VUCA-Welt bezeichnen (siehe
dazu auch Abschn. 4.1). Getragen wird diese Zentralisierung durch vier Herrschafts-
axiome: das Entscheidungsaxiom (die Zentralperson trifft die letzte Entscheidung), das
Wahrheitsaxiom („Die Zentralperson weiß alles und hat immer Recht!“), das Weisheits-
axiom („Wenn zwei sich streiten, entscheidet/freut sich der Dritte“) und zu guter Letzt das
Dependenzaxiom („Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“). Die sich dadurch ergebende
Ordnung definiert das Verhältnis von Über- und Unterordnung bzw. Herrschern- und
Untertanen und verleiht dem System Sicherheit bzw. Stabilität, Funktionalität und eine
nie zuvor gekannte Produktivität. Als Beleg dazu führt Schwarz die Bauwerke der „7 Welt-
wunder“ an. In der besonderen Wertschätzung dieser Vorteile wurde sie von den Griechen
als „heilige Ordnung“ als „hierarchie“ bezeichnet. Der Wortteil „arche“ bedeutet jedoch
neben Ordnung auch Prinzip, Herrschaft oder Anfang (Schwarz, 2007, S. 161). Vom Wort-
ursprung (und damit zunehmend auch im Denken) wurde Ordnung mit Herrschaft gleich-
gesetzt und durch seine Effizienz und Effektivität zumindest in vielen der Hochkulturen
Europas zum Universalitätsprinzip im Bereich des Rechtes, der Moral, Religion, Natur-
wissenschaft und des Organisierens (Schwarz, 2007, S. 219). Diese tiefe Durchdringung
des Denkschemas von Über- und Unterordnung in nahezu allen Lebensbereichen sorgt für
dessen Überleben (z. B. in der katholischen Kirche) bis zum heutigen Tag und wird zu-
weilen sogar immer noch als eine natürliche Ordnung angesehen, die – sofern sie infrage
gestellt wird – sogar geahndet (z. B. mit Exkommunikation, wie im Falle des jüngst ver-
storbenen Theologen Hans Küng) werden kann. Traditionelle Unternehmen mit starken
Männergangs sehen das Eindringen der Frauen in ihren Herrschaftsbereich daher auch als
unnormal, unlogisch oder sogar moralische Zumutung. Folgerichtig sehen sich einige der
„Gralshüter“ auch immer wieder dazu berufen, mit mehr oder minder subtilen Dis-
kriminierungen und Barrieren ihre heilige Ordnung und die damit einhergehende Domi-
nanz zu verteidigen. Frauen kennen nach Schwarz (2007, S. 226) aus ihrer sozialen
­Entwicklungsgeschichte eine derartige Verschworenheit, Gleichschaltung und Anführer-
fixierung nicht. Mit ihrer biologischen Fähigkeit zur Reproduktion – nicht nur der
Produktivität – bzw. in den damit verbundenen mütterlichen Aufzuchtgemeinschaften
ging es mehr darum, auf individuelle Unterschiede zu reagieren und Beziehungen in ver-
schiedensten Konstellationen und Größen aufzubauen. Eine Denkkultur, die auch von
Frauen als „natürlich“ angesehen werden könnte, müsste nach Schwarz (2007, S. 244)
Elemente wie eine sozial ausgehandelte Wahrheit, eine Balance zwischen dem Speziellen/
Individuum und dem Allgemeinen/Gruppe sowie dem Gleichgewicht zwischen ziel-
fixiertem Leisten und einfachem So-Sein sowie der parallelen und gleichberechtigten
Existenz verschiedener Ordnungen enthalten. Diese das konfuzianische Denken prägende
Offenheit für die eigentlich unlogische Einheit von Gegensätzen im Yin-Yang-Prinzip
sieht Schwarz (2007, S. 219) als alternative Denkfigur zu der binären Logik der heiligen
Ordnung. Da man seiner Ansicht nach jedoch auch auf die Vorteile der ebenfalls not-
132 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

wendigen Arbeitsteilung in der Hierarchie nicht verzichten sollte, plädiert er für ein
Sowohl-­als-auch beider Denkformen (Schwarz, 2007, S. 244). Wir werden dieses Prinzip
im Abschn. 4.1 erneut aufgreifen und vertiefen.

Die Situation von Frauen in den Unternehmen: Genderungerechtigkeit als mögliche


Folge einer Wechselwirkung verschiedener Systemebenen
Der Analysen, warum Gendergerechtigkeit (noch immer) ein Thema in der Gesellschaft
bzw. den Unternehmen ist, gibt es viele. Sinnigerweise fokussieren diese meist nicht nur
auf Teilaspekte des Problems, sondern bemühen sich um eine ganzheitliche Betrachtung
der Thematik. Da die damit verbundene Vielschichtigkeit über den Inhalt dieses Buches
hinausgehen würde, findet sich in Abb. 3.6 eine Zusammenstellung der Ursachen (bzw.
Ansatzpunkte) für fehlende bzw. mehr Gendergerechtigkeit. In Abschn. 3.2.1 wird eine für
das Coaching als relevant betrachtete Auswahl dargestellt. Die grafische Darstellung soll
dabei die Wechselwirkung der verschiedenen, ineinander verschachtelten Systembereiche
unterstreichen. Ferner werden der Mensch und seine (tendenziösen) Wahrnehmungs-
muster als zentrales Wirkelement gesehen.

Die in der Abb. 3.6 genannten, verschiedenen Aspekte der Gesellschafts-, Sozial- und
Wirtschaftspolitik finden sich auf den Internetseiten des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend.36 Jede konzeptionelle Betrachtung oder Handlungs-
empfehlung sollte daher in einem konzertierten Ansatz verschiedener Perspektiven und
Maßnahmen bestehen oder diese zumindest mitdenken.

3.2.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Konsequenzen als Einzelperson: Ob Team-, Mittel- oder Topmanagerin – Folgen


der unbefriedigenden Situation in allen Lebensbereichen
Doch wie steht es mit den Aufstiegschancen für Frauen nach ganz oben? Nach Jahren
der Debatte und Stagnation entschloss sich die Bundesregierung im Mai 2015, das „Ge-
setz zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in
der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst“ zu verabschieden. Sein Ziel: den Anteil
von Frauen in Führungspositionen nun endlich signifikant zu erhöhen. Und die Quote
wirkt! So ist seit Einführung der festen Geschlechterquote von 30 Prozent der Anteil der
Frauen in Aufsichtsräten von börsennotierten und paritätisch mitbestimmten Firmen
deutlich gestiegen. In Zahlen heißt das, dass in Deutschland im Jahr 2019 zum ersten Mal
rund 30 % der Führungspositionen von Frauen besetzt sind. Damit blieb der Anteil im Ver-
gleich zum Vorjahr jedoch unverändert. Die jeweils aktuellen Zahlen sind einzusehen auf
der speziellen Webseite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju-

https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-und-arbeitswelt.
36
Zugegriffen am
09.08.2021.
3.2 Die Gender-Diversität: eine nur vermeintliche Frauenfrage 133

Unternehmspolitik / Strategie
Unternehmen Gesellschaft
 Personalcontrolling mit explizitem Diversity bzw.
Genderfokus
Mensch  Frauenquoten bei Top-Positionen (vs. „Alibifrauen“) Gesellschafts-, Sozial- und Wirtschaftspolitik
(Sozial-)Psychologisch  Unterstützung bei Kinderbetreuung/ oder sogar  Grundgesetz, Art. 3 Art. Zur Gleichheit/Gleichberechtigung
 Mehrheit-Minderheítsphänomene betriebseigener Kindergarten, etc. von Mann und Frau (1948)
 Ingroup-Outgroup-Denken  Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau
Struktur
 Ähnlichkeits- / Sympathie-Bias auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts
 (Un-)Flexible Karrierewege
(Likeability) (Gleichberechtigungsgesetz – GleichberG, 1958)
 (Un-)Flexible Arbeitszeiten;Teil- / Vollzeitarbeit
 Männerbünde /-gangs  Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG, 2006)
Office-Modelle
 Impression Management /  Gesetz zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und
 Gehaltsstrukturen (Equal-Pay)
Selbstdarstellung Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft
 Eltern(teil)zeit-Modelle
 Rollenerwartungen, soziale Normen und im öffentlichen Dienst (FüPoG1, Mai 2015 )
 Shared Leadership-Modelle
 Genderspezifisches Netzwerkverhalten  Gesetz für die Gleichstellung von Frauen und Männern
 Elderly-Care-Modelle, etc.
 Gendersensible Kommunikation (BGleiG, 2015; „Gleichstellungsindex“)
Prozess  Gesetz zur Förderung der Transparenz von
 Geschlechts-/ Weiblichkeitsstereotype  Genderneutralisierter Recrutierung & Auswahl
 Rollen- bzw. Manager-Stereotype Entgeltstrukturen (2017)
 Genderneutralisierter Beförderungsprozess  Bundesinitiative "Klischeefrei“,„Girls‘ Day“oder
(aneignen und/oder ändern)  Wiedereinstiegsprozess
o „Einsamer Wolf“ / Kämpfer/ Held (One- „YouCodeGirls“ zur Förderung einer
 Zielvereinbarungen auf allen Mgt.-Ebenen etc. geschlechtergerechten Berufsorientierung und
Man-Show)
o Durchsetzungsstarker Macher Kultur Berufsberatung
o Lange Arbeitszeiten in Vollzeit  Kulturmuster (Fraunhofer, 2012)  Initiative „Bundesweite gründerinnenagentur“ (bga)
o Örtliche und zeitliche Flexibilität  Rollenmodelle im Top Management  Existenzgründungsunterstützung von Frauen durch die
o Statusorientiert
 Beförderungsleitlinien Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW)
o Machtorientiert
o Kampf- & Kriegs-, Militär-Rethorik  Führungsleitlinien  Einkommenssteuergesetze zum Ehegattensplitting
o Maschinenanalogie für Unternehmen  Weiterbildungsprogramm für Frauen  Etc.
 Girls- / Women´s-Days (spez. In STEM-Branchen)
23.06.2022
 Diversity-Programme, etc.
Stefan Stenzel 1

Abb. 3.6 Zusammenstellung der Ursachen (bzw. Ansatzpunkte) für fehlende bzw. mehr Genderge-
rechtigkeit (© Stefan Stenzel, All Rights Reserved)

gend (BMfSFJ).37 Damit liegt Deutschland im EU-Vergleich nur im unteren Drittel. EU-­
Spitzenreiter ist mit 44 % Frauenanteil in Führungspositionen Lettland, gefolgt von Polen
(44 %) und Schweden (40 %). Mit 21 % stellt Zypern das Schlusslicht. Der EU-Durch-
schnitt beläuft sich aktuell auf 34 %.38 Hinsichtlich des Anteils von Frauen in Vorstands-
positionen berichtet das Managerinnen-Barometer des DIW.39 Danach sind im Herbst
2020 nur 101 von 878 Vorstandsmitgliedern Frauen und damit bei einem Anteil rund von
12 % bei einer Verbesserung um nur einen Prozentpunkt zum Vorjahr. Nach dem Abgang
von Jennifer Morgan als Co-Vorstandsvorsitzende von SAP wird derzeit zudem kein ein-
ziges DAX-30-Unternehmen mehr von einer Frau angeführt. Daher fällt die Bilanz zu den
Aufstiegschancen doch eher gemischt aus und die Sektion „Gleichstellung“40 und „Frauen

37
https://www.bmfsfj.de/quote/daten.html. Zugegriffen am 09.05.2021.
38
https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Arbeitsmarkt/Frauen-
anteil_Fuehrungsetagen.html. Zugegriffen am 05.10.2020.
39
Das DIW Managerinnen-Barometer untersucht die jährliche Repräsentation von Frauen in Vor-
ständen und Geschäftsführungen sowie in Aufsichts- und Verwaltungsräten der größten Unter-
nehmen in Deutschland. Es erfasst mittlerweile insgesamt mehr als 500 Unternehmen in ver-
schiedenen Kategorien, darunter die – gemessen an ihrem Umsatz – 200 größten Unternehmen
außerhalb des Finanzsektors, die DAX-30-, MDAX-, SDAX- und TecDAX-Unternehmen sowie
60 Beteiligungsunternehmen des Bundes; https://www.diw.de/de/diw_01.c.629341.de/mana­
gerinnen-barometer.html. Es ist Teil einer größeren Forschungsgruppe zum Thema „Gender Econo-
mics“; https://www.diw.de/de/diw_01.c.617235.de/forschungsgruppe_gender_economics.html. Zuge­
griffen am 05.10.2020.
40
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung. Zugegriffen am 05.10.2020.
134 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

und Arbeitswelt“41 des BMFSFJ wird wohl noch auf Jahre beschäftigt sein. Dies umso
mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass die Quotenregelung (wie z. B. in Norwegen
oder den Niederlanden) sich nicht auf das operative Management bezieht. Entzieht man
damit Frauen den (Quoten-)Nährboden für ihren Weg durch die verschiedenen Führungs-
ebenen und wundert sich dann, dass die Anzahl der „oben“ ankommenden Frauen so ge-
ring ist, zeugt dies entweder von großer Realitätsferne und/oder eben doch von Mentali-
tätsmustern von Teilen der Männer, welche die dadurch eingezogene, „gläserne Decke“
(Glass Ceiling Effect) zumindest billigen. Ob man mit der Pressemitteilung Nr. 484 des
Statistischen Bundesamtes vom 08.12.202042 hinsichtlich der mit 19 % erstmals unter
20 % gesunkenen Verdienstunterschiede zwischen den Geschlechtern (hier bzgl. des un-
bereinigten Gender-Pay-Gap43) eher ein halb volles oder halb leeres Glas assoziiert,
bleibt letztlich natürlich eine Frage der individuellen Frustrationstoleranz und/oder des
Zweckoptimismus. Die Aussagen im Abstract der Pressemeldung, dass 71 % des Ver-
dienstunterschieds strukturbedingt sind und damit auf der Tatsache beruhen, dass Frauen
zum einen in schlechter bezahlten Branchen und Berufen arbeiten und seltener Führungs-
positionen erreichen, zum anderen in Deutschland der Pay-Gap immer noch deutlich
höher als im EU-Durchschnitt mit 15 % ist, stimmt zumindest den Autor eher nachdenk-
lich. Denn der Hoffnungsschimmer bzgl. des unbereinigten Gender-Pay-Gaps wird durch
das Verharren des bereinigten Gender-Pay-Gaps auf 6 % auf dem gleichen Niveau im Jahr
2018 im Vergleich zu 2014 wiederum getrübt. Diese Ungleichheitsdynamiken bei den Ein-
kommen werden sich gemäß einer Kurzexpertise der Bertelsmann Stiftung vom Juni 2020
(Bertelsmann Stiftung, 2020) sogar in doppelter Hinsicht verschärfen. Denn neben Ver-
lusten durch die Coronakrise werden Frauen durch Mutterschaft bis zu zwei Drittel ihres
Lebenserwerbseinkommens einbüßen (Motherhood Lifetime Penalty). Damit werden,
auf das gesamte Erwerbsleben gerechnet, Frauen nur rund halb so hohe Erwerbsein-
kommen erzielen wie Männer (Gender-­Lifetime-­Earnings-Gap). Kommen zur Mutter-
schaft ein niedrigerer Bildungsabschluss und/oder häufige berufliche Unterbrechungen
hinzu, haben diese Frauen zudem ein erhöhtes Risiko, im Laufe ihres Lebens von Alters-
armut betroffen zu sein. Ursachen dafür sind auch laut dem BMFSFJ (2020) eine hohe
Quote von Frauen als Teilzeitbeschäftigte bei den sozialversicherungspflichtigen Jobs
(2019: Frauen: 48 %, Männer: 11 Prozent) oder auch dem Anteil an ausschließlich gering-

41
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-und-arbeitswelt. Zugegriffen am
05.10.2020.
42
https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/12/PD20_484_621.html. Zugegriffen
am 05.10.2020.
43
Der unbereinigte Gender-Pay-Gap vergleicht allgemein den Durchschnittsverdienst aller Arbeit-
nehmer und Arbeitnehmerinnen. Mithilfe des unbereinigten Gender-Pay-Gap wird auch der Teil des
Verdienstunterschieds erfasst, der beispielsweise durch schlechtere Zugangschancen von Frauen zu
unterschiedlichen Berufen oder Karrierestufen verursacht wird. Dagegen misst der bereinigte
­Gender-Pay-Gap den Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen mit vergleichbaren
Qualifikationen, Tätigkeiten und Erwerbsbiografien. Strukturbedingte Faktoren sind hier also weit-
gehend herausgerechnet.
3.2 Die Gender-Diversität: eine nur vermeintliche Frauenfrage 135

fügig Beschäftigten (2019: Frauen: 2,85 Millionen; Männer: 1,80 Millionen). Sieverstär-
ken potenziell diese Vulnerabilität (BMFSFJ, 2020, S. 14).

Neben dem BMFSFJ liefert die Forschungsgruppe „Gender Economics“ des DIW44
kontinuierliche Daten zum Thema Gender-Gaps am Arbeitsmarkt sowie die gleichstellungs-
politischen Auswirkungen von Steuer-, Sozial- und Familienpolitik. Die Forschung im Be-
reich Gender-Gaps am Arbeitsmarkt konzentriert sich auf die Unterschiede in den Ver-
diensten von Frauen und Männern sowie auf die geringe Repräsentation von Frauen in
Führungspositionen in der Wirtschaft. Zudem forscht die Gruppe in mehreren Projekten zu
den Auswirkungen familienpolitischer Maßnahmen wie z. B. Elterngeld, Kita-Ausbau und
Ehegattensplitting in Bezug auf die Erwerbsbeteiligung und Lohnentwicklung von Frauen.
Obwohl für den Fortbestand einer Nation bzw. Gesellschaft überlebenswichtig, be-
zahlen offensichtlich die Frauen allein den hohen Preis dafür. Neben sozial- und gesell-
schaftspolitischen Maßnahmen auf dem Makro- und Mesolevel muss, wenn es um die
Kombination der Welten „Familie/Partnerschaft“ und „Beruf/Unternehmen“ geht, vieles
in den Mikrobereichen des Lebens neu justiert werden. Und egal ob sich für die Frau die
Möglichkeit einer Karriere abzeichnet oder sie schon komplett davon absorbiert ist: Im
Falle einer Partnerschaft (mit oder ohne Kinder) besteht für die Frau durch das oft noch
traditionelle Rollenverständnis die Gefahr der Doppelbelastung von Familie und Beruf.

Konsequenzen als Paar: Ob DINKs, DECs oder DCCs – der „doppelte


Lebensentwurf“ und seine Konsequenzen
Wollen heutzutage immer mehr Frauen nach einem im Vergleich zu den Männern immer
häufiger auch besseren Schul- und Studienabschluss diese Qualifikation im Berufsleben in
Form ihrer inhaltlichen Einflussmöglichkeit und/oder finanziellen Erfolges erleben, stel-
len sich im Falle einer Partnerschaft automatisch die Herausforderungen des sogenannten
„doppelten Lebensentwurfes“. Das heißt, als Paar mit doppeltem Einkommen und ohne
Kinder (DINK = „Double Income No Kids“, d. h., beide Partner sind erwerbstätig, aber
kinderlos), als Paar mit nur doppeltem Einkommen (DEC = „Dual Earner Couples“, d. h.,
beide Partner sind erwerbstätig und haben Kinder) oder als Paar mit gleichzeitigen, star-
ken Karriereambitionen (DCC = „Dual Career Couples“, d. h., beide Partner wollen in
ihren jeweiligen Berufen Karriere machen) muss es zu einem Arrangement hinsichtlich
der Kindererziehung und Haushaltsführung kommen – werden Zeit, Geld, Konfliktfähig-
keit und Verlässlichkeit zu den kritischsten Ressourcen. Der Fall, bei dem durch ein bei
einem oder beiden Partnern begütertes Elternhaus bereits vorhandene finanzielle bzw. per-
sonelle Ressourcen (i. S. von Geld für Haushälter:in, Putzkraft, Gärtner:in, Finanzbera-
ter:in etc.) vorhanden sind, soll hier als Ausnahmefall ausgeklammert werden. Doch selbst
bei diesen „idealen“ Rahmenbedingungen müssen die Organisation des Ganzen und nicht
selten auch die damit verknüpften Machtfragen geklärt werden. Wollen diese Paare im

https://www.diw.de/de/diw_01.c.617235.de/forschungsgruppe_gender_economics.html. Zugegriffen
44

am 06.10.2020.
136 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

gegenseitigen Einverständnis nicht die traditionelle Rollenverteilung leben, geht es nach


Astrid Schreyögg (2021) in dieser anspruchsvollen Kooperationsgemeinschaft kontinuier-
lich darum, einen Kompromiss (d. h., man gibt nach, trifft sich „in der Mitte“; es gibt auf
beiden Seiten sowohl „Verlust“ als auch „Gewinn“) oder Konsens (d. h., man hat eine
Lösung gefunden, mit der alle Konfliktparteien zu 100 % zufrieden sind) zu finden. Kon-
krete Themen dieses Aushandlungsprozesses sind z. B. (1) Karrierefragen selbst (z. B. das
„Timing“, d. h., wer unterbricht/beschränkt sich wann und warum) oder Fragen (2) des
„Balancing“, d. h. wie balanciert man die beidseitigen Wünsche nach Karriere, Familie
und Eigenzeit, oder Fragen der Selbstbeschränkung bzgl. des zu erreichenden Karrierele-
vels, d. h. wann ist genug genug etc. Hat sich das Paar (geplant?) den etwaigen (3) Kinder-
wunsch erfüllt, ergeben sich entlang ihrer Entwicklungsphasen Fragen, welche von der
Zuständigkeit für das Wickeln und Füttern über Hausaufgabenbetreuung bis hin zu dem
Zahnarztbesuch reichen, was nicht selten der Tätigkeit von Logistikern gleichkommt.
Dabei gilt es darüber hinaus mit zunehmendem Alter des Kindes dessen Selbstständig-
keitsbestrebungen mit den (womöglich unterschiedlichen) Kompetenzeinschätzungen der
Eltern bzgl. des Kindes in Einklang zu bringen. Wer wann welche (4) Hausarbeit (z. B. Put-
zen, Wäsche, Bügeln, Kochen, Einkaufen, ggf. Garten etc.) wie und wie oft macht, ist
zuweilen ein weiterer Bereich der Koordination und der Aushandlung von Anspruchs-
niveaus. Für besserverdienende Paare stellt sich sogar die Frage, welche dieser Arbeiten
sie durch externe Dienstleister verrichten lassen wollen bzw. können. So werden Kinder
auf Ganztagsprivatschulen oder gar auf ein Internat geschickt. In Bezug auf die Kinder-
betreuung sehen sich Frauen (und interessanterweise nicht die wahrscheinlich mitent-
scheidenden Väter) in der Konsequenz gelegentlich mit dem Vorwurf der „Rabenmutter“
konfrontiert. Ein äußerst sensitiver Bereich bei einem Karrierepaar ist dessen (5) Be-
ziehung in all ihren Facetten. Wer hat wann (noch) wie viel Energie und Interesse, sich
selbst und das Gegenüber noch als liebesbedürftigen Menschen wahrzunehmen, Zwei-
samkeit zu pflegen und Intimität und Sexualität zu leben? Wie erotisierend ist der Erfolg
für den Ehepartner und das Umfeld, welches jedoch den damit verbundenen Aufwand
nicht mitbekommt? Die Versuchung, in einem Seitensprung einen „unbeschwerten“
Fluchtpunkt (vor dem heimischen Stress oder „Chaos“) zu suchen, ist damit allgegen-
wärtig. Die generelle Beziehungspflege des Karrierepaars, d. h. wie viel Zeit man dem
beruflichen und privaten Netzwerk zukommen lässt, gleicht daher nicht selten mehr einer
Investment- statt einer lustbasierten Entscheidung. Wie viel (Qualitäts-)Zeit nimmt man
sich neben der unerlässlichen funktionalen Alltagskommunikation noch für Meta-
kommunikation, um dabei sich einschleichende dysfunktionale Muster aufzudecken und
konstruktiv zu bearbeiten? Mit dem sich einstellenden (6) finanziellen Erfolg des
„Führungsduos“ ergeben sich überdies womöglich zusätzliche Diskussionen, wie bzw.
wofür das verdiente Geld ausgegeben und/oder vermögensbildend angelegt werden soll.
Auch die potenzielle Gefahr, die Kinder für die häufige elterliche Abwesenheit mit zu viel
Taschengeld oder Geschenken zu verwöhnen, kann in diesem Zusammenhang zu einem
Streitpunkt werden. Alles in allem fordert der gemeinsam hart erarbeitete Wohlstand letz-
ten Endes auch wiederum seinen sozialen und materiellen Tribut. Dass dieses komplexe
3.2 Die Gender-Diversität: eine nur vermeintliche Frauenfrage 137

Miteinander in einer positiven Bilanz für alle endet, dafür bedarf es des permanenten Aus-
tarierens der themenspezifischen Spannungsfelder Privat und Beruf, Geben und Nehmen,
Helfen und Helfenlassen sowie Ich-Du-Wir – verallgemeinert: der Be- und Entgrenzung.

3.2.2 Vermutete Konsequenzen für den Service „Coaching“

Was der Service „Coaching“ in Bezug auf das Thema „Gender“ (weiterhin) benötigt, sind
die folgenden fünf (neuen) Sichtweisen bzw. Aktivitäten:
Erstens: Gesellschaftlich und (sozial-)politisch sichtbares Engagement (von Vor-
reiterinnen): Sieht man als Coach den Sinn bzw. das Ziel der eigenen Arbeit nicht nur
darin, die Selbstwirksamkeit in der trauten Zweisamkeit der Dyade (oder andere eher in-
dividualistisch orientierte Motive) zu erleben, zeigte der Überblick der Wirkelemente in
Abb. 3.6, dass Frauen bzw. weibliche Coaches ihre Ziele auch auf gesellschaftlicher Ebene
weiterhin „aggressiv“ (i. S. von Müller, 2005, S. 336) und allerorts zielstrebig verfolgen
und thematisieren müssen. Obwohl es die Karrierefrau und zweifache Mutter Annalena
Baerbock im September 2021 nicht ins Kanzleramt geschafft hat, ist im Bereich der Poli-
tik allein ihre Kandidatur ein Hoffnungsschimmer für eine Emanzipation, die insbesondere
die Thematik des doppelten Lebensentwurfes (Karriere und Familie) in den Fokus der
Aufmerksamkeit rückt. Denn nach der kinderlosen „Mutti Merkel“ wäre sie neben Ursula
von der Leyen ein zweites prominentes und hoffentlich ermutigendes Beispiel dafür, wie
Frauen auch den doppelten Lebensentwurf erfolgreich leben können. Im Bereich der (Be-
rufs-)Verbände braucht es auch weiterhin Publikationen wie die des Autorenkollektivs
des Deutschen Berufsverbandes Coaching (DBVC e.V.) um das Buch „Führungsfrauen im
Blick: Frauen im Wandel – Führung im Wandel“ (Fildhaut, et al., 2019) und weitere, en-
gagierte „Frontfrauen“ wie die „Grande Dame“ der Coaching-Szene, Astrid Schreyögg,
im universitären Bereich, Heidi Möller, oder im Praxisbereich die ebenfalls zu diesem
Thema schon sehr lange (auch publizistisch sehr) aktive Cornelia Edding (2016) oder
Sabine Asgodom (2020). Oder aber Berufsverbände wie den Verband deutscher Unter-
nehmerinnen45 (VdU), der seit über 65 Jahren als Wirtschaftsverband branchenüber-
greifend die Interessen von Unternehmerinnen vertritt und sich für mehr weibliches Unter-
nehmertum, mehr Frauen in Führungspositionen und bessere Bedingungen für Frauen in
der Wirtschaft einsetzt.
Zweitens: Die Kombination mit Mentoring- oder Sponsoringprogrammen: Eher im
Rahmen von unternehmensinternen Programmen hat es sich bewährt, das Coaching mit
einem Mentoring (= Begleitung und Orientierung der Mentees) oder aber sogar Sponso-
ring (= aktive Einflussnahme auf den Karriereweg des Sponsoree durch eine einfluss-
reiche Person im Topmanagement) zu kombinieren.
Drittens: Weniger Fokus (nur) auf das Individuum: Wird gerade bei dem Thema des
doppelten Lebensentwurfes deutlich, dass die Partnerschaft ein wichtiges Thema ist, sollte

45
https://www.vdu.de. Zugegriffen am 07.10.2020.
138 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

Paararbeit auch im Coaching einen größeren Stellenwert finden. Als spezielle Form des
(dann dyadischen) Team-Coachings sollte es zukünftig zum Standardangebot auf der
Homepage jedes in diesem Bereich tätigen Coaches werden oder zukünftig idealerweise
sogar als Angebot eines organisationsinternen Coaching-Pools angeboten werden
(Jahn, 2012).
Viertens: Bewusstere und stärker selbstbestimmte Lebensplanung und Lebensführung:
Frauen sind durch ihre Gebärfähigkeit bzw. die „tickende Uhr“ potenziell gezwungen,
über die Bedeutung und das Verhältnis des Berufs und Privatlebens bzw. der Familie, des
Fokus auf das „Ich“ und „Wir“ und Partnerschaft aktiv nachzudenken, um ein zufriedenes
Leben führen zu können. Obwohl bzw. weil Männer diese „biologischen Gegebenheiten
bzw. Zwänge“ hinsichtlich der Gestaltung des Lebens nicht haben, wäre von ihnen zu
überlegen, ob die bisherige, gesellschaftliche Vorbahnung ihres Lebens und ihrer Rolle
(z. B. alleiniger Ernährer, wenig Zeit für die Vaterrolle) nicht auch Einseitigkeit, eine Ver-
armung oder aber auch große Gefahren mit sich bringt. Eine bewusste und frühzeitige
selbstbestimmte Lebensplanung und Lebensführung könnte dafür sorgen, dass Män-
ner nicht i. S. von Geissler und Oechsle (1994) letztlich zu den „Nachzüglern“ in der post-
modernen Lebens- und Arbeitswelt werden.
Fünftens: Die Synthese zwischen Life- und Business-Coaching: Mit dem Thema der
Doppelkarriere bzw. des doppelten Lebensentwurfes wird erneut deutlich, dass ein auf die
Arbeitswelt verengtes, „reines“ Business-Coaching der modernen Lebens- und ­Arbeitswelt
nicht mehr entsprechen kann bzw. schon immer ein Etikettenschwindel war. Wie das
„Kind“ aus der Synthese zwischen Life- und Business-Coaching dann heißen soll, wird
in der Community zu diskutieren sein. In einer VUCA-Welt würde dies auch der darin
geforderten „Sowohl-als-auch“-Haltung oder – auf Neudeutsch – einer hybriden oder
ambidextrischen Sichtweise gerecht werden. Dazu mehr in Abschn. 4.1.

3.2.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Obwohl dieser Kontext dafür geeignet wäre, eine begriffliche Gender-Diskussion vom
Zaun zu brechen, ob im Falle eines weiblichen Coaches dieser dann als „Coachin“ oder
wie von Schreyögg (2010, S. 22) vorgeschlagen „Coacherin“ zu bezeichen wäre, möchte
der Autor dieser (vielleicht sogar sinnvollen) Wortakrobatik jedoch hier keinen Platz ein-
räumen. Als viel bedeutsamer wird – im Geiste der vorherigen Ausführungen – die Frei-
heit der Klientin hinsichtlich der Wahl des Coaches (sei er bzw. sie nun schlussendlich
weiblich oder männlich oder aber divers) angesehen. Wünscht sich die Klientin – wie auch
von Schreyögg gefordert (2010, S. 22) –, dass die Person schon die oben geschilderten
Herausforderungen selbst erlebt hat, um wirklich mitfühlen und mitreden zu können, muss
die Wahl konsequenterweise auf eine Frau fallen. Kann der weibliche Coach von der
Klientin sogar als Vorbild bzw. attraktives Rollenmodell gesehen werden, weiß man durch
Banduras Konzept des Modelllernens, dass dies den Lernprozess sehr positiv unterstützen
kann. Geht es dabei, wie bei Heidi Möller (2005) dargestellt, jedoch um „problematische“
3.2 Die Gender-Diversität: eine nur vermeintliche Frauenfrage 139

Beziehungskonstellationen zum weiblichen Geschlecht bzw. die Entwicklung der weib-


lichen Identität, könnte ggf. auch ein männlicher Coach sogar vor Projektionen schützen
und so den Coaching-Prozess erleichtern. Um den letztlichen Mehrwert für die Klientin zu
optimieren, wäre es daher sinnvoll, dies an geeigneter Stelle (z. B. bereits in der Start-
phase) explizit zu thematisieren. Denn obwohl Frauen durch ihre geschlechtliche Soziali-
sation eher eine Disposition für „Erfolgsverhinderer“ wie Konkurrenzangst, Kompetenz-
scham oder kaptative Hemmung (Möller, 2005) aufweisen, haben sie diese, wenn es um
Karrierefragen geht, nicht für sich gepachtet. Ferner müssen diese, wie im Falle von Möl-
ler, nicht psychoanalytisch aufgearbeitet werden.
Folgt man Möller (2005, S. 342) hinsichtlich geeigneter Methoden in diesem Kontext,
scheinen sich diese (z. B. Imaginationshandeln, Probehandeln, Erinnerung, Vorwärts-
wendung) nicht wesentlich von denen männlicher Klienten mit ähnlicher Themenstellung
zu unterscheiden. Gleiches gilt für den von Schreyögg (2010, S. 22) beispielhaft für das
Life-Coaching einer beruflich erfolgreichen Frau um die dreißig skizzierten Coa-
ching-Prozess.
Was sich naturgemäß jedoch unterscheidet, sind die Themen. Referenzierend auf
Keddi (1999) berichtet Schreyögg (2010, S. 18) von sieben Lebensthemen, als da wären:
(1) die Familie und deren Ausgestaltung, (2) die Doppelorientierung auf Familie und Be-
ruf, (3) die Bedeutung des Berufes selbst, (4) der eigene Weg i. S. v. Möglichkeiten der
Selbstverwirklichung, (5) der gemeinsame Weg i. S. der Partnerwahl und der damit ver-
bundenen Konsequenzen, (6) Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung des Status quo und (7)
die Suche nach Sinn und Orientierung. Durch das Erscheinungsjahr der Quelle bzw. Ver-
änderungen und Schwerpunktverschiebungen in den seitdem vergangenen 21 Jahren
möchte der Autor, basierend auf den bearbeiteten Quellen, die natürlich implizit in der
Auflistung bereits enthaltenen Themen Führung, Macht, Karriere bzw. Gendergerechtig-
keit hier jedoch deutlicher in den Vordergrund stellen, ohne dabei den von Heidi Möller
dargestellten „Klassiker“ der Identitätsentwicklung (der Geschlechtszugehörigkeit) zu
vergessen. Wiederum sehr frauenspezifisch dagegen sind mit Schultz-Zehden (2005) die
Wechseljahre bei Frauen, da sie häufig als Umbruchphase mit einer Neuorientierung im
Berufsleben einhergehen.
Was durch die obige thematische Aufzählung nach Ansicht des Autors deutlich wird,
ist, dass Frauen in der Zukunft infolge der voranschreitenden Individualisierung und Ent-
grenzung zu den Pionierinnen einer unabdingbar bewussteren, aktiven und ganzheit-
licheren Lebensplanung bzw. Lebensführung werden könnten. Ihnen ist nicht nur die
Möglichkeit gegeben, Leben zu schenken, sondern in ihnen schlummern auch die Im-
pulse, das Leben in seiner Fülle bzw. balancierter zu leben. Pionierinnen haben es jedoch
bekanntermaßen auch immer sehr viel schwerer. Daher sollten Coaches auf breiter Front,
wo immer dies möglich ist, dieser Innovation bzw. Modernisierung im Einzelcoaching
oder als Dual Career Couple zum Durchbruch verhelfen.
140 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens-


und Arbeitswelt

Um die in der Überschrift angesprochenen Themen zu bearbeiten, gilt es zunächst zwei


Aspekte zu beleuchten. Zum einen die Globalisierung bzw. Internationalisierung von
Unternehmen und der Märkte. Hier verfolgt man eine aktive Expansion der Geschäftstätig-
keiten über den Globus hinweg. Zum anderen den Aspekt der Migration im Zusammenhang
mit der Hoffnung auf den Ausgleich des Fachkräftemangels in Deutschland. Diese ver-
binden sich einerseits mit den Aspekten eines aktiven, globalen Recruitings, andererseits
mit der eher reaktiven Integration von Migranten bzw. von nicht deutschen Arbeitskräften.

Diversität suchen im Rahmen von Globalisierung bzw. Internationalisierung


Die Globalisierung bzw. die Internationalisierung sind aus unserem heutigen Leben und
Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken. Dabei rangieren sie bei den Menschen zwi-
schen einem Heilsversprechen für eine bessere Welt mit Wohlstand für alle und dem Quell
allen Übels in der Moderne. Mögliche Ursprünge dieser Polarisierung liegen u. a. wo-
möglich in deren unterschiedlichem Ansatz zur Penetration in die neuen Märkte. Erfolgt
bei der Globalisierung eine Gleichbehandlung aller Länder und Märkte, achtet die Inter-
nationalisierung stärker auf die länderspezifischen wirtschaftlichen und kulturellen Be-
sonderheiten. Globalisierung als weltumspannende, wirtschaftliche Verflechtung von
Wirtschaftssubjekten ist damit der Treiber des Prozesses der Internationalisierung, d. h.
jeglicher grenzüberschreitenden Aktivität der Organisation (Steger, 1996).

Gründe für die voranschreitende Globalisierung sind zum einen (1) wirtschafts-
politische Treiber, wie der Abbau von Handelshemmnissen, die Bildung von Handels-
blöcken. Zum anderen neue (2) technologische Möglichkeiten im Bereich der Tele-
kommunikation (z. B. Videokonferenz) bzw. der Digitalisierung (i. B. Halbleitertechnologie
in der Hardware, Sofware- bzw. KI-Technologie, Internet) sowie die einfachere und immer
günstigere Mobilität von Mensch und Gütern bzw. die daran geknüpfte Logistik. Oft an-
gestoßen über die neuen wirtschaftlichen Freiheiten, wird die Nutzung dieser (3) markt-
bezogenen, wirtschaftlichen Anreize als unwiderstehlich oder aber sogar zwingend an-
gesehen. Gründe für die Internationalisierungsbestrebungen eines Unternehmens liegen
dabei meist in diesen neuen politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und logistischen
Möglichkeiten der sich öffnenden Märkte. So kreieren sich internationalisierende Märkte
internationale Unternehmen und vice versa.
Die unternehmerischen Handlungsfelder der Internationalisierung bestehen sich dabei
nach Steger (1996) im Bereich der sogenannten Faktoren- und Absatzmärkte. Wie schon
der Begriff nahelegt, geht es bei Letzterem um die Identifikation neuer Absatzchancen
außerhalb der stagnierenden oder gar gesättigten (heimischen) Märkte bzw. um den Wan-
del vom Verkäufer- zum Käufermarkt. Das „global sourcing“ auf internationalen
Faktorenmärkten ermöglicht den Einkauf verschiedenster Produktionsmittel (z. B. Roh-
stoffe, Energie, Kapital, Rechte, Informationen und Personal) zu oft geringeren Kosten.
3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt 141

Gleiches gilt für die Möglichkeiten, durch die Globalisierung in größeren Stückzahlen
produzieren oder aber einen kostengünstigeren Standort (z. B. mit Steuervorteilen oder
geringeren Stundenlöhnen) wählen zu können. Das frei werdende Kapital kann dann in die
dringend für Spezialisierungen oder Forschung und Entwicklung benötigten Ressourcen
umgeleitet werden. Aus dem unternehmensspezifischen Zuschnitt beider Handlungsfelder
ergibt sich u. a. die jeweilige Internationalisierungsstrategie.
Die Varianten der Internationalisierung beschreibt das Anagramm des EPRG-­
Konzeptes von Howard Perlmutter. Dabei spielen der Wille und die Kompetenz, den je-
weils landestypischen kulturellen Besonderheiten Raum zu geben, wie auch das Über-
legenheitsgefühl und Dominanzstreben der expandierenden Akteure eine entscheidende
Rolle. Aus der jeweiligen Abwägung des (a) Nutzens von Globalisierungs- bzw.
Standardisierungsvorteilen und der damit verbundenen Herausforderung der Integration
der mehr oder minder autonomen Einheiten oder aber (b) der Nutzung der Vorteile einer
Differenzierung (z. B. nach Ländern oder Regionen) mit der Herausforderung, den lokalen
Besonderheiten auch gerecht zu werden, ergeben sich vier Arten der Internationalisierung
eines Unternehmens: die ethnozentrische (E), die polyzentrische (P), die regiozentrische
(R ) und die geozentrische (G). Das ethnozentrische Unternehmen könnte man als stamm-
land- oder heimatlandorientiert beschreiben. Das Mutterhaus dominiert die Tochtergesell-
schaften. Alle strategischen Entscheidungen werden in der Zentrale verabschiedet.
Führungspositionen in den ausländischen Tochterunternehmen werden mit Managern aus
der Zentrale besetzt. Auch der Managementstil soll in geradezu kolonialistischer Weise
durch den Stil des Heimatlandes geprägt sein. Das polyzentrische Unternehmen orientiert
sich dagegen eher an seinen Gastländern. Kulturunterschiede zwischen Heimatland und
Gastland werden akzeptiert oder man passt sich sogar an die lokalen Gegebenheiten an.
Die Tochtergesellschaften haben bei Entscheidungen im Rahmen eines von der Zentrale
gesetzten Zielkorridors weitgehende Autonomie. In den Tochtergesellschaften arbeiten
weitgehend einheimische Mitarbeiter und Führungskräfte, da ihnen die größte lokale
Marktkenntnis und damit Erfolgschancen zugetraut werden. Das geozentrische Unter-
nehmen ist gekennzeichnet durch eine starke Weltmarktorientierung. So werden das Head-
quarter und die Tochtergesellschaften als weltumspannende Einheit gesehen. Etwaige
Unterschiede werden in einem dann globalen Ansatz integriert, jedoch ohne dass man
dabei die einzelnen Landeskulturen oder nationalen Eigenheiten ignoriert. Die Ent-
scheidungsgewalt wird sach- und situationsbezogen zwischen Mutterhaus und Tochter-
gesellschaften verteilt. Dies ist jedoch nur möglich, wenn zwischen den Einheiten eine
starke, kommunikationsbasierte Vernetzung vorliegt. Die Nationalität spielt bei der Be-
setzung von Führungspositionen eine untergeordnete Rolle. Mit einer weltweiten Arbeits-
teilung und Spezialisierung werden übergeordnete bzw. nationale Vorgehensweisen relati-
viert. Das regiozentrische Unternehmen orientiert sich, wie auch der Begriff nahelegt, an
Regionen. Es handelt sich dabei um eine Variante des polyzentrischen Unternehmens,
welches sich jedoch auf die Regionalisierung von Wirtschaftsräumen bezieht. Das heißt
eben nicht auf einzelne homogene Ländermärkte (z. B. USA), sondern auf Konglomerate
oder ähnliche Ländergruppen (z. B. Europa). Die Führungsmannschaft wird in den Län-
142 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

dern der gleichen Region eingesetzt, der sie auch entstammt. Auf der regionalen Ebene
orientiert man sich jedoch am geozentrischen Modell. Eine zusammenfassende Dar-
stellung obiger Ausführungen inklusive der sich daraus ergebenden, speziellen Coa-
ching-Services bietet Abb. 3.7.
Da die mehr oder minder international agierenden Menschen Dreh- und Angelpunkt
dieser Strategien sind, werden sie nur erfolgreich sein, wenn der HR-Bereich die Themen
Employer Branding, Personalmarketing und Recruiting entsprechend ausrichtet und auch
orchestriert. Dem oben beschriebenen, expansiven und mehr oder minder dominierenden
Verhalten bei der Internationalisierung steht bei der Migration das rezeptive bzw. integra-
tive Verhalten gegenüber. Dazu mehr nach der nächsten Zwischenüberschrift (Migration
als globales und lokales Phänomen: Diversität managen).

Diversität suchen im Rahmen des Innovationsmanagements


Die in der Überschrift angesprochene „Suche“ nach Diversität bzw. Internationalität ist im
unternehmerischen Kontext immer (auch) gekoppelt an das Ziel der Gewinnmaximierung
und Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit. Dies kann wie im vorherigen Abschnitt über die
organisationsstrategische Internationalisierung bzw. eine darauf abgestimmte HR-­Strategie
erfolgen, wie auch durch ein in der Einleitung zu Kap. 3 angesprochenes „Diversity &
Inclusion“-Management. Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Diversity im Unter-
nehmenskontext ist jedoch die Annahme oder Hoffnung, dass kulturelle Vielfalt (im
­Rahmen der speziellen Internationalisierungsvariante) auch zu mehr „kultursensiblen
Produktinnovationen“ im Betrieb führt. Um möglichst viele Belege für diese Hypothese
stark

Geozentrische/Globale Strategie Regiozentrische/Transnationale Strategie


Nutzung von Globalisierungs- bzw. Standardisierungsvorteilen

 Aktivitätsfokus: Welt  Aktivitätsfokus: Welt/Region


 Marktpenetration: Direktinvestition + Export  Marktpenetration: Direktinvestition + Export
 Netzwerk aus dezentral agierenden, nahezu gleichberechtigten  Organisation: Entscheidungen werden dezentral getroffen in den einzelnen
Mutter- und Tochtergesellschaften bzw. nationalen und regionalen Ländergruppen, um in diesen zentral auf die Eigenheiten des speziellen
Organisationseinheiten Wirtschaftsraumes (EU, Lateinamerika, Vorderasien etc.) differenziert reagieren
 Rekrutierung, Stellenbesetzung, Entwicklung: Die geeignetsten zu können (= Spezialform der polyzentrischen Strategie)
Kosten: Integrationserfordernis

Personen („Pioniere“) vor Ort werden für Schlüsselpositionen in  Rekrutierung, Stellenbesetzung, Entwicklung: Die geeignetsten Personen
der ganzen Welt ausgebildet („Pioniere“) vor Ort werden für Schlüsselpositionen in den regionalen Märkten
 Coaching: Interkulturelles, geozentrisches Coaching durch ausgebildet
„Weltbürger“ als Coaches  Coaching: Interkulturelles, regiozentrisches Coaching für die Besonderheiten
durch Kundige der verschiedenen, regionalen bzw. lokalen Kontexte

Ethnozentrische/Internationale Strategie Polyzentrische/Multinationale Strategie


 Aktivitätsfokus: Heimatland  Aktivitätsfokus: Gastland
 Marktpenetration: Export  Marktpenetration: Kooperation (Joint Venture)
 Organisation: Im Mutterunternehmen, zentral getroffene  Entscheidungen werden dezentral und autonom getroffen in den
Entscheidungen werden hierarchisch bzw. unverändert in den einzelnen Tochtergesellschaften/Ländermärkten (z.B. Japan), um auf die
Tochtergesellschaften umgesetzt Eigenheiten des speziellen Marktes differenziert reagieren zu können
 Rekrutierung, Stellenbesetzung, Entwicklung: Personen werden im  Rekrutierung, Stellenbesetzung, Entwicklung: Personen der lokalen
Land des Mutterunternehmens für Schlüsselpositionen ausgebildet, um Nationalität werden für Schlüsselpositionen im eigenen Land ausgebildet
sie dann als Expatriates global an verschiedenen Standorte  Coaching: „Normales“ Coaching im jeweiligen, lokalen Landeskontext
einzusetzen (oder als Impatriates, um in der Kultur des (Beisp.: französischer Coach für Franzosen)
Mutterunternehmens sozialisiert zu werden)
 Coaching: Interkulturelles, ethnozentrisches Coaching von Ex- oder
gering

Impatriates möglichst durch Coaches des aufnehmenden Landes

gering Nutzen von Differenzierungsvorteilen stark


Kosten: Lokalisierungserfordernis

Abb. 3.7 Das EPRG-Modell und seine speziellen Coaching-Varianten. © Stefan Stenzel 2022. All
Rights Reserved
3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt 143

zusammenzutragen, startete die Bertelsmann Stiftung im Jahr 2018 eine Metastudie mit dem
Titel „Faktor Vielfalt – Die Rolle kultureller Vielfalt für Innovationen in Deutschland“
(Bertelsmann Stiftung, 2018). Auf der Basis der Analyse von 15 Studien zwischen den Jah-
ren 2003 und 2017 kommen deren Autoren zu dem Schluss, dass diese Annahme zwar be-
legbar (i. S. von positiv signifikant) ist, jedoch infolge der Heterogenität der Forschungs-
ansätze (z. B. bei der Wahl des Forschungsdesigns bzw. der Wahl und Operationalisierung
der abhängigen und unabhängigen Variablen) die Aussagen eher heterogen bzw. teilweise
schwer vergleichbar sind (Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 31). So unterscheiden sie sich hin-
sichtlich des verwendeten Maßes für die Vielfalt (z. B. Nationalität, Sprache, Religion, Alter,
Geschlecht, kulturelle Dimensionen oder Cluster etc.), der Wirkbeziehungen (z. B. Unter-
nehmenskultur, gesteigerte Kreativität, kultursensible Bedarfe, innovationsfördernde,
persönliche Eigenschaften von Einwanderern etc.) oder aber der Operationalisierung des
Innovationsbegriffes (z. B. prozess- oder produktbezogen, technisch, sozial etc.) bzw. ­dessen
Indikatoren (z. B. Patente, Finanzkennzahlen, Produktivität, Unternehmensgründungen etc.).

Durch geringe, aber meist signifikante Effekte zeigen sich bei den Studien zu folgen-
den Spezialthemen: (1) Lokale Bedarfe können von diversen und damit kultursensibleren
Unternehmen bzw. Teams vor Ort besser identifiziert werden; (2) die unterschiedlichen
Informationen und Interpretationsmuster in diversen Einheiten stimulieren die Kreativität
der darin arbeitenden Menschen und erhöhen so die Chance von Innovationen; (3) es er-
härtet sich die Vermutung, dass der Entschluss zur Migration bei den betroffenen Personen
mit Persönlichkeitsmerkmalen wie Mut und Entschlusskraft einhergeht und diese sich
wiederum positiv auf Kreativität und Problemlösekompetenz auswirken; (4) Regionen mit
qualifizierten Zuwanderern von großer Diversität schaffen innovative Milieus, die sich
ihrerseits positiv auf die Innovationsfreudigkeit in den Unternehmen auswirken; (5) wie
auch schon eingangs des Kap. 3 dargestellt, sind die Reife des ggf. vorhandenen D&I-­
Managements sowie die bestehende Unternehmens- und Führungskultur, auf welche die
Zuwanderer in den Betrieben treffen, maßgeblich dafür, ob sich die Diversität innovations-
stimulierend auswirken kann (Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 43).
Über alle Studien hinweg konnten folgende Hypothesen mehrfach bestätigt werden: (1)
Nicht der Anteil von Zuwanderern ist entscheidend, sondern eher ihre kulturelle Vielfalt;
(2) tendenziell verstärkt ein hohes Bildungsniveau auch die durch die kulturelle Diversität
erhoffte Innovationsfähigkeit; (3) mit Einschränkungen zeigt sich darüber hinaus, dass
sich die Innovationsfreude auch über regionale bzw. urbane Vielfalt stimulieren lässt; (4)
kleinere Untenehmen profitieren weniger von der Diversität als größere Unternehmen; (5)
Geschlechterdiversität wirkt sich positiv auf Innovation aus; (6) hinsichtlich Altersdiversi-
tät scheint dies nicht der Fall zu sein (Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 44).
Auch die Verfasser der Bertelsmann-Metastudie schließen mit der Forderung nach
einem verstärkten Engagement der Politik und weiterer, mehr systematischer und konzer-
tierter Forschung zu diesem gesellschaftlich zunehmend relevanten Thema in fast allen
Industrieländern. Denn die globalen Migrationswanderungen haben wahrscheinlich erst
begonnen.
144 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

Diversität managen: Migration als globales und lokales Phänomen


Obwohl der Grund für den Entschluss zu einer so radikalen Änderung des Lebens durch
Aus- bzw. Einwanderung in ein anderes Land für die sich auf die Reise machenden Men-
schen schon immer sehr unterschiedlich sein konnte: Migration gab es schon immer und
überall auf dem Globus. Seit dem 20. Jahrhundert ist sie jedoch zum Zeitzeichen der per-
manent voranschreitenden Globalisierung sowie einer leichteren bzw. ungehinderten
Mobilität geworden – in der Personifizierung des „Weltbürgers“ oder „Globetrotters“ sogar
als Indikator eines modernen Lebensstils. Veranlasst durch oder mit den Menschen selbst,
kommt es so zum weltumspannenden Austausch von Gütern, Ideen, Informationen und
vielem mehr. Im Falle „wandernder“ Menschen liegen die Ursachen bzw. der Anstoß für
sie, ihr Heimatland zu verlassen, z. B. in attraktiveren Bedingungen eines Aufnahme-
landes – den sogenannten Pull-Faktoren. Oder aber in Widrigkeiten im eigenen Land, wie
z. B. Krieg, einer schlechten Wirtschafts- oder Rechtslage und auch immer häufiger an sich
verschärfenden klimatischen Bedingungen bzw. der damit oft einhergehenden, kritischen
Ernährungslage. Diese und andere negative Impulse subsumiert man unter Push-Faktoren.

Wie bereits die Beispiele vermuten lassen, kann man drei Faktorencluster für Migra-
tion bilden. Soziopolitische Faktoren (z. B. Verfolgung aufgrund von Εthnie, Religion,
politische oder rassistische Beweggründe), demografische und wirtschaftliche Faktoren
(z. B. beeinflusst u. a. durch den demografischen Anteil an jungen und älteren erwerbs-
fähigen Menschen, bessere Beschäftigungsmöglichkeiten bzw. höhere Löhne, Lebens-
standards und Bildungsaussichten). Das dritte Cluster sind Umweltmigranten. Die Inter-
nationale Organisation für Migration (IOM)46 definiert Umweltmigranten als Personen,
„die aufgrund plötzlicher oder fortschreitender Veränderungen der Umwelt, die sich nach-
teilig auf ihr Leben oder ihre Lebensbedingungen auswirken, gezwungen sind, ihren ge-
wohnten Wohnort vorübergehend oder dauerhaft zu verlassen, und entweder innerhalb
ihres Landes umziehen oder ins Ausland gehen“. Das heißt, sie fliehen vor Naturkatastro-
phen und ihren Folgen wie Überschwemmungen, Wirbelstürmen und Erdbeben. Zu dem
Umweltcluster zählt jedoch nicht nur die auf die Natur bezogene Umwelt, sondern all-
gemeine Lebensbedingungen wie schlechte Staatsführung, Konflikte, Sicherheit, Be-
völkerungswachstum und Armut. Man schätzt, dass bis zum Jahr 2050 von 25 Millionen
bis zu 1 Milliarde Menschen allein als Umweltmigranten ihre Heimat verlassen werden
(Europäisches Parlament 2020).
Unabhängig von den Ursachen beschreibt die sogenannte Migrationsrate die Ein- oder
Auswanderung der Bevölkerung eines Landes. Die Nettomigrationsrate ist dabei die
Rate aus der Anzahl der Personen, die in ein Land einwandern, minus der Anzahl der Per-
sonen, die selbiges Land verlassen. Sie wird in der Anzahl der Migranten je 1000 Ein-
wohner ausgedrückt und ist auch ein Indiz für die soziale Lage eines Landes. Durch ver-
schiedenste Begebenheiten, wie z. B. den Krieg in Syrien, variieren die Zahl der Migranten
von Jahr zu Jahr.47 Die größen Einwanderernationen wie die USA, Kanada, Australien,

46
(https://environmentalmigration.iom.int/).
Aktuelle Informationen zu den globalen Migration finden sich unter: https://www.indexmundi.
47

com/map/?v=27&l=de. Zugegriffen am 21.03.2021.


3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt 145

Saudi-Arabien verdanken ihren Aufstieg u. a. den Migranten bzw. wurden – wie im Falle
der USA und Australiens – durch sie erst konstituiert.
Auf Deutschland und dessen Arbeitsmarkt bezogen ist Zuwanderung seit den ersten
Gastarbeitern aus dem Süden Europas in den 1950er-Jahren ein Thema. Auch sie trugen
wesentlich zu dem sogenannten Wirtschaftswunder und damit zum Aufbau des damaligen
Westens Deutschlands bei. Infolge der uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit seit
dem 1. Mai 2011 für die neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
(EU), der Schuldenkrise in Irland, Griechenland, Spanien und Portugal in den Anfangs-
jahren von 2010er-Jahre, insbesondere jedoch infolge der Flüchtlingsmigration aus den
Kriegsgebieten Syrien, Irak und Afghanistan im Jahr 2015 muss Deutschland nun definitiv
als Immigrationsland gesehen werden – mit allen damit verbundenen Risiken und Chan-
cen für Gesellschaft und Wirtschaft. So nimmt dadurch einerseits zwar das Arbeitskräfte-
angebot zu – jedoch steigt auch das Risiko von Arbeitslosigkeit, wenn die Menschen und
ihre Kompetenzen nicht zu den benötigten Fachkräfteprofilen passen. Inwieweit dies zu-
trifft, wird sehr stark durch die Art der Migration bestimmt. Immigrieren sie durch die at-
traktiveren Pull-Faktoren im Aufnahmeland, spricht man von Arbeits- oder Erwerbs-
migration. Werden die Menschen durch widrige, lebensfeindliche Push-Faktoren
vertrieben, subsumiert man dies unter Fluchtmigration. Liegen bei Ersteren meist Pla-
nung und ein gezielter Abgleich zwischen vorhandenem und dem im Gastland gesuchten,
speziellen Qualifikationsprofil vor, geht es bei Letzteren oft durch einen plötzlich herauf-
ziehenden Krieg, Naturkatastrophen etc. darum, das eigene Leben zu retten oder aber
­zumindest für die Kinder bessere Lebens- und Berufsperspektiven zu schaffen.48 Die Inte-
gration von Arbeitsmigranten (oft von Akademikern) gelingt daher meist einfacher und
schneller als die sich oft über mehrere Jahre oder sogar eine Generation hinziehende
Flüchtlingsmigration.
Für die Zuwanderung von Hochqualifizierten in der EU gibt es unter dem Motto „Make
it in Germany“ in Deutschland seit 2012 die sogenannte „Blue Card“. Sie ist der zentrale
Aufenthaltstitel für akademische Fachkräfte aus dem Ausland zum Zwecke der Auf-
nahme einer Erwerbstätigkeit in dem jeweiligen Mitgliedstaat der EU oder für Angehörige
von Drittstaaten. Von ihr erhofft man sich, dem künftig erwarteten oder bereits bestehenden
Mangel an akademischen Fachkräften in vielen Beschäftigungssektoren (z. B. Ärzte, Inge-
nieure, Naturwissenschaftler, Mathematiker und IT-Fachkräfte) begegnen zu können.
Nachzuweisende Voraussetzungen sind dabei ein abgeschlossenes Hochschulstudium
sowie eine Gehaltsuntergrenze (bei Mangelberufen) von 44.304 Euro brutto (Stand 2021).
Ferner bietet die „Blaue Karte“ der EU zahlreiche Privilegien wie z. B. ein frühzeitiges
Daueraufenthaltsrecht für den Zuwanderer und seine Familie und damit eine Lebens-
planung in Deutschland. Schon nach einem Aufenthalt von 33 Monaten kann eine

48
Die jeweils aktuelle Migrationssituation bzw. deren regionale Verteilung der ausländischen Be-
völkerung in Deutschland findet sich im gemeinsamen Datenangebot von Destatis, BA und BAMF
in deren interaktivem Kartenangebot: https://service.destatis.de/DE/karten/migration_integration_
regionen.html#AZR_ANT_EU28_AUSL. Zugegriffen am 21.03.2021.
146 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

u­ nbefristete Niederlassungserlaubnis ermöglicht werden. Können Deutschkenntnisse auf


der Stufe B1 nachgewiesen werden, kann die Niederlassungserlaubnis sogar bereits nach
21 Monaten erteilt werden. Vom Erfolg der „Blauen Karte“ der EU in Deutschland schon
vier Jahre nach Einführung berichtet die Befragung des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) in ihrem 2016 verfassten Forschungsbericht. Insgesamt erreicht
Deutschland im Jahr 2019 trotz dieser Maßnahmen laut der OECD-Studie im Länder-
ranking der „OECD Indicators of Talent Attractiveness“ nur einen mittelmäßigen Platz 11,49
da Hochschulabschlüsse und andere Qualifikationen ausländischer Fachkräfte zu oft ab-
gewertet oder gar nicht erst anerkannt werden. Weniger restriktiv zu sein wäre unter ande-
rem eine einfache Maßnahme gegen den Fachkräftemangel. Lernen könnte man hier viel-
leicht von den Spitzenreitern Australien, der Schweiz und Schweden. Lern- und
Handlungsimpulse für die Attraktivität von Deutschland als Einwanderungsland finden
sich dabei in der OECD-Studie50 von 2020 „How attractive is Germany for foreign profes-
sionals?“.
Im Falle ausländischer, nicht akademischer Fachkräfte auf dem deutschen Arbeits-
markt (BAMF, 2020) vermittelt der entsprechende Bericht des BAMF von 2020 eine eher
differenzierte Bestandsaufnahme seit dem Inkrafttreten des überarbeiteten Fachkräfte-
einwanderungsgesetzes am 1. März 2020. Ziel der angesprochenen Analyse des BAMF
ist es, die Ausgangslage vor Inkrafttreten des Gesetzes zu beschreiben, um derart einen
Referenzpunkt für spätere Evaluationen der Umsetzung und Wirkungsweise zu haben.
So stellt der Bericht des BAMF von 2020 in seinem Fazit fest (BAMF, 2020, S. 81),
dass die Gewinnung von akademischen und nicht akademischen Fachkräften aus dem Aus-
land nach wie vor eine wichtige Säule der Fachkräftegewinnung ist und auch bleiben wird.
Er rät jedoch zu einer differenzierten regionalen, ja sogar lokalen Betrachtung des Fach-
kräftemangels und verweist zudem auf die zeitliche Wirkungsverzögerung der von der
Bundesregierung auf den Weg gebrachten, rechtlichen Maßnahmen. Zumal viele der Zu-
wanderer jüngeren Alters sind und die verschiedenen Ausbildungsstationen vom Schulab-
schluss über den Berufseinstieg bis hin zur beruflichen Etablierung für viele zumindest in
Teilen noch vor ihnen liegen. In der Konsequenz heißt dies, dass sich die Maßnahmen
wahrscheinlich erst mittel- bis langfristig positiv auf den deutschen Arbeitsmarkt auswirken
werden. Ferner mahnt der Bericht (BAMF, 2020, S. 82) zu einer Berücksichtigung der
wirtschaftlich potenziell veränderlichen Lage innerhalb Deutschlands wie auch in der
EU. So bleibt z. B. abzuwarten, ob die vor COVID-19 vorherrschenden günstigen Rahmen-
bedingungen sich erneut einstellen werden und wie sich der auch in anderen EU-Ländern
herrschende Fachkräftemangel auswirken wird. Eine zusätzliche Herausforderung ergibt
sich für alle EU-Staaten hinsichtlich des durchgehenden Fachkräftemangels nur in be-
stimmten Fachbereichen, wie z. B. der Digitalisierung. Inwieweit hier eine bedarfsgerechte,
passgenaue Zuwanderung oder aber ein Up- oder Reskilling der Migranten g­ elingt, bleibt

49
https://www.oecd.org/berlin/presse/talent-attractiveness-29052019.htm. Zugegriffen am 21.3.2021.
50
https://www.oecd.org/migration/mig/migration-policy-debates-23.pdf. Zugegriffen am 21.03.2021.
3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt 147

abzuwarten. Eine enge Kooperation von Wirtschaft und Verwaltung sieht der Bericht dazu
als unabdingbar.

3.3.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Doch gleich, ob es bei dieser Thematik um akademisch oder nicht akademisch vorgebildete
Migranten geht: Zentraler Stellhebel für den allseitigen Nutzen scheint – wie beim Thema
„Diversity“ die Inklusion – beim Thema „Migration“ die Integration zu sein. Denn die
Konsequenzen dieser seit 2015 zumindest medial veränderten Herausforderung treffen
sowohl das aufnehmende Gastland als Nation und die darin agierenden Unternehmen wie
auch die Migranten selbst. Gerade bei Letzteren vermutet man, dass ihre Selbstselektion
hinsichtlich des Migrationsentschlusses auf Eigenschaften wie Risikofreude, Schaffens-
kraft und Kreativität zurückzuführen ist und sie deshalb oft die Strapazen und Risiken
einer Flucht auf sich genommen haben. Im oben beschriebenen, akademischen Bereich
bringen sie neben der Kenntnis der Besonderheiten des Marktes ihres Heimatlandes im
Idealfall sogar eine Expertise in einem speziellen Wissensgebiet mit. Darüber hinaus sind
sie meist eher jung an Jahren und wollen nicht nur ihre eigene Zukunft gestalten. Da diese
Idealvoraussetzungen jedoch nicht immer gegeben sind, bedarf es von allen Parteien
neben viel gutem Willen und Geduld der fokussierten und abgestimmten Aktivitäten aller
Beteiligten auf verschiedenen Ebenen.

Konsequenzen auf nationaler bzw. staatlicher Ebene: ein konzertierter Aktionsplan


Auf nationaler Ebene hat dazu das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)
innerhalb des Nationalen Aktionsplans Integration (NAP-I) am 28. Mai 2019 das
Themenforum „Integration in den Arbeitsmarkt“51 ins Leben gerufen. Der ergebnisoffene
Dialogprozess wurde in rund 20 Fachveranstaltungen durchgeführt, an denen sich 150
Expert:innen aus weit mehr als 100 staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen
beteiligten. Das Abschlussdokument bzw. die Ergebnisse des Themenforums „Integration
in den Arbeitsmarkt“ wurden dann am 19. Oktober 2020 auf dem Integrationsgipfel der
Öffentlichkeit präsentiert. Er enthält folgende sechs Themen- und Handlungsfelder zu den
aktuellen Fragen von Zuwanderung und Arbeitsmarkt. (1) Berufliche Ausbildung fördern:
Wer in Deutschland beruflich Fuß fassen will, benötigt einen formalen beruflichen Ab-
schluss, den aktuell zu wenige Zuwanderer erwerben. Die Erweiterung der Ausbildungs-
förderung der Bundesagentur für Arbeit wie auch weitere EU-weite Maßnahmen der
gesetzlichen Weiterentwicklung für die Aufnahme und den Abschluss einer Ausbildung in
Deutschland sollen zukünftig Abhilfe schaffen. Man hofft dadurch auch die Mobilitäts-
bereitschaft junger Menschen innerhalb der EU zu stärken. (2) Da das Sprachverständnis

51
https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Fachkraeftesicherung-und-Integration/Migration-und-Arbeit/
Nationaler-Aktionsplan-Integration/nationaler-aktionsplan-integration-art.html#doc693e5897-
2111-4108-80ac-e6c5c1b7cc95bodyText7. Zugegriffen am 22.03.2021.
148 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

gerade am Anfang für Migranten oft ein Hindernis bei der Nutzung der bestehenden
arbeitsmarktrelevanten Angebote darstellt, sollen die entsprechenden Informations-
medien zielgruppengerechter, d. h. digital, mehrsprachig bzw.in leichter Sprache auf-
bereitet werden. Um eine (3) dauerhafte Verfestigung der Prekarisierung von Arbeits-
verhältnissen bzw. generell Arbeitsausbeutung von Migranten zu vermeiden, sollen
Kenntnis über Arbeits- und Strafrecht oder zum Thema „Aufwärtsmobilität“ dem früh-
zeitig entgegenwirken. Leicht zugängliche und auch eine adressatengerechte Aufbereitung
der Informations- und Beratungsangebote sind dabei unerlässlich. Da (4) die Erwerbs-
quote geflüchteter Frauen am Arbeitsmarkt äußerst gering ist, soll dem in Form spezieller
Programme und Aktivitäten zur Arbeitsförderung und Qualifizierung entgegengewirkt
werden. Sollte es ein Ziel der Migrationspolitik sein, die dann (5) in Deutschland quali-
fizierten Migranten, neben den bereits hoch qualifizierten zuwandernden Fachkräften,
letztlich auch langfristig in Deutschland zu halten, ist für die Betroffenen und ihre ggf.
mitziehenden Familienangehörigen ein gutes Integrationsmanagement äußerst wichtig.
Neue, eher regionale Kooperationsformate zwischen den Zugewanderten, der Zivil-
gesellschaft und Arbeitgebern könnten hier wegweisend sein. Um die bei den Migranten
vorhandenen Kompetenzen und Qualifikationen auch im Sinne der volkswirtschaftlichen
Bedarfe im mittleren und hohen Qualifikationssegment i. S. der (6) beruflichen Aufwärts-
mobilität besser zu nutzen bzw. weiterzuentwickeln, versprechen wahrscheinlich eher
niederschwellige und adressatengerechte Beratungsangebote hinsichtlich der umfang-
reichen Fördermöglichkeiten um beruflichen Aufstieg über das gesamte Erwerbsleben
hinweg den größten Erfolg. Doch die genannten, eher regionalen Kooperationsformate
bergen auch noch einen weiteren Hoffnungskeim.

Konsequenzen auf der regionalen Ebene: Kreative Regionen und Milieus


Ganz nach dem Vorbild des Silicon Valley an der Westküste der USA verbindet sich auch
in Deutschland mit Migration immer wieder auch die Hoffnung auf die Entstehung
innovationsförderlicher, kreativer Regionen und (städtischer) Milieus bzw. die damit ver-
bundene wirtschaftliche Stärkung derselben z. B. durch Start-ups. Als „deutsches Silicon
Valley“ gilt heutzutage auch international die Hauptstadt Berlin. Empirische Bestätigung
des Zusammenhangs von kultureller Vielfalt und der Innovationskraft einer Region (meist
gemessen an der Anzahl an Patenten) scheint sich danach dann einzustellen, wenn hoch
qualifizierte Migranten auf eine weltoffene Urbanität treffen (Bertelsmann Stiftung,
2018, S. 34). Inspiriert durch den sich eher erzählerisch als durch empirische Fundierung
hervorhebenden Bestseller von Richard Florida (2019) zu Anfang der zweitausender
Jahre, machten sich mehrere Forscherteams an die Arbeit, die entsprechenden Belege in
einer Metastudie zusammenzutragen und erneut zu analysieren. Dabei stellte sich heraus,
dass insbesondere soziokulturelle Faktoren wie unterschiedliche Migrationsmuster, die
nationale Einwanderungspolitik wie auch die Kultur des jeweils aufnehmenden Landes
einen Einfluss haben. Im Falle von Start-ups sind diese Pull-Faktoren für die ohnehin sehr
mobile „kreative Klasse“ mit entscheidend für eine betriebswirtschaftlich, aber auch an
Lebensqualität orientierte Standortwahl (Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 30).
3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt 149

Konsequenzen auf der Unternehmensebene: Je nachdem!


Sind Unternehmen, wie eingangs des Kap. 3 beschrieben, prinzipiell davon überzeugt,
dass ihnen als Konsequenz ihrer D&I-Aktivitäten (und jenseits des sozialen oder gar mo-
ralischen Imperativs) entscheidende wirtschaftliche Vorteile winken, stellt sich für sie
letztlich „nur noch“ die Frage, welches Handeln welche Konsequenzen nach sich zieht –
wie für sie ein „Nationaler Aktionsplan Integration (NAP-I)“ begründet werden und aus-
sehen könnte. Die bereits erwähnte Metastudie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr
2018 gibt hier erneut wertvolle, weil empirisch gesicherte Befunde, welche nachfolgend
stark komprimiert dargestellt werden sollen.

So gilt für das Qualifikationsniveau der Migranten zum einen: Je qualifizierter die
Zuwanderer, desto positiver die Konsequenzen für die Innovationsfähigkeit des Unter-
nehmens und die Region. Diese Effekte sind schwächer oder zeigen sich gar nicht bei
gering qualifizierten Migranten. Zum anderen, dass die positive Effektstärke – von den
hoch qualifizierten Zuwanderern im Hightechsektor einmal abgesehen – bei den mittel-
mäßig und weniger qualifizierten im Produktionsgewerbe und auch im Dienstleistungs-
bereich immer schwächer wird. Als Maß für die Innovation der in Deutschland, Frank-
reich und Großbritannien wurde die sogenannte Faktorenproduktivität herangezogen; als
Kriterium für die Diversität wurde die Vielfalt der Herkunftsländer genutzt (Bertelsmann
Stiftung, 2018, S. 35).
Hinsichtlich der Diversität innerhalb der Zugewanderten gibt es Belege dafür, dass
kulturelle Vielfalt negative Effekte eines niedrigen Qualifikationsniveaus nicht kom­
pensieren kann. Ferner gab es Hinweise, dass Geschlechterdiversität im Vergleich zur kul-
turellen Diversität einen geringeren Einfluss – die Altersdiversität sogar keinen Effekt auf
die Innovationskraft der Region hatte. Einen Zuwachs der Innovationskraft gemessen in
Patentanmeldungen um 10 % konnte eine dänische Studie nachweisen. Als positiven Trig-
ger für dieses beeindruckende Wachstum wurde vor allem die ethnische Vielfalt identi-
fiziert. Zudem stieg mit ihr die fachliche Breite der Patentanmeldungen. Keinen numeri-
schen Erklärungsbeitrag lieferten in dieser Studie dagegen die Demografie und auch das
Bildungsniveau. Der Einfluss der Größe des Unternehmens wirkte sich in einer anderen
Studie, in der unterschiedlichste Nationalitäten zu Clustern zusammengefasst wurden,
dahingehend aus, dass in Großunternehmen jedes zusätzliche kulturelle Cluster die
Produktivität um ein Prozent steigerte. In Betrieben mit weniger als 20 Angestellten hatte
ein Mehr an etwa gleich großen Clustern sogar einen negativen Einfluss auf den Umsatz
(Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 36).
Im Themenfeld „Diversität von Management und Führung“ (Bertelsmann Stiftung,
2018, S. 37) gab es einer in Großbritannien durchgeführten Untersuchung zufolge schwa-
che Hinweise dafür, dass von Zuwanderern geführte Unternehmen möglicherweise hin-
sichtlich der Produkt- und Prozessinnovation erfolgreicher sind bzw. die Effekte nicht
etwa auf regionale Effekte zurückzuführen waren. Das Bundesministerium für Wirtschaft
und Energie könnte im Falle deutsch-nichtdeutscher Gründerduos bestehend aus einem
Deutschen und einem Migranten eine höhere Wahrscheinlichkeit im Themenbereich For-
150 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

schung und Entwicklung feststellen. Im Falle kultureller Diversität auf der Führungsebene
­konnten die eingangs des Kapitels angeführten Studien der Beratungshäuser McKinsey
und Boston Consulting Group (BCG) mehrfach – national wie auch international – kon-
sistent von einer Branchenführerschaft hinsichtlich der Profitabilität der Unternehmen be-
richten (Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 37).
Unter der Überschrift „Herausforderungen und Gelingensfaktoren“ subsumiert die
Metastudie von Bertelsmann (Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 38 und 41) Themenbereiche,
welche die Wahrscheinlichkeit positiver Konsequenzen erhöhen bzw. die der negativen redu-
zieren. Zu den möglichen Hemmnissen zählen dabei Sprachprobleme, Separierungen inner-
halb kulturell diverser Gruppen, ein größeres Konfliktpotenzial, interkulturelle Missver-
ständnisse sowie eine per se große kulturelle Distanz. Als Gelingensfaktoren werden genannt:
ein professionelles D&I-Management, bei dem es um die Sensibilisierung für die Unter-
schiede z. B. bei den Kommunikationsstilen geht, auf die Heterogenität innerhalb der Ein-
wanderergruppe geachtet wird, Qualifikation und Qualifizieren einen besonderen Stellen-
wert erhalten und insbesondere interkulturell kompetente Manager mit Auslandserfahrung
und geringer Machtdistanz befördert werden. Doch was muss konkret beachtet oder getan
werden bzw. welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Fach- und Führungskräfte?

Konsequenzen für die Fach- und Führungskräfte: Das Eigene, das Fremde und das
Interkulturelle52
Ziel auf der personellen Ebene im Wirtschaftskontext ist die Gestaltung zumindest (öko-
nomisch) produktiver Beziehungen bzw. einer kooperativen Aufgabenbewältigung zwi-
schen mindestens zwei Entitäten aus mindestens zwei verschiedenen Kulturen. Der
Abstraktionsgrad dieses einführenden Satzes macht dabei sogleich deutlich, dass in der
Realität eine vielfältige phänomenologische Ausgestaltung vorliegen kann. Denn ist Füh-
rung im Wesentlichen von Interaktion verschiedenster „Einheiten“ geprägt, ist sie fast
immer auch interkulturell. Doch zunächst zu den elementaren Bestimmungsstücken der
obigen Aussage.

Aus der unüberschaubaren Anzahl von „Kultur“-Begriffen soll hier die von Thomas
(Thomas et al., 2005, S. 22) entwickelte Definition in seinen Kernaussagen wiedergegeben
werden. Kultur wird darin als universelles Phänomen jeder menschlichen Gemeinschaft
gesehen. Sie manifestiert sich in den sozialen Konstrukten bzw. Entitäten wie Nation, Ge-
sellschaft, Organisation oder Gruppe und manifestiert sich in deren typischem
Orientierungssystem. Sie konkretisiert sich in spezifischen Symbolen (z. B. Sprache,
Mimik, Gestik, Ritualen, Kleidung etc.) und wird in den obigen Entitäten an die Folge-
generationen weitergegeben. Mittels der Beeinflussung der Wahrnehmung, des Denkens
und Handelns aller Mitglieder ermöglicht dieses Orientierungssystem die Zugehörigkeit
der Mitglieder festzustellen und das Überleben in einer speziellen Umwelt. Es zeigt Hand-
lungsbedingungen und -grenzen auf bzw. schafft in diesem Rahmen Handlungsmöglich-

52
Nach der gleichnamigen Überschrift von Thomas et al., 2005, S. 44.
3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt 151

keiten und -anreize. Die dabei wirkenden sozialverbindlichen Normen und Regeln wirken
kollektiv sinnstiftend und dadurch auch im Alltag entlastend. Erworben werden sie über
Sozialisationsprozesse. ­Verlaufen diese erfolgreich, spricht man von Enkulturation hin-
sichtlich der Eigenkultur. Diese sorgt letzten Endes dafür, dass es schwerfällt, zu verstehen,
warum Personen außerhalb des eigenen Kulturkreises „die Welt“ nicht so denken, leben
und fühlen wie man selbst. Für die Interaktionspartner sicht- und spürbar wird dies immer
dann, wenn die kulturspezifisch normierenden und daher so „normalen“ Kulturstandards
meist unwissentlich verletzt werden. Als deutsche Kuturstandards gelten nach Thomas
(Thomas et al., 2005, S. 26) z. B. Sach- und Regelorientierung, Direktheit und Wahrhaftig-
keit, interpersonale Distanzdifferenzierung, internalisierte Kontrolle, Zeitplanung und die
Trennung von Persönlichkeits- und Lebensbereichen. Neben diesen generischen, zentralen
gibt es auch bereichsspezifische Kulturstandards für spezielle Handlungsfelder
(z. B. Problemlösen: vorab und systematisch vs. prozessbegleitend und über Versuch-Irr-
tum-Lernen). Besonders hohe Verbindlichkeit weisen die sogenannten kontextuellen
Kulturstandards auf, welche bei Nichtbeachtung als grober Verstoß gelten. Beispielhaft
kann hier das Senioritätsprinzip in asiatischen Ländern genannt werden, welches die un-
mittelbare Verschiebung des Personenfokus von jüngeren, in einem Raum befindlichen
Personen verlangt, sobald eine wesentlich ältere Person diesen Raum betritt. Der Kontext
„seniore Person betritt einen Raum mit miteinander interagierenden, jüngeren Personen“
setzt der sozialen Interaktion daher abrupt einen absolut vorrangigen Handlungsanreiz
bzw. deutliche Handlungsgrenzen. Acht bis zehn Kulturstandards gelten in den meisten
Nationen als das „kleine Abc“, welches hilft, die schlimmsten Fauxpas zu verhindern. Ziel
der interkulturellen Begegnungspraxis ist es daher, Respekt und Wertschätzung der Fremd-
kultur entgegenzubringen, ohne jedoch die eigene zu verleugnen, und in einer möglichst
intensiven Interaktion nach kulturellen Synergien zu suchen. Orientierung dazu geben auch
die sogenannten Kulturdimensionen des Pioniers der vergleichenden Kulturforschung,
Geert Hofstede (1981). Obwohl eher holzschnittartig, ermöglichen seine faktorenana-
lytisch an 116.000 Mitarbeitern eines Computerkonzerns aus 53 Ländern mit 20 Sprachen
gewonnenen vier Dimensionen Machtdistanz, Individualismus/Kollektivismus, Unsicher-
heitsvermeidung und Maskulinität/Femininität eine erste, grobe kulturelle Orientierung.
Im Jahr 1987 kam durch die zunehmende Relevanz des chinesischen Marktes eine fünfte
Dimension hinzu: die Langzeitorientierung. Sein Landsmann Fons Trompenaars (1993)
schuf 12 Jahre später weitere Dimensionen, die jedoch eher populärwissenschaftlich bzw.
von seiner eigenen beruflichen Erfahrung geprägt waren. Ergänzt wurden diese eher sozial-
psychologisch orientierten Verortungsmöglichkeiten von Hofstede und Trompenaars be-
reits 1985 durch das am speziellen Erleben von Zeit und Raum der jeweiligen Kultur an-
setzende Konzept des Anthropologen Edward T. Hall (1985). So haben Kulturen mit einer
monochronen Zeitauffassung eine Präferenz für die lineare Reihung von Tätigkeiten, Kul-
turen mit einer polychronen Zeitauffassung fühlen sich auch mit der nonlinearen Reihung
arbeitsfähig und komfortabel. Hall war es auch, der zur Beschreibung der kulturellen
Unterschiede einer Gesprächssituation mit den Begriffen der „High- und Low-Con-
text“-Kommunikation auf die Bedeutung des Kontexts hinwies. Wird bei Ersterer die Ge-
152 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

sprächsatmosphäre als relevanter angesehen, ist der Schwerpunkt der „Low-­Context“-


Kommunikation die umfassende Darstellung aller zur Verfügung stehenden Informationen.
Wie zu erwarten, folgten diesen „Klassikern“ noch weitere, mehr oder weniger wissen-
schaftliche Modelle zur Orientierung innerhalb einer Kultur.
Nicht nur durch die teilweise unzureichende empirische Fundierung rät Thomas (Tho-
mas et al., 2005, S. 71) zum bewussten und vorsichtigen Umgang mit diesen Modellen;
denn grundsätzlich besitzen die genannten Modelle per se zwei fundamentale „Web-
fehler“. Dies ist zum einen deren Eindimensionalität, zum anderen das Problem der Per­
spektive. Am Beispiel von Hofstedes Machtdistanz weist er hinsichtlich des ersten Kritik-
punktes darauf hin, dass die konkrete Ausgestaltung und Bewertung von Macht z. B. in
Frankreich und Japan völlig unterschiedlich sein kann – die „Klassiker“ sie aber dennoch
auf einer Dimension z. B. mit „hoch“ oder „niedrig“ bewertet werden lassen. Schier unlös-
bar scheint das Problem der notgedrungen ausschließlich eigenkulturell geprägten Per­
spektive, aus der derartige Modelle entstehen – es ist eben grundsätzlich menschenunmög-
lich, sich in Münchhausen-­Manier „am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen“. Wie
generell in den Sozialwissenschaften sind daher auch in diesem Themengebiet ein solides
methoden- und wissenschaftstheoretisches Wissen und eine gute Portion an Redlichkeit
bei der praktischen Nutzung angebracht. International erfahrene Praktiker kennen zudem
die Herausforderungen sehr heterogener, kultureller Teams, bei denen es nahezu unmög-
lich ist, sich hinsichtlich jedes Kulturrepräsentanten, in jedem Kontext und zu jeder Zeit
kultursensitiv zu verhalten oder im Bereich einer akademisch ausgebildeten Belegschaft
mit der starken Verwässerung bzw. Vermischung nationaler Eigenheiten durch lange Aus-
landsstudien oder sehr lange Auslandsaufenthalte adäquat umzugehen.53
Was zuweilen übersehen wird, ist, dass sich das kulturelle Orientierungssystem einer
Nation z. B. im Wirtschaftsbereich im Gesamtunternehmen, dessen Branche und Be-
reichen, Gruppen sich bis hin in die Dyade von Personen verschachtelt und überdies
eigene (sub-)kulturelle Besonderheiten dieser ohnehin schon einzigartigen Unter-
nehmenskultur hinzufügt. Im Sinne des Schachtelmodells von Höh (2000) weist bei-
spielsweise der Sales-Bereich der SAP SE (in Deutschland) hinsichtlich der unter-
nehmenskulturellen Ausprägung in den USA zwar unterschiedliche, aber eben auch
gemeinsame Merkmale auf.. Oder das Entwicklungsteam in Bangalore ähnelt, zumindest
in Teilen dem Entwicklungsbereich in Deutschland. Die Gemeinsamkeiten und Unter-
schiede manifestieren sich dabei nach dem Drei-Ebenen-Modell von Edgar Schein (1985)
in meist unbewussten, unsichtbaren und damit schwer zugänglichen Grundannahmen, teil-
weise sichtbaren und bewusst bekundeten Werten und Normen sowie materiellen oder
immateriellen Artefakten. So entsteht mit Thomas (Thomas et al., 2005, S. 40) aus der
National-, Unternehmens- und Gruppenkultur bzw. den darin (inter-)agierenden Indivi-
duen ein sehr dynamisch-veränderliches intra-nationalkulturelles Mehrebenenmodell,
welches im Falle einer Internationalisierung und/oder einer Fusion mit einem Unter-

53
So spricht man von Nichtdeutschen mit langer Verweildauer in Deutschland oder den USA ge-
legentlich von „Germanized“ bzw. „Americanized Colleagues“.
3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt 153

nehmen einer anderen intra-nationalen Ausprägung Synergien zwischen Eigen- und


Fremdkultur und damit das „Inter-Kulturelle“ finden muss.
Doch gleich, auf welcher Ebene die Interaktion geschieht (Thomas et al., 2005, S. 40): Es
sind immer Individuen oder Gruppen mit ihren Attributionsmustern, welche das Ver-
halten des Gegegenübers eher auf die Person als situativ bzw. auf die jeweilige Kultur
zurückführen. So handeln im Rahmen der sogenannten Überschneidungssituationen
beide Partner aus ihrem eigen- und damit monokulturellen Verständnis heraus. Anstatt in
einer Synthese der Eigen- und Fremdkultur etwas Neues zu schaffen, sehen sie die
eigene Kultur als überlegen (Dominanzkonzept), passen sich bis zur Selbstverleugnung an
(Assimilationskonzept), sehen die Kulturen als völlig inkompatibel (Divergenzkonzept)
oder sind – wie bereits oben erwähnt – i. S. des Synthesekonzeptes bereit, gemeinsam eine
völlig neue Qualität des Miteinanders zu entwickeln und zu leben. Damit es zu der
wünschenswerten letzten Variante kommt, bedarf es jedoch spezieller, psychologischer
Bedingungskonstellationen für die eigen-, fremd- und interkulturelle Orientierung.
So ist nach Thomas (Thomas et al., 2005, S. 49) die zentrale Konsequenz bzw. An-
forderung aus der natürlichen, eigenkulturellen Orientierung jedes Menschen, dass die
eigene Wahrnehmung, das Denken und Verhalten unter der jeweiligen Situation themati-
siert, reflektiert und in seinen Auswirkungen verstanden wird. In Frageform: Was ist das
Besondere bei mir und wie wirkt sich dies in der speziellen (Überschneidungs-)Situation
aus? Hinsichtlich der fremdkulturellen Orientierung gilt es auch hier zunächst die spe-
zielle Denk- und Handlungsweise des anderen zum einen zu verstehen, zum anderen als
ebenso vernüftig und sinnvoll wie die eigene zu bewerten. In einem größeren Kontext
würde es darüber hinaus zu einer Relativierung der fremd- und eigenkulturellen Orientie-
rung zueinander wie auch im Kontext der unzähligen anderen Varianten kommen. Denn je
nach Rahmenbedingung haben alle Orientierungssysteme Vor- und Nachteile – sind eben
nur eine (sozial konstruierte) Antwort von Verhaltenssets auf spezielle situative Heraus-
forderungen. Im letzten Schritt ermöglich das so gereifte tiefere Verständnis einen ziel-
führenden Umgang mit dem System bzw. den Systemen. Die Anforderungen der inter-
kulturellen Orientierung erfordern daher zunächst das Loslassen vom bisher Vertrauten
sowie einen Perspektivenwechsel hinsichtlich der Handlungsgrenzen und -möglichkeiten
des eigenen Orientierungssystems.
Die Grundfragen oder Handlungsschritte in der dyadischen Beziehung lauten immer,
wie viel Konvergenz (= Grad der Überlappung oder Übereinstimmung) oder Divergenz
(Grad der Abweichung) bzw. Inkompatibilität oder Kompatibilität (= Grad der ergänzenden
Passung oder vermischenden Vereinbarkeit) hinsichtlich der beiden Orientierungssysteme
gesehen werden will und kann. Dominieren die Divergenzen, hat dies mindestens drei
Fragen bzw. Konsequenzen zur Folge: (1) Es muss zunächst entschieden werden, ob man
sich der fremden Kultur anpassen soll, kann oder sogar muss. Falls es zu einer Anpassung
kommen soll, muss dessen Ausmaß festgelegt werden. In der Praxis ist man hier mit der
goldenen, von dynamischer Wechselseitigkeit getragenen Mitte sicher gut beraten. (2) Es
ist zu prüfen, inwieweit das Fremde dem Eigenen angeglichen werden kann. Dabei spielen
Fragen von Mehr- und Minderheit bzw. der Machtausübung eine entscheidende Rolle. Im
154 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

letzten Schritt (3) wäre zu thematisieren, wie das Ziel mittels einer effizienten und effek-
tiven Kooperation bei wechselseitiger Kontingenz und der gemeinsamen Suche nach Sy­
nergien erreicht werden könnte und neben der Ergebniszufriedenheit sogar gegenseitige,
persönliche Wertschätzung und Respekt den Grundtenor der Interaktion prägen würden
(Thomas et al., 2005, S. 56).
Das Gestalten von Interkulturalität, d. h. das „Verstehen und Handeln in inter-
nationalen Kontexten“ (Thomas, 2016), erfordert ein fundiertes Spezialwissen im Bereich
der interkulturellen Psychologie, welches sich nicht nur auf die Analyse und Konzeption
(sozial-)psychologischer Phänomene (z. B. Attribution, Stereotype, Konflikt etc.) be-
schränken kann, sondern möglichst auch Werkzeuge (z. B. Diagnoseverfahren, Assess-
ments etc.) und Methoden (z. B. Training, Coaching, Mentoring, Peer-Learning etc.) zur
Unterstützung der erwähnten, möglichst synergetischen Kooperation beinhaltet. Und mit
der eingangs erwähnten, zunehmenden Globalisierung und Internationalisierung werden
diese Themenfelder immer bedeutsamer bzw. besaßen für Deutschland als eine der globa-
len Exportnationen eigentlich schon immer Relevanz.
Bestand das Thema bzw. die Notwendigkeit einer aktiven, interkulturellen Kommuni-
kation und Kooperation in den Bereichen der Politik (Außen- und Entwicklungspolitik,
diplomatischer Dienst), Wissenschaft (internationale Kooperationen für Forschung und
Lehre) und seit 10–20 Jahren zunehmend auch in der Verwaltung (Arbeit mit Migranten
auf nationaler, reginaler und lokaler Ebene) eigentlich seit Begründung der Republik, er-
hielten die Unterthemen der generellen interkulturellen Kompetenz und Kooperation
in Unternehmen (Thomas et al., 2005, S. 229) wie z. B. (1) interkulturelles Management
(Thomas et al., 2005, S. 229) und (2) Marketing (Thomas et al., 2005, S. 257), (3) inter-
kulturelle Personalentwicklung (Thomas et al., 2005, S. 243) sowie entsprechende
Spezialthemen im Managementbereich wie z. B. interkulturelles Führen und Managen
(Thomas et al., 2005, S. 324), das Thema der Auslandsentsendung (Expatriates und ihre
Familien) (Thomas et al., 2005, S. 390), das interkulturelle Projektmanagement (Thomas
et al., 2005, S. 307), interkulturelle Arbeitsgruppen (Thomas et al., 2005, S. 340) sowie die
interkulturellen Aspekte bei M&A-Aktivitäten (Thomas et al., 2005, S. 354) für die deut-
sche Wirtschaft eigentlich erst mit Sättigung des heimischen Nachkriegsmarktes ab den
70ern verstärkt Bedeutung. Entsprechende Einführungen bzw. Übersichtsdarstellungen
finden sich in den genannten Quellen. Eine umfassende Darstellung der individuellen,
interkulturellen Handungskompetenzen und ihrer Grundlagen findet sich in dem be-
reits ewähnten Buch von Alexander Thomas (2016).
So stellt sich nach diesem thematischen Abriss abschließend die Frage, was dies nun
für den Servicezuschnitt von Coaching in der Zukunft heißen könnte.

3.3.2 Vermutete Konsequenzen für den Service „Coaching“

Obwohl als Thema unter dem Teilaspekt der Mitarbeiterentsendung (Kühlmann, 1995) im
deutschen Sprachraum bereits seit nun fast 30 Jahren präsent, kamen erst 2003 mit dem
3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt 155

Band 1 (Thomas et al., 2003) und Band 2 (Thomas et al., 2007) zur interkulturellen Kom-
munikation und Kooperation der Herausgeber um Alexander Thomas erste, umfassendere
Grundlagenwerke auf den Markt, welche sich um empirische Fundierung und einen Über-
blick zu diesem Thema bemühten. Gleiches gilt für das im Jahr 2012 erschienene „Hand-
buch Interkulturelles Coaching“ (Krämer & Nazarkiewicz, 2012) des Autorengespanns
Gesa Krämer und Kirsten Nazarkiewicz. Gelten derartige Publikationen als Beleg für die
fachliche Etablierung eines Themas in einem Gebiet, war es bemerkenswert zu sehen, dass
zum einen das erste Themenheft des wissenschaftlichen Fachmagazins der Coaching-­
Branche „Organisationsberatung, Supervision, Coaching“ (OSC) erst 2018 erschien, zum
anderen Kirsten Nazarkiewicz auch 2018 noch fragt bzw. feststellt: „Was ist inter-
kulturelles Coaching? 20 Jahre und (k)ein bisschen Klarheit“ (Nazarkiewicz, 2018). Die
Nestorin des interkulturellen Coachings in Deutschland, Sylvia Schroll-Machl – nennt in
ihrem Artikel des oben erwähnten Themenheftes der OSC (Schroll-Machl et al., 2018)
einige Ursachen für diese Unklarheit. . Sie beschreibt zudem eine Vielzahl an erfolg-
reichen Praxisbeispielen. So zeigt sich dieser Themenbereich des Coachings als ent-
wicklungsbereit und -fähig – oder wie die Amerikaner sagen würden: „Still confused – but
on a higher level“.
Dennoch kann das von Krämer und Nazarkiewicz (2012, S. 78) vorgeschlagene Meta-
modell zu den sogenannten „kulturreflexiven Coaching-Ansätzen“, d. h. Coaching
i. S. interkulturellen Lernens im multikulturellen Kontext oder i. S. einer transkulturellen
Herangehensweise, als Meilenstein auch für einen zukünftigen Servicezuschnitt dieser
Coaching-Variante dienen, da es bei einer Nutzung entgegen der soeben präsentierten
Reihenfolge nach auch Ansicht des Autors eine gute, auf Integration beruhende Balance
zwischen Pragmatik, Theoriebasiertheit und Struktur bietet, ohne dabei jedoch dogma-
tisch zu sein (Krämer & Nazarkiewicz, 2012, S. 80). Der damit von ihnen geforderte Para-
digmenwechsel zeigt sich dann auch in ihrer Umbenennung in „kulturreflexives
Coaching“.
Die bisherigen Ausführungen zum interkulturellen Coaching bzw. zum „kultur-
reflexiven Coaching“ machen jedoch eines deutlich: Mit einem eben nicht nur auf natio-
nale Kulturen bzw. Ethnien verengten Begriff von interkulturellem Coaching hat eigent-
lich jedes Coaching mehr oder minder starke Kulturanteile. Insbesondere das
Schachtelmodell von Höh (2000) führt sehr anschaulich vor Augen (Höh, 2000), dass
jedes Coaching – auch das eines deutschen Coachees und Coaches in einem deutschen
Unternehmen – (unternehmens-)kulturelle Aspekte hat. Besonders augenfällig würde dies
im (konstruierten) Falle der Akquisition eines deutschen Unternehmens durch ein anderes
deutsches Unternehmen. Es wäre daher womöglich sinnvoll, zukünftig i. S. des erwähnten
Paradigmenwechsels bereits in allen grundlegenden Ausbildungsgängen zum Coaching
generell mit dem breiteren Begriff des „kulturreflexiven Coachings“ zu arbeiten. Der Kon-
takt mit Fremdkultur wäre dann für eine Person im Extremfall potenziell (!) eine stress-
induzierende, soziale Lernsituation, welche durch kulturelle Überschneidungen zu einem
„Critical Incident“ geführt hat. Dieser wird dann hinsichtlich der verschiedenen Anteile
156 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

und Perspektiven dekonstruiert, erhält durch (Re-)Konstruktion wieder Sinn, der wiede-
rum die Blaupause für die spezielle Intervention bzw. Didaktik liefert.
Neben der soeben erwähnten, konzeptuellen Erweiterung oder gar Neufassung könnte
auf der anderen Seite im Falle der traditionellen Fokussierung auf verschiedene Ethnien
angesichts der verschiedenen Internationalisierungsstrategien eine explizitere Aus-
differenzierung der Servicevarianten im Unternehmenskontext selbst hilfreich, weil
anschlussfähiger sein. Abb. 3.7 bot hier bereits einige Stichpunkte, welche in der Abb. 3.8
mit der Abhängigkeit der Interkulturalitäts- von der Internationalisierungsstrategie einen
weiteren konzeptionellen (und servicebezogenen?) Verfeinerungsschritt ermögli­
chen würden.
Zwei sehr illustrative Beispiele für die Strategien und die jeweilige Abhängigkeit fin-
den sich bei Thomas (2003, S, 442). Die Begleitung von Expatriates (oder Impatriates)
im Rahmen eines ethnozentrischen Coachings ist bis dato das älteste und am intensivsten
in der Literatur bearbeitete Thema. Dafür sprechen z. B. Publikationen wie das bereits er-
wähnte Herausgeberwerk von Torsten Kühlmann (1995). Obwohl sich als Spezialfall dar-
stellend, ist die Auslandsentsendung des Expatriates allein, als „Dual Career Couple“ oder
mit seiner Familie geradezu ein Lehrstück für die in Abschn. 3.2.3 vertretene These, dass
sich die Sphären des Privaten und des Business bzw. von „Work“ und „Life“ nicht mehr
trennen lassen und diese zukünftig eher zusammen gedacht werden sollten; durch den

Internationalisierungsstrategien

Ethno- Syner-
stark

zentrisch getisch
Einfluss des Stamm-
unternehmens

Regio-/Geo-
zentrisch
schwach

Poly-
zentrisch
schwach stark
Einfluss der Auslands-
gesellschaft
Interkulturalitätsstrategien

WIR Dominanz Synergie/ Ethno- Poly- Geo- Regio- Syner-


Innovation zentrisch zentrisch zentrisch zentrisch getisch

Dominanz/Anpassung X X
Vermischung
Vermischung X X

Synergie/Innovation X

Anpassung Vermeidung X X X X X
Vermeidung
Abhängigkeit der Interkulturalitäts- von der
SIE
Internationalisierungsstrategie

Abb. 3.8 Die Abhängigkeit der Interkulturalitäts- von der Internationalisierungsstrategie. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved
3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt 157

hinzukommenden, meist sehr aufwendigen Umzug und damit einhergehenden kulturellen


Wechsel natürlich unter besonders herausfordernden Umständen.
Da das Thema Migration in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich nicht nur in
Deutschland eher bedeutsamer werden wird, wäre zu fragen, ob nicht explizite Aus-
bildungsangebote für die in der öffentlichen Verwaltung (zumindest im BAMF) tätigen
Menschen sinnvoll wären oder sogar regulärer Teil der Ausbildung werden sollten. Die
Autoren von Wogau, Eimmermacher und Lanfranchi haben hier mit ihrem bereits 2004
erschienenen Sammelband „Therapie und Beratung von Migranten: Systemisch-­
interkulturell denken und handeln“ ein richtungweisendes Grundlagenwerk geschaffen.
Ferner wäre zu überlegen, ob nicht die Digital Coaching Provider (DCP) mit ihren
App-Lösungen gerade für jüngere und/oder akademisch vorgebildete Migranten ein sinn-
volles Angebot sein könnten. Mit einer Voucher-Lösung von staatlicher Seite könnte mit-
tels eines „Karriere-Coachings“ der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und Arbeits-
ausbeutung meist hoch motivierter und/oder bereits akademisch ausgebildeter Zuwanderer
vorgebeugt werden und insbesondere die Erwerbsmigration wirkungsvoll unterstützt wer-
den. Wie interkulturelles Training in einer Einwanderungsgesellschaft bzw. ganz konkret
in den Arbeitsfeldern eines Jobcenters, der Kommunalverwaltung, in der Kunstszene oder
bei der Polizei aussehen kann, beschreiben sehr praxisbezogen Bettina Franzke und Vitalia
Shvaikovska in ihrem gleichnamigen Buch (Franzke & Shvaikovska, 2016). Ein weiteres
Praxisbeispiel ist hier das von den Leitern des Jugendamtes der Stadt München gegründete
Institut für Interkulturelle Qualitätsentwicklung.54 Im Falle von Schutzsuchenden aus
Kriegsgebieten könnten Coaches mit psychologischer Vorbildung, einem therapeutischen
Hintergrund oder sogar einer Zusatzausbildung zur Traumabewältigung zu einer besseren
bzw. schnelleren Integration der Zuwanderer beitragen. Wann hier eine Übergabe an Spe-
zialisten unter den Therapeuten (Feldmann & Seidler, 2013) erfolgen muss, wäre zur Wah-
rung professionellen Handelns vorab sorgfältig abzuklären.
Geht es um die nicht deutschen (nicht akademischen) Auszubildenden insbesondere in
Produktionsbetrieben, wäre zukünftig ein internes (Peer-)Coaching bzw. ein ent-
sprechender Pool ein sehr niedrigschwelliges und wahrscheinlich wirksames Mittel der
effektiven Integration von Zwanderern in die deutsche Arbeitswelt. Dies wäre zum einen
ein wertvolles Job-Enrichment für deutsche wie auch bereits etablierte, zugewanderte
Auszubildende und würde eine Kultur des Mit- und Füreinanders unter den jüngeren Mit-
arbeitern mittel- bis langfristig positiv beeinflussen.
Gibt es immer häufiger auch Studienangebote zum Thema Coaching an Universitäten,
könnte ein ähnliches Modell i. S. von „Learning by Doing“ auch in diesem akademischen
Bereich für alle Beteiligten einen Mehrwert schaffen; denn was gäbe es zukünftig Effekti-
veres, als vor dem studentischen Auslandspraktikum z. B. in China einen chinesischen
Kommilitonen zu coachen bzw. sich derart für den anvisierten Auslandsaufenthalt in Asien
während der folgenden beruflichen Tätigkeit vorzubereiten?

54
http://www.i-iqm.de/komp.html. Zugegriffen am 19.05.2021.
158 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

Ferner bietet jede (neue) Migrationswelle in der Zukunft etablierten Coaches (bzw.
ganzen Verbänden) durch intensives, ehrenamtliches Engagement – sofern englische
Sprachkompetenz vorhanden ist – die Möglichkeit, ihre oft genannte Grundmotivation,
„etwas für und mit Menschen zu tun“, zu leben bzw. bei diesen Menschen in Not auf den
Prüfstand stellen zu können. Im Gegenzug könnte durch entsprechende Presseberichte
über dieses unentgeltliche sozial(-politische) Engagement die Profession in der Öffentlich-
keit bekannter werden und in einem doch sehr positiven Sinne imagebildend wirken.
Da besonders bei diesem Coaching-Thema die Kombination von einer z. B. in einem
Training vermittelten Wissensbasis bzgl. der jeweiligen Kulturen (Thomas et al., 2007
oder Franke und Milner (Ronald Franke, 2013)) und eines sich anschließenden oder aber
parallel verlaufenden Coachings zur Individualisierung und praktischen Implementierung
des Wissens in Verhaltensstrukturen gerade bei diesem Coaching-Bereich sehr viel Sinn
macht (Thomas et al., 2003, S. 224) und zur Transfersicherung auch bewährt hat (Thoma-
set et al., 2003, S. 215), sollte hier generell und explizit von einem hybriden Ansatz ge-
sprochen werden. Um das meist individuenzentrierte, interkulturelle Coaching ins-
besondere in global agierenden Unternehmen durch die Einbettung in ein strategisches
Gesamtkonzept effektiver zu machen, sollen hier die entsprechenden Ausführungen von
Kinast & Schroll-­Machl in Thomas (S. 447) zur Unternehmsentwicklung im Rahmen
eines ergänzenden Beratungsansatzes nicht unerwähnt bleiben. Gleiches gilt für den
Methodenansatz der Mediation (Thomas et al., 2003, S. 297) oder das Buch von Clau-
de-Hélène Mayer (2019). Da es bei dem Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen
potenziell auch zu Konflikten kommen kann, ist eine entsprechende Erweiterung des Ser-
vice-Portfolios hier sicher mehr als sinnvoll. Eine virtuelle Durchführung aller drei For-
mate (beruhend auf einem geeigneten, möglichst interaktiven Design im Falle von Trai-
nings) in den drei großen Zeitzonen ist für ein zeitgemäßes Angebot insbesondere nach
COVID-19 fast schon eine Selbstverständlichkeit und entspricht dem Geist globaler Welt-
offenheit und der professionellen Nutzung der damit verbundenen, neuen Technologien.
Wie bei der Kritik der Kulturdimensionen bereits angeklungen, sollte jedoch nie außer
Acht gelassen werden, dass die konzeptionellen und praktischen Ursprünge im Westen
bzw. auf der nördlichen Halbkugel der Erde liegen und z. B. in Europa durch verschiedenste,
sich über Jahrhunderte entwickelt habende Denktraditionen (Demokratie, Individualismus,
Aufklärung etc.) geprägt sind, die andere Länder so nicht durchlaufen haben – dafür jedoch
alternative Weltbilder wie z. B. den Konfuzianismus. Wer Angehörige anderer Kulturen
schon trainert oder gecoacht hat, weiß bzw. erfährt zuweilen ganz lebensnah, dass diese
Aussagen und Denkweisen zwar intellektuell verstanden werden, infolge deren langjährige
Sozialisation bzgl. der Wahrnehmung der Eigenkultur jedoch nur schwer verinnerlicht wer-
den können. Der latente Kulturkolonialismus oder -imperialismus, welcher dem Denk-
und Wertegerüst des Coachings selbst inhärent ist, sollte daher immer wieder hinterfragt
werden. Krämer und Nazarkiewicz (2012, S. 82) sprechen hier von der notwendigen Acht-
samkeit hinsichtlich des „blinden Flecks“ des Coachings und der Coaches selbst.
3.3 Die kulturelle Diversität in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt 159

3.3.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Die allgemeine interkulturelle Kompetenz des Coaches


Die auffallendste Konsequenz für den in diesem Bereich arbeitenden Coach ist, dass er in
diesem relativ jungen Feld sein Ziel (→ wer will ich als interkultureller Coach sein und
was will und kann ich anbieten?) und den Weg dahin (→ was und wie will ich lernen?)
aufgrund der großen Heterogenität und schwachen empirischen Basis selbst suchen bzw.
entwickeln muss. Die Lust und Last großer Freiheiten scheint hier noch größer als in ge-
nerischen Coaching-Ansätzen.

Die von Krämer und Nazarkiewicz (2012, S. 82) zur Bearbeitung des soeben genannten
„blinden Flecks“ angebotenen Reflexionshilfen bieten dabei zum einen einen hilfreichen
indirekten Startpunkt zur Erstellung des individuellen Kompetenzprofils als kulturreflexiver
Coach, zum anderen definieren sie zugleich das maßgeschneiderte Lernprogramm und da-
durch letzten Endes die spezielle interkulturelle Kompetenz des in diesem Bereich arbei-
tenden Coaches. Wie dieses personenbezogene On- oder Near-the-­Job-Lernen vonstatten-
gehen kann und welche Modelle auch dem lernenden Coach selbst (neben einem klassischen,
interkulturellen Seminar) Ansatzpunkte für die Weiterbildung sein können, schildert Tho-
mas (Thomas et al., 2003, S. 126). Den interaktionistischen Lernansatz für den Erwerb
der interkulturellen Handlungskompetenz (Thomas et al., 2005, S. 144) nutzend, werden
auch hier vier Leitfragen zur Situationsanalyse wie auch zu möglichen Situationsfaktoren
(Thomas et al., 2003, S. 145) vorgestellt. Zur Beschreibung des sich dabei vollziehenden
Lernprozesses dient ein stufen- oder phasenorientiertes Lernmodell. Die fachlich-­
methodischen Kompetenzen werden durch das Unterscheidungskriterium „Kompetenzen
und Stärken der Herangehensweisen“ der drei kulturreflexiven Formate (vgl. Tabelle 2 auf
S. 79) bzw. im Text beschrieben. In der Rolle eines Coachees sich vorab gründlich mit der
eigen- und fremdkulturellen Orientierung auseinanderzusetzen bzw. die kontinuierliche
Supervision der Arbeit des kulturreflexiven Coaches versteht sich daher fast schon von selbst.
Wurde zur Optimierung der Effizienz und Effektivität interkultureller Weiterbildungs-
angebote ein hybrider Ansatz, d. h. Training, Beratung und Mediation, als sinnvoll er-
achtet, stellt sich die Frage, inwieweit ein Coach diese Zusatzqualifikationen hat bzw.
auch beherrscht. Konkret heißt dies, die Formate in einem komplementären bzw. integra-
tiven Design konzipieren zu können, diese (virtuell!) durchzuführen und durch die zuvor
eingebauten Messpunkte die Maßnahme letztlich auch zu evaluieren. Zumindest theore-
tisch könnten dem Novizen hier die Publikationen von Kempen et al. (2020) als Ein-
führung für das Design und für die Evaluation Thomas (Thomas et al., 2003, S. 204) und
vertiefend das Buch von Stellamanns (2007) als erste Orientierung dienen.

Die spezielle interkulturelle Kompetenz: einen Babelfisch für Mandarin?!


Ist die Sprache ein wesentliches Medium im Coaching, bleibt das Thema der Fremd-
sprachenkompetenz (Thomas et al., 2003, S. 74) im interkulturellen Coaching zumindest
bis dato noch ein wichtiger bzw. zukunftsrelevanter Aspekt in der Diskussion um die be-
160 3 Demografische und soziologische Gesellschaftsveränderungen: Diversity ...

nötigten Fähigkeiten des interkulturell arbeitenden Coaches. So bietet zumindest bis heute
das während der Schulzeit erlernte Englisch eine Grundlage, um im Berufsleben zu-
mindest basal kommunizieren zu können oder aber darauf aufbauend diese durch fach-
spezifische und alltagssprachliche Kenntnisse zu ergänzen. Hält jedoch auch in der Zu-
kunft die heute schon wahrnehmbare Verschiebung der Weltwirtschaftsmacht in Richtung
Asien bzw. China an, wird zukünftig wohl Mandarin zur Weltsprache im Business, denn
Sprache ist eben auch ein Machtfaktor (Thomas et al., 2003, S. 89). Die Beschränkung auf
das Heute bzw. die nächsten 5–10 Jahre hat jedoch noch einen anderen, technischen
Grund: Der von vielen ersehnte „Babelfisch“ aus dem berühmten Science-Fiction-Roman
„Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams lässt als kleiner, digitaler Simultan-
dolmetscher wahrscheinlich nicht mehr lange auf sich warten. So verspricht z. B. das
Unternehmen Waverly Labs55 mit seinem Over-the-Ear-Simultanübersetzer „Ambassa-
dor“ eine Welt ohne Kommunikationsbarrieren für 20 Sprachen und 42 Dialekte. Besteht
die Notwendigkeit oder der Wunsch von Coach oder Coachee, die Session virtuell abzu-
halten, bietet heute bereits auch das Produkt „MS Teams“ von Microsoft mit seinem Er-
gänzungsprodukt Translator56 die Möglichkeit, einfache Kommunikationssequenzen si-
multan übersetzen zu lassen. So wird es nur noch eine Frage der Zeit sein, dass
Simultanübersetzungen generell in Chat-, Sprach- oder Videoplattformen in den Software-
paketen der großen Anbieter standardmäßig verfügbar sein werden. Inwieweit die heuti-
gen Lösungen schon der gelegentlichen Komplexität bzw. Vielschichtigkeit der Kom­
munikation in einer Coaching-Sitzung gerecht werden – und damit auch die
Fremdsprachenkompetenz des interkulturell arbeitenden Coaches hinfällig würde – bleibt
abzuwarten.

Migranten als Coaches


Um die Problematik der Sprachkompetenz zu umgehen und die Gefahr des Coaching-­
Kolonialismus zu vermindern, wäre es deshalb erstrebenswert, dass Migranten ins-
besondere der ersten Generation sich zum Coach ausbilden lassen bzw. als Coach arbeiten.
Ohne dazu belastbare Daten verfügbar zu haben, schätzt der Autors, dass der Anteil der
geschilderten Zielgruppe in den Verbänden bzw. marktaktive Coaches und/oder in den
Coaching-Ausbildungsinstituten als Teilnehmer eher gering ist. Die bestehende Diversität,
was die Gender-Verteilung der Coach-Population anbelangt, müsste sich daher stärker auf
die Bereiche Alter (i. S. von jünger) und Ethnie (i. S. von nicht deutsch) erweitern, um das
Thema auch glaubwürdig vertreten zu können.

https://www.waverlylabs.com/. Zugegriffen am 23.05.2021.


55

https://www.microsoft.com/de-de/translator/education/microsoft-teams-multilingual-meeting.
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Zugegriffen am 23.05.2021.
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(Sozial-)Psychologische
Gesellschaftsveränderungen: 4
ambidextrisches Handeln
in VUCA-­Situationen

Von beidhändigem Handeln in VUCA-Situationen


Beklagen heutzutage immer mehr Menschen, dass früher „alles“ viel einfacher war, spie-
gelt sich darin im operativen Bereich von (Alltags-)Handlungen zum einen eine subjektiv
erlebte Steigerung von Kompetenzanforderungen (mit der Folge erhöhter und/oder neuer
Lernansprüche; Abschn. 4.2) wider. Zum anderen die offensichtlich damit einherge-
hende, intensivere mentale Beanspruchung (mit der Folge der Herausbildung funktiona-
lerer Wahrnehmungsmuster bzw. deren Verarbeitungsprozesse) (Abschn. 4.1). Bestehen
diese Notwendigkeiten in immer mehr Lebensbereichen, hat dies vermutlich mittel- bis
langfristig auch Folgen für die Identität bzw. Identitätsbildung (Abschn. 4.3) der In-
dividuen.

Dabei ist zu beobachten, dass sich nicht nur die Endpole der Identitätsdimensionen „Sta-
bilität und Flexibilität“ oder „Autonomie und Vernetzung“ weiter auseinanderbewegen,
d. h. „extremer“ werden, sondern die verschiedenen Lebensbereiche eine immer schnellere
Oszillation zwischen den Spannungspolen erfordern. Eine mögliche Strategie, damit umzu-
gehen, ist dabei die synergetische Auflösung der Spannungspole (Abschn. 4.4). Beispiel-
haft zeigt sich dies – wie bereits in Abschn. 3.1.3 dargestellt – in den früher als Antagonis-
ten angesehenen Welten „Work“ und „Life“ bzw. bei Schmidt-Lellek (2008, S. 214).
Es gilt daher mit den verschiedenen Ausprägungen einer als volatil, unsicher, komplex
und voller Ambiguität wahrgenommenen (VUCA-)Situation konstruktiv bzw. zielführend
umzugehen. Doch wie könnten derartige Aktionen aussehen? Ist das „Hybride“ durch
entsprechende Pkw-Modelle für viele heute bereits ein geläufiger Begriff, trifft dies nicht
auf die nahezu bedeutungsgleiche „Ambidextrie“ als ein Mindset des „Sowohl-als-auch“
zu. Obwohl vom Inhalt her ihre Ursprünge schon lange in den menschlichen Denktraditi-
onen (z. B. in der asiatischen Form des Yin und Yang) vorhanden sind, werden die Inhalte

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 167
von Springer Nature 2022
S. Stenzel, Die Zukunft des Coaching-Business,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-64421-8_4
168 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

aktuell jedoch als sensationelle Neuentdeckung in der Organisations- bzw. Management-


und Führungslehre vermarktet. Das zeigt sich dann in den Buchtiteln in Begrifflichkeiten
wie dem „ambidextrischen Führen“ (Duwe, 2020), der „ambidextrischen Organisation“
(Derndinger & Groot, 2020) oder der „Hybrid Work“ (Gratton L., , 2022). Entgegen die-
sem Trend soll nachfolgend jedoch zunächst mit dem etwas sperrigeren Begriff des
„Sowohl-­als-auch“-Denkens gearbeitet werden – parallel jedoch punktuell in das Denk-
modell des Ambidextriellen eingeführt werden.

4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma

Ohne dies empirisch belegen zu können, liegt die Vermutung nahe, dass zu Beginn tief-
greifender technischer, wirtschaftlicher und damit oft auch gesellschaftlicher Zeitenwen-
den (z. B. in der Renaissance oder zu Beginn der Industrialisierung) Menschen immer eine
Mischung aus Neugier, Angst und Gestaltungs- oder Tatendrang empfunden haben. So
zeigte sich die Angst der Menschen bei der ersten industriellen Revolution in den teilweise
recht radikalen Maschinenstürmern (Wikipedia, 2019a, b) – die Offenheit, Neugier oder
auch Verherrlichung der Technik hingegen durch die Reaktionsweisen der Besucher der
ersten Weltausstellung 1851 in London (Wikipedia, 2020a, b, c, d, e). Nach über 150
Jahren wird nun die wegen COVID-19 um ein Jahr verschobene Expo der Vereinigten
Arabischen Emirate in Dubai 20211 die Technologiefortschritte für das 21. Jahrhundert
präsentieren. Zeigen wir uns bei den Weltausstellungen (gestern wie heute) wahrschein-
lich als stolze „Macher“ bzw. „Täter“ der neuen Welten, erleben bzw. erlebten sich die
früheren Maschinenstürmer und die Menschen, die heute durch den Einsatz von KI ihren
Beruf verlieren, wahrscheinlich eher als „Opfer“. Dabei könnten die anfänglichen Prospe-
ritätsphasen der sogenannten Kondratjew-Zyklen in Abb. 4.1 ein Erklärungsansatz sein,
warum beide Rollen entlang der Jahrhunderte in zeitlichen Intervallen mehr oder minder
stark erlebt oder sogar versprachlicht wurden.
Werden die Kondratjew-Zyklen wegen ihrer unzulänglichen empirischen Fundierung
oft kritisiert, ist allgemein unbestritten und belegbar, dass die Geschwindigkeit und An-
zahl der technischen Neuentwicklungen in den letzten 170 Jahren in ihrem exponentiellen
Verlauf (siehe Lupenkreis in Abb. 4.1) beispiellos sind bzw. noch immer anhalten. In
Kap. 5 werden wir sie erneut thematisieren.
Zum Zeitzeichen für diese durch Geschwindigkeit und ihre wirtschaftlichen, sozialen
und auch politischen Folgeerscheinungen geprägte Situation des beginnenden 21 Jahrhun-
derts wurde das Akronym „VUCA“. Es beschreibt diese als volatil, unsicher, komplex
(engl.: complex) und uneindeutig (engl.: ambiguous), sobald es zur Analyse oder zu Hand-
lungs- bzw. Richtungsentscheidungen kommt. In diesem Sachverhalt kristallisiert sich
jedoch erneut heraus, was wir – wenn wir mal wieder über „das VUCA“ in der Welt kla-

1
https://www.expo2020dubai.com/de. Zugegriffen am 15.01.2021.
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 169

Maß für wirtschaftliche Aktivität


Informations-
Dampfmanschine Eisenbahn, Elektrotechnik Petrochemie technik
Baumwolle Dampfschiffe Chemie PKW Gentechno-
Stahl logie
Mondlandung
Telegraphie

Glühbirne

Gründerkrise

1.+ 2. Ölkrise
(1873-1879)

(1974-1980)
Weltwirtschaftskrise
3D-Chip

(1929-1939)
3D
Movies
Driver-

Finanz- & Schuldenkrise


less Car
Auto iPad

(2008-2011)
Face-
book Youtube
Depression
Prosperität

Rezession

Erholung

Telefon Google Hybrid


Cars
Zeit DVDx Cell
Phones
WWW
1. Kondratjew 2. Kondratjew 3. Kondratjew 4. Kondratjew 5. Kondratjew Windows
Apple
Mac
1800 1850 1900 1950 2000 MS-DOS
Word
Processor
Micro-
processor

Abb. 4.1 Die Kondratjew-Zyklen und die Beschleunigung technischer Erfindungen. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved

gen – nie vergessen sollten: Wir sind auch deren Urheber, d. h., es handelt sich dabei eben
nicht um ein hinzunehmendes Naturphänomen, und nur wir sind daher in der Lage, die
(Zeit-)Geister, die wir riefen, auch wieder zu besänftigen!

VUCA und seine militärischen Wurzeln


Als weltpolitisch sehr aktive Nation mit zuweilen geradezu missionarischem Eifer erleb-
ten die USA im Verlauf des Kalten Krieges, im Zuge ihrer Interessen im Iran, im Kontext
des Krieges im Irak sowie in Afghanistan und in Somalia plötzlich in der „Opferrolle“ die
unerwarteten Konsequenzen ihres früheren Engagements in der „Täterrolle“. Die dabei
erlebten Irritationen des Selbstbildes führten vermutlich dazu, dass das VUCA-Akronym
Ende der 1980er-Jahre am amerikanischen „Army War College“ (U.S. Army Heritage and
Education Center, 2019) erstmals verwendet und – nach dessen Verankerung in den Lehr-
materialien der Organisation in den 1990ern – schließlich zum grundlegenden militäri-
schen Wahrnehmungs- und Entscheidungsmuster wurde.

Konzeptionelle Ursprünge sind in den USA jedoch mit den Begriffen „turbulent“
(Emery & Trist, 1965) „wicked problems“ (Rittel & Webber, 1973) oder „messy“ (Ack-
hoff, 1979) bis Mitte der 1960er zurückverfolgbar. In Deutschland wurde das Thema der
Komplexität zum ersten Mal 1989 von Dietrich Dörner (1993) und Jürgen Funke (Funke,
1991) bearbeitet. Ein wenig beachtetes Alternativkonzept lieferten 2016 Ramirez & Wil-
kinson (Ramirez & Wilkinson, 2016) mit ihrem Akronym TUNA (Turbulence, Uncertain,
Novel, Ambiguous). In die Managementliteratur hielt der Begriff erstmals mit Bob Johan-
sens Buch „Get there early“ 2007 (Johansen, 2007) seinen Einzug und ist seitdem fester
Bestandteil der Kommunikation in dieser Szene. Mit dem Publikationsvorstoß des US-­
170 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Generals Stanley McChrystal und seinem Buch „Team of Teams: New Rules of Engage-
ment for a Complex World“ (McChrystal, 2015) schloss sich der Kreis hinsichtlich der
militärischen Ursprünge. Aber selbst unter den „schneidigen Machern“ zeigte sich jedoch
sehr schnell, dass der praktische Nutzen infolge der Unklarheit der einzelnen Elemente
und deren Zusammenwirkens über den eines neuen „Buzzwords“ nicht hinausging. Der
Common-Sense-Ansatz, die Komplexität als Ausgangspunkt, die Volatilität und Ambigui-
tät als Folgen und die Unsicherheit als letztliches Ergebnis in einen kausalen Zusammen-
hang zu stellen, konnte sich durch mangelnde empirische Validierung nicht durchsetzen.
So schienen die Denkkategorien zu einem „trendy managerial acronym“ (Bennett & Le-
moine, 2014) zu verflachen, denn „was nicht messbar ist, kann man nicht managen“.
Wie sehr hier kommerzielle Berater- bzw. Beratungsinteressen mit vermeintlich Neuem
und empirisch nicht – oder nur schwach – gestützten Konzepten eine Rolle spielen, zeigt
sich darin, dass es 30 Jahre nach der Entstehung des VUCA-Akronyms galt, eine „verbes-
serte“ bzw. aktualisierte Neuauflage zu kreieren. So berichtet ein Blogger auf LinkedIn
(Mäkeläinen, 2018) von dem auf einem IFTF2-Event vorgestellten Akronym BANI, wel-
ches die heutige Realität als „Brittle“ (dt. zerbrechlich, morsch), „Anxious“ (dt. ängstlich,
angsteinflößend), Nonlinear und „Incomprehensible“ (dt. unbegreiflich, unergründlich)
beschreibt. Dass es sich jedoch nur um ein weiteres „trendy managerial acronym“ han-
delt, zeigte sich an der teils flapsigen Reaktion der Antwortenden, denn fast jeder gab ein
weiteres Akronym (FUBAR: fucked up beyond all recognition, dt. „ein unvorstellbarer
Schlamassel“; SANFU: situation normal, all fouled up, dt. „Lage normal, alles im Arsch“;
FOMO: fear of missing out, dt. „Angst, etwas zu verpassen“) zum Besten.

VUCA und seine Bedeutungen als Diagnoseraster


Betonte schon der Pionier Johansen im (Unter-)Titel seines Buches „Get there early. Sen-
sing the Future to compete in the Present“, worin er den Wert des Konzeptes sieht, sind
zumindest dem Autor bis dato keine empirschen Untersuchungen bekannt, welche exem-
plarisch zeigen, dass die diagnostische Vorarbeit und Entwicklung einer Strategie mittels
der Nutzung der VUCA-Brille die prognostische Qualität der Strategiearbeit in Unterneh-
men signifikant verbesserte. Johansens „Erfolgsstories“ (Johansen, 2007, S. 143–183)
sind hier eher unzureichend.

Dies ist mit der hier geforderten, wissenschaftlichen Redlichkeit aus methodischen
Gründen wahrscheinlich auch nicht möglich. Wegbereitend für die praktische Anwendung
könnte jedoch z. B. die Ausarbeitung des Konzeptes von Andreas Hieronymi sein (Hiero-
nymi, 2016). Denn die auf seiner Webseite3 zur Verfügung gestellten Informationen kura-
tierten ein Vokabular und zahlreiche Werkzeuge, welche z. B. in der Beantwortung der
Analysefragen zu jedem VUCA-Aspekt (eine Auswahl in Abb. 4.1.) einen Kreis von Top-
managern in die Lage versetzt, sich über mögliche Zukunftsaspekte auszutauschen und

2
https://www.iftf.org/home/. Zugegriffen am 22.05.2021.
3
https://www.vuca-tools.com/. Zugegriffen am 02.12.2020.
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 171

diese z. B. in die Definition der Strategie einfließen zu lassen. Wer angesichts des gut be-
stückten Werkzeugkastens jedoch Gefahr läuft, in einer Art „instrumentellen Rausches“
erneut traditionellen Kontroll- und Machbarkeitsfantasien zu verfallen, sei vorgewarnt:
Selbst bei sachgerechter Anwendung der Werkzeuge ändert sich das Objekt der Betrach-
tung während der Betrachtung und durch jeden Betrachter – gleich dem berühmten Mobile
in der Welt der Systemiker! Dazu später mehr. Folgen dieser konzeptuellen ­Eigendynamik,
Sperrigkeit, Unschärfen etc. können zu einem individuell sehr unterschiedlich erlebten
Stress führen. Dieser wiederum kann Emotionen hervorrufen, die ihrerseits verzerrten
„Wahr-Gebungen“ (Bias), Denkfehlern, übereilten (Flucht-)Reaktionen bzw. Aktionis-
mus, Vereinfachung, einer Erstarrung in Passivität etc. den Weg bereiten (vgl. Hieronymi,
2016, S. 11). So zeigt auch das VUCA-Modell wie unter einem Brennglas das generelle
Potenzial des Menschen zur Rationalität wie auch die natürliche Tendenz zu irrationalen
Denk- und Handlungsweisen (insbesondere unter Stress). Sie sollen deshalb auch Be-
standteil der Abb. 4.2 sein. Welche Folgen dies für die Führungskraft bzw. den Klienten
hat und wie mit ihnen umgegangen werden kann, wird in Abschn. 4.1.1 erörtert.

Nur vorübergehender Trendbegriff oder nachhaltige Arbeitshilfe?


In der soeben vorgestellten, angereicherten Version bietet sich das VUCA-Akronym daher
als Beschreibungs- und Diagnoseraster an. Die vorliegenden „Messansätze“ des
„VUCA-Grades“ (z. B. Ambiguity = 4 Pkt.) bleiben dabei jedoch immer eine sehr subjek-
tive Einschätzung. Sie sind meist wahrscheinlich nur dann von Wert, wenn sie wie bei
Hieronymi die Lücke mit der „VUCA-Gap-Analyse“ (Hieronymi, 2016, S. 13) zwischen
wahrgenommener, situativer z. B. Komplexität und den eigenen individuellen Fähigkei-

Voliatility Unsicherheit Komplexität Ambiguität


(Voliatilität) (Uncertainty) (Complexity) (Ambiguity)
Veränderlichkeitsfaktor: Veränderungs- Überraschungsfaktor: Unvorhersagbarkeit der Elemente-Kopplungsfaktor: Anzahl, Uneindeutigkeitsfaktor: Grad der
häufigkeit und –geschwindigkeit von Veränderungshäufigkeit und –geschwindigkeit Vielfalt und Dynamik der wirkenden Mehrdeutigkeit von Elementen, Sachver-
Definition Elementen, Situationen und Prozessen von Elementen, Situationen und Prozessen Elemente und ihrer Beziehungen zueinander halten/ Sichtweisen, die parallel
existieren
 Was sind die chronologisch wichtigsten  Was sich die Chancen, Risiken, Stärken,  Welches sind die wichtigsten Elemente,  Welche unterschiedlichen /
Ereignisse? Schwächen der Situationen? Beziehungen, wie definieren wir sie überlappenden Beschreibungen und
 Wo ist der Start- und Endpunkt der  Welche Szenarien sind möglich und welche einheitlich und wie verändern sich diese? Bewertungen der Situation gibt es?
Psychische bzw. Analyse? Eintrittswahrscheinlichkeit haben sie?  Welcher Detaillierungsgrad ist  Was sind komplett andere
 Welche übergordenten Muster lassen  Welche Kriterien ziehen wir für die notwendig? Sichtweisen?
rationale
sich erkennen? Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit  In welche Situationen und Unterbereichen  Welche unterschiedlichen /
Reaktion/  Welches sind die wesentlichen (nicht) heran? und Ebenen läßt sich das Problem überlappenden Beschreibungen und
Diagnosefragen Haupttreiber und Kreisläufe der Situation  Welche Szenarien könnten wir warum gliedern? Bewertungen der Situation können
(Auswahl) und ihre Auswirkungen? übersehen?  Was sind die relevanten Umfelder des parallel existieren – welche schließen
 Etc.  Etc. Themas und wo ziehen wir die Grenzen? sich aus?
 Etc.  Etc.

Psychische bzw. Bias: „Regency Effect“ (= Reaktion nur Bias: „Paralysis by Analysis“ (= Passivität Bias: „Confirmation Bias“ (= Bias: „Anything Goes Bias“
irrationale bzw. auf die jüngsten Vorfälle, ausblenden der durch den Wunsch nach erschöpfender Vereinfachung; Auswahl von Informationen, (= Übertriebener Perspektiven-
Zeitverzögerung bei Folgen); Informationsbeschaffung -und analyse); welche die eigene Meinung bestätigen); Pluralismus, Kontingenz);
emotionale
Ermüdung /Trägheit, Ignoranz , Panik Verunsicherung, Schock, Angst, „Amygdala- Überlastung, Hektik/Aktionismus vs. Zweifel, Skepsis, Zerissenheit,
Reaktion (-verkauf bei Aktien) Hijacking“ (fight-fight-freeze) „Aufschieberitis“ / Passivität; Resignation Orientierungslosigkeit/ Verwirrung
(Auswahl)
 Bildung eines „Leitsternes“ / einer  Genauere Situationsanalyse durch  Bewußte, reduzierende Auswahl  Entwicklung von prägnanter
groben Zielvorgabe / Vision / Informationsbeschaffung und –bewertung (= Sinngebung) von Variablen Methaphern und Bilder für die
(Re-) Aktions- Lösungskorridors  Worst-/ Best-Case Analyse  Konsensuelle, eindeutige Definition der verschiedenen Situationen etc.
möglichkeit  Einordnung/ Relativierung im Kontext  Szenario- / SWOT-Analysen verwendenten Begriffe  (Gedanken-)Experimente
(Auswahl) eines längerfristigen Horizontes / ein  Für alle Fälle / die kritischsten Fälle  Wechsel zwischen Big-Picture und  Entscheidungsfreudigkeit
Big-Pictures wappnen Detailbetrachtung  Etc.
 Etc.  Etc.  Etc.

Abb. 4.2 Das VUCA-Akronym als Diagnoseraster, Handlungsleitfaden und im Erleben. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved; adaptiert nach Hieronymi, 2016, S. 10–16)
172 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

ten, diese handhaben zu können, thematisieren. Impulse zur Reflexion und Diskussion
liefert der modifizierbare Vorschlag (!) von Hieronymi allemal. Da gerade sehr kritische
Entscheidungen jedoch selten von nur einer Person gefällt werden, besteht für ein Projekt-
management- bzw. Topmanagementteam immer die Herausforderung, letztendlich zu ei-
ner abgestimmten Sichtweise bzw. einem finalen Aktionsplan zu kommen. Der zeitliche
und personelle Aufwand (z. B. durch die Hinzuziehung von externen Fachspezialisten)
einer VUCA-Messung ist nach Einschätzung des Autors jedoch nicht unerheblich. Viel-
leicht ist dies auch der Grund, warum dieser auch keinerlei Beispiele für eine exemplari-
sche Ausarbeitung eines solchen Prozesses gefunden hat, obwohl Unternehmen aus Pub-
licitygründen solche Einblicke zuweilen doch recht gerne gewähren. Bei optimistischer
Sichtweise könnte man dies mit den damit oft zusammenhängenden, wettbewerbskriti-
schen Thematiken (z. B. Strategie) bzw. der daraus folgenden Geheimhaltung begründen.
Eine skeptischere Sichtweise lässt jedoch vermuten, dass man das VUCA-Akronym zwar
gerne als Zeitgeistbegriff im Munde führt, jedoch in der Praxis aufgrund des zu leistenden
(Zeit-)Aufwandes davon Abstand nimmt. Denn neben menschlichen Einflüssen ist es nach
Angaben der Betroffenen oft auch der Konflikt aus der für die aufwendigen Analysen und
Meinungsbildungsprozesse benötigten Zeit und der (vermeintlich) fehlenden Zeit, wel-
cher dann letztlich wieder zu unzulässigen Vereinfachungen führt.

Ferner widerspricht der hohe (Selbst-)Reflexions- und Diskussionsaufwand vielleicht auch


dem immer noch herrschenden Selbstverständnis der Führungskräfte als „Macher“ (vs.
„reflektierende Praktiker“); denn dies war vielleicht auch ein wesentliches Kriterium ihrer Be-
förderung. Wie so oft werden deshalb (die ausgewählten) Personen mit ihren speziellen Kom-
petenzen und Mindsets darüber entscheiden, ob in der eigentlich von allen als „VUCA“ be-
schriebenen Umwelt dies auch in der Praxis sichtbar wird bzw. sogar einen nachhaltigen
Stellenwert erhält. Ansonsten wird es dem Begriffsinstrumentarium des Wahrnehmungsrasters
„VUCA-“ ergehen wie den Managementansätzen zur Kybernetik und zum Systemdenken in
den 90ern: Sie verschwinden, sobald sie ihren Neuigkeitswert eingebüßt haben, wieder in der
Versenkung. Dafür, dass systemische Konzepte im Zusammenhang mit dem VUCA-Konzept
auch in den kommenden Jahren eine Wiederbelebung erfahren könnten, sprechen Publikatio-
nen wie die bereits angeführte von Gomez, Meynhardt & Lambertz (2019) oder auch von
Dunja Lang (Lang, 2016). Abb. 4.3 ermöglicht anhand der Kriterien „Situations- bzw. Prob-
lemwahrnehmung“, „Rolle(nwandel)“ und populärer „Heuristiken“ eine besssere Unterschei-
dung dieser „neueren“ und der eher traditionellen Managementansätze.

4.1.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Wollte man die praktischen Implikationen der genannten Managementlehren auf verschie-
dene Stilrichtungen der Musik übertragen, wäre der Anhänger der traditionellen Manage-
mentdenke ein Vertreter der klassischen (Bach’schen) Musik – der „Systemiker“ eher ein
(Free-)Jazz-Liebhaber. Fokussierend auf den systemisch-konstruktivistischen Ansatz sind
hier insbesondere die (agile) Improvisationsgabe und Intuition oder Vorahnung für die
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 173

Managementansätze gestern (Problem-)Situationen Managementansätze heute/zukünftig

1. Problemstellungen werden als „nur“ kompliziert und linear gesehen 1. Problemstellungen werden auch als komplex und auch nonlinear gesehen
2. Problemlösung ist ein Analyseprozess von Fakten weniger Experten 2. Problemlösung ist auch ein sozialer, kooperativer Prozess der „Wahr-Gebung“
3. Begrifflichkeiten sind (mathematisch-naturwissenschaftlich) determinierend, 3. Begrifflichkeiten sind auch (sozialwissenschaftlich), auch qualitativ-vieldeutig
quantitativ-eindeutig 4. Es gibt mehrere (situativ) richtige Antworten zu einem Problem (sowohl-als-auch)
4. Es gibt die (einzig) richtige Antwort/Lösung zu einem Problem (entweder-oder) 5. Der Prozess der gemeinsame Sinnfindung schafft eine konsensuelle Basis für
5. (Numerische) Wahrheiten von Experten sind alleinige Basis für Entscheidungen Entscheidungen und Interventionen
und Interventionen 6. Emotionale Klugheit (EQ) zur Erzielung konsensueller Wahrheiten (für mathematisch
6. (Mathematisch-technisches) Fach- bzw. Faktenwissen (IQ) ist Kernfähigkeit zur noch nicht beschreibbare Bereiche) darf nicht vernachlässigt werden
Problemlösung

Rollen(wandel)

 Held („Hero“ – „heroisches Management“) • Primus inter Pares


 Macher • Gärtner
 (Alleiniger) Entscheider • (Mit-)Entscheider

Heuristiken

 Maximiere den Output des Systems so lange wie möglich  Behandle das System mit Respekt
 Schaffe „klare Verhältnisse“  Lerne mit Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit und Unsicherheit umzugehen
 Schaffe Möglichkeiten, in denen du gut aussiehst  Erhalte und schaffe Möglichkeiten
 Erhöhe die Zentrierung auf deine Person – zeige, wie wichtig du bist  Erhöhe die Autonomie und Integration
 Nutze und fördere dein Potenzial bzw. das Potenzial anderer, falls es dir dient  Nutze und fördere das Potenzial des Systems (Ressourcenorientierung)
 Halte Sachverhalte und Probleme in der Schwebe; Intransparenz schafft Raum für  Definiere und löse das Problem auf
Macht- und Retterspiele  Beachte die Dimensionen der Gestaltung und Lenkung
 Strebe danach, der alleinige Gewinner zu sein  Erhalte und fördere Flexibilität und Eigenschaften der Anpassung und Evolutio n
 Fördere bzw. erhalte die für dich vorteilhaften Strukturen und Situationen so lange  Strebe vom Überleben zu Lebensfähigkeit und letztlich nach Entwicklung
wie möglich  Synchronisiere Entscheidungen und Handlungen mit zeitgerechtem Systemgeschehen
 Visiere die eine Lösung (für den Moment) an  Halte die Prozesse in Gang – es gibt keine endgültigen Lösungen
 Nutze Extreme zu deinem Vorteil  Balanciere die Extreme

Abb. 4.3 Managementansätze gestern und heute. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved

Spielweise der durch (non-)verbale Kommunikation gekoppelten Bandkollegen eine Vo­


raussetzung für künstlerische Spitzenleistung. Der mentale bzw. konzeptionelle und vor
allem praktische Umgang des Klienten mit aktueller wie auch zukünftiger Offenheit und
Unbestimmtheit in den als VUCA eingeschätzten Situationen soll daher Leitgedanke für
eine Darstellung der Denkmodelle bzw. Handlungsansätze und Werkzeuge hinsichtlich
der einzelnen Elemente des Akronyms für die Volatilität und Unsicherheit im Rahmen ei-
nes Strategienentwicklungsprozesses nach Day & Schoemaker (Day & Schoemaker,
2006) sein. Bei der Komplexität wird auf die Modelle der Komplexitäts- und Systemtheo-
rie (genauer: die „Theorie der sozialen Systeme“) bzw. Ambidextrie referenziert. Im Falle
der Ambiguität kommt es zu einer Vertiefung der zwei Varianten von Widersprüchlichkei-
ten (Dilemma und Paradoxon) sowie der Konzepte Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz.

Volatilität: zwischen fokussiertem und peripherem Sehen


Ist, wie im Falle heftigen Seegangs, die Veränderungshäufigkeit, -intensität und -ge-
schwindigkeit der Meeresoberfläche bei einer Bootstour hoch, empfiehlt es sich, um zwi-
schenzeitlich nicht vom Kurs abzukommen bzw. das noch nicht sicht- oder greifbare Ziel
zu verlieren, einen Leitstern (Polarstern) bzw. die vorweggenommene Vorstellung dieses
Zieles (Vision) zwischenzuschalten. Beide sorgen für die notwendige wetterunabhängige
Kurskorrektur, wenn das Boot zu sehr von dem Zielkorridor abweicht. Die Herausforde-
rung in dieser Situation besteht dabei jedoch weniger im kontinuierlichen Nachsteuern.
Sie besteht für die meisten Unternehmen eher in der Erarbeitung bzw. der letztlichen
­Auswahl ihres „Leitsterns“, d. h. eines Zukunftsszenarios, einer Vison aus einer Vielzahl
möglicher Zukunftsszenarien. Oft völlig fixiert auf das operative Geschäft, wird die ange-
messene Beobachtung des Umfeldes vernachlässigt. In Anlehnung an die Wahrnehmungs-
174 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

physiologie und -psychologie sprechen Day & Schoemaker (2006, S. 23) von der richtigen
Balance zwischen fokussiertem, scharfen (direkten) Sehen auf der zentralen Stelle der
Netzhaut, der Fovea, und dem peripheren (oder indirekten) Sehen außerhalb dieses Be-
reiches (Day & Schoemaker, 2006, S. 22–25). Das periphere Sehen hat dabei eine gerin-
gere Sehschärfe und liefert optisch leicht verzerrte Seheindrücke, aber hat vor allem einen
weitaus größeren Blickwinkel. Ferner ist es durch die größeren, hell-­dunkel-­empfindlichen
Stäbchen besonders bei geringer Helligkeit, beim Sehen in der Dämmerung und der Nacht
von Nutzen. Bildet diese wahrnehmungsphysiologische Analogie wie auch in der Realität
die Grundlagen für das Sehen, stellen Day & Schoemaker jedoch nicht nur im Untertitel
des Buches („Detecting weak Signals that will make or break your Company“) die wahr-
nehmungspsychologische Seite des Sehens in den Vordergrund. Dabei unterscheiden sie
entlang der Dimensionen „Notwendigkeit für peripheres Sehen“ infolge der Umgebungs-
volatilität und -komplexität sowie der Aggressivität der Konkurrenz und als zweiter Di-
mension der „Stärke der Reaktionsfähigkeit“ über den Strategieprozess, die Kultur, die
organisatorische Aufstellung etc. zwischen „Vulnerabilität“ (Verletzlichkeit) und „Vigi-
lanz“ (Aufmerksamkeit) des Unternehmens. Ersteres trifft zu, wenn die Notwendigkeit
hoch ist und die Reaktionsfähigkeit gering. Die überlebenswichtige Vigilanz besitzt ein
Unternehmen, wenn beide Parameter stark ausgeprägt sind (Day & Schoemaker, 2006,
S. 18–25). Anhand zahlreicher Beispiele von Unternehmen verschiedener Branchen bele-
gen die beiden Autoren, dass vergleichbare Unternehmen ihre Vigilanz zu ihrem Vorteil
nutzen konnten. So z. B. Google und Microsoft hinsichtlich der Bedeutung von Suchma-
schinen oder Apple mit seinem iPod und die Musikindustrie hinsichtlich der Auswirkun-
gen der Digitalisierungsmöglichkeiten. In der Beantwortung der Fragen, worauf das Un-
ternehmen beim Umweltscanning achten soll, wie es schauen soll, wie das Gesehene zu
interpretieren ist, welche weiteren Schlüsse man daraus ziehen kann und wie die Erkennt-
nisse in Handeln münden können, wollen die Autoren Wege aufzeigen, wie die sogenannte
„Vigilanz-Lücke“ des Unternehmens geschlossen werden kann. Dem wahrnehmungspsy-
chologischen Aspekt muss dabei gemäß den Autoren Day & Schoemaker (2006, S. 73–90)
besondere Beachtung zukommen, da die Interpretation der Informationen und Daten (Big/
Smart Data) menschlichen Verzerrungen unterliegen kann – individuell wie in der Gruppe
bzw. einer ganzen Organisation. Letztere werden dabei zuweilen Opfer des vorherrschen-
den Gruppendenkens bzw. Konformitätsdruckes, abschottender Kohäsion oder von Auto-
ritätskonformität. Bezogen auf Individuen verweisen die Autoren auf zahlreiche Phäno-
mene (Gestaltphänomen, blinder Fleck etc.), die den Unterschied zwischen physiologischem
Sehen und psychologischer Wahrnehmung deutlich werden lassen. Hinsichtlich der die
Urteilsfähigkeit einschränkenden Verzerrungen nennen sie die Effekte der Filterung
(z. B. Priming, Verleugnung etc.), des beeinträchtigten Schlussfolgerns (z. B. Rationali-
sierung, Wunschdenken) sowie der gelenkten Hypothesenbestätigung (z. B. selektives Ge-
dächtnis, Rückschaufehler). Die vermeintliche Sicherheit großer Datenmengen (Big
Data), die zudem noch (schein-)objektiv von Computern verarbeitet werden, ist in heuti-
gen Zeiten, voll Unsicherheit und Dynamik, das Wasser auf den Mühlen des Wunsches
nach (mentaler) Gewissheit – der Apfel der Schlange im Paradies. Da jedoch emotionale
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 175

wie kognitive Verzerrungen ein entwicklungsgeschichtliches und neurobiologisches Merk-


mal der menschlichen Informationsverarbeitung sind, können sie nicht eliminiert werden.
Vielmehr geht es nach Day & Schoemaker (2006, S. 91–95) darum, sie sich bewusst zu
machen und durch entsprechende Gegenmaßnahmen (z. B. Triangulation, Streitgespräche,
Bildung von Alternativhypothesen, Suche nach widersprüchlichen Informationen) auszuba-
lancieren. Ferner sollte nicht übersehen werden, dass die „Fehlerhaftigkeit“ auf der positi-
ven Seite – ähnlich wie bei den Reduplikationsfehlern der DNS – die Chance zu hilfreichen
Mutationen (durch den größeren Winkel im peripheren Sehen) bzw. zu Innovationen in sich
trägt. Das „Entweder-oder“ muss daher durch ein „Sowohl-als-auch“ oder – mit Julia Duwe
(Duwe, 2020) gesprochen – „beidhändige Führung“ ersetzt werden.

Unsicherheit: zwischen kühner Vereinfachung und zaghaftem Entscheiden


Obwohl die über Millionen von Jahren fortgesetzte Existenz des Menschen auf der Erde
Beleg für die Anpassungs- und damit Überlebensfähigkeit dieser Spezies zu sein scheint,
beschleicht nicht wenige das Gefühl, dass die von uns angestoßene (technische) Entwick-
lung in den kommenden Jahrhunderten uns einen neuen, vor allem mentalen Evolutions-
sprung abverlangt. Konkret heißt das, eine völlig neue Einstellung zur und ein neuer Um-
gang mit Unsicherheit. Denn wir scheinen nach Paul Schoemaker (Schoemaker, 2002)
aktuell angesichts immer zahlreicherer verunsichernder Situationen mit übersteigertem
Selbstvertrauen unser Gesichtsfeld sowie unsere Sichtweite zu schnell und zu stark ein-
zuschränken. Erlangen wir dann durch diese massive Komplexitätsreduktion ein Gefühl
der (Schein-)Sicherheit und wären eigentlich in der Lage, eine Entscheidung zu treffen,
halten uns wiederum unsere Zaghaftigkeit und unsere Selbstzweifel davon ab, entschlos-
sen zu handeln. Obwohl die Verkehrung der Abfolge zielführend wäre – zuerst die kriti-
sche Reflexion der Wahrnehmungsmuster gefolgt von beherztem Handeln –, scheint die
Infragestellung der eigenen Realitätswahrnehmung bzw. das Eingeständnis der Störanfäl-
ligkeit derselben die selbst ernannte „Krone der Schöpfung“ aktuell noch zu überfordern.
Und das hat mehrere (entwicklungsgeschichtliche) Ursachen. Nachfolgende systemisch-­
konstruktivistische Modelle in diesem Kapitel machen diese Unsicherheit jedoch zum We-
senskern von Management.

Führte die „Illusion der Kontrolle“ in früheren, weniger dynamischen Zeiten viel-
leicht in ihrer Kühnheit überzufällig zu Erfolgen und verstärkte diese Handlungsweise,
könnte dies dagegen in der heutigen Zeit zu irreversiblen und potenziell menschheitsbe-
drohenden Konsequenzen führen (z. B. Umweltschäden durch den Einsatz von Technik
wieder in den Griff bekommen zu können). Neben der Kontrollillusion sind es nach
Schoemaker (2002, S 223–231) die durch spezielle Wahrnehmungsmuster oder -filter
fixierten mentalen Modelle oder Paradigmen, die uns unseren Akt der „Wahr-Gebung“ –
der Wirklichkeitskonstruktion durch Selektion und damit Reduktion – vergessen lässt.
Doch gerade durch sie laufen wir Gefahr, Albert Einsteins Ratschlag „die Dinge so einfach
wie möglich – jedoch nicht einfacher zu machen!“ zu vergessen. Eine weitere Beeinträch-
tigung unserer Wahrnehmung von Unsicherheit und Risiken droht durch unsere unterent-
176 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

wickelte und wahrscheinlich sogar schwächer werdende Aufmerksamkeitsfähigkeit bzw.


unsere Ablenkungsanfälligkeit für „laute“ bzw. solche Reize, die sich in unserer unmit-
telbaren Umgebung befinden. Damit laufen wir jedoch Gefahr, die „leiseren“, aber bedeut-
sameren und nicht direkt wahrnehmbaren Informationsreize zu verpassen. Was in der
Steinzeit mit ihren unmittelbaren, konkreten Bedrohungen die Überlebenschancen erhöht
hat, wird bei zunächst nur mathematisch-abstrakt antizipierbaren Bedrohungen (z. B. Kli-
mawandel) zur Gefahr, da das System ab einem gewissen Schwellenwert durch hoch dy-
namische Wechselwirkungen unhaltbar zu kippen beginnt. Die Verhaltensökonomie liefert
zudem vielfache Belege dafür, dass wir eher schlecht bei der Einschätzung von Risiko-
wahrscheinlichkeiten sind und dabei besonders rechnerische Korrelationen (von Risi-
ken) gerne mit Kausalität gleichsetzen – wenn sie in unser Weltbild passen (Schoemaker,
2002, S. 228).
Als wüssten wir (meist) unbewusst um die Unzulänglichkeiten unserer (Risiko-)Wahr-
nehmung, verhalten wir uns eher zögerlich, wenn auf der Basis unserer eigenen Einschät-
zung auch am Ende konsequent Entscheidungen zu treffen sind (Schoemaker, 2002,
S. 228–231). Die systemisch-konstruktivistischen Konzepte komprimieren diesen perma-
nenten, inneren Konflikt in der Klage: Ich weiß, dass ich nichts weiß – muss aber dennoch
handeln!“ Eine Ursache dafür kann unsere starke Aversion gegenüber Verlusten sein.
Noch ganz der ums Überleben kämpfende Jäger in der Steinzeit, geben wir dem Spatz in
der Hand gegenüber der Taube auf dem Dach den Vorzug. Ferner hält uns gelegentlich
unsere generelle Abneigung gegenüber Ambiguität davon ab, zu handeln. Grund dafür
ist, dass wir bei ihr – in Abgrenzung zum Risiko – nicht einmal „ein Gefühl“ für Eintritts-
wahrscheinlichkeiten der (zudem unbekannten Varianten der) Ausgänge haben. Die Ten-
denz zur isolierten Betrachtung von Risiken ist eine weitere Reaktionsweise angesichts
von Unsicherheit. So sehen Einsteiger beim Aktienkauf zuweilen ängstlich die Entwick-
lung ihrer einen, favorisierten Aktie und vergessen, dass nur ein Mehr an Diversifikation
etwaige Verluste ausbalancieren und das Risiko des Totalverlustes reduzieren kann. Dass
die Art, wie man etwas inhaltlich darstellt oder hinterfragt, die (Antwort-)Reaktion beein-
flussen kann, bezeichnet man als Kontexteffekt. Der wirkt umso stärker, je höher die
empfundene Unsicherheit. So fragen Versicherer eher danach, ob man den Nutzen einer
(eigentlich unnötigen) Zusatzversicherung mitnehmen möchte, anstatt, ob man darauf ver-
zichten möchte. Sind die demütige Anerkennung, das Bewusstsein und das Wissen um die
oben dargestellte Fehleranfälligkeit unserer Wahrnehmung angesichts von Unsicherheit
ein konstruktiver, erster Weg, mit ihr umzugehen, sind sie dennoch unzureichend. Glei-
ches gilt für die in diesem Kontext häufig zitierte Intuition. Kann ihr bewusster Einsatz im
Sinne von Gerd Gigerenzer (2008) eine weitere Möglichkeit des Umgangs mit Unsicher-
heit darstellen (die Frage ist nicht, ob überhaupt, sondern in welchen Situationen wir uns
auf Intuition verlassen können), sollte dennoch auf den ergänzenden Einsatz von zu Denk-
disziplin mahnenden Verfahren und Werkzeugen nicht verzichtet werden.
Schoemaker (2002, S 232–242) gliedert die von ihm empfohlenen Denkwerkzeuge in
drei Anwendungsbereiche: die Entwicklung verschiedener (a) Sichtweisen auf die Zu-
kunft, die (b) Erarbeitung einer strategischen Vision (die möglichst verbindlich und flexi-
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 177

bel zugleich ist) sowie (c) Werkzeuge zur Echtzeitkontrolle und Steuerung der Zielerrei-
chung, um ggf. korrigierend eingreifen zu können. Für den letzteren Bereich (c) nennt er
dabei Kunden- und Marktforschung, die in einem elaborierten Wissensmanagementsys-
tem verwaltet wird, die aktive Nutzung von Benchmarks, Systemansätze zur Analyse der
dynamischen Abhängigkeiten der wirkenden Elemente, ferner Ansätze der Spieltheorie
zur Analyse möglicher (ir-)rationaler Verhaltensweisen der Wettbewerber, wie auch die
Nutzung der künstlichen Intelligenz. In sogenannten „War Rooms“ sollen alle Informati-
onen möglichst anschaulich und übersichtlich zusammengetragen bzw. aufbereitet wer-
den, um geplant oder spontan als strategische „Denkräume“ genutzt werden zu können.
Zur Erarbeitung einer Vision (b) verweist Schoemaker zum einen auf die Analyse der
strategischen Kernkompetenzen, zum anderen auf das parallele und damit risikoärmere
Einkaufen oder Ausgründen von Start-ups über Investitionen aus Eigenkapital zur Testung
neuer visionärer Ideen, des Weiteren auf den Entscheidungsprozess unterstützende Verfah-
ren, wie die Analyse von Entscheidungsbäumen, die Nutzung der Wahrscheinlichkeits-
rechnung bzgl. der Eintrittswahrscheinlichkeiten von (visionierten) Ereignissen, Nut­
zenanalysen und Simulationen. Zum Einsatz können auch die Verfahren des
Risikomanagements, Methoden der Investitionsrechnung, wie die Kapitalwertmethode,
klassische Portfolioanalysen oder die Realoptionsanalyse als Teil der Investitionstheorie
kommen, welche ihrerseits Optionspreismodelle zur Bewertung von Investitionen heran-
zieht. Für die (a) Entwicklung verschiedener Sichtweisen auf die Zukunft nennt Schoema-
ker (2002, S 233–236) an erster Stelle die bewährten Verfahren der Szenarioanalyse, das
Studium historischer Analogien, d. h. früherer Erfolgsstrategien von Unternehmen in ähn-
lich gelagerten Situationen, sowie einen generell stark kontingenten – heute würde man
sagen „agilen“ – Planungsansatz. Bei den mathematisch basierten Verfahren nennt er die
Methode des kritischen Pfades, der Sensitivitätsanalyse sowie Trendextrapolationen bzw.
deren Kombination. Monte-Carlo-Simulationen zur Bestimmung von Eintrittswahrschein-
lichkeiten oder das Durchspielen von Reaktionsweisen auf verschiedene Disruptionen in
möglichst lebensnahen Computersimulationen ermöglichen einen spielerischen Umgang
mit Unsicherheiten, der zugleich sehr lehrreich ist.
Eine Zusammenfassung derartiger Verfahren in einer deutschsprachigen Publikation
findet sich z. B. im „Handbuch Zukunftsmanagement: Werkzeuge der strategischen Pla-
nung und Früherkennung“ der Autoren Alexander Fink und Andreas Siebe (Fink & Siebe,
2011). Als Geschäftsführer der strategischen Beratungsfirma „ScMI Scenario Manage-
ment International AG“ haben sie sich auf Szenariomanagement, strategische Planung
sowie Trend- und Früherkennung spezialisiert.
In der Kombination eines Wissensupdates hinsichtlich unseres unzeitgemäßen „Be-
triebs-“ bzw. Wahrnehmungssystems, des bewussten Einsatzes unserer Intuition und des
professionellen Einsatzes verschiedener Denkwerkzeuge könnte das „Schreckgespenst“
der Unsicherheit in eine situative Mahnung, genauer und anders hinzuschauen, umgedeu-
tet werden. Die Analyse, wie andere Personen anders hinzuschauen, führt uns zu der fol-
genden, systemisch-konstruktivistischen Betrachtungsweise der Komplexität.
178 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Mit Komplexitätserhöhung zur Komplexitätsreduktion bzw. -bewältigung


Wie bei den anderen drei Buchstaben des VUCA-Akronyms handelt es sich auch bei dem
„C“ bzw. „K“ (für Komplexität) eher um subjektives Erleben. So schreibt Dirk Baecker
(1997, S. 24) sehr treffend: „Die Welt an sich ist weder komplex noch nicht komplex. Sie
ist, was sie ist. Aber sie kann für ein System, für einen Beobachter, komplex sein, der dies
durch entsprechende (also bereits komplexitätsverarbeitende) Gefühle der Überforde-
rung, Ungewissheit, Verwirrung und Reduktionsbereitschaft zu erkennen gibt.“ Faktisch
nachvollziehbar wird diese emotionale und kognitive Herausforderung durch deren Defi-
nition in den Anfängen der System- und Komplexitätstheorie in den 1950ern. So be-
schrieben die Kybernetiker und Informationstheoretiker in dieser ersten Phase (oder im
„Cluster 1“, wie sie Hieronymi & Eppler nennt) ein System als eine Kombination der
Anzahl und Vielfalt der wirkenden Elemente sowie der Dynamik ihrer Verknüpfungen,
Prozesse und Regeln. Im Fokus stand die Erklärung von Stabilität in einem dynamischen
Umfeld. Je nach fachlicher Provenienz der Wissenschaftler kam es bis heute zu Ergänzun-
gen und/oder verschiedenen Neuakzentuierungen. Daher gibt es nicht das einheitliche
Verständnis von „Komplexität“ – weist der Begriff selbst eine gewisse Komplexität auf!
Eine Übersicht von Hieronymi & Eppler in ihrem kleinen „Komplexitäts-ABC“ (Hiero-
nymi & Eppler, 2015) verdeutlicht diese Perspektivenvielfalt über die Dekaden sehr an-
schaulich. Eine derartige Ergänzung waren gemäß den beiden Autoren in der 2. Phase (=
Cluster 2), ca. ab den 70er-Jahren, die Konzepte der Selbstorganisation und -referenz,
der Emergenz und Chaostheorie durch die Konstruktivisten und Lerntheoretiker. Deren
Komplexitätsverständnis betont die Vielzahl möglicher Zustände bei geringer Vorhersag-
barkeit des Gesamtverhaltens. Hier verorten die Autoren auch die Begriffe der Selbstorga-
nisation, Selbstreferenz (= Systemverhalten ist nicht nur eine Reaktion auf Einflüsse von
außen, sondern auch innerer, aktueller, wie auch vergangener Zustände) und der Emer-
genz (= das Zusammentreffen der Systemelemente kann unerwartete, neue qualitative
Phänomene hervorbringen, die ansonsten verborgen geblieben wären; „1 + 1 =3“). Folge
für alle Klienten in Führungsrollen ist, dass sie das (Organisations-)System zwar irritieren,
aber nicht direkt steuern können. Die Theorien der sozialen Systeme, Social-Network-­
Theorien und Multi-Agent-Analysen und Level-Simulationen läuteten ab 1985 die bis
heute anhaltende Phase 3 (= Cluster 3) ein. Neben den soeben genannten Denkmodellen
verbinden sich mit ihr die Ansätze der kollektiven (Schwarm-)Intelligenz, der strukturel-
len Koppelung, Kooperation und Koevolution. Mit den Denkmodellen der soeben be-
schriebenen drei Phasen können nach Hieronymi & Eppler (2015, S. 25) „[…] Organisa-
tionen als in die Gesellschaft eingebettete, soziale Systeme verstanden werden (Cluster 3),
die wissensbasiert und zweckorientiert handeln (Cluster 2) und aus einer Vielzahl unter-
schiedlich stark vernetzter Regeln, Prozesse und Komponenten aufgebaut sind (Cluster 1)“.

Das Komplexitätsverständnis der „Theorie der sozialen Systeme“ aus Cluster 3 her-
anziehend, ist die Ursache in der begrenzten kognitiven Verarbeitungskapazität des Men-
schen zu suchen. Denn hinsichtlich der (1) in der Umwelt anzutreffenden, unüberschauba-
ren Kombinationsmöglichkeiten der Anzahl und Vielfalt wirkender Elemente sowie (2) der
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 179

Dynamik ihrer Verknüpfungen, Prozesse und Regeln sind sie einfach überfordert. Obwohl
wir insbesondere die sogenannten trivialen oder linearen Phänomene in der Umwelt
(z. B. Pflanzenwachstum) schon sehr gut durch die Naturwissenschaften beschreiben, er-
klären, prognostizieren oder sogar manipulieren können, werden wir heutzutage immer
häufiger mit den unkontrollierbaren Folgen von nonlinearen und damit komplexen Phäno-
menen in der Umwelt (z. B. Klimawandel) konfrontiert. Das eigentlich notwendige
­Gesamtverständnis der Welt („alles mit allem“), insbesondere aber die auf Nonlinearität
basierenden Phänomene in der Umwelt sind kognitiv nicht versteh- oder 1:1 abbild- oder
gar prognostizierbar (Backhausen & Thommen, Irrgarten des Managements. Ein systemi-
scher Reisebegleiter zu einem Management zweiter Ordnung, 2007). Denn mit Wal-
drop (1996) lebt man „[…] auf Inseln der Ordnung in einem kaum wahrnehmbaren
Meer des Chaos“. Unsere eigene Begrenztheit lässt uns daher die Umwelt als komplex
bzw. VUCA beschreiben. Sie ist für uns nicht verarbeit- bzw. eben nicht „wahr-nehmbar“.
Interessengeleitet muss der Beobachter daher ein Ausschnitt vom Rest trennen bzw.
i. S. einer Komplexitätsreduktion abgrenzen. Mit diesem indirekten Zwang zur Selektion
zieht das beobachtende, „wahr-gebende“ System in einem kreativen Akt seine Grenzen.
„Ein solcher Ausschnitt repräsentiert dann die einen Beobacher interessierende Einheit
und – paradoxerweise sogar „Ganzheit“, trotz und gerade wegen des Ausschnittscharak-
ters“ (Backhausen & Thommen, 2007). Man ist sich (nicht mehr) bewusst bzw. vergisst,
dass man i. S. der Kontingenz („es könnte auch ganz anders sein“) auch eine andere Per-
spektive, einen anderen Ausschnitt hätte wählen können. Infolge der überwiegenden Un-
kenntnis über die eigene „Funktionsweise“ wird dieser Ausschnitt dann fatalerweise als
die (alleinige – und z. B. im Falle von Religion ggf. allein selig machende) Realität und
die einzige Wahrheit angesehen (und ggf. bis aufs Blut verteidigt) und im schlimmsten
Falle (wie z. B. bei den Taliban oder Trump-Anhängern) dann in ein sehr fundamentalis-
tisch oder deterministisch daherkommendes „So ist es!“ transformiert. Im (Management-)
Alltag bedarf es jedoch dieser temporären Negation der Kontingenz, um nicht im Ange-
sicht der vielfältigen Möglichkeiten und Mehrdeutigkeiten bzw. vor lauter Zweifel, Zö-
gern und Schwanken nicht mehr zum Handeln zu kommen. Ändern sich (Markt- oder)
Umweltbedingungen, kann jedoch ein (zu) starres Festhalten an dem „So ist es!“ bislang
erreichte Erfolge der gewählten Sichtweise bzw. des damit verbundenen Verständnisses
der (Markt-)Dynamik zum Scheitern führen. Andererseits ist per se nicht gesagt, dass eine
Interessenverschiebung, d. h. die neue bzw. andere Sichtweise, wiederum erfolgreich ist.
Dadurch ist jeder neue „Ausschnitt der Welt“, jede neue Betrachtungsweise des Marktes
immer auch mit Risiko behaftet. „Für Führung und Management heißt dies, dass Struktur
und Strategie unverzichtbar sind, nicht aber unantastbar. Der Tanz der Kontingenz zwi-
schen Respektierung und Verneinung der jeweiligen Organisiertheit, ist die Ermöglichung
von Handeln in Komplexität“ (Backhausen & Thommen, 2007). Die mit diesem Tanz
verbundene Toleranz von Ambivalenz wird damit zur Grundvoraussetzung langfristigen
unternehmerischen Erfolges. So weit zu den individuellen und intrapsychischen Erkennt-
nisprozessen und Reaktionen eines Beobachters angesichts der komplexen Umwelt in der
Systemtheorie.
180 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Soll hier jedoch das Komplexitätsverständnis der für die Wirtschaftswelt relevanten
„Theorie der sozialen Systeme“ dargestellt werden, müssen darüber hinaus die interpsy-
chischen bzw. interaktiven Prozesse zwischen mehreren Beobachtern thematisiert werden.
Diese vielen Beobachter handeln auf der Basis verschiedener Ausschnitte bzw. von Welt-
bildern, welche sich nach einem zyklischen Prozess der Konstruktion (Unterscheiden/Be-
schreiben, Erklären/Verknüpfen und Bewerten) in der Realität letztlich durch ihre
­Wirksamkeit bewährt haben und damit für „wahr“ gelten. Der individuelle Aus- oder Zu-
schnitt dieser (verschiedenen) Weltbilder kann jedoch immer nur indirekt aus dem spezi-
ellen Handlungs- und Kommunikationszusammenhang interpretativ erschlossen werden.
Dabei kann man mit der Interpretation ihrer Sichtweisen natürlich auch falsch liegen.
Ursache dafür ist die sogenannte doppelte Kontingenz. Das heißt, auf der Basis unserer
eigenen (limitierten) Weltsicht interpretieren wir die ebenfalls (limitierte) Weltsicht des
anderen und können uns folglich im schlimmsten Falle zweifach täuschen. Doch wie
schon bei der Konstruktion unserer eigenen Welt gehen wir mehr oder minder schnell von
einem „So ist sie/er!“ aus und tun so, als ob wir uns verstehen und in derselben Welt leben
würden – als ob unsere eigene Landkarte die Landschaft wäre. Unser Alltag bestätigt je-
doch auch sehr oft, dass die Annahmen zutreffen und in der Regel die Gemeinsamkeiten
offensichtlich überwiegen. Gründe dafür können eine gemeinsame Sprache, eine gemein-
same Sozialisation z. B. in einer Nation bzw. (Unternehmens-)Kultur oder die Zugehörig-
keit zu der gleichen Gesellschaftsschicht oder Community sein. Eine gemeinsame Ge-
schichte erleichtert Kooperation. Folglich kommen Menschen (in einer Organisation),
die ein gemeinsames Ziel erreichen wollen, nicht umhin, ihre Geschichte (mit welcher
Weltsicht ist man bei uns früher groß geworden?) und ihre Landkarten (wie sehe ich die
Welt heute?) hinsichtlich der Übereinstimmungen und Unterschiede abzugleichen. Über-
einstimmungen erzeugen dabei das dazu notwendige Vertrauen, Unterschiede können
Quellen des Konfliktes oder der Inspiration sein. Neben der soeben beschriebenen, ge-
meinsamen Sozialisation kann die kommunikative Kopplung von nicht trivalen Syste-
men eine Erklärung für die überwiegend erlebte Übereinstimmung sein. Bewegt man
z. B. Steine meist nur durch energetische Einflussnahme wie z. B. einen Kick, hat sich bei
Menschen eher gutes Zureden oder Überzeugung bewährt. Das funktioniert jedoch nur
dann, wenn dem guten Zureden oder Überzeugungsversuch gute Absichten und nicht Ma-
nipulation beim Kommunikationspartner unterstellt werden. So reagieren wir nicht auf das
faktisch Gesagte, sondern darauf, was wir (mit z. B. den „vier Ohren“ von Schulz von
Thun) gehört haben bzw. welche Bedeutung oder welchen (Un-)Sinn wir der Aussage in
dem speziellen Kontext geben. Diese Besonderheit sozial-kommunikativer Systeme
schafft eine weiche Wirklichkeit, die sich durch die mangelnde Sicherheit bei der Inter-
pretation – ihre Nonlinearität – von der harten Wirklichkeit mit ihrem linearen
­1:1-Verständnis, ihrem linearen „Sich-1:1-ein-­Bild-Machen“ maßgeblich unterscheidet.
Daher sollte man in der Kommunikation nie vergessen, dass alles Gesagte von jemandem
(mit einer gewissen Historie) gesagt wurde und das Gesagte dadurch mehr über den Sen-
der als über den Empfänger aussagt und meine Annahmen über die persönliche Motivlage
und die Hintergründe des Senders wiederum nur Hypothesen sind. Folge dieser verschach-
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 181

telten Hypothesenbildung ist die sogenannte zirkuläre kommunikative Kopplung. Durch


sie erzeugt eine Gruppe in einem koevolutionären Prozess ein gemeinsam getragenes Bild
der Wirklichkeit. Entsprechende Rückkopplungsprozesse stabilisieren dieses „Joint Ven-
ture“ und führen zu einem Insider-­Outsider-­Verhalten („wir“ gegen „die“) gegenüber
Nicht-Gruppen- bzw. Organisationsmitgliedern. Gruppierungen wie Pegida, die der
„Reichsbürger“, die Gruppe der Wähler von Donald Trump, Masken- und Impfgegner sind
um die 2020er-Jahre eindrucksvolle wie erschreckende Beispiele für die Folgen solcher
kommunikativen, identitätsstabilisierenden Echokammern. Mit Backhausen & Thommen
(2007) muss man mit Verurteilungen vorsichtig sein, denn: „Die vermeintliche Dummheit
enttarnt sich als Solidarität (und Selbsterhaltung)“. Obwohl auf „weicher“ Wirklichkeits-
konstruktion beruhend, wird nicht nur an den angeführten Beispielen deutlich, wie schwer
es ist, sie zu beeinflussen oder gar zielgerichtet zu steuern. Übertragen auf den Unterneh-
menskontext wird zudem verständlicher, warum Führungskräfte, wenn es um Veränderun-
gen geht, sich an dieser weichen Realität die „Zähne ausbeißen“ – ein instruktiver bzw.
direktiver Führungsstil in sozialen Systemen eher wenig Aussicht auf Erfolg hat. Wenn
überhaupt, ist Führung nur durch „Ver-führung“ möglich. Nicht i. S. von Manipula-
tion, sondern der Fähigkeit, für die Zielgruppe ein alternatives und attraktives Denk-, Ver-
haltens- oder Rollenmodell etc. (eine Vison, eine charismatische Persönlichkeit, Prota-
gonisten des Erfolges, z. B. ein „Mitarbeiter des Monats“) anbieten zu können. Diese im
Idealfall charismatische Person (z. B. ein Gründer eines Start-ups) hat darüber hinaus eine
Idee (womöglich gewonnen durch die gelungene Balance zwischen fokussiertem, schar-
fem (direktem) Sehen und dem peripheren (oder indirekten) Sehen von Day & Schoema-
ker (2006)), die einerseits attraktiv durch ihre Orginalität ist – andererseits nicht zu abwe-
gig, um nicht mehr anschlussfähig zu sein. Da er diese Vision (i. S. eines Entwurfes einer
Welt- oder Wirklichkeitskonstruktion) ggf. nicht eigenständig Wirklichkeit werden las-
sen kann (Weltschöpfung), muss er Mitstreiter bzw. -arbeiter gewinnen. Diese werden nur
dann mitmachen, wenn die neue Service- oder Produktidee samt Geschäftsmodell für sie
Sinn macht und genügend intrinsische (Spaß an der Aufgabe selbst) und angemessene
extrinsische Motivation (Gehaltshöhe) bietet. Ferner muss von ihnen sowohl der psychi-
schen als auch der juristische Kontrakt (Arbeitsvertrag) als fair bewertet werden.. Von der
Unternehmerseite ist dies jedoch nur dann gegeben, wenn er die (potenziellen) Mitarbeiter
zudem nicht als nur funktionale Rollenträger (Personal) sieht, sondern als Personen. Ein
solcher Unternehmer würde es begrüßen, dass Mitarbeiter eben nicht nur sachlogisch und
i. S. der Stellenbeschreibung „funktionieren“, sondern auch die emotionalen Seiten, d. h.
ihre Gefühle „zur Arbeit mitbringen“. Und dies nicht aus verklärtem Gutmenschentum
oder einer Managementmode folgend, sondern weil sie innerhalb des sozialen Systems
Beziehungen stiften und damit die Häufigkeit und Qualität der Interaktion und Kommuni-
kation (auch mit Strahlkraft nach außen, d. h. in Richtung Kunden, Partner, Anteilseigner
etc.!) erhöhen. Ferner begünstigt die enge kommunikative Kopplung das Entstehen von
Vertrauen, was einen offeneren und schnelleren Kommunikationsfluss fördert – zum an-
deren ermöglicht es den Verzicht auf komplizierende, verlangsamende und formal vorab
zu definierende und letztlich meist auch noch zu kontrollierende Berichts- und Entschei-
182 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

dungswege. Erfüllen sich diese Aussichten bzw. Voraussetzungen, verhalten sich die meis-
ten Mitarbeiter loyal, engagiert und den Unternehmenszielen verpflichtet. In einem re-
ziproken Prozess verhält sich dann auch die Führungskraft verlässlich und
vertrauenswürdig. Die persönlichen Eigenschaften aller Beteiligten spielen im Gegensatz
zu klassischen Managementansätzen nur eine untergeordnete Rolle. Damit kommen mit
Backhausen und Thommen folgende, eher indirekte Maßnahmen der versuchten (!) Ein-
flussnahme auf soziale Systeme im sogenannten Management 2. Ordnung zur Anwen-
dung (Backhausen & Thommen, 2007): (1) Veränderung von Kontextbedingungen (Beisp.:
eine Reorganisation); (2) Selektionsangebote durch Fokussierung der Aufmerksamkeit
(Beisp.: Einführung eines Cafeteriasystems bei Bonuszahlungen), (3) Beeinflussung von
Kommunikationskanälen und strukturellen Kopplungen (Beisp.: Veränderung der Be-
richtslinien durch Zusammenlegung oder Trennung von Abteilungen), (4) Eröffnung von
Rückkopplungsmöglichkeiten durch Vernetzung (Beisp.: eine themenspezifische Hotline
für Kunden oder Partner), (5) Beeinflussung der Wirklichkeitskonstruktionen durch kom-
munikative Angebote (Beisp.: regelmäßige Coffee-Corner-Sessions von oberen Führungs-
kräften für Mitarbeiter nach Strategie-Update), (6) Beeinflussung der Spielregeln (Beisp.:
Verschärfung für Verstöße gegen das Compliance-Management-System), (7) Anbieten
guter „Geschäfte“ (Beisp.: größere Aktienpakete für HiPos), (8) Ausübung von Macht
durch Spielverweigerung (Beisp.: Verweigerung von nur optionalem Mitspracherecht des
Betriebsrates durch den Vorstand). Ist die Orchestrierung der Einflussversuche erfolgreich
(d. h. „man hat die Köpfe und Herzen“ der Beteiligten gewonnen), benötigt es im weiteren
Schritt ein Management 1. Ordnung (Backhausen, Management 2. Ordnung: Chancen
und Risiken des notwendigen Wandels, 2009). Das heißt, man geht davon aus, die richtige
(z. B. Strategie-)Entscheidung getroffen zu haben, und veranlasst die zielgerichtete und
deshalb kontrollierte Umsetzung in „harte Wirklichkeit“ durch z. B. projektmanagement-
mäßig geschulte, fähige Hände. Nach Backhausen & Thommen (2007) besteht – wie auch
schon bei Fritz Simon – damit die Kunst von Management generell in der intensitäts-,
zeit- und anlasssensiblen Oszillation zwischen dem Management 1. und 2. Ordnung bzw.
in der Beherrschung beider Endpole. Siehe dazu Abb. 4.4.
Genau diese situative Oszillation zwischen den bisher als Gegensätze wahrgenomme-
nen Denk- und Handlungsweisen ist es auch, die den Kern des eingangs des Kapitels er-
wähnten, aktuellen Trendwortes „Ambidextrie“ als des sogenannten „beidhändigen Füh-
rens“ ausmacht. „Beidhändig“ deshalb, weil sie nach Julia Duwe (2020, S. 1) angesichts
der aktuellen Zerreißproben der Digitalisierung (2020, S. 20), Globalisierung, des schär-
feren Preiswettbewerbs etc. auf der organisatorischen wie auch personalen Ebene sowohl
Exploitation (i. S. der auf Effizienz bedachten Optimierung von Strukturen, Prozessen;
sie steht für die Fortschreibung gegenwärtiger Erfolge mit der Gefahr der Kommodisie-
rung oder sogar des Stillstandes) als auch Exploration (i. S. der proaktiven Erschließung
von Neuland oder des reaktiven Anpassens an bereits existente Neuerungen; sie steht für
Innovation, Wachs- bzw. Unternehmertum, Effektivitätsoptimierung) erfordert. Daher be-
steht nach dem bereits in der Einleitung genannten Organisationstheoretiker J. G. March
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 183

Unterscheidungs-
Management 1. Ordnung Management 2. Ordnung
kriterien
Unternehmens-
Triviales System, Maschine Nontriviales System, lebender Organismus
analogie
Harte Wirklichkeit, formal definierte Strukturen und Weiche Wirklichkeit, soziale
Sicht auf die
Prozesse Kommunikationsstrukturen
Wirklichkeit
 Struktur vor Psyche  Psyche vor Struktur
Arbeiten im System / Arbeiten am System /
Fokus
Management der Komplexität Management durch Komplexität
Effektivität (Die richtigen Dinge tun!);
Effizienz (Die Dinge richtig tun!),
Ziel ggf. Dinge völlig anders sehen und tun
mehr desselben tun, optimieren
(Paradigmenwechsel)
(Plausible Arbeits-)Hypothesen (Ist das so? Könnte
(Vermeintliche) Wahrheiten (Das ist so!) Handlungsbasis
es auch anders sein?)

Handle, als ob der gewählte Wirklichkeitsausschnitt Sich für eine Realität entscheiden – eine Realität
Realität ist; vom Ding zum inneren (Ab-)Bild)  Handlungsmaxime schaffen, d.h. vom inneren Bild zur Dinglichkeit 
Abbildtheorie Konstruktivismus

Rationale Zielvorgabe und Steuerung; „Irrationale“ „Ver-Führung“; Sinn,


Führungsverständnis
„die/der Macher:in“ „die/der reflektierende Praktiker:in“
„Personal“ – funktionale, sach-logisch begründete Personen – menschliche Wesen mit psycho-
Mitarbeitersichtweise
Rollen logischem Verhalten
Die Kunst des Managements besteht in der intensitäts-, zeit- und anlasssensiblen Oszillation
zwischen dem Management 1. und dem Management 2. Ordnung bzw. in der Beherrschung der Zwischenstufen und
Endpole. Heutzutage wird diese „Beidhändigkeit“ als „Ambidextrie“ bezeichnet.

Abb. 4.4 Die Unterschiede des Managements 1. und 2. Ordnung. © Stefan Stenzel 2022. All Rights
Reserved

(1991) die Kunst der erfolgreichen Unternehmensführung in der situationsspezifischen


und dynamischen Oszillation bzw. der gekonnten Balancierung zwischen den beiden
­eigentlich gegensätzlichen Endpolen sowie dem Orchestrieren aller dazu notwendigen
Ressourcen. March bezeichnete dies als den sogenannten „Explorations-Exploitations-
Trade-­off“ – oder mit Tushman & O’Reilly (Tushman & O’Reilly, 1996) als „[…] die or-
ganisatorische Fähigkeit von Unternehmen, radikale und inkrementelle Innovation gleich-
zeitig zu verfolgen“ (Duwe, 2020, S. 24). Wie jedoch auch körperlich erfahrbar, können
Rechtshänder zwar auch mit der linken Hand schreiben; es benötigt jedoch viel Zeit und
Übung mit beiden Händen gleichermaßen, dass das Geschriebene auch leserlich bleibt
(Duwe, 2020, S. 159). Bereiche bzw. Formen der erforderlichen Beidhändigkeit sieht
Duwe (2020, S. 28) entlang der Zeit (→ sequenzielle Ambidextrie), des Raumes (→ struk-
turelle Ambidextrie), in verschiedenen Kontexten (→ kontexturelle Ambidextrie; wie kann
man innerhalb einer Organisation sowohl das eine wie auch das andere machen?) und in
den potenziellen Cross-over-Begabungen von Menschen (→ intellektuelle ­Ambidextrie;
Menschen, die sowohl künstlerisch wie auch naturwissenschaftlich begabt sind). Da die
letztgenannten, personellen Voraussetzungen jedoch eher selten gegeben sind, ergibt sich
für Unternehmenslenker:innen die Herausforderung, wie ggf. die Stärken im Bereich der
Exploitation durch die Stärkung der Exploration balanciert (die andere Hand trainiert)
184 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

werden kann. Basierend auf der vorangehenden Promotionsschrift von Julia Duwe (Duwe,
2016) zu diesem Thema sieht sie die Veränderung der Kommunikation und damit indi-
rekt der Kultur als einen der zentralen Stellhebel für die beidhändige Führung von Unter-
nehmen bzw. die darin arbeitenden Menschen. Ob aus Unkenntnis oder basierend auf ei-
ner bewussten Entscheidung heraus referenziert Duwe dabei jedoch nicht auf die seit
Langem etablierte „Theorie der sozialen Systeme“, sondern unterscheidet einfach zwi-
schen Kommunikation als Transmission (Informationsaustausch und Vermittlung von Be-
deutung) und Kommunikation als Wirklichkeitskonstruktion zur Schaffung von Bedeutung
und Realität durch Interaktion der Stakeholder (Duwe, 2020, S. 47). Ein genauerer Über-
blick für den organisatorischen Kontext ist in ihren tabellarischen Zusammenstellungen
auf den Seiten 54 und 229 – für den Führungs-Kontext auf der Seite 167. Gerade in Bezug
auf die Führung betont sie mehrfach, dass damit eine „Abkehr der „Feudalherrschaft““
(Duwe, 2020, S. 33) unabdingbar ist bzw. das Ende des „allwissenden Vorgesetzten“
(Duwe, 2020, S. 7) eingeläutet und insbesondere im Rahmen der Exploration der oft durch
Zen-Meister betonte „Anfänger-Geist“ für Führungskräfte von essenzieller Bedeutung ist
(Duwe, 2020, S. 160). Ergänzend zu ihrem Verweis auf den ambidextren Ansatz des
„Full-Range-Leadership“ in der Kombination des transformationalen und transaktionalen
Führungsansatzes (Duwe, 2020, S. 96) werden in diesem Buch jedoch zwei weitere Mo-
delle für die Umsetzung der ambidextrischen Führung (Integration und Interaktion) vorge-
stellt. Mit Referenz auf Jeff Bezos und Steve Jobs sieht Duwe (Duwe, 2020, S. 244) auch
in ihrem Epilog den soeben erwähnten „Anfänger-Geist“ und damit das Loslassen von
bewährten Denkmustern und Handlungsroutinen bzw. die Kunden-Besessenheit als per-
manenten Anstoß zur Innovation für die langfristige Lebens- bzw. Überlebensfähigkeit
von Unternehmen in immer dynamischeren Märkten als zentral. Hier Parallelen zu kon-
zeptionellen Schwerpunkten bzw. Einsatzmöglichkeiten für Coaching zu sehen, fällt
nicht schwer.
Obwohl von Duwe (2020) nicht ausgeführt, ist die mit der Beidhändigkeit einherge-
hende, permanente situative Ambiguität Kernbestandteil des heutigen Führungserlebens
in einer VUCA-Welt – Ambiguitätstoleranz die permanent geforderte Eigenschaft von
Entscheidern. Daher soll diese – der Buchstabenfolge des VUCA-Akronyms folgend – im
nächsten Abschnitt noch einmal etwas generischer beleuchtet werden.

Ambiguität und Ambivalenz als die kleinen Brüder der Komplexität und Qual
der Wahl
Die eingangs erwähnte partielle Abhängigkeit der VUCA-Elemente zeigt sich bei der Am-
biguität sehr deutlich. Als Folge der oben beschriebenen Komplexität bzw. Kontingenz
bei der Wirklichkeitskonstruktion kann man die Dinge eben so oder so sehen – diesen oder
jenen Ausschnitt der Welt als relevanter wahrnehmen. Die sich dabei potenziell ergeben-
den Widersprüchlichkeiten von Sichtweisen, Wünschen, Handlungsalternativen und Ge-
danken, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen können, erzeugen ein Gefühl der Zer-
rissenheit bzw. inneren Spannung – der sogenannten Ambivalenz. Dirk Baecker sieht in
diesen Spannungsfeldern sogar den „[…] Stoff, aus dem das Leben ist“, als den Anstoß
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 185

zum Lernen und damit als (Über-)Lebensgrundlage. Und obwohl heute als Trendbegriff
gehypt, liegen die konzeptionellen Ursprünge in der Psychoanalyse zu Beginn des letzten
Jahrhunderts. Im Prozess der Bearbeitung dieser Widersprüchlichkeiten kann man zum
einen vor einer Entscheidung konfrontiert werden und steht damit vor einem Di-, Tri-
oder Polylemma (oft auch als Zwickmühle oder Zielkonflikt bezeichnet). Oder aber man
erlebt sie als Paradoxon, also als Folge nach einer Entscheidung, mit der man dann letzt-
lich leben muss (Lebrenz, 2020). Es stehen demnach Ambiguität und Ambivalenz im sel-
ben Verhältnis wie Dilemma und Paradoxon.

Betrachtet man die Konzepte der Paradoxien bei Individuen und in Organisationen,
rechtfertigt Fritz Simon (Simon, 2007) die Analogiebildung zwischen den beiden System-
typen mit dem Hinweis, dass beide Sinn prozessieren bzw. sich über Sinn formen.
Basierend auf dieser Vorannahme formuliert er zwei Thesen: Am Anfang aller sozialen
und psychischen Organisationsprozesse stehen sogenannte „pragmatische Paradoxien“.
Mit Rückgriff auf Humberto Maturana definiert er diese als Handlungsaufforderungen, die
sich im Sinne einer digitalen Logik gegenseitig ausschließen. Dies wiederum heißt, dass
ein Satz gerade dann wahr ist, wenn er nicht wahr ist (z. B. die einfache Aussage: Ich lüge
gerade! Erläuterung: Wenn ich explizit sage, dass ich gerade lüge, dann lüge ich ja nicht
mehr). Die zweite These lautet: Die Art und Weise, wie mit diesen pragmatischen Parado-
xien umgegangen wird, lässt uns das Ergebnis als genial, wahnsinnig oder nur normal und
mittelmäßig bewerten. Als Handlungs- bzw. Bewertungsgrundlage führt die Anwendung
der mathematischen oder aristotelischen Logik zu irrationalen Ergebnissen, da menschli-
che (Ir-)Rationalität meist nicht mit formaler Logik vereinbar ist. Mögliche strukturelle
Reaktionsweisen auf Paradoxien kuratiert die in Abb. 4.5 zu sehende Tetralemma-Matrix.
Dabei findet sich in Abb. 4.5 auf der linksgeneigten, vertikalen Achse (die eingegrauten
Zellen oben links und oben rechts) die „Entweder-oder“-Alternative. In der Zelle unten
links die „Weder-noch“-Option und oben rechts die „Sowohl-als auch“-Variante. An-
hand des Beispiels des Verhaltens an einer Weggabelung fächert Simon die zwei mögli-
chen, alternativen, psycho(patho)logischen Muster der Paradoxiebewältigung in ihren bei-
den Extremen auf. Da ist zum einen die durch Paralyse, Freud- und Lustlosigkeit
gekennzeichnete Depression des „Weder-noch“ – zum anderen die eher einem „wilden“,
vor- oder unlogischen Denken folgende Schizophrenie des „Sowohl-als-auch“. Im von
Simon als zulässig erachteten Transfer der Systemtypen „Individuum“ und „Organisation“
sieht er Letztere als Lösungsansatz für die Bewältigung von Paradoxien.
Wäre z. B. ein Autohersteller eine „One-Man-Show“ eines sehr breit qualifizierten In-
dividuums, wäre es ihm dennoch nicht möglich, während der Herstellung zeitgleich auch
den Vertrieb der edlen Unikate voranzutreiben. Die Lösung der Unmöglichkeit eines
„Sowohl-­als-auch“ besteht daher in der Gründung eines zumindest zweiköpfigen Unter-
nehmens. Wächst bei zunehmendem Unternehmenserfolg auch die Anzahl der Mitarbei-
ter, kommt es infolge der immer stärkeren Arbeitsteilung auf immer mehr Personen poten-
ziell zu einer Entkopplung von handelnden Individuen von der eigentlich sozial definierten
Identität der Einheit. Sie werden zu funktional austauschbarem „Personal“, welches seine
186 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

 Ich gehe sowohl nach


links als auch nach rechts
 Entweder ich gehe nach
 Pro & Kontra
links (= nicht rechts) …
 Lösung 2. Ordnung
 Pro
 Therapeutische
Allparteilichkeit

 Ich gehe weder nach links  … oder ich gehe nach


noch nach rechts rechts (= nicht links)
 Weder Pro noch Kontra  Kontra
 Therapeutische Neutralität  Lösung 1. Ordnung

Abb. 4.5 Das Tetralemma in verschiedenen Kontexten; adaptiert nach F. Simon, 2007, S. 72: mit
freundlicher Genehmigung von © F. Simon, 2007

Gesamtpersönlichkeit inklusive seiner Gefühle am Betriebstor abgeben soll. Arbeitet aber


daher jeder, seine Unabhängigkeit und seinen Freiraum nutzend, nur noch (in Silos) „vor
sich hin“, besteht das Ergebnis vielleicht sogar in perfekten Einzelteilen. Diese können im
schlimmsten Fall jedoch im Gesamtsystem „Auto“ nicht mehr ihre Funktion erfüllen oder
aber es werden Autos sogar komplett an den Bedarfen des Kundensystems vorbei
­entwickelt, welche letztlich von der Vertriebsabteilung nicht verkauft werden können.
Mithin hat die Autonomie des Einzelsystems dort ihre Grenzen, wo die Zielerfüllung des
Gesamtsystems gefährdet ist. Die unvermeidliche Grauzone des Grenzbereiches bildet
einen latenten, letztlich unentscheidbaren Dauerkonflikt: D. h., wie weit dürfen die ein-
zelnen Einheiten warum, wann, wo etc. ihre Freiheitsgrade ausschöpfen. Mit der Einfüh-
rung von (Organisations-)Strukturen wie (Job-) Funktionen, Rollen, Abteilungen, Be-
reichen und deren kommunikativer Kopplung über (formelle) Berichtswege soll dies
verhindert werden. Derart ist innerhalb der Organisation ein autonomes, nahezu ambiva-
lenzfreies „Sowohl-­als-auch“-Handeln möglich, obwohl das Gesamtsystem (repräsentiert
durch die Führungsspitze) von außen immer noch widersprüchlichen Anforderungen aus-
gesetzt sein kann. Im Balanceakt der Führung geht es daher auf der einen Seite darum,
über die Schaffung ambivalenter Situationen dauerhafte Eindeutigkeit und damit die Er-
starrung (i. S. von Depression) des Systems zu vermeiden. Auf der anderen Seite gilt es die
von Mitarbeitern zuweilen nur noch als sinnentleerte Restrukturierungsorgien (i. S. von
schizophrenem Wahnsinn oder Chaos) empfundenen Veränderungen zu verhindern. „Ge-
niale“ Führung liegt nach Fritz Simon (2007, S. 80 und 84) dann vor, wenn beide Denkfor-
men i. S. eines „Sowohl-als-auch“ kombiniert werden bzw. zwischen den „Endpolen“ In-
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 187

novation/Veränderung/Kreativität vs. Beständigkeit/Tradition/Funktionslogik im richtigen


Moment, Ausmaß und Rhythmus oszilliert werden. Dieses ambidextrische oder beidhän­
dige Führen bzw. die dabei gezeigte „Beweglichkeit“ (oder Agilität, wie man heute sagen
würde) ist aber nur möglich, wenn die Geführten eben nicht nur als Personal immer „bei
der Sache bleiben“ bzw. sachlogisch agieren sollen, sondern ihre Gesamtpersönlichkeit
inklusive der kompletten Farbpalette der Gefühle (insbesondere das Gefühl von Ver-
trauen) mit einbringen dürfen. Denn nur sie sind beziehungsstiftend und sorgen zwischen
den verschiedensten Akteuren (z. B. Kolleg:inen innerhalb und außerhalb eines Teams,
Kunden, Anteilseigner und andere Stakeholder) für die notwendige, vitalisierende Dyna-
mik in der Interaktion und (einer auch Identität stiftenden Kultur der) Kommunikation.
Nur sie ermöglichen überdies die Entstehung eines parallelen, informellen Netzwerkes,
welches ggf. die potenziell zu starren formalen Organisationsstrukturen überwindet und
zu schnelleren Lösungen führt. Die eher lose, dynamische kommunikative Kopplung
über Gefühle bildet somit das Gegengewicht zu der strukturellen Kopplung mittels orga-
nisationsinternen Spielregeln/Werten, Routinen, Prozessen und eben Strukturen. Bei der
erwünschten Dynamik bzw. der durch ambidextre bzw. agile Führung immer wieder ange-
stoßenen Veränderung ist die Infragestellung oder gar Auflösung der kommunikativen
und/oder strukturellen Kopplung aufgrund einer sich verändernden Umwelt erforderlich.
Da man diese beiden Kopplungsformen auch als zwei Varianten eines Gedächtnisses ei-
ner Organisation sehen könnte, werden damit diese mehr oder minder losen bzw. festen
Netzwerke „angegriffen“. „Gute Führung“ zielt dabei nie auf beide Netzwerke zugleich
ab, da dies im Chaos („Wahnsinn“) respektive mit dem völligen Verlust der Identität enden
könnte (Simon, 2007, S. 84). Eine grafische Zusammenfassung des Gedankens findet sich
in Abb. 4.6.

Private Systeme Organisationen


Schizophrenie, Traum Wahnsinn
fest Kommunikationen an Kommunikationen lose

fest Kommunikationen an Kommunikationen lose

Kreativität, Gefahr
lose

Kreativität, Innovation,
Phantasie Phantasie Veränderung
Gedanken an Gedanken

Chaos
„Genie“= „Genie“ = „Genie“=
Oszillation Führung, Funktio-
Management nalität

Rigidität

Gefahr
Mathemat.- Funktions- Beständigkeit,
aristotelische logik Tradition
Logik
fest

Manie, Depression Depression

fest Gedanken an Gefühle lose fest Kommunikation an Gefühle lose fest Kommunikation an Werte/Prinzipien lose

Affektlogische Koppelung Differenzierung sozialer Systeme Organisationsmuster

Abb. 4.6 Der Mensch bzw. die Organisation zwischen festen und losen Zuständen; adaptiert nach
F. Simon, 2007, S. 84; mit freundlicher Genehmigung von F. Simon, 2007
188 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Mit Fritz Simon wäre Führung daher im Kern Paradoxienmanagement und ihre Auf-
gabe, „[…] die eigenen Sichtweisen und Bewertungen durch die Herstellung von Kommu-
nikationsformen („Mehr-Hirn-Denken“) relativieren zu lassen“ (Simon, 2007, S. 84)
bzw. zu wissen, dass man eigentlich nichts weiß und trotzdem zu entscheiden und/oder zu
handeln hat. Gemäß Simon erfordert diese Denk- und Handlungsweise insgesamt jedoch
eine sehr gut entwickelte Ambiguitätstoleranz.
Ein im Vergleich zu Fritz Simons „Paradoxienmanagement“ (Simon, Wenn rechts links
ist und links rechts: Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik, 2013) sehr
viel stärker operativ geprägtes, beispielhaftes Konzept für Klienten im praktischen
­Umgang mit Unsicherheit bzw. Ambiguität bei der Strategieentwicklung bietet der
McKinsey-Klassiker von Hugh Courtney „20|20 Foresight. Crafting Strategy in an Uncer-
tain World“ (Courtney, 2007). Der fünfstufige Analyseprozess der Strategieentwicklung
(Courtney, 2007, Kurzübersicht auf S. 5–14) zielt dabei auf Entscheidungen hinsichtlich
der Aktivitätsdimension (aktiv-gestaltend oder reaktiv-anpassend?), der Zeitdimension
(sofort oder abwartend?), der Dimension der Reichweite (spezifisch-fokussiert oder
generisch-­breit?), der Toolfrage (welches Tool wann und wofür?) sowie der Frage nach
(neuen) Verfahren zum Strategiemonitoring und zur Strategieaktualisierung. Ausgangs-
punkt dieses Prozesses ist dabei die Bestimmung des vorliegenden Ausmaßes an Unsi-
cherheit. Diese reicht in seinem vier- bzw. dreistufigen Modell von einer festen Anzahl
klar voneinander unterscheidbarer und gut vorhersehbarer Zukünfte (Level 2), einer unbe-
stimmbaren Anzahl nicht klar voneinander separierbarer und daher schlecht prognostizier-
barer Zukünfte (Level 3) und auf dem Level 4 mit maximaler Ambiguität, in der die
Richtung zukünftiger Entwicklungen völlig offen und nicht vorhersehbar ist. Die Basis-
stufe des Level 1 wurde übersprungen, da hier die bevorstehende zukünftige Entwicklung
zwar nicht zu 100 % bekannt ist, die verbleibende Unsicherheit jedoch bei zu treffenden
Entscheidungen eigentlich keine Rolle spielt. Mithin nimmt mit jedem Level die verblei-
bende Restunsicherheit (H. Courtney: „residual uncertainty“) zu – ist auf Level 1 am
kleinsten und auf Level 4 am größten. Als Werkzeuge für das in diesem Kontext interes-
santeste Level 4, das der maximalen Ambiguität, empfiehlt Courtney diese vom Ende her
zu denken und sich dann zu fragen, welche Annahmen zu dieser Sichtweise der Zukunft
geführt haben. Als unterstützende Werkzeuge sieht er dabei zum einen die Bildung von
Analogien und die Heranziehung ähnlich gelagerter Fälle, zum anderen den Einsatz von
maßgeschneiderten oder vorgefertigten, standardisierten Wirtschaftssimulationsprogram-
men als zielführend. Deren Nutzer spielen dann entweder allein gegen den Computer oder
innerhalb einer Gruppe, wobei jeder Spieler die Rolle eines Marktteilnehmers (z. B. Kun-
den, Produzent, Regulierungsbehörden etc.) übernimmt. So können ohne reale Konse-
quenzen unzählige Vorannahmen und deren Konsequenzen i. S. von Experimenten durch-
gespielt werden. Die Spieler entwickeln so ein besseres „Gespür“ oder sogar Verständnis
für die Wechselwirkung der Variablen – erleben mehr „Sicherheit“ im Umgang mit Unsi-
cherheit. Dass dies notwendig und sinnvoll sein kann, zeigte Jahre zuvor im deutschspra-
chigen Bereich Dietrich Dörner (1993) in seiner wegweisenden Studie zur Logik des
Misslingens bzw. strategischen Denkens in komplexen Situationen. Die Konzepte von
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 189

Fritz Simon und Hugh Courtney treffen sich in der Annahme, dass binäre Sicht- und
Handlungsweisen (Entweder-oder, Alles-oder-nichts bzw. Schwarz-weiß) von analogen
Ansätzen (i. S. von Sowohl-als-auch) beim Umgang mit Unsicherheit abgelöst werden
müssen (Courtney, 2007, S. 18–20) und dass diese Denk- und Herangehensweise ein
großes Maß an Ambiguitätstoleranz erfordert, um nicht nur der eigenen Intuition zu ver-
trauen oder automatisch in kopflosen Aktivismus zu verfallen. Die individuelle Toleranz
der Ambiguität spielt daher offensichtlich (nicht nur) bei diesem Teil des VUCA-Akro-
nyms eine wichtige Rolle. Deshalb nachstehend einige konzeptionelle Überlegungen zu
Ambiguitätstoleranz, die ungerechtfertigterweise mit der Ambivalenztoleranz gleichge-
setzt wird.
Die Autoren Georg Müller-Christ und Gudrun Weßling (Müller-Christ & Weßling,
2007) unterscheiden dabei über das Erleben und Verarbeiten der zwei eingangs erwähnten
Varianten von Widersprüchlichkeiten (Dilemma und Paradoxon) die Konzepte Ambiva-
lenztoleranz und Ambiguitätstoleranz. Die Ambivalenztoleranz beschreiben sie als die
„[…] Fähigkeit, Widersprüche nicht nur wahrnehmen zu können, mit ihnen umzugehen
und sie aushalten zu können, sondern gerade auch die Erkenntnis, dass Widersprüche der
eigenen Entwicklung sehr förderlich sein können. Ambivalenztoleranz scheint folglich
eher die emotionale Seite zu beschreiben, Spannungen durch Gegensätzlichkeiten aushal-
ten zu wollen und nicht bedrohlich zu erleben“ (Müller-Christ &Weßling, 2007, S. 194).
Die Ambiguitätstoleranz verstehen die Autoren eher als die kognitive Fähigkeit, „als
steuerndes Regulativ der Aufnahme, Verarbeitungs- und Speicherungsprozesse von Infor-
mationen in widersprüchlichen Situationen“ (Müller-Christ &Weßling, 2007, S. 194). Zu-
dem ist sie nach ihrer Ansicht eher ein inhalts- und bereichsspezifisches Konstrukt als ein
allgemeines Persönlichkeitsmerkmal. In der Praxis hätte dies zur Folge, dass man aus der
eher von Gefühlen getragenen Ambivalenztoleranz gegenüber Personen nicht automatisch
auf die Toleranz gegenüber Logiken von Organisationsprinzipien schließen könnte. Sie
vermuten jedoch, dass eine lernbasierte Übertragung der generellen Toleranz für Wider-
sprüche möglich ist (Müller-Christ &Weßling (2007, S. 195). Ihr integrativ angelegtes
Modell (Müller-Christ &Weßling, 2007, S. 196) stellt die Ambivalenztoleranz mit der
Begründung in den Mittelpunkt, dass auf Widersprüche zunächst mit emotionalen Wahr-
nehmungs- und Bewältigungsfiltern reagiert wird und eine kognitive Verarbeitung erst im
zweiten Schritt erfolgt. Wird dabei die erlebte Widersprüchlichkeit nicht akzeptiert (d. h.
ignoriert oder sogar negiert), können Entscheidungsaporien, Orientierungslosigkeit oder
personifizierte Konflikte die Folge sein. Wird die Widersprüchlichkeit jedoch emotional
akzeptiert, kommt es über situationsangemessene Bewältigungsformen auf verschiedenen
Stufen (Stufe 1: Sequenzialisierung; Stufe 2: Segmentierung; Stufe 3: Balancierung) ent-
weder zur aktiven Spannungsveränderung (i. S. einer Vermeidung, Abfederung oder gar
Überwindung) oder aber zur Spannungserhaltung. Trotz der großen Augenscheinvalidität
ihres Modells versäumen die Autoren am Ende des Kapitels nicht, auf den notwendigen
bzw. noch ausstehenden Forschungsbedarf in der Psychologie und deskriptiven Entschei-
dungstheorie hinzuweisen.
190 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Schaut man in die menschliche wie individuelle Entwicklungsgeschichte, gehört diese


Entwicklungsspannung zum Leben bzw. ist das Leben selbst. Neu für den Umbruch der
letzten Jahre ist wahrscheinlich jedoch der Grad der realen, exponentiellen bzw. psychisch
erlebten Geschwindigkeit (der z. B. nicht nur technischen Innovationszyklen) der Verän-
derungen seit der Nachkriegszeit. Die zentrale Frage in diesem Kontext ist daher, wie
funktional oder dysfunktional Individuen und die Gesellschaft bzw. Organisationen und
Institutionen in diesem Jahrhundert auf die vier Elemente des Akronyms reagieren: eher
mit Neugier, Gestaltungs- oder Taten- und Innovationsdrang, oder aber überwiegend mit
Angst, Paralyse, Flucht, Rückzug, (Über-)Simplifizierung. Aus Sicht des Autors könnten
Coaches nach entsprechender Anpassung des „Service Coaching“ (Abschn. 4.1.2) und ih-
res Selbstverständnisses (Abschn. 4.1.3) einen wertvollen Beitrag für die Entwicklung der
„VUCA-bility“ ihrer Klienten leisten.

4.1.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Infolge der dargestellten Veränderungen der Lebenswelt der Klienten wird deutlich, dass
auch der „Service Coaching“ wahrscheinlich nicht umhinkann, die bisherigen Präferenzen
(siehe Spalte A in Abb. 4.7) den neuen Bedingungen (siehe Spalte B) anzupassen bzw. in
„etwas Neuem“ aufgehen zu lassen.
Dabei werden manche Synthesen durch langjährige Traditionen wahrscheinlich als
leichter umsetzbar (z. B. Methodenpluralismus mit Schwerpunkt bei wenigen Methoden)
empfunden als andere (z. B. verschiedene Dienstleistungsangebote auf verschiedenen
Plattformen oder die Arbeit nicht als unabhängiger Einzelanbieter, sondern als integrierter
Bestandteil einer OE-Gesamtmaßnahme). So fordert nach Einschätzung des Autors das

Entweder … … oder / Sowohl-als-auch /


Pol / Präferenz A Pol / Präferenz B Integration / Synthese
Arbeitswelt / Private Lebenswelt /
Life is Business & Business is Life
Business(-Coaching) Life(-Coaching)
Verschiedene Dienstleistungsangebote auf
Unabhängiger Vertrieb mit eigener Homepage Nutzung einer Digitalen Coaching-Plattform (DCP) für den Vertrieb
verschiedenen Plattformen
Starker Einzelkämpfer mit starkem Netzwerk und
Einzelkämpfer Netzwerker und starkes Verbandsengagement
Verbandsengagement
Methodenpluralismus mit Schwerpunkt auf wenigen
Methodensingularismus / einer Schule angehörig Methodenpluralismus / mehreren Schulen angehörig
Methoden
F-2-F und medial gestütztes Coaching je nach Anlass/
F-2-F Coaching Medial gestütztes Coaching (Online-/Chat-/Cobot-/Avatar etc.)
Bedarf und Kaufkraft
Coaching als gesellschaftsfernes Arbeiten in der Coaches (starke Persönlichkeiten, reife Individuen!?)
Coaching und Coaches als eine gesellschaftspolitisch relevante Kraft
Zweisamkeit mit dem Klienten als gesellschaftspolitisch engagierte Staatsbürger
Coach als Partner, der als Profi kunden- bzw.
Coach als völlig autonome(r) „Guru“ oder „Diva“ Coach als „Dienstleister“
zielbezogen den passenden Service anbietet
Ein „elitäres“ Coaching als Service für „Auserwählte“ Ein „demokratisiertes“ Coaching als Service für jedefrau Speziell zugeschnittene Services für alle

Coaching für viele von vielen / Team- & Gruppen-Coaching / Coaching Einzel- und Gruppen-Coaching für verschiedenste
Coaching von wenigen für wenige / Einzel-Coaching
als Teil einer OE-Maßnahme Zielgruppen und Teile von OE-Maßnahmen

Abb. 4.7 Dilemmata/Paradoxa im „Service Coaching“ und deren mögliche Auflösung. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 191

„Sowohl-als-auch“ von einigen Klienten wie auch vom Coach eine in Teilen tief reichende
Transformation des intra- und interpsychischen Selbstverständnisses, der Rolle, Konzepte
und Kompetenzen. Zumindest noch im Publikationsjahr 2022. Da die konkrete Ausgestal-
tung der meisten einzelnen synthetisierten Sichtweisen (rechte Spalte) in Abb. 4.7 bereits
in anderen Kapiteln beleuchtet wurde, soll hier nun auf das Thema der rechte, untersten
Zeile „Einzel- und Gruppen-Coaching für verschiedenste Zielgruppen und Teile von (Or-
ganisationsentwicklungs=)OE-Maßnahme“ eingegangen werden.
Kann man mit einer systemisch-konstruktivistischen Herangehensweise im Coa-
ching nicht an den psychischen Eigenschaften des Klienten selbst, sondern nur an sei-
ner Welt bzw. Weltkonstruktion wie auch an den kommunikativen (Beziehungs-)Struk-
turen (→ Struktur vor Psyche!) um ihn herum arbeiten, impliziert Letzteres eine
geradezu zwingende Ausweitung vieler Coaching-Maßnahmen, zumindest auf ein
Team-Coaching. Da die kommunikativen Beziehungsstrukturen des Teams auch in den
kommunikativen Beziehungsstrukturen der anderen Organisationsteile bzw. der Ge-
samtorganisation bedingt sind, kann nachhaltig wirksames Coaching des Einzelnen
eigentlich nicht ohne eine (ebenfalls systemisch orientierte) Organisationsentwick-
lungsmaßnahme (Schmid & Veith, 2014) auskommen. Die Gründe, warum dies nicht
geschieht, könnten zum einen im eher klassisch orientierten Managementverständnis
der Organisationsvertreter selbst (Stichwort „triviales System“) und/oder deren Reife-
grad liegen (Schmid, 2014). Dies soll jedoch hier nicht Thema sein. Thema dieses
Abschnittes sind das Verständnis, der Angebotszuschnitt sowie die Darstellung bzw.
Vermarktung des „Service Coaching“, der sich bis dato eher als eine auf das Indivi-
duum bezogene Maßnahme präsentierte. Mit Bernd Schmid würde man bei diesem
„Neuansatz“ nicht nur von integriertem „Coaching im Organisationsfeld“, sondern von
„Organisationscoaching“ sprechen (Schmid, 2013). Damit würden die Gestaltung
und Entwicklung von Organisationsleben und die Wechselwirkungen zwischen Mensch
und Organisation als Deutungsrahmen und Gestaltungsdimensionen im Zentrum ste-
hen (Schmid, 2013, S. 1). Mit diesem ganzheitlicheren Ansatz würde jedoch die Kul-
turentwicklung der Organisation ins Zentrum der externen Dienstleistung Coaching
treten (die natürlich auch weiterhin das Einzel- und Team-Coaching umfasst). Wie im
organisatorischen Kontext der Denkansatz der Ambidextrie helfen kann, zeigen Frie-
demann Derndinger und Claas de Groot in ihrem Buch „Die ambidextrische Organisa-
tion: Erfolgsstrategien in der neuen Unternehmensrealität“ (Derndinger & Groot,
2020). Dass die Ambidextrie generell mit der Entwicklung einer speziellen Kultur ein-
hergeht, ist auch eine der Kernaussagen im Buch von Duwe (2020). In Abschn. 5.6
wird dieser Entwicklungsprozess umrissen.
Dass Organisationscoaching (ggf. parallel zu externen Coaching-Maßnahmen) sogar
ein fester interner Bestandteil eines Unternehmens sein kann, zeigen die in den letzten
Jahren bekannter gewordenen soziokratischen Organisationsformen wie die Holokratie
und die Soziokratie („Sociocracy 3.0“, auch „S3“). Verständlicherweise nicht frei von
Consulting-Elementen, bieten z. B. die Pioniere von Holocracy.org Coaching eine Ausbil-
192 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

dung auch für interne Coaches an, wie natürlich auch externe Angebote über zertifizierte
Partner.4 Gleiches gilt für die S3-Community.5 Das stark systemische Gedankengut hinter
diesen eine „Hierarchie von Kreisen“ propagierenden Ansätzen ist dabei unübersehbar.
Das Organisationsentwicklungsthema eher aus hypnosystemischer Perspektive vertre-
ten Vera Starker und Tilman Peschke in ihrem Buch „Hypnosystemische Perspektiven
im Change-Management: Veränderung steuern in einer volatilen, komplexen und wider-
sprüchlichen Welt“ (Starker & Peschke, 2017). Basierend auf dem „Cognintutions-­
Coaching“-Ansatz von Gunther Schmidt, der bei Veränderungen eine Balance zwischen
willkürlich-kognitiven und unwillkürlich-intuitiven Prozessen anstrebt, erscheint dieser
als Ansatz im Rahmen von Changeprozessen in dynamischen Umwelten als besonders
geeignet. Dafür spricht auch deren Einbeziehung der durch Veränderungen hervorgerufe-
nen „VUCA-Gefühle“ und der damit einhergehenden Stressreaktionen bzw. Kompetenz-
und Ressourcenblocker.
Ein ebenfalls in Teilen auf die „Schule“ von Gunther Schmidt zurückgehender Bera-
tungsansatz ist der von Dunja Lang (2016). Wurde im voherigen Abschnitt mit Fritz Si-
mon der Kern von Führung als das kontinuierliche Manangement von Paradoxien (bzw.
indirekt von Dilemmata) beschrieben, möchte Lang gemäß dem Untertitel ihres Buches
Führungskräften und Change Agents dabei helfen, „[…] mit Zielkonflikten, Bürokratie
und Verhaltensparadoxien wirkungsvoll um(zu)gehen und Organisationen agil, flexibel
und stark zu machen“ und aus den vielgestaltigen Komplexitätsdilemmata befreien.
Folglich ist ihr Ziel nicht die Vorstellung einer neuen Managementtechnik, sondern ein
neues Leadership-Paradigma, welches nicht auf einem bipolaren „Entweder-oder“, son-
dern auf einem „Sowohl-als-auch“ fußt (Lang, 2016, S. 90). Sehr hilfreich beleuchtet sie
dabei das Thema der „Komplexität“ unter der Perspektive „Mensch“ (→ Gehirnbenutzer
statt Gehirnbesitzer), der „Denke“ dieses Menschen (→ nötige von unnötiger Komplexität
unterscheiden lernen) bzw. der Fehler und Fallen, denen man als Mensch dabei aufsitzen
kann (Lang, 2016, S. 15–88). Fraglich ist jedoch, ob das von Dunja Lang für diese Thema-
tik eklektisch zusammengestellte und sogar mit Copyrights versehene Methodenpotpour-
rie „Change®Evolution“ wirklich „die Lösungsmethodik für Komplexitätsprobleme“
(Lang, 2016, S. 161) darstellt. Zumindest zeugt es von ihrer Geschäftstüchtigkeit! Den
erfahrenen Praktiker lässt dies aber eher schmunzeln. Ohne Copyrights, aber mindestens
ebenso pragmatisch wie hilfreich ist der Seminarfahrplan für ein dreitägiges Komplexi-
tätstraining von Dollinger et al. In seinem zweiten Teil bietet das Buch einen vielfältigen
Baukasten zu vielen der bereits genannten Kernbegriffe und -konzepte der VUCA-­
Thematik (Dollinger et al., 2019).
Wie zu erwarten, enthält das soeben genannte Buch auch die Ansätze von Matthias
Varga von Kibèd. Wer allerdings in die Thematik der Verhaltensparadoxien – insbesondere
des Tetralemmas – auf den verschiedenen Systemebenen (eines Unternehmens) tiefer ein-
steigen will, sollte sich die Grundformen systemischer Strukturaufstellung eines Mat­

4
https://www.holacracy.org/coaching-services/holacracyone. Zugegriffen am 14.12.2020.
5
https://sociocracy30.org/2015/11/sociocracy-3-0-foundations-part-1/. Zugegriffen am 14.12.2020.
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 193

thias Varga von Kibèd (Varga von Kibéd & Insa, 2020) oder die Praxisbeispiele speziell in
Beratung und Management von Marlen G. Arnold (Arnold, 2018) anschauen. Denn wer
eine solche Aufstellung unter Anleitung eines Profis einmal erlebt hat, ist beeindruckt von
dem potenziell raschen und tiefen Erkenntnisgewinn des Ansatzes, dessen Wirksamkeit
auch im Organisationskontext zunehmend empirisch (Kallus et al., 2016) belegbar ist. Ob-
wohl nicht neu i. e. S., könnten die oben erwähnten zwei bzw. drei Konzepte jeweils auf
ihre Art den „Service (Organisations-)Coaching“ im VUCA-Kontext bereichern.
Bevorzugt man es als Coach, sich in der Bearbeitung der VUCA-Thematik nicht gene-
risch bzw. methodisch zu nähern, empfiehlt sich durch den konzeptionellen Zusammen-
hang mit der schon mehrfach genannten Stressthematik das Konzept der „Resilienz“.
Wurde dessen vermutlich größere Relevanz für die zukünftige Arbeit von Coaches mit
Individuen bereits in Abschn. 4.3.3 herausgestellt, soll wiederum ganz i. S. des systemi-
schen Gedankens hier auch auf den potenziellen Bedeutungszuwachs für die Organisation
verwiesen werden. Präsentiert das Herausgeberwerk um die „Resilienz für die VUCA-­
Welt“ von Jutta Heller (Heller, 2018) individuen- und organisationsbezogene Aspekte in
einem, widmet Karsten Drath den Fragestellungen „Was Manager und ihre Teams stark
macht“ (Drath, 2014) und „Wie sich das Immunsystem von Unternehmen stärken lässt“
(Drath, 2018) jeweils ein gesondertes Buch. Die hilfreiche Zusammenstellung der vielfäl-
tigen Aspekte in allen drei Büchern zeigt zum einen die synergetischen Abhängigkeiten
der Einzelkonzepte, um „die Resilienz“ der Organisation zu entwickeln. Zum anderen
rufen sie wohl bei jedem unternehmenserfahrenen Praktiker sofort Stimmen wach, die
sagen: Dont try to boil the ocean! Denn das Commitment, Budget, die Aufmerksamkeits-
und Zeitressourcen der Beteiligten sind in den meisten Organisationen knappe und selten
beständige Größen. Und „Alles-in-allem“ bearbeiten zu wollen, bringt selten (rechen-
oder nachweisbare) Resultate. So besteht der besonders hilfreiche Beitrag der Autoren-
community eigentlich in deren paralleler Hintergrundarbeit zu den Publikationen. Konkret
heißt dies durch die Gründung des Berufsverbandes ORES e.V. (Verband für ORganisa-
tionale RESilienz) im Jahr 2017 (leider bereits wieder aufgelöst) sowie das erklärte Ziel
der Entwicklung von Diagnose-Instrumenten inklusive der Schaffung von Qualitätsstan-
dards im Bereich der Ausbildung rund um das Thema Resilienz. In Angriff genommen
wurde das erstgenannte Ziel im April 2018 durch die Untersuchung des auf der Arbeit des
amerikanischen Resilient Organisations Institute fußende, und von der International Or-
ganization of Standardization (ISO) erneut aufgegriffenen Diagnose-Instrumente ISO
22316 für organisatorische Resilienz. Die Ergebnisse der Untersuchung stimmen dabei
hinsichtlich der messtheoretischen Güte des Instruments positiv. Dazu mehr im Buch von
Karsten Drath (2018, S. 248–261). Vergleichbar dem Stresstest für Banken bei dem die
finanzielle Leistungsfähigkeit der Institute, die Risiken ihrer Investitionen und deren all-
gemeine Geschäftspolitik sowie weitere Risikofaktoren überprüft werden, könnte das Er-
gebnis einer ISO-22316-Befragung zukünftig vielleicht Rückschlüsse über die tatsächli-
che Krisenfestigkeit einzelner Unternehmen beziehungsweise in ferner Zukunft des
Wirtschaftssystems (wie heute schon im Bankensystem) insgesamt geben. Und Business-­
Coaches (ggf. in Zusammenarbeit mit anderen Fachexperten) könnten ihrer Tätigkeitsbe-
194 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

zeichnung alle Ehre machen! Denn bei z. B. aktienbasierten Unternehmen könnten die
Befragungsergebnisse (i. S. der weichen Faktoren des früheren „Balanced Scorecard“-Kon-
zeptes) eine wertvolle Information über die „psychische Widerstandsfähigkeit“ und damit
Gesundheit der Organisation zur Verfügung stellen und hinsichtlich des Aktienkurses in
wirtschaftlichen Krisenzeiten für einen Prozentpunkt mehr oder weniger sorgen. In der
bescheideneren Version dieses ggf. neuen Kapitels für Serviceangebote bzw. neue Tätig-
keitsgebiete von Coaches könnte in Kollaborationen die Wirksamkeitsmessung (i. S. von
Vortest, Intervention, Nachtest/Evaluation) von spezifischen bzw. maßgeschneiderten
Maßnahmen zur Stärkung der organisatorischen Resilienz sein.
Die Ausführungen des Abschn. 4.1.1 und dieses Kapitels zusammenfassend, emp-
fiehlt sich für Coaching-Services in der Zukunft daher wahrscheinlich ein eher integrier-
tes Serviceangebot. Eine Ideenskizze, wie dieses Angebot aussehen könnte, findet sich
bei Ulrich Lenz (Lenz, 2016). Die zuletzt publizierte Idee eines dreistufigen, integrier-
ten Coaching-­Ansatzes aufgreifend und modifizierend (Lenz, 2017), könnte ein Ange-
bot konzeptuell wie in Abb. 4.8 dargestellt aussehen. Gemäß der offensichtlichen Präfe-
renz des Autors für das systemisch-konstruktivistische Modell (insbesondere in einer
„VUCA-­ Welt“) werden auch die entsprechenden Konzepte und Begrifflichkeiten
verwendet.
So ist zu hoffen, dass möglichst viele Vertreter der Coaching-Community nach Abklin-
gen der „VUCA-Manie“ dieses Szenen-Buzzword als Erinnerung oder Anstoß nehmen,

Praktische Konzepte (eine Auswahl) Bezugsgrößen Theoretische Konzepte (eine Auswahl)

 Analyse (in-)formeller
Organisationsstrukturen (Zirkuläre) Prozesse & I.w.S.:
 Analyse von Kommunikations- „Strukturen (vor Psyche)“  Kybernetik 1. Ordnung (systemische Perspektive)
netzwerken  Beziehungen  Kybernetik 2. Ordnung (konstruktivistische Perspektive)
Analyse offizieller und I.e.S.
  Regeln  Dreischleifiger Lernprozess nach Argyris
„heimlicher Spielregeln“  Kopplungen
 Etc.  Selbstorganisation
 Positive und negative Rückkopplungsprozesse

I.w.S.:
 System. Strukturaufstellung
Multi-Minded Systems  Unternehmen als sozial-kommunikative Systeme
 Soziogramm  Gruppe/Team  Management 1. und 2. Ordnung
 Open Space / World Café  Organisation  Autopoiese
 Teamskulptur  (Markt) I.e.S.
 Kulturanalysen  Management von Paradoxa/Dilemmata
 Etc.  Soziokratische Organisationskonzepte
 Kooperationsspiele („joint ventures“)

Uni-Minded Systems I.w.S.:


 Zirkuläres Fragen  Mensch als nicht triviales System
 Klient
 Mentale Modelle/Landkarten  Autopoiese
 Mindfulness Training  Coach  Wirklichkeit 2. Ordnung
 Individuelle Resilienzentwicklung  Berater I.e.S.
 Tetralemma-Arbeit  Management von Paradoxa/Dilemmata
 Etc.  „Hexenposition“ (= sowohl-als-auch)

Abb. 4.8 Idee eines dreistufigen, integrierten (syst.-konstrukt.) Serviceangebotes im Coaching. ©


Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved
4.1 Von der VUCA-Manie und dem „Sowohl-als-auch“-Paradigma 195

das populäre Einzelcoaching zumindest immer in einen größeren Zusammenhang zu den-


ken. Wenn auch das Interesse auf der Seite der meisten Nachfrager für umfassendere Maß-
nahmen wahrscheinlich noch etwas auf sich warten lässt. Um für diese Zukunft vorbereitet
zu sein, ist es jedoch sicher von Vorteil, ggf. Altbekanntes stärker zu akzentuieren, erneut
aufzufrischen oder zu erweitern. So kann man Lenz (2017) nur beipflichten, wenn er
schreibt: „Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung sind Coaches aufgefordert, in der
VUCA-Welt auch die eigene Professionalität grenzüberschreitend weiterzuentwickeln.“
Hinweise, was dabei womöglich sogar neu gelernt werden muss, erschließen sich für den
Leser im nächsten Unterkapitel.

4.1.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Lautet eine alltagspraktische Definition von Komplexität nach Backhausen (Backhausen


& Thommen, 2007), dass durch ihre Nonlinearität als Wesenskern bei getroffenen Ent-
scheidungen „immer noch etwas nachkommen kann“, kann das, „was da nachkommt“,
einerseits bedrohlich, weil mithin Risiko für die bestehende Ordnung und Routinen wer-
den – andererseits sich eben auch als eine Chance für Erneuerung und Innovation entpup-
pen – oder aber eben eine Mischung von beidem! Das jedoch vorherrschende Bestreben,
Komplexität eher reduzieren zu wollen, geht daher mit dem verständlichen Wunsch nach
Stabilität einher – erschwert jedoch zugleich die Möglichkeit zur Anpassung an eine sich
im Positiven oder Negativen verändernde (VUCA-)Welt. Die (Überlebens-)Kunst für indi-
viduelle wie soziale Systeme – Individuen, Unternehmensorgansationen oder Gesellschaf-
ten – ist nach Dirk Baecker (1997), hier das „richtige Maß“ an Eigenkomplexität zu
finden. Unter dieser Perspektive ist Komplexität – das Problem – zugleich auch die Lö-
sung. „­ Lösung“ jedoch nicht i. S. eines finalen Ergebnisses, sondern im Etablieren einer
lebendigen, strukturell verankerten Spannungsbalance zwischen deren Aufbau und Ab-
bau. Bleibt jedoch die Frage: Was ist „das richtige Maß“ an Eigenkomplexität? Nach Bae-
cker (1997, S. 22) liegt es in der balancierten Proportionalität von Umweltvarietät (Kom-
plexität) und Systemvarietät (Komplexität) – der sogenannten „requisite variety“, die
dadurch die (Über-)Lebensfähigkeit („viability“) des Unternehmens oder einer Person si-
chert. Und dies gilt für den Coach selbst wie auch bereits gezeigt für das Klientensystem!
Bezogen auf das Klientensystem bzw. die Unternehmenswelt geht es daher um ein
(Selbst-)Management durch Komplexität, nicht ein Management der Komplexität. Back-
hausen (Backhausen & Thommen, 2007) nennt Ersteres die „Kunst einer komplexen
Simplifizierung“. Im (Selbst-)Coaching können vielfältige Reflexionsanstöße, Perspekti-
venwechsel, (Gedanken-)Experimente, Ermutigung, sich neue Wissens- und Erfahrungs-
bereiche zu erschließen etc. eine wertvolle Unterstützung sein. Das dadurch gewonnene,
neue Komplexitätsniveau wiederum ermöglicht, „die Welt anders zu sehen“ bzw. anders
zu erleben und (wieder) handlungsfähig zu werden oder zu bleiben. Obwohl die letztge-
nannten Verfahren den meisten Coaches vertraut klingen, widerspricht die Erhöhung der
Komplexität zu deren Ausbalancierung der gewöhnlichen Denkweise. Sich daher (eneut)
196 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

vertiefend mit dem systemisch-konstruktivistischen Denkgebäude und dem Komplexitäts-


begriff auseinanderzusetzen, macht daher womöglich Sinn.
Können Organisationen wahrscheinlich auch in Zukunft ihr Überleben nur durch Oszil-
lationsbewegungen zwischen Innovation/Veränderung/Kreativität und Beständigkeit/Tra-
dition/Funktionslogik im richtigen Moment, Ausmaß und Rhythmus sichern, bedarf es in
einer zunehmend als komplex empfundenen (VUCA-)Welt (mit all ihren Paradoxa und
Dilemmata) eines verstärkten „Sowohl-als-auch-Denkens“ i. S. des oben ausgeführten
Tetralemmas. Obwohl die Transformation eines Entweder-oder-Musters zu einem Sowohl-­
als-­auch-Muster für den erfahrenen Coach oder Therapeuten per se nichts Neues ist, be-
kommt diese als Hexenposition bekannte Verortung im therapeutischen Prozess (auch als
„Gebot der Allparteilichkeit“ bezeichnet) im Business-Coaching heutzutage eine beson-
dere Relevanz. Beschreibt sie doch etymologisch mit dem altdeutschen Begriff „hagazu-
ssa“ „diejenige, die auf dem Haag, der Hecke, dem Zaun saß, der hinter den Gärten verlief
und das Dorf von der Wildnis abgrenzte“. Dabei markierte mit Mücke (Mücke, 2009) die
Hecke bzw. der Zaun im übertragenen Sinne die Grenzlinie zwischen der Welt der Viso-
nen, Träume, Ideen, Innovationen (der Wildnis) und der alltäglichen Gewohnheitswirk-
lichkeit (der Zivilisation). Im Coaching- oder Therapie-Setting ist es die Grenze zwischen
altem Problem (Ist-Zustand) und angestrebter Lösung (Soll-Zustand). Die „Hexenkunst“
ist es dabei, den Klienten immer häufiger die Grenze in Richtung Soll-Zustand überschrei-
ten zu lassen, das Neue zu wagen (Mücke, 2009, S. 85–91). Wer sich hier erneut an das
bereits vorgestellte Ambidextrie-Konzept erinnert fühlt, liegt natürlich richtig. Wird daher
eine Situation vom Coach bzw. Klienten als „VUCA“ analysiert bzw. erlebt, kann ein auf
Beidhändigkeit bzw. Allparteilichkeit ausgerichteter Denk- und Handlungsansatz u. U. sehr
hilfreich sein.
Kann es im Rahmen der Erhöhung der eigenen Komplexität auch sinnvoll sein, sich
neue Wissens- und Erfahrungsbereiche anzueignen, so wurde neben der erwähnten, allge-
meinen Erweiterung und Vertiefung der ggf. systemisch-konstruktivistischen Denkmodelle
zum Thema der Komplexität der Klassiker von Altmeyer & Königwieser (1997) angeführt.
Einen sehr pragmatischen, neben dem psychotherapeutischen (Spitzer, 2019) Ansatz zur
Ambiguitätstoleranz bzw. zum besseren Umgang mit Ungewissheit im Leben bietet Nils
Spitzer (Spitzer, 2020). Neue Einsichten zum Verständnis des Zusammenhangs von Persön-
lichkeit und Ambiguitätstoleranz in Bezug auf die neuen Arbeitsformen bringt die brandak-
tuelle Studie von Charlotte Seipel (Seipel, 2020). Für den Themenkreis Paradoxa und
Dilemmata bewährt sich seit Jahren Simon (2013); weniger systemtheoretisch-­
konstruktivistisch kommt Lebrenz (2020) daher. Speziell für den beruflichen Kontext eig-
net sich das Buch von Julia Zwack und Ulrike Bossmann (Zwack & Bossmann, 2017). Da
der bewusste Einsatz von starker Intuition in komplexen Situationen handlungsfähig
macht, kommt ihr in den kommenden Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit eine größere
Bedeutung zu. Ferner die Publikationen des „Intuitionspapstes“ Gerd Gigerenzer (2008)
4.2 Lern- und Veränderungsfähigkeit als die einzige Konstante 197

oder der im November 2020 erschienenen OSC-Ausgabe zum Thema der „Intuition“. Inte-
ressant könnte für Coaches wie auch ihre Klienten die Bedeutung von z. B. Emotionen in
dem Lehrbuch über die Psychologie der Entscheidung (Pfister et al., 2017) in der 4. Auf-
lage sein! Eine Vielzahl von Empfehlungen zum Thema individuelle und organisatorische
Resilienz findet sich in Abschn. 4.3.3 sowie Abschn. 4.4.3. Über das Thema Stress eng
gekoppelt und immer besser erforscht ist der Themenbereich der „Neurowissenschaften“
(theoretische und experimentelle Neurobiologie, Neurologie). Neu ist jedoch der Brücken-
schlag zu den „Psychowissenschaften“ (Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie). In der
Synthese der „Psychoneurowissenschaften“ hat Gerhard Roth hier mit seiner aktuellen
Publikation (Roth et al., Psychoneurowissenschaften, 2020) ein neues ergänzendes Kapitel
zu seinem neurobiologisch orientierten Coaching-Ansatz (Roth & Ryba, 2019) aufgeschla-
gen. Da zu befürchten ist, dass infolge des sich verstärkenden Leistungsdrucks durch Mehr-
belastung (z. B. im Homeoffice) und mit Unsicherheit behaftete, atypische Arbeitsverträge
Psycho- und Neuropharmaka bzw. deren dopende Neuentwicklungen in den kommenden
10–15 Jahren leider populärer werden könnten, empfiehlt es sich als zukunftsorientierter
Coach, sich über die psycho- und neurobiologischen Grundlagen eingehender zu informie-
ren. Was keineswegs heißt, dass er den Drogengebrauch oder -missbrauch in irgendeiner
Form aktiv unterstützt! Diese sehr subjektive Auswahl des Autors zu den genannten The-
menbereichen ist selbstredend beliebig ergänzbar.

4.2 Lern- und Veränderungsfähigkeit als die einzige Konstante

Wurde im vorangegangenen Abschnitt die wahrgenommene „VUCA-isierung“ und erfor-


derliche „VUCA-bility“ thematisiert, soll es nun um die (auch gesellschaftliche) Schlüs-
selanforderung zu deren erfolgreicher Bewältigung gehen – das „wie“ des Lernens. So
könnte man z. B. etwas vereinfachend jedem Buchstaben bzw. Begriff des VUCA-­
Akronyms einen speziellen Aspekt der kognitiven Informationsverarbeitung (als Teilas-
pekt des Lernvorgangs) zuordnen. So erfordert der Umgang mit Volatilität z. B. eher die
aufmerksame Beobachtung der Veränderung von Sachverhalten und das Erkennen sich
dabei ggf. ergebender Muster. Der Umgang mit Unsicherheit die genaue Situationsana-
lyse und anschließend eine Prognose- bzw. iterative Planungsfähigkeit. Das Handling
von Komplexität benötigt zudem die Analyse oder Interpretation des vorliegenden Mus-
ters, dessen Umbau, ggf. simplifizierende Reduktion oder gar Erweiterung. Ambiguität
schließlich erfordert das Bewerten und das Abwägen von diffusen Sachverhalten. Die
emotionalen (und andere) Elemente der damit gekoppelten Lernprozesse seien hier zu-
nächst ausgeklammert, sind jedoch für die mentale Lern- bzw. Veränderungsfähigkeit
und -bereitschaft sicherlich nicht weniger wichtig.
198 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

4.2.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Die oben beschriebenen, überwiegend unsichtbaren und natürlich selektiven Mikroele-


mente des Lernprozesses seien im Folgenden nun um zwölf Veränderungen des „neuen
Lernens“ bzw. der neuen Lernwelten auf der Makroebene erweitert. Sie skizzieren sehr
plastisch, welche vor ca. 20 Jahren noch unbekannten Lernerfahrungen dem Klienten zu-
künftig zunehmend in der sich auch weiterhin rasant entfaltenden Informations- und Wis-
sensgesellschaft begegnen werden bzw. schon heute teilweise zur Alltagserfahrung
gehören.
Die Beobachtung, dass immer häufiger aus ehemals analogen (1) digitale Lernformate
(z. B. MOOCs, Webinar, Podcast, Video-, Game- oder Simulation-based Learning, Virtual
Classroom inkl. Break-out Rooms und Learning Labs, kollaboratives Lernen in virtuellen
Studios etc.) werden bzw. analoges Wissen entsprechend ergänzt oder gar ersetzt wird, ist
wohl der augenfälligste Wandel. Die heutige, explizite Unterscheidung von Mikro- und
Makro-Lernformaten macht jedoch deutlich, dass die Dauer und der inhaltliche Umfang
der Lerneinheiten sich dem Menschen bzw. Lerner im digitalen Zeitalter infolge vermeint-
lich abnehmender Aufmerksamkeits- bzw. Geduldsspannen, der potenziellen Ablenkung
durch die schiere Vielzahl der konkurrierenden Angebote und der größeren Belastung
durch eine größere Arbeitsverdichtung angepasst haben. Mit dem exponentiell zunehmen-
den, immer und allerorts verfügbaren Wissen scheinen im Gegenzug die angebotenen For-
mate (z. B. Microlearning) als Gegenreaktion immer stärker komprimiert zu werden. Un-
berührt davon scheint jedoch der Prozess des Wissensaufbaus zu sein, bei dem der
Lernanfänger in einem Themenbereich sich zunächst durch Makroformate eine solide und
breite Basis erarbeiten muss, bevor Mikroeinheiten diese gezielt aktuell halten oder sehr
spezifisch ergänzen. Schaut man dabei jedoch zuweilen auf deren konkrete Endprodukte,
wird deutlich, dass die Entwicklung von digitalen Lernformaten hinsichtlich ihrer didak-
tischen, interaktiven, inhaltlichen, grafischen etc. Qualitäten heute noch nicht immer
­vollends gelingt. Das Mehr an bunten Bildern, Animationen, „Erklärfilmchen“ und Gami-
fikation legt zuweilen die Vermutung nahe, dass viel (Enter- oder besser Infotainment)
nicht immer auch viel (im Lernprozess) hilft, geradezu eine eigene, aktive Verarbeitung
des Lernstoffes behindert. Ferner hält auch der Umgang mit diesen Lernmedien i. S. einer
Medienkompetenz (d. h. wann, wie und wo sie vorteilhaft eingesetzt bzw. professionell
genutzt werden können) offensichtlich nur schwer Schritt mit den technischen Mög-
lichkeiten.
Die vielfältige Nutzung des Smartphones oder Tablets erlaubt zudem ein (2) orts- und
zeitunabhängiges Lernen. Wo und wann immer man es möchte, kann zumindest hinsicht-
lich der technischen Voraussetzungen „on demand“ gelernt werden. Die Einflüsse auf die
Effektivität und Effizienz. bzgl. des Lernverhaltens unter diesen Umständen müssen sicher
noch erforscht werden. Zumindest bis heute geht man davon aus, dass ein fester Ort und
ein bestimmtes, fixes Zeitintervall (in Analogie zu regelmäßigen Mahlzeiten) i. S. einer
Konditionierung zumindest den Einstieg in den Lernprozess erleichtern.
4.2 Lern- und Veränderungsfähigkeit als die einzige Konstante 199

Bei entsprechender Suche im Internet ist es überdies immer wieder erfreulich zu sehen,
wie (3) offen, für alle zugänglich, demokratisch Lernangebote und damit Wissenserwerb
geworden sind. Das dabei populärste Angebot ist sicher Wikipedia. Ferner gibt es Ange-
bote im recht neuen Format der sogenannten „Massive Open Online Courses“ (MOOCs)
oder aber die Vielzahl der oft mit keinen oder nur geringen Kosten verbundenen Kursan-
gebote der Open Universities (z. B. edX6; Khan Academy7; Udacity8). Die damit zuweilen
gekoppelten themenbezogenen Communitys machen deutlich, dass (4) Kollaboration und
Vernetzung über alle Grenzen hinweg zum festen Bestandteil bereits heutiger Lernwelten
geworden sind. Einher damit geht überdies eine nie da gewesene (5) Skalierungsmöglich-
keit von Lernangeboten. Konkret heißt dies, dass es bei sehr populären Dozenten (wie
z. B. in Stanford geschehen) schnell zu Teilnehmerzahlen weit über 100.000 kommen kann.
Waren Lernangebote noch bis vor 10–15 Jahren eher standardisiert und statisch hin-
sichtlich der Inhalte, des Aufbaus, des Lernmediums etc., erlaubt digital angebotener
Lernstoff eine zuvor undenkbare (6) Individualisierbarkeit bzgl. der soeben genannten
Elemente wie auch des Vorwissens, der Lerngeschwindigkeit oder der individuellen, psy-
chologischen Lernpräferenz (lesen, hören, sehen, tun – alleine oder in Gruppen) – ermög-
licht dem Lerner auch in diesem Bereich immer mehr, den Lernvorgang für sich zu opti-
mieren. Mit dem zunehmenden Einsatz von künstlicher Intelligenz auch in diesem Gebiet
wird das lernende System dem Nutzer (interaktiv) aus den gespeicherten Vorerfahrungen
von sich aus maßgeschneiderte Lernangebote machen oder auf Angebote hinweisen, die
Lerner mit ähnlichen Präferenzen zuvor genutzt und für hilfreich befunden haben.
Leicht zu bedienende sogenannte Authoring- oder Editing-Systeme9 ermöglichen
z. B. das Erstellen eines kleinen Tutoriums. Das einfachste „Editing-System“ ist wohl
heute das eigene Smartphone, welches die Aufnahme und Modifikation von Videos von
kleinen Erklärfilmen ermöglicht. So ist es jeder Person heutzutage leicht möglich, von der
Rolle des Lerners in die Rolle des Lehrenden zu wechseln bzw. die (7) Rolle eines PRO-
sumenten (= PROduzenten wie auch Konsumenten) einzunehmen. Das Netz (z. B. You-
Tube) ist voll von mehr oder weniger gelungenen Beispielen dieses schnellen Rollen-
wechsels bzw. der geringen Hemmschwelle, seine Erfahrungen oder sein Wissen z. B. in
einem Handyvideo oder einfachen Animationen weiterzugeben, aber auch von den medi-
alen Angeboten selbst zu profitieren. Doch egal ob Lernender/Rezipient oder Lehrender/
Produzent: Schnelligkeit und Kürze sind das oberste Prinzip.
Empfand man (8) Spaß und Spiel bei Lernen in früheren Zeiten eher als ablenkend und
beschränkte sich daher bei der stringenten Aufbereitung des Lernstoffes auf nüchterne
Zahlen, Daten und Fakten, kamen mit den gewachsenen Ansprüchen an die visuelle Kom-
munikation (z. B. über PowerPoint), dem „Visual Reporting“, dem Storytelling, den von

6
https://www.edx.org/. Zugegriffen am 03.03.2020.
7
https://www.khanacademy.org/. Zugegriffen am 03.03.2020.
8
https://www.udacity.com/. Zugegriffen am 03.03.2020.
9
https://www.bildungsserver.de/Autorensysteme-fuer-E-Learning-9787-de.html. Zugegriffen am
03.03.2020.
200 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

der Spieleindustrie angestoßenen Gamifikationsansätzen wie auch der abnehmenden


Scheu vor z. T. stark vereinfachenden Erklärvideos bzw. veranschaulichenden (Trickfilm-)
Animationen zunehmend das buchstäblich bunte Leben und die Leichtigkeit in den Lern-
prozess zurück. In diesem Zusammenhang ist überdies die oben erwähnte Tendenz zu (9)
kürzeren bzw. kleineren Lerneinheiten – sogenannten „Microlearnings“ – unübersehbar.
Veränderungen deuten sich auch bei der (10) Leistungsrückmeldung hinsichtlich des
prozessualen (Notensysteme) wie des finalen (Abschlüsse, Zertifikate i. S. (nicht) erfolg-
reich bewältigter Lernanforderungen) Lernerfolges an. Denn scheinbar löst sich deren
harte Unterscheidung zusehends auf und wandeln sich zuvor klar definierte Lebens- bzw.
Lernphasen mit diskreten, finalen Entscheidungen über den Lernerfolg in einen lebens-
länglichen „Lernflow“ mit eher kontinuierlichen Qualifikationsstufen. So misst z. B. die
bereits erwähnte Khan Academy Lernerfolg heute schon in Kompetenzstufen durch ein-
malig zu absolvierende Abschlussprüfungen. Die technische Möglichkeit zu zeitgleichen
Erfolgsrückmeldungen im Lernprozess – insbesondere aber die immer populärer werden-
den sozialen Bewertungs- bzw. Rückmeldesysteme in Form von Likes oder schriftlichen
Feedbacks bzw. Kommentierungen – relativiert die formalen Abschlüsse von anerkannten
Lerninstituten in zunehmendem Maße. So ist zu vermuten, dass zukünftig die im Netz für
jeden einsehbare Reputation hinsichtlich verschiedenster Lebens- und Lernbereiche den
sozialen und auch wirtschaftlichen Erfolg eines Individuums bestimmen wird und der
Wert des Wissens einer Person letztlich eher nach dem eher lebenspraktischen Nutzen (für
eine möglichst große Community) beurteilt wird.
Zudem führt infolge des Internets zunehmend schwindende Exklusivität und Langle-
bigkeit von Wissensbeständen zu einer Relativierung des Expertentums – und damit des
Lernens von oder der Belehrung durch einen „allwissenden Guru“, der auch noch ver-
sucht, diesen Besitzstand und Vorsprung zu wahren. Gemäß dem Aphorismus „Wissen ist
der einzige Besitz, der sich vermehrt, wenn man ihn teilt“ profilieren sich die zukünftigen
Rollenmodelle des Lernens und Lehrens durch die bereitwillige Aufnahme oder das Teilen
von (11) meta- und multiperspektivischen Denkansätzen und (Selbst-)Reflexionen, welche
auch eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit der VUCA-Welt wahrscheinlicher werden
lassen. Lernen von und mit möglichst vielen und möglichst verschiedenen Interaktions-
partnern (z. B. Mitarbeiter, Kunden, Stakeholder etc.) wird durch die neuen technischen
Möglichkeiten wahrscheinlich ein Kernmerkmal der neuen Lernwelt.
Mit den immer populärer, weil preiswerter werdenden (12) Brillen für das Erleben
virtueller Realitäten (kurz: VR-Brillen) eröffnen sich – wie bereits in Abschn. 2.1.2 darge-
stellt – zukünftig zudem ganz neue, bisher noch nicht umfassend absehbare Dimensionen
vielfältigsten „Erfahrungslernens“. Eigentlich „Unbegreifbares“ (z. B. das Innere einer
Zelle oder unsere Galaxie) wird begeh- und buchstäblich begreif- und damit vielleicht
sinnlich (besser) verstehbar. An realitätsgetreuen taktilen oder olfaktorischen Sinneswahr-
nehmungen wird aktuell intensiv gearbeitet. Die virtuelle Simulation spezieller, sozialer
(Lern-)Situationen mit der Möglichkeit der unendlichen Wiederholung und Variation (mit
Avataren) verschiedener Verhaltens- und Handlungsweisen ohne Konsequenzen und mit
4.2 Lern- und Veränderungsfähigkeit als die einzige Konstante 201

direktem Feedback wird zukünftig wahrscheinlich zu einer sicher nur ergänzenden, aber
sehr effektiven Strategie des persönlichen und sozialen Lernens.
Die Lernerfordernisse, die diese neue Lernwelt für den Klienten mit sich bringt,
könnte man mit den Begriffen lebenslang, lebensumfassend und lebensnah umreißen. Le-
benslang, da Lernen sehr wahrscheinlich nicht mehr nur auf die Lebensphase Schule und
Ausbildung oder Studium beschränkt bleibt und daher – wie noch in Abschn. 5.4 und 5.5
darzustellen – Erwerbsbiografien aufgrund permanent neuer Aufgabenstellungen, Jobs
oder gar Arbeitsbereiche von konstantem, lebenslangem Lernen begleitet sein werden.
Lebensumfassend bzw. bereichsübergreifend, weil berufliche und private und persönliche
Lernthemen infolge wahrscheinlich zunehmender Verschmelzung der Bereiche immer
weniger eindeutig zu trennen sind. Lebensnah i. S., dass der Lernstoff möglichst praxis-,
d. h. umsetzungsbereit konzipiert und angeboten (z. B. in kurzen Pausen konsumierbare
Micro-Lerneinheiten) wird. Dies wird unterstützt durch den – wie bereits erwähnt – immer
häufiger geforderten und immer bewusster vollzogenen Rollenwechsel zwischen Lernen-
dem und Lehrendem. Denn nur schnell (mit-)geteiltes Wissen kann produktiv werden!
Blogger und entsprechende Protagonisten auf YouTube machen es schon heute vor. Dass
dabei das Lehren zugleich eine sehr effektive Form des Lernens ist, zählt nicht nur bei sehr
berufserfahrenen Pädagogen oder Andragogen schon seit Langem zu den Binsenweishei-
ten der Zunft. Gleiches gilt womöglich für die Erkenntnis, dass das schnelle Auffinden von
Wissen und dessen (zielgerichtete) Verwertung in der Zukunft wichtiger sind, als selbst
etwas möglichst umfänglich oder sehr tiefgehend zu wissen. Denn dies ist infolge der ex-
ponentiellen Wissenszunahme und -verbreitung ohnehin nicht mehr möglich.
Was Klienten lernen müssen, um sich in der Arbeitswelt von morgen behaupten zu
können, wird in Abschn. 5.4 zur Kompetenzentwicklung dargestellt.

4.2.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Doch wie schlagen sich die soeben beschriebenen Elemente und Kriterien der Lernwelten
und Lernanforderungen letztlich im Service Coaching nieder? Nach Ansicht des Autors
entlang der drei Dimensionen: „lebenslang“, lebensumfassend, lebensnah.
Wenn vielleicht auch nicht lebenslang, so so doch über längere Kollaborations- bzw.
Lernphasen hinweg mit ein und demselben Coach (der schon heutzutage ggf. medial
immer und überall dabei sein kann) zu arbeiten könnten zukünftig häufiger das Arbeitsver-
hältnis von Coach und Coachee prägen als heutzutage. Coaching, als Kurzzeitmaßnahme
verstanden, käme dann eher über die mehr oder minder intensiven Arbeitsphasen zum
Ausdruck. Potenziell gegen eine derartig längerfristige Zusammenarbeit spricht darüber
hinaus eigentlich nur das sich ggf. durch zu große Vertrautheit „abnutzende“ Irritations-
und damit Innovationspotenzial des Coaches und potenzielle „Abhängigkeit“ von der Un-
terstützung des Coaches. Damit formuliert sich jedoch parallel eine zentrale Anforderung
an den Coach der Zukunft, selbst als Rollenmodell der stetigen Veränderung zu agieren.
202 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Effektiver und effizienter würden diese Wechsel zu neuen Coaches, wenn jeder neue
Coach z. B. auf eine Akte oder ein Dossier der Lern- bzw. Entwicklungsgeschichte (mit
Lernthemen, -fortschritten, Fragebogenergebnissen, Präferenzen etc.) zugreifen könnte.
Inwieweit diese auch in Teilen auf Bewerberplattformen (z. B. XING oder LinkedIn) an-
statt eines nur chronologischen Lebenslaufes veröffentlicht werden, bleibt abzuwarten.
Das sich aktuell in der Diskussion befindliche Modell der erweiterten Gesundheitskarte
der Krankenkassen, die jedem Arzt umfassende Basisdaten des Patienten zur Verfügung
stellt, könnte jedoch vielleicht zukünftig hier Pate stehen. Diese dann karten- oder eher
cloudbasierten „Daten-Selfies“ würden die (Wieder-)Aufnahme von bewusst initiierten
und gesteuerten Lernprozessen zu jeder Zeit und an jedem Ort schneller und leichter mög-
lich machen. In Abschn. 5.5.2 wird als visionäre Lösung zu diesem Problem eine
Blockchain-­Lösung vorgestellt. Die damit einhergehenden, enormen datenschutzrechtli-
chen Implikationen sollen zumindest erwähnt werden.
Lebensumfassender wird der Service Coaching mittels der wahrscheinlich zunehmen-
den Entgrenzung von Lebens- und Lernthemen in beruflicher und privater bzw. persönli-
cher Hinsicht. Dies geschieht nach Pongratz & Voß (2003) entlang von sechs Sozialdi-
mensionen. In Bezug auf die (1) Zeit infolge der Vermischung von Arbeits- und Privatzeit
macht diese Auflösung fester, betrieblicher Arbeitszeiten oder auch individualisierter Zeit-
wünsche des Arbeitnehmers selbst ein selbstständiges Zeitmanagement erforderlich. Re-
flexionen über dieses Thema könnten folglich sogar verstärkt zum Lernthema werden.
Dass es keine feste Abgrenzung zwischen Arbeits- und privatem Lebensort hinsichtlich
der dritten Dimension (2) Raum gibt, ist 20 Jahre nach Erscheinen des Artikels keine echte
Überraschung mehr. Wo, wie und wann die beste Arbeitsleistung erbracht wird, kann
ebenfalls (ggf. zusammen mit dem Coach) erfahren und erlernt werden. Auch heute noch
nicht so weit verbreitet dagegen ist die allseitige Nutzung von privaten und betrieblichen
(3) Arbeits- und Hilfsmitteln wie dem Notebook, Smartphone, der Fachliteratur oder gar
dem Pkw etc. Ferner ist nicht immer eindeutig zuordenbar, ob die (4) Arbeitsinhalte und
Qualifikationen (z. B. Zeitmanagement, Networking, Surfen im Internet, Vor- und Nach-
bereitung von Arbeit etc.) exklusiv nur dem einen oder anderen Bereich dienen. Das ge-
zielte Herausarbeiten von Synergieeffekten im Coaching ist dabei fast schon ein Gebot der
Stunde. Gleiches gilt für die der zunehmenden Diffusion von (5) Sozialformen und -nor-
men geschuldete, reziproke Nutzung privater Beziehungen oder Events auch für berufli-
che Zwecke. Ist der (6) Sinn bzw. die Motivation hinter der Arbeit und im Leben sicherlich
schon heute eines der Topthemen im Coaching, macht die wachsende Überlappung beider
Lebensbereiche eine noch häufigere und intensivere Thematisierung im Coaching wahr-
scheinlicher. Balancierung, Orchestrierung und die Identifikation von Synergien im
Lernprozess könnten daher zum Leitgedanken in der Arbeit mit dem Klienten werden.
Lebensumfassend in einem anderen Sinne wird nicht nur der Service „Coaching“, so-
bald das (identische!) Smartphone oder ein Wearable privat und beruflich genutzt wird
oder sogar die Bereitschaft zu implantierten Devices besteht (Motto: heute ein Tattoo auf
der Haut – morgen ein Chip unter der Haut), kommt es schon heute zu (un-)gewolltem
Datentransfer, genauer der Übertragung, Dokumentation und Verwertung von physiologi-
4.2 Lern- und Veränderungsfähigkeit als die einzige Konstante 203

schen (z. B. wie ist mein Blutdruck?), verhaltensbezogenen (z. B. was suche ich wann und
wo im Internet?) und (physio-)psychologischen Daten (z. B. wann und wo bin ich wie
entspannt, fühle ich mich wohl?) – beginnend mit der Wachphase bis zum Schlafprozess
selbst. Die Zukunft wird zeigen, inwieweit die Verwertungsgenehmigung der während des
Coachings produzierten Daten, generell von Vitaldaten zum Zwecke der Produktentwick-
lung oder (Evaluations-)Forschung auch bei Coaching-Anbietern – in Analogie zu Platt-
formen wie Facebook – zu einem (zumindest eingeschränkten) kostenlosen Coaching-­
Angebot für weniger zahlungswillige oder zahlungsbereite Klienten führen könnte. Daten
als Honorar (im Falle größerer Coaching-Plattformen/„Digital Coaching Provider“) in
diesem Kontext wären jedoch ein Novum und werden bis dato sicher noch von beiden
Seiten als Tabu gesehen. Die offensichtlich geringere Sensitivität hinsichtlich der Freigabe
persönlicher Daten schon der Gen X, Y, Z entspricht hier wahrscheinlich dem Bewusst-
seinswandel der Babyboomer im Rahmen der Einführung des maschinenlesbaren Perso-
nalausweises in den 80er-Jahren bis heute.
Die größere Lebensnähe im Coaching-Prozess selbst zeigt sich zum einen in der Mög-
lichkeit zur kontinuierlichen und unmittelbaren („real-time“) Messung und Verarbei-
tung vieler biologischer und mentaler Basisdaten mit allen Varianten von den in Ab-
schn. 2.1.1. dargestellten Wearables. Zum anderen im Design immer realitätsnäherer,
virtueller Verhaltenssimulationen mit VR-Technologie aus Abschn. 2.1.2. Beides bietet
die Möglichkeit, Real-Time-Feedback in speziellen Situationen oder über Prozessverläufe
und damit (Ver-)Lernprozesse zu intensivieren, zu beschleunigen und zu dokumentieren.
Ist und war Lernen bzw. Verlernen immer schon wesentliches Kompetenzfeld des Coa-
ches für den verhaltensbezogenen Bereich, könnte infolge der zu erwartenden, weiter an-
steigenden Daten- bzw. Wissensfluten der kommenden Dekaden die Fähigkeit zur Lernbe-
gleitung von auch fachlich orientierten Themenbereichen eine neue Anforderung für
Coaches werden. Dass diese Kompetenzen nicht immer in einer Person gebündelt sein
können und müssen, versteht sich von selbst bzw. verweist erneut auf die zunehmende
Sinnhaftigkeit von Coach-Netzwerken oder anderen Möglichkeiten des Zukaufes von
Spezialkompetenzen in der Arbeitswelt 4.0 (z. B. über Crowdsourcing-Plattformen). Ein
solides praxisorientiertes Wissen wird jedoch unerlässlich werden.
Mit den im nächsten Kapitel zu beschreibenden Aufgabenfeldern (→ Lernbegleitung
bei der Aneignung des selbstgesteuerten Lernens) ergeben sich aus Sicht des Autors je-
doch auch weitere Tätigkeitsfelder insbesondere für interne Coaches.

4.2.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Hinsichtlich der erwähnten fachlichen oder inhaltlichen Wissensbereiche könnte dies zu


einer Renaissance für das bereits um die Jahrtausendwende intensiv thematisierte „Wis-
sensmanagement“ werden. Als „Dompteur“ der heutzutage digital zur Verfügung ste-
henden Daten- und Wissensmengen würde „der neue“ Wissensmanager oder Wissensbe-
rater den Klienten dabei unterstützen, mittels (a) effektiverer, individueller Suchstrategien
204 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

und -heurismen Inhalte im Kosmos des World Wide Web zu finden (und z. B. nicht nur
über die gängigen und potenziell manipulativen Suchmaschinen wie Google etc.), schnel-
ler ans Ziel zu kommen. Auch um die (b) Bewertung der Qualität des Suchergebnisses
z. B. hinsichtlich Aktualität, Wahrheit, Suffizienz, Genauigkeit, Tiefe etc. besser beurtei-
len zu können, reichen digitale Verfahren (bis dato) wahrscheinlich nicht aus. Daran
­anschließen würde sich die (c) Eingrenzung bzw. Reduktion und letztlich Selektion des
Wissensstoffes nach einer vorangegangenen Analyse der präferierten Filter- und Interpre-
tationsmuster. Gefolgt von der (d) Entwicklung sinnvoller Kategorisierungen des Wis-
sensstoffs in digitalen oder analogen Strukturen. Ohne Erinnerungen und Appelle an die
Selbstdisziplin des Klienten erfolgt wahrscheinlich die (e) konsequente und systemati-
sche Ablage zwecks leichten und schnellen Zugriffs auf das Wissen in der Zukunft. Und
solange die vorangegangenen, aufwendigen Informationsverarbeitungsprozesse nicht
durch künstliche Intelligenz automatisiert werden können, gilt es last, but not least durch
Aufnahme und Verinnerlichung des Stoffes – also Lernen i. e. S. – up to date zu bleiben
und das Gelernte letztlich nutzbringend im Alltag einzubringen. Womit wir bei der „al-
ten, neuen“ Kernkompetenz des Coaches, dem Lernen, wären – wenn auch auf fachliche
Themen bezogen. Ob sich bezogen auf das fachliche Wissen sogar vielleicht eine hybride
Rolle eines „Lerncoach-­Consultant“ entwickelt, wird man sehen. Entsprechender An-
gebote10 (beispielhaft/ohne Empfehlung) existieren auch schon heute.

Lernen lernen – immer wieder neu und immer individualisierter


Bezieht sich das Lernen eher auf die weichen, psychologischen Aspekte des Lernens bzw.
metakognitiven Aspekte des Lernens, verschiebt sich die Rolle des „Lerncoach-Consul-
tant“ zum Lerncoach. Einem Coach, der sich – vergleichbar z. B. mit einem Karriere-
coach – auf das Thema „Lernen“ spezialisiert hat. Wiederum im Sinne einer „Hilfe zur
Selbsthife“ ist die Lernbegleitung bei der Aneignung des selbstgesteuertes Lernens in
diesem Kontext ein nach wie vor fruchtbarer Ansatz für Individuen wie Organisationen,
der hinsichtlich seiner Wurzeln bis in die 70er-Jahre zurückreicht und mit der Monografie
von Franz Deitering (Deitering, 1995) einen deutschen Orientierungspunkt bekam.

Mit dem Willen und dem Wunsch nach konstanter Selbstoptimierung auch hinsichtlich
des „Lernen-Lernens“ unterstützt der Lerncoach den Klienten bei der Analyse und dem
Erhalt bzw. der Förderung der (intrinsischen vs. extrinsischen) (a) Lern- und Wachs-
tumsmotivation. Insbesondere wenn das vorhandene Wissen bzw. der verfügbare Erfah-
rungsschatz noch bislang ungenutzt ist. Bei dieser motivationalen Seite des Lernens geht
es gemäß der Motivations- und Entwicklungspsychologin Carol Dweck (Dweck, 2015)
um ein spezielles Selbstbild, das sogenannte „Growth Mindset“ (oder „dynamisches
Selbstbild“). In Abgrenzung zum „Fixed Mindset“ (oder „statisches Selbstbild“) haben
diese Personen hinsichtlich ihrer (a) Fähigkeiten die Überzeugung, dass diese durch harte

10
https://qualityminds.de/lerncoach/; https://www.mindsystems.de/online-akademie/lerncoaching-ba-
siskurs/. Zugegriffen am 16.01.2022.
4.2 Lern- und Veränderungsfähigkeit als die einzige Konstante 205

Arbeit verbessert werden können, oder sehen heraufziehende (b) Probleme als aktiv anzu-
gehende Lernchancen. Die dazu notwendigen (c) Lernanstrengungen werden als erfolg-
versprechender und anregender Weg zum weniger wichtigen Ziel wahrgenommen. Dabei
unvermeidliche (d) Rückschläge werden von Personen mit einem dynamischen Selbstbild
als eindeutiges Feedback gesehen, die Intensität oder Strategie des Lernens zu ändern.
Generell heißen sie (e) Feedback willkommen und versuchen es umzusetzen. Wenn poten-
ziell auch sehr hartnäckig, sieht Dweck die dahinterstehenden Glaubenssätze als veränder-
bar und die Unterstützung eines Lernbegleiters bzw. Coaches als hilfreich an. Ermöglicht
die systematische Kultivierung des „Growth Mindset“ beim Klienten den Aufbau einer
persönlichen Komfortzone, ist es ein Zeichen der aktuellen, industriellen Revolution, dass
diese permanent nach ihrer „kreativen Zerstörung“ verlangt. Die Lust am Querdenken –
an einem „Disruptive Mindset“ – kann im Idealfall erneut Quelle von Inspiration und
­Innovation werden. Zu der Frage, worum es sich bei dem damit verbundenen disruptiven
Denken (Mutius von, 2017) handelt und wie es im realen Arbeitsleben umgesetzt werden
kann, bieten Johnson (Johnson, 2015) oder Kaduk et al. (Kaduk et al., 2013) mit ihren
entsprechenden Publikationen einige Anregung. Damit das Verlassen der Komfort- bzw.
Wachstumszone jedoch nicht infolge der geforderten Veränderungsdynamik in einer para-
lysierenden Panikzone mündet, ist die Begleitung eines (Lern-)Coaches sicherlich sehr
hilfreich.
Dieser permanente Lern- und Wachstumsanspruch kann auf der anderen Seite auch zu
b) Lernblockaden führen. So beschreiben Kegan et al. (Kegan & Laskow Lahey, 2009) in
ihrem Buch „Immunity to Change“, wie konkurrierende Zielsetzungen neues oder er-
wünschtes Verhalten blockieren können. Erkennen Menschen z. B. die Notwendigkeit, zu
lernen, zumindest kognitiv an und haben eigentlich auch die (1) erforderliche Entschlos-
senheit, dies zukünftig in die Tat umzusetzen, zeigt der reale (2) Alltag, dass sie z. B. nicht
die erforderlichen Fachzeitschriften lesen oder sich nicht in neue Netzwerke begeben. Die
verborgene (3) konkurrierende Befürchtung dabei könnte sein, dass ich im neuen Lernfeld
(zunächst) nicht erfolgreich bin, mein Image als der Experte oder Erfolgsmensch beschä-
digt wird und im schlimmsten Fall identitätsstiftende Anteile des (positiven) Selbstbildes
infrage gestellt oder gar beschädigt werden. In der individuenspezifischen (4) Analyse der
dahinterstehenden, limitierenden Grundannahme ergibt sich womöglich, dass Experten
oder Erfolgsmenschen an Ansehen verlieren, wenn sie plötzlich einmal nicht mehr „alles
wissen“ oder gar „Schiffbruch“ erleiden. Manchmal handelt es sich dabei wahrscheinlich
auch „nur“ um eine „klassische Aufschieberitis“ (neudeutsch: Prokrastination), die es mit
dem Klienten zu bearbeiten gilt.
Erneut den Hut des Beraters trägt der Lerncoach eher, wenn es um die für den Lernstoff
geeigneten (c) Lernformen oder technischen Lernhilfen gehen wird. Gründe für einen
hier aufkommenden Bedarf liefert die nachdenklich stimmende Studie von Tauber &
Wang-Audia (Tauber & Wang-Audia, 2014) zur Situation des modernen Lerners. Sie be-
legt bei Angestellten mit Internetzugang, dass diese heutzutage ca. 27 Mal am Tag ins In-
ternet gehen, bis zu 9 Mal pro Stunde auf ihr Smartphone schauen und keine Videos an-
schauen, die länger als vier Minuten dauern. Insgesamt investieren sie nur ca 1 % ihrer
206 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Arbeitszeit pro Woche in Lernen. Der frei übersetzte Titel der Studie fasst die Herausfor-
derung des Lerncoaches wie des Klienten prägnant zusammen: Wie man den mit Informa-
tionen überschwemmten, ständig abgelenkten und ungeduldigen Mitarbeiter (noch zum
Lernen) gewinnt. Nicht nur die Infografik am Ende des Artikels macht deutlich, dass sich
die Lernformen und -hilfen den veränderten Gegebenheiten anpassen. Wie bereits bei den
neuen Lernwelten (Abschn. 4.2.1) näher ausgeführt heißt dies, dass sie unabhängig von
Zeit und Raum konsumierbar sind, Kollaboration und die Eigenentwicklung von Inhalten
ermöglichen sowie unterhaltsam und fesselnd sind. Es ist die neue Aufgabe aller Experten
im Bereich des sogenannten „intelligenten Lernens“, die dahinterstehende, starke Indivi-
dualisierung des Lernens inhaltlich wie technisch unterstützen zu können. Dies setzt eine
tiefe wie breite Kenntnis verschiedenster Lernansätze und digitaler Lernarchitektu-
ren voraus.
Da nicht nur bei den digitalen Lernformaten die direkte Handlungsrelevanz oder Ver-
wertbarkeit des erworbenen Wissens an Bedeutung zunehmen wird, erhält das Thema (d)
Wissenstransfer generell größere Aufmerksamkeit. Um die Übersetzungsleistung vom
Wissenserwerb zur Wissensanwendung minimiert, rücken alle Lernformen, die nahe
(„near the job“) oder während („on the job“) des Arbeitsprozesses (Bolte & Neumer,
2021) erfolgen, ins Zentrum des Interesses. Das wichtige Format des Erfahrungslernens
(Kolb & Kolb, 2017) wird erneut in Abschn. 5.4.2 aufgegriffen. In der Praxis sind dies die
Near-the-Job-Formate Mentoring, Shadowing und natürlich Coaching. Im Falle der
On-the-Job-Varianten kommen alle lernorientierten Projekteinsätze („Assignments“),
Peer-Learning und Rotationsprogramme erneut zu Ehren. Mit einem zeitgemäßen techni-
schen Unterbau (z. B. Matching-Plattformen) und begleitenden, digitalen Lernprogram-
men erfüllen diese „alten Bekannten“ mehr denn je den Anspruch der Entwicklung des
allseits flexiblen, d. h. agilen Mitarbeiters. Für Freiberufler wären diese Ansätze entspre-
chend zu modifizieren.
Die (e) Lernfortschritts- und -erfolgskontrolle mittels einer Prozess- und/oder Ende-
valuation für den Coachee selbst und/oder das Unternehmen als Auftraggeber sowie deren
veranschaulichende Dokumentation und letztliche Auswertung gehören zu den Tätigkei-
ten des in den letzten Jahren am stärksten an Bedeutung gewonnen habenden Berufsprofi-
les für die Zukunft – des Data-Scientists. Bedeutete Messung in diesem Kontext bisher
einen meist lästigen Zusatzaufwand (z. B. durch Fragebogen), bietet sich dem Lerncoach
in der Beratung hinsichtlich der letztlich anvisierten Messgrößen (→ Welche Veränderung
will ich messen?) und verschiedenen Messinstrumente (→ Wie will ich die Veränderung
messen?) durch die Digitalisierung heute weitaus mehr Möglichkeiten. So umfasst der
digitale Werkzeugkasten zukünftig wohl alle Formen von optischen Apparaturen wie We-
arables oder VR-Brillen oder sogar Chatbots.11 Diese ermöglichen es, emotionale (z. B. von
Spannungs- bzw. Erregungszuständen), geistige (Konzentration) bzw. verhaltensmäßige
(z. B. durch die Erstellung von Bewegungsprofilen) Veränderungen nachzuweisen und zu
dokumentieren. Und je mehr es den Herstellern gelingt, dies als wichtige Bestandteile ei-
nes modernen Lebensstils zu etablieren, desto einfacher wird der individuelle Einsatz die-

11
https://mobilecoach.com/. Zugegriffen am 16.01.2022.
4.2 Lern- und Veränderungsfähigkeit als die einzige Konstante 207

ser Gadgets zur kontinuierlichen „Vermessung des Selbst“ (Selke, Das präventive Selbst –
Effizienz durch digitale Selbstvermessung, 2018) des Klienten sein. Die potenziellen,
gesellschaftlichen Folgen des sogenannten „Lifeloggings“ – der digitalen Protokollierung
des eigenen Lebens – beschreibt z. B. Selke sehr plastisch. Wir werden das Thema erneut
unter Abschn. 4.3.3 aufgreifen. Dass hier die Frage der individuellen, ethischen Grenzen
gleichwertig neben der Analyse und praktischen Verwertung der gewonnenen Daten ste-
hen sollte, versteht sich von selbst. Individuelles Feedback in Echtzeit zur Verhaltens- und
Lebensoptimierung und in jeder metrischen und nicht metrischen Form könnten damit
zugleich zum Fluch und Segen dieser neuen Epoche digitaler (Lern-)Welten werden.

Lernen, zu verlernen – oder: Loslassen fällt schwer


Denn ohne spür- oder wahrnehmbaren Anlass von erfolgreichen Methoden, Mustern des
Denkens, Fühlens, Verhaltens und Handelns (oder eben Produkten bzw. Services) loszu-
lassen, zählt sicher zum Schwersten für die menschliche Psyche. Das „Lernen, zu verler-
nen“ ist so wichtig, da Unsicherheit ein Zustand ist, in dem wir uns eher unwohl fühlen.
Ein Weg der positiven Annäherung an das Thema ist hier sicher die Wiederentdeckung
bzw. Kultivierung der (kindlichen) (a) Neugier. Das heißt sich z. B. eher spielerisch neuen
Themenfeldern zu nähern, immer wieder zu (hinter-)fragen (z. B. 5-W-Technik, 5 Mal
„Warum“), sich liebgewonnene Routinen des Denkens, Fühlens, Verhaltens und Handelns
bewusst zu machen und dann aktiv zu durchkreuzen. Oder aber sich in Gesellschaft mit
völlig konträr denkenden oder verhaltenden Personen umgeben und achtsam innere Ab-
lehnungs- und Verteidigungshaltungen erspüren. Dies alles könnten erste, ermutigende
Impulse zur Veränderung und Bewegung werden. Und auch jede „Was wäre, wenn“- oder
Wunderfrage im Coaching kann diese neuen Denkwelten aktivieren. Aus Sicht des Autors
berührt dieser Themenbereich idealerweise zentrale Kernkompetenzen eines Coaches,
welcher explorativ bzw. ko-kreativ mit dem Klienten nach alternativen (angemesserneren)
Denk- und Handlungsweisen sucht und dann mitteles eines Implementierungs- bzw. Ver-
stärkungsplans internalisiert.

Die erneute Stimulation der Neugier erleichtert so zum einen das Verlernen und wo-
möglich auch die Wiederentdeckung der eigenen (b) Kreativität. Obwohl hinsichtlich der
personalpsychologischen (Schuler & Görlich, 2007) wie sozialpsychologischen For-
schung (Amabile, 1983) immer noch am Anfang (Kaufman & Sternberg, 2010) (Runco,
2014), spricht die Flut an populärwissenschaftlichen Ratgebern, z. B. Collado-Ruiz et al.
(Collado-Ruiz & Ostad-Ahmad-Ghorabi, 2017) oder Rustler (Rustler, 2018), eine andere
Sprache und lädt zum Experimentieren und damit erneut zum spielerischen Lernen ein.
Gleiches gilt für die oft im gleichen Atemzug genannte Fähigkeit zur Innovation im
Rahmen der Entrepreneurforschung. So kommt eine aktuellere Review-Studie (Kerr et al.,
2017) aufgrund vielfältiger oder gar fehlender Konzeptdefinitionen und Untersuchungsde-
signs etc. noch zu uneindeutigen Aussagen. Dennoch scheint bei dem multidimensionalen
Persönlichkeitskonstrukt des Entrepreneurs die (c) Innovationsfreude ein beständiger
Wirkfaktor zu sein. Da die Entwicklung von mehr Entrepreneurship offensichtlich auch
global als notwendig erachtet wird, hat sich das World Economic Forum (World Economic
208 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Forum, 2019) auch bereits intensive Gedanken darüber gemacht, wie eine solche Univer-
sität aussehen könnte. Jedoch ist – wie leider in vielen der mit dem Coaching verbundenen
Themen- und Arbeitsgebiete – ein vollends wissenschaftlich fundiertes Konzept für die
Entwicklung eines solchen Institutes wie auch entsprechende Interventionen des Coaches
zu dem Verhaltenskomplex „Entrepreneurship“ nicht möglich. Ein erster Vorstoß wäre
hier das Buch von Margret Fischer „Wie Business Coaching Entrepreneure unterstützen
kann“ (Fischer, 2020). Gemeinsame Gedankenspiele, ob und wie ggf. Unternehmertum zu
Klienten passen könnte, sollten dennoch ihren Platz finden. Dem Coachee in der Erkennt-
nis zu helfen, wann es Zeit wird, von dem schon sprichwörtlichen „toten Pferd abzustei-
gen“, und wie er sich von nicht mehr adäquatem bzw. zielführendem Denken und Handeln
loslösen kann, ist dabei schon ein wertvoller Anfang. Denn oberstes Ziel sollte es immer
sein, die Dynamik und „Innovationsfähigkeit“ des Selbstbildes zu erhalten.

4.3 I dentität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“


in „Crazy Quilts“

Sei es im Rahmen der vor einigen Jahren erneut aufgeflammten Diskussion zur nationalen
Identität bzw. „deutschen Leitkultur“, der Neuauflage des Themas „Corporate Identity“
durch das Konzept der „purpose-driven company“ oder aber die ungebrochene Aktualität
der Selbsthilfebücher zum Life- bzw. Identity-Styling oder aber zur Selbstfindung: Der von
Ina-Maria Greverus, 1995 formulierte „Arbeitsauftrag“ zur Identitätsarbeit „Sich er-
kennen, erkannt und anerkannt werden“ (Greverus, 1995) scheint auch ca. 10 Jahre nach
Greverus aktueller denn je (Eickelpasch & Rademacher, 2004) im Vergleich (Eickelpasch
& Rademacher, 2004, S.15) zu damals werden die schon heute klar erkennbaren Möglich-
keiten, sich in digitalen Welten zusätzliche, bzw. von der realen Welt völlig ­losgelöste,
virtuelle Identitäten zu schaffen, dieses Themenfeld in den nächsten Jahrzehnten erneut
befeuern. Durch die Allgegenwart des Themas droht es jedoch in den letzten Jahren selbst
bei grundsätzlich dafür aufgeschlossenen Personen entweder inhaltlich zu verflachen, in
seiner potenziellen Egozentrik und Zwanghaftigkeit in Stress auszuarten oder aber letzten
Endes durch die zu verheißungsvollen „Kochrezepte“ in der Ratgeberliteratur in ablehnen-
den Zynismus umzuschlagen oder in völliger Ignoranz zu versinken. Im Ausblenden von
Systembezügen auf Meso- oder Makroebene stießen jedoch auch die zuweilen fast schon
solipsistischen Ansätze in der früheren Psychologie konzeptionell an ihre Grenzen, musste
man z. B. die Trait-Ansätze in der Führungsforschung mit situativen bzw. interaktionisti-
schen Sichtweisen relativieren. Doch was hat sich an der Lebenssituation und damit auch
Identität der Menschen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geändert?

Der Identitätsbegriff im Wandel der Zeit


So das wohl populärste (sozial-)psychologische Modell der Identität bzw. Identitätsentwick-
lung des Sozialpsychologen Erik H. Erikson. Es sieht Identität als „inneren Besitzstand“,
als einen sich insbesondere während der Adoleszenz herausbildenden „inneren Kern“, d. h.
als einheitliches, eindeutiges und lebenslang gültiges Selbstbild. Diese Annahmen werden
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 209

jedoch einer von starken Umbrüchen gekennzeichneten Postmoderne schon im Grundansatz


nicht mehr gerecht. Die einflussreichste Situationsbeschreibung dieser Umbrüche sowie der
zunehmenden damit verbundenen Individualisierung in der Postmoderne lieferte 1986 der
Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch „Risikogesellschaft“ (Beck, 1986). Die Kernthesen
dieser einflussreichen Gegenwartsdiagnose sollen nachfolgend in sehr komprimierter Form
dargestellt werden (Eickelpasch & Rademacher, Identität, 2004).

Getrieben vom (Lebens-)Hunger, vom Wunsch nach Vergessen der Kriegsjahre bzw. der
Flucht vor den mit dem Dritten Reich verbundenen Schuldgefühlen, erschufen die Deut-
schen mit materieller Unterstützung der Amerikaner das, was man heute als „Wirtschafts-
wunder“ bezeichnet. Vollzeitverträge, Familie, klare Geschlechterrollen (die „3 Ks“ der
Frauen: Küche, Kirche, Kinder), (dörfliche) Gemeinschaft, Schicht, Religion entwickeln
sich zu den stabilen Pfeilern dieser Boomzeiten. Die rasanten wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Erfolge der sozialen Marktwirtschaft bzw. der Reindustrialisierung insgesamt
geraten jedoch Anfang der 1970er-Jahre in Form der zunehmenden Arbeitslosigkeit ins
Wanken. Zudem stellen die außerparlamentarische Opposition (APO) der 68er wie auch die
„Rote Armee Fraktion“ (RAF) ab den 70ern nicht nur diese vermeintlich wohlverdienten
moralischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Errungenschaften massiv infrage. Der
damit beginnende „Enttraditionalisierungsprozess“ bzw. „Zerfall der Sinnwelten“ er-
öffnet ungewollt neue „Möglichkeitsräume“, welche den Einzelnen zum „Zentrum seiner
eigenen Lebensplanung (…)“ und die Herausbildung einer persönlichen Identität zu einer
Einzelleistung machen. Mit dieser zunehmenden Individualisierung werden „Normalbio-
grafien“ im privaten wie beruflichen Bereich immer „unnormaler“ (Eickelpasch & Rade-
macher, 2004). Der Erfolg des Industrialisierungsprozesses der Boomjahre ging zwangs-
läufig auch mit einer Spezialisierung und funktionalen Differenzierung in Wirtschaft und
Gesellschaft einher. Eine verstärkte Pluralisierung der Lebenswelten war die Folge. Konnte
der Mensch in der vormodernen Gesellschaft noch mit „Haut und Haaren“, als Ganzes in
seiner vordefinierten Rolle als Beamter, Familienvater oder Vereinsmitglied – als Indivi-
duum (wörtlich: das Unteilbare) – aufgehen, wurden die Menschen nun immer häufiger vor
die Herausforderung gestellt, mit einer zunehmenden Anzahl von bruchstückhaften und
sogar widersprüchlichen Rollen als nun „Dividuum“ zurechtzukommen.
Paradoxerweise bzw. quasi als Gegenbewegung zu der Zersplitterung der Sozialwelt
wurden Individualität, Ich-Autonomie und Selbstbestimmung zu den Leitsternen der Ar-
beit am Selbst gemacht (Eickelpasch & Rademacher, 2004, S. 17 f.). Verweisen jedoch
historische Redewendungen wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ bereits sprachlich da-
rauf, dass es ähnliche Transformationsprozesse zu mehr Selbstbestimmung und -gestaltung
immer schon gab, stellt sich fast automatisch die Frage, was beim Erscheinen von Becks
„Risikogesellschaft“ (Beck, 1986) – also in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (!) –
neu und spezifisch war. In einer späteren Publikation (Beck & Gernsheim, 1994) beantwor-
tete er dies mit der Reichweite dieser Zumutung. Waren es im Übergang von der Stände-
zur Industriegesellschaft nur wenige, denen ein Leben in Eigenregie abverlangt wurde,
stieg nach Beck & Gernsheim (1994, S. 21) die Zahl der Betroffenen bereits in den letzten
Dekaden des vorhergehenden Jahrtausends an und würde sich nach deren Einschätzung
210 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

potenziell auf die komplette Gesellschaft erweitern. So sind die Menschen infolge eines sich
verändernden Arbeitsmarktes, sehr viel höherer Mobilitäts- und Ausbildungsanforderun-
gen, neuer Aspekte des Arbeits- und Sozialrechts wie auch eines reformierten Rentensys-
tems nach Eickelpasch & Rademacher „zu einem eigenen Leben verdammt“ (Eickelpasch
& Rademacher, 2004, S. 19 f.) und müssen sich folglich auch selbst mit den sich dabei er-
gebenden Risiken auseinandersetzen. Dieser neuzeitliche Individualisierungsprozess war
daher nicht nur mit einem Zugewinn an Gestaltungsfreiheit i. e. S. verbunden, sondern mit
der „Demokratisierung“ oder Vergesellschaftung der Eigenverantwortung. Jeder darf,
kann, soll und muss aktiv werden. Ein weiterer Unterschied besteht nach Beck (1986,
S. 217) darin, dass die durch staatliche Regulierungen vordefinierten „Bauteile“ (z. B. für
das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt oder bürokratische Vorgaben) die Möglichkeiten ei-
ner wirklich individuellen Lebensgestaltung nur vortäuschen. Nur diese vorgefertigten
„Bausätze biografischer Kombinationsmöglichkeiten“ (Beck, 1986, S. 217) können in den
„Planungs- bzw. Architekturbüros des eigenen Lebens und der eigenen Identität“ verwertet
werden. Angesichts der dynamischen Umwelt bleibt das dabei entstehende Lebenswerk
nach Straub (1998) „[…] ein immer vorläufiges Resultat kreativer, konstruktiver Akte, man
könnte fast sagen: es ist geschaffen für den Augenblick“ (Straub, 1998, S. 93).

Das metrische Ich oder: Wir als vermeintlicher Stein in der Brandung
Eine ähnliche Subjektivierung trifft man bei dem in den letzten Jahren zunehmend popu-
lärer werdenden Thema „Selbstvermessung“. So vermutet der Soziologe Stefan Selke
(2014), dass in einer VUCA-Welt der Wunsch, das „Selbst“ als den letzten Hafen poten-
zieller Sicherheit korrekt vermessen und damit kontrollieren zu können, eine wesentliche
Triebfeder der internationalen „Quantified Self“-Bewegung12 ist. Mit ihrem Motto „Self-
knowledge through numbers“ oder „Selbsterkenntnis durch Zahlen“ liegt die Vermutung
nahe, dass ihnen das Leben nach Zahlen eine Verarbeitung von Risiken und Ängsten
ermöglicht und ihnen so das vermisste Kontrollgefühl einer vermeintlich rationalen, effi-
zienten und optimierten Lebensführung gibt. Ging man früher bottom-up von einer Ge-
staltbarkeit des Gemeinwesens aus, scheint man sich heute auf die Gestaltbarkeit der eige-
nen Person zurückzuziehen. Die Veränderung der Gesellschaft passiert heute eher
top-­down – doch unter (un-)willentlicher Beteiligung der Massen.

So weist Steffen Mau (Mau, 2017) mit dem Beispiel der chinesischen Überwachungs-
stadt Shenzhen auf ein sehr drastisches Beispiel extremer Quantifizierungs- und Normie-
rungsbestrebungen im sozialen bzw. gesellschaftlichen Bereich hin. Die aus der (un-)frei-
willigen Protokollierung von Lebens- und Aktivitätsspuren, aus Suchaktivitäten wie Likes,
Rankings, vergebenen Sternchen und Noten gewonnenen Big Data ermöglichen nach de-
ren Verarbeitung zu Smart Data potenziell für Machthaber sehr wertvolle Klassifikationen,
Rangbildungen und damit Status- und Positionszuweisungen. Diese um sich greifende
Soziometrie erschafft ein „metrisches Wir“, das zahlenbasiert Normen generiert, welche

12
https://quantifiedself.com/. Zugegriffen am 08.09.2020.
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 211

letztlich die Inklusion oder aber auch Exklusion von Menschen legitimieren könnten. Die
Quantifizierung von eigentlich qualitativen Unterschieden ermöglicht eine völlig neue ge-
sellschaftliche Hierarchisierung. Perspektivisch befürchtet er, dass diese künstliche Un-
terschiedsbildung eines Tages als naturgegeben gesehen wird bzw. sich das Verständnis,
was wertvoll und erstrebenswert ist, schleichend verändert. Es kommt zu einer Universa-
lisierung und permanenten Inszenierung von Wettbewerb (Mau, 2017, S. 10 ff.). In der
Hoffnung, dass das eingangs erwähnte „Social Credit System“ von Shenzhen (Ohlberg
et al., 2017) eher kulturspezifisch ist, zeigt dieses System dennoch sehr erschreckend, wie
staatliche Disziplinierung und die entsprechenden Verhaltenssteuerungs- und -normie-
rungsmaßnahmen aussehen bzw. eingesetzt werden können. Gesellschaftlich laufen wir
damit Gefahr, dass Solidarität mit anderen – bzw. Fürsorge und Verantwortung für ­andere –
an den an reiner Wirtschaftlichkeit orientierten Messnormen zerschellt. Die weitgehende
Reduktion des Menschen auf Daten, die Abhängigkeit und der potenzielle Missbrauch von
Daten – die „Datakratie“, wie Heyen (2016, S. 6) es nennt – eine weitere, negative Folge.
Angesichts der oft mangelnden Güte der Messungen bzw. der Messgeräte selbst sowie
der sich nach Meinungen von Experten auf diesem Gebiet praktisch wie messtheoretisch
stellenden Herausforderungen ist diese Reduktion und Verabsolutierung der Zahlen ein
mehr als fragwürdiger Ansatz. Kritisch sehen beide Autoren auch die sich hinsichtlich
„Messverweigerern“, denen man womöglich unterstellt, ihre (z. B. ungünstigen Gesund-
heits-)Daten nicht offenlegen zu wollen, latent ausbildende Verdachtskultur. Auf der an-
deren Seite kann die generell damit verbundene Individualisierung der Diagnostik auch
die Fortschritte in Medizin und Wissenschaft unterstützen und im Idealfall gesellschaft-
lich zu geringeren Gesundheitskosten führen. Inwieweit dies jedoch eher einem Wunsch-
denken entspringt, wird die Zukunft (vielleicht) zeigen. Generell sieht Steffen Mau den
aktuellen Erfolg der Bewegung auch als Reaktion auf die in der Vergangenheit erfahrene
Ohnmacht bei Versuchen, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Letztlich ist
es einfacher, das Individuum an freiwillig (!) gelieferte und damit akzeptierte (Daten-)
Normen anzupassen als das System als Ganzes.

Das vermeintliche Heil in unternehmerischen Konzepten suchen


Der Soziologe Ulrich Bröckling dagegen untersucht in seinem Buch „Das unternehmeri-
sche Selbst“ (Bröckling, 2016) die gesellschaftlichen Tendenzen der Rationalisierung,
Flexibilisierung, Responsibilisierung und Autonomisierung. Jedoch nicht durch die mög-
lichst allumfassende und permanente Selbstvermessung, sondern den starken, zuweilen
schon ideologisch geprägten Aufforderungscharakter der zeitgenössischen Management-
konzepte, Selbstoptimierungs- und Sozialtechnologien in den Themenbereichen Krea-
tivität, Empowerment, Qualität sowie hinsichtlich der Arbeit in Projekten. Denn deren
einhelliger Tenor, ja kategorischer Imperativ lautet: „Handle unternehmerisch!“ Im Sinne
des Untertitels „Soziologie einer Subjektivierungsform“ ist man jedoch nicht per se ein
„unternehmerisches Selbst“ – man soll es werden. Bildlich gesprochen untersucht Bröck-
ling (Bröckling, 2016, S. 11) dabei nicht, wie weit sich die Rezipienten im Wildwasser
unbegrenzter Machbarkeitsfantasien treiben lassen bzw. wie und ob sie diese nutzen, um
212 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

schneller voranzukommen, oder aber versuchen, ihnen auszuweichen oder gegen sie anzu-
schwimmen, sondern die (ideologische) Richtung der Strömungen. „Es geht […] nicht nur
um das, was die Einzelnen tun sollen und wie sie dazu in die Lage versetzt werden, son-
dern auch darum, dass ihre Anstrengungen immer wieder fehlschlagen und sie den Anfor-
derungen niemals vollends genügen können“ (Bröckling, 2016, S. 11).

Das vermeintliche Heil in der eigenen Arbeitskraft suchen


Bereits vier Jahre vor Erscheinen der Erstauflage des unternehmerischen Selbst (2007)
stellten die Arbeits- und Industriesoziologen Hans Pongratz und Günter Voß ihr Konzept
(Pongratz & Voß, 2003) des „Arbeitskraftunternehmers“ der Fachwelt zur Diskussion.
In Abgrenzung zum klassischen, fordistisch geprägten Arbeitnehmer soll bzw. muss dieser
neue Typus verschiedene Strategien der „Erwerbsorientierung in entgrenzten Arbeitsfor-
men“ – so der Untertitel – herausarbeiten und seine Arbeitskraft unternehmerisch entwi-
ckeln und vermarkten. Akzentuierte Bröckling später die individuelle „Arbeit der Subjek-
tivierung“ (zu einem unternehmerischen Selbst), rückte das Autorenpaar zuvor die
„Subjektivierung der Arbeit“, d. h. eine völlig neuartige, individuelle Bewältigungsstra-
tegie angesichts der um die Jahrtausendwende heraufziehenden Arbeitswelt, in den Vor-
dergrund. Das heißt nach Pongratz & Voß (2003, S. 216), „es sind in hohem Maße die
Erwerbspersonen selbst, die nun in Form erweiterter Selbst-Kontrolle bisher nur unsyste-
matisch betrieblich genutzte Momente ihrer Persönlichkeit in den Arbeitsprozess einbrin-
gen und diese Ressource in neuer Qualität der ökonomischen Nutzung zuführen. Denn mit
traditionellen Verfahren direkter Arbeitssteuerung allein kann dieses Leistungsreservoir
nur unzureichend für betriebliche Zwecke erschlossen werden“. So ist dieser postfordisti-
sche Arbeitskrafttyp permanent bestrebt, in der Kopplung von Effizienzanspruch und Er-
gebnisqualität auch unabhängig von – oder sogar entgegen – betrieblichen Anforderungen
stets das Beste aus sich herausholen zu wollen. Die Bereitschaft, in Richtung einer
„Selbstverwertung“ der eigenen Arbeitskraft und die Offenheit auch die eigene Persön-
lichkeit vereinnahmen zu lassen, lässt nach Pongratz & Voß „einen Totalitätsanspruch
betrieblicher Verfügung über Subjektivität als möglich erscheinen“ (Pongratz & Voß,
2003, S. 217). Die Erwerbsorientierung (aus dem Untertitel) als „Sinnkonstruktion der
Subjekte in deren permanenter Auseinandersetzung mit den Bedingungen ihrer Erwerbs-
tätigkeit“ (Pongratz & Voß, 2003, S. 40 f.) hat für die beiden Soziologen drei Bereiche: das
Arbeitsfeld, die Erwerbsperspektive und die Lebensführung. Die ihnen zugeordneten
Bezugspunkte in der Erwerbsarbeit selbst sind deren Gebrauchswert (i. S. v. das eigene
Gefühl, eine nützliche Arbeit zu tun, das Interesse, fach- und sachgerechte Arbeit zu ver-
richten, sowie Strategien, die Arbeit als sinnhaft zu erleben), der Tauschwert (i. S. der er-
folgreichen Arbeitskraftvermarktung mit den Indikatoren Entgelthöhe, Jobsicherheit so-
wie berufliche Entwicklungsperspektiven) und der Lebenswert (i. S. der persönlichen und
alltagspraktischen Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit). Zentrale Dimensionen des Ar-
beitskraftunternehmers sind dabei die Dimensionen Selbstkontrolle, Selbstökonomisie-
rung und Selbstrationalisierung.
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 213

Ergänzt wurden die Dimensionen des Arbeitskrafttypus durch dessen Indikatoren der
Erwerbsorientierung. Dazu zählen die Leistungsorientierung bei der Selbstkontrolle, die
biografische Orientierung bei der Selbstökonomisierung und die Flexibilität oder Elas-
tizität von Arbeit und Privatleben bei der Selbstrationalisierung.

4.3.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Die möglichen Reaktionsweisen der Menschen in ihrer Identitätsbildung auf die oben
dargestellten konzeptuellen Situationsanalysen oder -beschreibungen reichen – insbeson-
dere nach Ansicht der oben angeführten Soziologen – von der kreativen Nutzung der ver-
meintlich gewonnenen Freiheiten bis hin zu eher leidvollen Erfahrungen wie permanenter
Überforderung, Erschöpfung oder einem Gefühl der zu großen Vielfalt bzw. Auflösung,
welche letztlich in eine Art der „Unbehaustheit“ und Orientierungslosigkeit münden kann.
Doch zunächst zu den eher positiven Identitätsmodellen.

Identität als „Bastelbiografie“


Möglicherweise einige Protagonisten avantgardistischer Künstlerbewegungen (z. B. Die
Brücke, Der Blaue Reiter, Dada, Surrealisten, Bauhaus) des ebenfalls von starken Umbrü-
chen gekennzeichneten Beginns des letzten Jahrhunderts im Hinterkopf, identifizierten
Ronald Hitzler und Anne Hohner den „Bastler“ als einen Identitätstypus in Zeiten großer
Dynamik (Eickelpasch & Rademacher, 2004, S. 23 f.). „Basteln“ in Abgrenzung zum
„Konstruieren“, weil es eben nicht nach einem festen Plan oder mit professioneller
­Anleitung erfolgt und von Dilettantismus und Genialität geprägte Machwerke hervorbrin-
gen kann (Hitzler & Honer, 1994). Und gerade diese situationsbedingte Planlosigkeit er-
möglicht – ja verstärkt, beim Sinn- und Identitätsbasteln mit den aktuell bzw. vorüberge-
hend zur Verfügung stehenden „Materialien“ kreativ und experimentell umzugehen und
derart ein buchstäblich einzigartiges Identitätskunstwerk zu schaffen. Obwohl dieses „sti-
lisierte Sinnbasteln“ in einer anspruchsvolleren Variante als „Ästhetik der Existenz“ schon
in der Philosophie der Antike bekannt war, wird es heute zu einer Strategie zur Kontin-
genzbewältigung, um die Widersprüchlichkeiten, Zufälle und Ungereimtheiten des mo-
dernen Lebens besser aushalten zu können (Eickelpasch & Rademacher, 2004, S. 24). Die
mit ihren Lebensabschnitten, Teilzeiten und Zeit-Teilen als zerrissen erfahrene Alltags-
und Lebenswelt stückelt der Lebenskünstler in ein als sinnvoll empfundenes Le-
benspuzzle zusammen. Und dabei braucht der moderne Mensch nicht einmal immer bei
null anzufangen, da jeder auf eine Art Supermarkt für Lebensstil- und Weltdeutungsange-
bote zurückgreifen kann. Prominente Beispiele der letzten Jahre sind hier z. B. die LO-
HAS- (Lifestyles of Health and Sustainability), LOVOS- (Lifestyles of Voluntary Simpli-
city) oder die Simplify-Bewegung von Tiki Küstenmacher. Und wem diese mit
vorgefertigten Lifestyles verbundenen „Identitätsangebote“ von der Stange bereits zu ega-
lisierend, zu stark fremdbestimmt sind, kann wie im richtigen Leben immer noch mit ei-
nem konsequent gelebten „Do-it-yourself“ rebellieren.
214 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Diesen Willen zu noch unkonventionelleren Identitätskreationen verband Heiner Keupp


(Keupp, 1989) mit dem Bild oder Konzept des „Crazy Quilt“. Denn dieser „[…] lebt von
seinen überraschenden, oft wilden Verknüpfungen von Formen und Farben, zielt selten auf
bekannte Symbole und Gegenstände“ (Keupp, 1989, S. 264) wie klassische Patchworkar-
beiten. Ganz im Gegensatz zu dem Identitätskonzept des eingangs erwähnten Erik Erikson
hat nach Keupp (Keupp, 1999) „Identitätsbildung die Form einer offenen, prinzipiell un-
abschließbaren, alltäglichen Identitätsarbeit, einer permanenten Passungsarbeit zwischen
innerer und äußerer Welt“ (Keupp, 1999, S. 30). So ist Keupp allem Gesellschafts- und
Kulturpessimismus der Postmoderne zum Trotz davon überzeugt, dass „wir […] es nicht
mit Zerfall oder Verlust von Mitte zu tun haben, sondern eher mit einem Zugewinn keativer
Lebensmöglichkeiten“ (Keupp, 1989, S. 264).
Begünstigt wird diese Vervielfältigung in der „Dividualität“ und deren Verschiebung
oder Erweiterungen in der digitalen Welt durch das sogenannten „Metaversum“, also
eine Vielzahl von virtuellen Parallelwelten, durch die man sich entweder je nach Lust und
Laune mit wechselnden Identitäten oder aber – so die Vorstellungen der Spieleentwickler
im Silicon Valley – auch mit einem (!) portierbaren Avatar bewegen kann. Durchlässig
und variabel sind sie jedoch nicht nur für das zweite Ich (oder Varianten desselben), son-
dern auch für die Social-Media-Dienste (z. B. WhatsApp von Facebook oder iMessage
von Apple etc.) sowie verschiedene Kryptowährungen. Ohne durch die Eingabe lästiger
Passwörter für die verschiedenen virtuellen Welten und Dienste wechseln zu müssen
(Stichwort Interoperabilität), wird es noch leichter sein, mehr (Frei-)Zeit in simulierten
Realitäten zu verbringen. Wie das alles genau aussehen soll und wann genau dies möglich
sein wird, ist noch nicht ganz klar, da es z. T. auch noch an den technischen Vorausset-
zungen (schnelleres Internet und noch leistungsstärkere Rechner) fehlt. Auf der anderen
Seite ist die Konkretisierung jedoch schon zu weit vorangeschritten, um es einfach nur
als Spinnerei abzutun (Schuler, 2021a, b). Überholt wird dieses Konzept des Metaversum
durch das des sogenannten „Web3“, welches auf der Blockchain-Technologie basieren
und als dezentrales Online-Ökosystem von den Nutzer:innen kontrolliert werden soll.
Damit wäre es der radikale Gegenentwurf zu dem von den Großkonzernen wie Meta/
Facebook oder Alphabet/Google kontrollierten Internet, wie wir es heute kennen. (Schu-
ler, 2021b)

Das „Wir“ zur Abwehr einer „Zusammenbruchsbiografie“


Obwohl der deutsche Buchtitel „Der flexible Mensch“ des Soziologen Richard Sennett
(Sennett, 2008) zunächst einen ähnlichen Optimismus vermuten lässt, tritt bei ihm, wie
auch bei Ulrich Beck, der in der „Kultur des neuen Kapitalismus“ liegende Zwang zu
permanenter Flexibilität in den Vordergrund. Das „Regime“, wie Sennett die besonders
rücksichtslosen, neoliberalen Wirtschaftsvertreter nennt, testet dabei ständig, wie viel
„Dehnung“ durch häufig zu wechselnde Arbeitszeiten, Wohnorte, Arbeitsinhalte bzw.
-anforderungen und die Arbeitsgruppen dem Mitarbeiter zugemutet werden kann. Nach
Beck (1986) wird so gelegentlich aus der „Bastelbiografie“ eine „Bruch- oder Zusam-
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 215

menbruchsbiografie“. Durch eine auf Kurzfristigkeit und Elastizität ausgerichtete Wirt-


schaft wird zudem auch das soziale (Auffang-)Netz (Familie, Eltern, Kinder Freunde
etc.) destabilisiert, weil selbst natürliche Verpflichtungen (z. B. Vaterschaft) und tiefere
Bindungen nicht mehr gelebt werden können. Mögliche Folge ist, dass Betroffene neben
dem inneren auch ihres äußeren, d. h. sozialen Halts beraubt werden. Ein im schlimmsten
Falle orientierungsloses (Dahin-)Driften – wie Sennett es nennt – ist die Folge. Der
Mensch wird zum Spielball ökonomischer Interessen. Den Sehnsuchtsort, wo noch der
faustische Ausspruch „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“ (Goethe, Faust, 1. Teil,
„Vor dem Tor“, im „Osterspaziergang“) gilt, sieht Sennett in den Gemeinden bzw. an
Orten, wo „Menschen das Pronomen „Wir“ zu gebrauchen beginnen“ (Sennett, 2008,
S. 189). Doch dieses „gefährliche Pronomen“ (Sennett, 2008, S. 187 ff.) ist nach Sennett
janusköpfig. Denn zum einen kann es „als Waffe gegen die Welt da draußen“ (Sennett,
2008, S. 190), z. B. gegen Immigranten oder Außenseiter – i. S. von In-Group vs. Out-­
Group –, oder aber etwas generischer „als Abwehr gegen Verwirrung und Entwurzelung“
(Sennett, 2008, S. 190) benutzt werden. Zum anderen kann das „Wir“ Ausdruck eines
geteilten Schicksals und selbst gewählter, auf Vertrauen beruhender, gegenseitiger Ab-
hängigkeit sein. Einen (Ehren-)„Dienst“ z. B. in einem Verein oder einer wohltätigen
Organisation zu verrichten, ist ein konkreter Ausdruck dieser gemeinsamen Vernetzung
bzw. für das bewusste Knüpfen und Pflegen von sozialen Auffangnetzen. Doch einen
Dienst zu leisten, „in den Dienst zu gehen“ – wie in früheren Zeiten der morgendliche
Aufbruch zur Arbeit beschrieben wurde, sich „dienstbar“ zu machen, wird entweder nur
als „uncool“ oder sogar als Ausdruck von Schwäche und mangelnder Unabhängigkeit
oder Eigenständigkeit bewertet. Mit einem Verweis auf die Erkenntnisse des Bindungs-
forschers John Bowlby weist Sennett richtigerweise darauf hin, dass „[…] in Liebesbe-
ziehungen, in der Familie oder Freundschaft […] die Angst vor Abhängigkeit das Fehlen
von Vertrauen [bedeutet]; stattdessen herrschen defensive Reaktionen“ (Sennett, 2008,
S. 193). Die bereits in den USA (aus gutem Grunde) stärker verbreitete Kommunitaris-
mus-Bewegung sieht Sennett (Sennett, 2008, S. 197) als gesellschaftliche Gegenbewe-
gung, um Mitmenschlichkeit und Selbstlosigkeit wieder zu fördern. Das Bewusstsein
oder sogar das Bekenntnis, andere zu brauchen, sozial eingebunden zu sein, aber auch
das Gefühl, gebraucht zu werden, sieht Sennett (Sennett, 2008, S. 201 f.) als ein wirksa-
mes Mittel, um der kalten Gleichgültigkeit eines auf Isolation und damit Austauschbar-
keit ausgerichteten Systems entgegenzuwirken.

Von der „I-Dentity“ zur „We-Dentity“


Wurde mit dem Begriff des „Dividuums“ zu Anfang des vorherigen Abschnitts bereits auf
die geradezu zwangsläufige Vielfalt der Identitäten des modernen Menschen hingewiesen,
bezog sich diese immer auf reale Beziehungen zwischen sich real begegnenden Men-
schen. Mit dem Aufkommen der Social Media gesellten sich jedoch zu den ca. zehn rea-
len, sozialen Identitäten eines jeden Menschen unzählige virtuelle Identitäten i. S. eines
zusätzlichen „Netzwerk-Ichs“ hinzu. Alternativ und ganz im angelsächsischen IT-Slang
216 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

spricht die Studie des Züricher „Gottlieb Duttweiler Instituts“ nicht mehr vom Dividuum,
sondern in der Abwandlung des Begriffes der „Identity“ von der „We-Dentity“ (Höchli
et al., 2015). Sichtbar gemacht werden kann diese in den sogenannten „Maps of Identi-
ties“. Im Gegensatz zu früheren Zeiten erlaubt dieses Netzwerk-Ich, uns in zahlreicheren,
größeren, geografisch verteilteren und vielfältigeren Gruppen mit sehr verschiedenem En-
gagement zu bewegen. Und im Zuge all dieser Vernetzungsaktivitäten hinterlassen wir –
wie in Abschn. 2.2 dargestellt – permanent Datenspuren, welche durch Big-Data-­Analysen
in den Rechnern der Amazons, Meta/Facebooks und Alphabets zu einem digitalen Zwil-
ling der Person heranreifen. Nach dem etwas flapsigen Motto: „Every Like defines Mike!“
Entsprechend dem in der Technik bereits sehr zielgerichtet eingesetzten, durch Tausende
in Echtzeit prozessierte Daten entstehenden „Digital Twin“ einer Maschine (z. B. des
Triebwerkes eines Flugzeuges), erlauben diese Datensätze die Prognose, Wartung und
Weiterentwicklung des Systems. Transformiert man die „Wartung“ in „Kundenbetreuung“
oder eine modernere Variante des „Customer-Relationship-Management“, kann man er-
messen, welches Potenzial für die Digitalchampions Google (Alphabet), Apple, Facebook
(heute „Meta“) und Amazon – kurz „GAFA“ – in diesen Daten steckt. Fragt man wiede-
rum nach den Konsequenzen für die Nutzer, ist die völlige Transparenz aller willentlich,
sozial geteilten Aktivitäten für die Mitglieder der Community – aber vor allem auch die für
diese Daten zahlenden Kunden des GAFA-Kartells – offensichtlich. Dass darüber hinaus
im Hintergrund z. B. Bewegungsdaten des Nutzers abgegriffen werden, wird diesen meist
erst bewusst, wenn aufgrund der Standortverläufe z. B. Geschäfts- oder Restaurantemp-
fehlungen auf dem Endgerät erscheinen. Eine zweite, heute oft nur am Rande einer Be-
werbung intensiver diskutierte Situation ist z. B. der Rollenkonflikt der Identität im
Freundeskreis und als Bewerber:in auf eine Stelle in einem Unternehmen. Spätestens in
diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer, wie, was, wann und wo einsehen kann.
Gleich, ob man bei der Buchsuche bei Amazon die zusätzlichen Leseempfehlungen ande-
rer Leser schätzt, verbirgt sich dahinter eine weitere, potenziell kritische Folge der Inter-
netnutzung: Man wird immer umfassender von einer unmerklich sozial isolierenden Fil-
terblase umschlossen – bekommt immer nur noch mehr vom Gleichen, stößt zunehmend
nur noch auf Gleichgesinnte bzw. die gleichen virtuellen Identitäten. Ein Lösungsansatz
dazu verbirgt sich hinter dem im nächsten Abschnitt zu erörtenden, aber technisch noch in
den Kinderschuhen steckenden „Identity-Management“.

Ich messe, also bin ich – oder: Das vermessene Ich!


Leicht gemacht wird der Einstieg in die digitale Lebensprotokollierung selbst der brei-
ten Masse durch die schon für recht wenig Geld erwerbbaren Messinstrumente, wie
z. B. Fitnessarmbänder, Smartwatches oder Gesundheits-Apps (siehe auch Abschn. 2.1).
Und der oft damit verbundene, zunächst als spielerisch empfundene Wettbewerb steigert
sehr schnell die Mitmachbereitschaft in dem Sinne, dass die Datenübertragung bzw. die
damit verbundenen Maßstäbe akzeptiert werden. Gleiches gilt für die damit einherge-
hende Popularisierung der dahinterliegenden Prinzipien, wie z. B. Transparenz, Effizi-
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 217

enz/Effektivität, Selbstverantwortlichkeit, Evidenzbasierung und natürlich Leistung


(bzw. Leistungssteigerung).

Die individuellen Konsequenzen der Selbstvermessung bzw. des „Quantified Self“ wie
auch der Voraussetzung des sozialen Konstruktes „metrisches Wir“ hat das Fraunhofer-­
Institut 2016 im Rahmen einer Studie zur Technikfolgeabschätzung im Auftrag des Bun-
desministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) erarbeitet (Heyen, 2016). Wie Mau
(2017), identifiziert auch Heyen die Überwachungs-, Diskriminierungs- und Stigmati-
sierungspotenziale für den Einzelnen durch Institutionen wie Versicherungen, Banken,
Arbeitgeber oder wie im Fall von Shenzhen sogar den Staat.
Als Motive für den potenziellen Optimierungswahn sieht Selke neben der Umweltdy-
namik das Menschenbild der Community selbst, welches ihn als jemanden beschreibt, der
„unedel, suboptimal und risikobehaftet“ ist (Selke, 2018) und deshalb technische
­Hilfsmittel zur Perfektionierung benötigt. Mittels der „digitalen Alchemie“ soll aus etwas
eher Wertlosem Gold werden. Die tiefe Defizitorientierung des Ansatzes signalisiert un-
ablässig „Ich bin nicht o.k.“, wirkt als Stachel, permanent und möglichst präventiv an sich
zu arbeiten. Die oben erwähnte Verdachtskultur impliziert darüber hinaus „Du bist nicht
o.k.“! Verknüpfen die Anhänger der „Quantified Self“(QS)-Bewegung eher positive Uto-
pien mit ihrem Tun, würden alle anderen allein bei dem Gedanken, welches gesellschaft-
liche Klima sich daraus ergeben könnte, dieses Phänomen wahrscheinlich eher den Dysto-
pien zurechnen wollen. In ihren positiven Utopien sehen die QS-Anhänger, wie auch
Heyen (2016, S. 4), die Möglichkeiten zur Steigerung von Gesundheit, Produktivität und
Lebensqualität – heißen die damit einhergehende wachsende gesellschaftliche Responsi-
bilisierung (z. B. für die eigene Gesundheit) des Einzelnen für gut. Durch ein datenbasier-
tes und damit objektives Feedback hinsichtlich ihrer aktuellen körperlichen und menta-
len Verfassung kommt es nach ihren Vorstellungen zu einer Art Selbstexpertisierung.
Diese wiederum erlaubt ihnen überdies, die Patientenrolle gegenüber dem Arzt faktenba-
siert zu stärken. Stehen kritische Geister dem dahinterliegenden Ansatz „messen statt füh-
len“ skeptisch gegenüber, kann die mit den Daten oft verbundene Gebrauchsanweisung
für den Alltag (oder Teilaspekte davon) mit einem „gesunden Geist in einem gesunden
Körper“ für spezielle Personen in speziellen (VUCA-)Lebenslagen sicher hilfreich sein.
Die Konsequenz aus dem als Leitbild gedachten unternehmerischen Selbst von Bröck-
ling, sich in allen Lebenslagen kreativ, flexibel, eigenverantwortlich, risikobewusst und
kundenorientiert verhalten zu müssen, kann durch seinen umfassenden Anspruch auch
zum Schreckensbild werden. Denn der Wettbewerb – so Bröckling im Klappentext – un-
terwirft die Person dem Diktat fortwährender Selbstoptimierung. Aber keine noch so
große Anstrengung vermag die Angst in den Griff zu bekommen. So erscheint das Selbst
„[…] als reflexives Projekt, das sich allein oder mithilfe professioneller Berater, Thera-
peuten oder Coaches oder anderer Autoritäten einem permanenten Selbstmonitoring un-
terzieht, um die ‚Flugbahn‘ seines Lebens immer neu zu adjustieren, wobei mit den Chan-
cen der Selbstverwirklichung stets die Risiken des Absturzes einhergehen“ (Bröckling,
2016, S. 26). Wie auch schon bei dem vorangehenden Ansatz von Mau bzw. Selke wei-
218 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

chen potenziell auch bei diesem Konzept gesellschaftlich die Werte „Gleichheit“ und „So-
lidarität“ sukzessive dem Wettbewerb und individuellen Exzellenzbestrebungen. Brö-
ckling geht sogar einen Schritt weiter, wenn er das Konzept des unternehmerischen Selbst
in seinem latenten, ökonomischen Imperativ und seinem ökonomischen Imperialismus als
totalitär – oder in seiner unerreichbaren Realfiktion sogar als „paranoides Unterfangen“
beschreibt (Bröckling, 2016, S. 283). Parallelen zu Mau und Selke bestehen für Klienten,
die an ihrem unternehmerischen Selbst arbeiten wollen, auch in der immanenten Defizit­
orientierung. Denn das dahinterliegende, kybernetische Denk- bzw. Prozessmodell fokus-
siert auf Abweichungen bzw. auf Störungen, die permanent Signale zur Intervention sen-
den. Und diese die Subjektivierung vertiefenden Interventionen bestehen nach Bröckling
eher im Zu- oder Abrichten (von educare, erziehen) auf das unternehmerische Selbst hin
als in edukativen (von educere, herausführen), Entsubjektivierung befördernden Maß-
nahmen, „welche die Zwänge des Selbst-sein-Müssens zu überwinden versuchen, ohne
sich dabei in Selbstauflösung oder -auslöschung zu verlieren“ (2016, S. 286 f.). Diese den
Betroffenen aus dem Sog und mentalen Kraftfeld der Selbst- und Sozialtechnologien be-
freienden Aktivitäten würden es erlauben, anders zu sein – und dieses „[…] anders anders
zu sein, schließt die Verweigerung ebenso ein, wie die Verweigerung der Verweigerung“
(Bröckling, 2016, S. 286.). Kurzum würden das (Wahr-Gebungs-)Angebot und die Wahl-
möglichkeiten für das im „unternehmerischen Selbst“ gefangene Selbst i. S. eines guten
Coaching-Ansatzes sich wieder öffnen und erweitern. Davon mehr in Abschn. 4.3.3.

Die Begrenzung der Entgrenzung durch Gewerkschaften!?


Aus dem Konzept von Pongratz & Voß (2003, S. 228 f.) würden sich für die Klienten des
Typus „Arbeitskraftunternehmer“ Konsequenzen eher in einem sozialpolitischen bzw. ge-
sellschaftlichen Bereich auftun. Ziel dabei wäre die „Begrenzung der Entgrenzung“
über das Mitwirken an sich neu erfindenden Gewerkschaften oder – ganz radikal – bei der
Etablierung völlig neuartiger Interessenvertretungen für diese neuen Arbeitnehmer-
gruppen. Dass dies letztlich nur über einen echten Neuanfang möglich sein wird, sieht er
in einem „kulturellen Bruch“ (Pongratz & Voß, 2003, S. 229) zwischen den bestehenden
Gewerkschaften und der neuen Arbeitnehmergeneration, die zudem ihre Arbeitskraft in
völlig neuen Beschäftigungsformen (siehe Abschn. 4.4) anbietet. Nach ihrer Ansicht
„sprechen dafür Indizien der Fremdheit und Gereiztheit im alltäglichen Verständigungs-
prozess: von unterschiedlichen Sprachcodes über divergierende Deutungsmuster bis hin
zu einem kontrastierenden Arbeitshabitus“ (Pongratz & Voß, 2003, S. 229). Denn die Be-
triebsräte in klassischen Unternehmen sprechen eher selten die „Sprache der Leistungsop-
timierer“ der New Economy, bei denen Arbeit mit Erfolg, Spaß und Erlebnisqualität kon-
notiert werden will. Dies steht nach Pongratz & Voß (2003, S. 230) im Widerspruch zu
einer Situation, in welcher der Grundtenor von Interessenvertretungen immer noch der
einer Leidens- und Opfergemeinschaft ist. Arbeitsfelder für den Klienten und seinen
Coach wären die Konsequenzen, welche sich aus den drei Dimensionen des Arbeitskraft-
unternehmers (Selbstkontrolle, -ökonomisierung, -rationalisierung) für diese (Klienten
der Coaches) ergeben. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob und ggf. wie die Zunft der
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 219

Coaches sich überhaupt in derartige sozialpolitische Diskussionen einbringen will. Nach


Pongratz & Voß (2003, S. 238) sollte dies in Form der „dritten Säule der Interessenvertre-
tung“ geschehen und dabei sogar einen bis dato offenen Bedarf befriedigen (Pongratz &
Voß, 2003, S. 249). Ein interessanter Neuansatz in diesem Sinne könnte als Teil der ehr-
würdigen Oxford University das Oxford Internet Institute mit seinem Project Fairwork
(Oxford Internet Institute, 2021a, b, c, d) bzw. seinen fünf Prinzipien für mehr Fairness für
Cloud- und Gigwork sein (Oxford Internet Institute, 2021a, b, c, d).

4.3.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Wurden in den vorangegangenen Kapiteln mit den Stichworten „Zerfall von Sinnwelten“,
Dividuum, Subjektivierung und Responsibilisierung, dem „metrischen Wir“, „Datakratie“
und Verdachtskultur sowie der Selbstverwertung, -ökonomisierung und Selbstrationalisie-
rung bzw. -vermessung etc. auch gesellschaftliche bzw. gesellschaftspolitische Themen
angesprochen, wäre nun zu fragen, was diese Veränderungen der Lebenswelt der Klienten
für den Service „Coaching“ im weiteren Sinne – also auf einer Meso- oder sogar Makro-
ebene – bedeuten könnten. Mögliche Antworten deuten nach Ansicht des Autors in Rich-
tung einer stärkeren Kontextualisierung und Vernetzung bzw. Kollaboration des Coa-
chings. Doch was heißt das konkret?

Kontextualisierung – oder „Bitte raus aus dem Puppenhaus!“


Sprechen wir hier von Kontextualisierung, meinen wir die stärkere Einflussnahme von
Coaches in gesellschaftlichen, in sozial-politischen oder kulturellen Bereichen, wie
z. B. (einer neuen Form von) Gewerkschaften, Schulen und Universitäten, dem Gesund-
heitswesen, Verbänden und Parteien, in kommunalen und bundesstaatlichen Institutionen
oder als Business-Coaches der Gesamtorganisation im Rahmen einer Organisationsent-
wicklungsmaßnahme usw.

Denn mit Uwe Böning und Frank Strikker (Böning & Strikker, 2014) ist zu fragen, ob
Coaching (zukünftig weiterhin) nur Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen oder
auch Impulsgeber sein will. In der ersten Variante sehen die beiden Autoren bei allen Un-
terschieden (Individuen- vs. Gesellschaftsfokussierung) den in der modernen (Arbeits-)
Welt immer bedeutsameren Wert der Authentizität als das verbindende Element. Und diese
Hypothese scheint sich zu Anfang der 2020er eher noch zu untermauern! Denn gleich ob
Führungskraft oder Politiker: Ohne diese Glaub- bzw. Vertrauenswürdigkeit und Sympathie
schaffende Eigenschaft geht angesichts immer unschärferer Rollendefinitionen nichts
mehr. Und in dieser Welt des „What you see is what you get!“ finden Coaches als „Authen-
tizitäts-Spezialisten“ (Böning & Strikker, 2014, S. 492) i. S. der Entwicklung der entspre-
chenden kognitiven und emotionalen Verhaltensweisen ihre Arbeitsfelder. Die beiden Au-
toren vermissen dabei jedoch – trotz der zahlreichen, die Professionsbildung vorantreibenden
220 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Verbandsgründungen von Coaches um die Jahrtausendwende – deren offensive Einmi-


schung in das politische Geschehen in Deutschland. Sie vermissen deren „Willen zur
Macht“ im Sinne eines gesellschaftlichen Gestaltungsanspruches. Und die vermeintli-
chen Ursachen für dieses Manko reichen hinsichtlich der heute tätigen Coaches (der Gene-
ration der Traditionalisten, Babyboomer und Gen X) nach Ansicht von Böning & Strikker
(2014, S. 495) von einfachem Desinteresse und/oder Selbstunsicherheit, persönlicher Be-
scheidenheit über Ernüchterung oder gar Resignation nach vielen vergeblichen Versuchen,
Gesellschaft zu verändern, bis hin zum Rückzug auf die Befriedigung nur noch der eigenen
Glückserwartungen – „oder radikal-realistischen Einschätzung der eigenen Reichweite, die
einfach nur eigenen Frust verhindern soll“? So stellt sich i. S. der aktuellen Publikation von
Böning & Strikker (2021) zu dem Thema mit dem stärker zugespitzten (Unter-)Titel für die
Community die Frage, inwieweit sie das Coaching im Spannungsfeld „zwischen Glücks-
versprechen und gesellschaftlicher Verantwortung“ vor einer weiteren „romantischen
Phase“ und damit vor einem Abstieg in die Bedeutungslosigkeit bewahren kann.
Eine erste umfassendere theoretische Aufarbeitung des Verhältnisses von „Coaching
und Gesellschaft“ findet man 2016 in der gleichnamigen Publikation von Wegener, Lo-
ebbert & Fritze (Wegener et al., 2016a, b). Die vielfältige, gesellschaftliche Durchdrin-
gung von Coaching umreißt das gleiche Herausgebertrio in seiner Veröffentlichung „Zur
Differenzierung von Handlungsfeldern im Coaching“ (Wegener et al., 2016a, b)
Und auch in der Generation Y und Z von Coaches scheint gesellschaftliches Engagement
der Ausgangspunkt für Coaching-Aktivitäten zu sein. So zeichnet sich bei der aktuellen
Klimadiskussion und ihrer „Fridays-4-Future“-Bewegung vielleicht mit der nächsten Gene-
ration an Coaches ein nicht nur auf die Coaching-Dyade beschränktes Coaching-Verständnis
ab. Beispielhaft sei hier das Projekt „ProjectTogether“13 genannt, welches 2013 aus einer
Schülerinitiative entstanden ist. Laut Webpage unterstützt die Initiative als gemeinnützige
Unternehmung „die Talente der nächsten Generation, bahnbrechende Ideen und konkrete
Lösungen für die Zukunft zu entwickeln und im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wirtschaft
und Politik effektiv Veränderung zu bewirken“. Sie versteht sich als eine „Social Accelerator
Platform“ für junge Visionär:innen. Die Organisation hat 2020 bereits über 850 junge, sozi-
ale Gründer:innen begleitet und ein Netzwerk aus über 500 ehrenamtlichen Coaches aufge-
baut. Dabei bilden die 17 „Sustainable Development Goals“ (SDG) der UN den Rahmen für
die initiierten Projekte. Nicht Ideologie, sondern konkrete Lösungen sind gefragt. Mit einem
strukturierten Coaching-Programm einerseits und den engagierten Gründer:innen, Experten
und Partnern andererseits befähigt ProjectTogether junge Talente, erfolgreich ihre Unterneh-
mungen für eine bessere Welt im Sinne der SDGs aufzubauen.
Einen ähnlich breiten Blick auf das Coaching hat neben Uwe Böning und Frank Strik-
ker einer der anderen Coaching-Pioniere in Deutschland, Bernd Schmid. Obwohl – oder
gerade weil – beide der Nachkriegsgeneration angehören, erkannten sie schon früh, dass
die alleinige Zentrierung auf die Coach-Klienten-Dyade dem umfassenden, humanisti-
schen und vor allem dem systemischen Anspruch des Coachings langfristig nicht gerecht

13
https://projecttogether.org/. Zugegriffen am 17.09.2020.
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 221

werden kann. Konsequenterweise zieht sich das Thema „Kultur“(verantwortung) und


„Humanes Wirtschaften“ bei Bernd Schmid seit über 20 Jahren durch sein Werk. Mit sei-
nem Unternehmenskonzept der Kultur bzw. Kulturverantwortung adressierte Schmid
bereits 1996 (Schmid, isb Campus, 1996) alle Fachleute im Bereich der Humanressour-
cen, d. h. Personalentwickler und Berater. Ziel der Kulturarbeit auf einer Mesoebene sollte
die Stärkung der Vitalität von Unternehmen bei gleichzeitiger Lebensqualität der beschäf-
tigten Menschen sein (Schmid, 1996, S. 1). Berater und Human-Resources-Manager soll-
ten zu Kulturexperten werden. Dabei verbindet Schmid den Begriffsteil der „Kultur“ mit
Arbeits-, Kommunikations-, Verbindlichkeits- und Führungskultur, den Begriffsteil der
„Verantwortung“ mit den Aspekten der Verantwortungsisolation, -erosion und der Verant-
wortungskonfusion. Kulturmaßnahmen bzw. Kulturprobleme verhalten sich dabei ­reziprok
zur Ergebnisorientierung als dem zentralen Sinn einer Wirtschaftsorganisation (Schmid,
1996, S. 9). Er endet in diesem Vortragspapier mit der Frage (Schmid, 1996, S. 11 f.):
„Was können – oder müssen vielleicht – wir Professionellen im Bereich Humanressourcen
zum Umgang mit gesellschaftlichen Fragen beitragen?“ Gemäß Bernd Schmid besteht
eine klare Mitverantwortung für diesen Gesellschaftsbereich und er fordert sogar, diese
Meso- oder Makroebene zu einem Bestandteil des Selbstverständnisses der Community
zu machen. Dieser Appell blieb in der Community jedoch zunächst sehr lange ohne nach-
haltige Resonanz. Erst 2017 – also mehr als ca. 20 Jahre später – wurde dieser Gedanke in
einem Positionspapier des Deutschen Bundesverbandes Coaching e.V. „Organisationsbe-
züge im Coaching“ (DBVC-Präsidium, 2017) offiziell wieder aufgegriffen. Dass es je-
doch nicht proaktiv, sondern reaktiv diskutiert wurde, ist ein weiterer Beleg für den in der
Einleitung angesprochenen, langen Dornröschenschlaf der Community. Vielleicht sollte
sie stärker auf die altgedienten Prinzen unter ihnen – wie z. B. Bernd Schmid – achten und
deren erfrischende und belebende Küsse willkommen heißen.
Das andere, sich auf der Makroebene bewegende Konzept des studierten Volkswirtes
Bernd Schmid sind die 2012 veröffentlichten „Orientierungspunkte für humanes Wirt-
schaften“ (Schmid, isb Campus, 2012). Mit dem geradezu aufklärerischen Untertitel
(Bleib Kind, wenn Dir „des Kaisers neue Kleider“ vorgeführt werden) umreißt Schmid in
dem Artikel in zehn Statements und Kommentierungen zu den Themen Komplexitätsver-
arbeitung bzw. gesunder Menschenverstand, Geld und der Umgang mit ihm, das Verhält-
nis von Leistung und Kultur, Wirtschaft und die Erzeugung von Mehrwert, die Erhaltung
von Ressourcen sowie der Zusammenhang von Wirtschafts- und Gesellschaftskultur ein
Modell humanen Wirtschaftens, welches sich am Ende sogar für jeden auszahlen kann.
Denn „jeder hat Spielräume, auch die ‚Kleinen‘, besonders, wenn sie gemeinschaftlich
agieren. Doch gilt das genauso für die Großen. Am Ganzen gemessen sind auch sie klein
und die meisten empfinden das auch so. Alle sollten ihr Streben nach menschlicher Würde
wachhalten und sich um Kettenreaktionen des Guten bemühen“ (Schmid, isb Campus,
2012, S. 5). Organisatorische Ankopplungspunkte würden sich z. B. über die um 2010
entstandene Bewegung der Gemeinwohlökonomie (Wikipedia, 2021b) anbieten.
Einen wiederum sehr konkreten Ansatz auf einer Mesoebene entwickeln Pongratz und
Voß mit ihrer Idee einer „triadischen Struktur (Pongratz & Voß, 2003, S. 248 f.) im Ge-
222 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

werkschaftsumfeld. Im Fokus dieser Interessenvertretung sollte nach Pongratz und Voß


die Selbstökonomisierung von Arbeitskraft stehen, d. h. Fragen der Berufswahl, Berufs-
planung, Weiterbildung und persönlichen Bildung, der betrieblichen Karriere und berufli-
chen Mobilität und Unterstützung in Krisen. Dabei sieht er auch persönliches Coaching
als ein probates Format – aber eben auch die Organisation sozialer Netzwerke für den
überbetrieblichen Informationsaustausch, Vertragsblaupausen oder Honorarrichtlinien für
Freiberufler. Obwohl im Zuge der Modernisierungsanstrengungen der bestehenden Ge-
werkschaften zu Anfang der 2000er-Jahre partiell von den bereits existierenden Institutio-
nen angegangen (z. B. für die beiden von ver.di lancierten Organisationen „connexx-av“
für Medienschaffende und die interne Gruppe „upgrade-jetzt“ bei dem IT-Unternehmen
SAP SE sowie der Mitbewerber der IG Metall im gleichen Haus „ProMitbestimmung“),
sehen beide Autoren diese Themen eher in einer neuen, „dritten Säule der Interessen-
vertretung“. Diese müsste sich jedoch durch ihren starken Individualisierungsgrad von
traditioneller gewerkschaftlicher Arbeit unterscheiden. „Denn die Interessenlagen in der
Dimension der Selbstökonomisierung weisen hoch individualisierte Ausprägungen auf,
welche nicht stell-vertretend, sondern nur selbst-vertretend gelöst werden können“ (Pon-
gratz & Voß, 2003, S. 249). Die bereits im vorherigen Kapitel genannte Organisation
„Fairwork“ mit ihren fünf Prinzipien für humane Arbeitsbedingungen im Rahmen der
Cloudwork (Oxford Internet Institute, 2021a, b, c, d) könnte als Netzwerk für viele Gig-
oder Crowdworker zu einer neuen Heimat werden. Mit der sich aus dieser kennzeichnen-
den Individualisierung ergebenden Themenvielfalt bei den Arbeitskraftunternehmern sind
für den Coach von morgen eine gewisse Kollaborationsbereitschaft und Vernetzung über
die eigenen Themen- und Arbeitsgebiete hinaus sowie die Fähigkeit zur Anpassung an
fremde Milieus bei Grenzüberschreitung wahrscheinlich unerlässlich, ein Gefühl der sozi-
alen Verantwortung, Aufgeschlossenheit und Neugier die motivatorische Basis.

Offen für Vernetzung und Kollaboration – Systemik nicht nur als


Glasperlenspielerei
Sind Öffnung, Durchlässigkeit, Austausch etc. die Insignien der modernen Lebens- und
Arbeitswelt, ist die Coaching-Landschaft scheinbar noch in ihren Wahrnehmungsgrenzen
des Systems „Coaching“ eingeengt. Und wenn dann doch einmal eine Öffnung in Rich-
tung eines neuen Teilaspektes der Unternehmens- bzw. Lebenswelt – wie z. B. im Falle der
Digitalisierung – geschieht, dann vollzieht sich dies eher zaghaft und verspätet. Etwas
überspitzt könnte man zuweilen den Eindruck gewinnen, dass man sich nur unter seines-
gleichen wohlfühlt, denn man findet z. B. eher selten auf Coaching-Kongressen themen-
fremde Sprecher oder Vortragende aus angrenzenden oder (scheinbar) weit entfernten
Fachgebieten. So pflegt man gemeinsam seinen humanistischen Idealismus in einer aus-
beuterischen Welt. Ältere, frustrierte Berufsaussteiger finden in der Coaching-Community
eine Möglichkeit, zusammen die Wunden ihrer Zeit als Angestellte bzw. Mitarbeiter zu
lecken und endlich „was mit Menschen zu machen“. Die idealistische, romantisierende
Bruderschaft läuft jedoch nach Ansicht des Autors Gefahr, die Welt um sich herum zu
vergessen. Eine Überprüfung oder gar ein Spiel mit den ihr offensichtlich Identität und
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 223

Geborgenheit vermittelnden Systemgrenzen findet – wenn überhaupt – nur sehr halbher-


zig statt. Oder um es paraphrasierend erneut mit dem schon genannten Buchtitel von Bö-
ning und Strikker (Böning & Strikker, 2021) zu sagen: Das Coaching scheint sich in der
Phase einer zweiten Romantik zu befinden, die auch nach Ansicht des Autors über den
Abstieg oder Aufstieg des Formates entscheiden wird. Doch welche Systemgrenzen soll-
ten überschritten, welche (teilweise) neuen Themengebiete mutig exploriert werden, bzw.
mit welchen anderen Fachbereichen soll kollaboriert werden? Erste Ideen könnten in fol-
gende Richtungen gehen:

• IT/Digitalisierung (in Unternehmen und Gesellschaft): alle Themen aus Kapitel 2.0,
Kollaborationstools zum virtuellen Arbeiten und virtuellen Coachen; Identity-­
Management, Marketing und Social Media (wenngleich COVID-19 dem Ganzen hier
sicher einen unfreiwilligen Push verliehen hat)
• Digitale Ethik, die den Einsatz und Umgang mit digitalen Technologien thematisiert
• Cybertherapie und ihre Parallelen und Transfermöglichkeiten
• Gesundheit(-spolitik) sowie die substanziellen Konzepte (z. B. Resilienz) hinter den
Trendbegriffen „Wellness“ und „Wellbeing“
• Medizin und Neurologie bzw. Psycho- und Neuropharmaka bzw. deren Neuentwick-
lungen und die damit verbundenen Gefahren
• Organisationsentwicklung und Organisationstheorien, welche auf Agilität und Fluidität
der Organisation abzielen
• Gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen und Modelle (z. B. Gemeinwohl-
ökonomie), mit einer soziologischen, philosophischen, psychologischen oder politi-
schen Brille betrachtet
• Politisches Engagement bzw. Lobbyismus hinsichtlich des immer noch fehlenden Ti-
telschutzes

Sind wir in dem Kapitel mit Bernd Schmid eingestiegen, möchten wir ebenfalls mit ihm
bzw. seinem Zitat von Thorwald Detlevson schließen: Es ist besser, aus freier Verantwor-
tung aufzubrechen! Der Autor möchte hinzufügen: und sich neugierig der rasant verän-
dernden Arbeits- und Lebenswelt der Klienten zu öffnen, um sich von ihr zu Innovationen
anregen zu lassen.

4.3.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Die Konsequenzen auf der Mikroebene – also für die Themen, Methodik bzw. das Lern-
format und Konzepte oder natürlich die alltägliche Praxis des Coachings – stellen sich für
den Autor wie folgt dar.
Eine Renaissance erlebte die oben angeführte Idee der Kulturarbeit durch das Positi-
onspapier des Deutschen Bundesverbandes Coaching e.V. (DBVC e.V.) „Organisationsbe-
züge im Coaching“ (DBVC-Präsidium, 2017). Durch den steigenden Anspruch der Orga-
224 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

nisationen und der darin arbeitenden Menschen fordert das Präsidium des DBVC die
Coaches darin auf, ihr Themenspektrum zu erweitern und als Mitglied des Beratersystems
in der Rolle eines „Zehnkämpfers“, „Integrators“ (DBVC-Präsidium, 2017, S. 1) zu
gehen oder aber als „Anwalt für Lernprozesse“ diese „abgleicht, klärt, konzipiert, an-
regt, konfrontiert und steuert. Für entsprechende Coaches mit hoffentlich solidem
OE-Wissen bzw. solider OE-Erfahrung bedeutet dies jedoch, statt als Einzelkämpfer
immer häufiger als Teil eines Teams oder Netzwerkes agieren zu müssen (DBVC-­
Präsidium, 2017, S. 2). Eine wegweisende Plattform könnten diese in dem von Bernd
Schmid, 2014 ins Leben gerufenen „International Network for Organization
­Development and Coaching (INOC)“ (INOC, 2020) finden. Als selbst erklärter „Think
Tank for OD and Coaching“ möchte die Organisation auf der Grundlage humanen Wirt-
schaftens und einer menschenwürdigen Gesellschaftskultur ungewöhnliche Ansätze und
Methoden für OE und Coaching fördern. Vision der Community ist es laut Homepage, die
Zukunft von OE und Coaching über Disziplinen, Generationen und Kulturen hinweg zu
ko-kreieren.
Eine wichtige konzeptionelle Basis für die OE-Arbeit legte, insbesondere für die Sys-
temiker unter den Coaches, Peter M. Senge mit seinem kurz vor der Jahrtausendwende
(1990) veröffentlichten Bestseller bzw. der Bibel aller Change-Agents „Die fünfte Diszi-
plin“ (Senge, 1999). Mit einer Systemikern sehr vertrauten Begrifflichkeit beschreibt er
darin das erforderliche Zusammenspiel von fünf Faktoren einer wahrhaft lernenden Orga-
nisation, d. h. einer Organisation, in der es neben dem „adaptiven Lernen“ auch zu dem
überlebenswichtigen „schöpferischen Lernen“ (Senge, 1999, S. 24) kommt. Katalysatoren
dieses schöpferischen Lernens sind neben dem Faktor „Personal Mastery“ und den men-
talen Modellen und Visionen der Menschen in einer Organisation das Team-Lernen sowie
die als zentral angesehene fünfte Disziplin des Systemdenkens. Insbesondere in den bei-
den erstgenannten Disziplinen „Personal Mastery“ als Disziplin der Selbstführung und
Persönlichkeitsentwicklung sowie den mentalen Modellen eröffnet der ehemalige Profes-
sor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge Coaches Ansatzpunkte
für die Mitarbeit in auch größeren, organisatorischen Veränderungsprojekten. Unterstützt
die Arbeit an den mentalen Modellen die wiederkehrende Bewusstmachung bzw. Hinter-
fragung der eigenen Wahr-Gebung und überprüft derart kontinuierlich die verbliebene Of-
fenheit der eigenen Annahmen über die Welt, sorgt die „Personal Mastery“ als Eckpfeiler
der lernenden Organisation für die geduldige, zielgerichtete und professionelle Umset-
zung der angestrebten Idee oder Vision der eigenen Person oder einer Organisation. Als
Steinbruch für systemische Lernarchitekturen und -designs kennt jeder auch nur kurzfris-
tig in diesem Bereich tätige Praktiker die Interventionsbibel von Königswieser und Ex-
ner (1999).
Das soeben indirekt angedeutete Thema von Lernhemmnissen (siehe auch Abschn. 4.2)
bzw. Widerständen gegen individuelle und organisatorische Veränderungen, welches bei
Peter Senge nur in einem Kapitel explizit beschrieben (Senge, 1999, S. 28–37) wird,
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 225

wurde 2006 von den Autoren Robert Kegan und Lisa Laskow Lahey in ihrem Buch „Im-
munity to Change“ (Kegan & Laskow Lahey, 2009) wissenschaftlich fundiert und mit
großem Praxisbezug dargelegt. Es ergänzt mithin das Senge-Konzept in idealer Weise.
Die inzwischen auch unter manchen Coaches äußerst populäre „Theorie U“ könnte für
die Community mit ihrer psychologischen Dimension ein weiterer interessanter konzepti-
oneller Einstieg von Veränderungsprozessen mit auch mehr als einer Person sein. Ziel des
auf einer fast zehnjährigen Forschungstätigkeit am MIT basierenden Ansatzes von Otto
Scharmer (Scharmer, 2008) ist es, angesichts der wachsenden Komplexität, der sich Füh-
rungskräfte gegenübersehen, eine kollektive Führungsfähigkeit herzustellen, welche je-
doch beim Einzelnen beginnt. Dieses Ziel kann jedoch nur erreicht werden, wenn diese
Personen sich ihrer blinden Flecken hinsichtlich der eigenen Führung bewusst werden.
Scharmer bezeichnet diesen Prozess mit der Wortschöpfung „Presensing“, bestehend aus
den angelsächsischen Begriffen „Presence“ (Gegenwart bzw. Anwesenheit) und „sensing“
(hineinspüren). Ein Beispiel für die sich dabei potenziell von innen heraus verbessernde
Leistungsfähigkeit ist das im Spitzensport vor dem eigentlichen Einsatz schon lange prak-
tizierte mentale Training von Sportlern. Denn auch hier beeinflusst die Qualität der Auf-
merksamkeit für eine Situation die Art, ob und wie sie sich verwirklicht. In dem von ihm
beschriebenen U-Prozess (Scharmer, 2009) wird diese Struktur der eigenen Aufmerksam-
keit bewusst gestaltet. Dem Presensing geht jedoch zunächst immer ein das Denken, Füh-
len und Wollen öffnender „Sensing“-Prozess voraus. Dem Herzstück des Presensing folgt
die das Gedachte realisierende, kreierende bzw. praktisch umsetzende „Performing“-Phase.
Handelt es sich dabei um einen kollaborativen Gruppenprozess, spricht Scharmer von
Co-Sensing, Co-Presensing und Co-Creating. Details dazu finden sich in den vorgenann-
ten Publikationen.
Infolge ihrer bereits erfolgten Bewährung in der Praxis und ihres positiven Images
könnten die „fünfte Disziplin“, die „Immunity to Change“ sowie die „Theorie U“ zu ei-
nem guten, konzeptionellen Bezugs- und Profilierungsrahmen für eine neue oder sich er-
weiternde Gilde an Coaches in Organisations- bzw. Veränderungsprojekten werden. Sehr
praxisbewährte Tool-Sammlungen, Designs und Modelle finden sich bei dem deutschen
OE-Klassiker von Klaus Doppler „Change Management“ (Doppler & Lauterburg, 1994)
oder dem neueren Herausgeberwerk „Werkzeuge des Wandels“ (Roehl et al., 2012). Für
bekennende Systemiker unter den OE-Spezialisten empfiehlt sich für das Thema Verän-
derungsdesign seit fast zwei Jahrzehnten das Buch der Neuwaldegger Beratergruppe
„Systemische Interventionen“ (Königswieser & Exner, 1999).
Die im vorherigen Abschnitt dargestellten, soziologisch geprägten Identitätstheorien
bieten zudem Anregungen für die Hypothesenbildung im Umgang mit Klienten der neuen
Arbeitswelten. Sind Biografien und Identitäten eher narrative Konstruktionen, könnte der
Coach angesichts unvermeidbarer Dilemmata, zu großer Wahlmöglichkeiten, permanenter
Überforderung oder gar manifester Erschöpfung, Entwurzelung sowie der permanent lau-
ernden IdentitätsDekonstruktion auf der Klientenseite diese Herausforderungen als Anlass
zur Entwicklung für eine ästhetisch-kreative Identitätsbildung nutzen. Sei es als Reali-
226 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

tätskellner bzw. „Bastelhelfer“ für die „Crazy Quilts“ von Keupp (Keupp, 1989) oder
durch die Schaffung von Ruhezonen, Distanzierung mittels Ironie oder einfach passiver
Resistenz, wie bei Bröckling mit der von ihm beschriebenen „Kunst, anders zu sein“ (Brö-
ckling, S. 283 ff.). Das ist für die Arbeit von Coaches jedoch nicht wirklich neu! Haben
aber die Identitätskonstruktionen zudem einen virtuellen Aspekt und berühren dadurch das
Netzwerk-Ich, gilt es infolge der großen Verstreutheit und Vielfalt der We-Dentity durch
ein gezieltes und abgestimmtes, IT-technisches wie personenbezogenes Identitätsma-
nagement (= IM; im anglisierten Sprachgebrauch „Identity Management“) z. B. vor den
oben erwähnen Rollenkonflikten sowie den unmerklich isolierenden Filterblasen im Netz
zu schützen bzw. präventiv und aktiv daran zu arbeiten. So stößt sich z. B. bei den
­personenbezogenen Rollenkonflikten womöglich die Darstellung eines intensiven, famili-
ären Privatlebens (drei Kinder, ein großer und lebendiger Freundeskreis) auf Facebook an
der beruflichen Darstellung auf XING oder LinkedIn (Karrierewunsch verbunden mit
mehrjährigem Auslandsaufenthalt). Die mit der größeren Transparenz verbundene soziale
Kontrolle beeinflusst daher potenziell, was man wo und wie man etwas darstellt. Die völ-
lige Neutralisierung aller Ecken und Kanten oder gar Widersprüchlichkeiten als eine Ge-
genmaßnahme würde dabei letztlich jedoch zur Profillosigkeit und Austauschbarkeit und
damit zu fehlenden, individuenspezifischen Anknüpfungs- und mithin Vernetzungsmög-
lichkeiten führen. Eine Strategie für die Balancierung zwischen dem eigenen Wunsch,
generell authentisch zu sein, und den verschiedenen sozialen Verhaltensnormen in unter-
schiedlichen Kontexten zu finden, ist eine permanente Baustelle für den Klienten und
seinen Coach. Ein Coach mit sozialwissenschaftlicher Herkunft könnte wahrscheinlich
jedoch nur unter Hinzuziehung eines digitalen IM-Experten eine befriedigende Lösung
erzielen – insbesondere für den digitalen Aspekt des Identity-Managements.
Bei dem digitalen Aspekt des Identity-Managements gibt es aktuell zwei Strategien.
Zum einen, Datenspuren zu vermeiden oder diese zur Vermeidung von Diskriminierung zu
neutralisieren. Zum anderen, Datenspuren zu optimieren, um sich zu profilieren und sich
Zugang zu Vorteilen zu verschaffen. Bei Ersterem besteht jedoch die Gefahr, sich als glä-
serner Kunde oder Bürger einer Organisation oder Institution auszuliefern – im Falle der
zweiten, seinen Netzwert in Form der medialen Reputation (z. B. Anzahl der Querver-
weise und Zitationen) und an sozialem Status (z. B. Anzahl der Follower, Likes, Kommen-
tare) zu verlieren. Es gilt daher die verschiedenen Identitäten – oder auch nur Facetten
davon – situationsbezogen so zu mischen, dass der Nutzer möglichst wenig Nachteile,
aber viele Vorteile daraus ziehen kann. Technisch gesehen steckt diese Balance zwischen
Opazität und Transparenz infolge ihrer Komplexität noch eher in den Kinderschuhen. Ba-
sierten die bisherigen IM-Systeme nur auf dem Prinzip der Datensparsamkeit bzw. -mini-
mierung, versuchen die neueren Systeme genau dies zu tun und geben nur maßgeschnei-
dert und für den Nutzer vorteilhafte Daten frei. Erfahrbar wird dies für den Laien schon
heute anhand der z. B. bei Amazon angezeigten Produktempfehlungen und Werbeeinblen-
dungen. Je nach gespeichertem Nutzerprofil bzw. dem Such- und Kaufverhalten variieren
sie im Inhalt, in der Häufigkeit, dem Preisniveau der Produkte etc., um einen Zusatzkauf
anzustoßen. Böte eine Plattform wie z. B. Amazon dann Coaching-Services an (siehe dazu
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 227

auch Abschn. 5.1), wüsste der Amazon-Coach z. B. anhand des Leseprofils (z. B. durch
die Bestellung von Selbsthilfebüchern) bereits vorab, welche Themen oder Interessen,
aber auch welche Kaufkraft der Klient mitbringen würde, d. h. in welcher Höhe das Ho-
norar festgesetzt werden könnte. Aber das ist (glücklicherweise) noch Zukunftsmusik!
Weist Sennett mit seinem Buch über den flexiblen Menschen eher auf die potenziell
prekären Aspekte der Identitätsbildung in der zukünftigen Lebens- und Arbeitswelt hin,
könnte – wie auch von ihm vorgeschlagen – die notwendige Erdung in lokalen Aktivitäten
für das Gemeinwesen bestehen. Aufgabe des Coaches könnte sein, den potenziellen Wert
einer erneuten physischen Verankerung in lokalen Institutionen wie Vereinen, Freund-
schaftsgruppen Netzwerken mit dem Klienten herauszuarbeiten. Dies wäre dabei umso
glaubwürdiger, je stärker er selbst als Rollenmodell an einem solchen Wir-Gefühl mitar-
beitet und sich für das Gemeinwesen engagiert. Dass Sennett mit dieser Bedarfsanalyse
richtig lag, zeigte die durch das Zukunftsinstitut 2015 angefertigte Trendstudie „Die neue
Wir-Kultur“ von Kirsten Brühl (Brühl & Pollozek, 2015). In ihrer „Landkarte des Wir“
kann sie ca. 10 Jahre nach Sennett entlang der zwei Dimensionen „Grad der Vergemein-
schaftung“ und „Grad des individuellen Engagements“ sogar eine Ausdifferenzierung von
vier Wir-Clustern (Weltverbesserer-Wirs; Optimierungs-Wirs; Effizienz-Wirs; Sympathie-­
Wirs) ausmachen, welche sich schließlich über den dominantesten Wert (Solidarität; Zu-
sammenhalt; Effizienz; Offenheit) und über die Absichten (alternative bzw. experimen-
telle Formen des Zusammenlebens; persönliches Wachstum durch Vergleich und Sparring;
schnellere und flexiblere Abstimmung; Ressourcen-Sharing und mehr Selbstbestimmung)
unterscheiden. Die von ihr schon vor 10 Jahren aufgeführten zahlreichen, über die ganze
Welt verstreuten, real existierenden Beispiele lassen vermuten, dass diese bis heute eher
noch zugenommen haben.
Eine Metatheorie (Eidenschink, 2020a) für die aus den instabilen Verhältnissen resul-
tierende Anforderung, permanent das Vertraute loszulassen und derart auch psychisch
haltlos zu werden, entwickelte Klaus Eidenschink. Gemäß seinen „sechs Thesen zur Psy-
chodynamik der Unbehaustheit“ (Eidenschink, 2020b) müssen „[…] Menschen – meta-
phorisch gesprochen – die Fähigkeit entwickeln, in Netzen ihr Nest zu bauen und ihren
Raum im sozialen Schaum finden. Die Zeiten fester Gemäuer und Gebäude, die Zeiten
stabiler Gruppen von Gleichartigen, die Zeiten von Vertrautheit mit einer bekannten Welt
ohne große Überraschungen neigen sich dem Ende zu.“ So ist es nach Eidenschink Auf-
gabe des Coaches, bei dem Klienten die generelle Fähigkeit, Sicherheit im Wandel zu
erleben zu entwickeln. Als Ressource soll der individuelle Reichtum seines Innenlebens
herangezogen werden. Die Möglichkeit des Klienten, unter den heutigen Bedingungen ein
Wohlgefühl zu entwickeln, sieht Eidenschink neben der generellen Genussfähigkeit in
ihrer Kompetenz zur Eigenregulation und Fähigkeit, Spannungen oder gar Frustra-
tionen zu ertragen. Er sieht die Menschen diesen Anforderungen der kommenden Welt
sogar nur dann gewachsen, wenn es ihnen gelingt, diesen Kompetenzsprung hinsichtlich
ihrer Resilienz zu vollziehen.
Umrissen werden die Konsequenzen der „digitalen Alchemie“ für den Klienten im
Rahmen des „Lifeloggings“ von Stefan Selke bzw. im „metrischen Wir“ von Steffen Mau
228 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

auf der individuellen Ebene u. a. mit den Begriffen Kontrollgefühl, Ausrichtung an Nor-
men, permanente Selbstoptimierung und Selbstexpertisierung, Responsibilisierung des
Individuums sowie einem umfassenden Wettbewerb sowie einer permanenten Defizitori-
entierung. Damit liegen die (neuen) Themen- und Arbeitsgebiete für Coaches auf der
Hand. Für Stefan Selke (Selke, 2018, 55 f.) gilt es in diesem Lernprozess zunächst, sich
bewusst gegen die damit verbundenen, umfassenden Perfektions- und Normierungsbestre-
bungen zu stellen – und sich mithin auch gegen die damit einhergehende Kopplung von
individueller Lebensführung und volkswirtschaftlicher Bilanzierung (z. B. im Gesund-
heitswesen) auszusprechen. Anstelle des (Aber-)Glaubens, nach dem erst durch p­ ermanente
Selbstvermessung aus etwas eher Wertlosem Gold werden kann, ist die womöglich sich
dahinter verbergende, mangelnde Selbstakzeptanz oder Selbstliebe zu thematisieren.
Gleiches gilt für die anderen Antreiber, wie z. B. sich immer anstrengen oder immer be-
liebt sein zu müssen oder aber sämtliche Perfektionsansprüche. Ferner ist es ggf. hilfreich,
irrationale Tendenzen und den erlebten Kontrollverlust in einer VUCA-Welt eher ge-
meinsam zu analysieren, anstatt sie zu tabuisieren. Die Hamsterkäufe während der An-
fangszeit der COVID-19-Pandemie brachten hier nicht nur amüsante Verhaltensweisen
hervor. Der Wert des bei Richard Sennett angesprochenen Gemeinschaftserlebens
(z. B. im Rahmen familiären Engagements oder einer Mitgliedschaft in einem Verein)
kann ggf. erst wieder fühlbar werden, wenn es als bewusstes Gegengewicht zu virtuellen
Communitys installiert wird. Gleiches gilt für die Relativierung der „Likes“-Jagd durch
das Erleben einiger weniger, jedoch sehr tiefer Beziehungen zu anderen, realen Men-
schen. Statt Hunderte von „Selfies“ zu machen, wird es für die Interaktion mit anderen
Menschen dann wichtiger, an einem authentischen „Self“ zu arbeiten. Selbstsorge und
Selbstwahrnehmung können auch über das altgediente Tagebuch erfolgen und bekom-
men hier durch die individuelle Reflexion wahrscheinlich größere Tiefenschärfe als durch
mehrere Wearables zur Selbstvermessung. Abschließend sei hier explizit erwähnt, dass es
auch im Rahmen des Coachings nicht um die Verteufelung dieser Möglichkeiten zur
Selbstvermessung, sondern nur um die teilweise daran gekoppelte Ideologie bzw. den la-
tenten Absolutheits- und Allmachtsanspruch geht. Selbstvermessung, zeitlich begrenzt
und gezielt eingesetzt, kann sicher wertvolle Ansatzpunkte für ein Coaching an der Ge-
sundheit und Leistungsfähigkeit des Klienten im Alltag hervorbringen. Um diese neuen
technologischen Möglichkeiten zusammen mit dem Klienten mit viel Fachkenntnis her-
auszuarbeiten, ist wahrscheinlich die Zusammenarbeit mit einem Fachexperten erforder-
lich. Handlungsleitend für die Datenerhebung und Datennutzung sollte dabei jedoch im-
mer deren individuelle „Lebensdienlichkeit“ (Selke, 2014, S. 316 ff.) sein – und nicht
irgendwelche wirtschaftlichen oder (gesellschafts-)politischen Interessen.
Bröckling bietet in seinem „Unternehmerischen Selbst“ mit seinen „Fluchtlinien oder
der Kunst, anders anders zu sein“ (2016, S. 283 ff.) drei Ansätze für den Coach und seinen
Klienten, an den mit dem Konzept verbundenen Themen der ideologiegetriebenen Auto-
nomisierung, Responsibilisierung und Flexibilisierung aktueller Managementkonzepte zu
arbeiten. Zum einen ist da die konzeptimmanente Überforderung des unternehmerischen
Selbst (Bröckling, 2016, S. 289). Richtet sich die Wut, sich nicht permanent selbst über-
4.3 Identität in der Postmoderne: selbstvermessene „Dividuen“ in „Crazy Quilts“ 229

treffen zu können, gegen sich selbst, kann der sich ggf. dabei einstellende Erschöpfungs-
zustand in eine Depression umschlagen. Medikamente oder gar eine Therapie schaffen im
Idealfall kurzfristig Linderung. Im schlimmsten Fall verhindern oder verzögern sie nach
seiner Meinung dadurch potenziell eine nachhaltige Heilung bzw. einen echten Neuan-
fang. Ohne zu wissen, woher der Soziologe Bröckling sein praktisches oder theoretisches
Wissen über das Grundverständnis über Therapie hat, wird deutlich, dass dies wahrschein-
lich eher medial geprägt ist und einer wissenschaftlichen oder empirischen Basis entbehrt.
Ohne Coaches explizit zu nennen, würden jedoch weder Letztere noch Therapeuten ohne
die intensive Diskussion über die Folgen eines „weiter so“ mit dem Klienten als reiner
„Reparaturbetrieb“ agieren. Mit dem Kippbild als Symbol für die Arbeit von Coaches und
Therapeuten ist es eben neurologisch unmöglich, beide Bilder zugleich zu sehen – erfor-
dert es letztlich eine bewusste, reflektierte und selbstverantwortliche Entscheidung, wie
man weiter (als Unternehmer) verfahren will. Dass beide Professionen jedoch je nach
Beschwerdegrad des Klienten nachhaltig helfen können und natürlich auch einen radika-
len Systemwechsel beim Klienten zulassen, steht für seriöse Vertreter der Zunft außer
Zweifel. Als weitere „Fluchtlinie“ sieht Bröckling (2016, S. 292) die ironische Distanzie-
rung. Die heutzutage unter vielen Arbeitnehmern besonders in der IT-Branche beliebten
„Dilbert“-Cartoons von Scott Adams sowie das eine ähnliche, innere Logik aufweisende
Märchen um „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen sieht Bröckling als
Belege für seine Hypothese. Steht die vorübergehende Entlastungsfunktion dieser Publi-
kationen außer Frage, würde der professionelle Coach oder Therapeut intensiv die Folgen
einer sukzessiven Distanzierung in Form von Demotivation, Bitterkeit oder völliger
­Ignoranz besprechen und in Abstimmung mit dem Klienten auf die ehrliche und system-
verträgliche Entscheidung zwischen „Love it, leave it, or change it“ hinarbeiten. Den
„passiven Widerstand“ gegen das „Verfleißigungsprogramm des unternehmerischen
Selbst“ sieht Bröckling (2016, S. 293) als dritte Möglichkeit, um letztlich „anders anders
zu sein“ und sich im zu kultivierenden Nichtstun gegen die allumfassende Nutzenmaxi-
mierung zu stemmen. Als Protagonisten dieser Denk- bzw. Lebenshaltung sieht Bröckling
(2016, S. 293 f.) Communitys wie „Die glücklichen Arbeitslosen“, die „Ohnemich-AGs“
oder das „Bündnis für Simulation“. Mit dem verklärten, von kommunitaristischer Sozial-
romantik geprägten Weltbild der zwei letzten Gruppen sieht er deren Vertreter als eine Art
Utopisten, welche die Welt gemäß ihren Idealen neu erschaffen wollen. Diesen Utopisten
setzt Bröckling die pragmatischeren Topisten entgegen, welche aus den real vorgefunde-
nen Bedingungen bastelnd und mit viel Improvisationskunst das Beste machen. Aber
selbst diese Form des „anders sein“ wurde bereits durch Publikationen zu den Themen
„Entdeckung der Faulheit“, „Stilvolles Verarmen“, „Simplify your Life“, „Downsizing“
etc. okkupiert und kommerzialisiert. Auch diese Gruppe ist daher gefordert, „anders an-
ders zu sein“, denn als echtes Gegenbild zum unternehmerischen Selbst taugen auch sie
nicht! So sieht Bröckling (2016, S. 297) die einzige Möglichkeit, „anders anders zu sein“,
genau darin „ […] rechtzeitig aufzuhören – und anderswo von Neuem zu beginnen“. Ein
Schelm, der darin Schumpeters „schöpferische Zerstörungskraft“ sehen würde – also die
Kernidee des „Gottvaters“ des unternehmerischen Denkens! Und dabei kann Coaching
230 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

gut unterstützen! Im Sinne der Ermutigung bei (frühzeitigem) „Absteigen von einem ster-
benden Pferd“, bei der Förderung der spielerischen Neugier, einen eigenen Weg zu finden,
sowie bei der Begleitung bei der konsequenten Verfolgung des neuen Weges. Sei dieser
bezogen auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit oder aber auf ein neues Ge-
schäftsmodell. Coaches, die bereits sehr lange in den Arenen des Managements unterwegs
sind und mithin auch das Kaleidoskop der Publikationen, Trends, Highlights bzw. auch die
Niederungen der – wie Oswald Neuberger es einmal nannte – „Managementfolklore“ mit-
erlebt haben, sind i. S. Bröcklings oft gut in der Lage, in der Rolle eines „Ent-Täuschers“
oder „Ent-Zauberers“ für ihre Klienten auch die Bestseller von ihrer ideologischen
­Aufladung, dem Egokult der Autoren, dem Marketingglitzer und der darin zuweilen ent-
haltenen Schaumschlägerei zu befreien. Dabei wird nicht selten deutlich, dass der alte
und/oder schlechte Wein in den neuen Schläuchen durch die natürlich legitimen, wirt-
schaftlichen Interessen einer in hartem Wettbewerb stehenden und sehr bunten Zunft an
Managementberatern hineingekommen ist. Ähnlichkeiten zu der Produkt- bzw. Werbehis-
torie z. B. von Seife in den letzten 40 Jahren sind hier sicher eine passende Analogie.
Hüpfte in den 70iger – i. S. von „sex sells“ – noch eine Blondine „oben ohne“ für eine
Seife („Fa“) den Strand entlang, wird sie heute zu einem Statement gegen weltweit beste-
hende Schönheitsideale bzw. einen „Schönheitsbegriff abseits von Alter, Kleidergröße,
Hautfarbe und anderen Äußerlichkeiten“ stilisiert („Dove“).

4.4  eflexive Lebensführung anstatt solipsistischem


R
„Business-­Coaching“

Um zu verstehen, dass die so trendig daherkommenden Begrifflichkeiten („reflexive Le-


benführung“, „Business-Coaching“) in der Überschrift nur weitere Wegzeichen der mit
der Industrialisierung begonnenen Dynamisierung des gesamten Wirtschaftslebens dar-
stellen, ist es sinnvoll, sich die verschiedenen Dimensionen des schon mehrfach erwähnten
Themas der „Entgrenzung“ auch in diesem Kontext erneut zu vergegenwärtigen. Auf
einer Makroebene sind dies sicher die auch immer wieder kritisch gesehene Globalisie-
rung sowie die aus einer zuweilen strittigen Allianz von Unternehmen und Politik rühren-
den z. B. gesetzlichen Deregulierungs- und Flexibilisierungsvorstöße. Die an unterneh-
mensstrategische Überlegungen gekoppelten Stichworte auf einer Mesoebene sind die des
„Outsourcing“, der Netzwerke bzw. Kollaborationen sowie der (Arbeitszeit-)Flexibilisie-
rung und Virtualisierung. Im Zusammenhang mit innerbetrieblichen Veränderungen der
Unternehmensstrukturen wurden auf der Mikroebene z. B. Konzepte der Dezentralisie-
rung oder verschlankter bzw. flacherer Hierarchien diskutiert. Auf der gleichen Ebene
liegen die Entgrenzungen im konkreten Arbeitsvollzug, welche bereits in Abschn. 4.2 im
Kontext des veränderten Lernens angeführt wurden. Neben der Entgrenzung in Form von
z. B. Homeoffice oder mobilen Arbeitsformen, die eine eigenständige räumliche Organi-
sation der Arbeit erfordern, ist im Erlernen der (dualen) Nutzung und Wartung von IT-
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“ 231

bzw. Kommunikationssystemen der technische Aspekt der Entgrenzung erfahrbar. Die


verstärkte Kollaboration innerhalb und zwischen Abteilungen und Bereichen verweist auf
den sozialorganisatorischen Aspekt der Entgrenzung – (temporär) übergreifende Projekt-
und Gruppenarbeit sind dafür konkrete Beispiele. Die fachliche bzw. qualifikatorische
Facette der Entgrenzung beschreibt die zunehmende Instabilität und mangende Trenn-
schärfe von Stellen- und Tätigkeitsbeschreibungen, wie auch die oft nun selbstständig zu
organisierende Weiterbildung. Die Bedeutsamkeit der Arbeit im Gesamtzusammenhang
als Einzelperson bzw. als Teammitglied für sich selbst oder in einer Projekt- oder Teamlei-
terfunktion für andere zur entwickeln und am Leben zu erhalten, beschreibt die Folgen der
Sinndimension der Entgrenzung im alltäglichen Arbeitshandeln. Übergeordnetes bzw. er-
hofftes Ziel dieser Rationalisierungsmaßnahmen ist eine Erhöhung der Wettbewerbsfähig-
keit des Unternehmens infolge von Maßnahmen zur Kostenreduktion, der Erschließung
von Produktivitätsreserven, der Verbesserung der Produktqualität und Reagibilität sowie
einer erhöhten Innovationsfähigkeit. Auf strategischer Ebene erhofft man sich durch diese
operativen Maßnahmen am Ende die Wertsteigerung und das Wachstum des Unterneh-
mens selbst wie auch die Gewinnmaximierung für Eigentümer und Shareholder.
Ein Unterziel aller oben dargestellten Effizienz- und Effektivitätsbestrebungen ist Fle-
xibilität, welche jedoch nur bei der erwähnten Arbeitszeitflexibilisierung zum Tragen
kommt. Doch genau sie gilt es für das Titelthema hinsichtlich der zu flexibilisierenden
Ressource „Zeit“ genauer zu betrachten. Im Arbeitszeitkontext beschreibt Flexibilisie-
rung deren angestrebte größere Varianz hinsichtlich der Dauer und Lage bzw. der fehlen-
den Kontinuität dieser beiden eben nur phasenweise fixierten Parameter. In Kombination
mit z. B. den in Abschn. 5.3 beschriebenen deregulierten Beschäftigungsformen verwi-
schen die räumlichen und zeitlichen Grenzen zwischen Erwerbs- und Privatsphäre zuse-
hends und erfordern in ihren vielfältigen Ausprägungen und ihrer immanenten Dynamik
eine aktive, individuelle Gestaltungs- und Koordinierungsleistung. Dass diese zuweilen
als Herausforderung und Störung des „Normalen“ empfunden wird, macht deutlich, dass
die rechnerische bzw. gelebte Trennung von Arbeits- und Privatzeit „[…] keine natürliche
Eigenschaft der Arbeit selbst ist, sondern eine soziokulturelle Errungenschaft zivilisierter
Gemeinwesen und damit eine Erscheinung der Moderne“ (Hildebrandt & Linne, 2000,
S. 26). Einer Moderne, welche durch strikte Arbeitsteilung einen nie gekannten Produkti-
vitäts- und Wohlstandszuwachs in den Unternehmen bzw. Familien ermöglichte und so
nach über 150 Jahren fast als ein biologischer Rhythmus erlebt wurde. Fortgesetzt wurde
diese starre Trennung von Arbeit und Leben für lange Zeit auch in den Theoriemodellen
der Sozialwissenschaften (Hildebrandt & Linne, 2000, S. 28). Notwendig war ein integra-
tiver Ansatz, der ohne strukturelle Vorgaben den Zusammenhang zwischen allen Tätig-
keitsbereichen erforscht.
Ein Meilenstein aus Sicht des Autors auf diesem Weg zu einer ganzheitlichen Betrach-
tung ist das schon mehrfach angeführte Herausgeberwerk von Eckart Hildebrandt und
Gudrun Linne aus dem Jahr 2000 (Hildebrandt & Linne, 2000). Beide Autoren definieren
das Konzept der „alltäglichen Lebensführung“ als einen „[…] von der Person konstruier-
te[n] und praktizierte[n] Gesamtzusammenhang ihrer alltäglichen Tätigkeiten während
232 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

einer bestimmten Lebensphase in den für sie relevanten Sozialsphären“ (Hildebrandt &
Linne, 2000, S. 28). Zwar steht die sinnhafte Identifikation mit dem, was da praktisch
„tagaus, tagein“ gemacht wird, bei dem Ansatz nicht im Vordergrund, sie wird jedoch auch
nicht ignoriert. In der Beschreibung des Gesamtzusammenhangs erfasst er die ganze
Breite des Lebens in seiner Stabilität und Kontinuität – betrachtet dieses eher in seiner
Synchronie anstatt seiner Diachronie. In der oft kunstvollen Verknüpfung der verschie-
densten und z. T. speziellen (z. B. zeitlichen) Arrangements der verschiedenen Sozialsphä-
ren entsteht eine Art „Arrangement der Arrangements“ (Hildebrandt & Linne, 2000,
S. 29). Neben der genannten zeitlichen Dimension können diese Arrangements folgende
Aspekte erfassen: räumlich (wo wird was gemacht?), sachlich (was wird gemacht?), tech-
nisch (womit wird was gemacht?), sozial (i. e. S. – mit wem wird was gemacht?), emotio-
nal (mit welcher Befindlichkeit wird was gemacht: sachlich, sorgend …), sinnhaft (mit
welcher Deutung, warum wird was gemacht?) und last, but not least genderbezogen (aus
welcher Genderidentität bzw. -eigenschaft?). Die Bewältigung konkreter Alltagssituatio-
nen besteht daher in der situationsspezifischen, mehr oder minder bewussten Festlegung
und Koordination der genannten acht Dimensionen. Damit ist die Funktion der so definier-
ten Lebensführung auf personaler Ebene zum einen die schlichte Bewältigung der tägli-
chen Lebensanforderungen. Zu anderen führt dies bei erfolgreicher Handhabung zu einer
Begrenzung des alltäglichen Entscheidungs- und Handlungsdrucks. Ist die Festlegung und
Koordination der Handlungsdimensionen sehr effektiv und effizient, tendieren diese
Handlungsmuster einer sehr individuellen, strukturellen Eigenlogik zu folgen, deren Auf-
lösung nicht leichtfällt – denn „man“ bzw. „es“ funktioniert eben sehr gut! Genau in dieser
Tendenz zur Verselbstständigung liegt jedoch auch die Gefahr der Selbstentfremdung.
Lebensführung muss daher als komplexe, individuelle Leistung gesehen werden, die zu-
nächst aktiv erbracht, dann erhalten und falls notwendig auch an neue Alltagsgegebenhei-
ten – wie man heute sagen würde agil – angepasst werden (Hildebrandt & Linne, 2000,
S. 30). Um diese Notwendigkeit zum ständigen Überdenken auch begrifflich zu fassen,
erweiterten beide Autoren das Konzept der „Lebensführung“ bzw. ihren Buchtitel zur „re-
flexiven Lebensführung“ (Hildebrandt & Linne, 2000). Durch die Allgegenwart dieser in
jede Alltagstätigkeit hineinreichenden Anforderung sprechen beide von einer „Verarbeit-
lichung des Alltages“ (Hildebrandt & Linne, 2000, S. 34).
Eines der zentralen Stellglieder der alltäglichen Lebensführung ist dabei die Zeit bzw.
spezielle Arbeitszeitmuster. Als Gestaltungs- und Rationalisierungsdimension bestim-
men sie nach Hildebrandt & Linne (2000, S. 32) die Zeitpunkte (Anfang und Ende von
Tätigkeitssequenzen), die Dauer und Rhythmisierung von Tätigkeitssequenzen, die Lage
von Tätigkeitssequenzen (Tag, Woche, Jahr, Lebenslauf etc.), die sozialen und individuel-
len Modi oder Stile der regulierten Zeit sowie wer i. S. einer Zeitherrschaft anderen Zeit-
strukturen vorgeben kann oder inwieweit diese in dem gesetzten zeitlichen Rahmen bei
der Gestaltung auch ein gewisses Maß Selbstbestimmung – also Zeitsouveränität – besit-
zen. Letztere beeinflusst maßgeblich, ob bzw. wie stark z. B. betriebliche Arbeitszeitmus-
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“ 233

ter (z. B. Schichtarbeit) auf die Lebensführung des Beschäftigten „durchschlagen“. Der
kontinuierlich zunehmende Einsatz von Zeitmanagementkonzepten z. B. von David Allen
in der 7. Auflage (Allen, 2015) oder Zeitplanungssoftware wie z. B. MS Outlook (solitär
oder zukünftig wahrscheinlich integriert in MS Teams) ist wohl der beste Beleg dafür, dass
für viele Menschen im Berufs- und Privatleben Zeitnot oder gar Zeitstress im Alltag ein
Thema ist. Doch trotz dieser Planungshilfen ist der „Arbeitsaufwand“ erheblich, selbst die
noch „frei verfügbare“ Zeit eigenständig zu gestalten. Diese Ambivalenz spiegelt sich
konzeptionell im Ausdruck der „fremdorganisierten Selbstorganisation“ (Pongratz &
Voß, 2003) wider. Darin wird deutlich, dass der zeitliche Aspekt der Entgrenzung nicht als
die Abschaffung von (zeitlichen) Strukturen zu verstehen war, sondern als eine Grenzver-
schiebung im Sinne einer Aufgabenverschiebung! Und genau diese „Unfreiheit neuer
Art“ birgt das Risiko der Überlastung mit Strukturierungszwängen sowie das Risiko des
Scheiterns (Hildebrandt & Linne, 2000, S. 34). In der Praxis realisierte sich dies mit den
zu Beginn des Abschnittes erwähnten Flexibilisierungsbestrebungen der Unternehmen
hinsichtlich der Arbeitszeiten ab Anfang der 80er-Jahre. Die mit der genannten Aufgaben-
verschiebung verbundenen und zuvor unbekannten zusätzlichen Leistungsanforderungen
haben u. a. dazu beigetragen, den neuen Typus des inner- wie überbetrieblich flexiblen
„Unternehmers der eigenen Arbeitskraft“ – des „Arbeitskraftunternehmers“ (Pongratz &
Voß, 2003) – hervorzubringen.

Unter welchen Bedingungen Zeit- und Leistungsdruck für Klienten entsteht


Doch worin genau zeigt sich nach den Autoren Handrich, Koch-Falkenberg & Voß
(Handrich et al., 2016) die potenziell Zeitstress bzw. Zeit- und Leistungsdruck verursa-
chende Aufgabenverschiebung? Was sind die Entstehungsbedingungen der äußerst vielge-
staltigen und vielfältigen Einzelfaktoren, die zudem meist erst im Erleben des Einzelnen
bzw. durch deren komplexe und individuenspezifische Wechselwirkungen die verschiede-
nen Phänomene von Zeit- und Leistungsdruck hervorbringen? Die komprimierte Zusam-
menstellung in Abb. 4.9 gibt dazu einen Überblick.

Nach den Ausführungen in den vorhergehenden Kapiteln und der Übersicht wird nach
Handrich, Koch-Falkenberg & Voß (2016, S. 168) deutlich, dass sich zu der externen Ent-
grenzung i. S. einer Grenzauflösung zwischen den ökonomischen Prinzipien des Marktes,
der Wirtschaft und dem Mitarbeiterverhalten (Stichworte: „Arbeitskraftunternehmer“,
„Ich-AG“) auch zunehmend eine interne Grenzauflösung i. S. einer Übertragung des be-
trieblichen, ökonomischen Denkens auch auf die Privatsphäre gesellt. Daher wird Zeit-
und Leistungsdruck zu einem nahezu omnipräsenten Phänomen des „modernen Lebens“
und gilt in manchen Kreisen sogar – bzw. immer noch – als Lifestyle-Attribut „erfolgrei-
cher Führungskräfte“! Jedoch oft nicht ohne mehr oder minder schwere Konsequenzen für
die Lebensführung insgesamt.
234 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Bereiche Entstehungsbedingungen Kurzbeschreibung


Kunden 1. Ordnung: „Geldgeber“; Kunde 2. Ordnung: „Kooperationspartner; Kunde 3. Ordnung: „Endkunde“ und deren entkoppelte und
Kundenbeziehungen
teilweise sogar widersprüchliche Interessen
Indirekte Markt u. Konkurrenz durch andere Mitwettbewerber / Unternehmen in der gleichen oder angrenzenden Branche bzgl. der speziellen Ausgestaltung
Zwischenbetriebliche Konkurrenz
Betriebsstrukturen des „Magischen Dreiecks“ (Qualität-Kosten-Zeit)
Kosten- und Effizienzdruck als Ursache oder Folge von Reorganisationen, politischer Einflussnahme oder der demografischen Entwicklung
Betriebliche Strukturen
(Personalabbau, Führungsspanne, Arbeitsformen, Lohn- u. Gehaltsstrukturen, atypische Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit, Freelancer etc.
Komplexität von Aufgaben und Auflösung / „Flexibilisierung“ bzgl. der Arbeitsinhalte und Zuständigkeiten; Entkopplung von Zeit und Raum der Tätigkeit; zusätzliche
Arbeitsverdichtung Reporting- und Dokumentationsverpflichtungen
Kontext: Betrieb

Betriebliche Mobilitätsanforderungen Innerhalb der oder zwischen den Betriebsstätten infolge von Schließungen, Zusammenlegungen oder Umstrukturierungen
Aufwand durch zunehmend komplexere Höherer Kooperationsaufwand infolge von organisatorischen Matrix- oder Projektstrukturen und den damit verbundenen Anforderungen an
Arbeitsbeziehungen das Vertrauen u. das kollegiale Verhalten von Kollegen
Quantitative (Verhältnis von Arbeitsmenge und Personenanzahl) und/oder qualitative Lücken (qualifiziertes Personal nicht – oder nicht in
Begrenzte Personalausstattung
benötigter Anzahl verfügbar) bei Personalausstattung
Direkte
Falsche Auswahl, unzureichende Implementierung, keine/unzureichende Schulung hinsichtlich IT-Systemen aller Art; nur kostengetriebene
Tätigkeitsebene Probleme mit Technik und Infrastruktur
Veränderungen von Arbeitsräumen (z.B. Großraumbüros)
Autonomie- und Erlebtes Ausmaß und Qualität an Fremdsteuerung durch Vorschriften sowie bei der Arbeitszeit („Zeitautonomie“) und den Arbeitsinhalten
Heteronomieempfinden bzw. interpersonellen Abhängigkeiten
Wahrgenommene Unterstützung in der Personelle bzw. soziale Unterstützung von Kolleg:innen und Führungskräften („Klima“ der der Solidarität, Empathie u. des Vertrauens);
Tätigkeit materielle Ausstattung hinsichtlich Technik und Infrastruktur
Quantität und Qualität der wahrgenommenen, realen oder symbolischen Wertschätzung durch Kolleg:innen, Führungskräften, Untergebene
Erlebte Wertschätzung
oder sogar (End-)Kunden
Private Mobilitätsanforderungen durch Lage (Stadtzentrum oder Land) und Entfernung des Wohn- bzw. Familienortes; vorhandene öffentliche Verkehrsmittel und deren zeitliche
Kontext: Privatsphähre

Indirekt: Wohn- bzw. Familienort Taktung; Mobilitätsanforderungen ggf. der Kinder („Taxi Mamma“)
Persönliche Care-Verpflichtungen
Pflegebedürftige Angehörige und/oder Kinder; Schul- und Kita-Öffnungszeiten; Berufstätigkeit beider Elternteile/Partner; Lebendig halten der
Lebenssituation Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Nachbarn etc.
Ausgleichsaktivitäten und Freizeit Zeitlicher, fahrtechnischer und personeller Aufwand für Hobbys und sportliche Aktivitäten aller Art
Persönliche Perspektiven – Persönliche, fachliche oder karrierebezogene Weiterbildung; Abschätzung der Lage, Dauer und Intensität besonderer Arbeitsphasen in
Subjektive beruflich und privat Relation zu den planbaren Urlaubstagen
Faktoren, allg. Wahrnehmung und Erhalt der psychischen und psychischen Leistungsbereitschaft (Motivation) und –fähigkeit (Fertigkeiten) sowie der
Subjektive Faktoren i.e.S.
dahinterstehenden Werte; Loyalität zu Kolleg:innnen und Betrieb

Abb. 4.9 Entstehungsbedingungen und Kontexte von Zeit- und Leistungsdruck (Quelle: Handrich
et al., 2016, S. 155–168; Zusammenstellung durch den Autor; © Stefan Stenzel 2022. All Rights
Reserved)

4.4.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Zeit- und Leistungsdruck hat jedoch nach Handrich, Koch-Falkenberg & Voß nicht nur
die soeben dargestellten, situativen Entstehungsbedingungen. Gleichermaßen individuell
und mithin vielfältig sind auch die letztlichen Erscheinungsformen bei verschiedenen
Klienten (Handrich et al., (2016, S. 169). Bevor diese jedoch (z. B. mit Unterstützung eines
Coaches) lernen, damit adäquater umzugehen und möglichst negative Konsequenzen zu
­minimieren, gilt es die Erscheinungsformen für die verschiedenen Lebensbereiche zu-
mindest ansatzweise zu identifizieren. Dass dies nie vollständig geschehen kann, liegt –
neben der stark situativen Komponente – aufgrund deren sehr individuellem psychischem
(und physischem) Erleben sowie der dynamischen Wechselwirkungen dieser Bereiche
auf der Hand. Als ganzheitliche „Suchhilfe“ zusammen mit dem Klienten – besonders in
den im ersten Moment meist „unverdächtigen“ Bereichen wie der Freizeit – taugt wo-
möglich die Abb. 4.10.
Infolge des gleichzeitigen Auftretens und der Wechselwirkungen der aufgeführten Phä-
nomene von Zeit- und Leistungsdruck bzw. der praktischen Lebenserfahrung jedes Einzel-
nen liegt es auf der Hand, dass es den einen kritischen Faktor nicht gibt. Vielmehr bedarf
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“ 235

Erscheinungs-
Bereiche Kurzbeschreibung
formen
 Vorhersehbarkeit /Planbarkeit: Kurz-, mittel-, langfristig  Zunahme von kurzfristigen und unvorhersehbaren Terminen
 Priorisierung: Dringlichkeit vs. Wichtigkeit  Zuordnung durch Abhängigkeiten und plötzliche Änderungen oft schwierig
Termine
 Flexibilitätsgrad /Verschiebungsmöglichkeiten: Immer geringer bei immer mehr „harten Deadlines“ durch vielfältige Abhängigkeiten
 Verdichtungsgrad: Immer mehr Termine in der gleichen Zeitspanne
 Freiheitsgrade bei der Verfügung über das Volumen und der Lage der eigenen Arbeitszeit immer geringer
Zeitdruck Zeitliche  (Meist unausgesprochene) Erwartung der faktische Dauerpräsenz (i.S. keine Erledigungen „zwischendurch“) oder persönliche oder zumindest medialen Dauerverfügbarkeit (24-7)
Verfügbarkeit von Vorgesetzten/Mitarbeitern, Kunden und Kollegen
 Zustand der Vagilanz für neue oder zu verschiebende Termine und Tätigkeiten
 Betrieblich notwendiger Reiseaufwand
Zeitliche Mobilität  Abwesenheitszeiten von der „normalen Arbeit“, die es jedoch gilt aufzuholen oder parallel abzuarbeiten (z.B. durch liegengebliebene E-Mails)
 Reisezeit - obwohl in Zusammenhang mit Arbeitstätigkeit - wird oft nicht als Arbeitszeiten gewertet; ggf. ohne Freizeitausgleich
 Steigende Anzahl der (zudem immer anspruchsvolleren) Aufgaben im Prozess
 Höhere Komplexität infolge stärkere Vernetzung der Prozesse
 Höhere Störanfälligkeit / Instabilität durch die größere Komplexität
 Höhere Priorisierungs- , Balancierungs- und Koordinationsaufwand immer „kleinteiligerer“ Prozesse
Arbeitsprozess-  Multilokale Verfügbarkeit durch immer „kleinteiligerer“ Prozesse – mehrfache Verantwortlichkeit, Bring- und Holschuld von Informationen
bezogener  Notwendigkeit eines unterstützenden, sozialen kollegialen Netzwerkes mit impliziten bzw. reziproken Loyalitätsverpflichtungen
Arbeits- Leistungsdruck  Höhere Koordinationsaufwand für Meetings durch die An- und Vielzahl der benötigten Spezialisten in verschiedenen Teams, Bereichen, Ländern um auch nur Teile der
bezogener Prozesskette in ein (mediengestütztes) Treffen zu bekommen
 Beherrschung der (immer wieder veränderten) Arbeits- bzw. IT-Prozesse ,
Leistungs-  Wissen und Anwendungsweise für (neue) Arbeitstechniken im (veränderten) Prozess inkl. den richtigen Ansprechpartnern
druck  Ignoranz des Zusatzaufwandes der vorgenannten Punkte durch die Führungskräfte i.S. eines „Das gehört eben dazu!“
Allg.: Verschiedenartige, sich gelegentlich sogar widersprechende Ansprüche an ein qualitativ hochwertiges Produkt
Arbeitsergebnis-  Qualitativ und/oder quantitativ reduzierter Ressourceneinsatz bei gleichbleibender Ergebnisqualität für den Kunden zweiter – insbesondere jedoch dritter Ordnung, welcher u.U.
bezogener darüber hinaus auch noch selbst davon überzeugt werden muss
Leistungsdruck  Übertragung der sachlichen Ergebnis- und z.T. sogar juristischen Haftungsverantwortung (inkl. Dokumentation) an Beschäftigte
 Strikte Orientierung an Standards bei der sich jede flexibilitätsbasierte Kundenorientierung geradezu verbietet
 Sinnvoll (abgestimmte!), psychische und physische Erholung und/oder Gesunderhaltung des Arbeitsvermögens durch Hobbys, Sport und/oder sogar meditative Praktiken mit oft
Individuelle
sehr anspruchsvollen und sogar anstrengenden Lerninhalten
Reproduktiver Reproduktions-
 Neues Feld für psychischen und physischen Leistungsvergleich (auch hinsichtlich des Statuswertes der Sportart!)
Leistungs- erfordernisse  Ggf. finanzieller bzw. materieller Aufwand für Mitgliedschaftsgebühren, Ausrüstung plus der ggf. erforderl. Mobilitätserfordernisse
druck Soziale  Beziehungspflege hinsichtlich des Ehepartners sowie des (quantitativ oft sehr großen) Netzes an Verwandten, Freunden, Bekannten inkl. der qualitativ dazu erforderlichen
(Freizeit) Reproduktions- Beziehungskompetenz
erfordernisse  (Organisation der) Pflege alter Familienmitglieder inkl. der qualitativ dazu erforderlichen Pflegekompetenz  oft zeitl. Vereinbarkeitsproblematik

Abb. 4.10 Erscheinungsformen von Zeit- und Leistungsdruck (Quelle: Handrich et al., 2016,
S. 169–178; Zusammenstellung durch den Autor; © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved)

es einer ganzheitlichen Analyse der situativen Bedingungen sowie der individuellen, psy-
chologischen „Wahr-Gebung“ der Phänomene beim Klienten, um ggf. mithilfe eines Coa-
ches eine verbesserte Umgangsweise im präventiven oder kurativen Sinne zu erlernen.

Wie Klienten mit Zeit- und Leistungsdruck umgehen


Trotz dieser soeben genannten Einschränkungen durch spezielle Individuen, Tätigkeiten
und Kontexte konnten Handrich, Koch-Falkenberg & Voß (2016, S. 179) kaum Unter-
schiede bei den untersuchten Gruppen (Beschäftigte eines Kreiskrankenhauses, einer
Technik- und Infrastruktur-Dienstleistungsgesellschaft und Personalausbildungsgesell-
schaft) hinsichtlich der Bewältigungsstrategien finden. Wie zu erwarten, zeigten sich auch
bei allen Gruppen drei Strategien im Umgang mit Zeit- und Leistungsdruck. Erstens in
Bezug auf die eigene Person, zweitens in Bezug auf die Tätigkeit und drittens im Hinblick
auf den betrieblichen und privaten Kontext.

Bei den (1) personenbezogenen Umgangsweisen handelt es sich nach Handrich,


Koch-Falkenberg & Voß (2016, S. 179 f.) hauptsächlich um gedankliche Umlenkungs-,
Relativierungs- und auch Resignationspraktiken, die auch in Sarkasmus und Zynismus
umschlagen können. Interessanterweise kam es den Probanden jedoch nicht in den Sinn,
die Ursachen des Zeit- und Leistungsdrucks selbst zu beseitigen, sondern sie beschränkten
236 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

sich auf die (a) Modifikation der kognitiven Verarbeitung des Drucks. Dazu zählen auch
die Senkung der inneren Ansprüche oder die Neupriorisierung von Standards oder sogar
die Neudefinition von (Lebens-)Werten selbst. Weitere Strategien sind kognitive Ent-
schleunigungstechniken in Form einer bewussten Verlangsamung oder Verzögerung von
Tätigkeiten oder aber der Aufschub von körperlichen Bedürfnissen (essen, trinken, Pau-
sen) bzw. die Ignoranz der entsprechenden Signale. Sehr gezielte und (b) praktische
Schritte zum besseren Umgang mit Druck und Stress zeigten sich bei den untersuchten
Zielgruppen in Form des Erlernens von Einzelsportarten, Ernährungsumstellung oder
Praktiken zur Selbstberuhigung und Konzentrationssteigerung wie autogenes Training
oder Meditation. Dazu wurde teilweise gezielt Unterstützung bei Psychologen, Heilprak-
tikern, Supervisoren sowie Fitness- und/oder Mental-Coaches gesucht. Als mittel- bis
langfristig nicht unkritisch zu bewertende Umgangsweisen wurden die Verkürzung der
Schlafdauer oder früheres Aufstehen genannt. Längerfristige bzw. auf eine fundamentale
Neuausrichtung zielende (Lebens-)Strategien zur Reduktion von Stress und Druck bezo-
gen sich auf die weitere Karriereplanung (was noch erreicht werden soll) und Karriere-
steuerung (wie es erreicht werden kann). In der Praxis beobachtbar waren in diesem
­Kontext Exit-Entscheidungen in verschiedenen Abstufungen. Diese reichten vom Tätig-
keits- oder Bereichswechsel über den bewussten, hierarchischen Auf- oder Abstieg bis
hin zum radikalen Unternehmenswechsel. Begleitet wurden diese Neuausrichtungen oft
von Weiterbildung oder einer generellen beruflichen Umorientierung. Aber auch Änderun-
gen bei der Familienplanung bzw. bewusste Babypausen wurden als Mittel der Wahl gese-
hen. Und gelegentlich sorgten jedoch auch schon die Gedankenspiele über Exit-Optionen
für Entlastung.
Eine sehr zugespitzte, bipolare Sichtweise im Umgang mit der Zeit bieten Jurcyk und
Voß (Hildebrandt & Linne, 2000, S. 194 f.) mit ihrer Einteilung in Gewinner und Verlierer.
Den Gewinnern als „Erfolgsunternehmer ihrer Arbeitskraft“, als „Turboarbeitskräfte in
einem Turbokapitalismus“ gelingt es, ihren eigenen Zeitstil zu schaffen. Als gefühlte und
reale Herren ihrer Zeitressourcen verstehen sie es, durch kreatives bzw. gekonntes Jonglie-
ren diese in sehr individuelle Qualitätszeiten zu transformieren. Ihre über lange Zeit ge-
schulte, allgegenwärtige Achtsamkeit ermöglicht es ihnen, eigene und fremde Bedürfnisse
sensibel wahrzunehmen und die entsprechenden Handlungen auf ein klares Endziel hin
flexibel zu priorisieren. Damit erschaffen diese Musterbeispiele des Arbeitskraftunterneh-
mers aktiv ihre sehr persönliche, fast kunstvolle Zeitkultur und erlangen jenseits vorgege-
bener Zeitstrukturen weitgehend die Hoheit über die zeitliche Gestaltung ihrer Existenz.
Den Gegensatz zu diesen erfolgreichen Pionieren des reflexiven Zeithandels bilden die
„Zeitbastler“. Als moderne Tagelöhner oder „Arbeitskraft-Kleingewerbetreibende“ gehö-
ren sie mit ihrer „zeitlichen Flickschusterei“ (Hildebrandt & Linne, 2000, S. 196 f.) eher
zu den Verlierern der neuen Arbeitswelt. Im Gegensatz zu den „Königen der Zeit“ sehen
sie sämtliche Statussymbole (Mehrzonenchronograph) und (früheren) Hilfsmittel zur
Zeitplanung (Zeitplanungsseminare, -bücher oder -systeme bzw. -software) als notwendi-
ges Übel, normative Zumutung oder gar Bedrohung. Als Totalverweigerer lehnen sie die
damit verbundene „Selbstbeherrschung neuer Art“ oder „Eigenzwang“ (Hildebrandt &
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“ 237

Linne, 2000, S. 34 f.) rundweg ab. So werden sie immer wieder Opfer von „Zeitdieben“
oder „Zeitfallen“ und scheitern mit ihrer Aversion gegen Selbstdisziplin an jeder noch so
einfachen To-do-Liste. Angesichts der zunehmend erodierenden Zeitstrukturen befällt
diese prekäre Schicht daher nicht selten eine Sehnsucht nach einer „[…] Zeit, als die Zeit
noch in Ordnung schien“ (Hildebrandt & Linne, 2000, S. 197) und es noch einen klar ab-
gegrenzten und redlich verdienten Feierabend gab. Dass es zwischen den zwei skizzierten
Extrempolen vielfältigste Zwischenstufen und Kombinationen und eben auch völlige Aus-
steiger geben wird, liegt für die Autoren auf der Hand. Diese genauer zu erforschen, sehen
die Autoren als wichtiges Thema für die Zukunft. Ferner sollte nach der Meinung von
Jurcyk und Voß dieses zentrale Thema der menschlichen Lebensgestaltung nicht nur dem
Wissenschaftsbereich oder dem Individuum in seiner Privatsphäre überlassen werden. Sie
fordern daher, es explizit zum Gegenstand einer „gesellschaftlichen Auseinandersetzung
um Zeit“ zu machen, es im Rahmen einer „Politik der Zeit“ einer „demokratischen und
sozial verantwortlichen Willensbildung zu unterwerfen“ (Hildebrandt & Linne, 2000,
S. 198 f.). Coaches täten gut daran, sich an dieser Diskussion aktiv zu beteiligen.
Einen ersten Schritt in Richtung des von Jurcyk und Voß geforderten stärker differen-
zierten, psychologischen Forschungsansatzes bieten Handrich, Koch-Falkenberg & Voß
(2016, S. 193) mit ihrer Typologie zum Umgang mit Druck und Stress. Basierend auf den
zwei Dimensionen „Befindlichkeit“ sowie „Arbeitsqualität“ mit den für beide Dimensio-
nen identischen Ausprägungen „Beeinträchtigung“ und „keine Beeinträchtigung“ ergeben
sich vier Typen im Umgang mit Zeit- und Leistungsdruck: der „Typ A“ mit seiner „allsei-
tig werteorientierten Umgangsweise“, der „Typ B“ mit einer „begrenzend pragmatischen
Umgangsweise“, der „Typ C“ mit der „radikal perfektionistischen Umgangsweise“ sowie
der „Typ D“ und seine „instrumentell selbstorientierte Umgangsweise“.
Alle vier Typen werden von den Autoren hinsichtlich ihrer Bewältigungsstrategien in
Bezug auf die Tätigkeit und auf die eigene Person mit sehr viel Tiefenschärfe beschrieben.
Als zukunftsweisenden Typus sehen sie letztlich den „Typ B“, da er mit seiner pragmatisch-­
nüchternen Distanzierungsfähigkeit und Selbstbegrenzung sich angesichts des wahr-
scheinlich zunehmenden Drucks und Zwangs zur Selbstverantwortung als am resilientes-
ten erweist. Ferner sehen sie in der speziellen Umgangsweise dieses Typus mit den
zukünftigen Herausforderungen der Berufs- und Arbeitswelt „ […] einen Kernmoment
einer neuen Qualität von Professionalität […], mit der Berufstätige mehr als bisher in der
Lage sein müssen, widersprüchliche Anforderungen, in der Arbeit wie im Leben, flexibel
auszugleichen“ (Handrich, Koch-Falkenberg & Voß, 2016, S. 235). Mit ihrer größeren
Flexibilität, Kompromissfähigkeit, Pragmatik und Offenheit für Veränderungen und im-
mer wieder neue Herausforderungen schaffen sie ein Professionalitätsverständnis für eine
neue Arbeits- und Lebenswelt, welche die Autoren als „subjektivierte Professionalität“
bezeichnen. Mit den Worten des Autorenkollektivs um Hildebrandt & Linne würden sie
somit zu den Gewinnern der neuen Arbeitswelt gehören. Für die Unternehmen auf der
anderen Seite birgt dieses neue, berufliche Selbstverständnis die latente Gefahr, dass die-
ser Typus z. B. den von Unternehmen proklamierten „Total Quality“-Anspruch eigenstän-
dig und bewusst variabel (i. S. v. „noch mit dem eigenen fachlichen Berufsethos vertret-
238 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

bar“) handhabt und sie nicht automatisch mit einer uneingeschränkt hohen
Qualitätsorientierung rechnen können. Ein bewusstes Thematisieren und Aushandeln die-
ser potenziellen Widersprüche, der gesundheitlichen Gefahrenpotenziale wie auch der Ge-
staltungsoptionen sollte Ziel für Unternehmer und Beschäftigte sein. Zwei Anmerkungen
für die Coaching-Praxis zum Schluss. Erstens: Wie bei fast allen diesen Ansätzen be-
schreiben die künstlichen, auf statistischen Analyseverfahren beruhenden Idealtypen keine
realen Personen, sondern deren Verhaltenspräferenzen bei den Umgangsweisen mit Zeit-
und Leistungsdruck, die jedoch auch als Mischformen auftreten können. Zweitens: Bei
aller Vorsicht, die Coaches im Umgang mit Klienten bei der Verwendung solcher vorgefer-
tigten „Schubladen“ walten lassen sollten, könnten sie (wie generell beim Einsatz derarti-
ger Instrumente oder Konzepte wie die der Generationen X, Y, Z) in einem bereits voran-
geschrittenen Coaching-Prozess womöglich zusätzliche differenzierende Reflexions- und
Diskussionsanstöße bieten. Die Arbeit mit den speziellen „Wahr-Gebungs“-Mustern des
Klienten sollte jedoch immer handlungsleitend für den Coach sein!
Umgangsweisen im Hinblick auf die (2) Tätigkeiten beziehen sich auf individuelle und
soziale, d. h. Kolleg:innen und Vorgesetzte involvierende Strategien (Handrich et al., 2016,
S. 181 f.). Die individuenbasierten Ansätze reichen dabei von der bewussteren Zeitpla-
nung und Tätigkeitspriorisierung mittels To-do-Listen und Zeitplansystemen in einfachen
Notizbüchern oder entsprechender Zeitplanungssoftware (z. B. MS Outlook) bis hin zur
Absolvierung entsprechender Seminare. Weniger aufwendig und populärer scheint jedoch
die gezielte Begrenzung oder sogar Abwehr zusätzlicher Aufgaben durch Delegation an
Dritte (Kollegen, Vorgesetzte, Untergebene, Kunden etc.) oder schlichte Weigerung zu
sein. Werden diese Begrenzungsversuche von Entscheidern ignoriert, besitzen Beschäf-
tigte Strategien, um Vorgaben und Vorschriften zu umgehen oder sogar „auszutricksen“.
Obwohl der Irrglaube an die Möglichkeiten des Multitaskings eindeutig wissenschaftlich
widerlegt wurde, werden diese offensichtlich immer noch als eine probate ­Strategie zur
Effizienz- und Effektivitätssteigerung gesehen. Mehr oder weniger freiwillig sind wahr-
scheinlich die immer wieder praktizierte zeitliche Mehrarbeit sowie der oft damit verbun-
dene bzw. akzeptierte Verfall von Urlaubstagen. Die bis in die private Lebenssphäre erwei-
terte, permanente Erreichbarkeit wurde als zusätzliche, fragwürdige Strategie zur
Bewältigung der Arbeitslast bereits genannt. Zu den sozialen Bewältigungsmethoden im
Umgang mit Belastung zählen sowohl materielle wie auch ideelle Unterstützungs- und
Hilfeleistungen innerhalb einer Gruppe (z. B. eines Teams oder einer Projektgruppe), die
mit einer Entlastung der Gesamtgruppe verbunden sind. Im Konkreten zeigt sich dies ge-
mäß Handrich, Koch-Falkenberg & Voß (2016, S. 182 f.) im Aushelfen mit Arbeitsmitteln,
in der Übernahme von Aufgaben, der Erklärung von Abläufen und Aufgaben, hilfreichen
Ratschlägen wie auch einer größeren Fehlertoleranz im Falle auftretender Probleme. Ob-
wohl sicher wünschenswert, waren offene halbformelle oder informelle Kommunikations-
und Feedbackstrukturen im Rahmen von gemeinsamen Pausen oder Mittagessen eher sel-
ten anzutreffen.
Unterschiede bei stärker kontextbezogenen Umgangsweisen mit Stress und Drucksitu-
ationen sind jedoch auch im (3) privaten und betrieblichen Umfeld auszumachen. So
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“ 239

findet sich in der Untersuchung von Handrich, Koch-Falkenberg & Voß (2016, S. 183 f.)
im betrieblichen Bereich auf institutioneller Ebene nach wie vor die Hoffnung, über
z. B. die Gründung von Betriebsräten, den Beitritt zu Gewerkschaften oder andere, be-
triebsinterne Gremien Einfluss auf die betriebliche Situation zu erhalten. Zur Reduktion
von Stress und Druck eher vereinzelt anzutreffen waren Instrumentalisierungsversuche
positiver Kundenbeziehungen. Insgesamt wurden die betrieblichen Einflussmöglichkeiten
eher als begrenzt geschildert. Naturgegeben anders verhielt es sich bei den Umgangswei-
sen im privaten Kontext. Ein gute Abstimmung und Absprache innerhalb der Familie, die
bewusste und engagierte Pflege von familiären und freundschaftlichen Beziehungen wie
auch die bewusste Ausübung von Ausgleichsaktivitäten als Einzel- oder Gruppenaktivität
in Form von Hobbys oder Sport zählten hier zu den häufigsten und als am zielführendsten
angesehenen Strategien für einen erfolgreichen Umgang mit Stress und Druck im betrieb-
lichen Bereich. So gibt es eine Vielzahl von Ansatzpunkten und Gestaltungsoptionen zur
Reduzierung von Zeit- und Leistungsdruck (siehe Abb. 4.11).

Welche Konsequenzen die Situationen potenziell trotz der Bewältigungsversuche


bei Klienten nach sich ziehen können
Trotz der wissenschaftlich sehr redlichen, methodischen Einschränkungen (retrospektive
Erhebung; nur subjektive bzw. qualitative Schilderungen; Validität der punktuell geliefer-
ten Informationen etc.), welche Handrich, Koch-Falkenberg & Voß (2016, S. 184 ff.)

Gestaltungs-
Bereiche Kurzbeschreibung (in Auszügen)
optionen
 Kognitiver Umgang: Entwicklung von Aufmerksamkeit/Achtsamkeit für Leistungs- u. Zeitdruck und ihre Auswirkungen auf die eigene Person
Subjektbezogener
 Praktischer Selbstumgang: Nachhaltiger, präventiver Selbstumgang bzw. aktive Selbstsorge in psych., phys. und motivatorischer Hinsicht
Umgang  Normativer Selbstumgang: Achtung für Lebensziele und -werte; Wahrung des Selbstrespekts und der eigenen Würde

 Zeitbezogen: Entschleunigung und Pausen; Reduktion von Unterbrechungen; Limitierung der zeitlichen Erreichbarkeit und Mehrarbeit
Tätigkeitsbezogener  Arbeitsprozess: Reduktion der qualtatve und quantitative Verdichtung; Gefühl der Fremdbestimmung/ des Getriebenseins; dauerhaft oder punktuel
l
Individuum Umgang unterstützende Kooperationen durch ein vorab geknüpftes Netzwerk
 Arbeitsergebnis: Blancierendender u. begrenzender Umgang mit widersprüchlichen Erwartungen von internen und externen Kunden

 Betrieblicher Kontext: Abschwächung des Drucks durch indirekte Mittel wie z.B.Verhandlung oder Konfliktbereitschaft; stärkere inhaltlich und/oder ze
itliche
Kontextbezogener Verteilung, Externalisierung von Arbeitsanteilen; glaubwürdige Wertschätzung durch FKs; berufl. Veränderung oder Exit
Umgang  Privater Kontext: Neues Aushandeln der Verantwortlichkeiten in der Partnerschaft; emotionale Stabilisierung bzw. praktische Unterstützung von Verwandten,
Freunden, Bekannten; Bewußtwerdung, Einübung und Praktizierung von Selbst-Achtsamkeit und Selbst-Sorge

 Zeitbezogen: Z.B. Verkürzung der formellen Arbeitszeit, Begrenzung von Wochenendarbeitszeit, mehr „flexible“ Arbeitszeiten, bessere Planbarkeit von
Verringerung des kommenden Aufgaben, gößere Abstände zw. Anforderungs´reichen Aufgaben etc.
Zeit- u. Leistungs-  Arbeitsprozess: Begrenzung von Mehrfach und Zusatzfunktionen, Reduzierung der sachlichen Zuständigkeiten, Begrenzung von Nebenaufgaben und
drucks bürokratischen Verpflichtungen, zusätzliche personelle, finanzielle und sachliche Ressourcen etc.
 Arbeitsergebnis: Klare, realistische und sachgerechte Leistungserwartungen; Zielvereinbarungen, die keine Zieldiktate sind

 Ernsthaftes Problembewußtsein: Nachhaltiges, präventives oder kuratives Balancieren zwischen der Maximierung von Kosteneinsparungen, Effizienz und
Effektivität bei Prozessen und Überlegungen zum Gesundheitsmanagement der Beschäftigten etc.
Unter-  Substanzielle Unterstützung: Unterstützungsanfragen ohne Sanktionsbefürchtungen; präventive Organisation von Unterstützungsstrukturen; Offenlegung
nehmen aller benötigten Informationen; Verzahnung des betrieblichen Gesundheitsmanagements mit der Personalentwicklung; Systematisch e Einarbeitung durch ein
Ansatzpunkte. für Mentoring-System oder internes Coaching durch Peers oder FKs; konsequent fürsorgliches Führungsverhalten etc.
einen gestaltenden  Echte (Zeit-)Autonomie: Möglichkeit zum Einbau von zeitl. Mikropuffern; Slow-Go-Tage; No-Go-Zeiten zum „Ausklinken“; flexible Arbeitszeiten;
Umgang mit Zeit- u. Sensibilisierung bzw. Prävention hinsichtlich des Phänomens der „interessierten Selbstgefährdung“ (Peters 2011) etc.
Leistungsdruck  Glaubwürdige Wertschätzung: Nachhaltige Wertschätzung der Beschäftigten (in ihrer speziellen Lebenslage) und Kunden (!) in Worten und Taten (z.B.
Coaching für alle; angemessene Vergütung bzw. Verzicht auf kleinliche Lohndrückerei) etc.
 Entlastende (neue) Perspektiven: Förderung der Employability; Positions- oder Funktionswechsel ohne Gesichtsverlust; Möglichkeit für Retreats,
Sabatticals inkl. Wiedereingliederungsmaßnahmen; hierarchischer Rückschritt oder Verbleiben auf Karrierestufe wird nicht als Faulheit oder Versagen
definiert etc.

Abb. 4.11 Gestaltungsoptionen zur Reduzierung von Zeit- und Leistungsdruck (Quelle: Handrich
et al., 2016, S. 184–190; Zusammenstellung durch den Autor; © Stefan Stenzel 2022. All Rights
Reserved)
240 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Bereiche Konsequenzen Kurzbeschreibung

 Psychische Beeinträchtigungen (Ängste, Unlust, Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Niedergeschlagenheit etc.)


 Starke Gefühle von Demotivation, Resignation, Frustration, Enttäuschung, Ärger, Wut
Psychisch  Veränderung des Loyalitätsempfindens gegenüber eigener Tätigkeit und Unternehmen
 Gefühle des Alleine-gelassen-Werdens, der Überforderung
 Zukunftsängste
Person
 Müdigkeit, Mattigkeit – aber dennoch Schlafproblem
 Muskel-Skelett-Erkrankungen: Rücken- oder Nackenbeschwerden, Bandscheibenvorfälle
Physisch &
 Vegetative Beschwerden: Verdauungs- und Magenbeschwerden
Psychosomatisch
 Augenbeschwerden
 Kopfschmerzen

(Berufs-)  Ausstiegsfantasien, -pläne, die jedoch nicht handlungsrelevant werden; Problemparalyse


Biografie  Erleben eines Gefühls des Kontrollverlustes hinsichtlich der eigenen beruflichen und persönlichen Entwicklung

 (Bewusstes) Missachten und Unterlaufen betrieblicher Vorgaben in einer legalen „Grauzone“


Individuell
 Missachtung, (Selbst-)Verleugnung eigener Werte und Standards hinsichtlich „guter Arbeit“ oder hinsichtlich der Rolle als Vater oder Mutter
Tätigkeit  Zunahme oder Verschärfung von innerbetrieblichen Auseinandersetzungen bzgl. Zuständigkeiten, Zuarbeiten, Unterstützungsleistu
ngen, Mehrarbeit,
Sozial Zuverlässigkeit
 Demotivation, Abschottung („Wir gegen die“) oder Silodenken („Wir machen unser Ding“) ganzer Teams oder Abteilungen

 Unsicherheit und (Zukunfts-)Ängste vor und nach Umstrukturierungsmaßnahmen, Personalabbau oder -fluktuation (durch ausbleibende Neueinstellungen /
„ausbluten“ lassen)
Betrieblich
 Veränderung der Qualitätsstandards, die unter/über den persönlichen liegen
 Imageverlust des Unternehmens u. damit des eigenen Arbeitsplatzes; Erosion der Identifizierung mit – u. Loyalität gegenüber – dem Betrieb
Betrieblicher &
privater  Organisatorische Herausforderungen durch überraschende Meetings, Dienstreisen, Mehrarbeit etc. und planerischen Mehraufwand e rzeugen
Kontext  Organisatorische Herausforderungen, bei der als Folge paradoxerweise Spontanität geplant werden muss
 Komplementäre Inflexibilität infolge der Wechselwirkung der oben geschilderten Sachverhalte
Privat
 Permanente Erreichbarkeit, die keinen Privatbereich kennt
 Belastungen der Beziehungsqualität bzgl. Partner:in (im Extremfall: Trennung oder Scheidung) und zu Freunden („Einschlafen“ oder Abbruch der
Beziehung) durch die oben geschilderten Sachverhalte

Abb. 4.12 Konsequenzen von Zeit- und Leistungsdruck. (Quelle: Handrich et al., 2016, S. 226–232;
Zusammenstellung durch den Autor; angelehnt an © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved)

gleich zu Anfang machen, soll aufgrund des weitreichenden und vor allem integrativen
Ansatzes hier nicht auf die Darstellung der Konsequenzen verzichtet werden. Diese ver-
mittelt im Überblick die Abb. 4.12.

Natürlich sind die in der Tabelle beispielhaft aufgeführten, einzelnen Phänomene nicht
neu. In der Gesamtschau jedoch vermitteln sie das zuvor Gesagte noch eindrücklicher und
bieten womöglich Denkanstöße für einen auch in der Realität ganzheitlicheren Ansatz für
den Service „Coaching“. Auch wenn die zukünftigen Beschäftigten im Vergleich zu den
befragten Probanden in der Studie vermehrt auch in atypischen Arbeitsverhältnissen (siehe
Abschn. 5.3) arbeiten werden.

4.4.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

In der Betrachtung der Entstehungsbedingungen, Erscheinungsformen und Konsequenzen


von Zeit- und Leistungsdruck im Kontext der neuen Arbeits- und Lebenswelt wurde bereits
mehrfach die Wechselwirkung mit anderen Dimensionen angedeutet. Die Dimension Zeit ist
aber nur ein Blickwinkel in der Auseinandersetzung mit dem Leben. Berufliche Fragestellun-
gen erfordern daher mit ihren übergreifenden Themen eine Erweiterung der Perspektiven auf
die ganze Person. Und obwohl der integrative Ansatz des „Life-­Coaching“ in den „Leitlinien
und Empfehlungen für die Entwicklung von Coaching als Profession“ des DBVC e.V. ge-
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“ 241

nannt wird, fehlt zum einen ein kontextueller Bezug und wirkt es zum anderen zusammen mit
dem ebenfalls aufgeführten „Business-Coaching“ wie dessen ungeliebter Antipode für die
restlichen Lebensthemen. Doch dieses „Mauerblümchen-­Dasein“ fristet es zu Unrecht!
So zeigt ein Blick in die Historie, dass die Ursprünge des „Life-Coachings“ – oder
„Life-Stylings“, wie es anfänglich in den USA genannt wurde – wahrscheinlich tiefer sind
als das Business-Coaching, wie wir es heute kennen. Nach Angaben des deutschen Pio-
niers für dieses Thema, Rolf Stiefel (Stiefel, 2001), liegen die Wurzeln in den Konzepten
zur „Predictive Medicine“ von John McCamy und James Presley (McCamy & Presley,
1975). In ihren eher medizinisch ausgerichteten Ansätzen zu einer insgesamt gesünderen
Lebensführung meinten sie auf der Basis physiologischer Daten (EKG, Cholesterin, Harn-
säure etc.), Sterbetafeln von Lebensversicherungen und der jeweiligen Lebensführung
Prognosen für Probleme mit einzelnen Organen machen zu können. Und im Zusammen-
hang mit der individuellen Lebensführung wurden oft auch berufliche Themen angespro-
chen. Zusammen mit den Anregungen, welche Stiefel bei seinem Aufenthalt 1972 in Ka-
lifornien durch die Anfänge der humanistischen Psychologie (Bühler & Allen, 1972)
erhielt, verfasste er 1981 das in Deutschland erste Buch zum „Human Life Styling“ (Hirth
et al., 1981). Wie für ihn erwartbar, zeigten sich die Personalabteilungen zu dieser Zeit
sehr zurückhaltend in der Adaption des Konzeptes. Man fürchtete damit die Mitarbeiter­
orientierung zu übertreiben bzw. Wünsche oder Erwartungen wachzurufen, welche man
auch eigentlich nicht im Verantwortungsbereich des Unternehmens sah. Als suspektes
Überbleibsel aus der Hippiezeit belächelt oder sogar abgelehnt, gingen der Begriff und das
Konzept im Managementzeitgeist der späten 70er und 80er im deutschen Sprachraum
weitgehend verloren. Nur der Teilaspekt „Zeit“ bzw. das Zeitmanagement schaffte es in
der Person von Lothar Seiwert in einer sehr technokratischen Variante der Zeitplanung und
Zeitplanungssysteme in die Seminarräume der deutschen Unternehmen. Mit einem sehr
eindimensionalen „1x1 des Zeitmanagements“ (Seiwert et al., 1984) versprach der selbst
ernannte „Papst der Zeitplanung“ mit Beginn der 80er-Jahre mehr „Erfolg durch konse-
quente Zeitplanung und effektive Arbeitsmethodik“ (Seiwert, 1984). Stark getragen von
seiner eigenen Philosophie der Lebensgestaltung, blieb Rolf Stiefel jedoch seinem Kon-
zept des postmaterialistischen Umgangs mit Erfolg treu, welches neben der Zeit auch die
Aspekte der persönlichen Gesundheit und allseitigen Beziehungsqualität beinhaltete (Stie-
fel, 2001, S. 6 f.). Neben der inneren Unabhängigkeit spielte dabei auch die finanzielle
Unabhängigkeit bei der Lebensgestaltung eine Rolle. In der zweiten Hälfte der 90er meinte
Stiefel mit Publikationen zur „lebensfreundlichen Organisation“ (Pahl, 1996) oder zu „Be-
ratern fürs Leben“ (Rieker, 1997) Morgenluft für seinen ganzheitlicheren Ansatz des Life-­
Stylings wie auch Offenheit für erste Coaching-Ansätze zu wittern.

Die drei Ebenen des Themas „Life-Styling“


So definierte er Anfang der 2000er drei Ebenen für das Thema Life-Styling: erstens als
Themenkoffer für Workshops bzw. individuelle Beratung, zweitens als Teil der Selbstent-
242 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

wicklung bzw. Auseinandersetzung mit berufsbiografischen Brüchen bzw. Umbrüchen


und drittens als Sammlung von didaktisch-methodischen Ansätzen. Im Sinne der zweiten
Ebene ist Stiefel dabei der festen Überzeugung, dass es „ohne Life Styling am ‚Selbst‘
[…] keine authentische Vermittlung oder Bearbeitung des Themas an und bei anderen“
gibt (Stiefel, 2001, S. 12). Im Sinne einer Befreiung von Schuldgefühlen bzw. des leicht
abgewandelten Mottos von Weinconnaisseuren (Das Leben ist zu kurz, um nicht immer
eine ausgewählte Sorte in den jeweils passenden Situationen zu genießen) sowie der Ab-
kehr von der „Kaviar-Ideologie“ (Man erlebt Höhepunkte im Leben nur als „high“, wenn
sie sich vom Alltag abheben) plädiert Stiefel in seiner Life-Styling-Philosophie dafür, das
Leben jeden Tag mit Highlights zu versehen und durchgängig genießen zu wollen (Stiefel,
2001, S. 14), d. h., „als Lebensunternehmer mehr persönliche und berufliche
­‚flow-­Situationen‘ zu schaffen. Oder besser: Versuchen, das Leben insgesamt als ‚flow‘
einzurichten“ (Stiefel, 2001, S. 15). Damit wird schon sehr früh deutlich, dass alle Life-­
Styling-­Ansätze – sofern es sich nicht um ein wissenschaftlich erarbeitetes Konstrukt han-
delt – fast unvermeidlich oft auch die Lebensphilosophie ihres Autors in sich tragen
­(Stiefel, 2001, Kap. 3, S. 2). Hinsichtlich der dritten Ebene – den möglichen methodisch-­
didaktischen ­Herangehensweisen – rekurriert Stiefel (Stiefel, 2001, Kap. 3, S. 6 f.)
auf einen weiteren Life-Styling-Klassiker, Arthur E. Kirn (Kirn, 1973). Dieser propagiert,
mit einer Bestandsaufnahme zu beginnen, gefolgt von einer Zielsetzung, und mit einer
Aktionsplanung zu enden. Stiefel akzentuiert bei seinem Ansatz einen klaren Dreischritt:
(1) Standortbestimmung – Leben und Beruf, (2) Visionen, Zukunftsbilder und Szenarien,
(3) Auseinandersetzung mit den Ist-Soll-Differenzen – dem „Delta“. Besonderen Wert legt
er dabei auf die intensive Bearbeitung des Deltas. Die einzelnen Schritte werden dabei
gefüllt mit Methoden wie dem Zeichnen der Lebenslinie, der Analyse von Schlüsselereig-
nissen, einer (internen) Kundenanalyse, verschiedenen Entscheidungstechniken, der
Nachruf-Übung oder Kraftfeldanalysen etc. Das Themenfeld von Life-Styling als der ers-
ten Ebene der konzeptionellen Betrachtung präsentiert sich wie zu erwarten sehr hetero-
gen und gleicht nach Stiefel (Stiefel, 2001, Kap. 3, S. 8 f.) einem Gang durch das Museum
der Managementlehre und ihrer Gurus. So ist hier das Thema „Laufbahn“ seit 1978 un-
trennbar mit dem Namen Edgar K. Schein und seinem „Karriereanker“ verbunden, und
der Aspekt der „Identität“ wird für immer an den großen Visionär Charles Handy gekop-
pelt bleiben. Mit ihrem „Manager’s Guide to Self-development“ hat sich das Dreigespann
Mike Pedler, John Burgoyne und Tom Boydell im Bereich der „Selbstentwicklung“ ein
Denkmal gesetzt. Für die Behandlung des Themas „Stress“ steht im englischsprachigen
Raum Cary L. Cooper – in Deutschland eher Johannes Brengelmann. Die Begriffe „Prob-
lemlösen“ und „Entscheiden“ verbinden sich bei Fachleuten oft mit den St. Galler Profes-
soren Peter Gomez und Gilbert Probst. Einen ersten Ansatz von Mehrdimensionalität sieht
Stiefel (2001, Kap. 3, S. 48) in dem Transfer des Balanced-Scorecard-Konzeptes von
­Robert Kaplan und David P. Norton (Kaplan & Norton, 1996). Konkret heißt dies, dass
neben der Karriere und beruflichen Entwicklung, der Gesundheit und sozialen Beziehun-
gen auch die Freizeit, Spiritualität und finanzielle Situation des Klienten in den Sitzungen
zur Sprache kommen können. Was jedoch bei diesem gerade begonnenen Gang durch die
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“ 243

Ahnengalerie deutlich wird, ist, dass sich das Thema Life-Styling bislang nur eklektisch
aus anderen Konzepten speiste. So plädiert Stiefel (2001, Kap. 3, S. 2) dafür, „das Thema
Life Styling als ‚offenes, didaktisches System‘ für die Teilnehmer aufzuschließen, das
sie dann mit ihrer jeweiligen Sicht der Dinge individuell weiterverfolgen“. Übereinstim-
mend mit McCamy & Presley (1975, S. 2) sieht er das Konzept als eine sehr persönliche,
„kognitive Landkarte“: „Your Lifestyle is you. You are what you eat, drink, breathe,
think and do. Therefore, what you become tomorrow, depends upon what you do today.
You are the only person in the world who can do what is necessary to make you happy and
healthy.“

Die Morgenröte für einen integrativen und wissenschaftlichen Ansatz?


Mit der anspruchsvollen Forschungsarbeit „Lebensführung als Arbeit. Über die Autono-
mie der Person im Alltag der Gesellschaft“ des Soziologen Gerd-Günter Voß (Voß, 1991)
sieht Stiefel (2001, Kap. 3, S. 3) eine erste Chance für einen nicht nur subjektiv definierten
und stärker integrativen konzeptionellen Ansatz des Life-Stylings. Als Opfer der „arbeits-
teiligen Wissenschaft“ war es Voß‘ erklärtes Ziel der Arbeit, „die alltägliche praktische
Lebensführung von Menschen umfassend und in ihrer eigenen Qualität [zu] thematisie-
ren“ (Voß, 1991, S. 19). Dieser konzeptuelle Anspruch sollte durch die Erfüllung von vier
Kriterien eingelöst werden: Ganzheitlichkeit i. S. v. alle Lebensbereiche umfassend, pra-
xisbezogen und -relevant, mit Eigenlogik i. S. einer Sinnhaftigkeit für das Individuum
(welches jedoch nicht völlig frei vom Einfluss gesellschaftlicher Strukturen und Dynami-
ken ist) und bezogen auf relativ regelmäßige bzw. alltägliche Tätigkeiten. Die gleichen
Kriterien sollten nach Voß (1991, S. 21) auch für die Auswahl bereits vorhandener Kon-
zepte zur theoretischen Fundierung des neuen Ansatzes dienen. Dazu zählen Modelle zur
Lebensführung mit folgenden Schwerpunktsetzungen: die Dichotomie von „Arbeit“ und
einem „Rest“ des Lebens (wie z. B. beim Marxismus und bei der Freizeitsoziologie), die
empirische Verteilung von Aktivitäten in Raum und Zeit (wie z. B. in der Zeitbudgetfor-
schung und Chronogeografie), der Verlauf des Lebens bzw. Lebensgeschichte (wie bei
Biografie- und Lebenslaufansätzen) sowie das Leben als Konstruktion (wie z. B. in der
Phänomenologie oder Lebensstilkonzepten) und letztlich als die Konfiguration von Rol-
lenaktivitäten (wie im Falle von Rollentheorie und rollentheoretisch inspirierten Identi-
tätskonzepten). Das Manko, dass bislang jedoch keines der genannten Modelle alle fünf
Kriterien integriert, war für Voß Anlass, sein Forschungsvorhaben zu starten. Zentraler
Begriff seiner Arbeit ist dabei der auf Max Weber zurückgehende und nun erweiterte Ter-
minus der „alltäglichen, praktischen Lebensführung“. Mithin geht es beim „Leben“ um
das gesamte Spektrum der Aktivitäten von Menschen. Der Begriffsbestandteil der „Füh-
rung“ betont die aktive, individuenspezifische (eigenlogische) Konstruktion bzw. Steue-
rung von Leben. Und auch die Fokussierung auf die „Praxis“ des Alltags findet sich in der
Definition des neuen Theorieansatzes wieder. Gleiches gilt für dessen „Alltäglichkeit“,
welche alle regulären und auch routinemäßigen Tätigkeiten einbezieht. Ergänzend wird
das Modell durch einen Arbeitsbegriff erweitert, welcher jedoch nicht deren Inhalte und
Ziele der Tätigkeit zum Gegenstand hat, sondern die Regulierungsaktivitäten bei der Tä-
244 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

tigkeit selbst. Coaches mit einem arbeits- und organisationspsychologischen Hintergrund


werden hier einige Déjà-vu-Momente erleben. Ferner wird in seinem Konzept die Lebens-
führung als sozial eingebundenes personales Tätigkeitssystem beschrieben. Dieser soziale
bzw. systemische Zusammenhang alltäglicher Tätigkeiten ermöglicht wiederum eine Ar-
beitsteilung auf der Ebene der Personen. Als Auslöser für ein Überdenken der Lebensfüh-
rung des Individuums sieht Voß (1991, S. 356 f.) endogene wie auch exogene Bedingun-
gen. Endogene Bedingungen sieht er eher in der persönlichen Lebenssituation begründet
bzw. gehen von der Person selbst aus. Beispielhaft zu nennen wären hier ein Wechsel der
Arbeitstätigkeit oder des Arbeitgebers, Eheschließung, Familiengründung, Scheidung
oder Verrentung. Bei den exogenen oder Umweltfaktoren unterscheidet er kontinuierliche
Veränderungen, wie z. B. den Prozess der „inneren Kündigung“ infolge von sich zuneh-
mend verschlechternden Arbeitsbedingungen, von Veränderungen durch plötzliche Ein-
schnitte. Ein aktuelles und für jeden nachvollziehbares Beispiel wären hier die massiven
Veränderungen der Lebensführung durch COVID-19. Aber auch ein Unfall, eine plötzli-
che Wohnungskündigung, eine erfreuliche Beförderung oder ein überraschender Lottoge-
winn können plötzliche Veränderungen der Lebensführung notwendig machen. Voß (1991,
S. 358) ist es dabei wichtig zu betonen, dass diese Veränderungen die Lebensführung nicht
unmittelbar beeinflussen. Dennoch ist den Betroffenen bewusst, dass es nun gilt, mit den
ihnen gegebenen Spielräumen auf Kontingenzen zu reagieren. Denn niemand wird ihnen
die erforderliche Neukonturierung des Lebens abnehmen. Dass Coaching bei allen ge-
schilderten Fällen ein Beitrag zur Unterstützung bei der Bewältigung dieser Herausforde-
rungen sein kann, liegt auf der Hand.

Eine Fortführung des soeben skizzierten Konzeptes von Voß findet sich ca. 10 Jahre
später in dem bereits in der Einführung zu diesem Kapitel dargestellten Buch von Hilde-
brandt & Linne zur „Reflexiven Lebensführung“ (Hildebrandt & Linne, 2000). Ein kon-
zeptioneller Neuansatz, welcher berufliche Laufbahnberatung als den Ausgangspunkt für
einen „Life-Design“-Ansatz wählt, ist die Arbeit von Nota & Rossier (Nota & Rossier,
2015). In ihrem „Handbook of Life-Design“ postulieren sie den Paradigmenwechsel von
reiner Berufsberatung zu einer ganzheitlicheren Vorgehensweise, wenn es um die Frage
geht, was man aus seinem Leben machen soll. Mit Überlegungen zu den Gestaltungsopti-
onen in jeder Phase des Lebens (Kindheit, Jugend, junges Erwachsenenalter etc.) würde er
nach Voß (1991, S. 9) eher zu den lebensgeschichtlichen Ansätzen zählen. Schaut man in
den Interventionsteil des Herausgeberwerks, wird auch Coaching als Methode der Wahl
aufgeführt. Insgesamt weist dieser Teil des Buches eine sehr heterogene Perspektivenviel-
falt (z. B. Arbeitslosigkeit, Armut, kultureller Hintergrund etc.) auf und springt zwischen
methodischen und situativen Aspekten.
Großer Beliebtheit erfreuen sich aktuell auch Lifestyle-Konzepte, welche sich bereits
erfolgreich etablierte Modelle wie das Business Canvas oder Design Thinking zunutze ma-
chen. In Analogie zu der Entwicklung eines Geschäftsmodells (Was ist mein Produkt,
meine Kunden etc.) lassen Alexander Osterwalder und Kollegen konzeptionell die „Ich-AG“
im „Business Model YOU“ (Clark et al., 2012) buchstäblich Wirklichkeit werden. Fokus-
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“ 245

sieren die Autoren mit diesem Ansatz eher auf die berufliche (Karriere-)Entwicklung, ver-
spricht das Autorengespann Burnett und Evans eine Design-Thinking-­basierte Anleitung zu
der Frage: How to Build a Well-Lived, Joyful Life (Burnett & Evans, 2016). Nicht ganz so
bunt und spielerisch wie der Bestseller der New York Times, aber mit einer Analogie des
Hausbaus nähert sich Silvia Ziolkowski mit ihrem „Anstiftungs- und Umsetzungsbuch für
ein großartiges Leben“ dem Thema. Im Titel vollmundig wie die amerikanischen Pendants,
aber zumindest mit Referenzen zu in diesem Zusammenhang zentralen psychologischen
Konzepten, wie Sinn, Verantwortung und Glück, ist es ein Arbeitsbuch und Startpunkt für
jedefrau. Eher an Coaches richtet sich das bis dato eher wenig beachtete Herausgeberwerk
von Buer und Schmidt-Lellek (Buer & Schmidt-Lellek, 2008) „Life-Coaching. Über Sinn,
Glück und Verantwortung in der Arbeit“. Es soll im nächsten Kapitel Ausgangspunkt für
die vermuteten Konsequenzen für das Coaching und den Coach sein.

Und (wie) geht es nun weiter?


Der kleine Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Life-Stylings und die Betrach-
tung gegenwärtiger Strömungen machen eines überdeutlich: Die persönlichen Baukästen
für Lebensglück und Karriereplanung formen sich nicht nur in den USA (z. B. die „School
of Life“14) mit der voranschreitenden Digitalisierung zu einem einträglichen Markt. Die
Samen, die John McCamy Mitte der 70er in den USA gelegt hatte, wie auch die verfrühten
Hoffnungen, die Rolf Stiefel an das Thema Anfang der 80er knüpfte, fallen nun womög-
lich auf den für diese Gedanken fruchtbareren Boden der digitalisierten Arbeitswelt. Viel-
leicht ist die Zeit nun reif, dass aus dem zarten Pflänzchen in den nächsten 5–10 Jahren
etwas Neues entstehen könnte.

Und wie bei jedem Anfang stellen sich zu dem Themenkomplex heute mehr Fragen, als
dass Antworten verfügbar wären. So formuliert auch der Autor (leicht provokative) Dis-
kussionsanstöße anstatt der erwarteten Antworten.

1. Wie lange und in welchen Anteilen wird es das klassische Business (vs. Industrie 4.0
und Arbeit 4.0) noch geben, dass das Konzept „Business-Coaching“ das „Life-­
Coaching“ wie ein lästiges Anhängsel behandeln kann? Diskussionsanstoß: CO-
VID-­19 war der für alle spürbare Auftakt für das Erleben für einen Aspekt (Homeof-
fice) von „New Work“. Durch das enorme Kosteneinsparungspotenzial bei den
Gebäude- bzw. Betriebskosten wird er von einigen Unternehmen wahrscheinlich in­
teressiert fortgeführt. In einer sich auch vor COVID-19 schon rasant ändernden Ar-
beitswelt mit ihren qualitativ wie quantitativ wachsenden Beanspruchungen und Flexi-
bilitätsanforderungen in alle Richtungen wird die Fokussierung auf „nur“
Business-Coaching immer fragwürdiger. Denn offensichtlich muss das moderne Leben
insgesamt als „Business“, als „Unternehmung“ gesehen werden. Die Begriffe der „Ar-
beit“ und „Unternehmung“ werden zukünftig immer weniger isoliert betrachtet werden

14
https://www.theschooloflife.com/. Zugegriffen am 26.09.2020.
246 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

können. Der ausgeführte Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ macht dies überdeut-


lich. Hier ist jedoch zu erwarten, dass sich die Fraktion der „eingefleischten“ Busi-
ness-Coaches verhält wie die berühmte Weihnachtsgans, mit der man über das Weih-
nachtsmenü sprechen will.
2. Wie viel Wissenschaftlichkeit verträgt oder braucht ein Lifestyle-Ansatz, der auf Reso-
nanz stoßen würde und sich auch (noch) einem breiten Publikum verkaufen lässt? Dis-
kussionsanstoß: Ganz im Geiste des großen Sozialpsychologen Kurt Lewin („Nichts
ist so praktisch wie eine gute Theorie“) wäre es womöglich zielführend, wenn die
Modelle zur Lebensführung so wissenschaftlich-empirisch fundiert wie möglich und
so zeitgeistgetränkt wie nötig sind; denn was nutzt ein Life-Styling- bzw. Life-­Design-­
Konzept, das bei Normalbürgern in deren Alltagsleben wie in der Fachwelt keine Re-
sonanz erzeugt?
3. Wie viel Interdisziplinarität traut sich die Coaching-Gilde bei Fragen der Lebensfüh-
rung zu? Diskussionsanstoß: Wenn es ihr mit dem oft proklamierten systemischen
Anspruch bzw. der empirischen Fundierung ernst ist und hinsichtlich der eigenen Kom-
petenzen redlich bleibt, wird sie ohne die Kollaboration mit den Experten anderer
Fachgebiete (Philosophie, Soziologie, Medizin, Neurobiologie, Finanzökonomie,
Computerwissenschaften etc.) nicht auskommen. So ist zu vermuten, dass nur ein in-
terdisziplinärer Ansatz der zunehmenden Vielfalt und Komplexität der Postmoderne
gerecht wird.
4. Wie integrativ bzw. offen kann und will die Coaching-Szene für die Breite des Lebens
sein? Diskussionsanstoß: Durch seine amerikanischen Wurzeln ist der ICF mit seinem
eher breiteren Life-Coaching-Ansatz besser für diese Verschiebung ausgerichtet. Noch
viel Forschung muss geleistet werden, um die Interventionsansätze auf solidere Füße
zu stellen und letztlich differenzierter einsetzen zu können.
5. Wie gesellschaftspolitisch engagiert sollen deren Protagonisten sein, um auch an den
situativen Arbeits- und Lebensverhältnissen zu arbeiten? Wie systemvergessen kann
und will man weiterhin arbeiten? Diskussionsanstoß: Wenn es um die Ausgestaltung
nicht nur der Arbeitswelt geht, stellt sich für die Community der Coaches die Frage, ob
und inwieweit sie sich weiterhin eher kurativ nur als „Reparaturbetrieb“ auf das Indivi-
duum fokussieren wollen oder auch präventiv an den situativen, d. h. wirtschafts- und
sozialpolitischen Rahmenbedingungen mitgestalten wollen.
6. Wie soll das „Kind“ sinnigerweise heißen, ohne nur den Marketingabteilungen der
Verlage und Seminaranbietern gerecht zu werden? Diskussionsanstoß: Begriffliche
Bausteine könnten im Deutschen „reflexive“ oder – ganz im aktuellen Trend – „agile“
„Lebensführung“ oder aber einfach wie bei Buer & Lellek (2008) „Life-Coaching“ als
Kontrastierung zum Business-Coaching sein. Letzteres würde jedoch indirekt die tren-
nende Sichtweise von Arbeit und Leben weiterhin befördern. Ein Design-Thinking-­
Ansatz mit Endkunden/Klienten der jüngeren Generation (!) könnte als Ausgangspunkt
für die Kontroverse dabei sehr aufschlussreich sein.
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“ 247

4.4.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Doch was heißt die oben beschriebene Neuausrichtung des Coachings insgesamt für die
Rollen und Themen des Coaches selbst bzw. die direkte Interaktion mit dem Klienten?
Mit den in diesem Kapitel (4.4 bzw. 4.4.1) in der Einleitung skizzierten Herausforde-
rungen und Konsequenzen für die Klienten assoziierten fachlich versierte Leser:innen das
in den letzten Jahren sehr populär gewordene Konzept der „Resilienz“. Mit seinen bis in
die 1920er-Jahre reichenden Wurzeln (Drath, 2014) hat das multifaktorielle Konstrukt
„um die Fähigkeiten zur Aufrechterhaltung psychischer Gesundheit angesichts schwieri-
ger Lebensumstände“ mehrfache Veränderungen erfahren (Sonnenmoser, 2018). Galt
diese scheinbar unerschöpfliche Widerstandskraft lange zunächst als angeboren, wurde sie
mit zunehmendem Erkenntnisstand auch als trainierbar abgesehen. Damit eröffnete sich in
den 90ern allen Therapeuten, Coaches, Lebensberatern und Testentwicklern ein Eldorado
an Vermarktungsmöglichkeiten. Mit der festen Überzeugung, dass Resilienz erlernbar ist
(Eberle, 2019), wurde das Geheimnis psychischer Widerstandskraft (Berndt, 2015) sogar
zum Bestseller. Ein fundierter Ansatz zum Resilienz-Coaching findet sich z. B. bei Gün-
ther Mohr (Mohr, 2017). Forschungsergebnisse des früheren „Deutschen Resilienz Zent-
rums“ (heute: „Leibniz-Institut für Resilienzforschung“ (LIR)15) in Mainz dämpften diese
Goldgräberstimmung nun mit der Erkenntnis, dass es sich bei der Resilienz eher um einen
dynamischen, lebenslangen Prozess handelt, welcher von dem Wechselspiel zwischen
Person und Umwelt getragen wird und über verschiedene Lebensbereiche und -phasen
variiert (Kunzler et al., 2018). Wirklich seriöse Trainingsangebote müssten daher zukünf-
tig nach einer sorgfältigen Diagnose dieser variablen Faktoren letzten Endes viel differen-
zierter ausfallen. Die weitere wissenschaftliche Fundierung dieses Neuansatzes in
Deutschland könnte daher von dem „Leibniz-­Institut für Resilienzforschung“ kommen.
Mit der Mission des LIR, „[…] Resilienz zu verstehen, stressbedingten psychischen Er-
krankungen vorzubeugen, Wissen zu vermitteln und dadurch die Gesundheit der Bevölke-
rung trotz sich wandelnder Arbeits- und Lebensbedingungen zu erhalten und zu verbes-
sern“ (Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR), 2021), ist es eine seriöse Quelle,
Resilienz in seinen vielfältigen Abhängigkeiten zu verstehen. Die soeben zitierte Mission
bzw. die entsprechenden Ausführungen auf der Homepage machen dabei deutlich, dass
auch das LIR den Wandel der Lebens- und Arbeitswelt als eine Ursache für die erhöhten
Resilienzanforderungen beim Individuum sieht. Die Stärkung der Resilienz im Rahmen
eines Gesundheitscoachings ist zwar kein neues Themenfeld. Es ist jedoch anzunehmen,
dass deren Bedeutung weiterhin zunimmt.
Ist man als von der Psychologie kommender Coach bereit, sich neben diesen individu-
enzentrierten psychologischen Ansätzen auch den Forschungsansätzen der Soziologie zu
öffnen, kann diese Erweiterung des Horizontes mit zahlreichen, sehr fruchtbaren Erkennt-
nissen belohnt werden. Die Referenzen im Eingangskapitel 4.4 (z. B. Hildebrandt &
Linne, 2000), Unterkapitel 4.4.1 (Handrich et al., 2016) und Unterkapitel 4.4.2 (Voß,

15
https://lir-mainz.de/. Zugegriffen am 19.10.2020.
248 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

1991) sollten hier Beleg genug sein. Zudem geht auch nach Sonnenmoser (2018, S. 506)
mit dem individuenzentrierten Resilienzansatz zuweilen eine gewisse Selbstüberschät-
zung oder aber die Negierung misslicher, (über-) fordernder oder gar ungerechter, situati-
ver Umstände einher. So thematisiert die Soziologin Sabine Flick (Flick, 2013) wie auch
Handrich, Koch-Falkenberg & Voß (2016, S. 250) das Konzept der Selbstsorge im Rah-
men entgrenzter Arbeitsverhältnisse. Dabei konzeptualisiert sie Selbstsorge nicht nur als
subjektive Haltung gegenüber sich selbst bzw. als individuelle Fähigkeit, sondern in Bezie-
hung zu anderen. Dies zeigt sie anhand der Untersuchung des Bindungserlebens und der
Beziehungsmöglichkeiten in Paarbeziehungen, Freundschaften, im Kolleg:innenkreis,
hinsichlich der Vorgesetzten und in der Beziehung zu Verwandten. Denn „niemand ist eine
Insel“ (Flick, 2013, S. 105).
Mit ihrem Begriff der „relationalen Selbstsorge“ erweitert sie den Terminus um die
intersubjektiven Dimensionen der Bindung, (1) persönlichen Beziehungen und Anerken-
nung. So ist Selbstsorge für sie eben „[…] nicht allein das unveränderliche Resultat früher
Kindheiterfahrungen, sondern aktualisiert sich im Rahmen persönlicher Beziehung. Dabei
sind alle persönlichen Beziehungen inkludiert, nicht nur familiäre, verwandtschaftliche
oder berufsbezogene, wie die Gegenüberstellung Arbeit-Leben unterstellt“ (Flick, 2013,
S. 81). Im Hinblick auf die Dimension der (2) intersubjektiven Anerkennung sieht sie mit
den psychosozialen Aspekten der Fürsorge oder des Umsorgtwerdens einen genderspezi-
fischen Aspekt der Selbstsorge. Die Diskussion während COVID-19 um die Systemrele-
vanz und mehr Anerkennung für meist Kindergärtnerinnen, Altenpflegerinnen und Kran-
kenschwestern war hier ein lebendiges Beispiel für diese mangelnde Wertschätzung für
psychosoziale Leistungen und Tätigkeiten (von Frauen). Um es mit etwas Wortakrobatik
zu akzentuieren: Die Sorge um die Sorgenden war hier nicht sehr nachhaltig und diese
mussten – nach Abklingen der Infektionslage – wieder selbst Sorge dafür tragen, gesund,
motiviert und leistungsfähig zu bleiben. Und dies in vielen Fällen nicht nur während der
Ausübung ihres Berufes! Verfügt das Individuum zudem über die (3) dritte Dimension
vielfältiger, fürsorgender Beziehungen und ist dazu noch in der Lage, diese als Ressource
für die eigene Selbstsorge frei zu nutzen, spricht Flick von der Dimension der (4) Aneig-
nung und Selbstwirksamkeit bzgl. der Selbstsorge. Inwieweit man seiner Selbstsorge als
Praxis der Selbstzugänglichkeit nachkommt und diese entweder ernst nimmt oder sie ver-
nachlässigt, beschreibt die (5) Dimension des Selbstverhältnisses. Die Dimensionen der
Praxis bzw. (6) Praxen der Selbstsorge bewegen sich damit intuitiv zunächst im Bereich
aller regenerierenden, die Arbeitskraft wiederherstellenden Aktivitäten – aller Reproduk-
tionshandlungen, wie Flick es nennt. Sie macht jedoch darauf aufmerksam, dass eine
Form der regenerativen Anpassungsleistung auch Widerstand gegen die Überforderung
z. B. in der Erwerbsarbeit, die Strapazen der Kleinfamilie sein kann. Daher kann sich
Selbstsorge neben der „normalen“ Beziehungspflege eben auch in verschiedensten Mög-
lichkeiten einer dynamischen Grenzziehung oder -auflösung innerhalb des Beziehungsge-
flechts ausdrücken (Flick, 2013, S. 82). Auf der Basis von Einzelinterviews identifizierte
Flick als Formen der Selbstsorge das Gestalten von Beziehungsräumen, Planung und
Kohärenzerfahrungen, Kommunikation und Kopräsenz sowie Strategien der Selbstimmu-
4.4 Reflexive Lebensführung anstatt solipsistischem „Business-­Coaching“ 249

nisierung. Wer angesichts dieses auf den sozialen Aspekt der Selbstsorge erweiterten Kon-
zeptes an den beziehungs- und orientierungslos dahindriftenden Arbeitsnomaden in Se-
netts „flexiblen Menschen“ aus Abschn. 4.3 denkt, liegt sicher nicht ganz falsch. Einer
potenziellen Verklärung der Selbstsorge vorbeugend, thematisiert Flick als Wissenschaft-
lerin auch die Tücken der Selbstsorge. So ergab die Befragung ihrer Probanden, dass eine
Limitierung der Beziehungsmöglichkeiten zum einen sich potenziell aus der geschlechts-
spezifischen Arbeits- bzw. Rollenteilung ergibt. Das heißt, Frauen können sich vielleicht
noch in einem Doppelverdienerpaar berufliche Anerkennung holen, sehr viel schwerer
jedoch in einem „Doppelkarrierepaar“, sofern ein Kinderwunsch besteht. Ferner sieht
Flick die Beharrlichkeit der Norm der Zweierbeziehung als exklusiver Ort der Fürsorge
bzw. als Ort, welcher es ermöglicht, „man selbst zu sein“, als weitere Tücke bei dem Be-
mühen, sich passende Ressourcen der Selbstsorge zu schaffen. Besonders deutlich wird
dies bei beruflich sehr bzw. überengagierten Singles, bei denen sich der Verdacht des
Kompensatorischen aufdrängt. Aber auch die Erwerbsarbeit als vermeintlich verlässlicher
Quell der Anerkennung, „weil man ist, wie man ist, und leistungsstark dazu“, offenbart
sich auf den zweiten Blick als schwierig. Als „kopräsente Beziehung“ bezeichnet Flick
(2013, S. 274) das freundliche, aber unverbindliche Miteinander eines Kolleg:innenkrei-
ses, welches über die latent herrschende Vorsicht oder gar das Misstrauen hinwegtäuschen
kann, aber eher für eine zweckrationale Beziehungsgestaltung spricht. Zudem wird gerade
im beruflichen Bereich nur das erfolgreiche und leistungsstarke, nicht aber das bedürftige
oder fürsorgliche Selbst anerkannt. Dieses limitiert jedoch den Ausbau von Bereichen zur
Anerkennung ihrer Authentizität bzw. Selbstsorge. Ähnliches gilt für die tückische Vor-
stellung einer als verlässlich und kontrollierbar angesehenen Erwerbsarbeit als Ressource
zumindest erfolgsbasierter Anerkennung sowie eines Gefühls von Autonomie. Und so-
lange man seine Arbeit gewissenhaft und erfolgreich verrichtet, kann dies auch zutreffen.
Doch je intensiver man sich deshalb in die Arbeit „reinhängt“ und dabei ggf. verausgabt,
um diese Anerkennung und Autonomie zu erfahren, desto stärker besteht die Gefahr psy-
chosozialer Belastungserkrankungen und damit von Abhängigkeit in der vulnerablen Fol-
gephase. So geht mit der Abhängigkeitsvermeidung über die Erwerbsarbeit die Abhängig-
keit von Erwerbsarbeit einher (Flick, 2013, S. 276). Um der (relationalen) Sorge um das
eigene Wohlbefinden bzw. dem Wunsch nach Authentizität, Autonomie, Selbstwirksam-
keit, Anerkennung gerecht werden zu können, ist daher viel Lebenskunst vonnöten. Der
Coach als Klärungshelfer hinsichtlich der vielfältigen Abhängigkeiten und Herausforde-
rungen im (Erwerbs-)Leben bzw. um deren Potenziale zur Selbstsorge durchzuarbeiten,
kann hier sicher eine wertvolle Unterstützung leisten.
Doch die Sorge um das Selbst ist in einer entgrenzten Arbeitswelt nur eine Dimension
der Lebenskunst für ein gelingendes Leben. So auch bei dem in diesem Themenfeld sehr
viel weitergehenden Life-Coaching-Buch von Buer und Lellek (2008). Das Konzept des
Life-Coachings geht davon aus, dass man Menschen im Arbeitsalltag nur dann wirksam
und nachhaltig unterstützen kann, wenn man ihr ganzes Leben in den Blick nimmt. Denn
überwinden bekennende „Business-Coaches“ ihre Scheu vor Konzepten, die neben der
Psychologie auch die Philosophie als Quelle nutzen, finden sie in diesem Werk vielfältige
250 4 (Sozial-)Psychologische Gesellschaftsveränderungen: ambidextrisches Handeln …

Leitsterne auf existenzielle Fragestellungen des Menschen in einer zunehmend globalen,


digitalisierten und zuweilen als sinnlos empfundenen Arbeits- und Lebenswelt. Zusätzlich
belohnt wird der Mut der „Pioniere“ unter den Business-Coaches mit auf die Welt der
Führungskräfte angepassten Ansätzen, die zudem fast durchgängig in Abschlusskapiteln
(„Erträge für den Coach“) mundgerecht aufbereitet bzw. zusammengefasst werden. Und
themenspezifische Literatursammlungen am Ende jedes Kapitels gibt es obendrein. Neben
dem Thema der Selbstsorge, welches in dem Band unter der Überschrift der Lebenskunst
(Buer & Lellek, 2008, S. 171) im Rückgriff auf die Philosophie von Michel Foucault,
Wilhelm Schmid und André Comte-Sponville ausgefaltet wird, sind es die Themen Sinn,
Glück sowie Überlegungen zur Verantwortung, welche in diesem Band sehr leicht ver-
ständlich aufbereitet werden und zur Vertiefung anregen. Wesentliche Erkenntnisse ihres
Grundlagenwerkes aufgreifend, zeigen beide Autoren in ihrem Ergänzungsband
(Schmidt-Lellek & Buer, 2011) anhand von Fallbeispielen, wie Life-Coaching in der Pra-
xis aussehen kann. Eine besondere Vertiefung der Sinnfrage findet sich in dem nun schon
in der zweiten Auflage vorliegenden Buch von Tanja Schnell, „Die Psychologie des Le-
benssinns“ (Schnell, 2020). Durch empirische Forschung fundiert, beschreibt das Buch,
welche Dimensionen von Sinn es gibt und wie man sie mit dem bzw. für den Klienten er-
schließen kann. Dass jeder Coach seine Liebe zur Weisheit und Lebenskunst entdeckt,
wäre wohl abwegig. Es ist jedoch anzunehmen, dass zumindest Sinnfragen bzw. die Suche
nach überdauernden Wahrheiten in der schon vielfach zitierten VUCA-Welt mit ihren viel-
fältigen Entgrenzungen und Subjektivierungstendenzen ein immer wichtigeres Thema im
Coaching werden könnten.
Wer als Business-Coach deshalb in einem Anflug von Verwegenheit sein Tun „jenseits
von Tools und Techniken“ reflektieren will, der findet entsprechende Anregungen in der
„Philosophie und Psychologie des Coachings aus systemischer Sicht“ (Böning, 2015) bei
einem der deutschen Coaching-Pioniere, Uwe Böning. Neben einigen philosophischen
„Splittern“ zu den Möglichkeiten der Beobachtung und Beschreibung von Wirklichkeit
analysiert Böning die interessanten Parallelen zwischen Kunst und Coaching und berührt
damit die Grundmauern und den Kerngedanken des Coachings (Ermutigung zum Perspek-
tivenwechsel). Gleiches gilt für seine Überlegungen zum Humanismus als einem zentra-
len Baustein im Wertefundament des Coachings sowie seine Ausführung zu den eher in
der Psychologie wurzelnden Konzepten Empathie, Vertrauen und Selbstbewusstsein und
Selbstwertgefühl. Eine bislang wenig beachtete Perspektive in der Coaching-Welt ist die
des Milieus. Als etablierter Coach im Topmanagement weiß Böning, dass der richtige
„Stallgeruch“ die Bildung des Rapports gerade zu Beginn des Coachings im Topmanage-
ment sehr unterstützt bzw. den Coach leichter an der Lebenswelt des Klienten ankoppeln
lässt. Geht Böning jedoch auf die Milieumodelle der Unternehmen SINUS und DELTA
ausführlich ein (Böning, 2015, 76 f.), wird an dieser Stelle – um Redundanzen zu vermei-
den – auf das Abschn. 5.1.2 verwiesen. Anhand des DELTA-Modells wird hier gezeigt,
dass sich der kommunikative bzw. mediale Zuschnitt des Coaching-Services dem anzu-
sprechenden Milieu anpassen sollte. Ferner wird auf der Basis der Generationenforschung
für die Generation Z (1998–2016) durchdekliniert, wie sich der Service „Coaching“ ins-
Literatur 251

gesamt aus diesem Blickwinkel verändern könnte. Die ebenfalls in Abschn. 5.1.2 themati-
sierte Frage nach der Sinnhaftigkeit eines milieubasierten Coaching-Angebotes soll hier
mit einer kleinen Übung zur Selbstreflexion vorbereitet werden. Schritt 1: Welche der
folgenden Begriffe stoßen bei mir auf die stärkste persönliche Resonanz, wo tauchen die
meisten positiven Bilder auf? „Adventure & Expedition“, „Sport & Performance“, „Basics
& Nature“, „Selfness-Wellness-Spa“; „Kultur & Shopping“ etc. Schritt 2: Was würde Sie
für welche(n) Bereich(e) besonders qualifizieren und würde Ihnen warum besondere
Freude bereiten? In der Bearbeitung dieser beiden Fragen erschließen sich für Sie als mi-
lieufokussierten Coach Ihre persönlichen Konsequenzen für einen in der Zukunft wo-
möglich am Milieu oder Lebensstil orientierten Coaching-Service.

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Veränderungen in Wirtschaft und
Unternehmen 5

Wie alle Bereiche des Lebens unterliegt auch der Wirtschaftsbereich stetem Wandel. Ver-
läufe und Meilensteine dazu liefert die oft sehr aufschlussreiche Betrachtung der Wirt-
schaftsgeschichte (Walter, 2011) oder der Unternehmensgeschichte (Plumpe, 2018). Wie
sehr wir in manchen der entwickelten Industriestaaten mit den Vor- und Nachteilen des
von uns gewählten (!) Wirtschaftssystems des Kapitalismus hadern und dabei jedoch
immer wieder durch die damit verbundene Wahlentscheidung auf uns selbst zurück-
geworfen werden, zeigen die erhellenden Reflexionen von Werner Plumpe (2019). Dieser
Detaillierungsgrad wäre im Kontext dieses Buches jedoch nicht zielführend.
Ausreichend für unsere Belange ist die Darstellung der Makro- und Mikrophasen der
industriellen und technologischen Revolutionen sowie einer eher schlagwortartigen
Gegenüberstellung zentraler Merkmale der Old und New Economy. Beides findet sich in
den nachfolgenden Abbildungen und erläuternden Kurztexten.
Zunächst zu den vermutlich auf disruptiven Entwicklungssprüngen oder S-Kurven
(siehe Abb. 5.1) basierenden Dynamiken hinter der Evolution technischer Systeme. Im
Überlappungsbereich der alten und neuen Technologie besteht in der horizontalen Zeit-
dimension die Gefahr, durch zu große Zögerlichkeit einen Wettbewerbsvorteil zu ver-
lieren oder nach erfolgreich bewältigter Disruption sich (zu lange) auf dem neuen auf-
steigenden Ast weiterzubewegen. In der vertikalen Leistungsdimension droht die Gefahr,
im Dilemma der Innovation paralysiert zu werden bzw. in eine Problemtrance zu fallen
oder aber nach anfänglichen Leistungseinbußen im neuen, unbekannten Terrain erneut
durchzustarten. Clayton Christensen beschrieb dies in seinem 1997 erschienenen Best-
seller als „Innovator’s Dilemma“ (Christensen, 2016). Erfolg macht potenziell eben oft zu
selbstbewusst und/oder träge. Eigentlich offensichtliche Disruptionen werden daher
­verpasst oder ignoriert. Der Mut und die Kraft zu Schumpeters „schöpferischer (Selbst-)
Zerstörung“ fehlen. Den für diese Transformationsphase bzw. die neuen Handlungs-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 259
von Springer Nature 2022
S. Stenzel, Die Zukunft des Coaching-Business,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-64421-8_5
260 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Leistungsfähigkeit
der Technologie

DISRUPTIONS-
Grenzen der Technologie Intensität Industrie 4.0
der Industrie 3.0

DISRUPTIONS- „Innovator‘s
dauer Dilemma“*

Industrie 3.0

Notwendige F&E-
Investitionen

Abb. 5.1 Technologiewechsel durch Disruption – „The Innovator’s Dilemma“. © Stefan Stenzel
2022. All Rights Reserved
Komplexität der Produktion

Industrie 4.0
Industrie 3.0 Vernetzte (IoT) bzw. daten-
Industrie 2.0
Automatisierung über basierte bzw. automatisierte
Industrie 1.0 Elektrisch betriebene Produktion
Computer bzw. IT
Mechanische Produktions- Fließbandproduktion  Programmierbare  Individualisierte Produktion
anlagen mithilfe von  Arbeitsteilige Massen- Produktionssteuerung
Wasser- und Dampfkraft produktion Vernetzung
 Fabrikarbeit Automatisierung
Elektrifizierung
Mechanisierung

Ende 18. Jhd. Anfang 20. Jhd. Anfang 1970er Heute Zeit

Abb. 5.2 Die vier Stufen der industriellen Revolution. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved

anforderungen ebenfalls zutreffenden, jedoch aktuelleren Begriff der „Ambidextrie“


erläutert Julia Duwe in ihrem Buch der „Beidhändigen Führung“ (Duwe, 2020, S. 20). Als
die großen Disruptoren gelten heute die Digitalisierung bzw. die damit einhergehenden
neuen (z. B. Plattform-)Geschäftsmodelle.
Doch wohin soll heute gewechselt werden und woher kommen wir? Abb. 5.2 illustriert
die in den letzten Jahren im Rahmen der Diskussionen um die Industrie 4.0 häufig thema-
tisierten Meilensteine der Industriegeschichte.
5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen 261

Die wichtigsten Elemente oder Technologiefelder der Industrie 4.0. finden sich in
Abb. 5.3. Die hier bereits besprochenen oder noch zu besprechenden Themen sind in fet-
ten Buchstaben geschrieben. Bisher wurden im Abschn. 2.1 dieses Buches bereits die Be-
reiche Big Data und Analytics, KI, Cloud und VR bzw. AR thematisiert.
Wechselt man von der obigen technologisch geprägten zu einer wirtschaftskon-
junkturellen Betrachtung der industriellen Entwicklungsphasen, landet man bei den so-
genannten Kondratjew-Zyklen. Die nach dem russischen Ökonomen Nikolai D. Kon­
dratjew benannten und von Joseph Schumpeter weiterentwickelten Zyklen beschreiben
den Zusammenhang zwischen ökonomischen Konjunkturzyklen und wichtigen techno-
logischen Innovationen. Parallel beschreiben diese Zyklen jedoch auch Phasen grundsätz-
licher gesellschaftlicher Veränderungen (z. B. hinsichtlich der menschlichen Bedürfnisse),
wie sie zum Beispiel durch die neuen Produktionsmöglichkeiten aufgrund der Dampf-
maschine bewirkt worden sind. Nicht jedoch in Stufenform, sondern als eine Abfolge von
zyklisch wiederkehrenden Phasen: der Prosperitäts-, Rezessions-, Depressions- und Er-
holungsphase. Abb. 4.1 in Abschn. 4.1 veranschaulicht die Wendepunkte der Kondrat-
jew-Zyklen.

 Advanced Robotics, die mit  Datenbasierte Simulationen von


Sensordaten autonom oder (Entscheidungs-)Szenarien und
interagierend produzieren Produkten
 Fertigungstechnologie für On-  Augmented/Mixed-Reality-
demand- bzw. Real-time-Produkte Anwendungen z. B. für Logistik u.
Wartung

FORT- MENSCH-
GESCHRITTENE MASCHINEN-
FERTIGUNG INTERAKTION

INDUSTRIE
4.0

HYPER-
CONNECTIVITY & DATEN, KI,
KOMMUNIKATION ANALYTIK

 Cloud Solutions für alle Lösungen,  Big/Smart Data & Data Mining
die allerorts u. jederzeit verfügbar aus Maschinen, ERP, CRM, SCM
sein müssen und zur Minimierung  Künstliche Intelligenz z. B. auf
des TCO beitragen Machine-Learning-Basis in allen
 Internet of Things (IoT) passenden Anwendungen

Abb. 5.3 Die vier wichtigsten Technologiefelder der Industrie 4.0. © Stefan Stenzel 2022. All
Rights Reserved
262 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Unterscheidungs-
Old Economy New/Digital Economy
kriterien
Maschinen- u. Automobilbau, Stahl-, Bau- und Informationstechnologie, Banken, Versicherungen,
Branchenfokus
Chemieindustrie Medien
(Überwiegend unsichtbare) digitale Assets
Greif- und sichtbare Assets (Anlage- und
Vermögenswerte (Nutzerzahlen, Algorithmen, Daten, Server, Rechner,
Umlaufvermögen)
Peripherien etc.)
Kapital- und arbeitsintensiv Erstellungsprozess Wissens- bzw. datenintensiv

Wertschöpfungs- Anpassungsfähige, dynamische Ökosysteme


Rigide Value Chains (linear)
prozess (nonlinear)
Fokus der
Optimierung der Kontrolle der Supply Chain Optimierung der Kollaboration im Ökosystem
Optimierung
Plattformen/Marktplätze; „smarte“, integrierte
Produkte/Services Produktfokus
Lösungen
Disruption; asymmetrischer Wettbewerb und
Organisch oder über Zukäufe (M&A) Wachstum
Netzwerkeffekte
Finanzielle Aktualität der digitalen Anlagen, Risiko- oder
Werteverlust der Maschinenanlagen, Personalkosten
Herausforderung Innovationskapital

Intra-Industry/(Branchen-)Silos Kollaborationsfokus Inter-/Cross-Industry

Abb. 5.4 Die Unterschiede zwischen Old und New Economy. © Stefan Stenzel 2022. All Rights
Reserved

Erhöht man erneut den Abstraktionsgrad zu einer makroökomischen Betrachtungs-


weise, ergibt sich die in Abb. 5.4 zusammengetragene Unterscheidung von Old und New
Economy.
Die obige, konzeptionelle Polarisierung wird der Realität natürlich nicht ganz gerecht,
da auch traditionellere Unternehmen zunehmend in neuere Technologien investieren und
die Prinzipien dahinter adaptieren. Auf der anderen Seite offenbaren die teilweise komple-
mentären Eigenschaften dass sie nicht ohneeinander leben können. Eine IT-Plattform ist
ohne die von traditionellen Unternehmen geschaffenen, realen Güter und Services eigent-
lich wertlos. Die aktuell gehypte New Economy braucht die Old Economy, um Geschäfte
zu machen. Immer wieder in ihrer Wirkung als besonders disruptiv herausgestellt (dazu
mehr in Abschn. 5.1), lohnt es daher, einen genaueren Blick darauf zu werfen.
Beim Erstellen von Produkten und Services entstehen in klassischen, linearen Ge-
schäftsmodellen der „Old Economy“ mit ihren sogenannten „One-sided Markets“ mit-
tels der organisatorischen Strukturen, Produktionsprozesse und allen beteiligten Personen
(neben den Material- und ggf. Maschinenkosten) sogenannte Transaktionskosten. Kern-
merkmal dieses auch als Pipelinemarkt bezeichneten Geschäftsmodells ist der direkte
Handel zwischen einem Hersteller bzw. Anbieter und seinem Kunden (auch B2C – Busi-
ness to Customer genannt). Diese Transaktionskosten werden durch die psychische „Stör-
anfälligkeit“ (z. B. irrationales Handeln) und/oder unnötige Aufblähung bzw. mangelnde
Effizienz und Effektivität bei physischen Erstellungsprozessen („Sand im Getriebe“) meist
ungewollt erhöht. Insbesondere den hohen Transaktionskosten infolge von meist in-
effektiven und ineffizienten organisatorischen Strukturen und Produktionsprozessen ver-
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“ Geld zu machen! 263

suchte man auf Herstellerseite seit den 1980ern durch Maßnahmen wie Outsourcing,
Profit-­Center, (strategische) Allianzen, M&A-Maßnahmen, Lean Management oder gar
Reengineering zu begegnen. Diese rein organisationsstrukturelle und prozessorientierte
Auslagerung bzw. Verschlankung führte jedoch nur zu mäßigen Effizienz- und Effektivi-
tätszuwächsen bzw. Renditen – und verkehrte sich zuweilen durch Misslingen des Trans-
formationsprozesses sogar ins Gegenteil. Trotz der gelegentlichen Kosten- bzw. Preis-
optimierung für den Endverbraucher war das Einkaufserleben auf Kundenseite unverändert,
d. h. ein generell hoher Such- bzw. Beschaffungsaufwand, um den richtigen Produzenten
oder Verkäufer mit dem am besten passenden Produkt zu finden, geringe Preistransparenz
sowie fehlende direkte Vergleichsmöglichkeiten der Produkt- oder Serviceeigenschaften,
ein dadurch eher vom Produzenten oder Verkäufer gestaltbarer Preis sowie Zahlungsver-
fahren, wie wir sie seit der Erfindung des Geldes kennen. Mal schnell von der Couch aus
„shoppen“ war eben nicht möglich.
Bis alle Voraussetzungen für einen echten Neuansatz und damit die maximale Minimie-
rung der psychischen und physischen Transaktionskosten – genauer gesagt deren radikale
Verlagerung – möglich waren, vergingen jedoch sieben Dekaden nach der Computer-­
Revolution, fünf Dekaden seit der Erfindung des Mikroprozessors und nur drei Jahrzehnte
nach Erfindung des Internets. Im Jahr 2011 meinte jedoch der frühere Venture-Capital-­
Investor Marc Adreessen in seinem hellsichtigen Artikel „Why Software Is Eating The
World“ im Wall Street Journal (Andreessen, 2011) die radikale Transformation vieler In-
dustrien voraussagen zu können bzw. den Siegeszug der New Economy einleiten zu kön-
nen. Es war jedoch ein Weckruf, der damals offensichtlich nur in Nordamerika und ins-
besondere an der Westküste des Staates wirklich gehört und ernst genommen wurde.

5.1  ie Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit


D
„nichts“ Geld zu machen!

Definierte man „Wirtschaft“ seit der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts
landläufig über die klassischen Industrien mit ihren materiellen und greifbaren Anlage-
und Umlaufgütern, weist die etwas pointierte Kapitelüberschrift darauf hin, dass sich dies
geändert haben muss.
Grund dafür war die durch die rasante Entwicklung der digitalen Technologien aus-
gelöste Gründungswelle mit dem Beginn des neuen Jahrtausends. Insbesondere das fast
schon sagenumwobene Silicon Valley wurde hier zur Wiege zahlreicher „Unicorns“. Als
Unicorns – also Einhörner – bezeichnet man dabei junge Unternehmen, „Start-ups“, die
hinsichtlich ihrer Marktbewertung vor ihrem Börsengang oder dem Exit mit über einer
Milliarde US-Dollar bewertet werden. „Lebensraum“ der Unicorns war und ist vor allem
der Dienstleistungsbereich – aber auch die Gen- und Biotechnologien, die optischen In-
dustrien und die Medienbranchen. Fokussierten diese jungen Unternehmen auf den
Dienstleistungssektor und nutzten primär digitale bzw. internetbasierte Geschäftsmodelle,
264 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

wurden sie zu einer der Keimzellen der sogenannten Digitalwirtschaft und der durch sie
maßgeblich geprägten „New Economy“.
Ob und wie die eingangs erwähnten, traditionellen Wirtschaftsbereiche der sogenannten
„Old Economy“ die neuen, digitalen Technologien selbst mutig und (pro-)aktiv integriert
oder die meist zunächst oft belächelten oder sogar unbeachteten, kleineren Wettbewerber
mit einer intelligenten Strategie neutralisiert haben, ist ein Teilaspekt des von dem Har-
vard-Professor Clayton M. Christensen 1997 verfassten und bereits im vorangegangenen
Kapitel erwähnten Werkes „The Innovator’s Dilemma“ (Christensen, 1997). Denn die er-
forderliche Neuausrichtung, die ggf. notwendige digitale Transformation aufgrund der
„Störung“, der Disruption, des Traditionsunternehmens fällt oft umso s­ chwerer, je erfolg-
reicher und größer das etablierte Unternehmen ist. Die meisten „Schuster bleiben eben
gerne bei den Leisten“ (oder ihren Herstellungs- oder Vertriebsprozessen), die sie kennen
und die ihnen nach eigener (Fehl-)Einschätzung auch zukünftig ein sicheres Einkommen
bescheren. Aber: „Uber yourself or you get kodaked!“ Das heißt: Erkennt man die Not-
wendigkeit zur Veränderung oder Erneuerung von Produkten bzw. Services und Prozes-
sen – wie Kodak das Entwicklungspotenzial der Digitalkameras – nicht frühzeitig genug
und entwickelt Gegenstrategien, wird man heutzutage sehr schnell vom Markt gefegt. Im
Falle der nachfrageseitigen Disruption (nach C. Christiansen) bei Kodak hat das Unter-
nehmen Innovationen in einem anfänglichen Nischenmarkt ignoriert und sich fälsch-
licherweise auf die Treue der Bestandskunden verlassen. Im Kontext der angebotsseitigen
Disruption (nach J. Gans) hat der Handyhersteller Blackberry dagegen die völlig neue
technologische Architektur (→ nur einen Menüknopf) bzw. die neue Handhabungsweise
(→ Wischtechnik) des iPhones von Apple übersehen bzw. die sich damit verändernden
Erwartungen und Präferenzen der Kunden.
Kern der digitalen Disruption im Dienstleistungssektor sind Plattformen. In einer
Analogie zur Automobilindustrie entsprechen sie dem einen, universell genutzten Chassis,
aus dem je nach Aufbau alternativ ein Cabrio, Kombi oder eine Limousine entstehen. In
der IT-Welt sind Plattformen Voraussetzung für ein Geschäftsmodell, bei dem auf einem
webbasierten Marktplatz Anbieter ihre verschiedensten Produkte oder Services zum Kauf
anbieten können. Wir als Kunden brauchen für Einkäufe nicht mehr verschiedene, reale
oder webbasierte Anbieter aufzusuchen, sondern können diese vergleichend auswählen
und zum besten Preis bequem vom heimischen Sofa aus bestellen. Eine Disruption im Be-
reich des Geschäftsmodells erfährt der angegriffene Anbieter durch einen neuen Mitwett-
bewerber dann, wenn dessen Service oder Produkt (→ Output) als wertiger wahrgenommen
und/oder aber der Prozess wie das Produkt entwickelt, erstellt oder vertrieben wurde vom
Kunden als für ihn letztlich vorteilhafter (z. B. hinsichtlich Qualität, Preistransparenz,
Kaufaufwand etc.) bewertet wird. Strukturell handelt es sich bei Plattformen um so-
genannte „Two-sided Markets“ (Tirol & Roches, 2014). Konkret heißt dies, dass sich
zwischen Hersteller und Kunde ein Anbieter einer IT-gestützten Handelsplattform schiebt,
dessen wesentlicher Mehrwert und dessen Expertise darin bestehen, mehr oder minder
eng definierte Produkt- oder Servicebereiche verschiedener Hersteller über seine Platt-
form anzubieten. Das heiß, das oben erwähnte B2C (nun das Plattformanbieter-­Endkunden-­
Verhältnis) wird parallel durch B2B (Business to Business – also das Hersteller-­
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“ Geld zu machen! 265

Old Economy / Pipeline-Modell New Economy / Plattform-Modell


„One-sided Markets“ „Two-sided Markets“

Keine/geringe
Zahlung einer
Nutzungsgebühr Service:

Produkt/Service Plattform-
bereitstellung
Service:
Zahlung einer
Zahlung Plattform- Vermittlungsgebühr von
bereitstellung 10–40% / Reduktion der
Geringe Transaktionskosten Rendite!!
bei hoher Profitabilität
Hohe Transaktionskosten Niedrige Transaktionskosten
 Hoher Suchaufwand  Geringerer Suchaufwand betterCoach XING
 Hohe Preistransparenz  Größere Preistransparenz
 Potenziell höhere Preise  Niedrige Preise Sharpist betterUp
 Herkömmliche Zahlung  Einfache Zahlung
LHH usw.

Abb. 5.5 Two-sided Markets/Plattformen im Coaching. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved

Plattformanbieter-­Verhältnis) ergänzt (→ Two-sided Markets). Die Abb. 5.5 veranschaulicht


den Unterschied. Oft mit völligem Unwissen über die Branche oder die vertriebenen Pro-
dukte beschlagen (Jeff Bezos war, bevor er Amazon gründete, z. B. kein erfahrener Buch-
händler!), verdienen sie ihr Geld u. a. über Nutzungs- bzw. Vermittlungsgebühren, die sie
sowohl vom Hersteller wie vom Endkunden direkt oder indirekt abschöpfen. Der von
ihnen angebotene Mehrwert heißt mithin nicht „Plattformsoftware“, sondern dass die
­Interessenten auf der Plattform i. S. eines „Matching“ z. B. für spezielle Werbung zu-
sammengeführt werden bzw. in einer offenen Infrastruktur zusammenfinden können, um
Waren oder Dienstleistungen auszutauschen. Die bei den Interaktionen anfallenden Kun-
den- und Transaktionsdaten sind die eigentliche Goldgrube. Damit landet jedoch ein
(potenziell nicht unbeträchtlicher) Teil der Wertschöpfung nicht mehr beim ursprüng-
lichen Hersteller bzw. Anbieter eines Produktes, sondern bei den Vermittlern zwischen
Angebot und Nachfrage. Und je größer bzw. je beliebter die Plattform beim Endkunden
ist, desto mächtiger wird sie gegenüber Herstellern und Endkunden und besitzt Kontrolle
darüber, was wie, wann und wo gehandelt werden darf, und damit im Extremfall eine
monopolistische Definitionsmacht (oder „Governance“) darüber, wie z. B. die Qualitäten
einer angebotenen Dienstleistung (z. B. Coaching) beschaffen sein müssen – ohne im
schlimmsten Fall „echte Expertise“ dafür zu besitzen. Was sie jedoch an „Expertise“ be-
sitzen, sind im Falle von Büchern bzw. dem gleichzeitigen Verkauf von E-Book-Readern
(z. B. im Falle von Amazon der Kindle E-Book-Reader) enorme Datenmengen darüber,
was Menschen wann, wie (lange), wo etc. gerne lesen. So liest bei diesen digitalisierten
Lesern das „Buch“ auch den Leser (Fritzsche, 2013) und der Schritt zum „Roman am
Reißbrett“ (zukünftig womöglich sogar geschrieben von einer KI) und einem an Verkaufs-
zahlen orientierten Begriff von Qualität oder sogar Ästhetik ist eine nicht unrealistische
Gefahr. Würde man Coaching auch als eine „Kunst“ sehen wollen – d. h. (bis dato) nicht
in Algorithmen abbildbar –wären zukünftig ein stark kommerzialisiertes „Bestseller-“
und ein „Kunsthandwerks-Coaching“ denkbar, die sich mit verschiedenen Preisen auch
an verschiedene Zielgruppen richten. Dazu mehr in Abschn. 5.1.2 bzw. fokussiert auf die
Situation des Einkäufers von Coaching-Dienstleistungen im Unternehmenskontext in dem
Artikel von Stenzel (2022) „Digital Coaching Provider (DCP) als Bezugsquelle von Coa-
ches für Einzel- und Großkunden“. Der Vollständigkeit halber sei in diesem Kontext zu-
266 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

mindest erwähnt, dass es unter der Überschrift „Digitale Geschäftsmodelle“ neben dem
dargestellten Plattformmodell mit seinen Netzwerkeffekten die auf Technikinnovation
basierenden Innovationsmodelle (z. B. Tesla, Adidas) und die auf Größenvorteil setzen-
den Skalenmodelle (z. B. Dropbox) gibt.
Etwas salopp formuliert lassen die Plattformen die Unternehmen der alten Ökonomie
für sich arbeiten und schöpfen unter Einsatz vergleichsweise minimaler Ressourcen – wie
noch darzustellen – fast nur Gewinne ab. Die Bemühungen der klassisch produzierenden
Unternehmen, ihre Effizienz und Effektivität mit dem letztlichen Ziel der G
­ ewinnsteigerung,
erinnern hier an die Geschichte von Igel und Hase. Gemäß der Kapitelüberschrift darf nie
übersehen werden, dass die Plattformen ohne die traditionellen, Realgüter produzierenden
Unternehmen oder entsprechende Services bedeutungslos wären. Denn was macht Uber
ohne Autobesitzer, Airbnb ohne Wohnungseigentümer, eBay ohne (Gebrauchtwaren-)
Händler bzw. die Hersteller der von den Händlern vertriebenen Produkte, Spotify ohne
Künstler und Komponisten usw.? Plattformbetreiber würden diesbezüglich mit Sicherheit
lieber von einer Henne-Ei-Konstellation sprechen. Egal wie, muss festgehalten werden,
dass der Erfolg dieses neuen Geschäftsmodells in jeder Hinsicht durchschlagend ist. Denn
dieser ist – ganz banal – umso größer, je positiver das Verhältnis von Input zu Output – und
Plattformmodelle sind bezogen auf den Gewinn je Mitarbeiter die Erfüllung aller Träume
eines jeden Unternehmenslenkers. Denn wie die Abb. 5.6 zeigt, erwirtschaftete 2017
z. B. bei Google jeder der 80.000 Mitarbeiter € 140.000,–, bei Daimler jeder der 289.000
Unternehmensangehörigen jedoch nur € 36.000,–. Obwohl die Zahlen nicht aktuell sind,
ist die Relation wahrscheinlich die Gleiche geblieben oder hat sogar für ein stärkeres Aus-
einanderdriften gesorgt.

Abb. 5.6 Der Gewinn je Mitarbeiter bei DAX- und US-Tech-Riesen 2017. (Quelle: Statista, Mat-
hias Brandt¸ Creative Commons: BY/ND) (https://de.statista.com/infografik/14844/dax-­unter­
nehmen-­versus-­us-­tech-­riesen/. Zugegriffen am 18.02.2021)
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“ Geld zu machen! 267

Noch dramatischer war das Verhältnis im gleichen Jahr beim US-Tech-Giganten Face-
book. Hier erreichte jeder der nur 25.000 Mitarbeiter über eine halbe Million, nämlich
€ 562.000,–. Dass diese realen und auf die Gegenwart bezogenen Erfolgszahlen auch
einen Einfluss auf den zukünftigen, noch nicht realisierten Erfolg haben, zeigt auch die
Wertentwicklung der Aktien in Form des 2016 von dem Netzökonomen Holger Schmitt
entwickelten Plattform-Index (Plattform-Index, 2020; Schmitt, 2020). Er umfasst aktuell
15 Plattform-Aktien der 3. Generation, die mit ihrer Marktkapitalisierung gewichtet sind.
Die Berechnung des Index erfolgt wöchentlich und wird im Vergleich mit Dow Jones
Indus­trial, Nasdaq Composite und Dax 30 dargestellt. Abb. 5.7 gibt hier einen schlaglicht-
artigen Eindruck von der Stärke dieses Index in der KW 52, 2020. 2020 waren im Index
folgende Aktien: Alibaba, Alphabet, Amazon, Baidu, Carvana, Etsy, Facebook, Fiverr,
Microsoft, Naspers, Netflix, PayPal, Peloton, Tencent und Twilio. Ohne ins Detail der
Zahlen zu gehen, macht schon allein die Grafik deutlich, wie sehr das digitale Geschäfts-
modell der Plattformen die Machtverhältnisse in vielen Märkten verschoben hat.

5.1.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Wird in diesem Zusammenhang der Klient als Coachee bzw. Endkunde gesehen, kann fast
jeder Leser sich selbst befragen, warum er so gerne und häufig im Netz bestellt. Das Ein-
kaufserlebnis ist von der Suchanfrage über entsprechende Suchportale (Plattformen) über
den Bestellungsklick bis hin zur meist superschnellen Auslieferung von minimalem

Abb. 5.7 Die Überlegenheit des Plattform-Index. (Quelle: mit freundlicher Genehmigung von ©
Holger Schmidt, TheOriginalPlatformFund.de (Quelle: TheOriginalPlatformFund.de; mit freund-
licher Genehmigung von Dr. H. Schmitt. Zugegriffen am 21.09.2021)
268 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Ressourcenaufwand gekennzeichnet – insbesondere, wenn es um materielle Güter geht.


Mit etwas Zeit und einigen Zusatzinformationen (z. B. den relativ objektiven Bewertungen
der Stiftung Warentest bzw. anderen entsprechenden Vergleichsportalen) kann man fast
sicher sein, eine zumindest gute Kaufentscheidung zu treffen. So ist für jeden auch aus
dem persönlichen Erleben nachvollziehbar, dass sich das Such- und Kaufverhalten für
Produkte sämtlicher Generationen erheblich verändert hat.
Sucht man jedoch eine Dienstleistung (z. B. einen Berater für eine Geldanlage, eine
Handwerkerleistung oder die beste Internisten-Arztpraxis in der Stadt), bei der man kein
ausreichendes Hintergrundwissen hat oder sich auch mit noch vertretbarem Rechercheauf-
wand nur wenig hilfreiches Halbwissen für ein spezielles Suchthema aneignen kann, wird
man meist mit sehr subjektiven und mithin nur bedingt hilfreichen Bewertungen konfron-
tiert. Zusätzliche Rezensionen mit oberflächlichen oder gar widersprüchlichen Aussagen
vergrößern dabei die erhoffte Orientierung nicht wirklich. Auch wird die Erfahrung als
Coach in Jahren meist nicht spezifiziert. Denn in 10 Jahren Tätigkeit als Coach könnte
man 10, aber auch 120 oder mehr Coachings (mit wie vielen Stunden?) durchgeführt
haben. Gekaufte positive Bewertungen und/oder Rezensionen oder Auszeichnungen bzw.
Pseudotitel wie „Top Coach 2016“ (Denk, 2016), welche Qualität, Vertrauen und Seriosi-
tät signalisieren sollen, schaffen letztlich mehr Unsicherheit und untergraben darüber hi­
naus den ohnehin schon schwierigen Ruf der Coaching-Szene. Doch wie kann sich ein Laie
in diesem übersättigten, eher intransparenten Markt ohne allseits anerkannte, professio-
nelle Qualitätsstandards orientieren? Die noch nicht einmal begonnenen Bemühungen um
den Titelschutz der Berufsbezeichnung „Coach“ (nach § 132a StGB, Missbrauch von
Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen) tun hier ihr Übriges. Solange Letzteres nicht
gegeben ist (die dünnen Positionspapiere des Roundtable Coaching können hier nur ein
Anfang sein (RTC, 2019) – und danach sieht es in den nächsten Jahren aus –, ist hier kein
echter Fortschritt zu erwarten. Obwohl ein sicher gut gemeinter Versuch, vermittelte der
Vorstoß der Stiftung Warentest 2013, Coaching-Lehrgänge (Stiftung Warentest, 2013) ver-
gleichend zu bewerten, ein ähnliches Bild. Ferner ist generell fragwürdig, ob ein Interes-
sent ohne jegliche Vorkenntnisse wirklich weiß, was er bekommt, wenn er „systemische
Persönlichkeitsarbeit im Mentalcoaching-Format“ oder ein Coaching zur „gewaltfreien
Kommunikation“ bucht und ob dies in seinem Falle wirklich der zielführendste Ansatz
wäre bzw. ob Coaching generell das richtige Lernformat für ihn ist. Oft suchen Menschen
einfach einen Rat, suchen oder benötigen eigentlich einen möglichst qualifizierten und
unabhängigen Berater. Und hier könnten die Berufsverbände in einer konzertierten Aktion
eigentlich einen wertvollen Beitrag leisten. Doch dies scheint zumindest aktuell mehr als
unrealistisch (siehe dazu Fietze & Salomon, 2021, S. 209)!
Doch die gute Nachricht für den Endkunden ist: Es existieren Plattformen bzw. Portale,
die eine schnelle und – wenn es nur um die Filterung über quantitative Kriterien (Methode,
Format, Branche, Ort, Zielgruppe, Spezialthemen etc.) des Coaching-Anbieters geht – ef-
fektive und effiziente Suche ermöglichen und die direkte Recherche auf den qualitativ sehr
unterschiedlichen Homepages der Coaches zumindest in der ersten Suchphase ersparen.
Doch die Dienstleistung „Coaching“ bleibt mit oder ohne Plattformen eine beratungs-
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“ Geld zu machen! 269

intensive Dienstleistung, bei der ein klärendes Vorgespräch (Frage: Ist Coaching das rich-
tige Format, was ist mein eigentliches Thema, was wäre methodisch ein geeigneter An-
satz?) mit einem Experten sicher einen echten Mehrwert bieten würde. Chatbots der
nächsten Generationen könnten hier vielleicht einmal i. S. einer methodischen Ent-
wicklungsberatung (Frage: Welches Weiterbildungsformat passt für meine Entwicklungs-
anliegen?) einen Mehrwert leisten.
Eine eher neutrale Stelle oder ein Dachverband wie der Roundtable Coaching (RTC)
als Träger solcher Informationsangebote böten sich – wie bereits erwähnt – geradezu für
ein derartiges Orientierungsangebot an und würden damit auch der eigenen Zunft einen
großen Dienst erweisen bzw. verhindern, dass hier in erster Linie gewinnorientierte
IT-Unternehmen das Feld einnehmen. Hier nur den Markt zu beobachten und abzuwarten
ist fatal – beschreibt weitgehend leider jedoch schon den Status Quo!

5.1.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Bleibt der eigentliche Durchführungsprozess des Coachings – von den vorhandenen und
sich abzeichnenden (ergänzenden) Möglichkeiten verschiedener Stufungen der Virtuali-
sierung einmal abgesehen – im Kern wahrscheinlich bis ca. 2040 dem heutigen recht ähn-
lich, verhält sich dies infolge der Plattformen wie oben dargestellt für die Distribution von
Coaching-Leistungen nicht so bzw. bekommt Alternativen. Die voranschreitende Digitali-
sierung und Vernetzung von Geschäftsprozessen stimuliert oder zwingt Coaches wahr-
scheinlich, die komplette Serviceleistung „Coaching“ neu zu denken – sich mit Möglich-
keiten der Geschäftsmodellinnovation zu beschäftigen. Diese findet jedoch nicht allein
über Digitalisierung von Prozessen statt! Denn konkret heißt dies, sich neben der Verein-
fachung der Distribution z. B. durch Plattformen genauer mit der folgenden Fragen zu
beschäftigen: (1) den anvisierten Zielkund:innen (Wer ist dies und wie erreiche ich sie?),
(2) dem Nutzenversprechen (→ Was bieten wir dem Kunden mit welchem Nutzenver-
sprechen an?), (3) der Wertschöpfungskette (→ Wie werde ich gefunden, d. h., wie sieht
der Distributionskanal aus? Wie wird die Leistung erbracht bzw. wie kommt sie zum Kun-
den?) und last, but not least nach der (4) Ertragsmechanik (→ Wie wird Gewinn/Wert er-
zielt, wie viel kann der Coach nach Abzug aller Kosten verdienen? Wer verdient in dem
Prozess mit?). Werden mindestens zwei der vier Fragestellungen bzw. die dahinter-
stehenden Konzepte verändert, spricht man von einer Geschäftsmodellinnovation (Gass-
mann et al., 2017). Doch wie arbeitet man an der Innovation von Geschäftsmodellen? Im
Rahmen dieses Buches wollen wir auf den ersten (Zielkund:innen) sowie den zweiten und
dritten Aspekt (Nutzenversprechen und Wertschöpfungskette) fokussieren. Die Ertrags-
mechanik wird nur indirekt erwähnt.
270 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Geschäftsmodellelement Nr. 1: Wie viel Kundengruppen will Coaching differenziert


bedienen?
Die Antwort auf diese Frage ist heutzutage (2021) relativ einfach. Denn geht es um die in
den nächsten Dekaden wahrscheinlich immer fragwürdigere Segmentierung des „Business-­
Coachings“, kennt man heute nur die nach organisatorischen Hierarchien gegliederten Ziel-
gruppen des unteren, mittleren und des Topmananagements. Mit dem Hauch des Ex-
klusiven, aber ohne klare oder gar einheitliche Definition versehen, wird Letzteres auch als
„Executive-Coaching“ tituliert und zugleich mit einem kräftigen Preisaufschlag versehen.
Die hinter dieser Aufspaltung stehende Annahme bzw. praktische Erfahrung ist die, dass
eine stimmige „Chemie“ oder der gleiche „Stallgeruch“ den Rapport oder die Anschluss-
fähigkeit zwischen Klienten und Coach optimiert und die darauf aufbauende Diagnostik
und die Interventionen wirksamer werden lässt (Böning, 2015, S. 66, 84). Und obwohl die
Ausdifferenzierung des Coachings (z. B. nach Zielgruppen) seit einigen Jahren in der Dis-
kussion ist, waren konkrete Alternativvorschläge lange nicht in Sicht. Seiner Rolle als einer
der Pioniere im Coaching erneut gerecht werdend, brachte Bernd Schmid (2010) 2010 das
Konzept des „Milieus“ bzw. „Habitus“ in die Diskussion ein. Diesem folgte 2015 Uwe
Böning (2015). Beide Konzepte rezipierend wird jedoch schnell klar, warum man das Es-
senzielle des „Executive-Coachings“ nur teilweise in einem Kurs erlernen kann, sondern
durch den im Wesentlichen im Zuge der familiären Sozialisation erworbenen Habitus mit-
bekommt. Habitus meint dabei die „Gesamtheit der relativ festliegenden Einstellungen und
Gewohnheiten einer Person“ und „die äußere Erscheinung eines Menschen, von der man
auf dessen Anlagen, Einstellungen und Gewohnheiten schließen kann“ (Klima, 1995).
Ohne die Ursprünge und verschiedenen Strömungen des Konzeptes sowie die Ausführungen
milieuspezifischer Charakteristika, Wertevorstellungen etc. beider Konzepte erneut nachzu-
zeichnen, soll hier nur auf die jüngeren Ansätze zur Marktforschung rekurriert werden.
Zum einen handelt es sich dabei um die „DELTA-­Milieus“ mit ihren Ur-Impulsen, zum
anderen um das Modell zur Internetnutzung des gleichnamigen Instituts.

Milieu- oder lebensstilbasiertes Coaching – will der Kunde das wirklich?


Ist (wie eingangs bereits angesprochen) zu vermuten, dass sich hierarchische Strukturen in
Organisationen in den nächsten Dekaden relativieren und Erwerbs- und Privatleben sich
zunehmend entgrenzen, sind alternative Zielgruppenkonzepte gefragt. Und vergleicht man
die Homepages der jungen Plattform-Start-ups für Coaching mit den etablierten Anbietern
im Markt, wird schnell deutlich, dass dieser Prozess bereits begonnen hat!

Wie auf den Seiten des DELTA-Instituts1 zu sehen ist, unterscheidet deren Modell bei
der horizontal angelegten „Grundorientierung“ die drei Dimensionen „Gemeinsame Tra-
ditionen“ („Festhalten“; „Wandel akzeptieren“), „Selbstverwirklichung“ („Geltung & Ge-
nuss“; „Sein & Verändern“) und „Selbstmanagement“ („Machen & Erleben“; „Grenzen

1
https://www.delta-sozialforschung.de/delta-milieus/gesellschaftsmodell/. Zugegriffen am 26.02.2021.
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“ Geld zu machen! 271

überschreiten“) mit jeweils zwei Subkategorien (jeweils dahinter in Klammern). Auf der
vertikalen Achse der „Sozialen Lage“ nach Mikrozensus und OECD, d. h. Unterschicht
und untere Mittelschicht, Mittelschicht, obere Mittelschicht und Oberschicht. In der sich
daraus ergebenden Matrix formieren sich neun soziale Milieus mit ihren „Ur-Impulsen“.
Eine daraus resultierende, spannende Frage könnte lauten: Was wäre, wenn Coaching-­
Services wie in einem Reisekatalog Angebote auf z. B. „Adventure & Expedition“ und
„Sport & Performance“ (für „Expeditive und Performer“), „Basics & Nature“ (für „Post-
materielle“), „Selfness-Wellness-Spa“ (für „Hedonisten“), „Kultur, Genuss & Shopping“
(für Etablierte und Konservative). Und ist für den Autor das angeekelte Raunen eher post-
materiell und idealistisch orientierter Coaches (!) schon während des Schreibens zu ver-
nehmen, muss sich letzlich doch nur der ebenfalls über eine nur noch materiell orientierte
Welt raunende (!) Endkunde vom Marketing, vom Auftreten der Coaches etc. angesprochen
fühlen (– womit die Einstiegsfrage beantwortet wäre). Einen entsprechenden Vorstoß dazu
machte das Frankfurter Zukunftsinstitut bereits im Jahr 2012. Angelehnt an das Konzept
der Milieu-Cluster entwickelten die Zukunftsforscher Seitz, Kühmayer & Gatterer (2012)
elf Arbeitstypen, die sich über die vier Quadranten Status, Sicherheit, Selbstbestimmung
und Flexibilität verteilen. Das Arbeitsbuch bietet nach der Möglichkeit zu einem Work­
style-­Check auch Überlegungen zu Ansatzmöglichkeiten von Coaching an. Inwieweit die
noch zu thematisierenden Coaching-Plattformen (z. B. mit einem freiwilligen Fragebogen
zur Selbsteinschätzung am Anfang) einen ersten Vorstoß machen, bleibt abzuwarten. Und
viel ändern würde sich an den Fundamenten des Coachings letztlich nicht, denn jeder
Coachee findet wie auch sonst seinen Coach und vice versa. Ansonsten knirscht es spätes-
tens mittelfristig hinsichtlich des Rapports. Und mit einer solchen Vorbefragung könnte
sich der Klient schon vorab leichter über seine Präferenzen klar werden. Und ja, im präfe-
rierten bzw. bekannten Milieu bzw. System zu bleiben birgt natürlich auch die Gefahr,
nichts dazuzulernen. Aber da könnte man ja die Idee eines „Transformationscoachings“
entwickeln, die zur Öffnung der eigenen Komfortzone und Wertehaltung ermuntert bzw.
solche Veränderungen begleitet. Doch auch für einige Coaches könnte dies zu einer echten
Herausforderung hinsichtlich der eigenen, mentalen Kontingenz werden. Vielleicht hängt
dies jedoch aber auch nur davon ab, welcher Generation (Babyboomer, X, Y) sie angehören.

Und wie wird die Gen Z ihre Produkte und Dienstleistungen kaufen?
Die Frage, wie gegenwärtig (und vielleicht auch zukünftig) die Zielgruppen des ­Coachings
aussehen könnten, wurde soeben im vorhergehenden Abschnitt umrissen. Fest steht, dass
die meisten Babyboomer sich spätestens in 10–15 Jahren aus der Berufswelt zurückziehen
werden und Business-Coaching i. e. S. für diese sehr große Kundengruppe kein Thema
mehr sein wird. Bleibt als zweiter Aspekt eines modifizierten Geschäftsmodells für das
Coaching die Aufgabe, wie man neue Zielgruppen erreicht? Ganz konkret: Mit wem muss
ich wodurch bzw. durch welches Medium kommunizieren, um über meine Coaching-An-
gebote zu informieren? Obwohl etwas veraltet, zeigen die DELTA-Milieus z. B. der ge-
nutzten Zeitschriften, der Internetnutzung sowie der Nutzung der sozialen Netzwerke sehr
deutlich, dass bei jedem Milieu eine eigene Kommunikationsstrategie gewählt ­werden muss.
272 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Werden die verschiedenen Zielgruppen damit erfolgreich erreicht, stellt sich die Frage,
nach deren spezifischen Kaufverhalten. Kaufverhalten meint dabei die einzelnen Phasen
von der Problem- bzw. Bedarfserkennung über die sich daran anschließende Informations-
suche bzw. Prüfung von Alternativen über die eigentliche Kaufentscheidung bis hin zur
Nachbetrachtung des vollzogenen Kaufs. Insbesondere die ersten drei Phasen variieren
dabei nicht nur entsprechend der Milieuzugehörigkeit, sondern werden auch durch die
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation beeinflusst. Bei den zukünftigen „Digital
Consumers“ lassen sich i. A. vier große Trends ausmachen: Sie wollen nicht mehr als
Segment, sondern als Individuen behandelt werden, sie erwarten einen unkomplizierten
Einkaufsprozess, ferner sollen die Produkte oder Services die Einstellungen und Wert-
haltungen reflektieren und last, but not least gelten gleichaltrige, reale Personen oder Per-
sonen im Netz (Influencer) als die vertrauenswürdigsten Berater. Doch was könnte das
konkret heißen?
Wollen sich Anbieter von Coaching-Dienstleistungen für die Zukunft wappnen, gilt es
die Kunden von morgen bereits jetzt zu verstehen. Denn als spätgeborene Kinder der
Babyboomer oder der regulär geborene Kinder der Generation X wird diese sogenannte
„Generation Z“ in einem Jahrzehnt ein Drittel der weltweiten Berufseinsteiger und Konsu-
menten stellen. Grund genug für die Strategieberatung OC&C, diese neue Kundengruppe
in einer Studie (OC&C Strategy Consultants, 2019) genauer zu analysieren. Dazu wurden
im Jahr 2019 15.500 Menschen aus vier Generationen und neun Ländern befragt. Ein
zentrales Ergebnis für die „Generation ohne Grenzen“ ist: Preis und Qualität verlieren bei
dieser Generation als Auswahlkriterien für eine Marke oder ein Produkt zunehmend an
Bedeutung. Was stärker für sie zählt, sind sekundäre Faktoren wie Stil, Produktpräsentation
oder Nachhaltigkeitsaspekte. Zudem wird diese neue Generation an Konsumenten An-
bieter verstärkt mit Themen wie soziale Verantwortung, Gleichstellung und Innovations-
durst konfrontieren. Ferner macht die Untersuchung deutlich, dass die Vertreter der Gen Z
über alle Länder hinweg durch das homogenisierende Internet hinsichtlich ihrer Ein-
stellungen und Haltungen ähnlicher sind als die Generationen zuvor. Dies ist nicht über-
raschend, denn als die ersten echten „Digital Natives“ leben sie „always on“ mit und über
das Smartphone. Einige von den Millennials etablierte Trends wird die Gen Z fortsetzen
und vorantreiben – so wird die Gruppe sozial bewusster, erlebnisorientierter Verbraucher
in den kommenden Jahren stetig wachsen.

Geschäftsmodellelement Nr. 2: Ein neues Nutzenversprechen im Coaching!?


Startpunkt und fachliterarischer Meilenstein hinsichtlich der Fragestellungen des Nutzen-
versprechens und der Wertschöpfungskette war wahrscheinlich 2005 das Buch von Kim
und Mauborgne „Blue Ocean Strategy“ (2005). Diese entfachten mit ihrem Bestseller zur
rechten Zeit die Sehnsucht, von den „Red Oceans“ (RO = bestehende Märkte mit vielen,
blutdürstigen „Haien“, d. h. Wettbewerbern und hartem Preiskampf) mit dem Segler na-
mens „Value Innovation“ in die „Blue Oceans“ (BO = neue Märkte ohne Wettbewerber
und Preiskampf) zu segeln und auf diesem Weg mittels Reduktion oder gar kompletter
Eliminierung von Wertschöpfungselementen bzw. deren besonderer Betonung oder radi-
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“ Geld zu machen! 273

kaler Neudefinition neue, ruhigere Gewässer mit gewinnträchtigeren Ufern zu erreichen


und Wettbewerber bedeutungslos werden zu lassen. Das zentrale Konzept der „Value In-
novation“ meint bei den beiden INSEAD-Professoren immer eine Zunahme des Mehr-
werts für den Nutzer bzw. Käufer bei gleichzeitiger Reduktion der Kosten für den Herstel-
ler. Ziel der RO ist vornehmlich die maximale Befriedigung der bestehenden Nachfrage,
im Falle der BO die Schaffung einer neuen Nachfrage. Dies zu erreichen, fügt sich die
Red-Ocean-Strategie (ROS) im Gegensatz zur Blue-Ocean-Strategie (BOS) dem ver-
meintlichen Zusammenhang zwischen Qualität und Kosten. Konsequenz davon ist, dass
die ROS sich an Differenzierungsmerkmalen oder Kostenführerschaft ausrichtet – die
BOS eindeutig auf Differenzierung und Kostenführerschaft setzt.

Dabei vertreten sie als Konstruktivisten bzw. „Rekonstruktivisten“ (Kim & Mauborgne,
2005, S. 17 bzw. S. 209 f.) – wie beide sich nennen – die Ansicht, dass Märkte per se nicht
gegeben sind, sondern durch Hinterfragen bzw. Modifikation der Handlungsweise und
Glaubenssätze der Akteure im Markt verändert werden können (Kim & Mauborgne, 2005,
S. 79). Folgerichtig bieten sie einen Werkzeugkasten zur Modifikation der vertrauten Wahr-
nehmungsmuster bzw. hinterfragen die als gegeben erlebten Produkt- oder Servicekriterien.
Mit im Zentrum der Umgestaltung steht dabei neben anderen Tools die sogenannte „Buyer
Utility Map“ (Kim & Mauborgne, 2005, S. 121) – eine kombinierte Betrachtung von sechs
Hebelarmen oder Stellschrauben des Produktnutzens („Utility Levers“ siehe Abb. 5.8) sowie
der sechs Stufen der Käufer- oder Kundenerfahrung (siehe „Buyer Experience“; Kim &
Mauborgne, 2005, S. 123). Nachstehend die Beschreibung der einzelnen Kriterien/Dimen-
sionen und einer beispielhaften (!), aber natürlich unvollständigen Anwendung auf das Pro-
dukt bzw. den Service „Coaching“. Idealtypischerweise würden die beiden nachfolgenden
Matrizen im Rahmen von mehreren Design-Thinking-­Workshops (siehe Folgeabschnitt) mit
verschiedenen Nutzer- bzw. Interessengruppen bearbeitet. Der „Coaching-Service in der Zu-
kunft !?“ spiegelt dabei z. B. das Kaufverhalten jüngerer Generationen wider.
Bei dem obigen „Buyer-Experience Cycle“ wäre die teilweise Transformation der klas-
sischen Phasen der Prozessevaluation beim Coaching sicher hilfreich. Um die spezielle
Struktur und die Begrifflichkeiten des Modells von Kim & Mauborgne sichtbar zu ma-
chen, wurde jedoch darauf verzichtet.
Die oben erwähnte Kombination der beiden Dimensionen (vgl. Kim & Mauborgne,
2005, S. 121) wäre dann wiederum Gegenstand intensiver Workshopeinheiten.
Die Ergebnisse der „Buyer-Utility Map“ würden in einem nächsten Schritt in den
eigentlichen digitalen, d. h. Ja-Nein-Entscheidungsbaum der eigentlichen Blue-­Ocean-­
Strategie einfließen. In diesem Prozess würde der kritischen Prüfung des Kunden-
nutzens eine Prüfung der Preisgestaltung, der Kostentreiber und der Kauferschwernisse
oder gar -hindernisse folgen. Werden dabei alle Kriterien als innovativer Neuansatz
bewertet, sollte man gemäß der Vorstellung der Verfasser von nun an in „Blue Oceans“
heimisch sein bzw. hat das Ziel des Modells erreicht: „to create uncontested Market
Space and make the Competition irrelevant“. Und wer in dem von den meisten Akteu-
ren als „Red Ocean“ erlebten Coaching-Markt würde dies nicht gerne?
274 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Die sechs Stellschrauben des Produktnutzens („Utility Levers“)

Coaching-Servicenutzen gestern und heute!? Coaching-Servicenutzen in der Zukunft!?


Produktivitätsgewinn für
den Kunden Nutzen fokussiert sich zuweilen auf nur die Interaktion mit Coach in der  24-7-Begleitung + inkl. (thematisch angrenzender, IT-gestützter) Zusatzangebote, d. h.
Coaching-Session; d. h. die zwei „besonderen Stunden“ im Monat, hat gezieltes KI-gestütztes Cross-Selling
(Alles, was den erlebten Kundennutzen
durch größere Effizienz, Effektivität, geringe
„Eventcharakter“  Intervallförmige, transparente, IT-gestützte Prozessevaluation
Kosten- und Zeitaufwendungen etc. erhöht)
 Nach Vereinbarung – wenn der Coach einen Termin frei hat; „Eventcharakter“  Bedarfs- und situationsgerecht im Alltag
 Sehr individuelle, nur schwer vergleichbare Homepages von Coaches mit  Normaler Bestandteil einer reflexiven Alltagskultur – wann, wo und wie (über digitales
Einfachheit
vielen „Psycho“-Begriffen und undurchsichtigen Qualifikationen und Endgerät oder Live-Setting) auch immer benötigt
Zertifikaten  Plattformen als “one-stop shops” zur Auswahl des passenden Coaches
 Gezielt zu vereinbarende, intensive, gemeinsame „Sitzung“ über 1 Std.  “3-2-1-meins!”/2-Klick-Service/„Coaching to go“
 Coaching als Kurzzeitintervention wird zuweilen ad absurdum geführt  Coaching als gezielte Kuzzeitintervention wird Qualitäts- bzw. Unterscheidungskriterium
Bequemlichkeit
 F-2-F-Coaching ist Standard, Online-Coaching die Ausnahme  Online-Coaching ist Standard, F-2-F die Ausnahme
 Coach fährt zu Coachee oder vice versa  komplett IT-gestützte Kaufabwicklung inkl. Online-Zahlung
 Auswahl über kriteriengeleitete Interviews
 Geringe Transparenz der Angebote bzw. Qualifikationen auf
 Ein auf ein spez. Milieu, einen Lebensstil oder eine Generation zugeschnittenes
Individualhomepages
Serviceangebot
 Hohe Kosten bei schwer nachweisbarer Wirksamkeit
 Benchmarks auf Plattformen durch parallele, intervallförmige, transparente
 Eher Face-2-Face-Sitzungen
Risikoreduktion Prozessevaluation
 Angebote auch von Scharlatanen durch fehlende Prüfinstanz (die ein Image zu
 Automatische Begleitforschung auf Plattformen macht den Input, Throughput und Output von
verteidigen hat)
Coaching mess- und damit vergleichbar
 IT-Prozesse gemäß der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und mit
 IT-Prozesse gemäß der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und mit Servern in
Servern in Deutschland
Deutschland
 Für Laien intransparente „Psycho-Techniken“  Explizite Methoden und Tool-Transparenz
Fun & Image  Gefällt sich zuweilen im Nimbus des Exklusiven für (Top-)Führungskräfte  Auch schnelle, direkte, praxisbezogene Hilfe zur Selbsthilfe für jedermann/jedefrau (ähnlich
 Sehr finanz- und zeitaufwendiges Investment eher für „Besserverdienende“ der Microlearning-Philosophie)
Schadstoffausstoß bei Stromerzeugung für Endgeräte bei eher virtuellem Online-Coaching
Umweltfreundlichkeit Ggf. Schadstoffausstoß durch Fahrt zum Klienten/Coach oder vice versa

Abb. 5.8 Die sechs Stellschrauben des Produktnutzens („Utility Levers“). (Quelle: Angelehnt an
Chan & Mauborgne, 2005, S. 121; übersetzt, modifiziert und ausgefüllt durch den Autor© Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved)

Mit ihrem bereits 1991 vorgestellten, aber nur in Fachkreisen Beachtung findenden
Konzept des „Design Thinking“ wollte die Design- und Innovationsagentur IDEO zu
neuen Ufern der Produktentwicklung aufbrechen. Jenseits von der sich sprachlich auf-
drängenden Optimierung des ästhetischen Erscheinungsbildes eines Produktes geht es in
dem Ansatz darum, Endnutzer – dann als „PROsumenten“ (eine Wortschöpfung aus PRO-
duzent und konSUMENT) – so früh wie möglich in einem strukturierten Workshop-­
Prozess in die Produktentwicklung mit einzubeziehen, um den optimalen Nutzen für eine
spezielle Kundengruppe zu generieren. Ziel ist es, das „Overengineering“ von dann letzten
Endes zu teuren oder komplizierten Produkten durch zu themen- und detailverliebte Fach-
experten zu vermeiden. Mit dem Aufbau der sogenannten „d.school“ der Stanford Uni-
versity in Palo Alto im Jahre 2005 durch den SAP-Mitbegründer Hasso Plattner bekam das
Konzept (Plattner et al., 2011) globale Bekanntheit und Reichweite. Dem folgte 2007 die
SAP-nahe Gründung des Hasso-Plattner-Instituts (HPI) in Potsdam.
Osterwalder lieferte dann 2010 mit seinem „Business Model Canvas“ (Osterwalder &
Pigneur, 2010) bzw. mit seinem Ansatz des „Value Proposition Design“ (Osterwalder
et al., 2014) von 2014 sehr grafisch orientierte, jedoch leicht in die Praxis umsetzbare
Tools, um das eigene Geschäftsmodell zu überdenken oder neu zu entwerfen. Eine Ana-
lyse und Orientierung hinsichtlich bereits existierender bzw. neuer Geschäftsmodelle lie-
ferten die St. Galler Professoren Gassmann und Frankenberg mit ihrem Business Model
Navigator (Gassmann et al., 2014). Ihre Arbeit ergab, dass mit etwa 55 Geschäftsmodellen
etwa 90 % der aktuell weltweit erfolgreichsten Modelle abgedeckt werden können bzw.
dass es sich bei diesen scheinbar oft um Neuauflagen oder aber Neukombinationen bereits
existierender Varianten handelt.
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“ Geld zu machen! 275

Doch warum dieser kurze konzeptionelle Ausflug für den Service „Coaching“? Mit den
in der vorliegenden Arbeit geschilderten Rahmenbedingungen ist es womöglich an der
Zeit, auch das bisherige Geschäftsmodell des Service Coaching zu überdenken. Obwohl
eher alle vier aufgeführten Ansätze sich für eine Bearbeitung in einer ausgewählten Gruppe
von Kunden und/oder Fachexperten empfehlen, soll der Ansatz von Gassmann und
Frankenberg herangezogen werden, um neue Varianten in diesem Kontext zumindest an-
zudenken. Nachstehend daher ein erster Versuch, eine Auswahl der 55 Businessmodelle
auf den Service Coaching zu transferieren. Dabei reiht sich das eingangs dargestellte und
heute so erfolgreiche Plattform- bzw. „Two-sided-Markets-Modell“ als eine Variante der
55 Muster im „Business Model Navigator“ (BMN) ein. Abb. 5.9 präsentiert eine Auswahl
von Geschäftsmodellen des „Business Model Navigator“ (BMN) und ihren Transfer in
den Coaching-Bereich.
Das Muster #25 (Leverage Customer Data) ist offensichtlich schon heute für eine
kommerzielle Variante bereit. Denn nach einem Bericht der Zeitschrift „Business Insider“
(Forke, 2021) wären gemäß einer Studie des Bereiches Wirtschaftsinformatik an der TU
Darmstadt 50 % der Deutschen bereit, ihre Daten zu verkaufen. Als „Privacy Paradox“
bezeichnet dabei der wissenschaftliche Leiter der Studie die Widersprüchlichkeit zwi-
schen den auf der einen Seite immer wieder geäußerten Bedenken zur Privatsphäre und
auf der anderen Seite der unbewussten oder nur sorglosen Preisgabe von Daten nicht nur
im geschäftlichen Bereich.
Die Vielfalt der nicht nur durch die massive Digitalisierung getragenen Geschäfts-
modelle bzw. die Transferideen des Autors wirken womöglich als Anreiz, traditionelle
Praktiken i. S. der Service-, Qualitäts- und letztlich natürlich auch Gewinnoptimierung
disruptiv bzw. „out of the box“ zu denken. Aber auch die zunehmende Digitalisierung

Nummer des
Allgemeine Beschreibung im BMN Transfer in den Coaching-Bereich
Musters im BMN
Explizites Life-Coaching (vs. Business-Coaching) für jedefrau/jedermann mit günstigen Preisen,
Aikido: „Ausweichen“ und einen diametral anderen Service (Image, Kosten etc.) aufbauen (Beisp.:
#2 welches auf Alltagsthemen (z. B. Liebe, Freundschaft etc.) fokussiert; Demokratisierung des
Bodyshop)
Coachings – raus aus der Business-Welt
Cross Selling: Angebot zusätzlicher, thematisch angrenzender Services zum Kernangebot Ergänzend zum (Life-)Coaching werden bei Bedarf gegen eine Provision der Partner Seminare,
#7
(Beisp.: IKEA inkl. Küchenaufbau, Kleintransportervermietung etc.) Therapeuten, Wissensmanager, Vermögens-, Versicherungsmanager etc. weitervermittelt
Crowdfunding: Für eine besondere (auch ideelle) Produkt- oder Serviceidee wird über eine Coaching-Angebote für besondere und/oder schlechter gestellte Zielgruppen, z. B. Jugend-
#9
Plattform Geld gesammelt (Beisp.: Freiheitsstatue von New York, 1885) initiativen, Flüchtlinge, Erwerbslose etc.
Franchising: Franchisor besitzt die Markenrechte, Produkt- oder Dienstleistungspakete etc., die Ein etablierter Coaching-Prozess oder eine Coaching-Toolbox (z. B. für das Online-Coaching);
#17 von den Franchisees mittels einer Lizenz erworben werden. Von den damit erzielten Umsätzen KI-Chatbot-Assistent fürs Coaching kann in Teilen oder als Bundle vom Linzenznehmer
wird eine Lizenzgebühr einbehalten (Beisp.: McDonald‘s) erworben werden
Flatrate: Ein einheitlicher Festpreis – unabhängig von der tatsächlichen Nutzungsintensität Angebot eines Coaching-Paketes zum einheitlichen Festpreis (vs. Stundenabrechnung) –
#15
(Beisp.: Netflix) dennoch z.B. nach maximaler Gesamtdauer oder maximalen Stunden gestaffelt
Leverage Customer Data: Parallel zur Nutzung der Dienstleistung werden alle verfügbaren Daten Sehr günstige bis „kostenlose“ Chatbot-Coachings bzw. Coaching-Angebote mit der expliziten (!)
#25 des Kunden abgezogen. Der Kunde „bezahlt“ mehr oder minder bewusst mit seinen Daten (die Erlaubnis, den Coachee bzw. den Coaching-Prozess komplett erfassen/„vermessen“ zu dürfen
dann selbst weiterverarbeitet und/oder weiterverkauft werden) (Beisp.: Facebook) und die Daten selbst weiter zu verarbeiten und/oder weiter zu verkaufen
Pay what you want: Der Käufer zahlt einen Endpreis nach eigenem Ermessen, nach erlebtem Coachee zahlt für das Coaching einen Preis nach eigenem Ermessen, nach erlebtem Mehrwert
#36
Mehrwert der erbrachten Leistung/des erworbenen Produktes (Beisp.: Spenden an Wikipedia) des Coachings
Performance-based Contracting: Der Preis des Produktes / der Dienstleistung wird durch die vorab Nur bei Erreichen des operationalisierten Coaching-Ziels (z. B. Bewertung bei der
#38
(gestuft) definierte Ziel-/Ergebniserreichung definiert (Beisp.: Philips Lighting) Mitarbeiterbefragung) wird eine entsprechend (prozentual gestaffelte) Bezahlung fällig
Razor-and-Blade: Günstige Kern- oder Einstiegsprodukte ( einmaliger Kauf), teure Günstige Halbstunden-/Einstiegs-/„To-go-/On-demand-Coachings“ bei vom System
#39 Ergänzungs- oder Zusatzleistungen, bei denen Mehrfachkäufe erforderlich sind (Beisp.: Rasierer zugewiesenen, variierenden Coaches, Mehrkosten bei freier Coach-Wahl, Stunden-Coachings
bzw. Klingen bei Gillette) mit einem festen Coach oder Follow-up-Maßnahmen
Reversed Innovation: Preisgestaltung (nach oben oder unten) bzw. Entwicklung des Produktes/
Preisgestaltung von Coaching nach dem Milieu der Coacheegruppen und deren jeweiliger
#45 der Dienstleistung von der Kaufkraft der Kundenzielgruppe/„vom Ende“ her (Beisp.: Renault Dacia
Kaufkraft
Logan)
Two-sided Market: Unterstützung von freien Anbietern z. B. mit einer hauseigenen Plattform,
Digitale Coaching-Plattformen helfen Coaches, ihre Services an einem Platz anzubieten,
#52 Marketing etc., damit diese – völlig auf eigene Rechnung und Risiko – ihre Dienstleistung erbringen
kassieren aber eine Provision für diese Unterstützung – verdienen mit
können; kassiert wird über eine Provision für Unterstützung (Beisp.: TripAdvisor)
Ultimate Luxury: Statusförderliche Produkte oder Dienstleistungen, die vom „Brand“ und von der Coaching mit exklusiven Zusatzleistungen (in Luxushotel mit Stilberatung oder Helikopterservice)
#53 Exklusivität leben und durch die vom Kunden akzeptierten („gewolllten“) Premiumpreise zur zu Premiumpreisen, weil die Coachees/Zielgruppe die Kaufkraft besitzt und an die Wirksamkeit
sozialen Abgrenzung dienen (Beisp: Lamborghini) des (Guru-)Coachings glaubt (und die verwendete z. B. MR-Technologie auch sehr teuer ist)

Abb. 5.9 Eine Auswahl von Geschäftsmodellen des „Business Model Navigator“ (BMN) und ihr
Transfer in den Coaching-Bereich. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved
276 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

selbst wird in den kommenden 15–25 Jahren nicht spurlos an dem Service Coaching
vorübergehen, denn auch in dieser Branche wird der bereits zitierte Spruch gelten: „Uber
yourself before you´ll get kodaked!“
Richtet man seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die aktuell so starken Platt-
formen bzw. das „Two-sided-Markets-Modell“ (#52), sollte dies zudem ein Weckruf für
die bis dahin eher inhaltlich orientierten deutschen Coaching-Verbände sein, um über
adäquate Reaktionsweisen auf diese neuen Marktentwicklungen nachzudenken. Sei es in
Form einer Kollaborationsstrategie durch die gezielte inhaltliche Unterstützung einer
bestehenden Plattform, des Aufbaus einer eigenen Plattform durch die Coaching-Experten
selbst (Disrupt-the-Disruptor-Strategie) oder der Etablierung einer neuen Plattform von
renommierten Top-Coaches, welche hinsichtlich der Zugangsvoraussetzungen sehr trans-
parent und restriktiv ist (Nischenstrategie). Die radikalste Lösung wäre wohl das oben
skizzierte (partielle) Redesign des Geschäftsmodells für das Coaching selbst (Innovations-
strategie). Solange die Verbände jedoch nicht ernsthaft an einem Strang ziehen, werden
bis 2030 – wie auch in anderen Branchen heute schon – nicht mehr die „Produzenten“
bzw. Dienstleister selbst, sondern die Vermittler zusehends an Oberwasser gewinnen. Ob
dann jedem Coach ggf. Werbeeinblendungen anderer Weiterbildungsangebote vor oder
nach dem Coaching für den (dann weniger zahlenden?) Klienten auf der Plattform seiner
Wahl zusagen, wird auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Plattformbetreiber dann herz-
lich wenig interessieren.

Eine neues, alternatives Nutzenversprechen durch ein „Bestseller-“ oder


„Kunsthandwerks-Coaching“!?
Ein Nutzenversprechen der ganz anderen Art wäre – in Analogie zu dem eingangs des
Abschn. 5.1 erwähnten „Roman am Reißbrett“ – das Coaching vom (prozess-, ergebnis-
und bewertungsdatengefütterten) Reißbrett. Das hinsichtlich der Verkaufszahlen be-
liebteste Coaching würde daher im schlimmsten Fall (!?) definieren, wie das Coaching
auszusehen hat, welches die Plattform anbieten möchte bzw. stärker vermarkten würde.
Den Gedanken weiterführend wäre die Frage, für welche Zielgruppe in welcher Situation
ein stark kommerzialisiertes „Bestseller-Coaching“ oder das situative Überraschungs-
paket „Kunsthandwerks-Coaching“ sinnvoll und/oder erschwinglich wäre. Für den
Coach wäre dies etwas überspitzt formuliert neben seiner Rolle als unwillkürlicher Daten-
beschaffer bzgl. der erforderlichen Qualifikationen – um im Bilde zu bleiben – wie
„Malen nach Zahlen“ oder aber eben Action-Painting. Dazu mehr in Abschn. 5.1.3.

5.1.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Betrachtet man den Coach bzw. die Coaches als Endkunde(n) von Plattformbetreibern –
analysiert folglich den B2B-/Business-to-Business-Aspekt des „Two-sided-
Markets-­Modells“ –, ist es für die Coach-Community sicher ratsam, auf den Betreiber
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“ Geld zu machen! 277

selbst (profit oder non-profit?), dessen Konditionen, dessen Seriosität, was Zertifikate und
Evaluationsverfahren anbelangt, den fachlichen Ruf der bereits auf der Plattform be-
findlichen Coaches, ggf. parallel angebotener Lernhelfer (wie Trainer, Moderatoren, Me-
diatoren etc.) und besonders dessen Marktmacht zu achten. Ansonsten könnte den Coa-
ches sicher nicht erst in 10–15 Jahren Ähnliches drohen wie das, was die Verlage schon
seit 2014 als eine Art „Knechtschaft“ (Platthaus, 2014) erleben, bzw. sich der Da-
ting-Charme der Anfangstage schnell zu Galeerenfrust wandeln. Eine Initiative der
Coaching-Verbände wäre – wie bereits erwähnt – daher umso wünschenswerter. Und für
die Coaches gilt: Drum prüfe, wer sich ewig bindet und erwerbe ein tieferes Verständnis
für das Plattform-Business! Denn nach Bachmann (2019) folgen die meisten der von
ihm befragten 102 Coaches bis dato damit einer sehr diffusen, eigenen Norm („Unter
Coaches ist es mir wichtig, auf dem neuesten Stand zu sein“) und nicht dem potenziellen
praktischen Nutzen digitaler Plattformen und digitaler Tools im Coaching. Ferner sind die
vermeintlichen Erwartungen von Organisationen als Auftraggeber, andere Coaches oder
wahrgenommene gesellschaftliche Entwicklungen für deren Nutzungsverhalten ver-
antwortlich.
Um jedoch Coaching auch in der Zukunft noch gewinnbringend anbieten zu können,
wird es wahrscheinlich durch die steigende Transparenz und das Überangebot – also einen
Käufermarkt – ein weiteres unternehmerisches Gebot, für andere oder neuartige Ge-
schäftsmodelle offen zu sein oder selbst welche zu kreieren. Wie auch in den anderen
Wirtschaftsbereichen werden nur die Erstanbieter zu den eigentlichen Gewinnern zählen.
Potenziell in das Gegenteil verkehren sich für den Coach die zuvor beschriebenen Vor-
und Nachteile der Plattformen für den Coachee/Klienten. So wird für den Coach der Vor-
teil, über den bekannten Namen eines großen Plattformanbieters ein größeres Publikum zu
erreichen, mit der teilweise größeren Vergleichbarkeit hinsichtlich Qualifikation, Er-
fahrung (oder sogar Honorar) etc. mit Mitwettbewerbern bezahlt – ohne dass der oft wenig
vorinformierte Klient wirklich versteht, wie und warum das Honorar womöglich für den
einen Coach gerechtfertigt ist und der andere nur auf die Qualitätssuggestion hoher Preise
setzt und sich gut verkaufen kann. „Sich verkaufen können“ in diesem Falle würde be-
deuten, eine unverwechselbare „Brand“, die Fähigkeit, eine eigene „Unique Selling Pro-
position“ (USP) auf einer von der Plattform aus verlinkten, eigenen Homepage herauszu-
arbeiten (bzw. herausarbeiten zu lassen), um unter gezielter Nutzung von Social Media
(Grabs et al., 2013) aus der Vielzahl um Aufträge konkurrierender Coaches – aus dem
„Red Ocean“ – noch herauszustechen und ein adäquates Honorar zu erhalten. Betrachtet
man zudem die internationalen Gewässer des Red Ocean, sind sich bis dato noch nicht
alle Coaches in entwickelten Industriestaaten bewusst, dass sie bei internationalen, offe-
nen Plattformen auf dem globalen bzw. englischsprachigen Markt des virtuellen Coa-
chings potenziell mit nicht weniger qualifizierten Coaches z. B. in Indien, Rumänien
etc. – jedoch zum wesentlich geringeren Preis – konkurrieren könnten oder aber der Platt-
formanbieter den Differenzbetrag einsteckt.
278 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Coaches als Datenbeschaffer für wen?


Inwieweit der Coach oder die Coach-Community vom Plattformanbieter von Big Data zu
Smart Data umgewandelte Informationen zur Verbesserung oder Vorhersage von
z. B. Trendformaten (z. B. immer kürzere Coaching-Sessions über Social-Media-Kanäle)
oder gar Neuentwicklungen von Services erhält, wird zum einen von der (datenschutz-
rechtlichen) Verfügbarkeit und Verarbeitungsfähigkeit des Plattformbetreibers abhängen –
zum anderen auch von dessen Bereitschaft, diese Daten (ggf. zu welchem Preis?) dem
Coach zur Verfügung zu stellen – was mehr als unwahrscheinlich ist, da die Daten-
gewinnung (Data Mining) deren eigentliches Geschäft ist. Um seine Reputation im Markt
(wieder) zu verbessern, ließ z. B. XING (2019) durch in der Branche anerkannte Sozial-
wissenschaftler Prozessbewertungen entwickeln, die zumindest aktuell werbewirksam nur
zum Küren der 54 „Top-Business-Coaches“ dienen. Für Wissenschaftler könnte sich
damit unter bestimmten (Datenschutz-)Bedingungen ein „Eldorado“ für Prozessdaten
rund um das Coaching eröffnen, von dem sie bislang nicht mal zu träumen wagten. Das
Innovationspotenzial der dann über einen längeren Zeitraum erhobenen (Massen-)Daten
ist sicher enorm – aktuell in seinen Auswirkungen für Modifikationen des Service „Coa-
ching“ jedoch noch nicht abzusehen. Ferner ist es auch hier sehr unwahrscheinlich, dass
die DCPs ihre Daten öffentlichen Forschungsinstitutionen in einem Anflug von Selbst-
losigkeit zur Verfügung stellen. Außer – ja, außer die Studie hilft, das eigentliche Ge-
schäftsinteresse (möglichst viele Daten zu sammeln) mit z. B. Studien zur Qualität voran-
zutreiben bzw. zu verdecken. Denn die Margen für die Coach-Vermittlung sind
wahrscheinlich zu gering und der Druck von ggf. vorhandenen Kapitalgebern im Hinter-
grund ist zu hoch, um mittel- bis langfristig nicht auf das Datengeschäft angewiesen
zu sein!

Die zentrale Frage in diesem Zusammenhang muss immer lauten: An welche Art von
Daten kommen die DCPs mit ihren Plattformen und für wen könnten diese interessant
sein? Schaut man in die Anfänge von Coaching, war dies zunächst nur den Führungseliten
in Unternehmen vorbehalten. Heutzutage hat sich die Zielgruppe nicht nur auf alle oberen
Führungsetagen erweitert, sondern schließt immer öfter auch hoffnungsvolle Mitarbeiter
(mit besonderen Fähigkeiten und Talenten/„High Potentials“) ein. Zu den umfangreichen
Daten, welche zumindest die großen Datenkraken (z. B. Google, Facebook, Amazon,
VISA, PayPal etc.) über uns in der Rolle als Konsument haben, wären Daten von Personen
in Führungspositionen bzw. in der „Produzentenrolle“ sicher ein wertvoller Zugewinn.
Denn wie schon mehrfach in diesem Kontext erwähnt ist nicht in Einzeldaten, sondern in
der Kombination derselben das wahre „Datengold“ zu finden. Und wer möchte da auf das
Datengold der stärksten „Meinungsmacher“ mit auch formaler Macht bzw. „Influencer“
auf die breite Arbeitnehmerschaft einer Wirtschaftsnation bzw. deren psychische Be-
findlichkeit (Coaching-Themen) oder ggf. sogar deren psychisches Profil (z. B. MBTI-,
DISC-, Big-5) verzichten? Denn nicht nur die mit dem Coaching zukünftig wahrschein-
lich immer häufiger erhobenen Eingangsbefragungen (mehr oder minder verkappte
Persönlichkeitsfragebögen) zum (KI-gestützten) Matching von Coach und Coachee und/
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“ Geld zu machen! 279

oder die im Prozess eingesetzten Fragebögen (zu den verschiedensten Führungsthemen)


wären hier eine unschätzbare Datenquelle. Um diese natürlich völlig paranoiden und
­weltverschwörerischen Anflüge des Autors noch genüsslich bis zum bitteren Ende auszu-
kosten, sei nochmals ins Gedächtnis gerufen, dass es Anhaltspunkte für den Wahlausgang
zugunsten des Brexits und von Donald Trump vermeintlich durch die Dienste des mittler-
weile insolventen Datenanalyseunternehmens Cambridge Analytica gab (Mudge, 2020).
So offenbarten die Recherchen des Internetexperten und Sonderberaters für Desin­
formation im Britischen Unterhaus, Charles Kriel, dass Cambridge Analytica mit einer
Softwarefirma zusammenarbeitete, welche in der Zielgruppe der ultrakonservativen US-­
Kirchenmitglieder diejenigen Wähler ausfindig machte, welche aufgrund ihrer persön-
lichen Struktur und Lebenssituation am leichtesten zu beeinflussen waren. Ziel war es,
mithilfe des sogenannten Microtargeting diese ausgefilterten (Adress-)Daten von Teilen
der Gesellschaft und deren Verknüpfung mit anderen digitalen Informationen durch das
Verschicken maßgeschneiderter Botschaften von einer Wahlentscheidung i. S. des Auf-
traggebers des Microtargeting zu überzeugen. Je genauer die möglichst beeinflussbare
und/oder einflussreiche Zielgruppe über die Kombination von Daten über ein „Personal
Profiling“ hinsichtlich ihres Denkens, Fühlens und Verhaltens definiert werden kann, desto
effektiver können auch die Botschaften platziert werden. Gekaufte Daten aus Kirchen,
dem Gesundheitswesen oder eben auch von Coaching-Plattformen könnten so Ausgangs-
punkte zur Beeinflussung verschiedenster gesellschaftlicher Zielgruppen und Prozesse
werden. Und falls derartige Daten nicht offiziell verkauft werden könnten, wird man „lei-
der“ von außen gehackt – bzw. „vergessen“ selbst die führendsten Social-Media-Unter-
nehmen bzw. Hightech-Riesen – warum auch immer –, in die Sicherheit der Daten zu in-
vestieren. Für DCPs arbeitende Coaches würden in diesem insgesamt natürlich völlig
absurden Szenario zu unfreiwilligen und ggf. unwissenden Datenbeschaffern über die
(Führungs-)Eliten einer Nation werden.
Diese Grundlagen eines netzgestützten, digitalen Marketings und insbesondere die
Kollaboration mit Plattformen werden es für Coaches unumgänglich machen, auch ihre
administrativen Prozesse stärker zu digitalisieren, um im technischen Sinne ankopplungs-
fähig zu sein. Was Digitalisierung der eigenen, operativ-administrativen Geschäfts-
prozesse allein im Rahmen eines 2–10-Mann-Unternehmens (z. B. eines End-to-End-­
Reportings oder -Abrechnungsprozesses) bedeuten kann, kann sicher zu einem besseren
Verständnis auch der mit diesen Themen behafteten Klient:innen in Großunternehmen
beitragen. Digitalisierung als strategische Transformation würde der Disruption des eige-
nen Geschäftsmodells gleichkommen.
Nachstehend eine komprimierte und zuweilen etwas pointierte Zusammenstellung der
Ausgangssituation sowie Vor- und Nachteile der Nutzung für die verschiedenen End-
kunden von Plattformen, als da sind Privatleute bzw. Coachees, Unternehmen und natür-
lich die Coaches selbst, in den Abb. 5.10, 5.11, 5.12 und 5.13. Achtung: Die schlichte
Anzahl der Vor- und Nachteile ist nicht identisch mit oft auch subjektiven Gewichtungen
unterliegenden Kriterien der aufgeführten Punkte!
280 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Einschätzung der aktuellen (2022) Situation der Plattformen bzw. von deren Betreibern

 „Verdammt“, Gewinn zu machen in einem „Red Ocean“-Markt und sich gegen die aktuelle Vielzahl an DCPs/Konkurrenten durchzusetzen und ggf. die Investoren zufriedenzustellen.
 Wollen/müssen wachsen, um Markt- und damit Verhandlungsmacht gegenüber Coaches zu haben (wie z. B. Amazon gegenüber den Buchverlagen etc.).
 Potenziell verfügen sie – falls Investoren zur Kapitalbeschaffung im Spiel waren und sind – über einen eingeschränkten Entscheidungsfreiraum; Gefahr, dass Qualität ggf. dem Profit geopfert
wird. Eine gewisse Renditenhöhe muss für die Investoren mittel- bis langfristig gewährleistet sein!
 Gründer/Betreiber meist Neulinge bzw. fachfremde Laien (z. B. Softwareentwickler, Betriebswirte/Verkäufer mit ggf. nachgeschobener Coaching-Ausbildung) hinsichtlich des vertriebenen
Service – zuweilen ist kein tieferes Verständnis des Marktes oder der „Community“ vorhanden.
 Teilweise Zukauf von (vermeintlicher) Expertise und Image (z. B. Soundingboards bestehend aus Professoren ohne echten Coaching-Bezug), um als Marktteilnehmer anschlussfähig zu werden.
Gerade die Auswahl der Experten macht jedoch zuweilen schon deutlich, dass die Aussage im vorherigen Punkt zutrifft.
 Ringen um (verlorene) Seriosität durch selbst entwickelte Pseudo-Zertifikate und dubiose Rankings (z. B. XING) oder vermeintliche Experten (s. o.), die zumindest uninformierten Laien
Fachkompetenz und Wissenschaftlichkeit vorgaukeln können bzw. sollen.
 Plattformen werden in Teilen von der Coach-Community als Bedrohung ihrer eher idealistischen und individuenzentrierten Coaching-Kultur gesehen (Massengeschäft, „Datenkraken“,
„Galeeren-Betreiber“).
 DCPs werden kurz- bis mittelfristig ein normaler Bestandteil der Coaching-Landschaft werden.

Abb. 5.10 Einschätzung der aktuellen (2021) Situation der Plattformen bzw. deren Betreiber. ©
Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved

Privatleute als Kunde/Nutzer einer Plattform für Coaches

Ausgangssituation/Ziele:

 Rolle des fachlich meist unwissenden „Einkäufers“ in einem höchst unübersichtlichen Markt
 Ziel ist der Einkauf maximaler Servicequalität (d.h. hohe Wirksamkeit) zum besten Preis
 Hohe Bequemlichkeit bzgl. der End-to-End-Einkaufserfahrung („To-go-Coaching“)
 Je jünger, desto vertrauter und desto größere Affinität zum Online-Shopping – desto klarer die Erwartungen hinsichtlich der „Customer-Experience“ an die Homepage durch
vielfältige Erfahrungen

Vorteile von Plattformen Potenzielle Gefahren/Nachteile von Plattformen

 Leichtere Auswahl/Entscheidung durch standardisierte Vergleichskriterien  Auch das Mehr an Vergleichsdaten bietet für die letztliche Qualität des Coachings
 Potenziell besserer Preis durch Einkaufsmacht der Plattformen bzw. Preisdruck der keinerlei Garantie, denn es liegt in der Natur der Dienstleistung, dass sie erst in der
Plattformbetreiber auf Coach-Honorare Interaktion zwischen dem Kunden und dem Dienstleister entsteht
 Vergleichsmöglichkeit des Preis-Leistungs-Verhältnisses zwischen Plattformen  Kundenbewertungen bieten nur bedingt valide Kriterien für die Coach-Auswahl, da
 Konsumenten erleben Transparenz, Kontrolle und Macht bei einem verwirrenden auch diese manipuliert werden können
Überangebot von Coaching-Anbietern bzw. allgemein in einer VUCA Welt  Die Bedeutung bzw. Seriosität der Zertifizierungen von Coaches wird auf Plattformen
nicht verständlicher
 (Fehl-)Einschätzung, dass die wirklich guten Coaches nicht auf Plattformen zu finden
sind, da sie schon genügend Kunden haben – Plattformen als Tummelplatz des
Mittelmaßes?!
 Man wird (in der Zukunft!?) zu Zusatzverkäufen „verführt“
 Marktmacht als Kunde von Plattformen wird durch die Marktmacht der letztlich
verbliebenen, dominierenden Plattformen („Platzhirsche“) reduziert; Quasi-
Monopolisierungsbestrebungen der Plattform

Abb. 5.11 Privatleute als Kunde/Coachee/Nutzer einer Plattform für Coaches. © Stefan Stenzel
2022. All Rights Reserved

Eine Anmerkung des Autors zum Schluss: Plattformen werden infolge der (auch durch
COVID-19) generell veränderten Konsumgewohnheiten bleiben; nicht nur aufgrund der
Gen X und Gen Z. Fragt sich nur, wie alle beteiligten Akteure sicherstellen werden, dass
durch die starken wirtschaftlichen Interessen der neuen Player das Niveau von Coaching-­
Dienstleistungen zumindest nicht unter das heutige sinkt und der Datenschutz gewähr-
leistet werden kann. Alle Beteiligten im Coaching-Markt sollten diesen neuen Player
wachsam im Auge behalten! Coaches sollten sich die Abhängigkeit der DCPs von den
Coaches (!) bewusst machen und sich nicht zu „Melkkühen“ degradieren lassen. Ohne die
Coaches sind die DCPs nur ein Stück Software, welches einen Marktplatz nachbildet. Eine
ausführlichere und kritische Betrachtung der Situation aus der Perspektive der Einkäu-
fer:innen erfolgt wie bereits erwähnt in Stenzel (2022).
Welchen Grad an Digitalisierung der Coaching-Prozess selbst erfahren wird, hängt
wahrscheinlich von der Technikaffinität des Coaches (Sakowsky & Ahrens, 2020), der
5.1 Die Geschäftsmodelle der New Economy: die Kunst, mit „nichts“ Geld zu machen! 281

Unternehmensvertreter als Kunde/Nutzer einer Plattform für Coaches

Ausgangssituation/Ziele:

 Rolle des (eher fachlich versierten) Einkäufers


 Ziel ist der Einkauf maximaler Servicequalität (hohe Wirksamkeit) zu einem angemessenen (d. h. „preis-wert“) Preis zu kaufen
 Hohe Bequemlichkeit der End-to-End-Einkaufserfahrung, wie sie die Endkunden (Mitarbeiter, Führungskräfte) auch aus dem Privatleben kennen
 Möglichst inklusive kostengünstige Auslagerung oder gar Vermeidung von Administrationskosten bzw. Einsparung von Personalkosten
 Tagesaktuelles Reporting über Aktivitäten und Zufriedenheit, Prozessstatus und Nutzung bzw. entstandene Kosten auf „Knopfdruck“
 Ein breites Angebot an Coaches hinsichtlich Spezialisierung, Qualifikation ggf. globalen Standorten
 Wunsch nach hohen Ausbildungsstandards der Coaches mit anerkannten Qualifikationen bzw. Zertifikaten
 Kompatibilität dem IT-Set-up der Plattform zur existierenden Unternehmenssoftware
 Problemlose Integration bzw. Customizing des (IT-)Prozesses / der Plattform in die (IT-)Unternehmenslandschaft
 Wunsch der maximale Kontrolle über die Daten, hoher Datenschutz für die Klienten und das Unternehmen

Vorteile von Plattformen Potenzielle Gefahren/Nachteile von Plattformen

 Alles „aus einer Hand“  Alles „aus einer Hand“ bzw. in einer Hand, d. h. Machtverlust in der Rolle als Einkäufer
 Zeitgemäße Serviceangebote für interne Kunden  Plattform will mitverdienen – Kosten werden durch (unnötige!?) „Zwischenhändler“ zusätzlich
 Potenziell maximale Servicequalität (hohe Wirksamkeit) zu einem angemessenen (d. h. erhöht
„preis-wert“) Preis zu kaufen  Geringerer „Wettbewerbsvorteil“, da die sehr guten Coaches („Geheimtipp“) ggf. auch
 Potenziell ein breites Angebot an Coaches hinsichtlich Spezialisierung, Qualifikation ggf. Wettbewerbern bekannt sind und von ihnen engagiert werden
globalen Standorten  Zunehmende „Zerstörung“ des von Individuen geprägten „Coaching-Einzelhandels“
 Potenziell tagesaktuelles Reporting über Aktivitäten, Zufriedenheit, Prozessstatus und  Potenziell eher weniger Exklusivität durch „Self-Service“- oder „To-go“-Image von
Nutzung bzw. entstandene Kosten auf „Knopfdruck“ Schnellrestaurants
 Potenziell kostengünstige Auslagerung oder gar Vermeidung von Administrationskosten bzw.  (Fehl-)Einschätzung, dass die wirklich guten Coaches nicht auf Plattformen zu finden sind,
Einsparung von Personalkosten möglich da sie schon genügend Kunden haben – Plattformen als Tummelplatz des Mittelmaßes?!
 Marktmacht als Kunde von Plattformen wird durch die Marktmacht der letztlich verbliebenen,
dominierenden Plattformen („Platzhirsche“) reduziert; Monopolisierungsbestrebungen der
Plattform

Abb. 5.12 Unternehmensvertreter als Kunde/Nutzer einer Plattform für Coaches. © Stefan Stenzel
2022. All Rights Reserved

Coaches als Kunde/Nutzer einer Plattform für Coaches

Ausgangssituation/Ziele:

 Rolle des nach Kunden bzw. eines nach Umsatz bzw. Gewinn suchenden „Unternehmers“
 Der Coach möchte ein durch die eigene Person geprägtes, einzigartiges Produkt anbieten
 Des Öfteren: Coaches möchten die Welt mit dem eigenen Dienstleistungsangebot verbessern, „Menschen helfen“
 Treffen auf starke Konkurrenz („Red Ocean“) in einem Markt mit einem Überangebot
 Kämpfen um Sichtbarkeit in einem diffusen und unübersichtlichen Markt
 Möchten für Leistung angemessen honoriert werden – im Idealfall davon leben können
 Nicht alle Coaches haben trotz einer entsprechenden Selbstbeschreibung („Business Coach“) ein tieferes Business Know-how oder das Talent zur (Kalt-)Akquise

Vorteile von Plattformen Potenzielle Gefahren/Nachteile von Plattformen

 Einfachere Vermarktung/Sichtbarkeit in einem übervollen Markt  Volle Transparenz bzw. Vergleichbarkeit (Erfahrung, Qualifikation, Preis etc.) für Endkunden / potenziellen
 Der Coach kann ggf. durch leichtere Vergleichsmöglichkeit für Kunden die Einzigartigkeit der Coachee
Dienstleistung leichter herausstellen  Plattform verdient immer mit – Honorar des Coaches wird durch „Zwischenhändler“ geschmälert
 Verringerte Marketingkosten!?  Völlige Transparenz über Geschäftsaktivitäten
 Plattformen nehmen über die IT-Basierung den Coaches ggf. die administrative Prozesssteuerung und -  Rolle als „Datenbeschaffer“ („Big Data“) ohne Einfluss (?) auf die Weiterverwertung (Verkauf!?) dieser
dokumentation sowie Abrechnung der Fälle ab Daten (z. B. nach einem Verkauf der Plattform an ein größeres, amerikanisches Unternehmen)
 Notwendigkeit zur ungeliebten (?) (Kalt-)Akquise wird ggf. reduziert  Erstarkte Plattformen werden die individuelle Preisgestaltung der Coaches beeinflussen wollen
 Coaching wird potenziell einer größeren Kundengruppe bekannt und zugänglich – bekommt potenziell den  Erstarkte Plattformen wollen definieren, was „gutes Coaching“ ist
Charakter eines Alltagsartikels, eines „Convenience Good“ – der Markt vergrößert sich  Keine Macht über Umfeld/Cross-Selling-Marketing auf Plattform (z. B. Werbeanzeigen)
 Könnte Plattformen als „Sprungbrett“ benutzen und nach etabliertem Image und etablierter Kundengruppe  Unabhängige Einzelanbieter für Coaching erleben Probleme des traditionellen Einzelhandels (z. B.
die Plattform wieder verlassen ( Verhinderung mittels „Knebelverträgen“ durch Plattformbetreiber!?) Verdrängung)
 Coaching bekommt potenziell den Charakter eines Alltagsartikels, eines „Convenience Good“  Einfluss
auf Image!?
 Plattformen werden von Teilen der Coach-Community als Bedrohung (!?) der eher idealistischen und
individuenzentrierten Coaching-Kultur gesehen (Massengeschäft, „Datenkraken“ mit dem Coach als
„Datenbeschaffer“, „Ausbeuter“)
 (Fehl-)Einschätzung, dass die wirklich guten Coaches nicht auf Plattformen zu finden sind, da sie schon
genügend Kunden haben  Plattformen als Tummelplatz des Mittelmaßes?!
 Notwendigkeit der Existenz bzw. Einfluss von Berufsverbänden für Coaches wird marginalisiert – falls sie
diese Entwicklungen nicht aktiv und nachhaltig mitgestalten
 Marktmacht als Kunde von Plattformen wird durch die Marktmacht der letztlich verbliebenen,
dominierenden (ausländischen?) Plattformen („Platzhirsche“) reduziert; Monopolisierungsbestrebungen
der Plattform

Abb. 5.13 Coaches als Kunde/Nutzer einer Plattform für Coaches. © Stefan Stenzel 2022. All
Rights Reserved
282 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

parallel dazu erworbenen Kompetenz, dem Erfolg bzw. den finanziellen Mitteln für die
Erstanschaffung und vor allem der bevorzugten Altersgruppe der Coachees ab. Generell
die Balance zwischen technischer Spielerei (Holtmeier & Mertin, 2012) und dem echten
Mehrwert stiftenden Einsatz von Hightech zu finden wird die individuelle Heraus-
forderung – aber auch ein Teil der USP.
Was sich aktuell andeutet, ist ein spannender, neuer Anfang und wird das Coaching und
Coaching-Business bei professioneller Handhabung um einige Dimensionen bereichern.
Weiterhin jedoch gilt der Leitsatz aller wahren Professionals: A fool with a tool is
still a fool!

5.2  ie Digitalisierung von HR und von Führung: Daten als


D
Produktivitäts- und Innovationstrigger

Mit dem Siegeszug des Softwareeinsatzes in Unternehmen für die Abwicklung sämtlicher
Geschäftsprozesse wie der Buchführung, des Controllings, Vertriebs und Einkaufs sowie
der Produktion, der Lagerhaltung und des Personalwesens war gerade Letzteres als zen­
trales Element der Wertschöpfung im Unternehmen immer schon ein wichtiger Baustein.

Ein kurzer Blick in die Historie


So auch bei einem der Pioniere von Unternehmenssoftware, dem deutschen, 1972 ge-
gründeten Softwarehaus SAP SE. Als ein Modul des alles integrierenden Unternehmens-
informationssystems oder „Enterprise-Resource-Planning“ (ERP) war ab Anfang der
1990er das (Human-Capital-Management-)HCM-Modul für die Verarbeitung aller mit-
arbeiterbezogenen Informationen zuständig. Mit dem Strategiewechsel der SAP zu cloud-
basierten Anwendungen bzw. der 2012 vollzogenen Akquisition des kalifornischen An-
bieters SuccessFactors wurde deren gleichnamige Speziallösung zu dem Produkt für das
Personalmanagement. Doch nicht erst seit dieser Zeit ist der Human-Resource-Bereich für
die Softwarehersteller ein hart umkämpfter Markt, und SAP hatte sich gegen zahlreiche
Konkurrenten verschiedener Größenordnungen (Oracle, Workday, Ultimate Software,
Infor, Ceridian, ADP etc.) zu behaupten. Die Digitalisierung von HR ist jedoch in Unter-
nehmen aller Größenordnungen heute unumkehrbar und nur deren unternehmensspezi-
fischer Reifegrad hinsichtlich der Integration wird einen kleinen, aber maßgeblichen
Unterschied machen. Eine Veranschaulichung hierzu liefert die Abb. 5.14.

Die Vorlieben beim Einkaufsverhalten der Kunden pendeln dabei zwischen integrierten
Gesamtlösungen und dem Herauspicken und der eigenständigen Integration hoch spezia-
lisierter Einzellösungen (Best-of-Breed-Strategie). Waren früher die Vielzahl und Tiefe
der „features and functions“ wesentliche Entscheidungskriterien, sind es in Zeiten des
Agilitätsimperativs die intuitive Einfachheit beim Erlernen und bei der alltäglichen Nut-
zung sowie die inhaltliche, technische und vertragliche Flexibilität bei gleichzeitig gerin-
gen Implementierungs- und Lizenzkosten.
5.2 Die Digitalisierung von HR und von Führung: Daten als Produktivitäts- und … 283

Reifestufe 1 Reifestufe 2 Reifestufe 3 Reifestufe 3


Einstieg u. Etablierung u. Spezialisierung u. Augmentierung bzw.
Austesten Integration Flexibilisierung Automatisierung
(ca. 1990–2000er) (ca. 2004–2012) (ca. 2012–2017) (ca. 2018+)

Intelligente/
autonome
IT-Lösungen

 KI-gestützte/automatisierte
Personalisierende Informations- und Interaktions-
IT-Lösungen
+ steuerung; selbstlernende Assistenten
 Autonome Beratung/Empfehlungen
 Präskriptive Verarbeitung einfacher
Funktionale/  Personalisierte Informations- u.
operativer Daten (O) und Erfahrungs-
Interaktionssteuerung
interagierende bzw. Befragungsdaten (EX)
+
 Prädiktive Verarbeitung komplexer
IT-Lösungen operativer Daten (O) und Erfahrungs-
 Durch alle verfügbaren Daten
angereicherte Berichte u. Analysen
bzw. Befragungsdaten (EX)
Isolierte/  Einfache Informations- und  Durch CX angereicherte Berichte u.
dokumentierende Interaktionssteuerung innerhalb u. Analysen
IT-Lösungen + zwischen umgebenden Systemen
sowie mit dem Nutzer (Self-Service)
 Diagnostische Verarbeitung einfacher
 Einfache Datenspeicherung und O-Daten: Operative bzw. administrative Daten
operativer Daten (O) und Erfahrungs-
Abbildung der HR-Prozesse
bzw. Befragungsdaten (EX) EX-Daten: Erfahrungs- bzw. Befragungsdaten von Mitarbeitern
 Deskriptive Verarbeitung rein
 Durch EX angereicherte Berichte u. am Arbeitsplatz (EXperience des AN am Arbeitsplatz)
operativer Daten (O)
Analysen CX-Daten: Erfahrungs- und Befragungsdaten von Kunden (Customer Experience)
 Einfache Berichte und Analysen

Ressourcen- Integriertes Personal- Team &


planung (ERP) Talent Management Management Netzwerke

Abb. 5.14 Reifestufen und Kernthemen der Digitalisierung von HR-Systemen (© Stefan Stenzel
2022. All Rights Reserved)

Als zentrale Schnittstelle zu ihren Mitarbeitern erwarten Unternehmen insbesondere


von HR-Software heutzutage, dass sie in Unternehmen für die geschätzt drei Milliarden
Arbeiter und Angestellten technisch leicht und schnell integrierbar ist. Die komfortable
Automatisierung von Standardprozessen, eine ansprechende Nutzeroberfläche sowie die
Nutzungsmöglichkeit auf allen aktuell genutzten Endgeräten sind zum unverzichtbaren
Standard geworden. Doch obwohl sich die Unternehmen bewusst sind, Standardsoftware
gekauft zu haben, bleibt die Erwartung in Bezug auf Anpassungsmöglichkeiten an lieb
gewordene Unternehmensspezifika bestehen.

Die drei Wünsche und die Geister, die ich rief


Neben diesen eher technischen Anforderungen sind es nach Deloitte (Bersin, 2017a) im
HR-Softwaremarkt drei Mikrotrends, welche die Zukunft aufgrund einer sich verändert
habenden HR-Landschaft bestimmen werden. Da ist zum einen neben den oben bereits
angesprochenen, technischen Veränderungen (1) der Wunsch nach einfachen Auf-
bereitungsmöglichkeiten von Personaldaten, die Möglichkeit zur Echtzeitkommunikation
sowie (2) der zunehmende Einsatz von Chatbots und künstlicher Intelligenz. Ferner ist da
(3) die seit Jahren wahrscheinlich nicht nur in den USA nahezu unveränderte Produktivi-
tät. Als eine Ursache für die unerwünschte Trägheit dieser wichtigen Kennziffer der
Wachstumsstärke einer Volkswirtschaft wurde die konstante technologische Reizüber-
flutung bzw. der Informationsoverkill der Mitarbeiterschaft ausgemacht, welcher heutzu-
tage in einer räumlich und zeitlich entgrenzten Welt potenziell nie abreißt. Nur so erklärt
284 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

sich Josh Bersin (2017a, S. 3) den Boom von Weiterbildungsangeboten zu den Themen
Achtsamkeit, Yoga und sonstigen Programmen des Wellness- oder, etwas umfassender,
des Wellbeing-Sektors. Als eine in den USA sehr populäre Non-Profit-Organisation ist
hier z. B. das „Global Wellness Institute“2 zu nennen. So wird von Software heute er-
wartet, dass sie die Geister, die sie rief, auch wieder in den Griff bekommt. Das heiß, dass
sie dabei unterstützt, die Reiz- und Informationsfluten nutzerzentriert aufzubereiten, zu
kanalisieren, priorisieren und zu reduzieren. Die unter 2.1. dargestellten Wearables zur
Selbstvermessung dienen hier potenziell als zusätzliche, individuenbezogene Daten-
lieferanten.

Den Erfolg solcher Maßnahmen verfolgen zu können, aber auch allgemein die Be-
findlichkeit der Belegschaft permanent und valider einschätzen zu können, sieht Bersin als
Ursache für das zunehmende Interesse von Unternehmen an Softwarelösungen zur un-
komplizierten und schnellen Mitarbeiterbefragung. Wurden in den meisten Unternehmen
die Nutzenerwartungen der häufig jährlich und unternehmensweit durchgeführten Um-
frageformate eher enttäuscht, hofft man nun durch IT-Lösungen, welche einen prozessua-
len und gezielteren Einsatz ermöglichen, Produktivitätshindernissen früher, effektiver und
vor allem kontrollierter mit geeigneten HR-Maßnahmen entgegenwirken zu können. Ein
neuer Ansatz in der IT-Landschaft von HR sind die Tools zur „Organizational Network
Analysis“ (ONA). Wissen berufserfahrene Arbeitnehmer schon lange, dass Unternehmen,
Bereiche und Teams nicht entlang von formalen Organisationsstrukturen funktionieren,
scheint nun auch die Softwareindustrie in der Lage zu sein, informelle bzw. auf Vertrauen
und Kontakthäufigkeit basierende Netzwerke analysieren zu können. Die sich zumindest
in Europa dabei reflexartig einstellenden Bedenken zum Datenschutz bzw. zu Bewegungs-
profilen sind sicher berechtigt. Vielleicht jedoch wird die sich damit einfach nur auf das
Berufsleben erweiternde Analysemöglichkeit von Bewegungsprofilen von den kommen-
den Generationen als neue Normalität hingenommen, da man sich an die bereits wirksame
Standorterfassung über das Handy, die als erweitertes Ich empfundenen Wearables, das
GPS im Auto oder aber das völlig autonom fahrende Fahrzeug (thematisch) bereits ge-
wöhnt hat. Der erlebte Komfortzuwachs bzw. die langsame und homöopathische Dosie-
rung dieser Veränderungen über die nächsten 10–20 Jahre sowie der damit einhergehende
demografische Wandel werden die heute noch zu erwartenden, massiven Widerstände
wahrscheinlich nach und nach in Luft auflösen.
Die vier großen Phasen bzw. inhaltlichen Schwerpunktverschiebungen bei der Digita-
lisierung von HR seit den 90ern veranschaulicht ebenfalls die Abb. 5.14. Sie zeigt sehr
plastisch die Stationen von einer Software zur rein administrativen Planung von individu-
ellen Humanressourcen (ERP bzw. HCM) zur möglichst die Produktivität und das Wohl-
befinden am Arbeitsplatz steigernden Team- und Netzwerklösung.

2
https://globalwellnessinstitute.org/. Zugegriffen am 22.09.2020.
5.2 Die Digitalisierung von HR und von Führung: Daten als Produktivitäts- und … 285

5.2.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Kommen wir zu der aktuell so häufig beschriebenen „digitalen Führung“ im engeren Sinne:
Die soeben beschriebenen, großen Linien im Bereich der Digitalisierung von HR-­Prozessen
bzw. Softwareentwicklung sind natürlich nicht nur das Ergebnis findiger Produktent-
wickler, sondern gerade in der letzten Dekade das Resultat einer Vielzahl von z. B. De-
sign-Thinking-Workshops. Also Workshops, die den Kunden bereits bei der Entwicklung
mit einbeziehen und zum PROsumenten (also einer Mischung aus PROduzent und KonSU-
MENT) werden lassen. Der Stand dieses die Zukunft koaktiv kreierenden Prozesses findet
sich umfassend im oben angeführten Artikel des Analysten und „HR-­Softwaregurus“ Josh
Bersin, der darin eingehend die 10 Disruptionen dieser HR-­Technologien (Bersin, 2017a)
beschreibt (Bersin, 2017a, S. 5 ff.). Durchgängig erkennbare Trends bei diesen Disruptio-
nen sind deren stärkerer, dialogischer (auch über Chatbots) Aufbau und dass sie dadurch in
ihrer Handhabung an soziale Netzwerke erinnern sollen. Ein weiterer Innovationsvorstoß
besteht in der Unterstützungsmöglichkeit auch von Teams. Im Folgenden wird nur auf die
sechs Disruptionen (der 10) referenziert, welche potenziell den Coaching-Klienten und
damit letztlich auch das Coaching als Service und damit auch den Coach selbst beeinflussen
könnten. Denn in der Rolle als Führungskraft oder Mitarbeiter werden sie davon direkt oder
indirekt in ihrer täglichen (Personal-) Arbeit begleitet.

Die neuen Seiten digitalisierter HR-Prozesse


Erstens: Die Verschiebung des ERP- bzw. HR-Systems in die Cloud war wie bereits ein-
gangs erwähnt wohl eine der signifikantesten Änderungen in der letzten Dekade. Sie steht
hinsichtlich der Preismodelle für einen Umstieg vom Kauf von Lizenzen zu zeitlich sehr
klar begrenzten, temporären Subskriptions- bzw. Leasingmodellen. Inhaltlich bzw. funk-
tional ging mit diesem Wandel die Fortentwicklung des Talent-Management-Prozesses
einher. Wie in Abb. 5.14 dargestellt, wurde in diesem Zuge das möglichst hoch integrierte
und automatisierte Talent-Management der 90er- bis Anfang der 2010er-Jahre, welches
den einzelnen, eher stellenfixierten Mitarbeiter von der Anwerbung bis zum Ausscheiden
in seiner Entwicklung begleitete, zu einem People-Managementsystem, welches die
Schwerpunkte beim Ziel- bzw. Leistungs- und Gesundheitsmanagement setzt sowie Lern-
plattformen und Mitarbeiterbefragungsmöglichkeiten integriert. Heute, zu Beginn der
2020er-Jahre, ist von immer mehr Mitarbeitern zu hören, dass sie an mehrere Führungs-
kräfte („dotted line“) berichten, in mehreren Projekten gleichzeitig arbeiten. Letzteres zu-
weilen temporär auch in anderen Projektgruppen des eigenen Bereiches, des eigenen
Teams oder aber sogar in anderen, fachfremden Geschäfts- oder gar Vorstandsbereichen.
Diese größere, firmeninterne Mobilitätsanforderung sowie die stärkere Notwendigkeit der
(bereichsübergreifenden) Bearbeitung komplexer Probleme in Teams erfordern eine Neu-
ausrichtung vom individuumszentrierten Talent-Ansatz zur Produktivitätsoptimierung in
einem Team-Management-Ansatz. Für Klienten in einer Managerrolle heißt dies in den
nächsten 10–20 Jahren, dass eine stabile oder sogar anwachsende Teamgröße als Status-
symbol zunehmend entfallen. Stattdessen wird die Fähigkeit, ein ad hoc zusammen-
286 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

gestelltes Team aus internen (und externen, temporär) Angestellten verschiedenster Fach-
richtungen, Organisationsbereiche, Kulturen, Altersgruppen und Erfahrungshintergründe
und ggf. aus verschiedenen Kontinenten zu leiten, zunehmend zum Alltagsgeschäft ge-
hören und zu einem wichtigen Beförderungskriterium werden. Etwas zugespitzt formu-
liert: Zunehmende Diversität möglichst effizient, effektiv und schnell in möglichst hohe
Produktivität transformieren zu können, wird einer der Erfolgsfaktoren von morgen sein.
Die zudem geforderte Rollenflexibilität, einmal als Mitglied des Teams, das andere Mal
als Leiter des Teams produktivitätssteigernd wirken zu können, wird als Selbstverständ-
lichkeit vorausgesetzt.

Begleitet werden diese massiven Flexibilisierungsbestrebungen (d. h. arbeiten wann,


wo, wie, womit und mit wem es zielführend erscheint) zum einen von der schrittweisen
Loslösung von Organisationsstrukturen und Stellenbeschreibungen mit Erstarrungs-
potenzial (siehe dazu auch Abschn. 5.4), zum anderen von der sukzessiven Auflösung der
Außengrenzen des Unternehmens. Letzteres offenbart sich u. a. in Form der zunehmenden
Öffnung für temporäre Arbeitskräfte mit entspechenden Anstellungsformen bzw. -ver-
trägen. Diese dann fluide Arbeitnehmerschaft wandelt sich von den ehemals internen
„Humanressourcen“ zu ggf. auch global verteilten Anbietern einer Dienstleistung und
wird in Anbieter- oder Vendor-Managementsystemen wie SAP Fieldglass, Beeline,
WorkMarket oder PeopleFluent verwaltet. Einen ersten Vorstoß in der Vermischung von
festen und freien Mitarbeitern machte hier IBM im Jahr 2012 mit einem Produkt mit dem
vielsagenden Namen „Liquid“ (Bienzeisler, 2012). Gleich ob in der Rolle als Teamleiter,
als Teammitarbeiter mit z. B. einem Zeitvertrag, stellt sich für den Coaching-Klienten
immer häufiger die Herausforderung der schnellen Teamentwicklung (i. S. der Erarbeitung
der Ziele, Aufgaben, Rollen und Verantwortlicheiten etc.). Konkret erfordert dies bei der
Führungskraft zum einen ein Wissen um die persönlichen Spezifika und Fähigkeiten des
eigenen Teamprofils (z. B. nach Belbin) sowie dessen gruppendynamische Auswirkung in
neu zusammengestellten Teams, zum anderen, wie dieses Wissen in der täglichen Zu-
sammenarbeit praktisch bzw. möglichst konstruktiv eingebracht werden kann. Langfristig
erfolgreich werden daher eher die Klienten sein, welche möglichst alle vier Aspekte der
emotionalen Intelligenz (Selbst- und Sozialwahrnehmung, Selbstmanagement und so-
ziale Fähigkeiten) nach Daniel Goleman (1997) in möglichst gleich hohem Maße ent-
wickeln konnten und dies sowohl von Angesicht zu Angesicht wie auch virtuell (Boos
et al., 2016) wirksam werden lassen können.
Die zweite und gemäß Josh Bersin tiefgreifendste Disruption im Bereich der HR-­
Technologien ist die Entwicklung von solitären Leistungsfeedbacksystemen für die
meist ein bis drei Gespräche pro Jahr umfassenden Rückmeldungsrunden, hin zu Möglich-
keiten des systemgestützten, kontinuierlichen und integrierten Feedbacks. „Integriert“,
weil sie die Elemente Strategiebildung und -umsetzung in den normalen Projektalltag (in
Form einer Zielvereinbarung, heute mit der Objectives-and-Key-Results(OKR)-Methode
plus quartalsweisen Business-Reviews) mit leistungsbezogenem, kontinuierlichem
­Coaching bzw. entsprechenden Entwicklungsanstößen (in Form von 1:1-Abstimmungs-
5.2 Die Digitalisierung von HR und von Führung: Daten als Produktivitäts- und … 287

gesprächen und Feedbackgesprächen) und letztlich einer Leistungsrückschau und -be-


urteilung (in Form der ggf. Neuausrichtung des Entwicklungs- bzw. Coaching-Bedarfes
sowie der Überprüfung der numerischen (KPI-)Zielerreichung) verbinden sollen. Ad-
jektive, welche die Performance-Management-Tools von morgen umreißen, lauten daher:
„kontinuierlich“, „teamzentriert“, „multidirektional“, „entwicklungsbezogen“, „daten-
basiert“, „transparent“ sowie „mit qualitativen Daten ergänzt“. Die angesprochene, um-
fassende Integration wäre jedoch erst dann vollzogen, wenn die in den oberen Prozess-
schritten gewonnenen Informationen und Daten dynamisch auf die Vergütung, die
zukünftige Lern- und Entwicklungsplanung bzw. die Auswahl zukünftiger (Lern-)Projekte
einen Einfluss haben. Dem Klienten ermöglicht diese größere Systemflexibilität sowohl
eine inhaltlich transparente Abbildung der vielfältigen räumlich (verschiedene Teams in
verschiedenen Bereichen zu verschiedenen Zeiten) und rollenbezogen (mal Projektmit-
glied – mal Projektleiter) wechselnden Arbeitskontexte als auch die ­zeitliche Abbildung
durch – falls erforderlich – tägliche Aktualisierungsmöglichkeiten. Eine Dokumentations-
möglichkeit für diese Veränderungen begleitenden Gespräche mit der Führungskraft wie
auch die Möglichkeit zu multidirektionalem (360-Grad-)Feedback für nun jeden Mit-
arbeiter schaffen eine substanzielle Basis für die Lern-, Karriere-, Entwicklungs- und Ver-
gütungsplanung in individueller wie organisatorischer Hinsicht. Zusammengefasst heißt
das: Die neuen IT-Systeme unterstützen datenbasiert eine immer aktuelle Dokumentation
der Leistungs- und Lernentwicklung für den eher festen wie auch den fluiden Teil der
Arbeitnehmerschaft. Diese Dokumentationsmöglichkeiten liefern die Belege für ein zu-
künftiges Berufsleben mit wechselnden Anstellungsverhältnissen, Rollen etc., in welchem
die Fähigkeit zur Selbststeuerung und -entwicklung einen klaren Wettbewerbsvorteil
darstellt.
Drittens: Indem der „zufriedene und engagierte Mitarbeiter“ mit seiner starken Korre-
lation zur Produktivität in den letzten Jahren zum goldenen Kalb der Unternehmenslenker
bzw. Personalabteilungen erhoben wurde, bekamen nach Bersin in der dritten Disruption
alle Messverfahren, die mit dem damit verbundenen Metakonzept des „Employee-­
Engagements“ arbeiten, einen enormen Aufschwung. So sollen die oft in Unternehmen
bereits heute schon genutzten, jedoch mit meist hohem Planungsaufwand verbundenen
Jahresbefragungen durch schlanke, spezifische, bedarfsgetriebene Pulsmessungen ergänzt
werden. Um nicht erst bei Ausstiegsinterviews von Missständen im Unternehmen zu er-
fahren, möchte man der Belegschaft eine permanente Möglichkeit zum Feedback geben.
Ferner sollen die nun in z. B. Quartalszyklen zu führenden Leistungsbeurteilungen durch
„Check-ins“ in beliebig kurzen Intervallen ergänzt werden. Peer-Feedback wird parallel
mindestens den gleichen Stellenwert wie das Feedback der Führungskraft erhalten. Immer
mit dem Ziel, frühzeitig zu erfahren, was eine optimale Leistungserbringung verhindert,
wo „der Schuh drückt“. Stand früher nur die Zufriedenheit des Kunden im Zenrum des
Topmanagements, ist heute wie zukünftig auch die Befindlichkeit des Mitarbeiters min-
destens ebenso wichtig. Man hat verstanden, dass beide einander bedingen. All diese in-
ternen Feedbackdaten dann in Relation zu externen Daten aus Kundenbefragungen, aus
den vom Unternehmen genutzten Social Media (z. B. Facebook), Job-Börsen (z. B. Mons-
288 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

ter, StepStone etc.), Websites zur Arbeitgeberbewertung (z. B. Glassdoor) sowie Marken-
wert (z. B. Interbrand) zu setzen und deren Wechselwirkungen bzw. Auswirkungen für
spezifische Optimierungsmaßnahmen nutzbar machen zu können, ist der Stoff, aus dem
die Träume aller Data-Scientists gemacht sind. Datenschutzbestimmungen sowie die
Herausforderungen hinsichtlich der Zusammenführbarkeit bzw. Kompatibilität der Daten
werden sie wie nach einem Albtraum schweißgebadet hochschrecken lassen. Für den
Klienten ist diese permanente (Selbst-)Befragung wahrscheinlich Fluch und Segen zu-
gleich. „Fluch“ i. S. der oft den Tagesfluss unterbrechenden und ggf. unbequemen Stand-
ortbestimmung – „Segen“ i. S., dass die dabei gewonnenen Erkenntnisse irgendwann
auch Folgeaktivitäten anmahnen und damit eine Reaktion auf permanente Flexibilitäts-
anforderung (bzgl. Tätigkeit, Leistungsstand, Rolle, Unternehmenspassung etc.) im eige-
nen Interesse unterstützen.
Viertens: Wurde bereits in Abschn. 4.2 die Notwendigkeit der Lernfähigkeit und -bereit-
schaft als einzige zukünftige Konstante dargestellt bzw. in Unterkapitel 4.2.1 die potenziel-
len Konsequenzen für den Klienten, soll hier nun selektiv auf die Neuerungen hinsichtlich
der Lerntechnologie als Klammer und vierte Disruption eingegangen werden. Ursachen
für diese neuen Anforderungen sind – wie in diesen Kapiteln dargestellt – kleinere bzw.
kürzere Lerneinheiten (→ Microlearnings), von jedermann im Do-it-­yourself-Verfahren er-
stellbare Lerneinheiten (→ Authoring-Systeme), der wesentlich stärkere Einsatz von Video-
bzw. Filmmedien sowie die sich allerdings noch in den Anfängen befindliche Unterstützung
des Lernens durch VR-/AR- oder MR-Systeme (siehe auch Abschn. 2.1). Ferner gewinnen
stärker auf Kollaboration angelegte Learning-­Experience-­Plattformen (z. B. EdCast, De-
gree etc.) gegenüber den nur Lerninhalte verwaltenden Learning-Management-Systemen
(= LMS; „klassische“ Anbieter wären z. B. Cornerstone, Saba, SAP SuccessFactors) immer
mehr an Bedeutung. Bersin (2017a, S. 21) vermutet sogar, dass mit der bereits an-
gesprochenen, zunehmenden Bedeutung von Teams kollaborative Systeme durch die Inte-
gration auch der LMS-Funktionen und anderer Elemente dieses Relikt der alten Lernwelt
letztlich überflüssig machen könnten. Situativer, schneller und unkomplizierter Zugriff auf
die gemeinschaftlich gesammelten, erstellten und verwalteten Informations- und Lern-
ressourcen ist ein Kernmerkmal der neuen Lernerfahrungen. Der Austausch von E-Mails
über reine Kollaborationssysteme wie „Microsoft Teams“ scheint „Microsoft Outlook“,
Skype oder „Microsoft Sharepoint“ potenziell sogar teilweise das Wasser abgraben zu kön-
nen. Und hier kommen auch Coaching-Angebote ins Spiel. Ankopplungsfähig sind unter
den soeben geschilderten Rahmenbedingungen nur auf Plattformen (siehe ausführlich
dazu Abschn. 5.1) bereitgestellte (Coaching-)Services. Gleich ob es sich dabei um internes
oder externes Coaching handelt, muss es den Nutzern ein Leichtes sein, diese spezielle
Lernunterstützung (für das Team) ohne Systemwechsel zu nutzen. Ob der (Team-)Coach
leibhaftig, virtuell oder über den Einsatz einer App oder gar einer VR- bzw. AR-Brille
(z. B. für das Teammeeting) „hereingeholt“ wird, darf organisatorisch und technisch keine
Rolle mehr spielen. Dass man interne Coaches dabei auch physisch schneller einbinden
könnte, wird die Entwicklung dieser Serviceangebote sicher in vielen Unternehmen zu-
künftig unterstützen. Renommeeträchtige, weil durch den Preis, die Vermittlung und Aus-
5.2 Die Digitalisierung von HR und von Führung: Daten als Produktivitäts- und … 289

wahl des Coaches bzw. spezielle Vertragsvereinbarung zeitaufwendige Einkaufsprozesse,


wird es nach Einschätzung des Autors nur noch für spezielle, für das Unternehmen strate-
gisch bedeutsame Zielgruppen geben. Heute zuweilen im eigenen Überangebot an Lern-
möglichkeiten ertrinkend, wird der zunehmende Einsatz von AI auf all diesen neuen Platt-
formen im nächsten Jahrzehnt dem Nutzer eine speziell auf dessen Erfahrung, Rolle und
Tätigkeit maßgeschneiderte Auswahl an Lernangeboten ermöglichen. Weil im IT-Lern-
system hinterlegt, wird im Sinne der obigen Aussage (internes) Coaching wahrscheinlich
für immer mehr Klienten ein gängiger Bestandteil ihrer Entwicklungspläne.
Fünftens: Bedingt durch die potenziell größere Offenheit der kommenden Generatio-
nen für die Vermessung des Selbst bzw. seiner körperlichen und geistigen Befindlichkeit
über diverse Wearables (siehe auch Abschn. 2.2.2) sowie das Interesse von immer mehr
Unternehmen, ihren Anteil an den staatlich verordneten oder sogar zusätzlichen Beiträgen
zu Gesundheitsversicherungen möglichst niedrig zu halten, ist es nach Ansicht von Bersin
(2017a, S. 29) nur folgerichtig, dass der Markt des Gesundheitsmanagements – oder auf
Neudeutsch „Wellbeing-Markt“ – gerade im Begriff ist, zu explodieren. Die Über-
alterung der Erwerbstätigen in vielen Industrienationen und/oder der Wunsch durch den
aktuell in manchen Branchen in Deutschland herrschenden Fachkräftemangel, diese län-
ger im Unternehmen zu halten, wirken hier sicherlich verstärkend. Der Philosophie fol-
gend, Gleiches mit Gleichem bekämpfen zu können, hofft man die durch die intensive und
permanente Verbindung mit der digitalen Welt hervorgerufenen psychischen und physi-
schen Dysfunktionen der Neuzeit wie z. B. Burn-out, Depressionen oder Schädigungen
des Halteapparates durch entsprechende Softwarelösungen wie z. B. „TeamRelate“ von
Ceridian Dayforce HCM oder „LifeWorks“ als Ideenkonzept für die SuccessFactor-­
Lösung von SAP (Pecht et al., 2018) wie auch umfassende Gesundheitsprogramme
(z. B. BCG, Facebook, Google oder das SAP Fitbit-Angebot) wieder eindämmen zu kön-
nen. Besonders prominent wurden dabei in den letzten Jahren die Programme zum Thema
„Mindfulness“ des IT-Riesen Google in den USA und des Followers SAP in Deutschland.
Viele der inzwischen über 600 internen Coaches bei der SAP SE haben sich als Gesund-
heitscoach auf die Begleitung bei diesen Themen spezialisiert bzw. engagieren sich in
beiden Bereichen.
Sechstens: Das bereits im Big-Data-Kapitel 2.2 angedeutete Thema der sogenannten
„Predictive Analytics“ oder in diesem Fall der „People Analytics“ (oft auch als Workforce
Analytics, HR Analytics bezeichnet) sieht Bersin (2017a, S. 29) als die sechste Disruption.
Dabei führt er sie interessanterweise auf die Ursprünge der taylorschen Analysen zur Ar-
beits- bzw. Prozessoptimierung zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts sowie die Anfänge
psychometrischer Verfahren zur Erfassung der Persönlichkeit, von Fähigkeiten und Fertig-
keiten zurück. Dass Firmen sich nach der eingehenden Analyse der Finanzen, der Ge-
staltung bzw. Effektivität von Marketingkampagnen bzw. des Kundenverhaltens wieder
der Analyse der Belegschaft zuwenden, hält Bersin (2017a, S. 29) als größten Fixkosten-
faktor nur für folgerichtig. Kurz gesagt beschreibt sie jegliche Datenanalyse, welche den
Zusammenhang von Menschen und ihrer Arbeitsumgebung beschreibt – plus deren Ver-
knüpfung mit frei zugänglichen, öffentlichen Daten –, und geht damit auch durch
290 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

neue technische Möglichkeiten weit über das klassische Personalcontrolling hinaus. Denn
es wird für die Unternehmen angesichts des Innovationswettbewerbs immer wichtiger, zu
verstehen, wie z. B. die Fluktuation oder die Leistung von Teams und Führungskräften
oder die Zusammenstellung und der Aufbau der kompletten Arbeitnehmerschaft optimiert
werden können. Wurde dies in früheren Jahren unter dem Begriff „Personalcontrolling“
eher administrativ abgearbeitet, prognostiziert er infolge des Digitalisierungsschubs der
letzten fünf Jahre der „People Analytics“ einen besonderen strategischen Stellenwert. Ein-
führende Werke für dieses zukunftsträchtige Thema wären das Buch von Reindl & Krügl
(2017) oder englischsprachig das von Mike West (2019) oder dem Big-Data-Guru Bernard
Marr (2018). Schafft es HR, auf diesen Zug aufzuspringen oder sich sogar zum Treiber
dieser Entwicklung zu machen, könnte deren Vertretern endlich gelingen, was vielen von
ihnen bisher versagt blieb: echte Mitsprache am Tisch des Topmanagements. Ansonsten
wird die Digitalisierung die HR-Abteilungen zumindest mittelfristig auf einen rudimentä-
ren Kern schrumpfen lassen (Stenzel, 2018).
Technisch sieht Bersin dabei drei Entwicklungen in den nächsten Jahrzehnten als maß-
geblich. Die Fähigkeit der Softwarelösungen, jederzeit in Echtzeit (→ „Embedded Ana-
lytics“) – d. h. ohne die explizite Erstellung spezieller Berichte – wichtige HR-­
Kennzahlensysteme und ihre Abhängigkeiten über den kompletten Lebenzyklus der
Unternehmenszugehörigkeit eines Mitarbeiters immer, überall, möglichst einfach und auf
allen Ausgabegeräten (in weiten Teilen auch für den Mitarbeiter selbst) zur Verfügung zu
haben. Die Integration von künstlicher Intelligenz erlaubt es darüber hinaus wie z. B. im
Falle des „Watson Career Coach“ mit Namen „Myca“,3 mittels der Erkennung von Entwi-
cklungs- und Laufbahnmustern dem Mitarbeiter über einen Chatbot personalisierte, in-
terne Stellen-, Lern- und Entwicklungsempfehlungen für den weiteren Berufsweg zu
geben. Alternative Systeme sind hier z. B. „InnerMobility“ der Firma gloat4 oder die Lö-
sung von edcast.5 Die dritte technische Entwicklung ist die oben bereits erwähnte, jedoch
noch nicht sehr verbreitete „Organizational Network Analysis“ (ONA). Datenschutz-
technisch sicher eine Herausforderung, analysiert diese Softwarelösung E-Mail-Ströme,
Aufenthaltszeiten und -orte (z. B. Meetings), Feedbackaktivitäten und sonstigen internen
und externen Informationsaustausch der Belegschaft. Ziel ist die Erkennung der in-
formellen Organisationsstruktur, von neuen Arbeitsabläufen bzw. diesbezüglich vor-
handenen Flaschenhälsen oder aber von „grauen Eminenzen“ als häufig kontaktierten Per-
sonen, die inoffiziell oft als Ratgeber herangezogen werden, aber vielleicht noch nicht den
formalen und offiziellen Expertenstatus haben, der ihnen eigentlich zustehen sollte. Einige
ONA-Anwendungen sind sogar in der Lage, den Ton und die Stimmungen aus schrift-
lichen und gesprochenen (E-Mail-)Nachrichten zu analysieren. Das aktuelle „Klima“ im

3
https://www.ibm.com/docs/ja/SSYKAV?topic=version-welcome-watson-career-coach-trial oder
h t t p s : / / m e d i a c e n t e r. i b m . c o m / m e d i a / 1 _ g j t 9 g y m c ? m h s r c = i b m s e a r c h _ a & m h q =
Watson%20Career%20Coach%20%28Myca%29. Zugegriffen am 06.01.2021.
4
https://www.gloat.com/internal-mobility/. Zugegriffen am 06.01.2021.
5
https://www.edcast.com/corp/solutions/upskilling-reskilling. Zugegriffen am 06.01.2021.
5.2 Die Digitalisierung von HR und von Führung: Daten als Produktivitäts- und … 291

Unternehmen ist damit nicht mehr nur ein individuelles Bauchgefühl, sondern ein jeder-
zeit abrufbarer, objektiver Bericht bestehend aus Zahlen, Daten und Fakten. Doch was
heißen diese, für die meisten Leser sicher an „Big Brother“ erinnernden Entwicklungen
für den Klienten? Die einfache Antwort lautet hier: Transparenz und Vorhersage-
möglichkeiten im Guten wie im Schlechten. So könnten die Workforce-Analytics-Sys-
teme proaktiv auf ein Qualifikationsdefizit bei einer Kohorte oder beim Einzelnen für die
Entwicklung eines zukünftigen Produktes hinweisen. Die „Karriere-Coaches“ von IBM
sind z. B. heute schon in der Lage, Entwicklungs- und Lernempfehlungen in der wo-
möglich unübersichtlichen Landschaft von Stellenprofilen eines Weltunternehmens zu
geben. Oder ein ONA-System weist durch zu häufig auftretende Stress- Aggressions-
muster in den Stimmen und E-Mails von Mitarbeitern auf deren Überlastung, drohende
Fehlzeiten oder gar Burn-outs hin.
Auf der Schattenseite könnte die permanente Aufzeichnungsmöglichkeit ein Gefühl
von Überwachung, Fremdsteuerung und potenziellen Rechtfertigungszwängen bzw.
des Verlustes von Privatheit im Unternehmen bedeuten. Inwieweit die für Innovation not-
wendige Freiheit, Spontanität und Experimentierlust im vorauseilenden Gehorsam unter-
drückt werden, bleibt abzuwarten. Wiederum ist jedoch die Frage, ob die kommenden
Generationen Y und Z (und danach) dies infolge von Gewöhnung oder eines Gefühls von
„Normalität“ überhaupt noch so empfinden werden. Dies wird z. B. Handynutzern wo-
möglich auch schon heute erst dann bewusst, wenn der Sonderangebotshinweis just in
dem Moment auf dem Handy erscheint, wenn sie sich in der Nähe des entsprechenden
Geschäftes bewegen. Ein anderes, fast schon historisches Beispiel für Gewöhnungseffekte
sind die heute meist schon in Vergessenheit geratenen, heißen Diskussionen um die
Maschinenlesbarkeit des Personalausweises im Jahre 1987. Ein infolge des politischen
Kontextes sicher nur bedingt vergleichbares Szenario für die schon heute existierenden
technischen Möglichkeiten und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen ist die chinesische
„Überwachungsstadt“ Shenzhen (Hua, 2018) an der Grenze zu Hongkong. Das Interesse
in anderen Teilen der Welt an der in Europa im Mai 2018 verabschiedeten Datenschutz-­
Grundverordnung (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, 2019) lässt
jedoch hoffen, dass es alternative bzw. verantwortungsvollere Handhabungsweisen dieser
„Atomkraft der Neuzeit“ geben kann.

5.2.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Im vorhergehenden Abschnitt wurde hoffentlich deutlich, dass die Weiterentwicklung der


HR-Systeme (bedingt durch die Veränderung der Unternehmen) als technische Schnitt-
stelle zwischen Klienten und dem Arbeitgeber die Arbeits- bzw. Lernwelt des Unter-
nehmens erheblich beeinflussen wird. Dieses „Interface“ wird dabei umso wichtiger, je
vielfältiger und temporärer sich die Arbeitsverträge gestalten werden. Dazu mehr im
nächsten Abschn. 5.3.
292 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Der schon heute sich klar abzeichnende Trend sind interne und externe Plattformen
als Distributionskanal für Coaching-Dienstleistungen. Hinkt die Verbreitung unter-
nehmensinterner Plattformen hier sicher noch stark nach, ist die „Uberisierung“ (ab-
geleitet von dem konstant wachsenden Fahrdienst Uber6 mit seinem an Einfachheit und
Transparenz fast nicht mehr zu überbietenden Bestell- und Abrechnungsprozess) von
Coaching-­Services mit Sicherheit in den kommenden Jahren (mit allen Vor- und Nach-
teilen) fast nicht mehr zu stoppen (siehe dazu auch Abschn. 5.1). Das existierende Portfo-
lio verschiedenster Coaching-Services wird damit endgültig um convenience- bzw.
massentaugliche Angebote für die Klienten der Generation X und Z erweitert oder zu-
künftig letztlich vielleicht sogar ersetzt. Ein Coaching mal schnell i. S. eines „To-go-Coa-
chings“ für 1–2 Stunden in Anspruch zu nehmen wird vermutlich zur Normalität werden.
Eine stärkere Verbreitung bzw. Nutzung von internem (oder externem) Coaching könnte
die Folge sein. Überdies hört man in der Community Stimmen, dass sich insbesondere
fremdkapitalgestützte Coaching-Plattformen – ihrem großen Vorbild Amazon als einstiger
Nur-Buchhändler folgend – zum Komplettanbieter von Personalentwicklungsangeboten,
d. h. eben nicht mehr nur Coaching, sondern auch Beratung, Training, Moderation etc.,
entwickeln wollen. Zumal künstliche Intelligenz z. B. in Form der oben vorgestellten Be-
ratungssysteme, wie der „Watson Career Coach“ von IBM, interne oder externe Coaching-­
Services zumindest potenziell in die vom System vorgeschlagenen Lernpläne integriert
und dadurch ganz neue Kundenkreise erschließen könnte. Externe Angebote zur Analyse
der Up- und Reskilling-Möglichkeiten bietet schon heute z. B. der „Career Explorer“7 von
LinkedIn. Die durch explodierende Krankenkassenkosten in einer überalternden Gesell-
schaft wahrscheinlich bereits im kommenden Jahrzehnt stark voranschreitende Tele-
medizin könnte in ca. 10–20 Jahren wiederum Wegbereiter für ein zumindest stark KI-­
gestütztes, d. h. (KI-)augmentiertes Coaching werden. Zunächst sicher nur in Form einer
basalen Beratung über einen Chatbot – in den weiteren Dekaden sicher jedoch in Form der
in Abschn. 2.1.2 beschriebenen, wesentlich anspruchsvolleren Szenarien. In diesem Zuge
wird es zur Überbrückung der Distanz und sinnlichen Eindimensionalität eines Chatbots
vermutlich auch zum verstärkten Einsatz von VR-/AR-/MR-Technologie kommen, die
den Coaching-Prozess ergänzt.

5.2.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Für die Coaching-Dyade selbst ist neben den beschriebenen technischen Neuerungen eine
Wiederbelebung altbekannter oder eine Vertiefung von heute teilweise noch eher jungen
Themen zu erwarten – konkret der Gesundheitsthemen. Darunter wäre alles zu fassen,
was die Belegschaft in einer wie in Abschn. 4.1 beschriebenen VUCA-(Arbeits-)Welt psy-
chisch und physisch leistungsfähig erhält. Im Kern geht es dabei um das im soeben ge-

6
https://www.uber.com/de/de/. Zugegriffen am 04.12.2020.
7
https://linkedin.github.io/career-explorer/. Zugegriffen am 06.12.2020.
5.3 Die neuen Beschäftigungsverhältnisse: typisch oder nicht? Je nachdem! 293

nannten Kapitel ausgeführte Thema der Resilienz (Mohr, 2017). Niedrigschwellige An-
gebote von internen (und externen) Coaches zum Gesundheitscoaching und zur Exploration
möglicher Laufbahnen werden daher vermutlich stärker nachgefragt werden. Reaktiviert
werden nach Einschätzung des Autors viele der aus den 80er-Jahren stammenden Team-
konzepte um die Bewegung zur „Humanisierung der Arbeit“ (Neuberger, 1980) bzw.
TQM bzw. Qualitätszirkel (Rischar & Tietze, 2002) und die (teil-)autonomen Arbeits-
gruppen (Antoni, 1996) oder die in der zweiten Teamwelle Anfang der 90er um die von
Toyota angestoßene Lean Production bzw. das Lean Thinking (Womack & Jones, 2003).
In einer heute von hoher Diversität (Bendl et al., 2012) gekennzeichneten und mithin
potenziell auch globalen sowie virtuell ausgerichteten Arbeitswelt müssen diese Konzepte
wahrscheinlich um die ebenfalls nicht neuen Themen interkulturelle Kompetenz (Tho-
mas, 2016) und emotionale Intelligenz (Golemann, 1997) ergänzt werden. Emotional
angereichert werden könnten in einem Team-Coaching die Daten einer „Organizational
Network Analysis“ (ONA) abhängig von der Gruppengröße beispielsweise durch ver-
schiedene Techniken der Aufstellungsarbeit (Daimler, 2008). Stehen im Idealfall die
Daten der Feedback-, Lern- und Entwicklungssysteme dem Angestellten zur Verfügung
bzw. werden die entsprechenden Aktivitäten und Prozesse dokumentiert, unterstützt dies
das Coaching i. S. einer stärker faktenbasierten, holistischeren und zukunftsgerichteten
Entwicklungsarbeit. Der Coach müsste dann „nur noch“ um all diese Informations-
quellen wissen und ggf. aktiv danach fragen und für eine Entwicklungsplanung darauf
zurückgreifen. Coaches wird daher empfohlen, sich hinsichtlich aus dem HR-System ver-
fügbarer Datenquellen beim Coachee zu erkundigen. Dies würde zumindest für eine
Bereitschaft zur engen Ein- und Anbindung der Arbeit an das Unternehmen sprechen.

5.3  ie neuen Beschäftigungsverhältnisse: typisch oder nicht?


D
Je nachdem!

Wer die Nachrichten in irgendeiner Form täglich aufmerksam verfolgt, für den bietet die
nachfolgende Kurzfassung der aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt nichts Über-
raschendes – nur eine komprimierte Auflistung der Schlagzeilen, die den verschiedensten
Medien seit einigen Jahren zu entnehmen sind:

• Neue digitalisierte Produktionsweisen (Roboterstraßen) bzw. Produkte (z. B. E-Auto)


reduzieren die Anzahl benötigter Arbeitsplätze.
• Feste, tägliche Arbeitszeiten von 8 Stunden („9–5“) sind passé.
• Die Trennlinie der Lebensbereiche Arbeit und Freizeit verwischt (im Homeoffice)
zusehends.
• Die Lebensarbeitszeit wird sich zukünftig über das 67. Lebensjahr hinaus verlängern –
„die Rente in Rente geschickt“ bei der gegenläufigen Tendenz, dass viele Arbeitnehmer
aktuell eigentlich immer früher in Rente gehen (wollen).
294 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

• Beschäftigungsdauer: Lebenslang bei einer Firma angestellt zu sein, wird durch


kontinuierlichen Wandel der Firmen sowie deren früheres „Sterben“ immer seltener.
Die Möglichkeiten, Arbeitsplätze buchstäblich an die Kindergeneration „zu vererben“,
wie es bei Bosch, Siemens oder Mercedes-Benz möglich war, werden seltener.
• Größere Vielfalt der Beschäftigungsformen, indem die typischen Varianten (i. S. un-
befristeter Voll- oder Teilzeitanstellungen) durch atypische Varianten (i. S. von be-
fristeten und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen) ergänzt werden.
• Selbst hoch qualifizierte Fachkräfte müssen kontinuierlich weiter-, um- oder neu ler-
nen, dabei unterstützen Firmen mit sich verändernden, atypischen Arbeitsverträgen nur
teilweise oder nur indirekt (i. S. einer „Selbstbedienung“).
• Globalität ist heute selbst für viele Mittelständler „the new normal“ – deren Beleg-
schaft arbeitet immer global vernetzter und wird (zumindest virtuell) zusehends
­diverser, „bunter“. Der Arbeitermarkt auch für diese Unternehmen wird globaler (Stich-
wort „Global Sourcing/Recruiting“).
• Um den passendsten Job im passendsten Unternehmen zu finden, ist die Bereitschaft
der Belegschaft zum virtuellen Arbeiten und/oder Mobilität unabdingbar.
• Starre und enge Stellen- und Aufgabenbeschreibungen werden wenig Zukunft haben.
• Patriarchalisch sorgende Gewerkschaften verlieren in ihrer herkömmlichen Version
im Bereich der „New Work“ zunehmend an Bedeutung.
• Die matriarchalischen oder paternalistischen, d. h. (vor-)sorgenden Züge der Unter-
nehmen (i. S. von Weiterbildung, materiellen wie immateriellen Zusatzleistungen etc.)
werden zunehmend verblassen – Selbstverantwortung und -management derartiger
Angelegenheiten vom arbeitenden Menschen selbst immer stärker gefordert.
• Der Fachkräftemangel in Deutschland beeinflusst das eigene Wirtschaftswachstum
potenziell negativ.

Diese schiere Menge und Vielgestaltigkeit macht die enormen Anpassungsleistungen für
die heutige Belegschaft überdeutlich und lässt die kommenden Generationen der Erwerbs-
tätigen bereits heute erahnen, wie weit „Entgrenzung“ als das zentrale, strukturelle Kern-
merkmal der „New Work“ gehen könnte. Welche positiven, aber auch negativen psycho-
logischen und psychosozialen Auswirkungen diese neue Arbeitswelt für die Erwerbstätigen/
Klienten und auch Organisationen haben könnte, soll in Abschn. 5.3.1 entfaltet werden.
Entgrenzung wird dabei verstanden als zeitliche und räumliche Erweiterung oder gar
Auflösung traditioneller Formen der Arbeit. Immer mehr in den Brennpunkt der Aufmerk-
samkeit getreten sind in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren die sogenannten
atypischen Beschäftigungsverhältnisse oder Soloselbstständige. International werden
sie auch oft als Hidden/Shadow/Extended, Contingent Workforce oder Gigworker be-
zeichnet. Entlehnt aus dem Jargon der Musikszene, bezeichnet ein „Gig“ ein Engagement
für einzelne Auftritte, außerhalb von längerfristigen Verpflichtungen. Je nachdem, was
„gespielt“ – welche Dienstleistung erbracht – werden soll, nehmen Unternehmen zeit- und
bedarfsgerecht die erforderlichen Spezialisten unter Vertrag. Vorreiter für diese neuen
Arbeitsformen sind global gesehen die USA und China. Die Anzahl in Deutschland ist
5.3 Die neuen Beschäftigungsverhältnisse: typisch oder nicht? Je nachdem! 295

hingegen noch auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Aber auch hier ist eine oszillie-
rende, moderate, aber kontinuierliche Zunahme zu verzeichnen. Das Problem bei diesen
Vergleichen sind jedoch meist die unterschiedlichen Definitionen bzw. Ordungsschemata.

Eine dieser Kategorisierungsmöglichkeiten (Wingerter, 2021) unterscheidet zunächst


den (normalen) Erwerbstätigen vom „sonstig Erwerbstätigen“. Erstere weisen die beiden
Unterkategorien „mithelfende Familienangehörige“ sowie „Kernerwerbstätige“ (d. h. Er-
werbstätige im Alter von 15–65 Jahren; nicht in Bildung, Ausbildung oder Freiwilligen-
dienst) auf. Letztere unterscheiden „abhängig Beschäftigte“ von Selbstständigen, die
ihrerseits Beschäftigte haben oder aber Soloselbstständige sind. „Abhängig Beschäftigte“
splitten sich in die klassischen Normalarbeitnehmer:innen (in Vollzeit oder Teilzeit) oder
aber die nachfolgend in Teilaspekten näher darzustellenden „atypisch Beschäftigten“ in
den Varianten der „Teilzeitbeschäftigung bis 20 Wochenstunden“, der befristet oder
geringfügig Beschäftigten sowie der Zeit- und Leiharbeitnehmer.
Abb. 5.15 zeigt ein alternatives Ordnungsschema der verschiedenen Arbeitsformen an-
hand von zwei neuen Dimensionen. Es ist Teil der „Foresight-Studie Digitale Arbeitswelt“
des „Instituts für Innovation und Technik“ (IIT) im Auftrag des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales (BMAS, 2016).
Die horizontale Dimension der Digitalisierung beschreibt dabei zwei Aspekte der Ent-
grenzung. Zum einen die Verfasstheit der Arbeitsverhältnisse (Normal- vs. atypisches
Beschäftigungsverhältnis) als die Grundlage der Tätigkeit (→ Vertikale), zum anderen die
Flexibilität und Vielfalt der Ausführungsorte und -zeiten (fest vs. wechselnd) infolge der
Digitalisierung (→ Horizontale).
Als Freelancer bezeichnet man einen freiberuflichen Mitarbeiter. Dieser arbeitet meist
im Rahmen eines Projekts bei einem Unternehmen. Er ist selbstständig und nicht wie ein
Arbeitnehmer Teil dieses Unternehmens.
Fokussiert man nun auch die plattformbasierten Erwerbstypen (in dem amorphen Kreis
in Abb. 5.15), ergibt sich die in Abb. 5.16 dargestellte Aufschlüsselung. Diese von der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebene Studie (Friedrich Ebert Stiftung, 2017)
­umreißt das ganze Ausmaß der Entgrenzung bzw. Orts(un)abhängigkeit sowie der speziel-
len Zielgruppe (Individuum vs. Gruppe/Crowd) und zeigt die ganze Vielfalt der Tätig-
keitsbereiche, welche schon heute von der Digitalisierung durchdrungen sind.
Da aktuell am repräsentativsten für die Coaching-Szene, sollen an dieser Stelle der Typ
des „Freelancers“ und der örtlich wie von der Honorargestaltung eingeschränktere „Digi-
tal Valet“ (engl. valet = „Stummer Diener“) fokussiert werden. Differenzierungskriterien
in der Abb. 5.17 sind zum einen das Ausmaß der Integration beim Auftraggeber sowie
deren Autonomie hinsichtlich der Tätigkeits-/Projektwahl und Honorargestaltung. Ein
Beispiel für ein „Digital Valet“ wären hier die Fahrer des „Taxiunternehmens“ Uber. Die-
ses überwacht mittels einer App bzw. durch die dahinterstehende Plattform den komplette
Prozess des Personentransportes. Großzügigerweise können die Interessenten an einem
solchen „Arbeitsverhältnis“ ihren Integrationsgrad in das Unternehmen durch drei ver-
tragliche Varianten selbst bestimmen (Uber, 2020).
296 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

+
Freelancer
(„Fly-in Experts“/
„Digital Nomads“)

Clickworker
Cloudwork
Entgrenzung/Ortsunabhängigkeit der Arbeit

(auf Plattformbasis)

Feste Freie

Gigworker
„Vertriebler“
Montage- Wissen-
arbeiter schaftler

Consultant

Fabrik-
arbeiter
Handwerker


– Digitalisierungsgrad der Arbeit +
Abb. 5.15 Erwerbsarbeit zwischen Entgrenzung/Orts(un)abhängigkeit und Digitalisierungsgrad.
(Quelle: Adaptiert nach BMAS, 2016, S. 19, modifiziert durch den Autor; mit freundlicher Ge-
nehmigung durch das © IIT, 2016)

Die horizontale Dimension der an die Boston Consulting Group (= BCG) bzw. an deren
Typisierung angelehnten Matrix (BCG Henderson Institute, 2019) beschreibt dabei das
Ausmaß der Integration in die Prozesse des anstellenden Unternehmens, die vertikale Di-
mension die von der (Gig-)Plattform erlaubten Freiheitsgrade hinsichtlich der Gestaltung
des Vertrages, der Arbeit und der Auswahl des anwerbenden Unternehmens selbst.
Die am wenigsten in das einstellende Unternehmen integrierten und an der Zuweisung
und Steuerung der Arbeit beteiligten Arbeitnehmer sind die sogenannten „Autonomous
Clickworker“. Deren „Autonomie“ kann man in diesem Zusammenhang jedoch nur
i. S. der „Entbindung“ von jeglichen Einflussmöglichkeiten auf Vertrag und Arbeitskontext
verstehen, da diese Formalitäten vom Plattformbetreiber übernommen werden. Sehr nega-
tiv konnotiert könnte man diese Gruppe als die „Arbeitssklaven der Neuzeit“ beschreiben.
Ein Beispiel für eine solche Plattform ist Mechanical Turk von Amazon (Amazon Mecha-
nical Turk (MTurk), 2020). Etwas besser gestellt ist da der von BCG als „Digital Valet“
bezeichnete Freelancer-Typus. (Uber, 2020). Ist ein „Valet“ die englische Bezeichnung für
einen „(stummen) Diener“ und verfolgt man die Presseberichte über das oben genannte
Unternehmen Uber, beschreibt der Begriff letztlich doch sehr treffend, worum es manchen
Plattformen letztlich geht. In persönlichen Gesprächen mit Coaches von „Digital Coa-
5.3 Die neuen Beschäftigungsverhältnisse: typisch oder nicht? Je nachdem! 297

Orts(un)abhängigkeit/Grad der Entgrenzung Zielgruppe für Auftragsvergabe Tätigkeitsbereiche Beispiele


Twago.com
Auftrag an Individuen
Freelancing
(„Fly-in Experts“/„Digital Upwork.com
(„Freie Mitarbeiter“)
Nomads“ ) Freelancer.com
Amazon MTurk
Cloudwork, Microtasking/
Clickworker.com
ortsunabhängig Auftrag an Crowd
Clickworking
Crowdflower.com
(„Clickworker“)
99design.com
Kreativgewerbe Jovoto.com
Quirky.com
Uber.com
Personenbeförderung
Lyft.com

Gastgewerbe Airbnb.com

Auftrag an Individuen Taskrabbit.com


Persönliche u.
Gigwork, („Digital Valets“) haushaltsnahe MyHammer.com
ortsabhängig/-gebunden Dienstleistungen
Helping.com
Lieferando.com
Logistikdienste
Instacart.com

Auftrag an Crowd Lokales Microtasking/ App-Jobber.com


Clickworking Streetsport.com

Abb. 5.16 Plattformarbeitstypen und ihre Entgrenzung/Orts(un)abhängigkeit bzw. spezielle Ziel-


gruppe. (Quelle: Adaptiert nach Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017, S. 7, adaptiert durch den Autor; mit
freundlicher Genehmigung der © Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017)

Individuell ausgewählte
Freelancer (Interims-)Freelancer
Tätigkeiten/Projekte &
verhandelte
(„Digitale Nomaden“) („Fly-In Experts“)
Honorarverträge

Grad der Tätigkeits-/


Projekt- & Vertrags- Eigene Vermögensgegenstände
autonomie Zuordnung von oder -werte nutzende/
Tätigkeiten/Projekten & Autonome Freelance- einbringende Freelancer
standardisierte Clickworker
Rahmenverträge („Digital Valets“/
„Stumme Diener“)

Nicht integriert/separat (Temporär) integriert

Integrationsgrad
bei Auftraggeber

Abb. 5.17 Plattformarbeitstypen und ihr Integrationsgrad beim Auftraggeber bzw. ihre Autonomie.
(Quelle: BCG Henderson Institut, 2019, S. 8, adaptiert durch den Autor; mit freundlicher Ge-
nehmigung der © Boston Consulting Group (BCG), 2019)
298 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

ching Provider“ (DCP) schildern einige ein ähnliches Gebaren der Plattformbetreiber bzw.
Vertragspartner. Im oberen rechten Quadranten befinden sich die „digitalen Nomaden“,
die sich zwar durch schwache Integration in das aufnehmende Unternehmen auszeichnen,
in ihrer Unabhängigkeit jedoch stärkeren Einfluss auf die Zustimmung zu den vertrag-
lichen und physischen Arbeitsbedingungen haben. Dieser steigt mit ihrem Qualifikations-
niveau, ihrer Spezialisierung und ihrem Renommee (z. B. Anzahl an Aufträgen, Renom-
mee der Kunden und deren Bewertung des Kunden) für ihr Arbeitsgebiet. Ein weltweit
vertretener Anbieter ist hier das Unternehmen Upwork (2020). Den höchsten Grad an In-
tegration und Mitsprache haben jedoch die „Fly-in-Experts“ des oberen linken Quadran-
ten. Als populäre Anbieter sind Twago (2020) oder freelance (2020) zu nennen. Von ihnen
wird je nach Projekt sogar die Integration in den beauftragenden Betrieb erwartet. Als die
„Aristokraten der Cloudworker“ oder „Cloud-Kader“ nutzen sie Plattformen für ihre Zwe-
cke. Wie sich in diesem Kontext die aktuell wie Pilze aus dem Boden schießenden „Digital
Coaching Provider“ (DCP) mittel- bis langfristig gegenüber ihren Vertragspartnern ge-
bärden, bleibt abzuwarten. Je nach Ausrichtung der DCP bzgl. der Ortsunabhängigkeit des
Service (nur virtuelles vs. F-2-F-Coaching), sind sie eher als (Qualified-)Gig- oder Cloud-
working-Plattform anzusehen. Die potenziellen Vor- und Nachteile für alle Beteiligten
wurden bereits in den Abschn. 5.1.2 und 5.1.3 ausgeführt. Die Studie der Bertelsmann
Stiftung zur Plattformarbeit in Deutschland (BertelsmannStiftung, 2019) weist jedoch
schon im Untertitel auf ein zentrales Dilemma hin: „Freie und flexible Arbeit ohne soziale
Sicherung“. Diese Herausforderung stellt sich für die ebenfalls zuweilen über interne
Plattformen angebotenen unternehmensinternen Coaches nicht. Ein seit vielen Jah-
ren sehr erfolgreiches Beispiel in der Branche bietet hier die SAP SE (SE, 2020) mit ihren
global über 600 internen Coaches (Prism Award ICF Deutschland 2020, 2020), welches
bereits zweimal vom deutschen Chapter der ICF ausgezeichnet wurde. Diese internen
Coaches machen jedoch in Teilaspekten (z. B. Profilbeschreibung, Auswahl, Bewertung,
Legitimation etc.) ähnliche Erfahrungen wie die im freien Markt.

5.3.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Bei der Reflexion der Konsequenzen für den Klienten bewahrheitet sich wie in fast allen
Lebensbereichen, dass es hier für alle Beteiligten – also auch die Unternehmen – Vor- wie
auch Nachteile bei diesen Flexibilisierungsbestrebungen gibt. Abb. 5.18 ist der Versuch
einer möglichst komprimierten Zusammenstellung der Pros und Kontras der verschiedenen
Perspektiven.
Wie letztlich die einzelnen Sachverhalte wirken und bewertet werden, hängt wiederum
von den speziellen, individuellen bzw. organisatorischen Gegebenheiten ab. Fokussierend
auf den menschlichen Aspekt, macht die Zusammenstellung die zunehmende Notwendig-
keit zur umfassenden Eigensteuerung und Verantwortungsübernahme für Arbeit und
Leben unübersehbar (siehe dazu auch den Abschnitt über das Arbeiten im Homeoffice).
Gleiches gilt wohl für die Erkenntnis, dass diese Notwendigkeit zur aktiven Gestaltung der
5.3 Die neuen Beschäftigungsverhältnisse: typisch oder nicht? Je nachdem! 299

Erwerbstätige Organisation

 Vielfältige Unternehmens(kultur)erfahrungen, welche ggf. eine letztliche  Größere personelle und organisatorische Flexibilität
Entscheidung für einen längerfristigen Vertrag bei einem Unternehmen besser  Spezielle Fertigkeiten auf Abruf („just in time“) nutzbar
fundieren  Zugang zu Spezialisten, die ansonsten ggf. mit der Firma nicht langfristig
 Sammlung vielfältiger Erfahrungen hinsichtlich Wissen und Verfahrenswissen zusammenarbeiten würden
– ggf. eine moderne Version der „Lehr- und Wanderjahre“ im traditionellen  Spezialisten sind hinsichtlich ihres Wissens immer up to date
Handwerk  Stimuliert (einen gesunden?) Wettbewerb zu der Stammmannschaft
 Gestaltungsfreiheit der Verhältnisse und Integration von Erwerbstätigkeit und  Kürzeres, weil themenspezifisches Onboarding
Freizeittätigkeit  Geringe Recruiting- oder Trainingskosten, da Spezialkenntnisse direkt nutzbar sind
Vorteile  Selbstbewusstsein als unabhängiger „Unternehmer“, als „Ich-AG“, Gefühl der  Keine umfassenden Leistungsbewertungs- und Entwicklungsmaßnahmen
größeren, inneren Unabhängigkeit, auch bei einer temporären, längerfristigen erforderlich
Festanstellung  Keine Sozialversicherungsausgaben
 Idealerweise „Cherry-Picking“ hinsichtlich Unternehmen und subjektiv als  Kein klassischer, arbeitsrechtlicher Schutz von Normalbeschäftigten
sinnstiftend empfundener Tätigkeiten  Keine etablierte gewerkschaftliche Vertretung
 Ggf. Gruppe der Freelancer als „professionelle Heimat“  Kein zusätzliches (z.B. IT-) Equipment erforderlich
 Völlige räumliche Mobilität bzw. Unabhängigkeit – sofern es sich um eine rein  Keine (zusätzlichen) Büroräumlichkeiten erforderlich
virtuelle Arbeit handelt  Geringere, fixe Personalkostenanteile, keine Sonderzahlungen etc.
 Identitätsstiftender, „moderner Lifestyle“

 Selbstständigkeit erfordert eigene Initiierung, Steuerung und Verfolgung aller  Steuerliche Unklarheiten oder Herausforderungen bei den verschiedenen
finanziellen, steuerrechtlichen und versicherungstechnischen Belange mit Beschäftigungsarten
Langfristperspektive  Vertragliche Grauzonen hinsichtlich der zu leistenden Tätigkeit
 Einkommenshöhe möglicherweise geringer  Arbeits- und steuerrechtliche Herausforderungen bei Zusatzleistungen
 Längerfristige Lebensplanung, die einen kontinuierlichen Kapitalstrom  Arbeits- und steuerrechtliche Herausforderungen bei maximaler Vertrags- und
erfordert (z.B. Hausbau mit Kreditaufnahme), wird herausfordernder notwendiger Projektdauer
 Eigenständige Planung und Finanzierung der persönlichen bzw. beruflichen  Aufwendiges (IT-basiertes) und auch risikobehaftetes Anbietermanagement durch
Nachteile Entwicklung und „Karriere“ viele (arbeitsrechtliche) Besonderheiten
 Identitätsstiftendes Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Unternehmen, einer  (Potenzielle) Gefahr geistigen Diebstahls größer
Gruppe ist schwieriger  Potenzielle Konflikte mit bzw. Animositäten der Stammbelegschaft, des
 Keine geregelten Arbeitszeiten / keine 40-Std.-Woche mehr, ggf. höhere aufnehmenden Teams
Arbeitsbelastung, i.S.v.: „Selbstständig“? – „Ständig selbst!“  Bewusstes Wissensmanagement des Externen hinsichtlich des Spezialwissens, da
dies Asset ist
 Beschreibung bzw. Bewertung der speziellen Qualifikation hat oft Grauzone (wie
alle Bewertungsportale)

Abb. 5.18 Vor- und Nachteile der neuen Arbeitsformen für Erwerbstätige und die Organisation. ©
Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved

Freiheiten auch ein größeres Risikopotenzial für beide Parteien beinhalten kann. Damit
liegt auf der Hand, was die Studie der Boston Consulting Group 2019 (BCG, 2019, S. 12)
aus Unternehmenssicht subsumiert: Es geht darum, dieses neue Stück im Puzzle der mo-
dernen Arbeitswelt für sich nutzbringend einzusetzen.

Der etwas andere Arbeitsvertrag …


Wird es zumindest in entwickelten Industrieländern auch für die dargestellten neuen Be-
schäftigungsverhältnisse formale bzw. rechtsbasierte Arbeitsverträge geben, ist bis dato
jedoch ungeklärt, welchen Einfluss häufig (zu) wechselnde Arbeitsverhältnisse mit häufig
wechselnden Arbeitgebern auf den informellen, sogenannten „psychologischen Kon-
trakt“ zum Arbeitgeber haben. Ohne die weit zurückreichende und facettenreiche theore-
tische Diskussion um dieses psychologische Konzept nachzeichnen zu wollen, sei es hier
mit Conway (2006) in seiner Kurzform als „subjektives, auf einem impliziten Versprechen
beruhendes, wechselseitiges Austauschverhältnis zwischen einem Mitarbeiter und einer
Organisation“ (Conway, 2006, S. 35; übersetzt durch den Autor) definiert. Eine interes-
sante Forschungsfrage dabei wäre z. B., inwieweit das Qualifikationsniveau, Spezialisten-
tum und Renommee des atypisch Beschäftigten oder (Solo-)Selbstständigen (vs. gering
qualifizierter Plattformmitarbeiter für Microtasks) bei zeitlich und inhaltlich limitierten
Arbeitsverhältnissen auch den psychologischen Vertrag anfälliger für Verletzungen ma-
chen. Klar ist schon heute, dass je expliziter die Erwartungen an den (dann temporären)
300 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Arbeitgeber formuliert und je konsequenter diese auch bei der Auswahl befolgt wurden,
auch das Enttäuschungspotenzial umso geringer ist. Sofern beide Seiten auch ihre Ver-
sprechen in der Umsetzung einlösen. Fokussieren wir in diesem Kontext auf den Arbeit-
nehmer/Klienten, könnte es daher für ihn interessant sein, die für beide Seiten von De Vos
et al. (2002) zusammengetragenen Kriterien eines psychologischen Vertrages auszu-
wählen, diese zu skalieren, um anhand der Skalierung subjektive Mindeststandards zu
definieren. Der Arbeitnehmer bewertet dabei den Erfüllungsgrad der Verpflichtungen der
Organisation und vice versa. Eine Zusammenstellung bzw. kontextuelle Einbettung in das
Thema „Wellness“ findet sich auch bei Linde (2015).

Eine eher auf die reine Arbeitszufriedenheit im Job zielende Diagnostik könnte durch
den Job Diagnostic Survey (JDS) von Hackman und Oldham (1975) bzw. die Version
von Schmidt, Kleinbeck et al. (1985) unterstützt werden. Bei dem JDS handelt es sich um
einen standardisierten aufgaben- und tätigkeitsbezogenen Fragebogen, der vom Stellen-
inhaber selbst ausgefüllt wird und zur Analyse des Motivationspotenzials in der Arbeit
eingesetzt wird. Ein Konzept, welches diesen Motivationsaspekt in den letzten Jahren mit
großem Geschäftserfolg in neuem Gewande präsentiert, ist der Hype um den Sinn von
Organisationen und Mitarbeitern in Form von deren „Purpose“ von Simon Sinek (2011).
Eine oft sehr heterogene und natürlich subjektive Bewertung von Aspekten dieser „Ver-
tragstreue“ bzw. Loyalität zwischen Mitarbeiter und Unternehmen bieten heutzutage
Plattformen wie z. B. kununu (2020) oder Glassdoor (2020).

Die schöne neue Arbeitswelt im Homeoffice


Obwohl keine Beschäftigungsform i. e. S., geriet das Arbeiten im Homeoffice durch den
flexiblen Ort der Arbeitsverrichtung bzw. die z. T. stark reduzierte räumliche Integration in
den Büroalltag durch COVID-19 Anfang 2020 ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Un-
freiwillig wurden dabei weite Teile der Bevölkerung zu Teilnehmern an der wohl umfang-
reichsten Arbeitsplatzstudie, die es je gab. Ergebnisse für den nationalen Bereich finden
sich in der im Auftrag des „Bundesministeriums für Arbeit und Soziales“ erstellten Kurz-
expertise „Verbreitung und Auswirkungen von mobiler Arbeit und Homeoffice“ (BMAS,
2020b). Eine internationale Studie mit 12.000 Teilnehmern in den USA, Deutschland und
Indien kann in dem Abschlussbericht der Boston Consulting Group (BCG, 2020) nach-
gelesen werden. Nicht überraschend wird der eher positive Tenor beider Studien immer
durch ein „Es kommt drauf an!“ relativiert. Eine komprimierte Zusammenstellung der
Vor- und Nachteile für Beschäftigte bietet die Abb. 5.19.

Befeuert wurde die kontroverse Diskussion durch den Vorstoß des Bundesarbeits-
ministers Hubertus Heil Anfang Oktober 2020 (BMAS, 2020a) zur Einführung eines
Rechtsanspruchs auf Homeoffice an mindestens 24 Tagen im Jahr, sofern betrieblich mög-
lich. Ob sich bei dem selbst aus den eigenen Reihen des Bundesarbeitsministers als „Büro-
kratiemonster“ verschrienen Gesetzentwurf die Arbeitgeber mit ihrer Sorge hinsichtlich
einer Beschneidung der unternehmerischen Freiheit oder die Wünsche der Arbeitnehmer
5.3 Die neuen Beschäftigungsverhältnisse: typisch oder nicht? Je nachdem! 301

Vorteile Nachteile/Risiken/Herausforderungen

 Potenziell (!) höhere Arbeitszufriedenheit  Isolationsgefahr  Keine/weniger (ungeplante) berufsbezogene Sozialkontakte


o Höhere Eigenverantwortung und Selbststeuerung  Erschwerter spontaner, schneller Austausch von:
o Größere Zeitsouveränität/Flexibilität o informellen Informationen („Flurfunk“)
o Individueller Arbeits(zeit)rhythmus o formalem Wissen schwieriger
o Persönlichere Arbeitsatmosphäre  Starke Selbststeuerungsfähigkeiten gefordert:
o Individuellere Arbeitsplatzgestaltung o Arbeitsmotivation/-planung/-durchführung/-monitoring
 Potenziell (!) höhere Produktivität durch weniger Ablenkung o Zeitmanagement
durch Kolleg:innen  Hohe Selbstdisziplin erforderlich
 Bessere Vereinbarkeit von Familie/Partnerschaft und  Gefahr der Selbstentfremdung durch „Verbetrieblichung“ des Lebens
Berufstätigkeit und Freizeit  Gefahr der Selbstausbeutung durch „schlechtes Gewissen“
 Potenzielle (!) Verbesserung der sozialen Beziehung zu den  Überlastung durch Gefühl der (Notwendigkeit zur) „permanenten Erreichbarkeit“
verschiedenen Familienmitgliedern  Höhere zeitl. u. inhaltl. Arbeitsverdichtung, da kein örtlicher Wechsel z. B. für
 Bessere Vereinbarkeit / neue Verteilung der Hausarbeit im verschiedene Besprechungen notwendig
Privatbereich möglich  Vernachlässigter Gesundheits- und Arbeitsschutz
 Kosteneinsparung o Arbeitsplatz genügt oft nicht ergonomischen Kriterien
o Pendel-/Pkw-Kosten o Einhaltung der Pausenzeiten
Beschäftigte

o Genehmigte Privatnutzung von Arbeitsmitteln (z. B. o Vermeidung von Wochenendarbeit


Handy, Laptop etc.) o Potenziell weniger Bewegung
 Mehr Freizeit (?) durch keine/weniger Anfahrts-/Wegezeit  Potenziell ungesündere Ernährung durch fehlende Kantine
 Inhaltliches Mikromanagement durch FKs (der „alten  Geringere Produktivität durch Dichtestress und gegenseitige
Schule“) sehr viel schwerer Arbeitsbeeinträchtigung bei kleinerer Wohnfläche
 Gefühlte Herauslösung aus ggf. bürokratischen Abläufen  Potenzielles (!) Aufbrechen sozialer Spannungen innerhalb der Familie durch
 Größere Wahlfreiheit bzgl. Wohnort permanenten Kontakt (insbesondere während COVID-19), sich ändernde
 Chance auf eine qualifizierte Arbeit für Schwerbehinderte Partnerschafts- und Gruppendynamiken
 (Noch) schlechtere Führung durch persönlich wie technisch überforderte,
langjährige FKs der „alten Schule“
 Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen  Potenziell (unbezahlte)
Mehrarbeit
 Engagement u. U. weniger sichtbar  „Karrierekiller“!?
 Trennung der genutzten Arbeitsmittel (z. B. Drucker) und Betriebskosten (Strom)
ggf. nicht klar geregelt  Potenzielle Verschiebung der Kosten
 Ein Teamgeist ist aufwendiger zu erhalten/entwickeln
 Klärung komplexer IT- und Datensicherheitsfragen an der Schnittstelle von
Unternehmen und Privatbereich

Abb. 5.19 Potenzielle Vor- und Nachteile der Homeoffice-Arbeit für Beschäftigte. © Stefan Sten-
zel 2022. All Rights Reserved

nach besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf durchsetzen oder ob sogar im Sinne der
Modernisierung der deutschen Wirtschaft ein Kompromiss gefunden werden könnte, war
bei der Drucklegung des Buches noch nicht entschieden (BMAS, 2020a). Das Pro und
Kontra für das Thema aus Unternehmensperspektive gibt Abb. 5.20 wieder.

5.3.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Für Coaches interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sie sich ggf. in der gleichen
(vertraglichen) Erwerbssituation wie ihre Klienten befinden (z. B. als Plattformnutzer
bzw. Freelancer, Homeoffice etc.) und Beratung zu dieser Situation das Coaching bewusst
ergänzen kann – ohne sich jedoch dabei unreflektiert zu vermischen. Die i. w. S. damit
einhergehende, potenziell immer stärkere Vernetzung aller Lebensbereiche (z. B. individu-
elle psychische bzw. physische Entwicklung und Gesundheit, Start-up, Erwerbstätigkeit,
Familie/Partnerschaft, Vermögensbildung, Versicherungen, Rente etc.) und deren Aus-
wirkungen (z. B. Plattformarbeit ohne soziale Sicherung) machen im Coaching eine völlig
302 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Vorteile Nachteile/Risiken/Herausforderungen

 Potenzielle Steigerung der Produktivität, Kreativität und  Klärung komplexer arbeitsrechtlicher Fragen
Arbeitszufriedenheit einer speziellen Gruppe von Beschäftigten o Arbeitsvertragsgestaltung
 Potenzielle Senkung der Fluktuation o Arbeitsmittelbereitstellung und -nutzung
 Potenzielle Senkung der Fehlzeiten  Weniger Kontrollmöglichkeit der Arbeitsleistung (Arbeit : Zeit) und des
 Steigerung der AG-Attraktivität Arbeitsvollzuges  Vertrauensverhältnis zw. Beschäftigtem und FK!?
 Erhalt oder Zugang zu qualifizierten Mitarbeitern, die  Virtuelle Führung verlangt andere Führung(-sphilosophie) – ggf. andere
anderenfalls durch persönliche, z. B. örtliche Umstände Führungskräfte
gebunden wären  Schwächung des „psychologischen Kontraktes“ aufseiten der
Unternehmen

 Kosteneinsparung in den Bereichen: Beschäftigten  Reduktion der Unternehmensbindung


o Bürogebäude/-fläche  Potenzielle Auflösung der Unternehmenskultur
o Parkfläche  Ggf. Konflikte zwischen Produktionsmitarbeitern und den ggf. als
o Betriebskosten (Strom, Heizung etc.) privilegiert angesehenen Kolleg:innen im Homeoffice
o Betriebskosten für eine Kantine  Investitionen für Aufbau und Erhalt einer neuen IT-Landschaft (z. B.
o Umzugskosten Kollaborationstools)
o Reisekosten der Beschäftigten  Gefahren für Datensicherheit/Klärung komplexer IT- und
o Privatgespräche während der Arbeit Datensicherheits- sowie von Datenschutzfragen
 Potenzielle Förderung einer Vertrauenskultur  Ggf. neue Kosten für den bedarfsgerechten Umbau der verbleibenden
 Bedarfsgerechter Einsatz von Freelancern, Crowd-Workern Gebäude mit innovativen Raumkonzepten durch z. B. mehr
etc., d. h. die Integration „anormaler Arbeitsformen“ wird normal Besprechungsräume mit verschiedenen, flexiblen Größen und
 Potenziell größere Kundennähe Nutzungsmöglichkeiten

Abb. 5.20 Potenzielle Vor- und Nachteile der Homeoffice-Arbeit für Unternehmen. © Stefan Sten-
zel 2022. All Rights Reserved

isolierte Betrachtung der vom Klienten initial mitgebrachten Kernthemen wahrscheinlich


immer schwieriger. Die zuweilen wie intellektuelle Glasperlenspielerei anmutenden, sys-
temischen Betrachtungsweisen treffen zukünftig auf die oft langfristige und/oder agile
Planung (z. B. berufliche und finanzielle Entwicklung) der verschiedenen Abhängigkeiten
in der lebenspraktischen Wirklichkeit!
Bis dato eher seltene Angebote, diese Mannigfaltigkeit in einem definierten Coach-­
Berater-­Netzwerk durch komplementäre Leistungspakete aus einer Hand, womöglich
auch unter einem Firmennamen anzubieten, könnten dadurch zunehmen. Inwieweit diese
neuen Serviceangebote dabei den schalen Beigeschmack einer schnöden Cross-­Selling-­
Strategie erhalten, wird von der (Integrations-)Qualität, der Seriosität der einbezogenen
Leistungen bzw. dem vom Kunden letztlich erlebten Mehrwert und dem Preis-Leistungs-­
Verhältnis abhängig sein. Wer daher als Coach seine völlige Unabhängigkeit und Solo-
selbstständigkeit liebt, wird sich überlegen müssen, ob er ggf. damit sein Kundensegment
beschränken will oder im Zeitalter der Öffnung und vernetzter Ökosysteme nicht stärker
das Wagnis der Kollaboration mit auch fachfremden Partnern eingehen will. Geschah
diese Vernetzung in der Vergangenheit sogar innerhalb eines größeren Netzwerkes von
Coaches, besteht nun die Herausforderung, eine abgestimmte Vorgehensweise für den
Klienten in einer interdisziplinären Expertengruppe oder Partnerschaften zu er-
arbeiten. Wenn auch in einem völlig anderen Kontext, könnten diese Zusammenkünfte an
die morgendlichen Fallbesprechungen des leitenden Abteilungspersonals in einem
Krankenhaus erinnern. Neben dem Thema der „verschiedenen Fachsprachen“ sind vorab
auch z. B. formale Fragen (z. B. Honorar- oder Vermittlungsanteile) zu klären. Andere
Barrieren für eine erfolgreiche Kollaboration sind nach Morton Hansen (2009, S. 45 ff.)
neben den oben genannten Schwierigkeiten der interdisziplinären Kommunikation die
5.3 Die neuen Beschäftigungsverhältnisse: typisch oder nicht? Je nachdem! 303

Kunst, den fachlich wie menschlich passenden Partner zu finden, das strategische Zurück-
halten von Informationen und letztlich die Unterbewertung oder geringere Wertschätzung
der fachfremden Expertise. Generell ist nach Hansen (2009) darauf zu achten, dass der
Nutzen bei diesem Bemühen in einem positiven Verhältnis zu den Kosten steht. Es geht
nicht um „Kollaboration um der Kollaboration willen“!
Mit den sich dabei andeutenden Möglichkeiten zur Entwicklung neuartiger Service-
pakete bekommt jedoch der etwas überkommene Begriff „Business-Coach“ oder der Be-
griff der „systemischen Beratung“ ganz neue, konkrete Facetten. Es besteht potenziell je-
doch die Gefahr, dass diese Neuausrichtung von Coaches – wie ehemals die Arbeits- und
Organisationspsychologen an den Universitäten – von den „wahren“ Hütern der Mensch-
lichkeit (damals die klinischen Psychologen) als Pakt mit dem Teufel gesehen bzw. als
Verrat am rein humanistischen Auftrag der Zunft geächtet wird.

5.3.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Infolge des eigenen, wahrscheinlich überwiegend atypischen Beschäftigungsverhältnisses


der Coaches selbst könnten deren persönliche Erfahrungswerte mit diesem Thema Basis
für einen guten Rapport und lebenspraktische und für den Klienten hilfreiche, kleinere
Beratungssequenzen zum Selbstmanagement (z. B. des Ablagen- und Büroma­nage­
ments) werden. Populäre psychologische Aspekte in diesem Kontext sind Themen
wie „Aufschieberitis“, Priorisierung und Entscheidung oder Zeitmanagement z. B. im
Sinn des Antreiber-Konzeptes. So geht es mit Dettmers und Clauß (Dettmers & Clauß,
2017) im Kern um die sogenannte „Arbeitsgestaltungskompetenz für flexible und selbst-
gestaltende Arbeitsbedingungen“. Denn nach deren Studie waren „Beschäftigte mit hoher
Arbeitsgestaltungskompetenz […] deutlich weniger belastet und erschöpft“ (Dettmers &
Mülder, 2020). Hier thematisch auf dem Laufenden zu bleiben und über Interventions-
möglichkeiten nachzudenken könnte zukünftig Sinn machen. Gleiches gilt für die For-
schung um das Thema Homeoffice. Beispiele wären hier das Fraunhofer FIT Programm
(Fraunhofer FIT, 2020) oder das Institut der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
(Institut der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 2020) oder das „FlexAbili-
ty“-Programm der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Bundesanstalt für
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2020). Anregungen für Interventionen im Coaching
bzw. ein konkretes Trainingsangebot bietet z. B. auch das vom Bundesministerium für
Bildung und Forschung (BMBF) geförderte, kostenlose Lernprogramm EngAGE (Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 2020).
So zeigt sich schon heute, dass sich nicht nur für immer mehr Coaches und ihre Klien-
ten im Rahmen der New bzw. Platform Economy sowie unter dem Einfluss des zusätz-
lichen Beschleunigers COVID-19 die Arbeit verändern wird, sondern auch für die Arbeit-
geber. Wie zu den Anfängen der Industrialisierung wird es daher um die Entwicklung
einer nun jedoch eher global agierenden Interessenvertretung gehen. Das der gleich-
namigen englischen Universität angeschlossene Oxford Internet Institute (2021a, b, c, d)
304 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

hat in diesem Kontext mit seinen branchenunabhängigen fünf Prinzipien für Cloudwork
(Oxford Internet Institute, 2021a) auf der Webseite „Fairwork“ einen richtungweisenden
ersten Aufschlag gemacht. Diese beziehen logischerweise auch das spezielle Arbeits-
setting „Homeoffice“ (Oxford Internet Institute, 2021b) mit ein und gelten sowohl für den
Arbeitnehmer im Homeoffice als auch für das beauftragende Unternehmen – gleich ob
diese mit einem regulären oder atypischen Arbeitsvertrag einhergehen. Es wird sich zei-
gen, ob Coaches hier als Rollenmodelle vorangehen werden. Entsprechende Information
und Ermunterung, hier neue Wege zu gehen, helfen wahrscheinlich dem Coach wie auch
seinen Klient:innen.
Infolge generell fluiderer und von potenziellem Machtungleichgewicht gekenn-
zeichneter Arbeitsverhältnisse könnte auch der Wunsch nach sozialer Integration, d. h.
organisatorischer Zugehörigkeit bzw. Bindung ein Thema im Coaching werden. Als eine
Art „Anwalt des psychologischen Kontraktes“ wäre der Coach hier Reflexionspartner,
um die eigenen Bedürfnisse und Interessen zu kennen, im Blick zu behalten und ggf. mit-
tels einer mentalen Stärkung auch durchzusetzen. Wird dieser psychologische Kontrakt
(überraschenderweise) auch formal durch den Arbeitgeber aufgekündigt – und diese Ge-
fahr ist bei untypischen Beschäftigungsverhältnissen wahrscheinlich eher größer –, kann
der psychische Umgang mit dieser Kündigungssituation bzw. der darauffolgenden Zeit der
Erwerbslosigkeit zu einem Thema im Coaching werden. Outplacement-Berater, die
z. T. ja als Coaches ausgebildet sind, wissen dies nur allzu gut. Scheitert der Klient mit
einem Start-up oder als Soloselbstständiger (bzw. Arbeitskraftunternehmer), steht auch
dieser vor ähnlichen Herausforderungen – zumindest was das Erleben des Scheiterns an-
belangt. Die Beschäftigung mit der Traumatisierung durch Arbeitsplatzunsicherheit bzw.
Arbeitsplatzverlust (Barwinski, 2010) macht daher in Zeiten der „Neuerfindung“ der
Arbeitswelt mehr Sinn denn je.
Da sehr bedeutsam bzw. um Redundanzen zu vermeiden, wird die zwangsweise immer
zukunftsorientierter ausgerichtete Planung der Kompetenzentwicklung bzw. Employabi-
lity sowie der Erwerbsbiografie insgesamt in den Folgekapiteln 5.4 bzw. 5.5 gesondert
dargelegt.
Die zur Klärung und Harmonisierung der verschiedenen Identitäten (siehe Abschn. 4.3)
in wechselnden Kontexten und angesichts unsteterer Erwerbsbiografien notwendige Resi-
lienz war bereits Thema in Abschn. 4.1.
Wie oben erwähnt, stellt sich für den Coach im Rahmen seines (wie?) definierten Auf-
trages die Frage, ab wann er (für Fragen zur Steuer, Versicherung, Vermögensbildung,
Rente etc.) an sein Expertennetzwerk übergibt. Umfang und Qualität dieses Kollabora-
tionsnetzwerkes sind jedoch abhängig von der generellen Fähigkeit zum Netzwerken auf
persönlicher Ebene (Scheddin, 2013), wie auch über Social Media (Grabs et al., 2013).
Fast nicht mehr zu trennen sind diese moderneren Vernetzungsstrategien mit einem ent-
sprechenden (Online-)Marketing (Kreye, 2019), womit sich manche Coaches nach Ein-
schätzung des Autors zuweilen noch etwas schwertun.
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 305

5.4  ompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er


K
wichtiger als heute!

Um den nicht nur aus Sicht des Autors mit dem Thema Kompetenz heraufziehenden, epo-
chalen Wandel zu verdeutlichen, sei dieses Kapitel mit einem – wenn auch stark verein-
fachenden – Helikopterblick in die Entwicklungsgeschichte der Arbeit begonnen. Vieles
spricht dafür, dass wir uns – nachdem wir das Stadium „Jäger und Sammler“, Ackerbau“
und das um 1850 beginnende Industriezeitalter überwunden haben – aktuell im Übergang
vom Informations- zum Augmentationszeitalter befinden. Das heiß, dass die bislang be-
vorzugt gesuchten STEM-Fertigkeiten (= Scientific, TEchnical, Mathematical) durch die
sich rasant entwickelnde künstliche Intelligenz nicht mehr wirklich konkurrenzfähig sein
werden. Nur die Integration der Künste (engl. „Arts“) – bzw. der darin geforderten kreati-
ven und innovativen Denkweise – dann als erweitertes STEAM-Konglomerat – kann die
Zukunftsfähigkeit der nächsten Generation sichern. Die deutsche Entsprechung des Akro-
nyms wären die sogenannten MINT-Fächer (d. h. Mathematik, Informatik, Naturwissen-
schaften, Technik). Die zu integrierenden „weichen“ Kompetenzbereiche wären in
Deutschland in den als „Orchideenfächer“ belächelten Studienbereichen zu finden – also
in den künstlerischen, philosophischen, sprachlichen oder sozial- und humanwissen-
schaftlichen Fakultäten.
Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei der Umstand, dass sich die letzten drei bzw.
zwei Phasen in den vergangenen 150 bzw. 50 Jahren ereigneten. Die zwei Phasen zuvor
(Jäger und Sammler; Ackerbau) erstreckten sich über Tausende von Jahren. Und ein Ende
der exponentiellen Beschleunigung der damit verbundenen technischen Entwicklungen ist
nicht abzusehen! Doch von welchen Veränderungen sprechen wir eigentlich? Welcher
Wandel hat bei den Rahmenbedingungen von Arbeit (i. w. S.) schon vor einigen Jahren
begonnen? Werfen wir dazu einen Blick auf den nicht erst mit COVID-19 in einigen Bran-
chen bereits nachhaltig veränderten Arbeitsplatz selbst (→ wo und wann wird ge-
arbeitet?), die Arbeitsinhalte und -prozesse (→ was wird wie [stark automatisiert] be-
arbeitet?) sowie die Merkmale der Belegschaft und deren Varianten der Zusammenarbeit
(→ wer arbeitet mit wem?). Was hat sich hier in den letzten 10–20 Jahren derart verändert,
dass sich die zur Bewältigung der Arbeit benötigten Kompetenzen und Lernanforderungen
wandeln?

Der Arbeitsplatz: entgrenzt, virtuell, dynamisch und immer seltener vordefiniert


Hat COVID-19 der Virtualität unserer Arbeitsplätze in Form des Arbeitens von zu Hause
(als alternative Möglichkeit) endgültig zum Durchbruch verholfen, stellt sich in den kom-
menden Jahren für die Unternehmen nur noch die Frage, in welchem Ausmaß sie diese
Arbeitsform auch zukünftig (ggf. sogar in den Arbeitsverträgen) festschreiben wollen.
Handelt es sich bei dem Arbeitgeber zudem um ein internationales Unternehmen, könnte
man theoretisch an 7 Tagen 24 Stunden – also rund um die Uhr – in den verschiedenen
Zeitzonen arbeiten. Sich unter diesen buchstäblich völlig entgrenzten Bedingungen gut zu
managen, ist eine nicht zu unterschätzende Kompetenzanforderung. Kürzere Innovations-
306 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

bzw. Produktlebenszyklen und sich kontinuierlich daran anpassende organisatorische


(Netzwerk-)Strukturen machen es für den Mitarbeiter erforderlich, verschiedenste Kom-
petenzen variabel zu nutzen, zu aktualisieren oder – falls notwendig – neue hinzuzu-
lernen. Und dies hinsichtlich der potenziell auch wechselnden (!) Rollenanforderungen
(als Führungs- oder Fachkraft), der mit kürzeren Produkt- oder Servicezyklen einher-
gehenden qualifikatorischen bzw. inhaltlichen Anforderungen. Gleiches gilt für die sich
permanent weiter entwickelnden (intelligenten) Maschinen und die ständig wechselnden
Personen, mit denen man (projektbezogen) zusammenarbeitet. Diese permanenten Lern-
anforderungen sind dabei mit umso mehr Zeitdruck versehen und sind umso „riskanter“,
je weniger mittel- und langfristig voraussehbar die neuen (Produkt-)Entwicklungen und
die damit verbundenen Qualifikationsanforderungen sind. Manche Stellen- und Lern-
anforderungen werden sogar erst in der Entwicklung und Herstellung von Prototypen
entstehen – sind immer seltener als Stellenbeschreibungen (Jobprofile) umfassend vor-
definiert und stabil. Wie das praktisch aussehen könnte hat Susan Cantrell in Artikel
„Beyond the job“ (Cantrell, 2021) beschrieben. Darin umreißt Sie ein Kontinuum, wel-
ches von einer extrem klein- bzw. arbeitsteiligen Organisation der Arbeit für Spezialisten
mit speziellen Skills reicht bis hin zu der und breiten, ganzheitlichen Aufgabenstellung
eher für Generalisten, die ggf. sogar die Ziel- oder Ergebnisdefinition umfasst. Da beide
Varianten natürlich Vor- und Nachteile (Cantrell, 2021, S. 41) haben, besteht das Neue
darin, die beiden Varianten sehr situations- und sehr individuespezifisch – vor allem aber
parallel (→ „sowohl-als-auch“) zu nutzen. Erreicht wird dies maximale Flexibilität in der
Praxis durch eine entsprechende Software, die zum einen die Fahigkeit und Skills der
Mitarbeiter gespeichert hat wie auch die anstehenden, mehr oder minder fraktionierten
Tätigkeiten. Durch Empfehlungen des Systems und/oder die aktive Suche des Mit-
arbeiters finden beide zusammen. Doch dieses Konzept ist für die meisten Unternehmen
wohl doch eher noch Zukunftsmusik und bedarf auch nach Cantrell (2021, S. 44) eines
längerfristigen kulturellen Wandels und permanenter Coaching-Angebote. Die Realitäten
in den Unternehmen sehen heute jedoch noch ganz anders aus. So ist es aktuell noch in
manchen Branchen möglich sogar formalvertraglich zugesichert ein und denselben
Arbeitsplatz mit seinen speziellen Anforderungen an Fertigkeiten und Fähigkeiten für
Jahre oder Jahrzehnte innezuhaben. Infolge der höheren Flexibilitätsanforderungen sei-
tens der Märkte und damit auch innerhalb des Unternehmens wird es zukünftig jedoch
immer häufiger neben den oben beschriebenen, arbeitsorganisatorischen Änderungen zu
einer beidseitigen Neudefinition des Bindungsverhältnisses zwischen Arbeitgeber und
Arbeitnehmer kommen müssen. Dabei wird ein eher an Langfristigkeit orientierter, rela-
tionaler psychologischer Vertrag („Ich arbeite seit 30 Jahren für Siemens. Ich bin ein
Siemens-ler!“) zunehmend durch einen eher kurzfristorientierten, transaktionalen Ver-
trag abgelöst („Aktuell arbeite ich für sechs Monate für das Honorar von x € für die
Firma Z. Danach habe ich noch 1–2 Aufträge in der Pipeline. Die sind jedoch noch un-
sicher!“).
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 307

Die Arbeitsinhalte und -prozesse: ergebnisbezogen, interdisziplinär, teamorientiert


und augmentiert
Das nicht neue Prinzip hinter der Vertrauensarbeitszeit wie auch einem freiberuflichen
Setting ohne jegliche Zeiterfassung lautete schon immer: Am Ende zählt nur die Er-
reichung der vordefinierten, qualitativen und zeitlichen Ziele. Wann, wie und mit welchem
Zeitaufwand die Person sie erreicht, interessiert den Auftraggeber nicht. Diese auf den
Auftragnehmer oder Ausführenden übertragene Verantwortung erfordert neben der für die
Erledigung des eigentlichen Arbeitsauftrages notwendigen fachlichen zusätzliche planeri-
sche und koordinative Kompetenzen. Macht die Auftragskomplexität zudem eine (inter-
disziplinäre) Zusammenarbeit mit anderen Experten notwendig, müssen sich zu der Fähig-
keit zur Selbststeuerung Kompetenzen zur Teamarbeit (mit potenziell immer wieder neuen
Ansprechpartnern) hinzugesellen. Werden zur Auftragserfüllung intelligente Maschinen
oder IT-Systeme eingesetzt, erfordert dies zum einen ggf. mehr technische Unterstützung
oder Ergänzung („Augmentierung“), zum anderen weitergehende bzw. höhere Lern-
anforderungen im Rahmen der Aus- und Weiterbildung. Werden zudem diese (intelligen-
ten) Maschinen immer besser darin, nicht nur Routineaufgaben zu erledigen, gilt es für
den Auftragnehmer, seinen Mehrwert gegenüber diesen Maschinen durch besonders
kreative und innovative Leistungen herauszustellen. Wahrscheinlich macht nur die
­
STEAM-­basierte Kombination von Kompetenzen in der neuen Arbeitswelt wettbewerbs­
fähig.

Die Belegschaft: fluide und divers in jeder Hinsicht


Permanente Dynamik hinsichtlich der Kompetenz- bzw. Lernanforderungen bringt wahr-
scheinlich auch die gestiegene Diversität der Belegschaft mit sich. Die demografische
Überalterung insbesondere in den entwickelten Industriestaaten – sowie die in diesen Na-
tionen in den nächsten Generationen sogar in Richtung 100 Jahre steigende Lebens-
erwartung (Gratton & Scott, 2020) – macht eine Verlängerung der Erwerbsarbeitszeit bis in
die 70er oder 80er nicht mehr völlig abwegig. Mit nur „Auffrischung“ oder einer geselligen
Wochenendweiterbildung im Kreise der Kollegen in einem Bereich ist es angesichts dieser
langen Arbeitsdauer nicht mehr getan! So prognostizieren Gratton & Scott, dass Personen,
die heute um die 20 sind – bei einer Lebenserwartung von dann 100+ Jahren – erst mit 78
Jahren in die Rente können und bis dahin ca. 57 Jahre arbeiten werden. Zentrale Frage ist
daher, wie oft man sich in dieser sicher nicht weniger dynamischen Zeit neu erfinden muss.
Nach einer Schätzung von Rump & Eilers (2016) gilt es alle 7–8 Jahre die eigenen Kompe-
tenzen (teilweise zu) erneuern bzw. teilweise oder ganz zu ersetzen. Linda Gratton spricht
daher von „Serial Mastery“. Ursache der vollständigen Ersetzung kann zukünftig eben
auch das völlige Verschwinden eines Berufes durch technische Innovationen sein. Ferner
werden nur wenige Rentensysteme in der industrialisierten Welt infolge der massiv ver-
schobenen Demografie auf den Generationenvertrag bauen können. So prognostizierten
bereits 2008 manche Experten (Erickson, 2008), dass viele in der Babyboomer-Generation
ihre „Rente in Rente schicken müssen“ (Übersetzung durch den Autor) und über ihren
eigentlichen Renteneintritt (um 2030) hinaus arbeiten werden. Kann zudem der allerorts
308 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

schon heute thematisierte Mangel an Fachkräften (BMWI, 2020b) nicht durch Auto-
matisierung ausgeglichen werden, bleibt den verbleibenden Arbeitskräften nichts anderes
übrig, als sich langfristig durch ständiges Hinzu-, Um- und Verlernen für die wechselnden
Markt- und damit Kompetenzanforderungen zu wappnen und so für eine anhaltende Be-
schäftigungsfähigkeit („Employability“) zu sorgen. Ob dabei die Migranten und Zu-
wanderer der letzten 5–10 Jahre die entstandene Lücke in der erforderlichen Anzahl und
mit den geforderten Qualifikationen wirklich schnell genug füllen können, ist eher fraglich
(BMWI, 2020a). Dass daher nicht nur durch erfolgreiche Integrationsmaßnahmen, sondern
auch durch die generell globalere Aufstellung vieler Unternehmen der Arbeitsplatz hin-
sichtlich der (eben nur virtuell) vertretenen Kulturen und Ethnien (über deren Ho­
meoffice-Arbeitsplatz) „bunter“ wird, steht außer Zweifel. Dies macht die schon lange
­beschworenen interkulturellen Kompetenzen zu einer Standardanforderung jedes Erwerbs-
tätigen in der Zukunft. Beschrieb das Abschn. 5.3 bereits die zunehmende Anzahl und Viel-
falt an atypischen Arbeitsverträgen, verstärkt dies zudem die Notwendigkeit zum perma-
nenten Auf- und Umbau der Kompetenzen. Galt es in den letzten Jahrzehnten je nach Rolle
im sogenannten „T-Shape“-Qualifikationsmodell entweder den vertikalen Balken (tief-
gehende Expertise) oder den horizontalen Anteil (breites Generalistenwissen) zu stärken,
sind es heute beide Anteile (mit einem Schwerpunkt auf eine tiefgehende Expertise), die in
einem dynamischen Wechselspiel immer wieder neu überdacht werden müssen. Linda Grat-
ton spricht in ihrem Buch „The Shift“ (Gratton, 2011) – wie bereits vorab erwähnt – von
„Serial Mastery“ (Gratton, 2011, S. 203). Der Begriff wird in Abschn. 5.4.1. weiter
ausgeführt.
Spätestens nach diesen Textpassagen wird der psychologisch vorgebildete Leser eine ge-
wisse Unruhe hinsichtlich der noch ungeklärten Verwendung der zentralen Begriffe „Kom-
petenz“, „Fähigkeit“, „Fertigkeit“ und „Wissen“ verspüren. Denn die selbst in der
Wissenschaft bislang uneinheitliche Verwendung der Begriffe ist ein Grund dafür, warum
sich die Diskussion um das Thema (auch in der Forschung) oft so schwierig gestaltet. Da es
sich bei dem vorliegenden Buch um kein wissenschaftliches Lehrbuch handelt, wurde hier
eine pragmatische, jedoch an Krumm et al. (2012) und Kauffeld et al. (2018) angelehnte,
neue Begriffsstruktur (siehe Abb. 5.21) entwickelt (Krumm et al., 2012, S. 9).

Wahrnehmbares Verhalten/Handeln

Kompetenz: Jede effiziente und effektive Reaktions- und Handlungsfähigkeit auf der Basis von
Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen, die eine Person zur erfolgreichen Bewältigung bekannter
Kompetenz und neuartiger Aufgaben beiträgt.
Beisp.: Unternehmens- oder Mitarbeiterführung, Strategieentwicklung etc.
Situation: Spezielle und allgemeine, definierte sowie undefinierte, d. h. völlig neue Situationen

Qualifikation Fertigkeit: Alle eher durch verschiedene Fähigkeit: Alle eher angeborenen und (in-)direkt
Alle(s) Wissen, Fertigkeiten, Lernprozesse und die Stufen der (un-)bewussten geförderten/trainierten (s. l.) psychischen (und
Fähigkeiten und Kompe-
Fertigkeit (In-)Kompetenz entwickelten bzw. trainierten physischen) Voraussetzungen, die zur Erreichung
tenzen, die von einer Fähigkeiten für spezielle Situationen auf ihrem eines Leistungszieles erforderlich sind.
autorisierten Instanz auf der jeweilig erreichten Niveau. Beisp: Kreativität, Lernfähigkeit, Neugier, Empathie, 6
Basis eines Anforderungs- Beisp.: Rechenfertigkeit, Schreibfertigkeit, Sinne etc.
profils gemessen und durch
Fähigkeit (Fremd-)Sprachenbeherrschung etc. Situation: Situationsübergreifend und undefiniert/offen
ein Zertifikat, Zeugnis, Situation: Eher definiert u. situationsspezifisch
Diplom, Ausweis etc.
beglaubigt wurden
Wissen = Daten, die mit Bedeutung zu Informationen transformiert und durch
Kontextualisierung, Vernetzung und Erfahrung angereichert wurden. Es kann implizit
oder explizit vorliegen.
Wissen  Faktenwissen (know-that)
 Bedeutungswissen (know-why)
 Prozedurales Wissen (know-how)
 Erfahrungswissen (know-in-action)

Abb. 5.21 Erfolgreiches Verhalten als Ergebnis einer Wechselwirkung vieler Faktoren. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 309

Danach umfasst (berufliche Handlungs-)Kompetenz alle Fähigkeiten, Fertigkeiten und


Wissensbestände einer Person, eines Teams oder einer Organisation. Sie werden eher in
nicht geplanten, unstrukturierten Situationen und Lernprozessen aufgebaut. Qualifikatio-
nen dagegen werden in formalen, strukturierten Lernsettings erworben und oft durch ein
Zertifikat oder Zeugnis bestätigt. Fähigkeiten speisen sich zum einen aus genetisch an-
gelegten Begabungen und deren durch intensive Nutzung herausgebildeten Fähigkeiten.
Zum anderen müssen diese Begabungen durch das Wechselspiel von deren Nutzung (einer
fördernden Umgebung!) i. S. der Herausbildung von Fertigkeiten wachgerufen, erhalten
und im besten Fall sogar gefördert werden. Die prägnantesten Beispiele hierfür sind die
Lern- oder Denkfähigkeit, Neugier oder das Gehör (als einer der sechs Sinne). Fällt es
einer Person z. B. leicht, abstrakte bzw. technisch-mathematische Sachverhalte zu ver-
stehen (Begabung), wird sie trotz dieser positiven Voraussetzungen – bei vorab fehlender
Schulung bzgl. der notwendigen Rechentechniken und -methoden oder mathematischer
Modelle etc. – die Aufgabenstellungen der höheren Mathematik nicht lösen können. Ein
wesentliches Dilemma dieser Diskussion ist und bleibt bis auf Weiteres die fehlende
Messbarkeit des biologisch-genetischen Anteils (Begabung) unseres letztlich sichtbaren,
kompetenten Handelns. Fest steht jedoch, dass die (genetische) Begabung und die (för-
dernde) Umwelt determinieren, wie stark sich im Wechselspiel zwischen geförderten
Fähigkeiten und auf Training basierenden Fertigkeiten Kompetenz herausbilden kann und
durch die (intrinsische) Motivation des (immer häufigeren) Gelingens in eine sich selbst
verstärkende Entwickungsschleife kommt. Da der Anteil der biologisch begründeten Be-
gabung bis dato jedoch weitgehend im Dunkeln liegt, wurde er nicht in die Abb. 5.21 auf-
genommen.
Der zweite Aspekt zur Entwicklung sichtbarer Kompetenz ist die Ausbildung von
Fertigkeiten – also das Erlernen von bereits bekannten und bewährten Techniken, Werk-
zeugen und Verfahren. Als „Handwerkszeug“ ermöglichen sie in einem mehrstufigen
Lernprozess (von unbewusster Inkompetenz bis zur unbewussten Kompetenz) (Wikipedia,
2020) die Entwicklung von Fähigkeiten auf der Basis der dahinterliegenden Begabungen
und stehen für das Ausmaß der Befähigung bzw. das „Können“. So hätten vermutlich die
großen Maler nie ihre herausragenden Werke erschaffen können, wenn sie nicht in einer
sehr gründlichen Ausbildungsphase „ihr Handwerk“ gelernt hätten: Maltechniken, Farb-
und Bildkompositionslehre, Zusammensetzung, Herstellung und Verwendung verschie­
dener Farben oder die Kenntnisse der Kunstgeschichte etc.
Letzteres verweist auf das noch verbliebene Element des Kompetenzmodells – das
Wissen. Ohne in eine kunstgeschichtliche Diskussion einsteigen zu wollen, sei darauf hin-
gewiesen, dass z. B. der als Konstruktivist endende Niederländer Piet Mondrian
(1872–1944) – bevor er seine banal anmutenden bunten Farbgitter malte – eine Vielzahl
von Werken in klassischer Malweise geschaffen hat bzw. vom strukturell strengen Bild-
aufbau z. B. seines Landsmannes Jan Vermeer (1632–1675) stark inspiriert wurde bzw.
diese eingehend studiert hat. Ähnliches gilt für den Spanier Pablo Picasso (1881–1973)
mit seinen z. B. amorphen Frauenporträts oder geradezu kindlichen Strichzeichnungen.
Ihre vom reinen Können (der Maltechnik und Motivgestaltung) „einfachen“ Werke sind
310 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

daher nur im Wissen um deren kunstgeschichtliche Einordnung bedeutsam (→ know why).


Als ein Aspekt des Könnens bzw. der praktischen Ausübung von Fertigkeiten ist es in
seinen verschiedenen Aspekten (Faktenwissen, Bedeutungswissen etc.) jedoch grund-
legend für den Aufbau von Kompetenz. In der heutigen Zeit des „information overload“
sei jedoch betont, dass der umfassende Zugriff auf Informationen (!) eben noch kein Wis-
sen ist. Erst durch die individuelle Verarbeitung und aktive Einordnung und Vernetzung
mit bestehenden Wissensbeständen erhält es praktische Bedeutung für die letztendliche
Kompetenzentwicklung der Person. Zukünftige Fragen für den Wissenserwerb angesichts
immer leistungsfähigerer Computer lauten daher: Welches Wissen soll man sich ange-
sichts eines täglichen quantitativen wie qualitativen exponentiellen Wissenszuwachses
und der damit zeitgleich einhergehenden, rapiden Wissensveraltung überhaupt noch an-
eignen? Wie verfährt man mit der Unübersichtlichkeit einer stetig zunehmenden Anzahl
an Wissensquellen (bzw. dem auch immer leichteren Zugang zu diesen)? Was heißt das für
die Qualität von Wissen, wenn jedem vielfältige Formate und Kanäle zur Verfügung ste-
hen, um das eigene, vermeintliche Wissen zu produzieren und mit einem Klick auch
­weltweit zu publizieren? Was macht man mit weniger Lernzeit (nur gefühlt oder auch real)
bzw. mit der noch weit verbreiteten Sichtweise, zwischen Lern- und Arbeitszeit zu unter-
scheiden? Wofür lohnt es sich angesichts der soeben geschilderten Situation noch Lernzeit
zu investieren? Wann müssen wir nur „kennen“ und ab wann und wie kann aus „kennen“
möglichst schnell auch „können“ werden? Wenn Computer Informationen und bereits
auch Wissen (z. B. Forschungsberichte zur Krebsdiagnose) fehlerfreier und schneller ver-
arbeiten können, was ist menschliches Wissen bzw. deren Kompetenzen generell
noch wert?

Wie gehen Unternehmen mit diesem Begriffswirrwarr um?


Die aktuellen Antworten der Unternehmen auf das konzeptionelle Dilemma hinsichtlich
des Kompetenzbegriffs bzw. obige Fragestellungen lassen drei Trends erkennen. Zum einen
die indirekte Beeinflussung über die räumliche Gestaltung der Arbeitsplätze oder die Modi-
fikation des Führungsstils (dazu mehr in Abschn. 5.6), zum anderen direkt über den Wandel
bei den Kompetenzanforderungen und deren Stimulation. Ausgangspunkt für die erste Stra-
tegie ist die mehr oder minder in der „Raumpsychologie für eine neue Arbeitswelt“ (Bauer
et al., 2019) begründete Idee, über bestimmte räumliche Gestaltungsmerkmale die
­Ausbildung bestimmter Verhaltensweisen (z. B. Teamarbeit, Veränderungsbereitschaft,
Produktivität, Entspannung/Stressreduktion etc.) und Fähigkeiten (z. B. spielerische
Kreativität, Neugier, Konzentration etc.) zumindest erleichtern oder sogar fördern zu kön-
nen (Vischer, 1996). Eine lose Zusammenstellung von Gestaltungselementen und deren
beabsichtigten Assoziationen bzw. indirekten Wirkungen auf die Kompetenzentwicklung
findet sich in der Abb. 5.22.

Dies führte in Kombination mit der Design-Thinking-Bewegung der letzten Jahre dazu,
dass mit den Vorreitern in der IT-Branche (z. B. Google, Facebook, Microsoft etc.) auch in
manchen deutschen Unternehmen (z. B. SAP SE) die „schöne neue Arbeitswelt“ eher an
private Wohnzimmer, Kindergärten, Hobbyräume oder Wohlfühloasen als an einen traditio-
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 311

(Gestaltungs-)Merkmale/
Konkrete Beispiele Intendierte Assoziationen/Wirkungen
Element
Materialwahl
(Schiebe-)Wände/Raumteiler aus Glas; raumhohe Fenster, Transparenz, mehr bzw. längere geistige Vitalität durch mehr (natürliches)
Häufige Verwendung von Glas
Deckenlicht durch Sheds oder Dachfenster Licht bzw. Helligkeit
Materialien eher in unfertigem, rohem Sie haben ständigen Veränderungs- bzw. Um- und Aus- und Anbaubedarf,
Bearbeitungszustand (hinsichtlich der Offene Backstein- oder Betonwände oder -böden sind eine ständige Baustelle, nie fertig, Unfertigkeit, „Ehrlichkeit“,
Oberflächen) Natürlichkeit
„Normale“ Materialien; „wie aus dem Ungehobeltes Holz („Baubretter“), unpoliertes Eisen (im Vermeidung jeglicher (distanzierender) Statussymbolik/Statusgrenzen (wie
Baumarkt“ Rohgusszustand) z. B. in früheren Zeiten durch hochpoliertes Mahagoniholz in der Chefetage)
Natürliche, sinnliche“ Materialien bzw. Naturverbundenheit/Ökologie; sinnliche Körpererfahrungen für den
Holz, Kork, Stein, natürliche Soffe
Materialmischungen „Kopfarbeiter“
Raumgestaltungselemente
Rutschen von einem Stockwerk ins andere, Kickertische, Schaukeln, (Denk-)Sport, Spaß, Spiel/Kreativitätsstimulation, Entspannung, Leichtigkeit,
Spielgelegenheiten/„Spielecken“
Sportgeräte, Bodenschachspiele etc. (Spiel-)Freude (wie damals als Kind)
Kreativität, „schnelle Problemlösung“/Pareto-Prinzip, Pragmatik,
„Do-it-yourself“-Charakter (Scheinbar) selbst gebaute Raum- oder Möbellösungen
Funktionalität
Umfunktionierte/zweckentfremdete Straßenkabeltrommel als Tisch, Sportmatten als Sitzbankauflagen, Stimulation der Kreativität bzw. kreative Wiederverwertung (von
Elemente/Alltagsgegenstände Baugewebe als Infowände etc. Gegenständen); „think out of the box“, „Cross-over-Mindset“
Naturelemente Pflanzen jeder Art und Größe Naturverbundenheit/Ökologie, Gesundheit/Entspannung
Raumgestaltung
Wohn- & Erlebnislandschaften mit Wohnzimmer verschiedener Einrichtungen, Epochen, Kreativitätsstimulation, Abwechslungsreichtum, Entspannung, Wohlgefühl
typischen Elementen Strandszenerien, Urwaldszenerie, Campingwohnwagen und Behaglichkeit lassen länger an der Arbeitsstätte verweilen
Nutzung/Umbau von älteren Industriebauten oder verfremdeter Einsatz Gefühl der Verwurzelung/Verbindung zur Historie der „Old Economy“, harter
Industrial-Vintage-Stil
von Einrichtungsgegenständen oder Maschinen(-teilen) schweißtreibender Arbeit; kreative Wiederverwertung (von Gegenständen)
Lebensfreude, Kreativitätsstimulation, Leichtigkeit, Entspannung, Identität
Farbigkeit aller Raumelemente Elemente und Bereiche in verschiedensten Farben
(die „rationalen Blautöne“ in der Controllingabteilung)
Variabilität aller (Trenn-)
Mobile statt gemauerter Trenn- und Wandwände Einheit, variable, abteilungsüberschreitende Zusammenarbeit
Wandelemente
Zusatzeinrichtungen
Kindertagesstätten Kindergärten oder Kindertagesstätten (Frühzeitiges) Verlassen des Büros wegen Kindern unnötig
Out- und/oder Indoor-Gemeinschafts- Sport- und Spielplätze, große Gemeinschaftstische für das Gemeinschafts- und gesundheitsfördernde (Team-)Sportplätze während und
aktivitätsplätze Mittagessen und die Arbeit nach der (nicht mehr abgrenzbar vorhandenen) Arbeitszeit

Infrastruktur zur Deckung des Kiosk, Bistros, Mall mit z. B. Supermarkt, Apotheke, Bügelservices, Gefühl des Versorgtseins, Grundbedürfnisse können leicht befriedigt werden,
Lebensbedarfs Friseur etc.– alles mit Online- bzw. Hol- & Bring-Service kein (frühzeitiges) Verlassen des Büros notwendig

Abb. 5.22 Räumliche Gestaltungsmerkmale und ihre intendierten Assoziationen und Wirkungen.
© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved

nellen Arbeitsplatz erinnerte. Dass diese strikte gedankliche und gefühlsmäßige Trennung
wahrscheinlich in unserer langjährigen Sozialisation im Übergang von den oft noch recht
bunten Kindergärten zu den meist betongrauen Schulen und tristen, rein funktional ge-
stalteten Universitäten der 70er-Jahre begründet sein könnte, wird den meisten Besuchern
solcher „Traumarbeitsplätze“ oft nicht ohne etwas Wehmut bewusst. Lern- bzw. Arbeits-
umgebungen und Wohlbefinden wurden von den meisten bisher eher als geradezu gegen-
sätzliche Dimensionen erlebt. Dass Kreation und Rekreation in einem wechselseitigen Ver-
hältnis stehen und sogar zu Produktivitätssteigerungen führen könnten, wurde vermutlich
aus einem eher spartanisch gepägten Selbst- und Arbeitsverständnis des früheren Beamten-
tums und/oder aus Kostengründen einfach ausgeblendet. Nach dem (vorrübergehenden!?)
Abklingen der ersten COVID-19-Welle sollen die attraktiveren Räumlichkeiten nun sogar
dazu dienen, die Mitarbeiter von ihren Homeoffices wieder in die Büros zu locken! Inwieweit
diese Synergien zwischen Psychologie (Stimulation eher angeborener Fähigkeiten) und Raum
(z. B. Kreativität buchstäblich einen möglichst ­anregenden Raum geben) auch wirklich be-
stehen bzw. wie stark sie sind, erforschen die Umwelt- (Hellbrück & Kals, 2016) und Archi-
tekturpsychologie (Richter, 2016) oder die Arbeitsforschung (Bauer et al., 2019) wie auch die
größeren Büromöbelhersteller selbst (z. B. Bene, König & Neurath, Sedus, Stoll, Vitra etc.).
Als eher direkte Einflussnahme zur Stimulation von generischen Fähigkeiten können
die Maßnahmen von Toyota gesehen werden. Der japanische Autohersteller, der bereits in
312 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

den 90er-Jahren mit seinem Lean-Production-Ansatz die Branche zum völligen Um-
denken ihrer bisherigen Produktionsweise nötigte, scheint auch in diesem Bereich bereits
seit 2014 neue Wege zu gehen. War der Kern des Toyota-Systems schon immer weniger
ein technisches Produktionssystem als ein im einzelnen Mitarbeiter bzw. in den Teams
wurzelndes Problemlösesystem, besteht deren Neuansatz auch in diesem Bereich nicht
nur in einer weiteren Entwicklung spezieller, technischer Fertigkeit, d. h. in einer geradezu
handwerklichen Ausbildung, der sogenannten „Toyota New Global Architecture“ (TNGA)
(Rothfeder, 2017). Die damit verbundene, an Manufakturen erinnernde Kompetenzent-
wicklung soll parallel als solide Basis für die Verbesserungsprozesse der unausweich-
lichen Augmentierungs-, Automatisierungs- und Atomisierungsmaßnahmen in der Pro-
duktion und deren kontinuierliche Verbesserung dienen. Mitsuru Kawai, der Senior
Technical Executive bei Toyota, im Originalton: „Learning how to make car parts from
scratch gives younger workers insights they otherwise wouldn’t get from picking parts
from bins and conveyor belts or pressing buttons on machines. At about 100 manual-­
intensive workspaces introduced over the last three years across Toyota’s factories in
Japan, these lessons can then be applied to reprogram machines to cut down on waste and
improve processes […]“ (Trudell et al., 2014). Ferner ermöglicht dieser Ansatz, jenseits
von standardisierten Hightech-Lösungen, auf die potenziell wandelnden Marktan­
forderungen bzw. die immer stärkeren Individualisierungswünsche der Kunden schneller
reagieren zu können. Ein „Rückschritt“ soll hier den Fortschritt bzw. zukünftige Wett-
bewerbsvorteile sichern.
In der Hoffnung, HR-Abteilungen hinsichtlich der sich dynamisch verändernden
Kompetenzlandschaft strategisch beraten und damit das eher traditionelle Verständnis der
Kompetenzthematik fortführen zu können, entwickelte das Marktanalyseinstitut Gartner
Group das sogenannte „TalentNeuron“™ (Engler, 2020). In der Erkenntnis, dass weder
reaktive noch klassisch-prädiktive Ansätze bei der Kompetenzermittlung die Dynamik in
befriedigender Weise abbilden können, wird das TalentNeuron™ aus den Ergebnissen
eines sogenannten „Skill Sensing Networks“ gespeist. Bestehend aus einem Querschnitt
von Vertretern aller Unternehmensbereiche soll dieses moderierte Netzwerk zukünftig be-
nötigte Fertigkeiten und Fähigkeiten identifizieren, die entsprechenden Unternehmens-
bereiche darüber informieren und deren Implementierung und Entwicklung verfolgen. Ob
es damit trotz der großen Volatilität des Themenbereiches zu einer frühzeitigen und der
Identifizierung der richtigen Fertigkeiten und Fähigkeiten kommt, bleibt abzuwarten. Was
jedoch immer bei derlei Ansätzen bleibt, ist der potenzielle Zeitverzug durch die Dauer
des Lernprozesses.
Die wohl weiterhin anhaltende Dynamik der Märkte führte dazu, dass einige Think-
tanks in der Beratungsbranche (Hagel et al., 2019) sich von der Idee der zuweilen immer
noch sehr mechanisch anmutenden Qualifikationsstrategien für die Mitarbeiter bzw. der
Fokussierung auf Fertigkeiten verabschieden und verstärkt auf die Fähigkeitsaspekte bei
den Kompetenzen und deren indirekte Förderung abzielen. Abb. 5.23 stellt die wesent-
lichen Unterschiede dieses Paradigmenwechsels gegenüber. Leider kommt es bis heute
zur Vermischung beider konstituierender Kriterien, da man die Agilitätsanforderung auch
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 313

Unterscheidungs-
Qualifikation Kompetenz (i.S. von Fähigkeiten)
kriterien
Organisationsprinzip Fremdorganisiert Selbstorganisiert
des Systems oft zur Überbrückung einer von außen definierten Ist-Soll-Lücke Ist- und Soll-Zustand wie auch dessen Überbrückung werden von der Person
innerhalb eines formalen Qualifikationssystems (z. B. Job Profile) eigenständig analysiert, durchgeführt und evaluiert
Thematische Fokussiert auf die Bewältigung einer konkreten Anforderung einer Übergreifende Fähigkeiten, i. S. von Basisfähigkeiten
Reichweite Rolle oder Stelle

Bedarfsermittlung/ Organisatorischer, vordefinierter anforderungs- bzw. Individueller, situationsspezifischer und aktueller Bedarf
Planung tätigkeitsbezogener Bedarf (für eine Stelle)

Lernziel (Formell) zertifizierbare Kenntnisse und Fertigkeiten ( Informelle, eher (inter-)subjektive Einschätzung der (un-)bewussten (In-)
Zeugnisse, Abschlussprüfungen); Handlungsfähigkeit in Kompetenz bzw. Peer-Feedback; Handlungsfähigkeit auch in eher
vordefinierbaren, eher statischen Situationen dynamischen Situationen
Messbarkeit des Weniger komplexe (i. S. gut operationalisierbarer) Komplexe (i. S. schwer operationalisierbarer) Handlungsdimensionen(z. B.
Lernfortschrittes Handlungsdimensionen (z. B. CNC-Fräsen); kombiniert mit eher emotionale Intelligenz); beinhaltet zuweilen auch Werte oder Normen;
explizitem Wissen kombiniert mit eher implizitem Wissen

Abb. 5.23 Paradigmenwechsel von der Qualifikation zur Kompetenz (© Stefan Stenzel 2022. All
Rights Reserved)

in diesem Bereich noch nicht genügend erkannt oder verinnerlicht hat bzw. sich nur schwer
von dem einfachen Weiterbildungsdenken der klassischen Qualifizierung loslösen kann.
Die „Fähigkeitsaspekte bei den Kompetenzen“ umfassen dabei eher angeborene,
situationsunabhängige und damit überdauernde menschliche (Basis-)Fähigkeiten i. S. von
„Basisbausteinen“, die in begrenztem Maß auch entwicklungsfähig sind. Dazu zählen
z. B. Neugier, Resilienz, Kreativität, Empathie oder Vorstellungskraft etc. „Kristallisations-
formen“ – also (konzeptionelle) Konglomerate aus diesen Basisbausteinen – wären
z. B. soziale und emotionale Intelligenz, Teamfähigkeit, kritisches Denken etc. Um deren
wachsende Relevanz auch gegenüber den meist herausgestellten „Hard Skills“ überdies
sprachlich zu akzentuieren, schlägt Josh Bersin sogar vor (Bersin, 2020), „Soft Skills“ von
nun an als „Power Skills“ zu bezeichnen, und präsentiert sogleich eine Zusammenstellung
von 20 dieser „Power Skills“, die auch Glücksempfinden, Großzügigkeit, Freundlichkeit,
Vergebungsbereitschaft und Ehrfurcht mit einbeziehen. Besonders angesichts der letzt-
genannten „Power Skills“ wird deutlich, dass es sich bei einer derartigen Zusammen-
stellung in der psychologischen Forschung z. T. um (noch) nicht eindeutig definierte,
eigenständige Konstrukte handelt. Dies liegt u. a. daran, dass man die auf Genetik und
Lernen beruhenden Anteile (noch) nicht kennt bzw. „herausrechnen“ kann. So überlappen
sie sich und sind auch voneinander abhängig (z. B. Teamfähigkeit und emotionale bzw.
soziale Intelligenz) bzw. existiert von den meisten eine kreative Vielfalt an wissenschaft-
lich wenig oder nur in Teilen fundierten Definitionen bzw. Konzepten. Und wenn man
nicht einmal weiß, was es ist, wie kann man es wirkungsvoll fördern oder gar trainieren?
Daher sind die heute in der Praxis verwendeten Konzepte eher als „Arbeitshypothesen“
zu verstehen und zeigen ihren Wert bis dato nur in der Nützlichkeit in der praktischen Ver-
wertbarkeit bzw. dem letztlichen Anwendungserfolg. Auf Unternehmensseite besteht je-
doch die Annahme, dass diese grundlegend und damit gegenüber den Fertigkeiten eine
größere Stabilität aufweisen und der angestrebte Return on Investment mittel- bis lang-
fristig höher sein könnte. Denn in einer Zeit, in der die Standardisierung von Produkten
und die größtmögliche Effizienz und Effektivität von Produktionsverfahren durch den
314 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Einsatz immer flexiblerer und intelligenterer Systeme keinen echten Wettbewerbsvorteil


mehr darstellen, müssen die dazu benötigten Fertigkeiten um das Spektrum der Fähig-
keiten zur Innovation erweitert werden. Konkret heißt dies, psychische wie physische
Räume für Kreativität, kritisches Denken, emotionale Intelligenz, Teamfähigkeit etc. zu
schaffen. Diese Verschiebung der Betrachtungsweisen in der Diskussion wird sehr präg-
nant in einigen (Unter-)Überschriften des erwähnten Deloitte-Artikels (Hagel et al., 2019)
komprimiert: „Skills change, but capabilities endure. Why fostering human capabilities
first might be more important than reskilling in the future of work“ und „Skills are valua-
ble, but they´re not everything“. Lernen findet daher für Bersin (2021) zukünftig in – wie
er sie nennt – „Capability Academies“ statt. Die dahinter liegende, konzeptionelle Ver-
schiebung versucht die Gegenüberstellung in Abb. 5.24 herauszuarbeiten.

5.4.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Interessieren die vorangegangenen, eher konzeptionellen Diskussionen die meisten Leser


bzw. Klienten vermutlich nur wenig, gewinnt man deren Aufmerksamkeit über die prakti-
schen Konsequenzen für die berufliche Entwicklung wahrscheinlich sehr schnell wieder
zurück. Was also könnte die Verschiebung in den Unternehmen zu STEAM, On-the-Job-
und lebenslangem Lernen und für die Kompetenzentwicklung der Führungskraft oder des
Mitarbeiters bedeuten?
Um auf die Frage eine Antwort zu finden, hilft ein Blick in eine ähnliche Umbruchzeit
wie die heutige. Nach Sattelberger (Sattelberger, 2006) sah man in den 90er-Jahren ange-
sichts der verloren geglaubten Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland und Kontinental-
europa in den aus Übersee importierten Kostensenkungs- und Restrukturierungspro­
grammen wie den Konzepten Lean Production/Management gefolgt von Reengineering
die Lösung der Probleme. Die damit u. a. verbundenen, radikalen Entlassungswellen, um

Fertigkeiten Fähigkeiten

Ziel sind die (zertifizierte) Aneignung spezieller Verfahren, Techniken etc. und Ziel ist allgemeine Leistungs- und damit Beschäftigungsfähigkeit durch die Entwicklung von
genaue Anwendung in den entsprechenden Situationen Basisfähigkeiten

 Themenspezifisch – oft technischer Natur


 Themenunspezifisch – oft menschlicher Natur, verhaltensbezogen („Soft Skills“)
 Geeignet für definierte Problemzustände
 Geeignet zur Bearbeitung undefinierter Problemzustände
 Einfluss zeigt sich in (der richtigen Handlung in) jedem Prozessschritt
 Einfluss zeigt sich meist erst im Endprodukt
 Einfach mess- bzw. zertifizierbar
 Schwer mess- bzw. zertifizierbar
 Oft parallel zu den (z. B. technischen) Entwicklungen- zumeist jedoch
 Basal bzw. unabhängig von Raum und Zeit
nachfolgend
 Manifestation (auch) im „Sein“
 Manifestation im Tun / in der Anwendung

 Branchen- und unternehmensspezifisch in der konkreten Ausprägung


 Einheitliche, branchenübergreifende Ausprägung (z.B. CNC-Frästechniken)
 Sichtbare Ausprägung ist (auch) von kulturellen Einflüssen abhängig (wie intensiv und
 Sichtbare Ausprägung eher unabhängig von situativen, kulturellen Einflüssen
wann dürfen z. B. Kreativität, kritisches Denken, Teamfähigkeit etc. gelebt werden)

Lernsetting: (Vor-)definierte spezielle Lernsettings, eher „off the job“ innerhalb von Lernsetting: Verschiedene (soziale) Kontexte, Erfahrung, Mentoring, „on“ oder “near the job“;
einzelnen Kursen oder ganzen Curricula mit Abschlussprüfungen und Zertifikaten keine Trennung zwischen Wissenserwerb und -anwendung

Abb. 5.24 Die Schwerpunktverschiebung von den Fertigkeiten zu den Fähigkeiten (© Stefan Sten-
zel 2022. All Rights Reserved)
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 315

schlanker („lean“) zu werden, führten zum ersten Mal zu einer erheblichen Erosion des
psychologischen Vertrages zwischen Arbeitgeber und -nehmer auf lebenslange Be-
schäftigung für lebenslange Treue. Die Beschäftigungsgarantie von einst wurde personal-
politisch in ein Angebot zur Sicherung der lebenslangen Beschäftigungsfähigkeit („life-
long employability“) i. S. v. Employability statt Employment(-Security) transformiert.
„Doch nur kluge Unternehmen begannen damals frühzeitig umfassende, eigene
Employability-­Konzeptionen zu entwickeln, die den Einzelnen nicht sozialdarwinistisch in
der alleinigen Verantwortung sahen, sondern deutlich mehr als nur kosmetische Unter-
stützung für Arbeitsmarktfähigkeit beinhalten“ (Sattelberger, 2006, S. 78). Inspiriert durch
den damaligen Managementguru, Tom Peters, und sein „Me Inc.“ – was mit „Ich-AG“
übersetzt werden kann und zum Unwort des Jahres 2002 ausgerufen wurde – sowie die
marketingtechnisch pervertierte „Brand ME“-Version wurde 1999 mit Unterstützung
zahlreicher großer deutscher Unternehmen auf Basis des Prinzips der „4 Ls“ (Laufbahn,
Leistung, Lernen, Loyalität) die noch heute existierende Initiative der „Selbst GmbH“
(Selbst GmbH e. V., 2020) gegründet. Sie sollte den allmählichen Wandel auch der Unter-
nehmenskulturen von (Beschäftigungs-)Sicherheit wie auch dem eher individuellen
Leistungsfokus nach und nach in eine Change-Risiko-Gemeinschaft – in ein als „Co-De-
stiny“ beschriebenes Verhältnis – zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer transformieren.
Betrachtet man als berufserfahrener Leser in Abb. 5.25 (Sattelberger, S. 82, Abb. 3) die
Erfolgsfaktoren dieses Konzeptes, kann man ein gewisses Schmunzeln bei dem Gedanken
an den aktuellen Neuigkeitshype um die Arbeit 4.0 bzw. „New Work“ nicht unterdrücken.
Oder aber dieser „Zeitzeuge“ freut sich natürlich, dass die damaligen Konzepte (die
teilweise sogar aus den 70er- und 80er-Jahren stammen) erneute Aktualität erfahren und
vielleicht der heutigen, von enormem Innovationsdruck geprägten Wirtschaftswelt Kon-
zepte an die Hand geben, mit ihm konstruktiv umzugehen. Denn gerade in der zumindest
damals oft ignorierten Notwendigkeit zur Änderung der Unternehmenskultur sahen Tho-
mas Sattelberger und Heinz Fischer, als die damals führenden Köpfe der Initiative, den
wesentlichen Grund für eine oft nur halbherzige Umsetzung. In diesem Zusammenhang
wies auch der Soziologe Stefan Kühl (2000) darauf hin, dass der als Selbst GmbH „unter-
nehmerisch handelnde Mitarbeiter“ nach seiner Ansicht ein Mythos ist und wohl auch
bleiben wird, da er innerhalb des Unternehmens an paradoxe Verhaltensweisen gebunden
ist. Diese ließen sich nach Kühl (2000, S. 827) mit den drei folgenden Mottos beschreiben:
(1) Alle ziehen an einem Strang, aber nur die Besten setzen sich durch. (2) Jeder sucht
seinen eigenen Weg, aber wir sitzen alle in einem Boot. (3) Tue, was du willst, aber ver-
letze ja nicht die geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetze. Inwieweit dies auch für
die im vorangegangenen Abschn. 5.3 atypischen Beschäftigten bzw. Crowdworker zu-
trifft, wäre interessant zu durchdenken. Hier soll es jedoch um den Ausgangspunkt dieses
kleinen Exkurses gehen: die Employability.

Die „Top 10“ der Kompetenzen: „Voll STEAM“ voraus – aber bitte sehr viel softer!
Wurde in der Darstellung des STEAM-Akronyms deutlich, dass man heute insbesondere
soziale Schlüsselkompetenzen als zentral für den zukünftigen Erfolg in den sogenannten
316 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Mit-
Verantwortliche unternehmertum
Empowerment (durch leistungsorientierte
Unternehmens- & Erfolgs- u. Risiko-
Führungskultur beteiligung)

Dialog & Kultur der Selbst- Co-Invest für


Vertrauensaufbau verantwortung Employability

Ehrlicher, Verantwortliche
realistischer & Führung durch Unternehmens- &
moralischer Dienstleistung Führungskultur
Kontrakt

Abb. 5.25 „Co-Destiny“: Erfolgsfaktoren einer Change- und Risikogemeinschaft. (Quelle: An-
gelehnt an Rump, Sattelberger & Fischer (2006), S. 82; adaptiert durch den Autor; mit freundlicher
Genehmigung von © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, 2006. Wiesbaden. All
Rights Reserved)

„Hybrid“ oder „Renaissance Jobs“ sieht (Bersin, 2017b), ist es sicherlich nicht verwunder-
lich, sie auch als Bestandteil des Employability-Konzeptes zu sehen. Kennzeichnend für
dessen konzeptionelle Offenheit ist dabei, dass es kein einheitlich gültiges Set an Fähig-
keiten gibt, welches Personen langfristig beschäftigungsfähig macht. Da konzeptionell
über ein Jahrzehnt „gereift“ – d. h. offensichtlich empirisch bzw. praktisch bewährt –, soll
die Definition von Jutta Rump herangezogen werden. Danach ist Employability „[…] die
Fähigkeit, fachliche, soziale und methodische Kompetenzen unter sich wandelnden
Rahmenbedingungen zielgerichtet und eigenverantwortlich anzupassen und einzusetzen,
um Beschäftigung zu erlangen oder zu erhalten“ (Rump & Eilers, 2011). So gelten Perso-
nen mit den in Abb. 5.26 zusammengestellten 13 überfachlichen Kompetenzen (in mög-
lichst starker Ausprägung) als „employable“.

Der obige Einschub „in möglichst starker Ausprägung“ und von Rump & Eilers (2011,
S. 22) in der Praxis gehörte Bemerkungen wie „Und kann diese Person auch über Wasser
gehen?“ weisen indirekt auf die Absurdität des ggf. dahinterstehenden normativen An-
spruches hin. Erdung erfährt das Konzept daher erst durch die nachgeschalteten Hand-
lungsempfehlungen: „Den ersten Schritt tun und in Bewegung bleiben!“ Vergleicht man
diese Zusammenstellung mit den Kompetenzen in Abb. 5.26, ist interessant festzustellen,
dass in der obigen, älteren Zusammenstellung z. B. die basalen Kompetenzen Vorstellungs-
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 317

Schlüsselkompetenz Beschreibung

Fachkompetenz Ist fachlich kompetent

Initiative Ist aktiv und ergreift Initiative, erkennt und nutzt Chancen
Eigenverantwortung Übernimmt Verantwortung für sich selbst, die eigene Entwicklung und setzt sich Ziele
Unternehmerisches Denken und
Erkennt die Konzequenzen des eigenen Handelns
Handeln
Engagement Ist fleißig und engagiert sich
Lernbereitschaft Lernt kontinuierlich dazu und bleibt am Ball
Teamfähigkeit Ist fähig und bereit zur Zusammenarbeit
Kommunikationsfähigkeit Ist in der Lage, das, was sie/er meint und will, auszudrücken und zur Geltung zu bringen
Empathie, Einfühlungsvermögen Versetzt sich in eine andere Person hinein und hört zu
Belastbarkeit Behält in ungewohnten bzw. belastenden Situationen einen klaren Kopf und ist handlungsfähig
Konfliktfähigkeit, Frustrationstoleranz Geht konstruktiv mit schwierigen Situationen und Misserfolgen um
Offenheit, Veränderungsbereitschaft Ist offen für Neues, ist neugierig
Reflexionsfähigkeit Weiß, was sie/er kann, und denkt regelmäßig über sich und die eigene Beschäftigungsfähigkeit nach

Abb. 5.26 Die 13 Schlüsselkompetenzen, um Beschäftigung zu erlangen oder zu erhalten. (Quelle:


Angelehnt an Rump, Sattelberger & Fischer, 2006, S. 21 f.; modifiziert durch den Autor; mit freund-
licher Genehmigung von © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, Wiesbaden
2006. All Rights Reserved)

kraft, Neugier und Kreativität nicht aufgeführt sind. Dies macht deutlich, dass auf jeden
Fall die jeweilige Zeit der Erstellung und ggf. auch die Branche und Region bei der Aus-
wahl und dem Ranking eine große Rolle spielen.
Erneut bestätigt wird diese Aussage durch die sichtbaren Veränderungen der Daten
bzw. Aussagen in dem zyklisch erscheinenden „The Future of Jobs Report“ des „World
Economic Forum“ (WEF). Diese ermöglichen einen Vergleich der Veränderung von 2015
(World Economic Forum, 2021a, b, c, d, e) gegenüber 2018 (WEF, 2018). Ferner wagen
sie eine Prognose der an Bedeutung zu- und abnehmenden Kompetenzen für das Jahr 2022
wie aucheine Vorausschau für 2025 (Kimbrough & Blue, 2020). Waren laut WEF (2018,
S. 12) unter den „Top 10“-Kompetenzen 2015 im ersten Jahr noch (1) „komplexes
Problemlösen“, (2) „Koordination mit anderen“, (3) „People Management“, (4) „kriti-
sches Denken und Analyse“ und (5) „Verhandlung“ an den ersten fünf Stellen bzw. die
„Kreativität“ an der letzten, 10. Stelle, veränderte sich dieses Ranking im Jahr 2018 in
die folgende Reihenfolge: (1) „analytisches Denken und Innovation“, (2) „komplexes
Problemlösen“, (3) „kritisches Denken u. Analyse“, (4) „aktives Lernen und Lernstrategie“
und (5) „Kreativität, Originalität und Initiative“ bzw. (10) „Koordination und Zeit-
management“ an 10. Stelle. Ein Aufwärtstrend für das Jahr 2022 wurde in der gleichen
Publikation für folgende Kompetenzen vorhergesagt: (1) „analytisches Denken und Inno-
vation“, (2) „aktives Lernen und Lernstrategie“, (3) „Kreativität, Originalität und Initia-
tive“, (4) „Technologiedesign und Programmieren“ sowie (5) „kritisches Denken und
Analyse“. Im Abwärtstrend dagegen sollten sich nachstehende Kompetenzen befinden: (1)
„manuelle Geschicklichkeit, Ausdauer und Präzision“, (2) „Gedächtnis-, Sprach- und
318 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

räumliche Kompetenzen“, (3) „Management finanzieller und materieller Ressourcen“, (4)


„Installation und Wartung von technischer Gerätschaft“ sowie die (5) „Lese- und Schreib-
fähigkeit, mathematische Kompetenzen und die Kompetenz des aktiven Zuhörens“.
Diese Auflistungen können gerade jüngeren Klienten (und allen staatlichen und priva-
ten Bildungseinrichtungen) eine grobe Richtschnur für die Weiterentwicklung, Neuaus-
richtung oder auch nur Erhaltung ihrer kompetenzbasierten Beschäftigungsfähigkeit
geben. Weiterhin liefert die Studie Belege (World Economic Forum, 2018, S. 13), dass es
aus Sicht der Arbeitgeber über alle Branchen/Unternehmen hinweg die Notwendigkeit
sogar zur Neuausrichtung der Beschäftigungsfähigkeit gibt. Dies wurde und wird auch
von den Studien der Folgejahre dieser Serie bestätigt.

Die „Top 10“ der Jobs: Welcher ist (noch) wie zukunftssicher?
Neben dieser Studienserie des WEF, die in der 2018er Ausgabe auch detaillierte, nationale
Lageberichte enthält, ist weiterhin die Megastudie des McKinsey Global Institute mit dem
selbst sprechenden Titel „Jobs lost, Jobs gained; Workforce Transitions in a time of Auto-
mation“ (McKinsey Global Institut, 2017) vom Dezember 2017 zu nennen. Eher der Voll-
ständigkeit halber bzw. aus Gründen der Reminiszenz soll die Oxford-Studie von Frey &
Osborn aus dem Jahr 2013 (Frey & Osborn, 2013) erwähnt werden. In ihren Untersuchungs-
ergebnissen kamen sie zu dem Schluss, dass bei den 702 untersuchten Berufen 47 % der in
den USA Beschäftigten durch die Computerisierung ihren Job verlieren könnten. So verlören
z. B. Steuerfachangestellte mit 99 %iger Wahrscheinlichkeit ihre Anstellung und belegen
damit Rang 695 – Sozialarbeiter für Drogenmissbrauch im Gesundheitsamt auf Rang 4 nur
mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,0031 %. Diese Ergebnisse wirkten bei vielen Regierungen
wie ein Paukenschlag und verliehen der Diskussion neue Dynamik. Für jeden nachvollzieh-
bare Beispiele, dass dieser Wandel sich schon seit Langem und auch aktuell vollzieht, sind die
fast schon verschwundenen Angestellten an Bankschaltern oder die Selbstzahlkassen in grö-
ßeren Supermärkten oder Möbelhäusern, wo 6 Kassen von nur noch einer Person (die nicht
ausgebildete Kassiererin sein muss) betreut werden. Als Berufsgruppen, die sich zukünftig
wahrscheinlich als immun gegen die Digitaliserung erweisen könnten, nannte der ehemalige
Arbeitsminister von Bill Clinton, Robert Reich, die „5 Cs“ der „erkauften Zuwendung“
(Reich, 2002): Computerisation, Caring, Catering, Consulting und Coaching.

Um für eine ggf. erforderliche Neuorientierung auf dem Laufenden zu bleiben und die
stabilen, neuen, aber auch die überflüssig werdenden Berufe zu kennen (siehe z. B. WEF,
2018, S. 9), empfehlen sich weiterhin die Publikationen der Forschungsabteilungen bzw.
Thinktanks der anderen, großen Beratungshäuser wie z. B. der Boston Consulting Group
oder Deloitte etc. Zur Analyse neuer Karrierepfade und den ggf. notwendigen Up- oder
Reskilling-Möglichkeiten bietet z. B. LinkedIn mit seinem „Career Explorer“.8 Aber auch
von Non-Profit-Organisationen wie der ILO9 oder in Deutschland die Bertelsmann- oder

8
https://linkedin.github.io/career-explorer/. Zugegriffen am 18.11.2020.
9
https://www.oecd.org/education/2030-project/teaching-and-learning/learning/skills/. Zugegriffen am
18.11.2020.
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 319

Bosch Stiftung etc. bieten interessante Analysen und/oder Unterstützung. Gleich gilt auch
für nationale staatliche Organe wie das Institut für Arbeitsmarktforschung (IAB) (Institut
für Arbeitsmarktforschung IAB, 2020) mit seinem „Job Futuromat“ (Job-Futuromat,
2020). Die bekannten staatlichen Stellen wären das Bundesministerium für Wirtschaft
(BMWi) oder für Arbeit und Soziales (BMAS). Mit ihrem teilweise globalen Anspruch
sind viele der Publikationen oder Websites der international geprägten Profit-­Organisationen
jedoch nur in Englisch verfügbar. Übersetzungsprogramme können hier ggf. jedoch
­Abhilfe schaffen.

Und nun zum „wie“: lebenslang, nonlinear, parallel, zyklisch, tiefgehend!


Kann das „was“ mit den oben genannten Ressourcen perspektivisch erarbeitet werden,
stellt sich hier die Frage nach dem „wie“. Die Antwort kann mit fünf Adjektiven be-
schrieben werden: lebenslang, nonlinear, parallel, zyklisch, tiefgehend.

Lebenslang Wurde man um 1950 geboren, hatte bzw. hat man eine Lebenserwartung von
85 bis 90 Jahren. Man arbeitete ungefähr 41–45 Jahre (in einer oder maximal zwei
­Firmen) und ging (in Deutschland) spätestens mit 62 in Rente. Spielt man dies für weitere
Altersstufen durch, werden 2010 Geborene wahrscheinlich durchschnittlich über 102
Jahre alt – und wahrscheinlich 60 Jahre arbeiten müssen (um vielleicht noch staatliche,
rentenähnliche Bezüge zu erhalten) und erst im Alter von 81 offiziell in Rente ge­
hen können.

Ohne hier in die meist wenig erfreuliche Diskussion staatlicher Rentensysteme oder die
Notwendigkeit der betrieblichen und privaten Vorsorge einsteigen zu wollen, werden die
Möglichkeit, der Wille sowie die körperliche und geistige Fähigkeit, einer Erwerbsarbeit
(!) nachgehen zu können, essenziell für die kommenden Generationen X, Y und folgende.
Rump & Eilers (2016, S. 230) weist mit ihrem „magischen Dreieck der Employability“
darauf hin, dass Identifikation/Motivation und Gesundheit/Wohlbefinden neben den
eigentlichen Qualifikationen/Kompetenzen eine zentrale Rolle dieses Konzeptes ein-
nehmen müssen, um der Lebenswirklichkeit auch nur annähernd gerecht zu werden. Die
in technologischer Hinsicht wahrscheinlich an Dynamik noch zunehmende Lebenswelt
wird dafür sorgen, dass das viel zitierte „lebenslang zu lernen“ sich vom Konjunktiv zum
Imperativ wandelt, das Schlagwort in einem 60 Jahre währenden Erwerbsleben in (harte)
Realität verkehrt. Wie neue (digitale) Lernmethoden unterstützen können, wurde bereits in
Abschn. 2.3.2 dargestellt.

Nonlinear Das es in den oben erwähnten 60ig Jahren wie in naturgemäß neben der Phase
Ausbildung auch zu Phasen des Suchens, der Selbstständigkeit, des (erwerbslosen) Über-
gangs, der Festanstellung, dem schnellen Wechsel zwischen bezahlter und unbezahlter
Arbeit kommen wird, ist für jeden einsichtig. So ist der schrittweise Abschied vom klassi-
schen, nahezu standardisierten und linearen „3-Phasen-Modell“ hin zum sehr individuel-
320 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

len, nonlinearen „Multiphasen-Modell“ (siehe Abb. 5.27) in den nächsten Dekaden mit all
seinen Vor- und Nachteilen unausweichlich. Schon 1978 erkannte Richard Bolles (1978),
dass es die seriell aneinandergereiten „Three Boxes of Life“ auch lerntechnisch zu ver-
lassen und durch einen paralellen und interaktiven Ansatz zwischen Lernen, Arbeiten und
Spielen zu ersetzen gilt. Womit wir beim nächsten „wie“ des zukünftigen Kompetenzen-
erwerbs für Klienten wären.

Parallel Sind die Bemühungen um einen verstärkten Lerntransfer (z. B. Zielverlinkung,


Managerintegration, 10-20-70-Ansatz, Blended Learning etc.) bzw. die Effektivität und
Effizienz des Lernens generell schon lange ein Thema, ist dies auch für Baitsch (1998),
wie in Abb. 5.28 zu sehen, immer eher noch eine Vision. Vielleicht fruchten zukünftig die
vielen, seit Langem existierenden Modelle des arbeitsplatznäheren Near- und On-the-­
Job-, Experiencial oder Action-Learning unter den neuen Gegebenheiten besser und füh-
ren nun zu einer Minimierung der Trennung des Lernens von der Anwendung des Ge-
lernten. Denn würde man sich strikt im ersten Drittel oder Viertel der erwähnten 6–8 Jahre
ausschließlich dem Lernen widmen, danach der Vertiefung und im letzten Schritt auf den
auch finanziellen Ertrag hoffen, wäre dies wirtschaftlich sicher nicht tragbar. So gilt: Je
schwächer die Trennung zwischen beidem, desto größer der potenzielle, zeitliche Wett-
bewerbsvorteil, da man ja schon im Tun lernt.

Das lineare 3-Phasen-Modell Das nonlineare Multi-Phasen-Modell

Ausbildung Ausbildung

Erkundungs-/
Suchphase
p
Beschäftigung in
B
Übergangs- einer
e Organisation
phase
Erwerbstätigkeit
(Solo-)Selbst-
ständigkeit

Portfolio-
phase
Rente (Mix bezahlter
u. unbezahlter
Arbeit)

Rente

Abb. 5.27 Das alte, lineare und neue, nonlineare Lebensmodell. © Stefan Stenzel 2022. All Rights
Reserved
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 321

= Anwendung = Qualifizierung

Früher
 Stabile Prozesse Getrennte Anwendungs- u.
 Einfache Werkzeuge Qualifizierungszeiten bei
 Überschaubare vertretbarer Effizienz
Informationen

Heute (noch) Getrennte Anwendungs- u.


 Kurzlebige Prozesse Qualifizierungszeiten bei
 Komplexe Werkzeuge sinkender Effizienz
 Informationsüberfluss

Zukünftig /
Keine (gedankliche)Trennung
heute schon zwischen Anwendung und
 Lernfähige Prozesse
Qualifizierung; alle Formen des
 Adaptive Werkzeuge
Wissenserwerbs werden genutzt
 Bedarfsgerechte
Informationen

Abb. 5.28 Das Verhältnis von Qualifizierungs- und Anwendungsphasen im Wandel der Zeit.
(Quelle: Angelehnt an: Baitsch, 1998, mit freundlicher Genehmigung von © Waxmann bzw. des
Autors 1998. All Rights Reserved)

Zyklisch Diesen zeitlichen Wettbewerbsvorteil im unternehmerischen Sinne gilt es daher


auch individuell zu realisieren. Denn bewahrheitet sich die Vermutung, dass zukünftig alle
6–8 Jahre eine berufliche Umorientierung notwendig sein wird, ist sie bis zu einem ge-
wissen Maße auch vorhersehbar und planbar. „Loslassen können“ wird damit wahrschein-
lich jedoch zu dem Beschleuniger jedes neuen Transformationsprozesses. Dieser bei
Ibarra (2004, S. 34–39) als „Test-and-Learn-Model“ (vs. Plan-and-Implement-Model“)
beschriebene, zirkuläre Prozess geht davon aus, dass Menschen nicht nur eine Identität
(siehe dazu auch Abschn. 4.3) haben, sondern mehrere mögliche Identitäten, die es durch
ebendiese Experimente zu entdecken gilt. Der Start des Prozesses der Neuerfindung der
Identität besteht in einer Selbstreflexion (mit Unterstützung eines Coaches!?) darüber,
welche alternativen, beruflichen Identitäten bzw. Möglichkeiten Resonanz hervorrufen
bzw. weiterführen könnten. Nach einem Austesten verschiedener Varianten kommt es im
Idealfall zur Aktualisierung von Prioritäten bzw. zur Integration in das Selbstkonzept und
damit zu dessen Aktualisierung hinsichtlich „wer wir sind und was wir tun“. Äußeres
(sichtbares) Ergebnis ist eine erweiterte Erwerbsbiografie (meist eher durch einen Schritt
seitwärts als nach „oben“). Dass dieser potenziell zyklische Prozess sich auch beschwer-
lich oder gar schmerzhaft vollziehen kann, legt die Lebenserfahrung nahe und lässt ein
unterstützendes Coaching sinnvoll erscheinen.

Tiefgehend/profund In „The Shift“ (2011, S. 208–238) weist Gratton darauf hin, dass
Kompetenzen, die auf dem Internet – als allen zugängliche Informationsquelle – beruhen,
zu allgemeines bzw. seichtes Wissen und nur oberflächliches Können produzieren, nicht
mehr ausreichend sind. Was es nach ihrer Meinung über die z. B. 60 Berufsjahre hinweg
braucht, ist nicht mehr der sich durch die Breite des Wissens auszeichnende Generalist,
sondern der vielfältige Spezialist, welcher bei jeder neuen Berufsstation durch tiefgehende
Expertise überzeugt. Sie bezeichnet diese neue Art des Kompetenzerwerbs als „Serial
322 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Mastery“. Um diese Meisterschaft immer wieder neu zu erwerben, braucht es nach Grat-
ton die vier, respektive fünf nachfolgend skizzierten Schritte.

Schritt 1: Trotz der prognostischen Herausforderung, zukünftig geforderte Kompeten-


zen (im weiteren Umfeld der aktuellen Profession) zu erkennen, empfiehlt Gratton, diese
unter drei bzw. vier Gesichtspunkten herauszuarbeiten: erstens, warum diese Kompeten-
zen für die eigene berufliche Neuausrichtung so wertvoll werden könnten, und zweitens,
welchen Mehrwert man damit in ihrer Anwendung insbesondere auch anderen bieten
kann. Da man durch deren Einsatz letztlich Geld verdienen möchte, sollte dieser letzte
Aspekt nicht übersehen werden. Als weitere Auswahlkriterien nennt Gratton deren Selten-
heitswert und deren schnelle Imitier- bzw. Kopierbarkeit. Um diese besonderen Kompe-
tenzen für die nächste berufliche Neuausrichtung aufzustöbern, braucht es vermutlich die
Intuition und den „Riecher“ eines Trüffelschweins wie auch die Beharrlichkeit eines
Scouts. Dem Erscheinungsdatum des Buches vor 10 Jahren (2011) ist es wahrscheinlich
zuzurechnen, dass die (neue) Relevanz der in den vorherigen Abschnitten diskutierten
Basiskompetenzen noch nicht explizit erwähnt wird. Dies geschieht ansatzweise erst in
ihrem zweiten Buch (Gratton & Scott, 2017, S. 76) unter der wiederum bezeichnenden
Überschrift „Unique Human Skills“.
Schritt 2: Hat man einige zukunftsrelevante Kompetenzen für das aktuelle, angrenzende
oder völlig neue Berufsfeld identifiziert, gilt es diese kriteriengeleitet auszuwählen und in
den Kontext einer spezielleren beruflichen Tätigkeit zu setzen, um deren zusätzliche
­Implikationen zu analysieren. Als Selektionskriterien nennt Gratton die fünf in ihrem
Buch identifizierten Megatrends: Technology, Globalisierung, Demografie bzw. Lebens-
erwartung, gesellschaftliche Entwicklungen und Energie- bzw. Umweltthemen. Zur Ver-
anschaulichung der (neuen) beruflichen Kontexte oder Ausrichtungen beschreibt sie die
teils fiktive Lebensgeschichte eines Juristen, der als Anwalt der sozialen Randgruppen als
juristischer Experte gesellschaftliche Graswurzelinitiativen in den verschiedensten Be-
reichen unterstützt. Muhammad Yunus zieht sie als Musterbeispiel für sehr erfolgreiches
Social Entrepreneurship heran (Gratton, 2011, S. 214). Geglücktes Mikroentrepreneurship
veranschaulicht Gratton anhand des anhaltenden Erfolgs dieser Unternehmensform in
China und Amerika (Gratton, 2011, S. 215).
Geht es um zukunftsrelevante Kompetenzen i. e. S., sieht sie deren Realisierung in der
sozialen Arbeit, i. w. S. in den Bereichen der „Pharmaforschung und des Gesundheits-
wesens“ (Gratton, 2011, S. 217), dem Themenkomplex „Energie und Umwelt“ (Gratton,
2011, S. 218) und auch „Kreativität und Innovation“ (Gratton, 2011, S. 220). Dem
US-amerikanischen Professor Richard Florida ist es zu verdanken, dass er mit seiner Wirt-
schaftstheorie der „kreativen Klasse“ bzw. seinem Buch (in Neuauflage) „The Rise of the
Creative Class“ (Florida, 2019) die große Bedeutung der Kreativwirtschaft für die
Innovationskraft von Nationen aufzeigte (Florida & Tinagli, 2014). Die andere Seite die-
ser so bunt schillernden Lebensform ist, dass sie auch heute noch gelegentlich in prekären
Lebensverhältnissen endet. Besonders in Zeiten von COVID-19. Und manchmal sogar für
einen der fünf Arbeitsbereiche der „erkauften Zuwendung“ („5 Cs“) von dem bereits er-
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 323

wähnten Robert Reich: Computerisation, Caring, Catering, Consulting und Coaching.


Dass Gratton (2011, S. 223–224) in diesem Kontext sogar explizit (virtuelles) Coaching
als (chatbotbasierten) Service hervorhebt, überrascht dabei nicht. Denn nur die wenigsten
Coaches können ausschließlich von Coaching-Services leben. Eine Aufnahmefähigkeit
und Reife des Marktes für die diversen Spielarten des Wellbeing-Coachings sieht sie in
hoch entwickelten Industrieländern im Jahr 2025 erreicht. Dass diese Annahme nicht völ-
lig haltlos ist, belegt der aktuelle Bericht des Global Wellness Institute (Global Wellness
Institut, 2020) vom Oktober 2019. Bis 2023 wird hier über alle Wellness-Varianten und
Nationen hinweg ein Zuwachs von mindestens 5 % prognostiziert.
Schritt 3: Hat der Klient seine zu vertiefenden Kompetenzbereiche gefunden, empfiehlt
Gratton (2011, S. 225–227) letztlich das zu tun, wo man am meisten Energie und Passion
verspürt. Frei nach dem Augustinus zugeschriebenen Motto: Wenn du liebst, was du tust,
wirst du nie wieder arbeiten! Dennoch gilt es dabei die Augen für mögliche Einflüsse und
Umweltveränderungen weit offen zu halten bzw. diese nicht zu übersehen. Angesichts
eines potenziell 60 Jahre währenden Erwerbslebens sieht sie diese kombinierte Heran-
gehensweise als die einzig auch langfristig erfolgversprechende Strategie. Zudem wird
man eben nur in den Gebieten, welche man wirklich liebt, die Kreativität entwickeln, die
es brauchen wird, um konkurrenzfähig zu bleiben. Einen weiteren, wichtigen Quell der
(intrinsischen) Motivation oder des „Flows“ in der Arbeit, wie es Csikszentmihalyi nannte
(2014), sieht sie in der wahren Beherrschung eines Arbeits- und Themengebietes, womit
wir beim vierten Schritt wären.
Schritt 4: Mit einem einfachen und unmissverständlichen „Being masterful“ über-
schreibt Gratton (2022, S 227–234) den vierten Schritt, den gewünschten Zustand wie
auch das Entwicklungsziel für den Prototyp der zukünftigen Arbeitswelt. Schwingen da
unweigerlich die Meisterschaft und der (Werk-)Stolz mittelalterlicher Handwerker-
traditionen bzw. ihrer Zünfte mit, fühlt sich nicht nur Gratton an Richard Sennetts sozio-
logischen Meilenstein „The Craftsman“ (Sennett, 2008) erinnert. Mit seiner Neubewertung
der Arbeitsroutinen als geradezu meditative Wiederholung von Handbewegungen und
Arbeitsschritten, tiefem Gefühl für die Materialbeschaffenheit, ermöglicht es dem Hand-
werker nach Sennett, dass der Schaffensprozess wie auch das Endprodukt ihm in „Fleisch
und Blut“ übergehen und die Arbeit letztlich als nicht entfremdet erlebt wird. Wiederum
sind hier gewisse Parallelen zum Flow-Konzept Csikszentmihalyis (2014) unübersehbar.
Als Ausdruck der Meisterschaft bzw. Identifikation mit und Verantwortung für das Werk-
stück ermöglicht Mercedes-Benz mit dem Produktionsprinzip „One man, one engine“
(Mercedes-Benz, 2020) den einzelnen Erbauern, auf jedem AMG V8-Motor eine hand-
signierte Plakette anzubringen. Derart werden „Human Resources“ zu „Human Assets“,
das „einfache“ Handwerk zum Kunsthandwerk „geadelt“ und die Werkhalle zur Manu-
faktur, in der dann z. B. „Motoren mit Seele“ entstehen. Im Wiederbeleben des Manufaktur-
gedankens fühlt man sich zudem an das oben bereits beschriebene „New Global Architec-
ture“-Programm in den Produktionshallen von Toyota erinnert. Dass aber auch im nicht
handwerklichen IT-Bereich z. B. auf so etwas wie „Werkstolz“ als Resultat befriedigender
Arbeit Bezug genommen und mit diesem Gefühl geworben wird, zeigen die Signaturen
324 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

der Programmierer-Community der Open-Source-Software LINUX. Ein weiteres Beispiel


wäre die Personalmarketingkampagne „Werkstolz“ der Telekom (2020) auf Twitter (Twit-
ter: #werkstolz) und Instagram (Instagram: #werkstolz). Zu prüfen wäre, inwieweit sich
die Mitarbeiter dieser Firmen(teile) auch als Community mit den von Gratton erwähnten
Traditionen bzw. dem Geist eines Zunftwesens (in Deutschland) identifizieren könnten
und inwieweit man den damit verbundenen Arbeits- und Lernstil (z. B. Ausbildungs-
ordnung des Handwerks, Lehr- und Wanderjahre etc.) sowie die damit verbundenen Werte
für die Zukunft fruchtbar machen könnte. Ohne die leicht mitschwingende Romantisie-
rung dieses veredelten Bildes des Handwerks könnte man zudem vermuten, dass bei
­nachhaltigerem Erfolg bei der „Humanisierung der Arbeitswelt“ (Neuberger,1980) in den
70ern es heute mehr „stolze Handwerker“ in den Betrieben geben würde.
Eine Örtlichkeit zu haben, wo sich die (werdenden) „Meister“ treffen und austauschen
können, darin sieht Gratton einen ersten Ansatzpunkt. Waren dies im Mittelalter die
Meisterwerkstätten, die Zunfthäuser oder Klöster, könnten dies heute spezielle (virtuelle)
Communitys, Coworkingspaces oder Verbände sein. Ferner baut sie auf die moderne
Lerntechnologie, um in teilweise von großer Hektik und wenig Fokus bzw. Konzentration
geprägten Zeiten die vermeintlich benötigten 10.000 Praxisstunden zur Erreichung von
Meisterschaft (Gladwell, 2009) vielleicht etwas reduzieren zu können. Entsprechende
(meditative) Konzentrations- oder Achtsamkeitsübungen scheinen daher heutzutage eine
Voraussetzung, um diesem Ziel zumindest einen Schritt näher zu kommen. Als dritten An-
satzpunkt sieht Gratton das „Personal Branding“ i. S. der Entwicklung einer Reputation
für ein Spezialgebiet, was fern von marktschreierischen Egotrips das Ergebnis eines ver-
innerlichten und daher beharrlich gelebten, umfassenden und hohen Qualitätsniveaus ist.
Dazu mehr im übernächsten Abschnitt. Das Spiel sieht sie als vierten Quell der Meister-
schaft. Denn immer, wenn wir Dinge tun, die wir sonst nicht tun, wir Dinge stoppen, die
wir sonst tun, wenn wir den Dingen freien Lauf lassen, die wir normalerweise regulieren,
oder sogar alles auf den Kopf stellen, beginnen wir zu spielen und sind im Zustand des
Flows offen für Neues. Halb geplant, halb durch Zufall entdecken wir einfachere, schnel-
lere und eben auch neue Wege, um noch besser zu werden.
Schritt 5: Da es das Konzept der „Serial Mastery“ – wie der Name schon sagt – nicht
zulässt, sich auf dem Erreichten – „seinen Lorbeeren“ – auszuruhen, ist es im fünften
Schritt an der Zeit, (parallel) in neue Arbeitsgebiete vorzustoßen und dadurch eine neue
Identität der Persönlichkeit zu entdecken. Dabei rekurriert Gratton wiederum auf das Mo-
dell der „Working Identity“ (Ibarra, 2004, S. 39), welches von der Vielfalt der Identitäten
eines Menschen ausgeht und einen experimentellen Test- und Lernprozess zur beruflichen
Neuorientierung als zielführend sieht. Dies kontrastiert mit der bisherigen Sichtweise des
mittels Introspektion zu identifizierenden „einen, wahren Modells des Selbst“ (wurzelnd
z. B. im familiären Hintergrund oder in besonders prägenden Ereignissen) und der
sich daran anschließenden Laufbahnänderung durch einen stringenten Planungs- und
Implementierungsprozess. Der damit verbunde, zirkuläre Erneuerungsprozess wurde be-
reits dargestellt.
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 325

Zur besseren Illustrierung dessen, was hier mit dem Konzept der „Serial Mastery“ ge-
meint ist, hilft womöglich die Erinnerung an die oft mehrere Jahrzehnte anhaltenden Ver-
änderungen von Stil und/oder Aussehen großer weltbekannter Künstler wie Picasso oder
Madonna. Egal wie sie sich künstlerisch oder was sie vom Auftreten her an sich änderten –
der weltweite Erfolg war ihnen aufgrund ihrer ausgefeilten Performances sicher. Weniger
populäre Beispiele beschreibt Gratton in dem Management-Consultant, der zunächst
Dokumentarfilmer und letztlich Aktivist wird, dem Senior Executive, der als Autor und
dann als Coach arbeitet, oder dem Aktienhändler, der zunächst ins Recruitinggeschäft ein-
steigt und als Comedian beim Edinburgh Festival auftritt. Nicht übersehen werden sollte
dabei, dass deren (finanzielles) Risiko, nach Jahren in hoch bezahlten Tätigkeiten in eta­
blierten Berufen, wahrscheinlich eher gering war – sie sich voller Spielfreude und sehr
entspannnt auf Neues bzw. das Experimentieren hinsichtlich ihrer Zukunft einlassen
konnten.

Einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht


Gehört zukünftig der Wechsel zwischen Festanstellung und atypischen Beschäftigungs-
formen (siehe Abschn. 5.3) eher zur neuen Normalität, wird der Bewerbungsprozess bzw.
die entsprechenden Vorbereitungen zum Alltagsgeschäft. Konkret heißt dies, dass die
berufliche Außendarstellung über XING- und/oder LinkedIn-Profil (Wolff & Koß, 2020)
zumindest faktisch auf dem neuesten Stand sein sollte. Freunde von Social Media werden
zusätzlich einen Instagram- oder Facebook-Account pflegen. Doch das reicht wahrschein-
lich zukünftig nicht mehr, da heutzutage bereits sehr viele Berufstätige zumindest einen
XING- und/oder LinkedIn-Account (Löser, 2020) besitzen.

So ist gezieltes Selbstmarketing oder sogenanntes „Personal Branding“ gefordert, um


nicht nur eine möglichst unverwechselbare Expertise zu besitzen, sondern diese auch in
einer zum Individuum passenden Weise (Schulz et al., 2020) nach außen zu kommunizie-
ren. Ferner – und das ist nicht nur für Gratton (2011, S. 238–255) besonders wichtig –
muss diese Außendarstellung authentisch und, z. B. durch Kommentare oder Empfehlun-
gen von Kunden oder Kollegen, glaubwürdig sein. Ob man es als Ausdruck des aktuell um
sich greifenden Narzissmus sieht oder als eine zu verdammende kapitalistische bzw. neo-
liberale Sichtweise des Menschen als Ware, die es zu vermarkten gilt: Jeder Arbeitskraft-
unternehmer muss (mithilfe eines Coaches!?) herausfinden, was sich „stimmig anfühlt“
und auch bei den anvisierten Kunden genügend Resonanz erzeugt.
Erneut auf das Zunftwesen der Handwerker Bezug nehmend, sieht Gratton (2011,
S. 248–250) (virtuelle) Communitys und Verbände als potenziell reputationsfördernde
Maßnahmen für den Arbeitskraftunternehmer. Als professionelle Heimat und hoffentlich
jenseits von Vereinsmeierei bieten sie im Idealfall eine Plattform zur Bildung von Markt-
standards und z. B. Service- oder Produktdefinitionen, zur Ausbildung einer Professions-
identität und -kultur, zu fachlichen und überfachlichen Diskussionen wie auch zur Defini-
tion der Qualifikationsanforderungen inklusive der dazugehörigen Ausbildungs- respektive
Prüfungsordnung und -kultur. Die von Bernd Schmid beschriebene Entwicklung der Ver-
326 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

bandskultur für die Transaktionsanalytiker (TA) kann hier als ein lebendiges Beispiel
herangezogen werden (Schmid, 2003, S. 203–209).
Eine weitere „Unique Selling Proposition“ (USP) des Arbeitskraftunternehmers der
Zukunft könnte das Patchwork-Arrangement des individuellen Karrieremusters sein.
Riss nach Erikson (2008, S. 77) die traditionelle Karrierekurve mit dem Rentenbeginn
­abrupt ab, findet man heute immer häufiger einen glockenkurvigen Verlauf bis zu ca. 50
Jahren, gefolgt von einer Phase des sanften Ab- und Ausstiegs in den 80ern. Immer häufi-
ger ersetzt oder aber ergänzt werden diese Verläufe jedoch um das, was Erikson eine
„Glockenspiel“-Kurve (Carillion Curve) nennt. Wie in einem Glockenturm hängt dort
meist nicht nur eine, sondern mehrere und auch verschieden große Glocken nebeneinander.
Betrachtet man nur die äußeren Umrisse des Glockenensembles, ergibt sich eine sanfte
Linie, die gerade, ansteigende und absteigende Linien enthält. Dieses Auf und Ab kenn-
zeichnet dabei die Karriere- und auch Lebenslinie, die durch eine mosaikartige Zu-
sammenstellung verschiedenster beruflicher Phasen geformt wurde. Dies deckt sich auch
mit den in Abb. 5.27 skizzierten, nonlinearen Lebensverläufen. Und nonlinear bzw. „un-
normal“ ist in Zukunft wahrscheinlich „the new normal“ und macht mit seinen „bunten und
interessant geformten Mosaiksteinen“ einen Unterschied, der einen Unterschied macht.
Und das weckt Interesse! Ohne die entsprechenden Ausführungen des Abschn. 2.4.5.1
vorwegnehmen zu wollen, ist auch jetzt schon offensichtlich, dass Veränderungen in der
Unternehmensorganisation und neue Beschäftigungsformen auch das zukünftige Ver-
ständnis der Karriereentwicklung nicht unberührt lassen werden.

5.4.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Wurden im vorangegangenen Kapitel die Auswirkungen der Kompetenzdiskussion auf


den Klienten diskutiert, wäre nun die Frage, welchen Einfluss dies auf die Strukturen, die
Formate und Inhalte eines Coaching-Services haben könnte. Da die anzusprechenden The-
men sich mit den Laufbahnthemen teilweise überlappen, werden sie etwas länger oder
kürzer ausgeführt.
Gibt es Coaching- bzw. Trainingsanbieter, welche die oben viel beschworenen „Power
Skills“ (z. B. Kreativität, Resilienz etc.) notgedrungen (auch) für trainierbar halten, wer-
den Kombinations- oder Cross-Selling-Angebote eines (virtuellen) Tranings(-tages), ge-
folgt von einigen transferfördernden Coaching-Stunden als Kombipackung nicht lange auf
sich warten lassen (bzw. gibt es sie aller Wahrscheinlichkeit nach schon). Ist in einem
solchen Setting erst einmal Vertrauen aufgebaut, können vom (Plattform-)Anbieter viel-
leicht zusätzlich höherpreisige Coaching-Stunden verkauft werden. Plattformanbieter
haben hier den Vorteil, beide Formate über eine IT-Basis (inkl. Apps) anbieten und organi-
satorisch wie inhaltlich beides besser integrieren zu können.
Doch wie bereits oben angedeutet, könnte nicht nur klassisches „Off-the-Job-Training“
(in virtualisierter und preisgünstigerer Form) damit eine Renaissance erleben, sondern –
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 327

da mit wenig Transferaufwand verbunden und damit „schneller“ – alle „On-the-Job“-For-


mate des Erfahrungslernens (Kolb & Kolb, 2017). Dem Coach würde dabei die Rolle
des Lerndesigners und/oder Lernbegleiters zukommen. Das Coaching und die stark auf
Reflexion angelegte Gestaltung der Lernarchitektur der Assignments (Lombardo & Ro-
bert, 2003) helfen dabei, eine rein konzeptuelle Wissensaufnahme zu vermeiden.
Würde der Coach durch die konstanten Lernanforderungen zu einem „Lebens-
abschnittspartner“ werden, erfordert ein verantwortungsvolles, „ganzheitliches“ Coaching
zumindest den Hinweis oder sogar das Angebot von (mehreren) Kollaborationspartnern
auf ein Netzwerk oder einen Pool von Spezialisten. Diese Experten könnten den Klienten
auch die finanzielle und versicherungstechnische Seite z. B. der „Selbst GmbH“ (z. B. für
die Rente) aufzeigen oder sie bei der Ausarbeitung eines „Personal Brand“ unterstützen.
Wie glaubhaft und fruchtbar diese dann Coaching-Ansätze mit dem Spezialthema (z. B.
dem heute schon recht verbreiteten Finanzcoaching) verbinden, ist wahrscheinlich nur im
Einzelfall beurteilbar. Die damit jedoch unweigerlich verbundene Seriositätsthematik
wurde schon an anderer Stelle thematisiert.
Bewahrheitet es sich, dass die kommenden Generationen sehr viel länger im Erwerbs-
prozess bleiben müssen, eröffnet sich für Coaches automatisch die „Kundengruppe der
Älteren“, die es zu verstehen gilt. Wären dies in den nächsten 10 bis 30 Jahren auf jeden
Fall die Babyboomer gefolgt von der Generation X, wären ein gewisses Hintergrund-
wissen zu diesen Kohorten (siehe Abschn. 3.1) und generelle Kenntnis der Spezifika die-
ser Zielgruppen (Wahl, 2017) zur Gestaltung entsprechender Angebote sicher hilfreich.

5.4.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Durch die inhaltlich enge Kopplung von Kompetenz- und Karriereentwicklung und ihre
Auswirkungen auf den Coach sollen sie etwas ausführlicher oder knapper ausge­
führt werden.
Anknüpfend an das Abschn. 3.1 fordert die neue Kundengruppe der Älteren vom Coach
womöglich ein Spezialwissen über die Lernprozesse im Alter, welches die meisten Coa-
ches vermutlich nicht haben. Denn gleich, ob man sie heute schon von den Marketingab-
teilungen infolge ihrer Kaufkraft als „Silver Surfer“, „Best“ oder „Golden Ager“ be-
zeichnet, werden einige von ihnen sich auch in ihrem „Unruhestand“ 2030 oder 2040 mit
dem sicher nicht abnehmenden Innovationstempo und den sich daraus ergebenden Lern-
ansprüchen auseinandersetzen müssen oder wollen. Die Besonderheit des Lernens im
Alter – der Geragogik (Bubolz-Lutz et al., 2017) – zu kennen (Schmidt-Hertha, 2014),
könnte daher ebenfalls von Interesse für zukünftige Coaches sein.
Inwieweit der Coach auch in die Rolle des sachthemenbezogenen Lernbegleiters
(nicht Trainer!) schlüpfen möchte bzw. dies als Coaching verstehen kann und will, bleibt
wohl jedem selbst überlassen. Im weiteren Sinne ist jedes Coaching eine Art „Lern-
begleitung“ und um Lernmotivation oder Lernhemmungen geht es in diesem Kontext
allemal.
328 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Eine Art „Lernbegleiter“ in eigener Sache müssen wahrscheinlich die Coaches der Ge-
neration der Babyboomer hinsichtlich ihrer digitalen bzw. technischen Kompetenzen
sein. Bezog sich das Lernen in den vergangenen Jahren „nur“ auf die Beherrschung des
Betriebssystems und von Standardanwendungen von z. B. Microsoft Office, ist es (auch
durch COVID-19) immer häufiger Kollaborationssoftware, welche die gemeinsame (vir-
tuelle) verbale (z. B. ZOOM), visuelle (z. B. MURAL) oder projektmäßige (z. B. Ruum)
Zusammenarbeit erleichtern soll. Gleiches gilt für die E-Coaching-Tools-­Softwareangebote
(Geißler, 2016) wie z. B. die Plattform CAI©. Nach der Untersuchung von Sakowski und
Ahrens (Sakowski & Ahrens, 2020) hält selbst 2020 nur ein Drittel der Coaches den Ein-
satz digitaler Medien (Video- oder Internettelefonie, Chat, Mobile Messages, E-Mail) für
wichtig und mehr als ein Drittel hält ihn sogar für unwichtig. Da – wie Sakowski und
Ahrens (2020, S. 54) resümieren – diese digitalen Medien nicht verschwinden und spätes-
tens von der nun den Arbeitsmarkt betretenden Generation Z als normal angesehen wer-
den, muss sich jeder Coach überlegen, wie er zumindest mittelfristig wettbewerbsfähig
beiben will. Langfristig bedarf es darüber hinaus wahrscheinlich des in Abschn. 2.1.3 be-
reits erwähnten generellen technischen Interesses bzw. einer gewissen Neugier und Affini-
tät zu diesen Bereichen, sodass Coaches technische Endgeräte, wie z. B. das Tablet, für
das Coaching einsetzen (Holtmeier & Mertin, 2012) oder sogar zur Verfolgung und Er-
probung der in Abschn. 2.1 beschriebenen neuen technischen Gadgets oder Wearables
motiviert sind. Als Überbegriff für die hier beschriebenen Sachverhalte führt dazu das
Kap. 6 die sogenannte „Digital Literacy“ ein, die es aus einer ethischen Verantwortung
heraus zu stärken gilt.
Und geht es angesichts der permanent hohen Lernanforderungen um ein verbessertes
„gehirngerechtes Lernen“, dann hat ca. 40 Jahre nach der 54. Auflage von Vera Birkenbiels
„Stroh im Kopf“ (Birkenbiel, 2013) die Forschung im Bereich Neurodidaktik (Folta-­
Schoofs & Ostermann, 2019) sicher dazu beigetragen, die Möglichkeiten und Be-
grenzungen der mit den unterschiedlichen Lernprozessen einhergehenden neuroplastischen
Veränderungen des Gehirns – bei allen Vorbehalten, die es für das Fach gibt – für die
Praxis besser zu machen.
Als vermeintliches „Heimspiel“ für Coaches könnte man die offensichtlich zukünftig
zunehmende Bedeutung der Soft Skills oder „Power Skills“ im Rahmen der Employabi-
lity sehen. Wer sich mit ihnen jedoch konzeptionell ernsthafter auseinandergesetzt hat,
weiß, dass die Qualitäten der empirischen Validierungen sehr unterschiedlich sind. Unter-
stützen einige Unternehmen indirekt (z. B. über die Raumgestaltung) auch in den Genen
wurzelnde Eigenschaften (z. B. Kreativität), wäre es mit der geforderten Redlichkeit und
aus pragmatischen Gründen zu vertreten, den Klienten hier nach bestem Wissen und Ge-
wissen bzw. in Zusammenarbeit mit entsprechenden Expert:innen zu begleiten.
Ähnlich verhält es sich mit den Transformationsprozessen, die für viele Coaches kein
Neuland darstellen. Neu ist jedoch, die potenziell kürzeren und häufigeren Zyklen.
Genauso wie eine völlige Umorientierung wie vom vorgestellten Ibarra-Modell vor-
geschlagen. Die vielfältigen Veränderungen wiederum können auch sehr eng an das Thema
„Resilienzentwicklung“ gekoppelt sein. Mit dem noch verbesserungsfähigen empiri-
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 329

schen Unterbau stellen sich jedoch ähnliche Herausforderungen wie bei den „Power
Skills“. Ein anderes Thema, welches sich für den Coach im Kontext des häufigeren Wech-
sels des Vertragspartners des Klienten ergeben könnte, wäre die schon mehrfach erwähnte,
individuelle Klärung der Erwartungen im Rahmen des „psychologischen Kontraktes“
(siehe auch Abschn. 5.3.1).
Denkt man angesichts der dynamischen Zeiten in der realen Welt der Wirtschaft, wie
oben dargestellt, in den letzten Jahren darüber nach, allzu detaillierte Job- und Kompetenz-
profile wieder abzuschaffen (Bersin, 2016), haben Christoph Rauen und Ingo Steinke
(2018) mit viel Aufwand und sogar unter Einbeziehung eines DIN-normierten Modells
einen Katalog für Kompetenzen für Business-Coaches mit beeindruckenden 117 Kom-
petenzen mit 323 Verhaltensankern geschaffen. Sind die bestimmenden Themen der letz-
ten Jahre in der Businesswelt Innovation, Disruption, Digitalisierung, Agilität etc., fragt
man sich jedoch, wie ein Coach an diese hoch dynamische Wirtschaftswelt ankoppeln soll,
wenn dessen „Zukunftsorientierung“ in dem Profil nur unter der Kompetenzklasse
„Persönlichkeit“ zu finden ist, und hier nur in dem Kompetenzcluster „Lern- und Ent-
wicklungsfähigkeit“ mit den Verhaltensankern „Lern- und Weiterentwicklungsbereit-
schaft“, „flexibles Agieren“ und „Offenheit für Veränderungen“ besteht. Sicher kann man
diese Zukunftsorientierung hier „irgendwie“ unterbringen – aber gerade mit dem „irgend-
wie“ geht genau der wahrscheinlich intendierte Mehrwert verloren, den man für die Nut-
zung in der Praxis (z. B. für Assessment und/oder Trainingszwecke) benötigen würde. Der
Begriff „Innovation“ taucht nur einmal im Kerndokument (Steinke & Rauen, 2018) im
Kontext der intuitiven Wahrnehmungsfähigkeit (Steinke & Rauen, 2018, S. 21) in der Va-
riante „Innovationsfreudigkeit“ auf. Angesichts dieser ersten, beispielhaften Überlegungen
zu dem Modell von Rauen & Steinke bedarf es wahrscheinlich weiterer Diskussionen,
inwieweit es die von ihnen proklamierten Funktionen erfüllen kann. Denn soll es in dieser
Form wirklich eine (1) Definitions- und Repräsentationsfunktion erfüllen, wünscht man
sich z. B. hinsichtlich des Definitionsanspruchs eine einleitende, zukunftsweisende Pro­
blematisierung des Kompetenzbegriffes, wie sich Kompetenz inhaltlich zusammensetzen
soll (z. B. aus Fähigkeiten und/oder Fertigkeiten; inklusive oder exklusive des Wissens
etc.), und nicht nur die – wenn auch gründliche – Rezeption des Bestehenden. Mit dem
einfachen Hinweis, dass das Verhältnis von Kompetenzen und Kategoriebildung in der
Psychologie unklar bleibt und ist, wird die proklamierte (Maßstäbe setzende) Definitions-
funktion nur sehr unzureichend erfüllt. Hinsichtlich der Repräsentationsfunktion wäre zu
diskutieren, inwieweit man ein per se eigentlich auf Zukunft ausgerichtetes Coaching mit
nur einem Kompetenzcluster „Lern- und Weiterentwicklungsbereitschaft“ wirklich reprä-
sentiert sieht. Sollte das Modell ferner helfen, Coaching von anderen Ansätzen abzu-
grenzen, wäre zu überprüfen, wie ähnlich z. B. zehn verschiedene Ausbildungsanbieter
von Coaching die oben angeführten Verhaltensanker für „Lern- und Weiterentwicklungs-
bereitschaft“, „flexibles Agieren“ und „Offenheit für Veränderungen“ für das Kompetenz-
cluster „Lern- und Entwicklungsfähigkeit“ in ihren Curricula umsetzen. Wer entscheidet
dann, welche dieser zehn, wahrscheinlich eher heterogen ausfallenden Umsetzungen das
„wahre und richtige“ Coaching repräsentieren und „die besten“ Coaches hervorbringen?
330 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Dies stellt zugleich die Erfüllung der Funktion als eine Richtschnur für die bessere, „rich-
tige“ (2) Ausbildung von Coaches infrage. Ferner verabschiedet man sich aktuell, wie
eingangs erwähnt, in der modernen Wirtschaftswelt zunehmend von sehr detaillierten
Kompetenzmodellen, da deren Aktualisierungsaufwand in dynamischen Zeiten zu groß
ist. Damit ist aber zum einen deren pragmatischer Nutzen zur Beschreibung der Kompe-
tenzen der Belegschaft, zum anderen als Basis für die Konzeption von Weiterbildungen zu
gering. So stellt man sich z. B. die Frage, was (3) genau man mit der immer subjektiven
(→ Stichwort: „der denkende Proband“ bzw. wer füllt das Assessment wann aus?) Evalua-
tion mit der speziellen Ausprägungsstufe „mittel“ beim Verhaltensanker „Offenheit für
Veränderungen“ auf den verschiedenen Kompetenzleveln (hoch, mittel, niedrig) meint.
Und noch wichtiger: was dies hinsichtlich der Konsequenzen praktisch bedeuten könnte.
Wie unterscheiden sich z. B. die (Entwicklungs-)Maßnahmen bei der Bewertung „mittel“
von der Bewertung „niedrig“? Und ab wann ist man bei einer hohen Bewertung des Ver-
haltensankers – also „immer offen für alles“ – schon nicht mehr ganz dicht? Der kleine
Kalauer am Ende soll erneut akzentuieren, warum auch führende Unternehmen in der Welt
sich von diesen konzeptionell wie praktisch wenig hilfreichen, traditionellen Ansätzen
nach den Beobachtungen des Autors zunehmend distanzieren und sie wahrscheinlich auch
in der Praxis trotz der 117 Kompetenzen mit 323 Verhaltensankern durch die mangelnde
Praxistauglichkeit eher mit Zurückhaltung für die Rekrutierung ihrer internen und ex-
ternen Coach-Pools einsetzen werden. Die International Coaching Federation geht hier
mit ihren vier Kompetenzclustern und acht Kompetenzen und 64 Verhaltensankern in eine
andere Richtung (ICF Deutschland, 2021). Eine weiter offene Frage hinsichtlich der
Praxistauglichkeit ist, wie Ausbilder von Coaches mit der angesprochenen Diagnose-­
Interventions-­Problematik umgehen sollen. Überdies würde man sich für eine seriöse
Empfehlung bzgl. eines Einsatzes als Assessmentbasis i.S. angewandter Testtheorie zuvor
zahlreiche Validierungsstudien des Modells wünschen. Diese sollten z. B. belegen, dass
Coaches mit hohen Scores auf den Kompetenzen in den Augen der Endkund:innen auch
eine bessere Arbeit machen oder dass man gute von schlechten Coaches bei der Be-
obachtung ihrer Arbeit anhand der Skala mit den 323 Verhaltensankern unterscheiden
kann. Man wird sehen, wann und was die auch von Rauen & Steinke 2018 angekündigte,
wissenschaftliche Konstruktvalidierung z. B. im Rahmen einer Dissertation erbringt. Bis
dahin ist es nur eine weitere – wenn auch konzeptionell fundierte – Zusammenstellung
von Kompetenzen. Haben Rauen & Steinke als eine weitere Funktion klugerweise die
Möglichkeit vorgesehen, (4) „[…] strategisch relevante Anforderungen […], die sich auf
den zukünftig gewünschten Zustand beziehen“, nachträglich zu integrieren, wäre dies aus
Sicht des Autors schon drei Jahre nach Veröffentlichung des Kompetenzmodells dringend
notwendig – was das Argument der Aktualitätsproblematik erneut unterstreicht.
So fragt man sich z. B., warum bei einer Veröffentlichung des Modells 2018 die
Methodenkompetenz des digitalen Coachings fehlt, obwohl bereits 2012 dazu ernstzu-
nehmende Publikationen (z. B. Geissler, 2012) vorlagen. Auch findet die wahrscheinlich
schon seit mehr als 10 Jahren diskutierte Auflösung oder Entgrenzung zwischen Arbeits-
und Privatwelt (die sich durch COVID-19 als „Homeoffice-Katalysator“ besonders deut-
5.4 Kompetenzaufbau und -erhalt: Nie war er wichtiger als heute! 331

lich gezeigt hat) keinen Eingang in das Konzept. Mit einem wissenschaftlich-empirischen
Anspruch der Arbeit ist deren angeführte Definition „der Mensch in der Arbeitswelt“ eher
unbefriedigend. Zudem ist der Geltungsbereich des Begriffs „Business“ nicht eindeutig
geklärt und der Coach selbst benötigt offensichtlich keinerlei Businesskompetenzen
(i. e. S.), um als (Solo-)Selbstständige(r) sich im Markt behaupten zu können. Ferner wäre
zu prüfen, inwieweit die vom DBVC-Präsidium (DBVC, 2017) zur Diskussion gestellte
Organisationsentwicklungskompetenz beim Coach integriert werden sollte.
Eine Funktion, welche das vorliegende, eher traditionelle und wenig praxistaugliche
Kompetenzmodell auf jeden Fall erfüllt, ist, dass es ein weiterer Indikator für den in der
Einleitung des Buches dargestellten Geist von Teilen der aktuellen deutschen Coaching-­
Szene ist – jedoch damit auch Anregung für einen „zukünftig gewünschten Zustand“ der
Community liefern könnte: generell mehr Business- bzw. Lebensbezug – vor allem aber
Themenaktualität bei den erforderlichen Kompetenzen bei den Coaches (für Klienten im
Bereich Arbeit 4.0 bzw. Industrie 4.0) für die unmittelbare Arbeit sowie hinsichtlich der
eigenen Geschäftstätigkeit des Coaches (Stichworte: Kollaborationssoftware, Plattformen,
VR, Social-Media-Marketing etc.) selbst. Ansonsten werden diese ihre Ankopplungs-
fähigkeit in der modernen Arbeitswelt und den kommenden Kundengenerationen (Gen Y,
Z ff.) zunehmend an Scharlatane oder sogar an bis dato sehr bescheiden agierende „Di-
gital Assistants/Humans“ mit „Conversational Artificial Intelligence“ verlieren.
Um konstruktiv an einer Veränderung dieses Zustandes von Teilen der Community mit-
zuarbeiten, aber auch i. S. der professionellen Reputation, wäre mit Lynda Gratton (2011,
S. 248–250) das tatkräftige Engagement in einem der vielen Verbände im Coaching ein
lohnendes Investment. Denn je stärker die Verbandsreputation durch das konkrete Engage-
ment der Mitglieder wächst, desto stärker strahlt diese auch auf den Einzelnen ab und
sorgt im Idealfall für ein „Return on Investment“ zumindest der evtl. anfallenden Mit-
gliedsbeiträge. Neben sehr speziellen Themen, wie den obigen, kann es hier im Idealfall
zur marktbeeinflussenden Diskussion und letztlich zur Definition von professionellen und
ggf. damit auch allgemeingültigen Standards kommen. In Zeiten, in denen von völligen
Coaching-Neulingen gegründete Digital-Coaching-Plattform-Startups (siehe Abschn. 5.1)
den Markt für sich definieren bzw. erobern wollen, wäre dies mehr als wünschenswert.
Doch aktuell sieht es gemäß Fietze & Salomon (2021) nicht danach aus, dass man von den
Verbänden entsprechende Impulse erwarten könnte.
Da sehr viele Coaches schon heute selbst in der Rolle von Arbeitskraftunternehmern
atypisch beschäftigt oder soloselbstständig sind, wäre eine letzte Konsequenz, dass sie
hinsichtlich der in Abschn. 5.4.1 für den Klienten dargestellten Themen für den Klienten
bereits selbst als Rollenmodell agieren könnten. Werden sie von heutigen, sich oft in nor-
malen Arbeitsverhältnissen befindenden Klienten in ihrem Freelancer-Dasein zuweilen
sogar noch als „Paradiesvögel“ gesehen, könnte sich dies in den kommenden Jahren
(z. B. auch infolge der wirtschaftlichen Belastungen der Unternehmen durch COVID-19)
sukzessive verändern. Weiß jeder sozialwissenschaftlich vorgebildete Coach, dass Albert
Banduras Vorbildlernen (sofern sich der Beobachter mit dem Beobachteten identifizieren
kann) die effektivste und effiziente Form des Lernens ist, kann der Coach im Idealfall
332 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

schon durch die Authentizität und Glaubwürdigkeit hinsichtlich der gelebten (z. B. Free-
lancer-)Rolle Veränderungsprozesse anstoßen bzw. wachhalten. Gleiches gilt für die An-
kopplungsfähigkeit des Coaches bei jüngeren bzw. neuen Kundengruppen.

5.5  on der Laufbahn und Karriere zur Erwerbsbiografie


V
in einem sehr langen Erwerbsleben

Sollen hier die Themenbereiche Laufbahn, Karriere und Erwerbsbiografie zur Sprache
kommen, wäre es ebenso passend gewesen, die potenziell massiven, strukturellen (und
kulturellen) Veränderungen von (Profit- und Non-Profit-)Organisationen zu thematisieren,
welche durch die Digitalisierung angestoßen wurden. Wie bereits bei den Geschäfts-
modellen angeführt, geht es dabei um die Minimierung der Transaktionskosten durch in-
effektive und ineffiziente organisatorische Strukturen und Produktionsprozesse bei gleich-
zeitiger Maximierung der flexiblen und entweder reaktiven oder möglichst schnellen
Anpassung an sich wandelnde Märkte. Oder besser noch: um die (pro-)aktive Anpassung
an die selbst initiierten Marktveränderungen mittels eines möglichst disruptiven Produk-
tes. In beiden Fällen geht es im Kern damit um eine möglichst flexible Organisationsform,
die eher einem Netzwerk als der traditionellen Pyramide gleicht und im Zuge der Digita-
lisierung zudem weder zwingend physisch existieren muss noch auf Dauer angelegt sein
wird. Was dazu nicht passt, sind die bisherigen Vorstellungen von einer vorgezeichneten
eher stabilen beruflichen Laufbahn oder „Karriere“.
Assoziiert man heutzutage noch mit dem Begriff „Laufbahn“ einen in gewisser Weise
vorgespurten Weg zu einem beruflichen Ziel (z. B. eine bestimmte Ebene, Rolle oder
Funktion), wird in Anbetracht der obigen Ausführungen die schwindende Zukunftsfähig-
keit des Begriffes schnell deutlich. Denn weder die Wege noch die Ziele werden lang
genug existieren, um im Nachhinein seinen Mitmenschen nachvollziehbar darstellen zu
können, wie die eigene Laufbahn über die verschiedenen Ebenen, Rollen und Funktionen
verlaufen ist und welche Wertigkeit diese hatte, da der Referenzrahmen schlichtweg nicht
mehr existiert.
Ähnliches gilt für das Verständnis von „Karriere“. Steht diese heute landläufig noch
für (a) den strukturellen – genauer gesagt – vertikalen Aufstieg in einer Hierarchie oder
aber in einem (b) sozialpsychologischen oder soziologischen Sinne dafür, „es geschafft zu
haben“, die soziale Leiter beharrlich und letztlich erfolgreich emporgeklommen zu sein,
werden derartige „Erfolgsgeschichten“ in notwendigerweise veränderlichen Organisatio-
nen immer seltener werden. Nicht unberührt davon bleibt auch die (c) psychologische
Dimension des Stolzes, aus eigener Kraft und aus eigenem Vermögen so weit gekommen
und nun endlich im Besitz einer wie auch immer gearteten Macht zu sein. Denn wie ver-
misst man hierarchische oder soziale Distanz oder eine Position in einem fluiden, sich
permanent wandelnden Körper? Zudem fällt es zumindest dem Autor schwer, den klassi-
5.5 Von der Laufbahn und Karriere zur Erwerbsbiografie in einem sehr langen … 333

schen Karrierebegriff10 in Zusammenhang mit den sich weiterhin ausbreitenden und ma-
ximale Flexibilität fordernden Arbeitsformen, wie z. B. dem „Crowdworking“, oder ande-
ren atypischen (und potenziell sogar prekären) Arbeitsformen zu bringen.
Beschreibt der umfassendere Begriff der „Erwerbsbiografie“ auf einer sehr abstrakten
Ebene zum einen die Entwicklungsrichtungen bzw. Verweilzeiten in einer oder mehreren
Organisationen, die auf einer vertraglichen Basis eine relativ klar definierte Rolle und
Arbeitsleistung gegen systematische Zahlung anbieten – zum anderen die Stationen auf
dem Weg zu einem mehr oder minder geplanten Berufsziel bei sich verändernden Moti-
ven, Fertigkeiten und Fähigkeiten im Wechselspiel mit anderen Lebensbereichen, ist dies
wahrscheinlich eine Betrachtungsweise, die noch am meisten Potenzial für die Zukunft hat.

5.5.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Mithin sind Patchwork-Arrangements oder auch ein Mosaik oder Kaleidoskop für Er-
werbsbiografien, die von Multidirektionalität, inhaltlicher Variabilität, instabilen Ziel-
positionen („moving target“) und der zeitlichen Diskontinuität der zukünftigen
Organisationsstrukturen geprägt sind, als Sinnbilder wohl am geeignetsten, um zu be-
schreiben, was es heißt, in nicht mehr vorhandenen, vorstrukturierten „Laufbahnen“ „Kar-
riere“ zu machen. Aus dem getreuen Folgen einer vorgezeichneten Straßen- oder Wander-
karte wird die permanente, dynamische Auseinandersetzung mit den Elementen der
Innen- und Umwelt einer Expedition oder Querfeldeinwanderung. Denn je intensiver die-
ses „Driften“ bewusst (mithilfe eines Coaches) reflektiert und versucht wird zu beein-
flussen (frei nach dem Seglermotto: Es gibt keinen schlechten Wind, nur falsch gesetzte
Segel), desto befriedigender könnte das Ergebnis hinsichtlich des Gefühls der Selbstwirk-
samkeit und Kontrolle ausfallen. Die Gegenüberstellung von Josh Bersin (The Josh Bersin
Company, 2019) in Abb. 5.29 spitzt die Unterschiede eines traditionellen und zukünftigen
Karriereverständnisses zu.
Den Willen zur Erreichung eines bestimmten Zieles vorausgesetzt, heißt dies bei der
Frage nach den Konsequenzen, sich permanent nicht nur aktiv, sondern auch proaktiv mit
den verschiedenen Berufs- und Lebenswelten und deren Wechselwirkungen auseinander-
zusetzen. Ferner die Fähigkeit, eigene Ziele zu formulieren, zu operationalisieren und ggf.
im gleichen Moment wieder zu verwerfen, ohne dabei die eigenen psychischen, physi-
schen, sozialen und auch wirtschaftlichen Ressourcen zur Zielerreichung aus dem Blick
zu verlieren. In der Wahrnehmung und letztlichen Beurteilung der verschiedenen Aspekte
vergisst diese „übermenschlich“ geforderte Person zudem niemals, dass ihre „Wahr-­
Nehmung“ immer auch „Wahr-Gebung“ ist und damit ein Produkt der individuellen Welt-
konstruktion und alles auch ganz anders sein bzw. gesehen werden könnte. Dass hier der

Vermutlich abgeleitet aus dem vorgebahnten ‚Fahrweg, Straße‘ auf spätlat. (via) *carrāria ‚Fahr-
10

weg‘, eigentlich ‚(Straße) für Wagen‘ (vgl. gleichbed. mlat. via carraria sowie spätlat. carrārius
‚Wagenbauer, Stellmacher‘, zu lat. carrus ‚Wagen, Karren‘, Karre) zurückgehend.
334 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Der heutige Karrierebegriff Der morgige Karrierebegriff


Karriereweg führt „zur Seite“ bzw. ist multidirektional, besteht in neuen (Lern-)
Karriereweg führt „nach oben“, ist unidirektional
Erfahrungen

Eher Fremdsteuerung: Mir wird eine neue Position/Rolle angeboten Eher Selbststeuerung: Ich suche mir neue Lernmöglichkeiten

Meine Führungskraft hilft mir, mich zu entwickeln, neue Entwicklungsmöglichkeiten zu Meine Führungskraft, Mentor:in und viele andere Personen helfen mir, mich zu
finden entwickeln, neue Entwicklungsmöglichkeiten zu finden

Meine Führungskraft entscheidet, wann ich die Rolle/Funktion wechsle Ich entscheide, wann ich die Rolle/Funktion wechsle

Die Bereitschaft, (ständig zu) wechseln, erhält Respekt und wird als Schlüssel zur
Die Übernahme einer neuen Aufgabe/Rolle kann riskant sein
Entwicklung gesehen

Entwicklungsmöglichkeiten fokussieren sich auf obere Führungskräfte Entwicklungsmöglichkeiten stehen jeder/jedem zur Verfügung

Abb. 5.29 Das zukünftige Verständnis der Karriereentwicklung (adaptiert nach Josh Bersin; mit
freundlicher Genehmigung von Josh Bersin, © The Josh Bersin Company 2021)

Service „Coaching“ ggf. wertvolle Dienste leisten kann, liegt für professionelle Coaches
auf der Hand.

5.5.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Die im letzten Abschnitt überspitzt formulierten Konsequenzen bzw. Anforderungen auf-


seiten des Klienten erscheinen in Anbetracht der zuvor geschilderten Umbrüche in der
Unternehmens- und Arbeitswelt zwar immer noch übertrieben, jedoch nicht völlig ab-
wegig, insbesondere für eher erfolgs- und wettbewerbsorientierte Klienten. Aber nicht nur
diese werden sich unter den neuen Arbeitsbedingungen gelegentlich Unterstützung holen
wollen oder gar müssen.
Zu fragen wäre daher, was das für das Service-Design von Coaching bedeutet. Wech-
selt der Bezugsrahmen der Erwerbsarbeit häufiger – oder muss er gar (immer wieder)
selbst neu erfunden werden –, könnte dies beim Klienten zumindest hinsichtlich seines
Coaches bzw. des Coachings selbst mit dem Wunsch nach Kontinuität i. S. von Lang-
fristigkeit und Stabilität zumindest bei seinem Coaching kompensiert werden. Stünden da
nicht die ethischen Bedenken jedes redlichen Coaches dagegen, den Klienten in ein Ab-
hängigkeitsverhältnis geraten zu lassen, könnte es zur Herausbildung längerfristiger
Arbeitsbeziehungen – d. h. über Dekaden oder ganze Lebensabschnitte – beim Service
„Coaching“ führen. Unterstützt durch die Virtualisierung wäre dies auch unter den zu-
künftig höheren Mobilitätsanforderungen mancher Klienten möglich. Die Lösung der Ab-
hängigkeitsthematik könnte hier jedoch ein Pool von Coaches für spezielle Lebensbereiche
(z. B. Business, Privat- bzw. Familienleben, Partnerschaft, Gesundheit, Lernen, Finanz-
und Vermögensplanung etc.) bestehen, die hinsichtlich dieser Bereiche wiederum ver-
schiedene Themen- und Arbeitsschwerpunkte (z. B. im Business: Karriere- und Laufbahn-
planung) haben. Dies würde auch der zunehmenden Entgrenzung der beruflichen und
privaten Lebenswelt im Rahmen eines umfassenderen Life-Coachings entgegenkommen.
(Eingehendere Überlegungen dazu finden sich in Abschn. 4.4) In der Konkretisierung
würde dies bedeuten, dass ein mehr oder minder loses Netzwerk von Spezialisten mit
5.5 Von der Laufbahn und Karriere zur Erwerbsbiografie in einem sehr langen … 335

ihren gekoppelten Beratungsleistungen (also Coaching, Consulting, Training, Therapie


etc.) nahtlos ineinandergreift oder sogar für ein Thema immer mehrere Experten bzw.
Serviceleistungen „unter einem Dach“ bzw. „aus einer Hand“ zur Verfügung stehen.
In einem sich schon in den Anfängen realisierenden Zukunftsszenario (Fraunhofer FIT,
2020) würden dabei alle Beteiligten auf ein auf einer Blockchain basierendes Dossier zu-
greifen. Dieses würde u. a. auch eine Art Lernpass enthalten, der unabhängig vom Arbeit-
geber- und Weiterbildungsanbieter detailliert über die komplette Lernhistorie Auskunft
gibt – sofern man den Interessenten dazu zuvor autorisiert hat. Diese auf die speziellen
Lebensumstände des Klienten maßgeschneiderte, umfassende Lösung entwickeln zu können
wäre das Ziel. Dies ist, wie jeder weiß, zumindest 2022 noch eine sehr visionäre ­Vorstellung.
Die größere Langfristigkeit und Breite könnten ferner neue Honorarmodelle hervor-
bringen, welche nicht mehr auf Stunden- oder Tagesbasis angelegt sind, sondern auf einer
festen Monatspauschale (i. S. einer „Flatrate“) und ggf. sogar wie bei Vermögensberatern
eine Erfolgsbeteiligung für den Expertenpool und damit auch den Coach vorsehen.
Bei genauerem Hinsehen würde man sicher auch heute schon (besonders im anglo-
amerikanischen Bereich) zumindest im Ansatz derartige Modelle finden, aber von einem
etablierten Geschäftsmodell mit vordefinierten „Off-the-Shelf“-Kombileistungen sind
wir in Deutschland zumindest im Jahr 2022 noch weit entfernt. Zumindest ist dem Autor
ein solches Unternehmen nicht bekannt.

5.5.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Ist ab den 2030er-Jahren wohl das umfassendere Modell der Erwerbsbiografie eher der
Ausgangspunkt für Coaching-Interventionen, bleibt dies natürlich nicht ohne Auswirkung
auch auf die Coaching-Themen bzw. die Kompetenzen des Coaches selbst. Diese sind für
sich genommen nicht wirklich neu – bekommen jedoch infolge der stärkeren ­Notwendigkeit
eine andere Bedeutung. Der verantwortungsvoll arbeitende Coach mit einem ent-
sprechenden Auftrag wird daher nicht nur mit Bezug auf die aktuelle Berufssituation,
sondern immer eher holistisch sowie stärker perspektivisch arbeiten. Was heute noch meist
unter dem Servicebegriff „Karriere-Coaching“ angeboten wird, verbleibt als heroisch-­
romantischer Bezugsrahmen für die weniger lernbereiten Coaching-Anbieter.
Wie bisher heißt dies zwar, die Entwicklungsbereiche des Coachees nicht zu über-
sehen, im Kern geht es jedoch immer darum, die aktuellen Stärken zu fokussieren und
diese auch weiterhin zu fördern. Zukünftig wird dies aber immer stärker im Abgleich mit
generellen Anforderungen des Marktes und Anforderungen außerhalb des aktuellen
Arbeitgebers erfolgen müssen. Zumindest Mitschwingen wird daher immer die 2030er-Ver-
sion der berühmten „Gretchenfrage“ i. S. von: „Wie hältst du es mit der Selbstständig-
keit?“ Damit umfasst das Stärkenprofil eben nicht mehr nur die heutigen Kenntnisse bzw.
Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten –, sondern eben auch die Potenziale oder schlum-
mernde Interessengebiete – frei nach dem Motto: „Was mich immer schon einmal gereizt
336 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

hat, wäre …!“ Und das hier geforderte Coaching für Entrepreneure zur Steigerung der
Selbstwirksamkeit gibt es schon heute (Fischer, 2020).
Bezogen auf die Persönlichkeit des Klienten ist es zudem hilfreich, in der Erstellung
eines Profils die individuellen Besonderheiten und Präferenzen stets präsent zu haben.
Dies kann mithilfe von Fragebogenklassikern wie dem MBTI-Typenindikator, Edgar
Scheins „Karriereanker“, den ebenfalls sehr etablierten „Clifton Strengths“ von Gallup
oder anderen entsprechenden Fragebögen geschehen, die sowohl dem Coach wie auch
dem Coachee als geeignet erscheinen bzw. Akzeptanz finden. Trotz der meist sehr gerin-
gen messtheoretischen bzw. prognostischen Qualität all dieser Verfahren können sie sehr
gut als Ausgangspunkt einer vertiefenden Diskussion über das Thema auch mit Außen-
stehenden taugen. Denn jede multiperspektivische Fremdeinschätzung dient hier sicher
der Erhöhung der Validität. Als professioneller Diagnostiker (innerhalb des Coach-Pools)
hier die passenden Messverfahren zumindest zu kennen und auch sinnvoll einsetzen zu
können, wird für den Coach in der Zukunft noch wichtiger sein, als es dies heute schon ist.
Die Ergebnisse der beiden obigen Themenbereiche (Fachlichkeit und Persönlichkeit)
zusammen ergeben die Basis der bereits in Abschn. 5.4 thematisierten „Employability“,
die zukünftig jedoch neben der herkömmlichen Attraktivität für einen Arbeitgeber um die
potenziell auch autonome Marktbehauptung des Individuums i. S. einer USP (= Unique
Selling Proposition; Einzigartigkeit) ergänzt werden muss.
An den Stärken oder ggf. doch an der einen oder anderen Lücke zu arbeiten, erfordert
vom Coach das Anstoßen und/oder Begleiten von (lebenslangen) Lernprozessen, die
nicht zu dem traditionellen Verständnis von Coaching passen. Welche neuen Anforderungen
sich hier für den Coach ergeben, wurde ausführlich bereits in Abschn. 4.2 geschildert.
Dies gilt umsomehr, wenn man schon heute der „Generation Y“ – auf jeden Fall aber der
„Generation Z“ – durch die Überalterung der Gesellschaft und die wesentlich längere
Lebenserwartung der Menschen voraussagen kann, dass das Ende des Erwerbslebens wo-
möglich nur noch durch die eigene psychische und physische Gesundheit oder aber die
Vermögensverhältnisse bestimmt werden wird. Wenn ferner jeder über diesen Zeitraum
mindestens 2–3 Berufe ausüben wird, konkretisiert sich die neue Bedeutung des „lebens-
langen Lernens“ sehr eindrücklich.
Getrieben durch die sich schnell wandelnden Produktionsbedingungen werden manche
Skizzen – nicht detaillierte Beschreibungen! – von Stellen oder Jobs in den Unternehmen
„im Gehen“ entstehen bzw. werden von besonders qualifizierten Unternehmensan-
gehörigen i. S. eines „Job Sculpting“ (Butler & Waldroop, 1999) oder „Work Design“
selbst (mit) erschaffen. Ein ähnliches Konzept zu einer völlig neuen Organisation von
Arbeit bzw. von Jobs (d. h. ohne feste Stellenbeschreibung) wurden mit dem Ansatz von
Susan Cantrell (2021) bereits in Abschn. 5.4 skizziert. Unter Einbeziehung der oben dar-
gestellten Profilarbeit kann der Coach mit seiner (ggf.) Außenperspektive hier als
Sparringspartner zur Identifikation des „Sweet Spots“ bzw. optimaler Flow-Erlebnisse im
neu entwickelten Aufgaben- und Verantwortungsbereich sicher gute Dienste leisten.
5.5 Von der Laufbahn und Karriere zur Erwerbsbiografie in einem sehr langen … 337

Da jedoch nicht sofort bzw. alle Unternehmen in den nächsten 10–20 Jahren aus Grün-
den der Trägheit oder weil es schlichtweg keinen Sinn macht in einer Netzwerkorganisation
aufgehen werden, bleiben in diesen Unternehmen Strukturen bzw. Laufbahnen wahr-
scheinlich relativ stabil. Dennoch werden auch diese Firmen nicht umhinkönnen, ihren
Angestellten mehr Flexibilität beim Zuschnitt und bei der Position ihrer Stellen abzu-
fordern. Die Passung bzw. Vor- und Nachteile der beruflichen Veränderung diskutierend,
könnte der Coach erneut als Sparringspartner für die erforderliche, multidirektionale
Laufbahnmobilität (z. B. wie bei Kaye et al., 2017: Enrichment, Enlargement, vertikal
aufwärts oder abwärts, horizontal, lateral und explorativ durch ein „short-term assignment“
in einem fremden Arbeitsgebiet) einen Mehrwert bieten, um den „Karrierekompass“
immer wieder neu und mit einer Langfristperspektive sowie zum richtigen Zeitpunkt
­sinnvoll einzuorden. Eine vertiefte Kenntnis der Lernpotenziale und der Ausgestaltung der
strukturellen Bewegungen ist dabei jedoch unerlässlich. Durch die weitaus besseren
Kenntnisse, welche Lernchance das Unternehmen wo und wann bietet oder bieten wird,
kann gerade in diesem Bereich der interne Coach hier etwas besser unterstützen.
Infolge der zunehmenden Flexibilisierungsanforderungen des Arbeitsmarktes werden
ferner Erwerbsbiografien in der Zukunft wahrscheinlich von Zeiten freiwilliger oder un-
freiwilliger Erwerbslosigkeit durchzogen sein. Als stabilisierender Helfer zur Identitäts-
wahrung oder -wandlung und erneuten Sinnstiftung kann der Coach dabei unterstützen,
diese sehr herausfordernden Abschnitte des Lebens in Phasen des „seelischen Auftankens“,
der Umsetzung eines individuellen Lernprojektes, einen Blick in den „Karriererück-
spiegel“ und Phasen der kreativen Neuausrichtung (siehe auch Iberra, 2004) umzuwandeln.
Handelt es sich dabei um einen entwicklungstechnisch geplanten „Boxenstopp“
i. S. eines Sabbaticals (Hillebrecht, 2018) oder Retreats (Zeuner, 2014), kann die Dis-
kussion des richtigen Zeitpunktes, der etwaigen familiären Einbettung oder gar Kopplung
sowie der inhaltlichen wie organisatorischen Vorbereitung und Ausgestaltung die positi-
ven Effekte einer solchen Auszeit um ein Mehrfaches steigern.
Wurde bei den bisherigen Ausführungen deutlich, dass auch bei den Erwerbsbiografien
in den kommenden Jahrzehnten der Wandel weiterhin nicht nur die einzige Konstante
bleibt, sondern von sämtlichen VUCA-Dimensionen zusätzlich beschleunigt wird, kommt
auch in diesem Kontext dem Coach in der Rolle des Transformationsbegleiters eine
wichtige Aufgabe zu. In dieser Rolle kann er helfen, die zahlreichen Übergänge bewusst
und konstruktiv zu gestalten bzw. sogar zu zelebrieren. Abschluss und Abschied, Neu-
orientierung und der sich daran anschließende Neuanfang und das Willkommen werden
dann unter professioneller Begleitung immer wieder zu energetisierenden Wendepunkten
im dem zukünftig zeitlich so ausgedehnten Erwerbsleben. Dies ist für sich zwar nicht neu,
erhält unter den bisher geschilderten Rahmenbedingungen jedoch eine ganz andere
Relevanz.
338 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“

„Nicht schon wieder!“ wird mancher der in diesem Bereich berufserfahrenen Leser stöh-
nen. Es gibt doch schon genügend Führungsmodelle, die teilweise bis heute noch auf ihre
Implementierung warten oder eher der zeitweisen Notwendigkeit der Profilierung von
(HR-)Managern dienten, als dass sie letztlich wirklich nachhaltig etwas verändert hätten.
Und ja – selbst der zumindest korrelationsbasierte Nachweis für den Einfluss der „neuen
durchs Dorf getriebenen Sau“ ist schwierig! Und ja – die natürlichen Beharrungstendenzen
des Menschen, wenn es um Veränderungen geht, sind verständlicherweise groß. Ins-
besondere wenn es die Modifikation des Status der „Machthabenden“ betrifft. Denn jede
dieser Veränderungen könnte zur Beschneidung von deren meistens hart erarbeiteter, „lei-
dender“ Position (Managementebene) und/oder Status (monetäre und sonstige Vorteile)
führen. Natürlich werden alle Manager das neue Leadership-Curriculum des Unter-
nehmens besuchen und es vielleicht inklusive der zusätzlichen Coaching-Stunden auch
recht interessant finden. Wenn es jedoch um tiefgreifende Einstellungs- und Verhaltens-
änderungen mit den genannten, potenziell auch unvorteilhaften, persönlichen Konsequen-
zen geht, wartet man allzumenschlich geduldig darauf, dass die anderen beginnen mögen,
und profitiert vom bestehenden System, so lange wie nur irgend möglich bzw. bis man
unter den Verdacht der „Innovationsfeindlichkeit“ gerät – womit wir beim springenden
Punkt bzw. hüpfenden Komma wären.
Die Frage lautet also: Was hat sich in den letzten zehn Jahren geändert bzw. welche
Änderungen zeichnen sich für die kommenden zehn Jahre in der Gesellschaft und Wirt-
schaftswelt ab, die einen „Shift“ – eine Verschiebung oder Veränderung – nicht nur
wünschenswert, sondern nun sogar zwingend machen, um sich als regional oder gar global
agierendes Unternehmen oder als Angehöriger eines solchen (weiterhin) zu behaupten?
Wenn die interessanten und zuweilen sogar inspirierenden Unternehmens- und Führungs-
modelle keine ausreichende „hin-zu“- bzw. Zielmotivation wachrufen, welche (be-
ängstigend!?) herausfordernden Gegebenheiten benötigt es, um sich dann wenigstens aus
einer Vermeidungs-Flucht-Motivation zu bewegen? Was ist heute anders, was macht einen
Unterschied, dass das Buch (Maxwell, 2019) mit den nun wirklich elf ultimativen
­Ratschlägen für den Führungserfolg – dem der Kernbegriff („LeaderSHIFT“) der Kapitel-
überschrift entstammt – nicht mehr ausreichen wird?

Die Makroebene
Da sind zunächst wohl die mit einer Makroebene verbundenen welt- und volkswirtschaft-
lichen Megathemen, welche allerorts und jederzeit vernehmbar (aber auch von allen ge-
hört?) teilweise auch Ausgangspunkt bzw. Gegenstand für dieses Buch sind: Demografie und
Diversität, Digitalisierung (inkl. Big Data), globaler Wettbewerb, Zunahme an Komplexität
und Beschleunigung (verdichtet in dem Akronym „VUCA“) und die Folgen der neuen Ge-
schäftsmodelle (Stichwort „Plattformen“), Unternehmen 4.0, Arbeit 4.0 bzw. die potenziell
damit einhergehende Subjektivierung und Entgrenzung in der Arbeitswelt für den Einzelnen.
Für uns alle unerwartet aber mit dramatischen Folgen vor allem für die Menschen und damit
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 339

auch die Wirtschaft, kamen COVID-19 und der Ukraine-Krieg hinzu. Ein Indikator aus der
akademischen Welt, dass dies zu (eben nicht vorhersehbaren) Folgen – ja Verwerfungen –
führen könnte, sind zumindest für den Autor die sich häufenden (in Kap. 7 ausgewählten)
Szenarien für mögliche Zukünfte diverser Thinktanks. Man möchte damit zumindest be-
gründete Vermutungen entwickeln, in welche Richtungen sich „alles“ entwickeln könnte, und
analysieren, wie gut wir auf die jeweiligen Zukünfte vorbereitet wären. Ein sehr empirischer
Indikator, warum eine gewisse Verunsicherung angesichts dieser völligen Offenheit der
wirtschaftlichen Entwicklung angebracht ist, belegt die (auch prognostizierte) immer kürzere
Lebensdauer von Unternehmen. So wies das Beratungshaus Innosight (Innosight, 2018)
darauf hin, dass der 33-Jahre-Durchschnitt hinsichtlich der Lebensdauer der 1964 von im
S&P-500-Index gelisteten Unternehmen 2016 nur noch bei durchschnittlich 24 Jahren lag
und wahrscheinlich 2027 im Mittelwert nur noch bei 12 Jahren liegen wird. Damit sind in den
letzten 15 Jahren über 70 % aller Firmen aus der Fortune-500-Liste verschwunden!

Die Mesoebene
Weiterhin sind da die der Mesoebene zugehörigen Modelle der Industriesoziologie bzw.
Organisationstheorie sowie die Konzepte der betriebswirtschaftlich oder sozialpsycho-
logisch geprägten Managementlehre, die schon seit längerer Zeit verschiedene Möglich-
keiten eines „Shifts“ i. S. eines Paradigmenwechsels aufzeigten. Sei es wie in der
Organisationstheorie die Verschiebung von einem eher ordnungstheoretisch-funktionalisti
schen Paradigma (z. B. Taylorismus) hin zu einem eher konflikttheoretisch geprägten, ­radikal
humanistischen Paradigma (z. B. systemisch-konstruktivistische Theorien). Oder im Falle
der betriebswirtschaftlich oder sozialpsychologisch geprägten Managementlehre vom
transaktionalen Führungsstil („Managerial Grid“ nach Blake & Mutton; Management 1.
Ordnung) zu einem transformationalen Führungsstil (neocharismatischer oder authenti-
scher Führungsstil; Management 2. Ordnung). Verschiedene Wege und alternative Möglich­
keiten sind mithin konzeptionell (schon lange) gegeben. Im VUCA-Kapitel (4.1.) wurde mit
Fritz Simon und Wilhelm Backhausen gezeigt, dass in Zeiten großer Unsicherheit wahr-
scheinlich ein Management nur 1. Ordnung oder nur 2. Ordnung nicht ausreicht, um nach-
haltig erfolgreich zu sein. Das begrifflich aktuellere Konzept der sogenannten „beid-
händigen“ oder „ambidextrische Führung“ nimmt – jedoch ohne die Gehirnverwindungen der
Systemik – den Gedanken der Notwendigkeit eines komplementären Handlungsansatzes auf.

Empirische Belege für die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels finden sich


z. B. in der wissenschaftlichen Untersuchung von Jim Collins und Morton Hansen in
ihrem Buch „Great by Choice. Uncertainty, Chaos, and Luck. Why Some Thrive Despite
Them All“ (Collins & Hansen, 2011). Mit einem Team aus 20 Forschern untersuchten die
Autoren über neun Jahre hinweg die Fragestellung, warum manche Unternehmen selbst
unter ihren sehr unsicheren Rahmenbedingungen prosperieren und andere nicht. Auswahl-
kriterium für die „Überlebenskünstler“ war deren mindestens zehnmalige Vorreiterstellung
in ihrem jeweiligen Industrieindex über 15 Jahre. Diese verglichen sie mit Unternehmen,
die in dieser Zeit auf der Strecke blieben. Die nicht wenig überraschenden und in Teilen
340 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

der herrschenden Managementlehre sogar widersprechenden Ergebnisse waren, dass nicht


die Unternehmen mit den visionäreren, risikoaffineren oder kreativeren Managern erfolg-
reicher waren, sondern die, die eher datenbasiert, risikoscheu und diszipliniert agierten.
Ferner fanden sie heraus, dass Innovationsfähigkeit per se keinen Wert darstellt, sondern
dass sie mit Skalierungsfähigkeit und einem dynamischen Mix aus unkonventionellem
und konventionellem Handeln gepaart war. Auch fällten diese Manager entgegen der
landläufigen Forderung nach auch schnelleren Entscheidungen in dynamischen Zeiten
ihre Entscheidungen eben nicht schneller, sondern sogar bedächtiger. Ähnlich verhielt es
sich auch mit organisatorischen Veränderungen. Erfolgreiche Unternehmen wirken gegen-
über den Verlierern fast schon „statisch“ – wie die sprichwörtlichen Felsen in der Bran-
dung. Von geradezu provokativer Kühnheit der Autoren zeugte die Fragestellung,
inwieweit der Erfolg der Indexgewinner vielleicht nur auf glückliche Umstände zurückzu-
führen war. Die Ergebnisse sprachen jedoch eher dafür, dass die Manager glückliche Um-
stände eher erkannten und dann auch zu nutzen wussten. Die Strategie der Erfolgreichen
war es demnach, situationsangepasst sowohl in einem erwartungsgemäßen Modus als
auch mit neuen Reaktionsweisen aufwarten zu können. Nicht ein kerniges „Entwe-
der-oder“, sondern ein flexibles „Sowohl-als-auch“ bzw. die Komplementarität eines Yin-
Yang-Prinzips ihrer Fähigkeiten bescherte ihnen nachhaltigen Gewinn.

Die Mikroebene
Auf der Mikroebene des konkreten „Shifts“ hinsichtlich des Denkens, Verhaltens und
Handelns von Individuen wurde die Zukunft mit den Veränderungen der kommenden
Generationen in ihrer Konsumenten- oder Produzentenrolle schon oft skizziert, wenn auch
sehr schematisierend und akzentuierend. Wurde dieser Wandel bereits ausführlich in
Kap. 4 beschrieben, soll in diesem Zusammenhang nochmals auf die Besonderheiten der
Gen Z als Mitarbeiter oder „Kunden“ der Führungskräfte bzw. des Unternehmens hin-
gewiesen werden. Dazu nochmals die tabellarische Übersicht in Abb. 5.30.

Hier zeigt sich, dass neben der technisch orientierten Produktentwicklung und -er-
stellung die Kunden(ein)beziehung – „das Menschliche“ – immer bedeutsamer wird und
dass das mit der Dienstleistung oder dem „Sachgegenstand“ wie auch mit dem Hersteller
selbst verbundene „(ethisch gute) Gefühl“ einen mindestens ebenso wichtigen Stellenwert
einnimmt. So ist sowohl die Produktentwicklung als auch die Marketing- und Kommuni­
kations­abteilung gleichermaßen für die letztlichen Verkaufszahlen verantwortlich. Beide
müssen Hand in Hand darauf hinarbeiten, den Kunden zu erobern.
Gleiches gilt für den der Gen Z angehörigen Menschen in der Produzentenrolle – egal
ob als Führungskraft oder als Teil der Belegschaft, die ja gleichermaßen Konsumenten
sind. Denn die Generation mit den meisten Einzelkindern erwartet weiterhin als „Prinz“
oder „Prinzessin“ behandelt zu werden. Als „Kinder ihrer Zeit“ sind sie es gewohnt, alles
jederzeit (mit einem Klick) schnell zu erhalten. Auch echte Geldknappheit war für viele
Eltern dieser Generation (Babyboomer oder Gen X) kein ernstes Thema. Anstatt eines
„a-sozialen Ich“ (vs. „Du“) erwuchs jedoch ein „Selbst“, welches sich im Mittelstand
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 341

Beeinflussung Gen Z ist fordernd (!) bzw. anspruchsvoll (!), will als Konsument im Überangebot erobert werden!

 WOW me! Wünschen sich überraschende Mehrwert-/Zusatzerlebnisse beim Produkt/Service selbst wie beim Einkauf
Produkt/  Make it fast and easy for me! Kauf-Erlebnis bei wenig geduldigen und anspruchsvollen Käufern soll einfach und schnell bei der
Bestellung, Zahlung und Zustellung erfolgen; das Produkt soll jederzeit verfügbar sein
Technik/
Prozess  Convince me! Individuelle bzw. individualisierbare Produkte (z. B. mittels Big Data, Design Thinking) in Breite und Tiefe
maßgeblich  I can/will compare! Digitalisierte Angebote erlauben einen schnellen (bewertungsgestützten) Vergleich hinsichtlich des Preis-
Leistungs-Verhältnisses und Imagewertes
 How nice! Sind designaffin – Produkte/Services sollen in „look, feel and handling“ den Wunsch nach Individualisierung befriedigen
 Brands for the Brand „Me“: Authentische Marken/Brands mit starker Social-Media-Präsenz
 Give me guidance (Star)! Wer hilft mir, mich in der Produktfülle zu orientieren, wem kann ich glauben? Promi-Influencer, Kunden
(Beispiel „Markenbotschafter:in“)
 Come to me! Aktives Zugehen auf Zielgruppe
Mensch/  I like to share! Aktives und schnelles Teilen von (Un-)Zufriedenheit
Interaktion  Covince me – every day! Loyalität ist vom Anbieter täglich zu erarbeiten – will „verdient“ werden
maßgeblich  I´m talking to you! Digitale Kommunikation/Interaktion über Smartphone (als Zugang!)
 Touch me! High/Human Touch / Interaktion bevorzugt  Serviceorientierte Freundlichkeit, „menschliche Nähe & persönliche
Beziehung“, kompetent & erfahren)
 Engage me! Wollen einbezogen und gefragt werden (Involvement)

Abb. 5.30 Die Gen Z als Kooperationspartner in Konsumentenrolle. © Stefan Stenzel 2022. All
Rights Reserved

Bereich Gen Z ist fordernd (!) bzw. anspruchsvoll (!), will als Arbeitskraft(-unternehmer) im Überangebot an Stellen gewonnen werden!

Lebens-
Let´s face the truth! Realistisch, pragmatisch, umweltbewusst, eher optimistisch und mit hoher Toleranz für Diversität
einstellung
Arbeit : Leben My favourite lifestyle is blended! Arbeit und Leben fließen zunehmend ineinander, sind entgrenzt; eher Familienorientierung

Arbeitsmoral Let´s have fun! Neuigkeitswert muss möglichst erhalten bleiben, um das Interesse wach zu halten
Arbeitszeiten Flexibility needed! Präsenzunabhängiges Arbeiten, d. h. wann, wo, womit (Medium) es gerade passt (sie ggf. auch zu fixieren z. B. „9 to 5“)
Lernen & Online, short, crisp & sweet! Lernen erfolgt vermehrt autodidaktisch in speziellen, praxisbezogenen Mikro-Einheiten, on the job und mit kurzen Feedback-Intervallen
Feedback zur Umsetzung in die eigene Entwicklung; Lernen als „Experience“, „Challenge“ bzw. spannendes „Erlebnis“
Expertise Let´s google it! Wissenserwerb i. e. S. ist zu aufwendig, da es zu schnell veraltet und allzeit im Internet verfügbar ist; wenn nur als serial
„ mastery“ zu sehen
Kommunikation/
„Always on“ for my network! „Digital Natives“, die eine informelle (Du), persön liche, symmetrische Kommunikation in (ihren) Netzwerken bzw. Gruppen bevorzugen
Interaktion
Commitment My company – for now! Temporär hohe Identifikation bei sicheren, fairen Arbeitsplatzbedingungen mit vielen Freiheiten und Selbstbestimmung und bei hoher
„Corporate Social Responsibility“ und Ethik des Unternehmens. Aber ggf. auch Bereitschaft zum „Nomadentum“ und (temporär zu) atypischen Arbeitsformen oder zur
Unternehmensgründung; im Internet / eigenen Netzwerk können Arbeitgeber leicht und schnell verglichen werden – sie stehen ständig auf dem Prüfstand
Motivation Like me! Individualisierte Ansprache und unmittelbares (vorsichtiges, wertschätzendes) Feedback; „jemand sein“ im gleichmacherischen, weiten, oft anonymen WWW
Wettbewerbs-
Everyone get´s a trophy! Geringere Wettbewerbsorientierung bei stärkerer (globaler) sozialer Verantwortung
denken
Karriere Me Inc.! Multidirektional, selbstbestimmt und mit neuen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten (vs. Geld); Karriere als patchworkartiges Entwicklungsprojekt; eher
Erwerbsbiografien als Karrierepfade
Autoritäts-
Walk the talk! Indifferente, „natürliche“, integre Autoritäten (z. B. Führungskräfte) werden bei symmetrischer Kommunikation und hoher Feedbackfreudigkeit akzeptiert
einstellung

Abb. 5.31 Die Gen Z als Kooperationspartner in Produzentenrolle (d. h. Mitarbeiter- oder FK-­
Rolle). © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved

meist sorglos und – zumindest in den Kinderjahren – oft weich gebettet im (gefühlten)
Zentrum vielfältiger, wechselnder (virtueller, oft selbst gewählter) Beziehungsnetze ent-
wickeln konnte. Damit erschienen konsequenterweise „die Geister, die man rief“, und das
könnte von Vorteil für diese Generation sein; denn ein aus den vielfältigen Bezügen ge-
wachsenes, starkes und „multidimensionales „Selbstgefühl“ (Markus & Wurf, 1987)
könnte die Vorbereitung für die zukünftig vermutlich wachsenden Anforderungen an
ebendiese Instanz werden. Dazu später mehr. In Abb. 5.31 findet sich eine Skizze dieser
Generation.
So will die höher qualifizierte Arbeitskraft von morgen für die Firma bzw. den Arbeits-
platz gewonnen werden, und das Commitment und die Loyalität zu einer Firma haben
342 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Grenzen. Auch ist die durch das Internet bzw. Plattformen gegebene Transparenz des
Arbeitsmarktes wesentlich größer als früher. So transformiert sich dieser potenziell bei
den höher qualifizierten Arbeitskräften schrittweise zu einem Bewerbermarkt. Und diese
Bewerber vergleichen über entsprechende Portale (z. B. kununu oder Glassdoor), in-
wieweit die oben genannten Versprechungen durch die Unternehmen erfüllt werden. Sind
die Vertreter dieser Generation – als Führungskräfte oder Arbeitskraftunternehmer – ein-
mal gewonnen, gilt es die vom „gehorsamen Personal“ zu eigenwilligen „Personen“ ge-
wandelten Menschen durch entsprechende Maßnahmen zu halten. Damit läutet wahr-
scheinlich nun endgültig die Totenglocke für das Führen über die formale Macht der
Position – relativiert sich die Bedeutung formaler Rollen –, aber nicht nur das.
Die schon mehrfach zitierte Wortneuschöpfung der „ProSumenten“-Rolle, der Ver-
schmelzung bzw. Grenzauflösung von „Produzent“ und „KonSument“ im „arbeitenden
Kunden“ (Voß, 2020), signalisiert mithin auch in diesem Bereich den Vormarsch des
„Sowohl-­als-auch“ – der Entgrenzung.
Kern der vermuteten Konsequenzen für das Thema „Führung“ sind eine generell stär-
kere Dynamisierung der formellen und informellen Rolle sowie eine stärkere Betonung
„weicher“, (zwischen-)menschlicher Faktoren. Grund dafür ist – wie heute schon be-
obachtbar und bereits in Abschn. 5.2 ausgeführt –, dass standardisier- bzw. algorithmisier-
bare (HR-/Personal-)Interaktionsprozesse sukzessive in kostensparende Software über-
führt werden. Eine weitere vermeintliche Konsequenz ist die in den vorherigen Kapiteln
bereits skizzierte zeitliche und räumliche Entgrenzung der Führungstätigkeit. Insgesamt
wird Führung (anderer und insbesondere der eigenen Person) zwar immer wichtiger – die
heute jedoch oft noch damit verbundene, dysfunktionale, personelle Rollen- bzw.
­Statusfixierung bei gleichzeitiger heroischer Selbstinszenierung wird wahrscheinlich je-
doch zunehmend als hinderlicher Ballast gesehen. Bei immer volatilen Organisations-
strukturen kann Leadership immer weniger formalhierarchisch-strukturell legitimiert wer-
den, sondern nur im Prozess der sozialen Interaktion bzw. des Austausches und daher
durch eher zeitlich begrenztes und freiwilliges Followership. Zudem sollte jede(r) in den
stark kompetitiven und dynamischen Märkten – sofern die Person „Karriere“ machen
will – jederzeit bereit und in der Lage sein, Verantwortung für das relevante Umfeld zu
übernehmen, d. h. „in Führung zu gehen“; denn „leadership is a mindset – not a formal
role“ – so das aktuelle Motto der aktuellen Führungskräfteentwicklung der SAP SE. Offen-
sichtlich ist auch bei diesem Thema ein „Sowohl-als-auch“ gefordert.

Zusammenfassung und Ausblick


Als Essenz der Ausführungen auf den drei Ebenen kann festgehalten werden: (1)
„Entweder-­oder-Lösungen“ sind in einer VUCA-Welt wahrscheinlich weniger zukunfts-
fähig. (2) Könnte man das eigentlich vorhandene Wissen um die Notwendigkeit eines
durchgehenden „Sowohl-als-auch“ und damit das aktuell populärere Konzept der Ambi-
dextrie zur handlungsleitenden Maxime machen, würde dies zu kurz gesprungenen
„Shifts“ vorbeugen. (3) Es geht im Kern eben nicht um die Bewegung in eine neue Rich-
tung bzw. das Umsetzen eines neuen Trendkonzeptes, sondern um die Bewegung, den
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 343

dringend notwendigen Veränderungsprozess selbst! Dabei bezieht sich der Paradigmen-


wechsel hinsichtlich des Veränderungsprozesses nicht auf das „was“, sondern das „wie“.
Könnte man im Alltag darüber hinaus klar machen, dass bei synergetischer Zusammen-
führung i. S. des „Sowohl-als-auch“ das „Altbewährte“ nicht einfach über Bord geworfen
wird, sondern nur transformiert oder eben nur noch situativ zum Einsatz kommt, hilft dies
womöglich, Ängste und Widerstände gegen die mit „dem Neuen“ aufkommenden Ambi-
valenzen zu relativieren. Ferner sollte man sich klar machen, dass diese Ambivalenz bzw.
die damit verbundenen unangenehmen Gefühle schon immer da waren – wir alle bereits
ein gewisses Maß an Ambiguitätstoleranz besitzen. Ansonsten könnten wir unseren Alltag
nicht bestreiten, würden „verrückt“ werden. Der Unterschied, der einen Unterschied ma-
chen würde, ist jedoch deren aktive Realisierung, bewusste Akzeptanz und synthetische
Bearbeitung. Wie schon bei den Ausführungen über die VUCA-Welt herausgestellt, er-
fordert dies jedoch neben der Stärkung der Ambiguitätstoleranz eine Erhöhung der Eigen-
komplexität im Denken, Fühlen und Handeln. Was dies für den „Leader“-Teil des Begriffs
des „LeaderSHIFTs“ für den Klienten bedeutet, sei nach dem nächsten Abschnitt aus-
gefaltet. Dazu soll jedoch zunächst ein Überblick über die Ausgangspositionen für alle
weiteren Ausführungen gegeben werden:

• Die folgenden Darstellungen beziehen sich auf Führung im Unternehmens- bzw.


Businesskontext – zunächst wohl eher in Unternehmen der New Economy. Obwohl
nicht explizit behandelt, schließt dies auch Non-Profit-Unternehmen ein. Denn obwohl
durch die Organisationsform offiziell nicht gewinnwirtschaftlich orientiert, gelten nach
Ansicht des Autors hier zunehmend sehr ähnliche Spielregeln.
• Der Unternehmens- bzw. Businesskontext erstreckt sich dabei auf einer Größenskala
vom Soloselbstständigen über das Start-up bis zum Global Player mit über 100.000
Mitarbeitern mit all ihren typischen und atypischen Beschäftigungsformen.
• Mitarbeiter- und Unternehmensführung werden als zielgerichtete, dynamische Aus-
tauschbeziehung (i. S. von Fritz Simon: Wer handelt, der handelt!) definiert.
• Unternehmensführung oder „Business-Leadership“ bezieht sich dabei auf die zur
Zielerreichung zu etablierenden „harten“, formalen Prozesse, Strukturen sowie die
Kultur der Organisation. Wie diese konkret über soziale (Kommunikations-)Prozesse
gelebt werden, beschreibt deren enge Kopplung zu den „weichen“, informellen Prozes-
sen zwischen Menschen, die unter bestimmten Bedingungen bereit sind, sich „(ver-)
führen“ zu lassen. Die dabei zugrunde gelegte systemisch-konstruktivistische Perspek-
tive der Führung wurde in Abschn. 4.1 skizziert.
• Hinsichtlich der Mitarbeiterführung oder „People-Leadership“ wird mit Andreßen
(2008, S. 31) das klassische, eher durch den Einzelnen geprägte Führungsverständnis
von z. B. Neuberger (2002, S. 47) um die bekannten Konzepte der pluralen Führung
(ge- und verteilte Führung) des Super-Leadership und der Selbstführung i. S. eines
„Sowohl-als-auch“ erweitert.
• Die „normale“ analoge Kommunikations- und damit auch Beziehungsgestaltung
soll ebenfalls im Geiste eines „Sowohl-als-auch“ um digitale bzw. virtuelle
344 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Kommunikationsformen erweitert und teilweise in den sich dabei ergebenden Be-


sonderheiten beleuchtet werden.
• Die Themengebiete „Diversity & Inclusion“ (Kap. 3), „Duration“, Dependency (bzw.
Independency oder Interdependency) und „Distance“ werden vom Autor als die Be-
reiche gesehen, welche im Tenor der Einleitung zu diesem Kapitel zukünftig einen
Unterschied machen. (Die oft englische Begriffsverwendung wurde gewählt, um ihnen
eine größere Prägnanz zu verleihen.). Da bereits im vorherigen Kapitel dieses Buches
bearbeitet bzw. zur Vermeidung von Redundanzen werden die (Unter-)Themen „Di-
versity & Inclusion“ (Abschn. 5.1), Duration (Abschn. 5.3, 5.4 und 5.5), „Digital/Vir-
tual IT-Systems“ (Abschn. 5.2), falls sinnvoll, nur erneut gestreift.

Abb. 5.32 soll dies als „Advanced Organizer“ grafisch veranschaulichen.

5.6.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Independencies, Interdependencies und Dependencies. Das Selbst und seine


vielfachen Bezüge
Wurde durch die Ausführungen in Abschn. 4.3 und 4.4 deutlich, dass das Selbst des Indi-
viduums zukünftig noch stärker gefordert sein wird, ist es Ziel dieses Kapitels, das Kon-
zept des „Selbst“ in seinen vielfachen Bezügen bzw. unter den bislang dargestellten
Rahmenbedingungen aufzufächern. Vertieft wird es an ausgewählten Verbindungsstellen
zum Gesamtthema der Führung. Die Abb. 5.33 zeigt den Kernbegriff des „Selbst“ als
psychologisches Konzept mit seinen vielen Facetten. Einen ersten Aufriss zum Thema
„Selbstsorge“ aus der Perspektive „Zeit- und Leistungsdruck“ wurde bereits in Abschn. 4.4
präsentiert. In diesem Kontext wird sie als Voraussetzung für Lebenskunst erörtert. Das

Leadership

PEOPLE/ BUSINESS
Relationships (Relationships)
 Disruption & Innovation
 Digitalization of Company
 Transformation/Change/
Analog/F-2-F Digital/Virtual & Organizational Development
IT Systems  (Agile) Organization
 Network (Communication)
Diversity & In- and/or Inter-  Virtual Communication & Collaboration
Duration Distance
Inclusion Dependency o MS Teams/MS Office
 Age  Working Contract  Das „Selbst“ und die Selbst- o ZOOM
 Geographically
 Gender  Role/Job Profile führung („Self-Leadership“) o MURAL
 Media-based
 Culture  Skills & Competencies  Full-Range-Leadership o Skype
Communication
 Super-Leadership o Slack
 Diversity
 Plural Leadership o Etc.
 Organizational
 Network-/Open Leadership  Virtual (People) Management
Fluidity (vs.
o HCM Software/Systems
Stability)
o Success Factors
o Fieldglass
o Etc.

Complex (VUCA) Environment/World

Abb. 5.32 Themenaufriss des Kapitels „LeaderSHIFT“. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 345

Selbstmanagement
 Ich vs. Selbst
 Selbstwirksamkeits- Selbstregulation
überzeugung Selbstkontrolle
Selbstentwicklung  Fremdführung
 Effektanzmotivation Selbstführung  Self-Leadership
 Kontrollüberzeugung
 Autopoiese/Perturbation

Selbst(wert)gefühl
= Affektive Komponente
 Lebenskunst
 Fremdverantwortung
 Commitment
Selbstverantwortung SELBST Selbst(für)sorge  Selbsttechniken
 Kohärenzerleben

Kognitive Komponente=
Selbstkonzept

Soziale/ Subjektive
 Informelle Rollen/Teamrollen Soziale Selbstreflexion/
 Formelle Rollen/Positionen „objektive“ Quellen
Identität Quellen Introspektion
 Leadership/Followership
 Selbstaufmerksamkeit
 Achtsamkeit
(Frühe)  MBSR
Sozialer Bindungs- Selbstwahr-  (Zen-)Meditation
Vergleich prozesse nehmung
 Leistung
 Authentizität
 Selbstwertgefühl
 Interaktion/Feedback
 Selbstdarstellung

Abb. 5.33 Themenaufriss für den Begriff des „Selbst“. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved

Thema der Selbstverantwortung wird an dieser Stelle im Rahmen der Führungsthematik


besprochen.

Die Entwicklungspsychologie (Lohaus & Vierhaus, 2019) unterteilt das Selbst in eine
kognitive und eine affektive Komponente. Beschreibt letztere das sogenannte Selbstwert-
gefühl, also die subjektive Bewertung der einen Person, definiert der kognitive Teil das
Konzept des Selbst i. e. S., d. h. das Wissen der Person über sich selbst. Es entwickelt sich
zum einen aus sozialen, zum anderen aus persönlichen Quellen. Zu den sozialen Quellen
zählen frühkindliche Bindungsprozesse und der soziale Vergleich, der einen Aspekt der
(Leistungs-)Motivation darstellt. Ersteren wollen wir hier über die Thematisierung narziss-
tisch veranlagter Führungskräfte bzw. deren Verlust von Machtrollen nur kurz streifen.
Gleiches gilt für die äußerst interessanten, neurobiologischen Instanzen und Funktions-
weisen des Selbst. Joachim Bauer zeigt in seinem Buch „Wie wir werden, wer wir sind:
Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz“ (Bauer, 2019) sehr anschaulich,
wie sich Interaktion zwischen Menschen auch biologisch „materialisiert“. Fokussieren
wollen wir daher nachfolgend zunächst auf die interpersonalen Beziehungen mit ihren
Möglichkeiten zum sozialen Vergleich oder um Feedback zu erhalten, sowie auf die so-
ziale Identität, die sich u. a. über Rollen formiert.

Der soziale Vergleich zur Abgrenzung des Selbst nach oben und unten
Der soziale Vergleich (Hogrefe, 2019) im Führungskontext ist insofern relevant, als die
Führungskraft über die erlebte, psychische Nähe den Mitarbeiter mehr oder minder be-
346 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

wusst beeinflussen kann bzw. die Mitarbeiter die Führungskraft als „eine(n) von ihnen“
oder als distanziert erleben. Im Kern beschreibt der soziale Vergleich die Möglichkeit,
über die Unterschiede mit einer anderen Person Informationen über die eigenen Leistun-
gen, Meinungen (z. B. Expertise), Werte (z. B. Wertschätzung, Respekt) und Probleme zu
bekommen. Betont bei dieser Kontrastierung die eine oder andere Seite die Ähnlichkeiten
(trotz einer ggf. hierarchisch höheren Position), kann es zu sogenannten Assimilations-
effekten kommen. Bei der Betonung der Unterschiedlichkeit von der einen oder anderen
Seite tritt potenziell der Kontrasteffekt mit einem als Distanz oder Unnahbarkeit erlebten
Verhalten auf. Wird dies durch eine entsprechende Selbstdarstellung verstärkt, dient die-
ser abwärts gerichtete Vergleich der Abwertung des Selbstwertgefühls der jeweiligen Par-
tei. Wird auf eine entsprechende Selbstdarstellung verzichtet oder ist sie eher verhalten
(i. S. eines „Understatements“ oder natürlicher Bescheidenheit), kann es zu einer Auf-
wertung des Selbstwertgefühls und im Idealfall zu gegenseitiger Wertschätzung oder zu-
mindest höflichem Respekt kommen. Obwohl das Phänomen des „sozialen Vergleichs“ in
Gruppen per se nicht negativ wirken muss – denn er kann auch zu mehr Leistung an-
spornen –, liegt nahe, dass insbesondere hierarchische Organisationsstrukturen mit „oben“
und „unten“ auch negative Effekte begünstigen, da sie schon generell und vorab Unter-
schiede vordefinieren. Diese können dann insgesamt überwiegend positiv (motivierend,
das Selbstwertgefühl stärkend) oder aber negativ (demotivierend, das Selbstwertgefühl
schwächend) ge- bzw. erlebt werden.

Das Feedback als Quelle der Selbsterkenntnis


Ein wichtiger Aspekt interpersonaler Beziehungen und damit vieler Führungstrainings ist
das Geben (und Erhalten) von Feedback. Ohne näher auf die entsprechenden Techniken
und Besonderheiten einzugehen, soll hier auf das Informationspotenzial für das Selbst
fokussiert werden. Gemäß der sogenannten JOHARI-Matrix von JOseph Luft und HArrR
Ingham mit den zwei Dimensionen reales vs. ideales Selbstkonzept und privates vs. öf-
fentliches Selbstkonzept ergeben sich vier Erkenntnismöglichkeiten für die Person: Nichts
Neues erfährt man beim „öffentlichen Selbstbild“, da es beschreibt, was die Person selbst
und andere (bereits) über sie wissen. Sozusagen im Geheimen für andere liegt das sogen-
nante „private Selbstbild“ mit Sachverhalten, die nur die Person selbst kennen kann. Im
„blinden Fleck“ fehlt der Person Wissen über ihr Selbst, welches alle anderen jedoch
haben. Verborgen für die Person selbst wie auch für alle anderen ist „das Unbekannte“.
Sehr hilfreich und wertvoll zur Entwicklung der Authentizität – des „wahren Selbst“
einer Person respektive Führungskraft – ist Feedback, insbesondere in den Bereichen
„blinder Fleck“ und „öffentliche Person“. Gerade letztere Variante des Fremd- und Selbst-
bildabgleiches im Rahmen von 360-Grad-Feedbackinstrumenten bringt für manche
Nutzer zuweilen unerwartet positive wie auch negative Überraschungen hinsichtlich der
Diskrepanzen. Kann sich eine Person hinreißen, Teile ihres eigentlich nur „privaten Selbst-
bildes“ offenzulegen, oder ist sie sogar bereit, an der Erforschung „des Unbekannten“ zu
arbeiten, fördert sie durch die potenziell damit einhergehende Vulnerabilität die Ver-
trauensbildung unter allen Beteiligten. Obwohl viele Menschen an Feedback und damit
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 347

Entwicklungsmöglichkeiten prinzipiell interessiert sind, scheuen sie sich davor, es zu


geben bzw. zu erhalten. Zu groß erscheint das Risiko der Destabilisierung der (Arbeits-)
Beziehung oder von negativen Konsequenzen; insbesondere dann, wenn es eher kritisch
oder „nach oben“ erfolgen soll. So wird es tendenziell eher selten, nur oberflächlich oder
sogar in persönlich verletzender Art gegeben. Von der oft proklamierten und eigentlich
auch erwünschten „Feedbackkultur“ sind daher die meisten Unternehmen wohl eher
weiter entfernt.

Rollen als Quellen der sozialen Identität des Selbst – oder die Rolle des „Leaders“
und „Followers“ im Wandel der Zeit
Neben dem Feedback wirken sozial definierte Rollen (Hogrefe, 2019) bzw. die damit ver-
bundenen (Verhaltens-)Erwartungen auf die Entwicklung des Selbst und formen so das so-
ziale Selbst und damit die soziale Identität. Das erwartete Verhalten wird durch die Gruppe
bzw. deren vereinbarte (Gruppen-)Normen beschrieben. Knüpfen sich Verhaltenser­
wartungen an eine formale, soziale Struktur, bilden sich Positionen heraus. Entstehen sie
jedoch informell, d. h. „natürlich“ aus der Interaktion, spricht man von Team-Rollen
(z. B. nach Belbin). Positionen sind in unserem Kontext deshalb interessant, da sie in
Organisationsstrukturen über hierarchische Positions- und Stellenbeschreibungen festlegen,
wer die Rolle der Führungskraft (Leadership) oder als unterstellter Mitarbeiter (Followers-
hip) einnimmt und mit welchen Aufgaben und Verantwortlichkeiten diese Rolle verbunden
ist. Sinn der dahinterliegenden, sozialen Strukturen war es, auf der Basis von kulturellen
bzw. gesellschaftlichen (z. B. Stände) oder aber funktionellen (Militär oder z. B. tayloristi-
sche Produktionsverfahren) Begründungen „Ordnung“ zu schaffen. Eine „heilige Ordnung“
(Schwarz, 2007) von oben und unten bzw. von Befehlsgebern und -empfängern. Eine Ord-
nung i. S. von inhaltlicher Verlässlichkeit, Stabilität i. S. geringer funktioneller Störanfällig-
keit und Kontinuität hinsichtlich des zeitlichen Fortbestandes der damit verbundenen
­Prozesse und/oder des dabei entstehenden Outputs. Die zunehmend aufkommenden Rollen-
konflikte bzw. -dilemmata (Neuberger, 1994) hätten als ein Indikator einer als immer kom-
plexer wahrgenommenen Welt gesehen werden können – dass etwas nachhaltig in „Un-
ordnung“ geraten war. Wirklich problematisch wird und wurde es jedoch immer dann, wenn
die Besetzung der „inputgebenden Rollen“ entweder nur durch Erbfolge bzw. gottgegeben
erfolgte oder aber infolge von Machtmissbrauch (Günstlings- oder „Vetterleswirtschaft“),
d. h. zuweilen unabhängig von personeller und/oder fachlicher Eignung erfolgte. Besonders
mit der Erbfolge verknüpfte sich der Gedanke, dass auch gewisse Führungseigenschaften
vererbbar wären und dies auch automatisch den Führungsanspruch legitimierte.

Der Gedanke, dass nur „geborene Führer“, d. h. (meist) außergewöhnliche Männer


mit besonderen persönlichen Merkmalen und Eigenschaften eine Führungsrolle ein-
nehmen können, hielt sich als sogenannte „Great Man“-Theorie auch in der psycho-
logischen Forschung bis weit in die 70er-Jahre. Dieses Narrativ der (einsamen) Heroen
lebt noch bis heute in den Biografien der sich als gegen alle Widrigkeiten erfolgreiche
Kämpfer inszenierenden „großen“ Führungskräfte weiter. Ein recht aktuelles und gutes
348 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Beispiel für eine solche heroische (Selbst-)Sichtweise wäre sicher das Buch „Winners
Dream. A Journey from Corner Store to Corner Office“ des früheren CEO der SAP SE,
Bill McDermott (McDermott & Gordon, 2014). Zu dem strukturellen und eigenschafts-
gebundenen Führungsanspruch gesellten sich Mitte der 60er-Jahre die eigentlich als
Seitenzweige der Eigenschaftstheorien zu sehenden verhaltensorientierten Ansätze.
Auf die eigenschafts- bzw. verhaltensorientierten Konzepte folgten die eher von der Situ-
ation geprägten Führungsmodelle, wie z. B. das Modell des situativen Führens von Hersey
& Blanchard, welches noch bis heute von der Ken Blanchard Company erfolgreich ver-
trieben wird. Die speziellen personenbezogenen (z. B. Reifegrad des Mitarbeiters bzgl. einer
speziellen Tätigkeit) oder situativen Gegebenheiten (z. B. Problemstrukturierung, Verfüg-
barkeit von Informationen etc. bei Yetton und Vroom) bestimmen dabei, wie (z. B. eher
aufgaben- bzw. eher personenorientiert bei Yetton und Vroom oder – wie bei Hersey & Blan-
chard – wann mittels Instruktion, Delegation, Coaching oder Training der Mitarbeiter hin-
sichtlich der Aufgabenbewältigung entwickelt werden soll) geführt werden soll. Mit dieser
Grobkategorie der situativen oder sogenannten „State-Theorien“ entfiel zumindest in der
Wissenschaft die überdauernde (!) Kausalität des Führungsanspruchs in der Person. In der
Konsequenz, dass es auch den „geborenen Follower“ gibt, welcher – weil minder-
bemittelter – dem Anführenden loyal (als Personal) zu Diensten zu sein hatte. Handelt es
sich bei dem Anführer um die positive Variante eines Partriarchen, verhielt dieser sich im
Gegenzug auch loyal zum Mitarbeiter. Aber eben in asymmetrischer Weise, wie ein Vater zu
seinem Kind. Narzisstisch veranlagte „Leader“ (Kets de Vries, 2019) sehen dann ihre Follo-
wer, „ihr Personal“ sogar als Teil ihrer selbst – als „Extended Self“, mit dem nach Belieben
verfahren werden kann. War die narzisstische Kränkung bei diesen Personen in jungen Jah-
ren überdies sehr tiefgehend und lange anhaltend, d. h. fehlte ihnen ein Mindestmaß an Auf-
merksamkeit, Anerkennung und Wohlwollen durch eine relevante Bezugsperson in der frü-
hen Kindheit, führt der Verlust der Machtrolle potenziell zur Depression oder aber zu
einem Amoklauf narzisstischer Verhaltensweisen, wie z. B. die Erniedrigung und Be-
leidigung bzw. der Verlust von Empathie gegenüber anderen bei gleichzeitiger eigener Über-
empfindlichkeit und fortschreitender Egozentrierung. Nach dem Motto „Angriff ist die beste
Verteidigung“ wird verzweifelt versucht, den Selbstwert wiederherzustellen – die schüt-
zende „Feste Ego“ wieder zu errichten. Bei manchen ruft diese Beschreibung wahrschein-
lich Erinnerungen an einen früheren, amerikanischen Präsidenten wach.
Die allgemeine Erhöhung des Bildungsniveaus und der Wertewandel in der westlichen
Welt trugen wahrscheinlich maßgeblich dazu bei, dass mit den State-Ansätzen der Follower
(Kellerman, 2008) eher als potenziell gleichwertig oder sogar ebenbürtig zur Führungs­rolle
gesehen wurde – jedoch immer noch nicht als gleichberechtigt!
Ein Seitenzweig dieser State-Konzepte sind die weder auf die Eigenschaften der Person
noch auf die Randbedingungen der Situation der beteiligten Akteure zurückgehenden,
sondern in der interaktiven Dynamik der situativen Beziehungsgestaltung wurzelnden Be-
ziehungs- oder Interaktionstheorien. Dazu zählen z. B. Konzepte wie die der ver- bzw.
geteilten Führung oder Co-Leadership. Mit ihnen konnten und sollten die beteiligten Ak-
teure situationsabhängig sogar (temporär) zwischen den Rollen wechseln. Aus mono- wird
multidimensional und -funktional. Dazu mehr unter dem Thema der Selbstführung oder
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 349

des Selbstmanagements. Generell bleibt jedoch festzuhalten, dass – wie bereits im


Abschn. 4.3 bei den „Patchwork-Identitäten“ von Keupp oder bei Sennetts „flexiblen
Menschen“ gesehen – die inhaltliche wie zeitliche Stabilität von Rollen in der post-
modernen Welt immer seltener als Norm anzusehen ist.

Selbstwahrnehmung und die instrumentelle und spirituelle Seite der


Selbstaufmerksamkeit
Selbstwahrnehmung beschreibt die Aspekte Selbstaufmerksamkeit und Innenschau
(Introspektion). Während Letztere eher das aktive Verarbeiten des Wahrgenommenen
i. S. des „Nachdenkens über sich selbst“ akzentuiert, beschreibt die Selbstaufmerksam-
keit die bewusste, aber völlig urteilsfreie Wahrnehmung des (aktuellen) psychischen und/
oder physischen Zustandes des Selbst. Geschieht die Innenschau, das „In-sich-hinein-­
Sehen“ eher themen- oder situationsspezifisch, zielt die Selbstwahrnehmung in Form der
Achtsamkeit (Hogrefe, 2019) auf ein anhaltendes und umfassenderes Gewahrsein – wie
der Begriff bereits impliziert –, auf eine tiefere Form des generellen Seins ab. Diese um-
fassende Bewusstseinserfahrung soll über die meditative Sammlung und Konzentration
auf das Hier und Jetzt (im Alltag) erfolgen. Trainiert werden können sie über verschiedene
Formen der Meditation. Eine selbst neurologisch nachweisbare Beruhigung und/oder grö-
ßere Offen- und Wachheit des Geistes kann eine Folge sein. Dieser Zustand ermöglicht
wiederum eine wirksamere Innenschau und Reflexion von (störenden) Gefühlen und Ge-
danken und das Durchbrechen von automatisiertem Reiz-Reaktions-Verhalten, von Routi-
nen im Denken und Handeln. Die buddhistisch geprägte, spirituelle Variante der Achtsam-
keitsmeditation würde jede übertriebene Instrumentalisierung jedoch eher ablehnen, da sie
mit ihrer meditativen Praxis auf einen Zustand der Ich- bzw. Selbstlosigkeit hinwirken will.

Einen regelrechten Hype zunächst nur in der US-amerikanischen Managementszene


erlebte das Konzept der Achtsamkeit durch das 2007 erschienene Buch „Search Inside
Yourself“ des Google-Softwareentwicklers Chade-Meng Tan (2012). In Deutschland
sorgte der Softwarehersteller SAP SE (SAP, 2020) für eine Popularisierung dieses Kon-
zepts nicht nur im eigenen Unternehmen. Die damit einhergehende, systematische
Kommerzialisierung z. B. durch das „Search Inside Yourself Leadership Institute“ (Search
Inside Yourself Leadership Institute, 2020) ist eine erfreuliche wie beklagenswerte Folge.
Erfreulich in dem Sinne, dass das Thema Achtsamkeit einer breiteren Schicht in der Be-
völkerung bekannt wurde – beklagenswert in dem Sinne, dass mit dem zwangsläufig
­benötigten, bunten Marketingflitter sowie dem Anschein von einfachen und schnellen
Instantlösungen für Erfolg, Glück und den Weltfrieden (so die Kernbegriffe des Untertitels
der amerikanischen Buchversion) das Thema Achtsamkeit etwas von einem Produkt des
Fastfoodherstellers McDonald’s („McZen“ oder „McMindful“) bekommen kann und
damit dessen Instrumentalisierung (der Untertitel der deutschen Ausgabe lautet: „Opti-
miere Dein Leben durch Achtsamkeit“) stark in den Vordergrund rückt. Schon sehr viel
längere Anwendung im klinisch-therapeutischen Bereich (seit Ende der 1970er-Jahre) in
Nordamerika fanden jedoch die Achtsamkeitskonzepte und -techniken zur Reduktion von
350 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Stress und Angst mit dem Therapieansatz der sogenannten Mindfulness-Based Stress
Reduction (MBSR) (UMass Medical Center, 2020) bzw. durch dessen Begründer, Jon
Kabat-Zinn. Ein Beispiel für den in der langen, deutschen, eher spirituellen Tradition des
Zen (z. B. Eugen Herrigel, Karlfried Graf Dürckheim, Hugo Lassalle, Willigis Jäger) wur-
zelnden, aber sehr lebensnahen Ansatz vertritt heute Alexander Poraj, ein Schüler des Be-
gründers des Benediktushofs, Willigis Jäger. Statt den Weltfrieden, Erfolgs- und Glücks­
versprechen bietet Poraj heilsame, weil vielleicht augenöffnende „EntTäuschungen“
(Poraj, 2016) an, welche potenziell eine unverstelltere Begegnung mit der Wirklichkeit
ermöglichen. Seine Weggefährtin, Doris Zölls, sieht in ihrem Buch Mut, innere Kraft und
sehr unzeitgemäß „Disziplin als Anfang“ (Zölls, 2018).
Doch egal mit welchem Ziel, welcher instrumentellen oder spirituellen Ausprägung: Diese
Ansätze scheinen für viele Klienten in der zukünftigen (VUCA-)Lebens- und Arbeitswelt
eher mehr als weniger Bedeutung für die (Resilienz-)Entwicklung des Selbst zu erhalten.

Selbstverantwortung: Lust und/oder Last!?


Wie bereits in Abschn. 4.3 geschildert, verloren mit Beginn der Postmoderne die zuvor
anerkannten Institutionen (z. B. Staat und Kirche) zunehmend ihre Orientierung gebende
Funktion. Für den Preis, sich pflichtenbewusst mit der Rolle des „braven Bürgers“
zu identifizieren, übernahm „das System“ (oft ideologisch verbrämt) weitgehend die
„(Fremd-)Verantwortung“ für deren Denken, Fühlen und Handeln. Zum Beispiel im
Falle der DDR sicherte dieser Handel einer kleinen Elite für 41 Jahre (im Vergleich mit der
breiten Masse) ein äußerst privilegiertes und komfortables Leben. Die Qual der Wahl, d. h.
die Last, permanent wählen bzw. sich für oder gegen etwas entscheiden zu müssen, die
ggf. getroffene Auswahl dann mit Energie oder sogar mit eigenen, neuen Ideen konsequent
zu verfolgen, aber letztlich auch die potenziell damit verbundenen Risiken zu tragen,
wurde weitgehend der Lust an heimeliger Bequemlichkeit und Sicherheit sowie der
Möglichkeit der individuellen Lebensgestaltung geopfert. So ist das Muster auf Mikro-,
Meso- oder Makroebene immer dasselbe: Ein mehr oder minder abstraktes System macht
ein verlockendes Angebot, auf das man mit der Akzeptanz der Einschränkung des eigenen,
individuellen Handlungsspielraums des Selbst antwortet. Je weniger dabei eine Person in
ihrer frühen familiären, gesellschaftlichen bzw. (unternehmens-)kulturellen Sozialisation
erfahren hat, welcher Lustgewinn mit selbst be- und verantwortetem Handeln einhergehen
kann, desto normaler wird ein fremdbestimmtes Leben und Handeln oder aber eben der
„Dienst nach Vorschrift“ erlebt oder sogar erwartet. Damit wird im Extremfall Selbstver-
antwortung sogar als Zumutung gesehen. Reinhard Sprenger (1995, S. 64) folgend, er-
gibt sich diese aus (1) dem Wählen (i. S. eines autonomen und freiwilligen Handelns), dem
(2) Wollen (als initiatives und engagiertes Handeln) und einer (3) Antwort i. S. einer ggf.
sogar kreativen Handlung. In letzter Konsequenz wäre diese Handlung mit all ihren Chan-
cen und Risiken auch zu „ver-antworten“. Dabei gilt: „Ohne Wählen ist das Wollen
richtungslos; ohne Wollen ist das Wählen kraftlos“ (Sprenger, 1995, S. 91). Der heutzutage
populäre Begriff des Commitment beschreibt dabei die Selbstverantwortung auf der
Handlungsebene und die Selbstverpflichtung auf der Bewusstseinsebene.
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 351

Auf die soeben angesprochenen (zeitlichen) Einflüsse werden wir bei der das Selbst in
all seinen Facetten fordernden, zukünftigen Lebens- und Arbeitswelt im Rahmen der plu-
ralen Führungsstile erneut zurückgreifen. Denn der Teufelskreis schließt bzw. stabilisiert
sich mit dem (antiquierten) Selbst- und Menschenbild mancher „Machthabenden“ auch in
den Unternehmen! In einer etwas pointierten Form heißt dies: Je stärker die „führende
Kraft“ in ihrer Rolle auf der Basis ihres sehr positiven Selbstbildes (= hohe, eigene Kom-
petenz und für alles voll verantwortlich) und Sichtweise ihrer Mitarbeiter als in-
kompetentes, arbeits- und verantwortungsscheues und zu kontrollierendes Personal „an-­
führt“, desto stärker antworten die so zum Personal degradierten Personen mit (zuweilen
sogar vorauseilendem) Gehorsam und Pflichterfüllung – aber eben nicht mit mehr. Die
daraufhin reflexartig sich einstellende Aufforderung seitens der Führungskraft an die Mit-
arbeiter, doch mehr in die Selbstverantwortung zu gehen und als „Unternehmer im Unter-
nehmen“ zu agieren, wird von diesen dann entweder als Hohn empfunden oder nicht ein-
mal mehr verstanden. Auf neue Herausforderungen (z. B. die der Digitalisierung) mit
Initiative und „Neu-gierig-Sein“ bzw. kreativen Lösungen zu antworten bzw. diese auch
zu ver-antworten, liegt damit außerhalb der Realität, die man gemeinsam erschaffen hat.
Die hier beschriebene Misere, aber auch Lösungsansätze komprimierte Reinhard
Sprenger bereits 1995 in seinem Bestseller (nach „Mythos Motivation“) „Das Prinzip der
Selbstverantwortung“ (Sprenger, 1995). Zu beurteilen, ob bzw. inwieweit sich in den über
25 Folgejahren etwas geändert hat, bleibt jedem selbst überlassen. Fest steht jedoch, dass
die unternehmerischen wie gesellschaftlichen Wegzeichen der Digitalisierung heute er-
neut und mehr als eindeutig in Richtung einer Zunahme an Selbstverantwortung weisen
und wir auch die Konsequenzen einer zu halbherzigen oder ausbleibenden Antwort zu
tragen bereit sein bzw. vor der Folgegeneration verantworten müssen.

Selbst(für)sorge als Voraussetzung der Lebens- und Führungskunst


Obwohl man in Deutschland sogar eine Fürsorgepflicht des Unternehmens bzw. der
Führungskraft für die Mitarbeiter:innen kennt, wird das Thema der Selbstfürsorge – oder
kurz „Selbstsorge“ – in den Unternehmen vermutlich eher selten bis nie thematisiert. Dies
verwundert umso mehr, da Fremdsorge bzw. Verantwortung für andere doch eigentlich nur
übernommen werden kann, wenn nach Schmidt-Lellek (2008, S. 205) diese für das Selbst
bzw. eine dynamische Balance zwischen beiden gegeben ist (Schmidt-Lellek, 2008). Wie
wichtig dieses Thema in Unternehmen eigentlich schon heute ist – sehr wahrscheinlich
jedoch auch zukünftig sein wird –, wurde bereits in Abschn. 4.4 anhand der Darstellung
der Entstehungsbedingungen, Erscheinungsformen und Konsequenzen (z. B. Erschöp­
fung, Depressionen, Burn-out) als Reaktion auf Zeit- und Leistungsdruck umrissen. In-
folge der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen, plötzlichen Notwendigkeit,
nahezu völlig selbstgesteuert im Homeoffice zu arbeiten, wird die physische und psychi-
sche Selbstsorge auch in diesem Kontext zu einem immer bedeutsameren Thema.

Mit Schmidt-Lellek (2008) soll die Selbstsorge jedoch unter einer weiteren Perspektive
betrachtet werden: der Lebenskunst. Heißt nach Schmidt-Lellek (2008, S. 206) Lebens-
352 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

kunst „[…] einerseits, schicksalshafte Widerfahrnisse anzunehmen und damit auch für
Glück empfänglich zu sein, andererseits sich Bedingungen zu schaffen, die für ein glück-
haftes Erleben förderlich sind“, stellt sich die Frage, welche rahmenden Modelle und me-
thodischen Ansätze es gibt, um sich letztlich an einem „gelingenden Leben“ zu erfreuen.
Schmidt-Lellek (2008, S. 216) verweist dabei als Modell zum einen auf Martin Seels „vier
Dimensionen des Tätigseins“. Diese sind (1) Arbeit (als die ziel- und zweckgerichtete Be-
handlung eines Objektes durch ein Subjekt), (2) Interaktion (als die Begegnung unter Sub-
jekten), (3) Spiel (als vollzugorientierte Handlung um ihrer selbst willen) sowie (4) Be-
trachtung und Kontemplation (als Interaktion ohne personales Gegenüber). Als ein eher auf
die Identität selbst bezogenes Modell führt Schmidt-Lellek (2008, S. 210) zum anderen die
„fünf Säulen der Identität“ von Heinl und Petzhold an. Konstituierend für ein gelingendes
Leben sehen die beiden Autoren die Bereiche der (1) Leiblichkeit, das (2) soziale Netz einer
Person, deren (3) Arbeit und Leistung und (4) materielle Sicherheit und deren (5) Werte.
Zur praktischen Umsetzung dieser Modelle greift Schmidt-Lellek (2008, S. 207) auf Mi-
chel Foucault bzw. dessen in der antiken Philosophie wurzelnde „Selbsttechniken“ der
Askese, des Schreibens, der Traumdeutung und der Einteilung der Zeit zurück. Im Sinn
eines Indikators für die erfolgreiche Umsetzung könnte man das auf Aron Antonovskys
Salutogenese-Konzept zurückgehende Kohärenzerleben mit den Kriterien Verstehbarkeit,
Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit sehen (Schmidt-Lellek, 2008, S. 208). Würde man –
wie von Schmidt-Lellek (2008, S. 205) vorgeschlagen – das Selbst als Instrument (z. B. als
eine Violine) sehen, wäre es bei kohärenter Stimmung in der Lage, überaus reine und har-
monische Klänge von sich zu geben und dadurch auch Resonanz bei den Hörern hervorzu-
rufen – um diesem Anflug von Sentimentalität und Kitsch nachzugeben.

Selbstentwicklung: die Balance zwischen Personal Brand/Me-Identity und


Corporate Identity
Impliziert bereits der Begriff der Selbstentwicklung das Konzept des Lernens, weist
Schmidt-Lellek (2008, S. 212) – referenzierend auf die Selbstpsychologie von Heinz Ko-
hut – auf die funktionalen Unterschiede von „Ich“ und „Selbst“ hin. Betreffen die
Ich-Funktionen die zu lernenden, äußeren Kompetenzen bzw. das formal zu erlernende
Sach- und Fachwissen, beziehen sich die Funktionen des Selbst dagegen auf die inneren
Lebensbereiche einer als einmalig erlebten Person. Sie sind die Folge ganzheitlicher, emo-
tionaler Erfahrungen (wie Vertrauen, Hingabe, freundschaftliche Beziehungen etc.) und
weitgehend informell bzw. indirekt zu erlernende Bereiche. Das in Abschn. 5.4 be-
schriebene „was“ bzgl. des Wandels von der Schulung von (STEM-)Fertigkeiten zu
Kristallisationsformen angeborener (STEAM-)Fähigkeiten (wie z. B. emotionale bzw.
soziale Intelligenz, Teamfähigkeit, kritisches Denken etc.) legt nahe, dass auch hier zu-
nehmend die Selbst- die Ich-Funktionen ersetzen werden. Das veränderte „wie“ mit seinen
hochgradigen Individualisierungsmöglichkeiten des Lernens entfaltet Abschn. 4.2.

Oswald Neuberger (Neuberger, 1991) machte bereits Anfang der 1990er darauf auf-
merksam, dass der Begriff der Selbstentwicklung (im Bereich der Personalentwicklung)
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 353

eher undifferenziert verwendet wird. Je nach Betrachtungsweise akzentuiert er ver-


schiedene Facetten des Konzeptes (Neuberger, 1991, S. 55). Da ist zum einen (1) „ein
Selbst entwickeln“ i. S. der Ausbildung einer Eigenart. Zum anderen (2) „sich selbst ent-
wickeln“ i. S. des Ergreifens von Eigeninitiative. Die dritte wäre (3) „sich von selbst zu
entwickeln“ mit der Betonung der Eigendynamik. Die erste Facette des Konzeptes sieht
das Selbst stellvertretend für die Eigenart des Systems – die Identität –, die es in unver-
wechselbarer Weise zu entwickeln gilt. Die Einzigartigkeit wird von vier in sich wider-
sprüchlichen Kriterien bestimmt: von der Kontinuität (sich verändern, aber sich dennoch
treu bleiben), der Konsistenz (Varianz über die Zeit, jedoch bei stabilem „Markenkern“),
der Kausalität (Ursache von Wirkung sein, aber selbst verursacht sein) und dem Kontrast
(Individualität bei gleichzeitiger Erfüllung der Gruppennormen). Die notwendige Aus-
bildung der Eigenart (z. B. eine „authentische Führungspersönlichkeit“) des klar um-
rissenen Objektes „Selbst“ erfolgt nach diesem Verständnis durch andere und ist damit
letztlich „fremdentwickelt“. Sofern man – wie in der zweiten Variante – „sich selbst ent-
wickelt“, ist das Subjekt zugleich Objekt. Das Selbst verweigert sich aber der Fremdent-
wicklung, besinnt sich auf seine Selbstverantwortung (s. o.) und emanzipiert sich. Zu-
nehmend größere Selbstständigkeit ist dabei das Ziel. Die Personalentwicklung sieht in
diesem Kontext ihre Arbeit als „Hilfe zur Selbsthilfe“. Leben die Subjekte diese Auto-
nomie jedoch mit großer Stringenz aus, braucht es nach Neuberger (1991, S. 56) wieder
eine „unsichtbare Hand“, welche die Diversifikation in relevanten Teilen wieder auf einen
Nenner (z. B. die anvisierte Unternehmenskultur) bringt und damit homogenisiert. Bei der
letzten, dritten Variante steht nicht das Selbst als Objekt oder Subjekt im Vordergrund,
sondern der Prozess der Entwicklung und deren Eigendynamik. Ursache dieser als „Auto-
poiese“ bezeichneten „Selbsterzeugung“ ist das Leben bzw. die Natur selbst. Die dritte
Facette beschreibt daher die völlig unbeeinflusste, natürliche Entwicklung des Selbst –
wenn man es nur lässt. Jeder Entwicklungseingriff wäre eine „Perturbation“ genannte
Störung, auf die das System wiederum mit seiner Eigenart unvorhersehbar reagiert. Das
bereits in Abschn. 4.2.3 vorgestellte Konzept des „Growth Mindset“ von Carol Dweck
(2015) ist zu diesem Themenkomplex das aktuell wohl populärste Modell.
Zu der erwähnten, selbst verantworteten Selbstentwicklung in der obigen zweiten Va-
riante sowie der erlebten Kausalität bei den unverwechselbaren Handlungsweisen wird es
jedoch nur dann kommen, wenn sich das Selbst zuvor mehrfach als wirksam in seinen
Entwicklungsbemühungen erlebt hat, d. h. erfolgreich war. Die damit verbundene Selbst-
wirksamkeitsüberzeugung beschreibt (Hogrefe, 2019) die subjektive und bereichs­
spezifische Einschätzung der eigenen Fähigkeit, auf bewusst gewählte Maßnahmen
auch spezielle Konsequenzen folgen zu lassen. Ihre Wurzeln gehen zurück auf Albert
Banduras Forschung zum sozialen Lernen bzw. auf die Vorarbeiten zur Effektanzmotiva-
tion (vs. Defizitmotivation) und zur internalen vs. externalen Kontrollüberzeugung.
Einmal in der Person (in jungen Jahren) verankert, erweist sich diese als recht stabil.
Der positive Einfluss aller Konstrukte auf das Selbstwertgefühl liegt auf der Hand.
Eine Kombination aus stark entwickelter Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit ist
354 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

vermutlich eine hilfreiche Ausgangsbasis, um der zukünftig erforderlichen „VUCA-bi-


lity“ gerecht werden zu können.

Die kontextergänzte Triade: Selbstmanagement, Selbstregulation, Selbstkontrolle –


plus: Selbstführung
Im Rückgriff auf das seit den 1960ern richtungweisende Werk von Frederick H. Kanfer
zur Verhaltenstherapie-Forschung (Reinecker, 2000) sollen hier zunächst die im Titel er-
wähnten Kernbegriffe stärker differenziert werden, denn in der Praxis werden sie oft (un-
wissentlich) synonym verwendet.

Kanfer unterscheidet nicht nur Selbst- und Fremdkontrolle, sondern drei Kontroll-
instanzen. Die externe Umgebung auf der beobachtbaren Ebene (= α-Ebene), die inter-
nen, kognitiven Prozesse (z. B. Wahrnehmen, Denken, Bewerten etc.), thematische Inhalte
(= β-Ebene) und die γ-Ebene mit ihren biologisch-physiologischen (endokrinen)
Steuerungsmechanismen (z. B. Hunger, Durst etc.). Sie interagieren in jeder Situation in
spezifischer Intensität. So würde man – wenn überhaupt – von einem Kontinuum der
Selbst- bzw. Fremdkontrolle sprechen und das Ausmaß an Selbstkontrolle wäre durch das
Wirken der γ-Variable gegeben (Reinecker, 2000, S. 161).
So beschreibt Selbstmanagement bei Kanfer den dynamischen Interaktionsprozess
der drei Kontrollinstanzen und wird als Oberbegriff oder Metamodell verwendet – ist je-
doch nicht identisch mit seinem Ansatz der „Selbstmanagement-Therapie“ (Kanfer et al.,
1996). Man würde daher nur im Falle der erfolgreichen Anwendung von in der Therapie
erlernten Strategien im Alltag von Selbstmanagement sprechen. Bei dem Ansatz der
Selbstmanagement-Therapie handelt es sich um ein 7-Phasen-Modell zur interaktiven Ver-
besserung der Problemlösefähigkeit hinsichtlich der kognitiven Prozesse (Kanfer et al.,
1996, S. 49–61). Die Psychologie der Selbststeuerung nicht im klinischen Bereich, son-
dern als Grundlage gelingender Lebensführung erörtern Stephan Rietmann und Philipp
Deing (Rietmann & Deing, 2019).
Die Selbstregulation beschreibt in den Prozessstufen (1) Selbstüberwachung (oder -be-
obachtung), (2) Selbstbewertung und (3) Selbstverstärkung die bewussten oder unbewussten
psychischen Vorgänge, um das konkrete Verhalten zu steuern. Sie ermöglicht daher die
Unterbrechung einer Verhaltenskette z. B. in einer plötzlich geforderten Entscheidungs-
situation. Der potenziell iterative Prozess der Selbstregulation wird dabei so oft durch-
laufen, bis der gewünschte Soll-Zustand identisch mit dem jeweils gegebenen Ist-Zustand
ist (Reinecker, 2000, S. 163).
Die Selbstkontrolle ist als Spezialfall der Selbstregulation zu sehen und beschreibt das
bewusste Unterbrechen einer Verhaltensabfolge im Kontext eines Konfliktes. Als Konflikt-
typen nennt Reinecker (2000, S. 163) zum einen das „Widerstehen einer Versuchung“
(Beisp.: Nicht rauchen, obwohl die Zigarettenschachtel in greifbarer Nähe liegt), zum an-
deren das „heldenhafte Verhalten“ (Beisp.: Einhalten präventiver Kontrolluntersuchung
beim Zahnarzt). Methoden der Selbstkontrolle sind (1) Selbstbeobachtung, (2) Stimulus-
kontrolle, (3) Selbstverstärkung- und -bestrafung sowie (4) Selbstverpflichtungen in einem
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 355

„Vertrag mit sich selbst“. Einen tieferen Einblick in die Themen Selbstregulation und
Selbstkontrolle gibt Rainer Sachse in seinem aktuellen Buch mit gleichlautendem Titel
(Sachse, 2020). Obwohl das Thema COVID-19 sich in den kommenden Jahren relativie-
ren wird, macht es jedoch deutlich, dass beide Fähigkeiten in speziellen Lebenssituationen
zentral sein können. Auch wenn es dabei nicht potenziell um Leben und Tod geht.
Wie eingangs erwähnt, entstammen obige Begrifflichkeiten eher einem klinisch-­
psychologischen Kontext bzw. einer entsprechenden Forschungshistorie, die bis in die
60er-Jahre zurückreicht und in Frederick H. Kanfer ihren Protagonisten fand. Im organi-
sationalen Umfeld erhielt das Konzept des Selbstmanagements – nun als „Selbstführung“
(Self-Leadership) bezeichnet – erst Anfang der 80er-Jahre im Buch von Charles C. Manz
„The Art of self-leadership. Strategies for personal effectiveness in your life and work“
(Manz, 1983) einen sehr praxisorientierten Akzent. Furtner & Baldegger (2013, S. 59) be-
schreibt die „Selbstführung“ als „[…] selbstbeeinflussenden Prozesse zur Steigerung der
persönlichen Effektivität“. So sind die drei bisher genannten Arten der Selbstbeeinflussung
wie folgt zu unterscheiden. Handelt es sich bei der Selbstregulation um einen basalen,
permanenten, kybernetisch geregelten, bewussten oder unbewussten Kontrollprozess,
sorgt das Selbstmanagement mit dem Schwerpunkt einer normativen (Soll-)Zielsetzung
für deren Ausrichtung (→ wohin). Self-Leadership dagegen sorgt für die Klärung bzw. die
pragmatische Umsetzung bzgl. des „was“, „warum“ und „wie“ (Furtner & Baldegger,
2013, S. 61). Nach Panja Andreßen (2008) gibt es jedoch auch noch weitere Unterschiede
und Ähnlichkeiten zu anderen Konstrukten. So diente das eher klinisch ausgerichtete
Selbstmanagement-Konzept – genauer gesagt das Selbstregulation-Modell – von Anfang
an als Inspirationsquelle. Es war jedoch in seiner Komplexität hinsichtlich der Vermittlung
und Einübung auf einen geschulten Therapeuten angewiesen. Die Theorie der Selbst-
führung dagegen bot unmittelbare Handlungsanweisungen zur Steigerung der Regulations-
effektivität bei der Ausübung einer Tätigkeit. Sie erforderte jedoch ein Mehr an bewusster
Steuerung über speziell entwickelte Strategien, welche zugleich das Herzstück der Theo-
rie bilden. Diese Strategien, nachhaltig angewendet, erhöhen die erlebte Selbstwirksam-
keit und sind im Kern nach Andreßen (2008, S. 48) der gleichnamigen sozial-kognitiven
Lerntheorie von Albert Bandura sehr ähnlich. Bezogen auf die verschiedenen Motivations-
theorien („Cognitive-Evaluation Strategy“ (CET) und „Self-Determination-Strategie“
(SET)) sieht Andreßen (2008, S. 49) die CET als weiteres erklärendes Element im
Wirkungsgefüge der Selbstführungstheorie. Zu den soeben angesprochenen, das Modell
konstituierenden Strategien der Selbstführung gehören nach Andreßen (2008, S. 50):
erstens die „verhaltensorientierten Strategien“ mit den Unterkategorien „eigene Ziel-
setzung“, „Selbstbelohnung und -bestrafung“, der „Selbstbeobachtung“ und „Selbst-
erinnerung“. Zweitens die selbsterklärenden, natürlichen „Belohnungsstrategien“ sowie
drittens die „konstruktiven Gedankenmusterstrategien“ mit den konstituierenden Elemen-
ten „erfolgreiche Leistung imaginieren“, „Selbstgespräch“ und „Überzeugungen und
Sichtweisen bewerten“. Das letzte, dritte Strategiebündel wurde zudem im Konzept des
„Thought Self-Leadership“ gesondert betrachtet und konnte seinen positiven Einfluss auf
die Leistungsfähigkeit, Arbeitsqualität bzw. die Gesamtbeurteilung von Mitarbeitern zei-
356 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

gen. Verschieden ausführliche Beschreibungen finden sich bei Marco Furtner und Urs
Baldegger (2013) oder in dem Büchlein von Furtner „Self-Leadership. Praxis und
­Anwendung“ (Furtner, 2018). Da die Entwicklung valider Diagnoseverfahren zur Selbst-
führung bis zum Anfang der Jahrtausendwende auf sich warten ließ, hofft Andreßen (2008,
S. 54), dass die bislang eher seltene empirische Forschung im organisationalen Kontext
nun zahlreicher werden wird. Ihre Forschungsarbeit zu dem Thema (Andreßen, 2008)
wird zu einem späteren Zeitpunkt umrissen.

Self-Leadership als „Missing Link“ zwischen den Heroic- und Postheroic-­


Leadership-­Modellen
Die Publikation von Furtner & Baldegger (2013) macht auch deutlich, dass „Self-­
Leadership“ der „Missing Link“ zwischen den Führungsansätzen der sogenannten
Heroic-­Leadership-Konzepte (Beispiele wären: transaktionales und transformationales
bzw. charismatisches Leadership) und den Postheroic-Leadership-Modellen (Beispiele
wären: Super- bzw. Empowering Leadership, Plural/Shared Leadership) sein könnte. Fo-
kussieren Erstere auf eine oder wenige Einzelperson(en), „Heroen“, welche angeblich die
Geschicke einer Organisation lenken, sehen die moderneren, postheroischen Ansätze den
Erfolg eines Unternehmens auf mehrere Schultern verteilt. Damit es zu diesem allseitigen
Verantwortungsgefühl und letztlich auch (unternehmerischen) Handeln der Geführten
kommt, ist vonseiten der Führenden eine mehr oder minder lange Phase von Super- bzw.
Empowering Leadership notwendig. Das Neue daran ist, dass die Situation potenziell von
allen Beteiligten ein doppeltes „Sowohl-als-auch“ (in der Abb. 5.34 mit dem Kürzel
„s-a-a“ wiedergegeben), eine doppelte Ambidextrie (Beidhändigkeit) hinsichtlich der
Führung erfordert. Zum einen im Hinblick auf das „Full-Range-Leadership“, zum anderen
hinsichtlich des Single-/Solo- und des Plural Leadership. Die in diesem Kontext mehr oder
minder stark zu thematisierenden Konzepte zeigt die Abb. 5.34.

* Die Konzepte „Super Leadership“ und „Empowering Leadership“ werden synonym verwendet.
Furtner (2013) erweiterte den ersten Ansatz begrifflich zum „Transformationalen Superleadership“

(Single Leadership)
Plural
Full-Range-Leadership „Missing Link“
Leadership
Super
Leadership*
Transactional Transformational Shared Distributed
Leadership „s-a-a“ Leadership Leadership Leadership
Self Leadership

Single/Solo Leadership „Sowohl-als-auch“ (= s-a-a) Plural Leadership


Verdinglichung von Führung Führung als Prozess
(eher Fremdführung) (eher Selbstführung)

Abb. 5.34 Super- und Self-Leadership als „Missing Link“ bei den postheroischen Führungs-
modellen. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 357

Super-Leadership als zentraler Katalysator von Self-Leadership


Im Konzept des Super-Leadership oder Empowering Leadership (beide Begriffe können
synonym verwendet werden) arbeiten Führungskräfte darauf hin, die oben beschriebenen
Fähigkeiten zum (inneren) Self-Leadership sukzessive zu erhöhen. Das heißt, ihr Ziel sind
die Selbstregulation und -kontrolle, das Gefühl von Selbstwirksamkeit und letztlich natür-
lich eine Stimulation des Leistungsmotives des Mitarbeiters. Das leicht missverständliche
„Super“ in dem Begriff „Super-Leadership“ ist daher nicht als der beste bzw. omnipotente
Leader – i. S. eines „Superman“ oder einer „Superwoman“ – zu verstehen, sondern im
Sinne einer übergeordneten Verantwortlichkeit für das Ganze bzw. eines stark ent-
wicklungsorientierten Führungsstils. Der Begriff hat daher eher Parallelen mit der Super-
vision von Therapeuten und Coaches, welche zur Reflexion des eigenen Handelns anregen
sowie Qualität professioneller Arbeit sichern bzw. verbessern sollen. Super-Leadership
gibt Hilfe zur Selbsthilfe. Im Idealfall ist der Super-Leader sogar selbst ein erfolgreiches
und damit attraktives Rollenmodell für Self-Leadership und ermöglicht, auf der Basis des
bereits erwähnten Vorbildlernens von Albert Bandura, eine schnellere Aneignung dieses
Verhaltenssets. Die erforderliche Selbstlosigkeit des Super-Leaders, um die Geführten
schrittweise zu autonomem und initiativem Handeln zu ermächtigen und vordergründig
den eigenen Machtverlust in Kauf zu nehmen, ist einer der Kritikpunkte hinsichtlich der
Umsetzbarkeit des Konzeptes in der Realität. Im Rückgriff auf die Machtentwicklungs-
stufen von McClelland Mitte der 70er-Jahre stellen Furtner & Baldegger (2013, S. 222)
den dann als „transformationales Super-Leadership“ bezeichneten Führungsstil realisti­
scherweise an das Ende der vierstufigen Skala, die sich auf die integrative Konzeptbasis
der „Full-Range Leadership“ von Bruce J. Avolio (1999) stützt. Das heiß, die Skala be-
ginnt mit der Laissez-faire-Führung, bei der die Führungskraft die Quelle der Macht
außerhalb der eigenen Person verortet und deshalb seine Leute einfach „machen lässt“.
Auf der zweiten Stufe der „transaktionalen Führung“ geht es dem Führungsverantwort-
lichen darum, die Sanktionsmacht zu behalten, um mit Belohnungen oder Bestrafungen
den Mitarbeiter zu dem gewünschten Verhalten zu bewegen. Die Stufe 3a ist bei Furtner &
Baldegger verbunden mit der personalisierten, transformationalen und charismatischen
Führung, die durch die Dominanz egoistischen Machtverhaltens gekennzeichnet ist. Im
Kontrast dazu zeigt die sozialisierte, transformationale und charismatische Führung auf
der Stufe 3b ein sozialisierendes Machtverhalten. Dass Macht im altruistischen Sinne so-
zialisiert wird, ist nur auf der vierten und letzten Stufe des transformationalen Super-­
Leadership auszumachen. Wie anhand des Konzeptes der Macht das Thema Führung
grundsätzlich bipolar klassifiziert werden kann bzw. wie die Endpole im Detail hinterlegt
sind, zeigt die Abb. 5.35. Damit kann man sich angesichts von Unternehmen stets die
Frage stellen, inwieweit Führung auf das Individuum abzielt und es im ausgeprägtesten
Fall als „Personal“ verdinglicht (vgl. Abschn. 4.1) oder aber Führung über den Inter-
aktionsprozess erfolgt und dabei jede herausgehobene Rolle des Einzelnen im Sinne des
Ganzen und durch die Prozessorientierung relativiert wird.
Dass diese Forderung nach altruistischem Verhalten eine sehr personenabhängige und
visionäre Komponente hat, liegt auf der Hand. Es erklärt vielleicht aber auch in Teilen,
358 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

(Individuenzentriertes) (Beziehungs-/Prozesszentriertes)
Aspekte der Macht Single/Solo Leadership Plural Leadership
Verdinglichung von Führung Führung als Prozess
 Ungeteilt (monopolistisch)  Geteilt (Polypol oder Oligopol)
 Sanktionsrecht (Belohnen und Bestrafen)  „Natürliche“ Autorität, (Führungs-)Kompetenz, „Charisma“
 Rolle/Position in Hierarchieebene  Soziale Intelligenz neben technischer Intelligenz
Machtquelle
 Technische Intelligenz neben sozialer Intelligenz  Sozial konstruierter Prozess von dynamischen Beziehungen und
 Objektiv gegebene, messbare Eigenschaften (und Eigenschaften
Beziehungen)
 Formal-strukturelle, stabile Position  Informell, netzwerkartig
Machtsicherung  Solange Hierarchie stabil bzw. Person in „Amt und  Situativ, temporär je nach Interaktions- und Beziehungsdynamik
Würden“
 Vertikal bzw. unidirektional („top-down“)  Multidirektional
Machtausübung
 Pflichterfüllung, „Gehorsam“ der Follower  Commitment der Follower
 Top-down befördert (nach dem „Peter-Prinzip“)  Bottom-up (und top-down) je Situation neu gewählt (!?)
Machtzuwachs/
 Unidirektional („Kaminkarriere“)  Multidirektionale Lernreise
Karriere  Linearer Machtzuwachs mit Aufstieg  Nonlinearer Machtzuwachs, situations- u. personenabhängig
 Status(-symbole), Gehaltslevel  Multidirektionale Erfahrung
Machtsignale
 Bereichsgröße, große Führungsspanne  Positive Rückmeldungen der Follower
Machtrolle  „Heroic Leadership“, „Great Man“  „Postheroic Leadership“: „Primus inter Pares“

 „Günstlingswirtschaft“  Trittbrettfahrerei, „soziales Faulenzen“


Machtdegeneration
 Autokratie, „Diktatur“  Übernahme der Führungsrolle nur durch Gruppendruck
 Zu führendes Objekt („Personal“)/„Fremdführung“/  Sich selbst führendes Subjekt („Person“); über „Super Leadership“
Machteinfluss
Führung von außen zur Self Leadership/Führung von innen

Abb. 5.35 Aspekte der Macht beim individuen- und prozesszentrierten Führungsansatz. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved

warum laut einer Befragung der Porsche-Consulting im Jahr 2020 (Nicolai, 2020) gerade
einmal 20 % der Mitarbeiter mit ihren Führungskräften zufrieden waren. Die in Studien
nachgewiesenen, vielfältigen Vorteile von Super- oder Empowering Leadership für den
einzelnen Mitarbeiter, Teams und die gesamte Organisation (Furtner & Baldegger, 2013,
S. 214) müssen daher „nur noch“ realisiert werden. Jeder Praktiker in diesem Feld weiß
jedoch, dass es für dieses „nur noch“ sehr spezieller, organisatorischer Rahmenbe­
dingungen (Furtner & Baldegger, 2013, S. 229) bedarf, um letzten Endes einen wirklich
nachhaltigen Effekt zu erzielen. Dazu mehr in Abschn. 5.6.2. Gleiches gilt für die indivi-
duelle Super-Leadership-Entwicklung, welche nach Ansicht von Furtner & Baldegger
(2013, S. 217) über ihr siebenstufiges Prozessmodell auf den Weg gebracht werden kann.
Wie in Abb. 5.34 mit dem Doppelpfeil dargestellt, ist es dem Autor wichtig, (erneut)
herauszustellen, dass das eigentlich Neue und Herausfordernde in einer als VUCA be-
schriebenen Welt die schon in Abschn. 4.2 zitierte Ambidextrie der Führungsstile ist. Das
heiß, dass man sich im Idealfall je nach Situation dynamisch-adaptiv zwischen den beiden
Polen hin- und herbewegen kann. Dem Zeitgeist folgend, wird diese Flexibilität auch als
hybrid bezeichnet. Damit wäre ein situationsangepasstes „Sowohl-als-auch“ zeitlich wie
räumlich (d. h. innerhalb einer Organisation zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen
Einheiten der Organisation verschiedene Führungsstile!) möglich. Dies ist zugegebener-
maßen ein sehr hoher Anspruch, aber entspricht genau der von Dirk Baeker geforderten
und in Abschn. 4.1.1 thematisierten Komplexitätserhöhung bzw. Anpassung an Umwelt-
gegebenheiten.
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 359

Shared Leadership als eine zukunftsträchtige Ergänzung (!) zum Solo-Leadership


Doch was verbirgt sich hinter dem Schirmbegriff des Plural Leadership – dem Gegenpol
zum individuenzentrierten Single Leadership? Mit Endres & Weibler (2019) ist darunter
„die kombinierte Ausübung durch eine Mehrzahl an Personen“ zu verstehen (Endres &
Weibler, 2019, Kap. 2). Die „kombinierte Ausübung“ bezieht sich dabei auf die generelle
Abhängigkeit der agierenden Personen sowie die Parallelität der Führungsrollen. Darunter
fallen Führungsformen wie (1) Co-Leadership (auch: „duale Führung“), das Führungsdual
(auch „funktionale Doppelspitze“), die (3) verteilte Führung (oder „Distributed Leader-
ship“) und (4) Shared Leadership (auch: „Collective Leadership“). Diese kategorisieren
beide Autoren in einer Matrix mit den Dimensionen „Ausmaß der Führungsbeteiligung“
und „Ausmaß der gemeinsamen Ausübung der Führungsrolle“, also der Rollenüber-
lappung. Ohne an dieser Stelle auf die facettenreichen Diskussionen um die Konzepte
eingehen zu können, sollen hier nur die markanten Merkmale der (3) verteilten Führung
(oder „Distributed Leadership“) und der (4) geteilten Führung oder Shared Leadership
(oder auch: „Collective Leadership“) in Abb. 5.36 gegenübergestellt werden.

Im Rahmen der oben genannten Unterschiede zwischen der verteilten und der geteilten
Führung wies insbesondere Konrad (Konradt et al., 2006) darauf hin, dass im Kontrast zu
der verteilten Führung, bei der traditionell die Einzelperson eine entscheidende Führungs-
instanz darstellt, neben der personellen bzw. interaktionalen Komponente, das Team und
auch Organisationsstrukturen als weitere Instanzen wirken. Als (1) strukturelle Führungs-
instanz gelten dabei organisatorische Faktoren (wie z. B. Entlohnungssystem oder der
Dezentralisierungsgrad), strategiebezogene Faktoren (u. a. Führungsgrundsätze oder das
Ausmaß an Partizipation) und – nicht ganz begriffslogisch – auch kulturelle Elemente
(wie z. B. Wertehaltungen, Symbole etc.). Zu den (2) interaktionalen Führungsinstanzen

Unterscheidungs- Verteilte Führung Geteilte Führung


kriterien (Distributed Leadership) (Shared Leadership)
Ausübung von  Hoher Anteil der Führenden in einem Team bei geringer  Hoher Anteil der Führenden in einem Team bei intensiver
Führung gemeinsamer/temporärer Ausübung von Führung gemeinsamer/temporärer Ausübung von Führung

Verortung bzw.  Führungsverantwortung wird aufgeteilt in formal  Führungsverantwortung wird gemeinschaftlich wahrgenommen durch
Zuweisung von definierte Zuständigkeitsbereiche potenziell alle Teammitglieder
Führung  Formal-strukturelle (Vorab-)Definition  Informell-emergenter Prozess

Dauer & Stabilität  Auch temporär bzw. rollierend  Organisationsübergreifend bzw. netzwerkartig
von Führung
 Personelle Führung  Interaktionale Führung
Führungsinstanzen  Teambasierte Führung
 Strukturelle Führung

Führungsstil(e)  Ein oder mehrere Führungsstile  Beziehungsorientierter Führungsstil

Abgrenzung des  Erkennbare Teilführerschaft  Keine erkennbare Teilführerschaft


Führungshandelns
Analysefokus  Fokus von Analyse: eher deskriptiv  Fokus von Analyse: eher normativ

Führungsrolle  Führungskräfte für Teilbereiche  Teammitglied(er)

Abb. 5.36 Unterscheidungskriterien von ver- und geteilter Führung. © Stefan Stenzel 2022. All
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360 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

als Synonym für „Mitarbeiterführung“ zählen Konrad et al. (2006) das direkte Beziehungs-
handeln zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter. Unter teamorientierten Führungs-
instanzen wird die mehr oder minder geteilte Führungsaufgabe selbst verstanden. Ohne
dies bislang hinreichend empirisch belegen zu können, wird angenommen, dass die drei
Instanzen unabhängig voneinander wirken. Daher könnten strukturelle und teambasierte
Führung als funktionale Äquivalente für die interaktionale Führung wirken – da Führungs-
erfolg sich aus verschiedenen (kombinierten) Instanzen speisen könnte und mithin die
stärker wirkenden Faktoren die schwächere Instanz ausreichend kompensieren. Eine trag-
fähige, empirische Untermauerung dieser Instanzenhypothese wird Aufgabe der Führungs-
forschung der nächsten Jahrzehnte sein.
Eine Zusammenstellung von Gründen, warum diese Führungsvarianten heutzutage ge-
nerell (und so auch in diesem Kontext) immer häufiger auf Interesse stoßen, findet sich in
Abb. 5.37. Sie liefert die potenziellen Vorteile aus den drei wesentlichen Perspektiven:
Kunden, Mitarbeiter und Führungskräfte.
Empirische Belege für einen Großteil der in der Abb. 5.37 aufgeführten potenziellen Stär-
ken und weitere Pluspunkte finden sich in der Forschungssynopsis von Endres & Weibler
(2019) und Werther (2013) sowie Werther & Brodbeck (2014). Furtner & Baldegger (2013,
S. 208) und Werther (2014, S. 19) machen jedoch explizit darauf aufmerksam, dass sich diese
potenziellen Vorteile nur unter bestimmten Voraussetzungen realisieren lassen. Die wichtigsten
nach z. B. Werther & Brodbeck (2014, S. 19) sind dabei Vertrauen, Diversität, Kollektivismus,
Team-­Input (z. B. Kohäsion) und spezielle Aufgabenmerkmale (z. B. hohe Interdependenz).
Shared Leadership ist damit nicht die Lösung für alle organisatorischen Heraus-
forderungen, und jeder blinde Trendopportunismus ist damit bereits vorab zum Scheitern

Zielgruppen Potenzielle Vorteile von Shared Leadership

Kunden  Innovativere Service- oder Produktleistung durch (sozial) stimulierende Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter
 Expertise bzw. Entscheidungsbefugnis eher dezentral vor Ort
 Schnelleres und kompetentes Handeln vor Ort
 Flexible (personelle) Anpassung der Services und Produkte am Kundenbedarf
Mitarbeiter  Entspricht dem Wertewandel der (demokratischen) Beteiligung der Generation Y und Z
(MA)  Förderung der Gesundheit bzw. Arbeitszufriedenheit am Arbeitsplatz durch mehr Autonomie
 Qualifikation für Leader-Rolle  Rollenflexibilität
 „Austesten“ einer ohnehin auf Zeit angelegten Führungsrolle ohne Gesichtsverlust (da Rotationen „normal“)  Weniger unfähige
Führungskräfte durch ein „natürliches“ Assessmentverfahren
 Wissensaustausch und -vernetzung durch Rollenwechsel  Innovation
 Verbesserte Austausch- und Lernmöglichkeiten durch Zusammenarbeit
 Unterstützt die zunehmenden, virtuellen Arbeitsstrukturen
 Reduzierung von Silo-Denken
 FK-Rolle muss sich kontinuierlich durch Leistung legitimieren  Immer die geeignetste FK für die Aufgabenstellung und Gruppespezifika
Führungskräfte  Führungskräfte sind vom Persönlichkeitsprofil nicht überdauernd und für jede Situation geeignet (Beisp. „Krisenmanager“ vs.
(FK) „Schönwettermanager“)
 Verhinderung einer potenziell zu großen Entfernung (des Top-Mgt. im Elfenbeinturm) vom Kunden und von Mitarbeitern
 Reduzierung von Silo-Denken
 Verhinderung von ungerechtfertigter Status- und Machtabsicherung durch Günstlingswirtschaft
 Verhinderung des „Peter-Prinzips“ ( Beförderung und Verbleib bis zur Hierarchiestufe der Inkompetenz)
 Mentale Flexibilisierung durch Perspektivenwechsel (temporär auch wieder Mitarbeiter) verbessert Führungsqualität
 (Re-)Qualifikation für die Follower-Rolle  Rollenflexibilität und Kenntnis des (optimierungsbedürftigen) operativen Geschäftes
 Fachliche (Re-)Qualifikation bzw. intervallartiges Update hinsichtlich der Expertise
 Jobrotationen, temporäre Stellen und Rollen bzw. das jeweilige Feedback schaffen neue Kriterien zur FK-Auswahl hinsichtlich Eignung

Abb. 5.37 Potenzielle Vorteile von Shared Leadership für verschiedene Zielgruppen. © Stefan
Stenzel 2022. All Rights Reserved
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 361

verurteilt. Nur die professionelle Verwendung des richtigen Werkzeuges in der richtigen
Situation wird zum gewünschten Erfolg führen. Und hat man nicht nur einen Hammer,
muss nicht jedes Problem ein Nagel sein. Gefordert ist wiederum ein flexibel-intelligentes
„Sowohl-als-auch“. Bevor wir uns jedoch unter Abschn. 5.6.2 eingehender der Trans-
formation vom „Transformative Leadership“ (als Teilaspekt des Full-Range-Ledership)
über „Super-“ und „Self-Leadership“ zum „Shared Leadership“ widmen, sollen zwei wei-
tere, aus der Sicht des Autors für die Zukunft relevante Konzepte in der Führung ein-
geführt werden: das virtuelle Führen (auf Distanz) und das „Network/Open Leader-
ship“-Konzept.

Selbstführung als effektivste Führung auf Distanz – oder von der Kunst, aus
physischer Distanz keine psychosoziale Distanz werden zu lassen
Ist die Notwendigkeit oder gar der Zwang zu Homeoffice 2020/2021 durch COVID-19 der
wohl aktuelle Anlass, Führung auf Distanz zu leben und/oder zu erleben, zeigen die bis-
lang gemachten Erfahrungen aller Beteiligten, dass diese spezielle Situation bestimmte
Aspekte und Kompetenzbereiche der Führung bzw. Selbstführung auf allen Seiten stärker
akzentuiert. War es z. B. für einige Führungskräfte schon unter Normalbedingungen
schwierig, bei ihren Mitarbeitern emotional Resonanz bzw. Vertrauen aufzubauen, erleben
diese mit dem physischen Shutdown durch COVID-19 nun auch einen psychischen bei
ihren Mitarbeitern. Noch wichtiger: Ermöglichte zuvor der direkte Kontakt zum Mit-
arbeiter durch kurze Feedback- bzw. Korrekturschleifen noch eine Zielerreichung über ein
„Management by Durchwurschteln“, tritt die professionelle Unfähigkeit, zielorientiert zu
steuern – also der Kern von Management –, nun überdeutlich zutage (vgl. Boos et al.,
2016, S. 56). Denn „Führung und Zusammenarbeit in verteilten Teams“ (Boos et al., 2016)
ist anders und hat bei allen Vorteilen natürlich auch Nachteile. Für das spezielle Setting
„Homeoffice“ findet sich dazu in Abschn. 5.3.2 eine Übersicht. Um die Nachteile zu mi-
nimieren, empfiehlt es sich daher, die Besonderheiten näher zu beleuchten, ohne jedoch –
wie Bezeichnungen wie z. B. der Begriff „E-Leadership“ (Hertel & Lauer, 2012) dies
nahelegt – gleich einen neuen Führungsstil daraus zu machen oder aber den technischen
bzw. den Medienaspekt zu sehr herauszustellen (vgl. Boos et al., 2016, S. 3). Für die
Unternehmen ist es zumindest ein Brennglas – ein ungeplantes, aber sehr praxisbezogenes
Assessment – hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit ihrer aktuellen Führungsmannschaft.

Dem Autorengespann um Margarete Boos folgend soll an dieser Stelle daher von
„räumlich verteilten Teams“ oder „virtuellen Teams“ gesprochen werden. Definitions-
merkmale räumlich verteilter Teams sind nach Boos et al. (2016, S. 4) Interdependenz
(= Abhängigkeit durch gemeinsame Ziele und Aufgaben), mediengestützte Kommunikation
(= alle analogen und digitalen Medien) und De-Lokalisierung (= geografische Verteilung
bzw. Distanz als exklusives Merkmal). Obwohl im alltäglichen Erleben infolge von man-
gelnden Bandbreiten des Internets, der unzulänglichen oder gar nicht erfolgten Schulung
und Ausstattung bzgl. Hard- und Software seitens des Arbeitgebers aktuell die Medien-
nutzung von den Betroffenen als größte Herausforderung gesehen wird, ist es – wenn
362 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

diese „Anfangsschwierigkeiten“ einmal in 3–5 Jahren überwunden sind – die räumliche


Distanz (= De-Lokalisierung), die den bleibenden Unterschied machen wird. Daher fokus-
sierten Boos et al. bei ihrer Arbeit auch die Entwicklung von objektiven Merkmalen zur
„Vermessung“ dieser virtuellen Distanz. Ergebnis war ein Modell mit den folgenden vier
Dimensionen: (1) geografische Verteilung und (2) soziale Diversität infolge von individu-
ellen (z. B. Alter, Bildung, Erfahrungen etc.), sozialen (z. B. Macht, Status, Rang) und
kulturellen (Werte und Normen) Merkmalen. Ferner der Anteil der (3) medienvermittelten
Kommunikation (vs. Face-to-Face-Anteile) sowie die (4) Fluktuation (durch z. B. Free-
lancer, Click- oder Cloudworker; siehe Abschn. 5.3) und temporäre Netzwerkorganisation
der Arbeit mit der Folge hoher Instabilität hinsichtlich sozialer Beziehungen. Boos und
Kolleg:innen weisen jedoch explizit darauf hin, dass weniger die objektiv vermessbare,
sondern die subjektiv wahrgenommene Entfernung der Beteiligten den Kern der Führung
auf Distanz, die eigentliche Herausforderung darstellt (Boos et al., 2016, S. 7). Dies soll
jedoch die großen Schwierigkeiten, welche sich zuweilen bereits aus den anderen Dimen-
sionen für die Führungsarbeit ergeben, nicht kleinreden. Abb. 5.38 fasst die wesentlichen
Herausforderungen und Vorteile räumlich verteilter Teams zusammen.
Dass nicht wenige Merkmale sowohl als Vor- wie auch als Nachteile gelten könnten,
macht deutlich, dass es letzten Endes wahrscheinlich von der Perspektive und Qualität der
praktischen Umsetzung abhängt, ob das Arbeiten in räumlich verteilten Teams für die Be-
teiligten bzw. das Unternehmen als zielführend gesehen werden kann.
Zu diesen kritischen Einflüssen in der Praxis zählt auch das Verhalten der Führungkraft
selbst. Sind Mitarbeiter nicht direkt vor Ort, kann auf sie nicht unmittelbar eingewirkt
werden. Daher bekommen zum einen indirekte bzw. strukturelle Formen der Kontext-

Unterscheidungs-
Vorteile Nachteile/Herausforderung
kriterien
 Keine (Kosten durch) Reisezeiten, Anfahrtswege  Keine Strukturierung/Abgrenzung und/oder Auflockerung durch Reisen oder Anfahrtswege
Räumlich  Weniger/keine Büroräume möglich  Eigener Arbeitsraum („Homeoffice“) nicht immer vorhanden; improvisierte Lösungen oft unbefriedigend
 Arbeiten in vertrauter, heimischer Umgebung
 Paralleler Kontakt zu sehr vielen, verschiedenen Personen gleichzeitig  Kommunikation störungsanfälliger (z. B. Englisch als Fremdsprache; reduzierte nonverbale Kommunikation
bzw. in schnellerer Abfolge möglich bis zum Brustbereich, unzureichende Technik )
Sozialpsychologisch  Stärkeres Gefühl der Einheit und Zusammengehörigkeit, da sich  Unzureichende Konfliktbearbeitung (z. B. geringere Tiefe des Austausches)
/Kulturell potenziell die „Welt im Monitor“ versammelt  Potenzielle Konflikte durch kulturell bedingte, unterschiedliche Arbeitsauffassungen/-standards
 Förderung der essenziellen Vertrauenskultur zwischen den Mitarbeitern  Teamkultur/„Teamgeist“ aufwendiger zu entwickeln
und der Führungskraft und den Mitarbeitern  Informelle (z. B. zum Mittagessen, Kaffee), spontane Treffen/Austausch schwieriger
 Kommunikation expliziter, fokussierter und sachbezogener  Balance zwischen informeller Selbstorganisation und formalen (ggf. veralteten) Arbeitsvertragsinhalten
 Wachsende Selbststeuerungsfähigkeiten (z. B. Zeitmanagement,  „Emotionale Nähe“ schwerer herstellbar, Pflege sozialer Kontakte bewusster zu gestalten
Individual- Arbeitsmotivation etc.) und Autonomie der Person  Potenziell Auflösung fester Arbeitszeiten (24-7)
Psychologisch  Potenziell größere Arbeitszufriedenheit und -motivation durch einfachere  Gefahr der empfundenen Vereinsamung („Aus den Augen, aus dem Sinn“)
Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben  Schwächung des „psychologischen Kontraktes“
 Psych. und phys. Beeinträchtigungen durch permanente Mediennutzung („ZOOM-bies“, „ZOOM-Fatigue“)
 Kosteneinsparungen durch Auslagerung von Raum-, Wartungskosten  Unzureichende (Kompatibilität der) Technik, z. B. Bandbreite, Software bzw. Medienbrüche etc.
etc.  IT-Support muss ebenfalls virtuell agieren
Technisch  Kosteneinsparungseffekte durch komplett zentral steuerbare IT  Investitionen für (neue, zusätzliche) mobile Arbeitsgeräte (z. B. Laptop, Handy etc.)
 Auswahl der geeignetsten (häufig wechselnden) digitalen und/oder analogen Kommunikationsmedien
 Gefahr von Cyberangriffen (im heimischen Netzwerk) steigt
 Automatische/einfachere Dokumentation von Arbeitsprozessen  Ineffiziente Arbeitsprozesse (z. B. durch verschiedene Zeitzonen, Gefahr der Ablenkung u. Multitasking etc.)
 Einbindung eines (internen) Mitarbeiters in verschiedenen  Mehr Zeitaufwand, um jeweiligen Kontext darzustellen
Arbeitsorganisation
Teams/Projekten ist einfacher  Verdichtung der Arbeitsprozesse z. B. durch fehlende Wegezeiten
 Einfachere Einbindung von temporären, externen Arbeitskräften  Meetingorganisation aufwendiger
und/oder Kunden
 Automatische/einfachere Dokumentation von Arbeitsergebnissen  Arbeitsergebnisse potenziell schlechter, wenn die oben genannten technischen, organisatorischen,
 Innovation durch potenziell stärkere Synergieeffekte sozialpsychologischen neuen Anforderungen nur unzureichend erfüllt werden
Arbeitsergebnis
 Potenziell sind die Ergebnisse und Leistung der Teams höher
 Potenziell konzentrierteres und produktiveres Arbeiten

Abb. 5.38 Vorteile und Herausforderungen räumlich verteilter Teams. © Stefan Stenzel 2022. All
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5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 363

steuerung (die sogenannten „Führungssubstitute“ wie z. B. Zielvereinbarung, Leistungs-


feedback, Gehaltsstrukturen etc.), zum anderen dezentrale, durch die Gruppenmitglieder
übernommene Führungsaufgaben (Shared Leadership) einen höheren Stellenwert. In
diesem Kontext weist die sehr differenzierte Studie von Andreßen (2008, S. 229) darauf
hin, dass insbesondere ein transformativer Führungsstil bzw. das Empowerment der Mit-
arbeiter einen positiven Zusammenhang mit der notwendigen Selbstführung hat. Die
Untersuchung liefert starke Indizien, dass die geringeren quantitativen und qualitativen
Interaktionsmöglichkeiten in virtuellen Arbeitsstrukturen durch Selbstführung kompen-
siert werden können (Andreßen, 2008, S. 243). Daher wäre nach ihrer Ansicht sogar zu
fragen, inwieweit es bei sorgfältiger Vorbereitung der Mitarbeiter und Führungskräfte
durch spezielle Trainings überhaupt noch Führungskräfte braucht oder ob sich Unter-
nehmen nicht die situativen Vorteile beider Führungsansätze i. S. eines „Sowohl-als-auch“
zunutze machen sollten (Andreßen, 2008, S. 242). Daher wäre zu fragen, ob die radikale
Forderung des Managementguru, Gary Hamel, in seinem Harvard-Business-Review-Ar­
tikel über den in den USA führenden Nahrungsmittelverarbeiter Morning Star11 „First,
let´s fire all the Managers“ (Hamel, 2011), nicht zu verallgemeinernd wäre.
Hinsichtlich der erfolgreichen Implementierung des Führens auf Distanz bzw. ver-
teilter Teams sind auf einer Makro-, d. h. Unternehmensebene die bei Boos et al. (2016,
S. 87) sehr treffend und komprimiert dargestellten Anforderungen bzw. die konzertierten
Zusammenarbeit von IT- und Personalabteilung, der Arbeitsschutzabteilung bzw. des
Gesundheitswesens ein guter Anfang. Zu ergänzen wäre dies heutzutage durch die oft der
IT-Abteilung angeschlossene Datenschutzabteilung. Um diese idealistische Denkweise
fortzuführen, läuft das ganze Projekt zudem unter der nachhaltig engagierten Schirmherr-
schaft des Topmanagements und in Begleitung einer ggf. vorhandenen OE-Abteilung.
Dass dies auch nach Erfahrung von Boss und Kolleg:innen wohl nicht immer der Realität
entspricht, erklärt die zuweilen auch vernehmbare Frustration aller Beteiligten in diesem
Kontext. Womöglich sorgt COVID-19 hier für umfassendere und nachhaltigere An-
strengungen. Ferner ermöglichen wahrscheinlich die hybriden Arbeitswelten der kom-
menden Dekaden den Aufbau von (reflektierter) Erfahrung und sogar Routinen, dass auch
die „Früchte“ dieser neuen Realität spür- und sichtbar werden. Auf der Mesoebene bzw.
der Mikroebene ist die von Boos et al. (2016, S. 25 bzw. S. 61) vorgeschlagene Analyse
der bereits oben dargestellten vier Dimensionen ihres Kompetenzmodells für verteilte
Teams wie auch dessen einzelne Mitglieder ein solider Startpunkt. Sehr pragmatisch, aber
wenn immer möglich auch empirisch unterfüttert, finden sich bei Boos et al. (2016, S. 61)
auch für die der Analyse nachfolgenden Maßnahmen eine Vielzahl von Handlungs-
empfehlungen. Geradezu als Klassiker der Praktikerliteratur kann in diesem Sinne das
Büchlein der Vertreter des renommierten „Center of Creative Leadership“ von Kossler und
Prestridge (2004) gesehen werden. Ebenfalls geprägt von der angelsächsischen Pragmatik
sind Pullan (2016), Eikenberry und Turmel (2018) bzw. Gary Thomas (2014). Obwohl
Brite, verfasste Thomas sein Buch „Die virtuelle Katastrophe“ auf Deutsch – glücklicher-

11
https://www.morningstarco.com/. Zugegriffen am 03.02.2021.
364 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

weise ohne jedoch dabei seinen britischen Humor zu unterdrücken. Langjährig praxis-
erprobte Überlebenshilfe für virtuelle Teams in komplexen Matrixorganisationen gibt Hall
in seinem Buch „Speed Lead“ (Hall, 2007).
Forderten Boos und Kolleg:innen noch 2016 im Ausblick auf die zukünftigen Trends
der verteilten Teamarbeit, den dafür benötigten PE- und OE-Prozessen Zeit zu geben
(Boos et al., 2016, S. 126), sind wir weltweit durch COVID-19 zu unfreiwilligen Teil-
nehmern eines der größten Arbeitsplatzexperimente geworden (BCG, 2020). Als Folge
davon sieht eine 5-Jahres-Prognose für die USA eine ungefähre Verdopplung (von 12,3 %
auf 22,9 %) der permanent von zu Hause arbeitenden Belegschaft. Der Prozentsatz der
teilweise von zu Hause arbeitenden Mitarbeiter soll gemäß dieser Vorhersage von 8,9 %
auf 14,6 % steigen. So würden letztlich rund ein Drittel der Arbeitnehmerschaft in den
USA in den heimischen vier Wänden ihrer Arbeit nachgehen (World Economic Forum,
2021d). Doch gleich bei welchem Prozentsatz sich dieser Anteil in fünf Jahren einpendeln
wird: Die Distanz muss nach Boos und Kolleg:innen in der kommenden Dekade kompen-
siert, gemeistert oder im schlimmsten Fall ignoriert werden.
Letzteres hätte dabei in schlussendlicher Konsequenz die vollständige Ökonomisierung
der Ware „Arbeit“ zur Folge. Die in Abschn. 5.3 beschriebenen atypischen Beschäftigungs-
verhältnisse würden dabei am Rande aller arbeitsrechtlichen und sozialethischen Stan-
dards zur Normalität werden. Die „workforce on demand“ oder „liquid workforce“ im
schlimmsten Fall ein neues Prekariat hervorbringen, welches den Industriearbeitern der
frühindustriellen Revolution ähneln würde. Doch dieser potenziell hässlichen Seite der
digitalisierten Arbeitswelt steht ein etwas positiverer Entwurf entgegen.
Kompensiert durch z. B. die in Abschn. 2.1.2 beschriebenen VR-Technologien, durch
virtuelle Kaffeeecken zur gemeinsamen Pausengestaltung, gemeinsame Video-Grup­
penspiele oder aber virtuelles Kochen oder Backen als Teamevents. Auch wenn ein
ZOOM-Wettbewerb um die verrücktesten Hüte oder ein virtuelles Büro als Begegnungs-
stätte12 nicht jedermanns Sache sind, signalisiert die Vielfalt der Ideen, dass die (techni-
schen) Kreativlabors (Cross, 2020) zur Überbrückung der sozialen Distanz gerade erst
begonnen haben zu brodeln. Unter diesen sich derart allmählich verbessernden Rahmen-
bedingungen würden die insgesamt 60 % der 12.000 Teilnehmer der BCG-Studie (2020,
S. 5) aus den USA, Deutschland und Indien wahrscheinlich die größere Flexibilität hin-
sichtlich der Zeit und/oder des Ortes der virtuellen Arbeit noch stärker schätzen.
Um die Distanz zu meistern, sehen Boos et al. (2016, S. 128) das bereits eingehender
besprochene Konzept des Shared Leadership, aber auch Maßnahmen zur Bewältigung der
womöglich (gerade anfänglich) größeren mentalen und körperlichen Belastung. Wie auch
in der BCG-Studie (2020, S. 7) werden hier ausgleichende (virtuelle) Entspannungs- bzw.
Meditationskurse oder Programme zur Stressbewältigung vorgeschlagen. Auch spezielle
Angebote der Telefonseelsorge oder Lebenshilfe für die ganze Familie oder sogar eine
feste Anzahl frei nutzbarer Psychotherapiestunden könnten Teil dieses Offertenpaketes
sein. Für das körperliche Wohlergehen werden (virtuelle) Fitnessprogramme, regelmäßige

12
https://workadventu.re/ oder https://www.wonder.me/. Zugegriffen am 04.02.2021.
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 365

Facetime-Meetings während eines Spaziergangs oder (nach COVID-19) Vouchers für


einen lokalen Fitnesstrainer bzw. „Personal Coach“ angeführt. In der finanziellen Unter-
stützung bei der Einrichtung eines ergonomischen Arbeitsplatzes sieht die BCG-­Studie
(2020, S. 8) weitere gesundheitsförderliche Maßnahmen. Auch die Idee, dass Firmen
sogar Kinderbetreuung in der einen oder anderen Art unterstützen, würde bei den Be-
troffenen wahrscheinlich auf große Resonanz stoßen.
Die intensive Kräftigung nicht nur dieses „virtual social intimacy muscle“, wie die
Studie (BCG, 2020, S. 10) es nennt, sieht die renommierte Unternehmensberatung als
­entscheidend dafür, wer als Gewinner aus diesen überaus fordernden Pandemiezeiten
hervorgeht. Denn fest steht: Bei allem Negativen ist dies eine zwar unerwartete, aber eben
auch einmalige Chance, die Arbeit grundlegend neu zu erfinden, und was wir heute zum
Teil als virtuelles Arbeiten (zuweilen auch leidvoll) erleben, ist aller Wahrscheinlichkeit
nach erst der holprige Anfang einer Zukunft, die es wiederum aktiv zu gestalten gilt.

Als Influencer mit Followern in den sozialen Medien zu einer neuen Dimension von
Leadership
Wie auch bei der verteilten und/oder der virtuellen Führung erweist sich die Bereitschaft und
Fähigkeit, loszulassen bzw. Kontrolle aufzugeben, auch bei der Nutzung der sogenannten
„sozialen Medien“ zur Kommunikation innerhalb und außerhalb des Unternehmens als zu-
nehmend erfolgskritische Eigenschaft von Führungskräften in einer digitalisierten Arbeits-
welt. Denn war bis vor ca. 15 Jahren ein wesentliches Medium der Führung auf Distanz die
schriftliche Kommunikation per E-Mail, wurde diese in der gleichen Zeit zunehmend durch
die sozialen Medien wie WhatsApp, Twitter, Instagram, Facebook etc. ergänzt.

Dass dies kein vorüberziehender Trend mehr ist, zeigt die globale Anzahl der alltäg-
lichen Nutzung aller sozialen Medien im Januar 2021: Es waren ca. 4,2 Milliarden Men-
schen – also 53,6 % der Weltbevölkerung. Diese und andere, stärker auf spezielle Kunden-
wünsche maßgeschneiderte Analysen oder aber ein laufendes Monitoring aller Aktionen
und von deren Reaktionen in diesem Bereich liefern sogenannte Social-Media-Agenturen
wie z. B. Hootsuite, Brandwatch oder Socialbakers. Globale und nationale Analysen die-
ses parallel zu den eigentlichen sozialen Medien entstandenen, neuen Wirtschaftszweiges
finden sich mit weltweiter Reichweite z. B. bei Hootsuite,13 Socialbakers14 oder für
Deutschland z. B. bei dessen Partnerunternehmen von „We Are Social“15 oder Brand-
watch.16 Die Anzahl der Nutzer ist dabei im Wirtschaftsbereich wahrscheinlich umso
höher, je jünger das Unternehmen (und damit auch die Führungskräfte und/oder die Beleg-

13
https://www.datareportal.com/reports/?tag=Global+Overview. Zugegriffen am 22.02.2021.
14
https://www.socialbakers.com/statistics. Zugegriffen am 22.02.2021.
15
https://www.wearesocial.com/de/blog/2021/02/digital-2021-wie-digital-ist-deutschland. Zugegriffen
am 22.02.2021.
16
https://www.brandwatch.com/de/blog/interessante-social-media-zahlen-und-statistiken/#sec-
tion-9. Zugegriffen am 22.02.2021.
366 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

schaft) und – laut dem „Social C-Suite Report Hlbj. 2/2019“17 – je finanz-, technik- oder
IT-näher es ist.
Generell gilt jedoch: In den heute größeren bzw. etablierten Unternehmen werden die
jungen Mitarbeiter der Generation X und Y mit dem Ausscheiden der Babyboomer zwi-
schen 2025 und 2035 die echten Digital Natives der Generation Y und Z führen. So stellt
sich heutzutage (2021) noch für die letzten Jahre der Babyboomer – auf jeden Fall aber für
die Gen X wie auch Y nicht mehr die Frage, ob, sondern nur noch wie sie die Social Media
auch zur Führung der Mitarbeiter (in verteilten Teams) einsetzen wollen. Damit handelt es
sich hier mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur um eine kurzlebige Mode, sondern um
einen fundamentalen, kulturellen Wandel. Dieser geschieht aber eben nicht mehr nur
innerhalb bzw. auf den unteren und mittleren Hierarchiestufen oder im Bereich des
Projektmanagements des Unternehmens. Denn im Zeitalter der Transparenz und Offen-
heit erheben immer stärker auch Kunden, Analysten, Investoren, Zulieferer, Influencer,
die Politik wie auch „die Öffentlichkeit“ in gewisser Weise geradezu einen Anspruch,
hinter die Kulissen der ganzen Firma blicken zu dürfen, um die „wahren“ Gedanken und
Pläne etc. der Unternehmenslenker:innen zu erfahren. Daher ist in diesem Zusammenhang
insbesondere das Topmanagement gefordert; und wie auch bei der realen sozialen Kom-
munikation scheint dabei die Authentizität der Botschaft i. S. und die Reputation des
Senders i. A. ein Schlüsselfaktor der Wirksamkeit zu sein.18 Ist dabei Vertrauen ein
Erfolgsindikator dieser Authentizität der Eliten in Wirtschaft und Politik, misst das „Edel-
man Trust Barometer“19 diese kontinuierlich. So wies z. B. das Jahr 2020 eine gewisse
Schieflage auf. Diese (ggf. kriselnde) Vertrauenswürdigkeit wie auch die erwähnte
Authentizität gepaart mit dem gekonnten Balanceakt der Selbstoffenbarung bieten wahr-
scheinlich geeignete Ansatzpunkte für klärende Coaching-Gespräche. Die Impression-­
Management-­Forschung der Sozialpsychologie (Mimmendey, 1995) hält hier sicher sehr
fruchtbare Modelle bereit. Wie dies dann letzten Endes medial dargestellt werden kann,
wäre wiederum Aufgabe des Social-Media-Managers.
Doch gleich wie das „Open Leadership“ (Li, 2010) gelebt wird: Insbesondere für die
Topetagen wird zukünftig nicht mehr die Frage sein, ob sie die sozialen Medien zur inter-
nen und externen Kommunikation nutzen wollen, sondern wie aktiv oder reaktiv sie dabei
agieren und die Vor- und Nachteile in der speziellen Situation jeweils bewerten wollen.
Zu den besonderen Stärken bzw. Vorteilen für (Top-)Führungskräfte zählt zum einen,
dass Offenheit immer Souveränität und Selbstbewusstsein signalisiert bzw. sie mit der Art,
wie sie in den Social Media kommunizieren, als Rollenmodell den „Stil des Hauses“ ver-
körpern. Ferner verleiht es das Gefühl der Autonomie und Selbstwirksamkeit, das eigene
„Impression Management“ selbst in die Hand zu nehmen, anstatt es über Fremdwahr-

17
https://www.volkerdavids.de/social-c-suite-dach-report-2019-2-quartal/. Zugegriffen am 24.02.2021.
18
https://www.brandwatch.com/de/blog/online-reputationsmanagement/. Zugegriffen am 24.02.2021.
19
https://www.edelman.de/research/edelman-trust-barometer-2020. Zugegriffen am 24.02.2021.
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 367

nehmungen definieren zu lassen – insbesondere in Krisensituationen (Stichwort „Shit-


storm“). Zudem ist es bei stringenter Handhabung wahrscheinlich ein zumindest mittel-
fristig zielführender Ansatz, sich als Thought Leader oder „Marke“ einer Branche zu
profilieren und damit einen Unterschied zu machen. So tragen entsprechende Ratgeber
auch Titel wie „Lead the Future – Shape your Brand“ (Zeitler, 2020). Konkret können mit
Stefanie Babka (2016, S. 2) neben der eigentlichen Vernetzung über die sozialen Medien
Inhalte aktiv geteilt, kommentiert, bewertet, erweitert, aber eben auch reaktiv korrigiert
werden. Neben dem dafür erforderlichen, täglichen Zeitinvestment liegen die Nachteile
damit auf der Hand: Man verzichtet auf die soeben genannten Vorteile bzw. verpasst – und
dies ist potenziell wahrscheinlich folgenreicher –, was die internen und externen Stake-
holder dem Unternehmen mitteilen wollen. Und das kann fatal sein!
Im Extrem zeigte sich dies bei dem schon legendären „4 Billion US-Dollar Tweet“ am
16.12.2016 von Donald Trump, in dem er eigenmächtig Einsparungen hinsichtlich des
Kampfjets F-35 der Lockheed Martin ankündigte. Die Aktien der Waffenschmiede fielen
daraufhin an einem einzigen Tag um 5 % – also um 4 Milliarden Dollar. Die Vermutung,
dass Letzteres nicht geschehen wäre, wenn zumindest eine Person in der Führungsetage
des Unternehmens auf Twitter präsent gewesen wäre und entsprechend hätte reagieren
können, bleibt sicher unbeantwortet. Deutlich wurde an diesem Beispiel jedoch die un-
geheure Macht dieses Kommunikationswerkzeuges hinsichtlich Schnelligkeit und Reich-
weite der Informationsverbreitung. Die letzte derartige Disruption in diesem Bereich war
wohl der Buchdruck Johannes Gutenbergs um 1450. Was jedoch die Reichweite anbelangt,
nimmt im Februar 2021 den absoluten Spitzenplatz unter den Politikern der USA im Twit-
ter-Ranking (Socialbakers.com, 2021) nicht Donald Trump (mit ca. 80 Millionen Follo-
wern) ein, sondern Barack Obama mit seinen ca. 129 Millionen Followern. Zu den
­einflussreichsten Accounts der amerkanischen Wirtschaft zählen mit wechselnden Spitzen-
plätzen die von Tim Cook (Apple), Bill Gates (ehemals Microsoft, jetzt Bill und Melinda
Gates Stiftung), Elon Musk (Tesla Motors), Richard Branson (Virgin) und Rupert Mur-
doch (21st Century Fox).
Dass man als „Influencer“ über Textnachrichten das Verhalten nicht nur einzelner
Menschen, sondern einer ganze Nation beeinflussen, also (ver-)führen kann, wird nach der
Präsidentschaft von Donald Trump generell niemand mehr bezweiflen. Das „wie“ i. S. von
Staatskunst, Moral, Ethik oder von guten Sitten klammern wir dabei für einen Moment
bewusst aus. Aber nüchtern betrachtet ist es Trump über Twitter mittels eines überwiegend
minimalen (oft sogar oft nur in Einwortsätzen) und stark populistisch gefärbten Worschat-
zes gelungen, dem Trumpismus sein Medium zu geben und ca. 89 Millionen Personen zu
seinen treuen „Followern“ zu machen bzw. sich auf wahrscheinlich ca. 40 % der Stimmen
US-amerikanischer Wähler fest verlassen zu können. Was Hitler bzw. Goebbels Anfang
der 1930er-Jahre u. a. über den Äther des für jeden erschwinglichen „Volksempfängers“
gelang, erledigte für Trump ein kleines, blaues Vögelchen. Wie mächtig bzw. gefährlich
dieses zwitschernde Vögelchen in seiner Hand geworden war, wurde durch seine „Ent-
waffnung“ mittels der Sperrung seines Accounts am Ende seiner Präsidentschaft offen-
kundig. Ob erfolgreiche Führungsarbeit in Zukunft mit der Selfmarketing-Expertin
368 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Baraba Liebermeister im Wesentlichen über professionelles Influencing wirksam werden


kann bzw. ob „In Zukunft führt, wer Follower gewinnt“ (Liebermeister, 2020), sei jedoch
dahingestellt. Im Falle von Donald Trump wäre dies zumindest für den Autor ein er-
schreckender Gedanke. So kommt es wohl eher darauf an, wie man Erfolg definiert. Denn
abgesehen von Trump gilt wohl: Je höher die Influencer:in positioniert ist, desto weniger
glauben zumindest erfahrene Follower daran, dass die Kommunikation nicht intensiv von
internen und/oder externen Beraterstäben begleitet wird, und dies relativiert die so ge-
priesene Authentizität eigentlich per se. Erfahrene Trainer erinnert dies alles an die be-
sonders in den 80er-Jahren gehypten Seminare zur Körpersprache und die Aussage des
damaligen Protagonisten Samy Molcho: „Die Körpersprache ist der Handschuh der
Seele“. Das Problem hinsichtlich der Tiefenwirksamkeit solcher Seminare war (und ist),
um im Bild zu bleiben, dass das Leder des (verpassten) Handschuhs noch so edel und fein
sein konnte, wenn darin weiterhin eine Faust oder „Fischhand“ steckte, die dann meist in
Stresssituationen sehr schnell wieder zum Vorschein kam. Mit einem Coaching zunächst
an der „Seele“, an der Innenwelt anzusetzen, könnte daher langfristig zielführender oder
zumindest unterstützend hilfreich sein. Letztlich werden wahrscheinlich nicht nur das
Branding, die Suchmaschinenoptimierung (SEO) und Traffic-Generierung durch Social-­
Media-­Manager, sondern das alltägliche Führungshandeln, die (besonders in schwierigen
Situationen) getroffenen Entscheidungen und vor allem der letztliche Unternehmenserfolg
(oder der Erfolg bei einer politischen Kampagne) darüber entscheiden, wer wie viele Fol-
lower gewinnt. An „Losern“ ist die Welt nicht interessiert. Daran ändern wahrscheinlich
selbst auf einem Executive-Level auch die spontansten Posts und Tweets oder niedliche
Fotos der neuen Familienkatze nichts!
Ohne jeweils die dahintersteckenden Beraterbudgets oder die Größe der Beraterteams
zu kennen, gibt es auf jeden Fall auf beiden Seiten des Atlantiks sehr positive Beispiele für
die Handhabung der Social Media. So heißen die aktuellen „Stars“ der Social-Media-­
Manager in den USA Tim Cook (Apple), Richard Branson (Virgin), Adena Friedman
(Nasdaq), Satya Nadella (Microsoft) oder John Legere (T-Systems, USA). In Deutsch-
land belegten lange Zeit diese Spitzenplätze hinsichtlich ihrer Social-Media-Aktivitäten
der 2021 zurückgetretene Joe Kaeser (Siemens) sowie der 2020 zu Servicenow ge-
wechselte Ex-CEO der SAP SE, Bill McDermott. Bei den Frauen ist dies die Ex-CHRO
von Siemens, Janina Kugel, die 2021 von Microsoft zu SAP SE gewechselte Sabine Ben-
diek oder die 2021 ebenfalls zu neuen Ufern aufgebrochene Ex-Kommunikationschefin
2021 der Comdirect Bank, Annette Siragusano. Generell scheint es jedoch so zu sein, dass
die Führungselite in Deutschland im Vergleich zu den USA bzgl. ihrer Social-Media-­
Aktivitäten noch zurückhaltender ist.20
Neben den sehr personenspezifischen Themen, die für die „Medienpromis“ auf der
Basis ihres Nutzerengagements analysiert werden können, sind es Themen hinsichtlich
des Gesamtunternehmens, die über die sozialen Medien ihren Weg in die Öffentlichkeit

https://www.brandwatch.com/de/blog/analyse-zum-social-media-auftritt-von-fuehrungskraeften/.
20

Zugegriffen am 03.11.2020.
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 369

finden. Gemäß einer Auswertung von Statista21 im Jahr 2021 reicht die Palette dabei von
der allgemeinen Berichterstattung über die Organisation (56,9 %), über Neuerungen,
Ideen und Innovationen (48,2 %), über Produktinformationen (42,1 %) bis hin zu Finanz-
und Verhaltensthemen (5 %). Wie die verschiedenen Unternehmensbereiche innerhalb
der Organisation die sozialen Medien nutzen können, beschreibt die bereits erwähnte Ste-
fanie Babka in ihrem Buch „Social Media für Führungskräfte“ (Babka, 2016). Als die
Bibel für diesen organisatorischen Kontext muss jedoch das bereits 2009 erschienene
Buch des Direktors der „MIT Initiative on the Digital Economy“22 Andrew McAfee, „En-
terprise 2.0“ (McAfee, 2009), gesehen werden.

„Open Leadership“ als Akzentuierung der internen und externen


Beziehungsgestaltung über soziale Medien
Als eine weitere Pionierin für das Themenfeld „Leadership“ in diesem Kontext gilt die
bereits erwähnte Charlene Li. Zum einen mit ihrem bereits 2008 erschienenen Buch
„Groundswell: Winning in a World Transformed by Social Technologies“ (Li & Bernoff,
2008), zum anderen mit ihrem 2010 publizierten Folgewerk „Open Leadership“ (Li,
2010), welches im Untertitel programmatisch beschreibt, worum es geht: „How Social
Technology Can Transform the Way You Lead“. Das bedeutet aus ihrer Sicht, „das Vertrauen
und die Bescheidenheit zu besitzen, nicht alles unter Kontrolle haben zu wollen bei gleich-
zeitiger Anregung zur selbstgesteuerten Zielerreichung“ (Li, 2010, S. 14, übersetzt durch
den Autor). Obwohl ihr zentrales Thema eine neue Art der Beziehungsgestaltung nach
innen und außen ist, wurzelt das von ihr entwickelte 4-Felder-Modell des Open Leader-
ship (Li, S. 174) in der Denkweise der Eigenschafttheorien. So definieren sie anhand der
zwei bipolaren Dimensionen „Pessimismus-Optimismus“ und „individualistisch-­ kol­
laborativ“ vier Archetypen: den Cautious Tester, Worried Skeptic, Transparent Evangelist
sowie den Realistic Optimist. Jeder dieser Archetypen steht für eine spezielle Annäherungs-
weise an die Social Media. Wie schon erwähnt, definiert sie über diese starke, thematische
Einengung – wenn überhaupt – ein Partialmodell von Führung. Die Social Media sind – wie
auch die oben ausführlich besprochene Selbstführung – aus Sicht des Autors nur ein weite-
res, jedoch sehr zeitgemäßes Tool im Werkzeugkoffer von Kerrs und Jermiers Führungs-
substituten (Kerr & Jermier, 1978): Im Kern ist die Nutzung der Social Media als ein Auf-
hänger für eine viel umfassendere Thematik (Offenheit/Vertrauen) zu sehen. Das zentrale
Element des Vertrauens kann nach Li über fünf Beziehungsregeln entwickelt werden. Zum
einen sind da zunächst die (1) Anerkennung der Macht von Kunden und Mitarbeitern (in
den sozialen Medien) (Li, 2010, S. 14), eine (2) auf die Verlässlichkeit des wechselseitigen
Gebens und Nehmens gegründete Vertrauensbeziehung, (3) echte Neugier in Bezug auf den
anderen und eine Bescheidenheit, die auf der Anerkennung der Fähigkeiten und Sicht-
weisen anderer beruht und zu ständiger Lernbereitschaft gemahnt, die (4) gegenseitige Ver-

21
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/199867/umfrage/themenschwerpunkte-von-unterneh-
men-bei-der-information-ueber-social-media/. Zugegriffen am 03.11.2020.
22
http://ide.mit.edu. Zugegriffen am 03.11.2020.
370 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

pflichtung, die Offenheit nicht zu missbrauchen, und zu guter Letzt, die (5) wahrscheinlich
unvermeidlich auftretenden Fehler schnell verzeihen zu können.

Zentrale Themen für den Umgang mit Social Media sind jedoch auch bei ihr Authentizi-
tät und Transparenz. Verweist Li (2010, S. 189) bei Letzterer auf die Voraussetzung von
konsistent vertrauenswürdigem, integrem und ehrlichem Agieren in den Social Media
bzw. darauf, dass diese nur von anderen zugeschrieben werden kann, wird die potenzielle
Langfristperspektive dieses Lernprozesses deutlich. Gleiches gilt nach Li für die Trans-
parenz. Hinsichtlich der Transparenz hebt sie hervor, dass dies eben nicht bedeutet, jeder-
zeit und allerorts alles sichtbar zu machen oder zu sagen, sondern stets in Abhängigkeit
von der Zielgruppe und Situation. Als essenzielle Mindsets für einen Open Leader sieht Li
(2010, S. 202) die echte Begeisterung für ein Thema, eine starke Kunden- bzw. Be-
ziehungsorientierung und den starken Wunsch, durch einen genaueren bzw. kritischen
Blick generell zur Verbesserung der Dinge beizutragen. Wie auch beim alltäglichen Be-
ziehungsaufbau und hinsichtlich der Beziehungsgestaltung mit anderen Menschen (hier:
alle Stake- und Shareholder des Unternehmens) rät Li (2010, S. 217) auch in diesem Kon-
text zu einer grundsätzlichen Bereitschaft zum Perspektivenwechsel, zu Geduld, Nach-
sicht und einer von Offenheit und Bescheidenheit getragenen Lernbereitschaft. Ins-
besondere gilt dies für den ggf. auch kritischen Input, welchen man in der medialen
­Interaktion früher oder später erhält. Damit die zuvor genannten Eigenschaften zu den
kulturbestimmenden Geisteshaltungen im Unternehmen werden, empfiehlt die Autorin
ferner eine gezielte Auswahl-, Beförderungs- und Trainingsstrategie sowie die Ent-
wicklung einer entsprechenden Kultur (Li, 2010, S. 203). Wie sich Lis Denk- und
Handlungsweisen eines offenen Führungsansatzes von eher traditionellen Konzepten
unterscheiden, kontrastiert zusammenfassend die Abb. 5.39.
Da Li als erfahrene Beraterin jedoch weiß, dass die Ausgestaltung der Social-­Media-­
Kommunikation nur ein neuer Indikator für die aktuell herrschende, generelle Informati-
ons- und Entscheidungskultur in einem Unternehmen ist, bietet sie allen Interessenten
vorab ein kurzes Audit an (Li, 2010, S. 44). Im wichtigen Strategieteil ihres Buches be-
arbeitet sie die für Führungskräfte zentralen Fragen, wie offen sie denn nach innen und
außen sein wollen bzw. wie die Gratwanderung dieses Balanceaktes zwischen Offenheit
und Verschlossenheit mit einem „Sowohl-als-auch-Ansatz“ und Erstellung von Social-­
Media-­Richtlinien erfolgreich gemeistert werden kann. Das in der oben geschilderten
Trump-Anekdote angesprochene Risiko- bzw. Kosten-Nutzen-Verhältnis ist ein weite-
rer Gegenstand ihrer sehr pragmatischen Ausführungen.

„Network-Leadership“ als Akzentuierung der internen und externen


Beziehungsgestaltung
Ohne den expliziten Bezug zu den sozialen Medien – jedoch mit dem kühnen Anspruch, das
Duo des transaktionalen und transformationalen Führungsstils zu einem Trio zu erweitern –
veröffentlichte vier Jahre nach Charlene Li im Jahr 2014 das Corporate Executive Board
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 371

Denk- und Handlungsweisen traditioneller Führungsansätze Denk- und Handlungsweisen offener Führungsansätze

Geringes Zeitinvestment, um Beziehungen über Authentizität und Transparenz Aktive Beziehungsgestaltung basierend auf Authentizität sowie Transparenz,
zu gestalten benötigt daher Zeit
Nutzt Anweisungen und Kontrolle, um eine gesetzte Strategie über die Versucht Commitment für die gesetzte Strategie über breit angelegte
formalen Führungsstrukturen „durchzudrücken“ Informations- und Diskussionsprozesse zu erhalten
Nutzt formale, organisatorische Berichtswege, um die Vision und Strategie in Nutzt informelle Netzwerke, um die Vision und Strategie in alle Bereiche der
die Organisation zu tragen Organisation zu tragen
Überzeugung, dass die Fähigkeit, zu führen, nur wenige besitzen Überzeugung, dass jede(r) zumindest das Potenzial zur Führung hat. Ob sie/er
es nutzen bzw. leben will, ist eine andere Frage
Beziehungen vorwiegend zu Top-Managern/Peers, innerhalb der eigenen Beziehungen zu Beteiligten auf allen Ebenen und in allen Bereichen, innerhalb
Gruppe und eigenen Organisation und außerhalb der Organisation
Vertrauensaufbau durch verlässliche Transaktionen (z. B. Belohnung(-sentzug)) Vertrauensaufbau durch Inspiration, Integration und Partizipation
Information als Machtfaktor, daher strikte Informationskontrolle aus Angst vor Entwicklung einer Kultur der Informationsteilung, welche auf reziproke
Informationslecks und damit einhergehendem Machtverlust Vertrauensbildung setzt
Schafft Regeln für konformes und konsistentes Verhalten Schafft Regeln zur bewussten Risikoübernahme

Abb. 5.39 Denk- und Handlungsweisen traditioneller und offener Führungsansätze. (Quelle: an-
gelehnt an Li, 2010, S. 213; übersetzt durch den Autor; mit freundlicher Genehmigung von © Wiley
2010. All Rights Reserved)

(CEB; heute ein Teil der Gartner-Gruppe) ein Konzeptpapier mit dem Titel „The Rise of the
Network Leader. Reframing Leadership in the New Work Environment“ (CEB, 2014). Aus-
gangspunkt dieses Konzeptes für CEB (2014, S. 7) waren die Ergebnisse einer globalen
Befragung von 23.000 Senior Managern. In dieser Studie berichteten 80 % der Befragten
über einen stärkeren Verantwortungszuwachs, 76 % über anspruchsvollere bzw. breiter ge-
fasste Zielsetzungen, 65 % über höheren zeitlichen Druck resp. höhere Geschwindigkeits-
anforderungen bei der Zielerreichung, 50 % über eine globalere Rolle sowie 54 % über einen
häufigeren Wechsel ihrer Zuständigkeiten. In einer Folgestudie an ca. 3000 Führungskräften
wurde zudem deutlich, dass 57 % der Teilnehmer geografisch verteilte Teams, 50 % Organi-
sationen mit Matrixstrukturen, 67 % höhere Kollaborationsanforderungen und 78 % ein stei-
gendes Volumen der zu verarbeitenden Information als die bestimmenden Aspekte einer sich
dramatisch verändernden, neuen Arbeitswelt gesehen werden könnten (CEB, 2014, S. 7).
Diese Erkenntnisse waren für CEB Grund genug eine Neuakzentuierung des Beziehungs-
aspektes bzw. eine Ergänzung der Führungsmodelle zu fordern. Das daraufhin entwickelte
Konzept des sogenannten ­Network-­Leadership zeigt sich nach CEB (2014, S. 11) in der
Entwicklung, Abstimmung und Ermächtigung zur übergreifenden Netzwerkbildung inner-
halb und außerhalb der Organisation mit dem Ziel der Leistungssteigerung. Sie setzt mehr
auf indirekte Beeinflussung als auf direkte Kontrolle und erfordert Führungskräfte, die ein
Arbeitsumfeld schaffen, welches auf Autonomie, Empowerment, Vertrauen, Teilen und Kol-
laboration basiert (CEB, 2014, S. 11, übersetzt durch den Autor). Die Flexibilität, situations-
bezogen alle drei Verhaltenssets (transaktional, transformational, vernetzend) zu zeigen,
konnte nur bei 7,3 % der 3000 Probanden nachgewiesen werden. Wie sich die drei An-
forderungen in konkretem Handeln zeigen, komprimiert die Abb. 5.40, die eine Zusammen-
fassung des Kernkonzeptes des CEB-Artikels (2014, S. 20–30) darstellt.
372 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Prinzipien Kernaufgaben Ergänzende, unterstützende Aktivitäten

 Hinweis auf die relevanten Informationen einflussreicher Personen/Stakeholder  Rollenmodell für das aktive Netzwerken sein
Aufbau &
 Ermöglichung des Zugangs zu den Netzwerken über die eigenen  Auf die Diversität und Komplementarität des Netzwerkes achten
Vernetzung Organisationsgrenzen hinweg  Permanente Aktualisierung bzw. Erweiterung des Netzwerkes
 Abstimmung der Netzwerke mit zuweilen widersprüchlichen Zielen, Antrieben und  Betonung der Relevanz von Netzwerken für die Strategie und vice versa
Abstimmung & Vorlieben bzgl. des Unternehmensziels  Abstimmung des konkreten Netzwerkens (und entsprechender Projekte) auf
Steuerung  Definition von operativen, ziel- und zweckspezifischen Kommunikationsleitlinien die strategischen Ziele
 Förderung des Zusammenhalts und der Nachhaltigkeit der Netzwerke
 Förderung eines positiven Klimas für Zusammenarbeit, Austausch und der  Schaffe durch z.B. herausfordernde Ziele, komplexe Problemstellungen,
Vernetzung über Bereichsgrenzen hinweg Debatten und Diskussionen etc. eine kreative Spannung innerhalb des
 Ermächtigung und Förderung dezentraler, autonomer Netzwerkaktivitäten aller Netzwerkes anstatt einträchtiger Harmonie
Beteiligten  Unterstütze den Prozess der Lösungsfindung anstatt sie selbst vorzugeben
Unterstützung &  Lasse finale Entscheidungen (dezentral!) dort treffen, wo die meiste
Ermächtigung Kompetenz und das meiste Wissen vorhanden sind
 Minimiere organisatorische Friktionen im Netzwerk durch (a) Über-
kommunikation und breit verteilte Informationen, (b) die Moderation einer
zielbezogenen Ressourcenverteilung und (c) die Schaffung von F-2-F-
Begegnungsmöglichkeiten

Abb. 5.40 Prinzipien und (Kern-)Aufgaben des Network-Leaders (© Stefan Stenzel 2022. All
Rights Reserved)

Dafür, dass die Studien auch nach fast einer Dekade nichts an ihrer Aussagekraft ver-
loren haben, sprechen die in den Sozialwissenschaften äußerst selten zu findenden sehr
hohen Teilnehmerzahlen (23.000 bzw. 3000) sowie die Relevanz der befragten Zielgruppe
(Senior Manager. vs. Studenten im Extremfall). Ferner würden wahrscheinlich die meis-
ten Leser intuitiv zustimmen, dass die von den Probanden getroffenen, eingangs an-
geführten Aussagen heute (2022) allesamt an Bedeutung zumindest nicht verloren haben.

Zum Schluss: Das „Ambidextrie-Triplett der Führung“ – ein integratives


Metamodell
Perspektivisch ist der von CEB (2014) proklamierte, kühne Anspruch, das Duo des trans-
aktionalen und transformationalen Führungsstils durch Network-Leadership zu einem
Trio zu erweitern, nicht völlig abwegig, da die inhaltliche, komplementäre Passung in die
Landschaft modernerer Führungsansätze (Self-, Super- und Shared Leadership etc.) un-
übersehbar ist. Noch einen Schritt weitergehend könnte sich, wie in Abb. 5.41 zu sehen,
im synergetischen Zusammenwirken der sechs vorgestellten Ansätze ein Metamodell der
Führungsthemen von morgen ergeben. Durch seine konzeptionelle „Beidhändigkeit“ in
drei Dimensionen (Zielorientierung, Interaktion und Integration) bezeichnet der Autor das
Metamodell als „Ambidextrie-Triplett der Führung“.

Dem oben abgebildeten Metamodell folgend, definiert sich das Triplett über die folgen-
den drei sich in einem polaren Spannungsverhältnis befindlichen Konzepte: Der (Ambi-
dextrie #1) transaktionalen/effizienzorientierten vs. transformationalen/effektivitätsori­
entierten Führung (Full-Range-Leadership). Der (Ambidextrie #2) intraindividuelle
(Un-)Abhängigkeit auf- und abbauende Stimuli eines Super-/Empowering Leadership vs.
der interindividuellen (Un-)Abhängigkeit auf- und abbauende Stimuli eines Open bzw.
Network-Leadership (auch über die sozialen Medien) sowie (Ambidextrie #3) des Auto-
nomie betonenden Self-Leadership vs. die Heteronomie (i. S. von multiplen Vernetzungen
und Fremdbezügen) betonenden Shared Leadership. Das obere, bipolare Themencluster
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 373

Ambidextrie #1
ZIELORIENTIERUNG

Transactional
Leadership
(Effizienz)

Full-Range Leadership

Transformational
Leadership
(Effektivität)

Open/Social Super/
Ambidextrie #2 Media/Network Empowering Ambidextrie #2
INTERAKTION Leadership Leadership INTERAKTION
(Interindividuell) (Intraindividuell)

Shared Self
Leadership Leadership
(Heteronomie) (Autonomie)

Ambidextrie #3
INTEGRATION

Abb. 5.41 Das „Ambidextrie-Triplett der Führung“. Ein integratives Metamodell zukunfts-
weisender Führung. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved

ist (Ambidextrie #1) Zielorientierung bzw. -fixierung (i. S. von Effizienz/die Dinge
­richtig tun) bzw. Zieloffenheit (i. S. von Effektivität/die richtigen Dinge tun), um sich
(erneut/immer wieder) für eine Transformation zu öffnen.
Das mittlere Themenpaar umfasst auf der Metaebene das Thema (Ambidextrie #2)
Interaktion, bei der es im Falle des Super-/Empowering Leadership um die Initiierung
bzw. Entwicklung des intraindividuellen Wechsel- bzw. Zusammenspiels von verhaltens-
orientierten Belohnungs- und Gedankenmusterstrategien geht – im Falle des Open bzw.
Network-Leadership um die Initiierung bzw. Entwicklung des interindividuellen Wechsel-
bzw. Zusammenspiels der (Kern-)Aufgaben des Network-Leaders auch mittels der sozia-
len Medien. Das dritte Triplett (Ambidextrie #3) definiert das Spannungsfeld zwischen
Heteronomie und Autonomie – also das Ausmaß der Integration in ein soziales System.
Die Rezeption und Bewährung dieses eklektischen bzw. integrativen („Sowohl-als-auch“-)
Ansatzes in der Praxis steht verständlicherweise noch aus.
Da sich wahrscheinlich die meisten Coaches oder Unternehmensangehörigen nur be-
dingt bereits im Jahr 2022 in den obigen Ausführungen über Self-, Super- und Shared
Leadership etc. wiederfinden werden bzw. sie diese angesichts ihrer aktuell noch be-
obachteten oder gar erlebten Führungskultur sogar als abwegig und realitätsfern ansehen
werden, sei explizit darauf hingewiesen, dass sie heute – wenn überhaupt – auch eher in
Start-ups oder bei „ewigen Pionieren“ wie z. B. Gore oder Whole Food Markets23 anzu-

23
https://careers.wholefoodsmarket.com/global/en/culture. Zugegriffen am 16.11.2020.
374 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

treffen sind. Dabei gab es (vielleicht zu) radikale Ansätze unter dem Begriff der „auto-
nomen Teams“ bereits in den 90ern (Antoni, 1996). Auch das Konzept von dem „Unter-
nehmen ohne Bosse“ (Manz & Sims, 1995) setzten sich – bis auf die im Buch genannten
Vorzeigeunternehmen – auf breiter Front nie durch. Wobei beide Unternehmen (und
Gore24 schon seit den 60er-Jahren) auch hier ihre eigenen Wege gingen. Die Idee des „hu-
manen Wirtschaftens“ starb daher nie ganz. Der wohl heute noch bekannteste und älteste
„Ideenträger“ dieser „management renegades“ (i. S. einer Gruppe von Abtrünnigen bzgl.
der vorherrschenden Lehre) ist der Innovations- bzw. Managementguru Gary Hamel mit
seiner „Anti-Bürokratiebewegung“ „Managementexchange“.25 In seinem neuesten Buch
Humanocracy (Hamel & Zanini, 2020) als Gegenentwurf zur Bürokratie zeigt er anhand
von Praxisbeispielen der Unternehmen Nucor, Haier und Michelin, wie das Gewicht
­hinsichtlich des „Bureaucratical Mass Index“ (Hamel & Zanini, 2020, S. 51) ab- und die
Bedeutung der sieben Prinzipien der Humanocracy (Hamel & Zanini, 2020, S. 105) auf-
gebaut werden können.
COVID-19 und die in den vorhergehenden Kapiteln beschriebenen Umweltbedingungen
werden nach Ansicht des Autors in den nächsten 10–20 Jahren den Boden noch nach-
haltiger für „Neues“ (Führungsansätze zu Selbst-, Super- und Shared Leadership) be-
reiten. „Neues“ – wie schon mehrfach betont –, welches jedoch nicht „das Alte“ (transak-
tionale und transformationale Führungsansätze) plötzlich völlig ersetzen wird, sondern
i. S. eines „Sowohl-als-auch“ es ergänzen und die Handlungsmöglichkeiten in einer VU­
CA-­Welt damit flexibel erweitern wird. In einem etwas anderen Sinne ist dies vielleicht
die Kehrseite des durch Menschen gemachten „humanen Wirtschaftens“. Die von Men-
schen geführten Unternehmen haben mit „zu schnellen“ Veränderungen ihre Probleme
und die „Machthabenden“ profitieren natürlich gerne möglichst lange von einem in ihrem
Sinne funktionierenden System.

5.6.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Um ankopplungsfähig und damit geschäftsfähig zu bleiben, tun Coaches wahrscheinlich


gut daran, die Implikationen für sich und ihr Serviceangebot wachsam im Auge zu be-
halten. Doch was heißt das für den Umgang mit den vorgestellten Konzepten?
Wie auch schon bisher im Rahmen der Mikrokonzepte der transaktionalen (z. B. „Füh-
ren mit Zielen“) und transformationalen Führungsstile (z. B. die „charismatische Füh-
rung“) wird für die Themenfelder Self-Leadership“ oder Super-/Empowering Leadership
zunächst ein Trainingsbedarf bestehen. Wie dieser Bedarf gedeckt werden könnte, be-
schreiben Furtner und Baldegger (2013, S. 230). Wer dabei nur an das klassische Klassen-

24
https://www.gore.com/about/working-at-gore. Zugegriffen am 16.11.2020.
25
www.managementexchange.com. Zugegriffen am 16.11.2020.
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 375

raumtraining denkt, sollte womöglich (noch einmal) die Inhalte von Abschn. 4.2 zu den
neuen bzw. zukünftigen Lernwelten anschauen. Ist ein Coach in der Lage, auch in der
Rolle als Trainer professionell zu arbeiten, könnte er dies selbst bewerkstelligen. An-
sonsten wäre die koordinierte Arbeitsteilung mit Kooperationspartnern für die formalen
und informellen Lernsettings empfehlenswert. Dies ist für viele Coaches schon heute – bis
vielleicht auf die neuen Lernmethoden – wahrscheinlich keine große Neuerung, denn hy-
bride „Trainer-Coaches“ („Troaches“) oder „Coach-Trainer“ gibt es zumindest auf dem
Papier sehr viele. Wie viele davon beide, sich teilweise widersprechende Ansätze auch in
der Praxis wirklich beherrschen, steht auf einem anderen Blatt.
Der Coach würde dann im Rahmen eines Blended-Learning-Designansatzes vor, paral-
lel oder nachfolgend durch ein den Lerntransfer unterstützendes Coaching die Effektivität
des Lernens sehr positiv beeinflussen. Denn potenzielle Folge dieses stärker integrierten
Coaching-Services – im Idealfall als Bestandteil eines umfassenden Curriculums oder
einer Organisationsentwicklungsmaßnahme – wäre eine sehr viel tiefergehende, nach-
haltigere individuelle Verarbeitung des Lernstoffes. Hinsichtlich von Lernangeboten für
Einzelpersonen auch außerhalb von Unternehmen bietet sich unter Nutzung des Online-­
Coachings von Harald Geißler womöglich eine modifizierte Form seines Selbst-
coaching-Programmes zur Selbstführung an.
Neben den soeben angesprochenen, eher individuenzentrierten Lernprojekten könnten
insbesondere Lernmaßnahmen im Kontext umfassenderer Organisationscoachings bzw.
Organisationsentwicklungsmaßnahmen in Richtung von Shared Leadership hilfreich sein.
Eine Idee für einen Transformationsprozess von der unternehmensspezifischen Mischung
des transaktionalen und transformativen Führungsstils über Super- und Self-Leadership
zeigt stark vereinfacht Abb. 5.42. Vorteile und Rahmenbedingungen eines solchen Chan-
ges erläutern Furtner & Baldegger (2013, S. 228). Ein Beispiel für einen solchen Ver-
änderungsprozess bieten Manz & Sims (2001) anhand des Unternehmens „AES Co-
operation“.
Sind beide Endpole mittels Super- und Self-Leadership als „Missing Link“ gut ent-
wickelt, wäre im Idealfall „beidhändiges“ oder das sogenannte ambidextrische Führen
möglich.
Eine Kombination von Einzel- und Team-Coaching in Richtung des von Endres &
Weibler (2019) vorgeschlagenen Modells des „generativen Dialoges“ würde die Ver-
änderungsmaßnahme zusätzlich unterstützen. Der „generative Dialog“ beschreibt die
letzte Stufe eines Entwicklungsprozesses über vier Phasen, bei der die allseitigen Ab-
hängigkeiten der Teammitglieder anerkannt, das Wir-Gefühl, die gegenseitige Ver-
pflichtung und Verantwortung für den Prozess von allen mitgetragen und die Koordination
als eine Gemeinschaftsaufgabe gesehen wird. Bevor es dadurch auch zu einer substanziel-
len Verbesserung der lernbezogenen Dialoge kommt, bedarf es jedoch einer tiefgehenden
Entwicklung der Interaktions- und Beziehungsqualität. Einen ähnlichen dialogver-
bessernden Ansatz beschreibt auch Senge (1999, S. 284) in seinen potenziellen „Weis-
376

Transaktionale und/oder Shared oder Distributed


Self Leadership
Transformationale Leadership (durch transformierendes Super / Empowering Leadership) Leadership

„Sowohl-als-auch“

Fremd- Selbst-
führung* führung**
Super / Empowering Leadership (der Führungskraft)

S e l f L e a d e r s h i p (des Mitarbeiters)
Selbstführung
Fremd- (Stufe 1.) **Selbst-
Fremd- Fremd- Führung Selbst- Selbst-
führung* Einfluss über
führung** führung**
5

führung* führung* das Was und Wie (Stufe 2.)


der Arbeit

Selbst-
Fremd- Fremd- Fremd-
führung**
führung* führung* führung*

Individuen geführt von einem Individuum Individuum (Mitarbeiter) (Führungs-)Team


(Management 1. Ordnung) (Management 1. Ordnung)

*Fremdführung: Wenig Einfluss über das **Selbstführung (Stufe 2.): Einfluss über das
Was, Wie, Warum, Wann und Wo der Arbeit Was, Wie, Warum, Wann und Wo der Arbeit

Abb. 5.42 Ambidextrie als Folge eines Transformationsprozesses über Super- und Self-­Leadership. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved
Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“ 377

Ambidextrie #1: Befähigung/Förderung zur


Ambidextrie #2: Befähigung/Förderung zur Interaktion Ambidextrie #3: Befähigung/Förderung zur Integration
Zielorientierung (i.S. des Full-Range-Leadership)
Open/Social Media/Network Shared Leadership Self Leadership
Transformationale Super/Empowering Leadership
Transaktionale Führung Leadership (Heteronomie) (Autonomie)
Führung (intraindividuell)
(interindividuell) (interindividuell) (intraindividuell)
Befähigung/Förderung der Befähigung/Förderung der Befähigung/Förderung des Intraindividuelle Befähigung zur Befähigung/Förderung des Befähigung/Förderung des eigenen,
transaktionalen Führungs- transformationalen interindividuellen Wechselspiels bzw. Förderung des Wechselspiels bzw. interindividuellen Wechselspiels intraindividuellen Wechsel- bzw.
fähigkeit (Leistung für Führungsfähigkeit (Leistung Zusammenspiels der ambidextrischen Zusammenspiels bei anderen (!) mit bzw. Zusammenspiels z. B. zum Zusammenspiels (F-2-F od. virtuell) von
Gegenleistung) durch Transformation; „4 I“) Kommunikation (Duwe 2020, S. 166) dem Ziel der Entwicklung ihrer … „Generativen Dialog“ (auch als  verhaltensorientierten Strategien
 Erwartungen definieren  Idealisierter Einfluss in den Bereichen der …  positiven Einstellung hinsichtlich lernintensiver schöpferischer  Belohnungsstrategien
 Ziele vereinbaren („Charisma“)  zwischenmenschlichen des Self-Leadership-Konzeptes Dialog bezeichnet; Endres &  Gedankenmusterstrategien
 Einhaltung von Normen und  Inspirierende Motivation Kommunikation  Self-Leadership-Fähigkeiten beim Weibler 2019), mit den Phasen
Spielregeln einfordern  Intellektuelle Stimulation  intraorganisatorischen einzelnen Geführten  Höflichkeitsphase
 Anerkennung von  Individuelle Zuwendung Kommunikation  Self-Leadership-Fähigkeiten beim  Debatte
Leistung(sverhalten)  interorganisatorischen geführten Team  Reflektierender Dialog
Kommunikation  Effektivitätserhöhung als FK  Generativer Dialog
 Kommunikation mit der  Attraktivitätserhöhung als positives
Öffentlichkeit (Public Relations) Rollenmodell
 Fähigkeiten zum Role Modelling
bzgl. des Self-Leadership

Elemente eines Transformationsprozesses im Rahmen von Individual-, Team- oder Organisations-Coaching; F-2-F und/oder medial vermittelt und praktiziert

Abb. 5.43 Das „Ambidextrie-Triplett des Coachings“. Ein integratives Metamodell zukunfts-
weisender Coaching-Themen. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved

heitsteams“ und den Begleiter, der den Dialog zusammenhält (Senge, 1999, S. 299). Sehen
Boos et al. (2016, S. 54 und 105) Coaching generell als einen wertvollen Beitrag in diesem
Kontext, stellen sie mit dem Team-Coaching-Ansatz von Hackmann, Wagemann & Leh-
mann (2005) ein Modell vor, welches neben der Beziehungsebene explizit die Aufgaben-
ebene entlang der Teamphasen bearbeitet.
Die Abb. 5.43 fasst die möglichen Coaching-Services noch einmal komprimiert
zusammen.
Wurde in den vorherigen Abschnitten die zunehmende Bedeutung des Social-­Media-­
Marketings bzw. -Brandings in den sozialen Medien insbesondere für Topmanager deut-
lich, deutet sich speziell für den Bereich des Executive-Coachings eine neue Service-
facette an. Ob dabei ein Social-Media-Experte seine berufliche Haupttätigkeit durch eine
Coaching-Ausbildung ergänzt oder ein Coach auch für dieses Themenfeld eine Ko-
operation mit einem Social-Media-Experten oder einer ganzen Agentur eingeht, hängt
letztlich von individuellen Voraussetzungen und Präferenzen ab. Ein zukunftsweisendes
Serviceangebot für die genannte Zielgruppe sollte dieses Themenfeld nicht nur Social-­
Media-­Managern mit (oder ohne!) Coaching-Zusatzausbildung überlassen. Eine andere
Servicevariante wäre eine Coaching-Schulung speziell zum Social-Media-Manager,
welche die genannten (sozial-)psychologischen Themen besonders betont.
Wiederum in einer Kombination von Training und Coaching könnten Coaches mit dem
Klienten an Techniken bzw. Fähigkeit zum gezielten (internen und externen) Netzwerken
arbeiten. Wird von vielen heute das Netzwerken eher nach Lust und Laune betrieben, er-
fordert die zukünftige professionelle Landschaft mit ihrer größeren Instabilität wahr-
scheinlich verschiedene, möglichst weitreichende und verlässliche Netzwerke unter-
schiedlicher Qualitäten und für verschiedene Verwendungszwecke (Scheddin, 2013). Die
schon mehrfach erwähnte Hermina Ibarra und ihr Kollege Mark Lee Hunter haben dazu
2007 einen Ansatz (Ibarra & Hunter, 2007) entwickelt, welcher empfiehlt, ein operationa-
les Netzwerk mit tiefergehenden Beziehungen im näheren Umfeld zu entwickeln und zu
pflegen sowie ein personales, in die Breite gehendes Geflecht von überwiegend externen
378 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

Beziehungen, das selbst Vernetzungsempfehlungen für akute Fragestellungen gibt. Nach


dem Motto des Buches von David Burkus (2018): „Ich habe einen Freund, dessen
Freund …“ Das eher strategisch in die Zukunft orientierte Netz besteht aus internen und
externen Beziehungen, wobei deren funktionale Bedeutung (noch) nicht immer klar ist.
Nach Scott Gerber und Rayn Paugh (2018) ist damit die Zeit des Netzwerkens um des
Netzwerkens willen vorbei und man sollte – frei nach Keth Ferrazzi (2014) – nie mehr
ohne einen (neuen) Netzwerkkontakt zu Mittag essen.
Die soeben besprochenen Themen beschreiben – im übertragenen Sinne der Beid-
händigkeit der Führung oder des Coachings – nur „eine Hand“ oder einen „Finger einer
Hand“ eines eigentlich immer in seiner Gesamtheit zu denkenden Metakonzeptes, welches
der Autor als „Ambidextrie-Triplett“ der Führung bzw. des Coachings bezeichnet. Da die
Konzepte der Ambidextrie im Coaching hier alle bereits zumindest angesprochen und
auch die entsprechenden Quellen genannt wurden, werden diese hier nicht weiter vertieft.
Allerdings stellt sich die Frage, wie diese Elemente in einem Transformationsprozess zu-
sammenspielen würden.
In einem (idealen) Organisationsentwicklungsprozess würde (in der Abb. 5.44 von
links nach rechts) im Rahmen eines Blended-Format-Designs (nach klarer Zieldefinition,
einer Status-quo-Messung hinsichtlich der Themen und einigen Piloten) zunächst in einer
Kombination von Workshops, Trainings und Coaching für die hierarchiespezifische Ent-
wicklung des Full-Range-Leadership gesorgt. In einem Gegenstromverfahren würde
sodann für die Ausbildung von Super-/Empowering bzw. Self-Leadership gesorgt. Indi­­
vi­duelles oder Gruppen-Coaching könnte im Wechselspiel mit Trainings- und Work-
shop-Formaten für eine Individualisierung und damit bessere Verankerung des Gelernten
sorgen. Eine Kombination von klassischen Trainings, Team-Workshop- und Team-Coa-
ching-Formaten (z. B. zum Konzept des „generativen Dialoges“) würde die dritte
Phase der Transformation einläuten. Ein parallel dazu aufgebautes Evaluationssystem
sollte i. S. einer Prozessevaluation jeweils Rückmeldung über den Stand der Ent-
wicklung geben.
Dass dieser Transformationsprozess sich je nach Größe und Reife der Führungsmann-
schaft über mehrere Jahre hinziehen und nur über einen iterativen Prozess greifen würde,
steht für den Praktiker außer Frage. Selbiges gilt für die üblichen Risiken solcher „Mega-
projekte“, wie z. B. ein nachhaltiges Management-Commitment oder ein plötzlicher
Wechsel im (Top-)Management, Ressourcen- bzw. Budgetcuts (z. B. aufgrund von
schlechten Betriebsergebnissen bzw. Wirtschaftsflauten) oder aber kontraproduktive Re-
organisationen.
Unübersehbar werden die verschiedenen Serviceformate des Coachings zukünftig
wahrscheinlich immer stärker integrativer Bestandteil anderer Maßnahmen. So stellt sich
die Frage, wie und ob die heutigen Coaches auf eine solche Zukunft überhaupt vorbereitet
wären bzw. ob sie das überhaupt wollen.
INDIVIDUELLES Coaching (& Training) TEAM-Coaching (& -Training)
Führungskräfte & Mitarbeiter 1. Entwicklung der Self-Leadership-Fähigkeiten der Führungskräfte & Mitarbeiter
Führungskraft (FK) selbst (siehe untere Box)
2. Erhöhung der Effektivität der FK
3. Die FK dient als positives Rollenmodell
4. Die FK demonstriert ihre Self-Leadership-Fähigkeiten
5. Die FK vermittelt und fördert positive Gedanken
Full-Range Leadership 6. Die FK verstärkt die Self-Leadership-Fähigkeiten der
 Transaktionale Führung (Leistung für Gegenleistung) Geführten
 Erwartungen definieren 7. Die FK fördert die Self-Leadership-Fähigkeiten in Teams
 Ziele vereinbaren
 Einhaltung von Normen und Spielregeln einfordern
 Anerkennung von Leistung(sverhalten)

 Transformationale Führung (Leistung durch Transformation) (Transformationales) Plural Leadership


Führungskraft („4 I“)  Mitarbeiter Super/Empowering  Shared Leadership (inkl. „Generativer Dialog“)
Idealized Influence  Vertrauen und Respekt
Leadership  (Distributed Leadership)
Inspirational Motivation  Herausforderung & Sinn erleben
Intellectual Stimulation  Innovatives Denken u. kreative Lösungen Self Leadership  (Co-Leadership)
Individual Consideration  Individuelles Wachstum u. Autonomie (Führungssubstitut)  (Funktionale Doppelspitze)

Verhaltensorientierte Strategien nutzen


 Eigene Zielsetzung
 Selbstbelohnung
 „Selbstbestrafung“
 Selbstbeobachtung
 Selbsterinnerung
Natürliche Belohnungsstrategien nutzen
5.6 LeaderSHIFT: vom „Entweder-oder“ zum „Sowohl-als-auch“

 Auf natürliche, d. h. intrinsische Belohnung fokussieren


Konstruktive Gedankenmusterstrategien nutzen
 Erfolgreiche Leistung imaginieren
 Selbstgespräche
 Überzeugen und Sichtweisen bewerten

 Kulturthemen  Prozessthemen ORGANISATIONS-Coaching  Teamthemen  Kommunikationsthemen


 Strukturthemen  Etc. (Z.T. an den Führungssubstituten, s.l.)  Gesundheitsthemen  Etc.

Abb. 5.44 Der Transformationsprozess im Rahmen des „Ambidextrie-Tripletts des Coachings“. © Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved
379
380 5 Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen

5.6.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Die Hinterfragung der persönlichen Voraussetzungen macht auch im Hinblick auf die vor-
gestellten, oft jedoch nicht allzu bekannten Führungskonzepte (z. B. Self-/Super-/Emp-
owering, Shared Leadership) Sinn. So gilt es für Coaches, die durch ihren universitären
und/oder beruflichen Werdegang in diesen Bereichen keinerlei Vorwissen haben, in die-
sem Bereich zumindest ein Grundverständnis zu erlangen. Da jedoch Wissen ohne Ver-
ankerung in der eigenen Person reflexive Fragen im Rahmen eines Coachings erschwert,
ist die kritische Selbstbefragung mit den damit verbundenen Verhaltensweisen
(z. B. Selbstverantwortung, -führung, Kontrollverlust, Machtteilung etc.) bzw. die Refle-
xion des bisherigen, eigenen Agierens im Alltag wahrscheinlich von Vorteil. Ganz kon-
kret: Wie sehr ist man selbst ein Rollenmodell für die im ersten Moment so positiv an-
mutenden Denk- und Handlungsansätze? Neben diesem eher persönlichkeitsbezogenen
Lernstrang geht es bei entsprechender Neigung ferner um den Aufbau methodischer
Kompetenzen im Bereich Training und/oder Organisationsentwicklung. Hier können
Coaches hinsichtlich der eigenen Person zeigen, dass sie Experten für persönliche Ent-
wicklung bzw. Lernprozesse sind. Coaches, die durch ihre berufliche Vorgeschichte
z. B. als Personalentwickler sehr breit aufgestellt sind, könnten diese Doppelkompetenzen
gewinnbringend im Rahmen des Curriculumdesigns einbringen bzw. Coaching-Ein-
heiten in die Lernarchitektur besonders wirksam einbauen. Die Kollaboration mit Netz-
werken, wie z. B. dem schon mehrfach erwähnten „International Network for Organiza-
tion Development and Coaching“ (INOC),26 ermöglicht allen anderen, ihre speziellen
Kompetenzen synergetisch einzubringen.
Sehr ähnlich verhält es sich hinsichtlich der für den Coachee wahrnehmbaren Profes-
sionalität im virtuellen Raum bzw. – ganz konkret – der geforderten Medienkompetenzen
für das Online-Coaching (-Training, -Moderation etc.) sowie der Nutzung der sozialen
Medien innerhalb und außerhalb des Coaching-Kontextes. Ohne je als Babyboomer zu
einem „Digital Native“ werden zu können, stellt sich für jede(n) Vertreter:in dieser Gene-
ration (und ggf. sogar noch der Gen X) die Frage, wie vertraut sie sich als „Digital Im-
migrant“ mit dem neuen Umfeld fühlen, um zumindest noch bei Coachees der Gen Y an-
kopplungsfähig zu sein. Die gekonnte, medienvermittelte Kommunikation ist jedoch nur
ein Aspekt der Kompetenzen von Führungskräften verteilter Teams, die sich zusätzlich zu
den oben bereits besprochenen drei weiteren Maßnahmen (De-Lokalisierung, Diversität,
Netzwerkorganisation) am besten durch eine Mischung aus Coaching und Training unter-
stützen lassen. Jedoch nur ein solides konzeptionelles und durch vielfältige Praxis-
erfahrung ergänztes Wissen zum Thema „Arbeiten und Führung auf Distanz“ bzw.
deren besondere Anforderungen (Boos et al., 2016, S. 48) und empirisch fundierte Hand-
lungsansätze in Form von Modellen (Boos et al., 2016, S. 50) ermöglichen professionelles
Intervenieren.

26
https://www.inoc-network.org. Zugegriffen am 27.11.2020.
Literatur 381

Für den Themenkreis des Open, Network- bzw. Social-Media-Leadership wurde die
Bedeutung der Konzepte um das Impression-Management (inkl. Authentizität, Selbst-
offenbarung), das Beziehungsmanagement und den (medialen) Kontrollverlust bereits an-
gesprochen. Neben der Möglichkeit, hier ggf. mit dem Klienten die eigenen Stärken und
Entwicklungsbereiche zu explorieren (Li, 2010, S. 16), ist eine Vertiefung in das Thema
des Social-Media-Marketings wahrscheinlich unerlässlich. Dass in diesem Zusammen-
hang auch der Coach hinsichtlich der eigenen (medialen) Selbstpräsentation auf dem Prüf-
stand steht, versteht sich von selbst. Dabei stehen wie auch bei Li (2010, S. 16) Fragen der
situativ angemessenen Selbstoffenbarung (Was macht mich aus, ist authentisch? Was
davon will ich zu meinem öffentlichen bzw. „medialen Selbst“ machen? Was soll/darf die
Welt von mir wissen? Welche Botschaften kann und will ich in die Welt tragen? Wofür
stehe ich?) im Zentrum. Den informierten Leser erinnert dies sofort an die im JOHARI-­
Fenster im Fokus stehende, öffentliche Person, welche entscheiden muss, wie viel, wann
und wie sie von ihrem „geheimen Bereich“ preisgibt – inwieweit sie die eigenen blinden
Flecken erhellen lässt und inwieweit sie unbekanntes Terrain der eigenen Person erkundet
und ggf. zusätzlich einbringen will.
Werden Aspekte des Macht- und Kontrollverlustes zum Thema, bestehen diese eben
nicht nur im Teilen von (Insider-)Wissen, sondern auch i. S. des 4-Ohren-Modells von
Schulz von Thun (Schulz von Thun, 1988), bei dem der Sender eben nie weiß, mit wel-
chen Ohren der Empfänger hört. Und im Gegensatz zum Alltag geschehen diese Missver-
ständnisse dann auf der „großen Bühne“, in der Öffentlichkeit! Mit dem Klassiker Erving
Goffman (1983) wäre daher immer zu fragen, was bei der Selbstdarstellung als Vorder-
bühne und Hinterbühne definiert werden soll und welche Persönlichkeitsanteile des inne-
ren Teams (Schulz von Thun, 2013) wann, wie und auf welchen Bühnen agieren sollen.

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Ethik als Imperativ für die kommenden
Veränderungen (im Coaching) 6

Waren ethische Fragestellungen für weite Teile der Bevölkerung bislang eher uninteressant
oder sogar irrelevant, hat sich dies mit COVID-19 bzw. der dadurch bedingten wieder-
kehrenden Medienpräsenz der Vertreter des Deutschen Ethikrates1 womöglich etwas ge-
ändert. Mit der hier zu erörternden Themenstellung geht es jedoch nicht wie bei CO-
VID-­19 um die Klärung der Frage der Priorisierung von Schutzwürdigkeit oder die
Diskussion um das Klonen, die Abtreibung, Sterbehilfe, d. h. (ab) wann und wie Menschen
in oder aus dem Leben treten und was uns ausmacht, sondern darum, wie wir uns zu völlig
künstlichen, potenziell immer menschenähnlicheren und von uns selbst erschaffenen
Existenzformen verhalten wollen oder ob bzw. warum und wozu wir diese überhaupt ent-
wickeln. Was denn Ethik überhaupt ist, wird in einem späteren Abschnitt dargelegt.
Das ethische Problem sind u. a. genau dieses (zunehmende) Ausmaß ihrer Menschen-
ähnlichkeit oder aber ihrer bedrohlichen, partiellen Übermenschlichkeit (z. B. hinsicht-
lich Geschwindigkeit, Genauigkeit, „Emotionslosigkeit“ etc.) und die daraus resultierende
Fragestellung der Verantwortung ihrer Entwickler, Hersteller und der Nutzer der Maschi-
nen und – als absolutes Novum in einer nicht allzu fernen Zukunft – sogar deren Auto-
nomie und damit Eigenverantwortung (?) für deren Wirken bzw. ihr Handeln. Die prakti-
sche Fragestellung lautet dagegen, ob, wann und inwieweit unsere Spezies es zulassen
will, dass Maschinen (mit KI) bzw. künstliche Lebensformen zu einem „signifikanten
Dialogpartner“ für Menschen werden. Das heißt, nicht nur ein einfaches vorprogrammiertes
bzw. antrainiertes Frage-Antwort-Spiel (wie Weizenbaums ELIZA in Abschn. 2.1.) be-
herrschen, sondern aus einem letztlich nicht mehr durchschaubaren und damit nicht mehr
kontrollierbaren „Eigenleben“ (gleich dem „Black-Box-Modell“ des Menschen) heraus
Antworten geben bzw. darauf aufbauend selbst neue Fragen generieren. Ab wann wird der

1
https://www.ethikrat.org/. Zugegriffen am 02.06.2021.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 393
von Springer Nature 2022
S. Stenzel, Die Zukunft des Coaching-Business,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-64421-8_6
394 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

Besen des Zauberlehrlings für ihn selbst zur Bedrohung bzw. worin genau besteht denn
diese (vermeintliche) Bedrohung? Der Folgetext soll dazu einige Denk- und Diskussions-
anstöße geben.

Mensch vs. Maschine im Allgemeinen: Das künstlerische Spiel mit den


Unterschieden
Das Verhältnis zwischen Menschen und den von ihnen geschaffenen Maschinen wird seit
jeher von einer zwiespältigen Faszination bestimmt. Dabei variiert es zwischen der Sicht-
weise des Roboters als Arbeitssklave, als Partner in der Arbeit bis hin zu der Versklavung
des Menschen seitens der Roboter und stimuliert die Fantasie von Forschern und Künst-
lern seit Jahrhunderten. Je nach Auslegung des Begriffs „Roboter“ macht ein Blick in die
Geschichte der Robotik2 deutlich, dass es bereits in der Antike (Heron von Alexandria) die
Idee von (Musik-)Automaten gab und natürlich auch das Universalgenie Leonardo da
Vinci wahrscheinlich nicht darauf verzichten wollte, die Gunst seiner Dienstherren zu-
mindest mit der Skizze eines menschenähnlichen, d. h. androiden Roboters zu gewinnen.
Dass die über Schnüre bewegliche „Ritterrüstung“ je gebaut wurde, ist jedoch aufgrund
des damaligen Standes der Technik bzw. Feinmechanik eher unwahrscheinlich. Einen ers-
ten, eher funktional ausgerichteten Roboter, der durch seine „Programmierungsfähig-
keiten“ für einfache Stoffmuster über Lochkarten im heutigen Sinne diesen Namen ver-
dient, war ein um 1740 entwickelter, vollautomatischer Webstuhl. Inwieweit hundert Jahre
später mit der beginnenden Industrialisierung auf die Pläne zu diesem ersten „Industrie-
roboter“ zurückgegriffen wurde, ist unbekannt. In Serie ging dieser automatische Web-
stuhl Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch noch nicht.

Die Vorstellungen, wie ein Roboter zu sein hat und wie er sich gegenüber dem Men-
schen (und vice versa) verhalten soll, wurde jedoch sehr stark durch die verschiedenen
Künste beeinflusst. So wurde der soeben sehr breit verwendete Begriff des „Roboters“ erst
1921 durch das Theaterstück „R.U.R. – Rossum´s Universal Robots“ (Wikipedia, R.U.R.,
2021i) des tschechischen Autors Karel Čapek geprägt, bei dem die entwickelten
Maschinenmenschen zwar selbst denken können, aber dennoch in erster Linie als Diener
der Menschen Zwangsarbeit (abgeleitet vom tschechischen Wort „robota“) verrichten
müssen. Das von den vielfältigen Utopien der Zeit inspirierte Drama endet jedoch damit,
dass sich die Kunstmenschen aufgrund ihrer Denkfähigkeit gegen ihre Unterdrücker er-
heben und die Menschheit letztlich vernichten. Vielleicht waren ähnliche Fantasien zu der
latenten Bedrohung durch die potenzielle Übermacht der Roboter Anlass für den Science-­
Fiction-­Autor Isaac Asimov (Wikipedia, Isaac Asimov, 2021f), ca. 20 Jahre später in sei-
ner Erzählung Runaround die drei Robotergesetze zu postulieren, nach denen ein Roboter
keinen Menschen verletzen darf, den Befehlen eines Menschen gehorchen muss und – so-
fern dieser Schutz nicht dem ersten oder zweiten Gesetz widerspricht – seine eigene Exis-
tenz schützen darf. Mit einer entsprechenden Version für den Menschen im Umgang mit

2
https://de.wikipedia.org/wiki/Robotik. Zugegriffen am 02.06.2021.
6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching) 395

Robotern könnte man diese Verhaltensregeln als Vorläufer der noch zu thematisierenden
Maschinenethik bezeichnen.
In der Filmindustrie reichen die Ursprünge des (Science Fiction =) SciFi- und damit
auch Genres der futuristischen Technologien mit dem Klassiker „Metropolis“ von Franz
Lang von dem Ende der 1920er über die von Gene Roddenberry erdachten Abenteuer des
„Raumschiffs Enterprise“ und seiner legendären Besatzung, Captain James T. Kirk, sei-
nem ersten Offizier und Halbvulkanier Mr. Spock, die von Mitte der 1960er die unend-
lichen Weiten des Weltalls erforschte. Unvergessen und legendär auch der Supercomputer
HAL aus Stanley Kubricks Meisterwerk aus dem Jahr 1968 „2001: Odyssee im Welt-
raum“. Die Jahrtausendwende präsentierte uns filmische Fiktionen wie 1982 den Repli-
kantenjäger Rick Deckard in „Blade Runner“ von Ridley Scott, 1999 den Kinoerfolg um
den Weltenretter Neo in „The Matrix“ der Geschwister Wachowski, 2001 „A.I. – Künst-
liche Intelligenz“ von Steven Spielberg, 2004 den Streifen „I, Robot“ von Alex Proyas,
2014 den die Singularität thematisierenden Film „Transcendence“ von Wally Pfister oder
aber die verführerische Roboterfrau Ava 2015 in „Ex Machina“ von Alex Garland.
Da das Interesse und die generelle Affinität des Autors zu diesem Genre unschwer er-
kennbar wurde, scheut dieser sich nun nicht mehr, hinsichtlich Beispielen im Musik-
bereich auch seine jugendliche Begeisterung für die Düsseldorfer Synthiepopgruppe
„Kraftwerk“ (Wikipedia, Kraftwerk, 2021g) zu offenbaren. Dies umso weniger, als auch
die New York Times Kraftwerk 1997 als die „Beatles der elektronischen Tanzmusik“ be-
zeichnete. Dem in den 70er-Jahren herrschenden, zuweilen ins Lächerliche gehenden Per-
sonen- und Starkult setzte Kraftwerk das Konzept der Entpersonalisierung entgegen. Mit
ihrem „Mensch-Maschinen“-Image karikierten und provozierten (und warnten?) sie bei
Liveauftritten und Interviews mit aufgestellten Puppen das Publikum und ihre Gesprächs-
partner. Doch gleich wie man zu der Musikrichtung steht: Mit ihren Alben Anfang der
70er(!)-Jahre standen sie für eine Experimentierlust und einen Pioniergeist, den den man
heute mit Deutschland eher nicht mehr verbindet. Alle anderen Vertreter der sphärischen
Synthesizer-­Klänge wie z. B. Mike Oldfield (Tubular Bells, 1973) oder Jean-Michel Jarre
(Oxygène, 1976) erreichten diesen überdauernden Kultstatus von Ikonen nie.
So lang und unvollständig die obige Zusammenstellung in den verschiedenen Genres
auch ist, so deutlich wird doch durch sie, wie sehr uns Menschen das Verhältnis zu futuris-
tischen (bzw. digitalen) Maschinen beschäftigt und uns wahrscheinlich auch zukünftig
beschäftigen wird. Denn zum einen führen sie uns die eigenen Stärken und Schwächen vor
Augen, zum anderen, wie wir uns im Verhältnis zu den von uns erschaffenen, uns mehr
oder minder ähnlichen Ebenbildern (oder unseren Mitmenschen!?) verhalten (würden,
wenn sich der Unterschied weiterhin verringern wird). Die 2014 gestartete schwedische
TV-Serie „Real Humans“ (Wikipedia, Real Humans – Echte Menschen, 2021j) von Lars
Lundström spielt Verhaltensweisen multiperspektivisch und ohne viele technische Spezial-
effekte durch und kommt teilweise zu interessanten und z. T. zu erschreckenden Erkennt-
nissen. Die darin agierenden Hubots (Abkürzung für Human Robots = menschliche Ro-
boter) wirken für ihre echten, menschlichen Interaktionspartner („Real Humans“) wie ein
Spiegel und/oder Vergrößerungsglas ihres Menschseins bzw. stellen Fragen, die uns in den
396 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

nächsten 20–30 Jahren mit Sicherheit beschäftigen werden. Damit sind sie im besten
Sinne des Coachings geeignet für Reflexionsanstöße über uns selbst und unsere Spezies
und führen die Notwendigkeit einer Maschinenethik bzw. eines „digitalen Humanismus“
(Nida-Rümelin & Weidenfeld, 2018) deutlich vor Augen.

Mensch vs. Maschine im Speziellen (I): Wenn aus Spiel Realität wird oder die
Äußerlichkeit von „umsichtigen“ Roboterarmen und „quietschenden“ Sexpuppen
Worin bestehen nun aber (noch) die Unterschiede, was veranlasst nicht nur den Autor,
seiner animistischen Tendenz folgend, dem Saugroboter bei der Systemanmeldung den
Namen „Reinhard Reinlich“ zu geben und in der Familie nur noch nach „Reini“ zu fra-
gen? Woran liegt es, dass man den etwas nervigen, jedoch stets höflichen und etwas über-
vorsichtigen Droiden „C-3PO“ aus „Star Wars“ (George Lukas, 1977 ff.) als „mensch-
licher“ empfindet als seinen kleinen, melodisch fiepsenden Freund „R2-D2“, der wie eine
Tonne mit Kuppelabdeckung auf Stelzen aussieht? Oder warum verliebt sich der Protago-
nist Caleb in dem Streifen „Ex Machina“ in die attraktive, aber durch ihren offen sicht-
baren, von technischer Funktionalität geprägten Körperbau eindeutig als Roboterfrau
identifizierbare Ava und lässt sich sogar von ihr täuschen?

Offensichtlich ist es die Kombination mehrerer Merkmale, die selbst Erwachsene


in regressiv-spielerischer Manier unbelebten Dingen (wie einem Saugroboter, einem
Navigationsgerät oder gar den „Sprechbüchsen“ „Echo“ von Amazon oder „Google
Home“ oder dem Sprachassistenten „HomePod“ von Apple) menschliche Eigenschaften
zuschreiben, einen Namen geben und sie bei vermeintlicher Fehlfunktion sogar an-
herrschen lässt. Zum einen ist es sicher die Form oder äußere Gestalt, die es leichter
macht, immer noch die Maschine im Saugroboter oder im Navigationsgerät zu erkennen,
denn beide sind wie auch der Industrieroboter nicht anthropomorph oder dinghaft und
haben in ihrem Äußeren nichts Menschenähnliches. Zudem gibt es auch bereits Roboter,
die aus funktionalen Gründen animaloid, also in Tiergestalt daherkommen (z. B. das 1993
für Demenzkranke vom japanischen National Institute of Advanced Industrial Science and
Technology entwickelte weiße Kuschelrobbenbaby „Paro“ oder aber der von dem US-Rüs-
tungs- bzw. Roboterkonzern Boston Dynamics entwickelte Roboterhund „Spot“ oder aber
„Aibo“ als Spielzeug für Kinder von Sony). Ist ihre Gestalt anthropomorph – also
menschenähnlich –, kann man zwischen humanoiden (dem Menschen vom Aufbau und
von der Gestalt ähnlichen) (Wikipedia, Humanoider Roboter, 2021e) und androiden Ro-
botern (Wikipedia, Androide, 2021c) unterscheiden, wobei letztere auch sehr stark ver-
suchen, das Verhalten des Menschen zu simulieren, und Unterschiede eigentlich ver-
schwinden lassen wollen. Wer sich buchstäblich ein Bild bzgl. des faszinierenden
Entwicklungsstandes von humanoiden Robotern machen möchte, dem sei das Firmen-
video der britischen Firma „Engineered Arts“ und ihrem Roboter „Ameca“ empfohlen.3
Allgemeine Sympathie oder zumindest Neugier hervorrufende Beispiele sind hier die Prä-

3
https://vimeo.com/engineeredarts?embedded=true&source=owner_name&owner=63229520. Zu-
gegriffen am 02.02.2022.
6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching) 397

sentations- und Begrüßungsroboter Pepper, Zora oder NAO und Konsorten.4 Sehr spe-
zielle Gefühle i­nduzieren Sexpuppen,5 die wie bei einer Bestellung eines Autos konfigu-
riert und natürlich auch mit einem beliebigen Namen versehen werden können.

Mensch vs. Maschine im Speziellen (II): Was zählt, sind nur die „inneren Werte“,
wie Intelligenz, Lernfähigkeit, Gefühl etc.
Unterschiede, die einen Unterschied machen, sind jedoch auch hier nicht nur die äußere,
körperliche Erscheinung, sondern auch das „Innenleben“ bestehend aus Kognition, Emo-
tion und andere, daran gekoppelte Merkmale. Eine Zusammenstellung verschiedener
Unterscheidungsmerkmale bietet die Abb. 6.1.

Um zu große Redundanzen zu dem Abschn. 2.1 zu vermeiden, seien an dieser Stelle die
wichtigsten Unterscheidungskriterien nur von den Kerninhalten her und nur mittels er-
gänzender Vertiefungen dargestellt (Misselhorn, 2018).
Intelligenz: Jeder Coach, der Psychologie studiert hat, kann sich bei dem Thema
„menschliche Intelligenz“ (MI) im Rahmen der Vorlesungen zur allgemeinen oder diffe-
renziellen Psychologie sicher an die in den Lehrbüchern vorherrschende und von den Pro-
fessoren oft mit Nachdruck vorgetragene Definition derselben erinnern: „Intelligenz ist,
was der Intelligenz misst“ und „Es gibt nicht nur die naturwissenschaftlich-technisch ge-

Unterscheidungs-
Mensch Maschine (Stand 2021)
kriterien
 Intelligenz(en) (i. S. des speziellen IQ-Meßverfahrens) und kognitive Fähigkeiten;  Künstliche Intelligenz i. S. der Möglichkeiten technischer Informationsverarbeitung bzw. einer
Intelligenz spezifisch und generalistisch/ vielseitig schwachen und starken KI; Sie ist eher spezifisch/einseitig und eine reduktionistische
Nachahmung der menschlichen Intelligenz.
 Bewußtsein auf verschiedenen Ebenen (z. B im Traum) bzw. mit verschiedenen  Simulation von Bewußtseinssimulation, keine Traumfähigkeit
Bewußtsein Modalitäten der Hirnaktivität (z. B. gemessen mittels des EEG oder MRT)
 Emotion und Empathie durch intraindividuelle, interindividuelle Prozesse u.  Simulation von Emotionen im System oder nur funktionale Stimulation im Nutzer
Emotion Interaktionen mit der Umwelt
Wille  Freier Wille  Programiertechnisch determiniert; kein freier Wille

Autonomie im aktuellen und zukünftigen Verhalten bzw. Denken, Fühlen und Wollen Programiertechnisch determinierte Selbststeuerung hinsichtlich der Freiheitsgrade in einer
Autonomie speziellen Situation
Physiologischer Körper der mit seiner biologischen, chemischen und physikalischen Technisch und/oder mechanischer Bauteile die strukturell in funktional-dinghafter, humandoider
Körper Beschaffenheit auch psychische (z. T. ermergente) Prozesse hervorbringen kann und in oder in androider Weise zusammengefügt und dadurch in ihrer Verwendung/als Werkzeuge
seiner Struktur extrem multifunktional agieren kann stark spezialisiert bzw. determiniert sind
Lernen als ein komplexer Prozess der relativ stabilen Veränderung des Verhaltens, Lernen als eine spezielle Arten der Informationsverarbeitung im Rahmen der KI, basierend auf
Denkens oder Fühlens aufgrund von Erfahrung oder neu gewonnenen Einsichten und zwei resp. drei Datenverarbeitungsprozessen: Maschinelles Lernen (überwacht, unüberwacht),
Lernen des Verständnisses auf der Basis der Interaktion bzw. Wahrnehmung mit der Deep Learning oder auf der Basis von neuronalen Netzen. Sie sind (noch) durch die spezifische
umgebenden Umwelt oder Bewusstwerdung eigener Regungen) aufgefasst und bis Programmierung seiner Informationsverarbeitungsprozesse determiniert ist bzw. nicht autonom.
dato nur bedingt wissenschaftlich erklärbar ist
Handlungs- Physischen und psychischen Elemente eher generalistisch einsetzbar, durch autonome Programiertechnisch determiniert, eher speziell, themen-/bereichsspezifisch
kompetenzen Lernfähigkeit eher themen-/bereichsunspezifisch

Moral  Moralische Regeln entwickeln und auf sich selbst anwenden  Gemäß der programmierten, moralischen Codes

Gewissen  Gewissen entwickelbar, vorhanden  Kein Gewissen aus sich heraus; ggf. nur gemäß der Programmierung
 Potenzial Denk- und Verhaltensmuster/Regeln zu brechen und auch z. B. unlogisch  Programiertechnisch determinierte Regeln (in vordefinierten „Freiheiten“) befolgen
Regeltreue
denken und handeln zu können bzw. die geistige Vorstellung dieser nicht
(„Kreativität“) regelkonformen bzw. noch nicht realisierten Zuständen

Funktionsprinzip  Verarbeitung analogen, unendlich genaue Daten (Quecksilber-Thermometer)  Verarbeitung digitaler, d. h. auf 1 oder 0 abstrahierte Werte (Digitales Themomenter)

Abb. 6.1 Unterscheidungskriterien zwischen Mensch und Maschine hinsichtlich des „Innen-
lebens“. (© Stefan Stenzel 2022. All Rights Reserved)

4
https://www.generationrobots.com/de/209-begrussungs-und-prasentationsroboter. Zugegriffen am
03.06.2021.
5
https://www.realdoll24.de/liebespuppen/. Zugegriffen am 03.06.2021.
398 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

prägte Intelligenz, denn sie ist nur eine spezielle Form der Intelligenz“, sondern nach
Howard Gardner sieben verschiedene Formen der Intelligenz, die beim Menschen
­individuell sehr verschieden ausgeprägt ist. Spricht man von „künstlicher Intelligenz“
(KI), meint dieser bereits 1956 entstandene Terminus im Wortteil „künstlich“ zum einen
eine zur Aufwertung für Maschinen von Menschenhand entwickelte, zusätzliche
Funktionalität und Qualität (neben z. B. Kraft, Schnelligkeit, Zuverlässigkeit etc.), zum
anderen, dass es sich um eine Nachahmung der menschlichen Intelligenz handelt. Eine
zumindest innerhalb des Wirtschaftsraums der EU geltende Definition wurde dazu 2019
von einem Expertengremium erstellt (European Comission, 2021). Die Prüfanforderung
von menschlicher Intelligenz simulierender, maschineller Intelligenz sollten Lernfähig-
keit (d. h. eine Anpassungsfähigkeit ohne erneuten Programmieraufwand eines Men-
schen – daher i. w. S. Autonomie besitzen), Situationsflexibilität (d. h. verschiedenste Zu-
stände der „Innen- und Außenwelt“ wahrnehmen zu können und adäquat darauf reagieren
zu können) und Verallgemeinerungsfähigkeit (d. h. ein System, welches sowohl das Brett-
spiel Schach wie auch Go, Dame etc. beherrscht) sein. Das Herzstück der „Computer-
intelligenz“ ist dabei die nach dem englischen Mathematiker Alan Turing entwickelte bzw.
benannte „Turingmaschine“, welche missverständlicherweise kein maschinelles Objekt
beschreibt, sondern ein mathematisches Modell, einen Verarbeitungsprozess, der mittels
eines sogenannten Algorithmus – vergleichbar mit einem Kochrezept – verlässlich von
einem bestimmten Eingangswert (Input) zu einem speziellen Ausgangswert (Output) führt
(Misselhorn, 2018, S. 19). Diese Grundidee des rationalen, d. h. auf Logik basierenden
menschlichen Denkens materialisierte sich 1941 im Bau der ersten voll funktionsfähigen
„Berechnungsmaschine“ (Computer) mit dem Namen „Z3“ durch den deutschen Bau-
ingenieur Konrad Zuse und seinen Kollegen John von Neumann. Die darin verbauten
Elektronenröhren (heute Halbleiter) sorgen dafür, dass die Rechenoperationen digital,
d. h. durch 1 (Strom fließt/wahr) und 0 (Strom unterbrochen/falsch) auf der Basis des
Kochrezeptes/des Algorithmus ausgeführt werden können. Wäre beim Menschen das phy-
sisch lokalisierbare Gehirn als Ganzes der Computer, entsprächen – bei aller Unzuläng-
lichkeit des Vergleiches – die durch die Nervenzellen gebildeten Verschaltungsmuster den
„programmierten Algorithmen“ und die Synapsenkomplexe den Halbleitern (vgl.
Abschn. 2.1). Der eigene Einschub der „Unzulänglichkeit“ deutet dabei an, dass die Be-
schreibung bereits eine radikale Vereinfachung eines als Ganzes auch heute nur in Teilen
erforschten und verstandenen Phänomens ist, welches wir als „menschliche Intelligenz“
bezeichnen und dessen technische, künstliche Nachbildungen alle Psycho- und Neuro-
forscher eher milde lächeln lassen. Zudem ist die menschliche Intelligenz auch in dem
Sinne „komplex“, dass sie wahrscheinlich nur in ihren vielfältigen Abhängigkeiten
(z. B. Gene, Umwelt etc.) und Wechselwirkungen zu verstehen ist. Doch zurück zu der
sicher modellhaft bzw. informationstechnologisch vereinfachten Form der menschlichen
Intelligenz in der KI. Nach der Definition der „High-Level Group on Artificial Intelli-
gence“ (HLEG)6 der Europäischen Union 2019 spricht man heute von KI „als ein[em]

6
https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/policies/expert-group-ai. Zugegriffen am 04.06.2021.
6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching) 399

System, das intelligentes Verhalten darstellt (!), indem es die Umgebung analysiert und
Handlungen ableitet, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen – mit einem gewissen Grad an
Autonomie“. Misst sich die Stärke der menschlichen Intelligenz in der Psychologie über
den in einem speziell konstruierten (kognitiven) Testverfahren erreichten Intelligenz-
quotienten (IQ), unterscheidet man bei der KI die Ergebnisse zweier verschiedener
Methodenansätze (Bartneck et al., 2019): die sogenannte schwache KI, die auf eine Auf-
gabe oder Tätigkeit spezialisiert ist, und die starke KI, deren Fähigkeiten auf verschiedene
Aufgaben oder Domänen übertragen, d. h. generalisiert werden kann. In dieser noch not-
wendigen Differenzierung beschreiben Experten, die noch nicht völlig dem Zauber oder
Rausch des eigenen Fachbereiches erlegen sind, KI selbstironisch aktuell als alles, was
Computer derzeit nicht können (Bartneck et al., 2019, S. 7). So kommen die intensiv trai-
nierten Frage-Antwort-Muster (ohne ein tieferes Verständnis der Inhalte bzw. bewusstes
Handeln) einer speziellen Anwendung in der schwachen KI (z. B. zutreffend auf die
meisten Chatbots, die sich auf manchen Webseiten mit einem Hilfsangebot melden, oder
in den USA zur Bestellungsannahme in Restaurants) auch schnell an ihre thematisch meist
sehr eng gesteckten Grenzen – das macht die Simulation von menschlicher Intelligenz sehr
schnell erfahrbar. Wenn es jedoch um sehr spezielle Bereiche wie Rechenleistung, Muster-
bzw. Korrelationserkennung und Informationsverarbeitung geht, sind uns die teilweise
extrem leistungsfähigen „Rechenknechte“ durchaus überlegen. Je nach Einsatzbereich be-
zeichnet man diese gelegentlich auch als „Expertensysteme“. Von menschlichen Experten
jedoch sind sie durch deren auch implizites Wissen und „Bauchgefühl“ (Intuition) noch
Lichtjahre entfernt. Von starker KI würde man erst sprechen, wenn sie nicht nur Teil-
bereiche der menschlichen Intelligenz abdeckt, sondern sie flexibel für jede Problem-
stellung eingesetzt werden könnte sowie sie sich zudem auch bewusst wäre, dass sie das
kann und wie sie welche Bereiche der Intelligenz am zielführendsten einsetzen kann. Als
Test für das Ausmaß der Menschenähnlichkeit des „Denkens“ erdachte Alan Turing den
später nach ihm benannten Turing-Test. Dabei kommuniziert ein beliebiger Proband
(siehe dazu auch Abschn. 2.1) mit einem Computer wie in einem Chat, nur über einen
Schriftwechsel. Als Indikator der Menschenähnlichkeit gilt, inwieweit der Testteilnehmer
herausfindet, ob es sich bei dem Dialogpartner um einen Computer handelt. Kritisiert
wurde dabei, dass Turing weder eine bestimmte Zeitdauer (z. B. eine Identifikation nach 15
Minuten spricht für ein sehr gutes System) noch ein spezielles Themengebiet (z. B. das
Wetter oder der Sinn des Lebens) oder das Probandenprofil (z. B. KI-Fachmann oder
nicht) als Vorgabe und somit keine harten Vergleichskriterien für das Bestehen des Tests
machte (Bartneck et al., 2019, S. 9). Mit Bravour sollten Maschinen, welche mit Super-
oder Ultra-KI ausgestattet sind, diesen Turing-Test bestehen. Denn sie beschreiben eine
Intelligenzstärke, welche den Menschen mit ihrer Selbstoptimierungsfähigkeit i. S. der
sogenannten Singularität weit übertreffen könnte bzw. die Entscheidungen hinsichtlich
der Optimierung auch unabhängig vom Menschen treffen würde. Zwar spielt diese
Super-KI in den meisten Hollywoodstreifen bereits heute die Hauptrolle, wird in der rea-
len Welt jedoch bis dato wahrscheinlich Fiktion bleiben. Kühne Utopisten sprechen von
30–50 Jahren und sehen diese Entwicklung eng gekoppelt and die Entwicklungserfolge
400 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

des sogenannten Quantencomputers. So ist an die Simulation eines natürlichen Coa-


ching-Dialoges mit verbalen und paraverbalen, z. T. mehrdeutigen Aussagen bzw. zeit-
oder kontextbezogenen Interpretationsvarianten, mit Humor oder ­provokativen Über-
treibungen oder sogar mit Schulz von Thuns „4 Ohren“ noch lange nicht zu denken. Damit
ist und bleibt der KI-basierte Coach fürs Erste einerseits faszinierende Zukunftsmusik,
andererseits ein teilweise äußerst befremdlicher oder verstörender Sphärenklang. Was je-
doch schon heute auf Sinnhaftigkeit im Coaching zu prüfen wäre, ist der Einsatz der in
Abschn. 6.2 zu erörternden „Augmented Intelligence“ – also eine unterstützende oder
ergänzende „Intelligenz“.
Lernen: Doch welche Lernprozesse könnten dazu führen, dass eine solche Super-KI
entstehen könnte, bzw. auf welchen Entwicklungen fußen die schwache und die starke KI
und wie sehr ähneln diese Prozesse dem menschlichen Lernen?
Zur Vermeidung allzu großer Redundanzen dieses schon im Eingangskapitel 2.1 dar-
gestellten Themas ist Lernen im Rahmen der KI als eine spezielle Art von Hardware bzw.
auf speziellen Algorithmen basierende Informationsverarbeitung zu sehen, welche auf
zwei respektive drei Datenverarbeitungsprozessen basiert: dem „maschinellen Lernen“
(überwacht, unüberwacht und verstärkend) und dem sogenannten „Deep Learning“ auf
der Basis von neuronalen Netzen. Sie sind (noch) durch die spezifische Programmierung
der Informationsverarbeitungsprozesse determiniert bzw. nicht autonom.
Das maschinelle, überwachte Lernen muss dem System wie bei einem sprechen ler-
nenden Kind nach und nach durch immer mehr Kriterien „beigebracht“ werden. Das heißt,
dass z. B. nicht alles, was vier Beine hat, ein „Wauwau“ bzw. Hund (genannt „Be-
schriftung“ oder „Label“) ist, sondern nach und nach, dass es auch bellen muss, öfter eine
langgezogene Schnauze hat, öfter mit dem Schwanz wedelt und eine gewisse Größe nicht
über- oder unterschreitet. In der Anfangsphase bzw. der sogenannten „Trainingsphase“
„überwachen“ die Eltern/der Informatiker, ob das Kind/System das Kriterienmuster
„Hund“ richtig verwendet, bis es möglichst fehlerfrei mit dem entwickelten (mentalen)
Modell(-Hund) den einen Hund unter Katzen, Pferden und Kühen (auf einem Foto) sicher
erkennen kann und benennt bzw. „beschriftet“. Das Kind wie das System muss dazu sehr
viele verschiedene Hunderassen mit verschiedenen Fellfarben, verschiedener Altersstufen
etc. aus verschiedenen Perspektiven und Lichtverhältnissen etc. sehen. Einsatzgebiete sind
zum einen Probleme, die – wie soeben beschrieben – diskrete Outputs, sogenannte „Klas-
sen“ (z. B. Hund, Katze, Kuh etc.) benötigen. Neben der Objektidentifikation (z. B. Krebs-
geschwülste) auf (Röntgen-)Bildern wären weitere Beispiele die Spam-Erkennung bei
E-Mails, die Risikokategorisierung von Kreditnehmern oder die Klassifizierung von
Kundentypen nach ihrer Kaufkraft etc. Benötigt man jedoch einen numerischen Wert als
Output, z. B. die Prognose über die wahrscheinliche Dauer des Abonnements oder der
Kaufkraft von Kunden, nutzt man Prognose- bzw. regressionsanalytische Verfahren.
Beim maschinellen, unüberwachten Lernen sucht das System eigenständig nach
Mustern und Zusammenhängen in den Daten. Das heißt, das Kind/System bildet/„clus-
tert“ 200 Bilderkarten mit verschiedensten Rassen von Hunden, Pferden, Kühen und Kat-
zen in verschiedensten Situationen in (hier vier) sinnvolle Gruppen. Dieses Lernverfahren
6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching) 401

verarbeitet demnach die Ähnlichkeiten der Merkmalsausprägungen der abgebildeten


Tiere/Daten („Clusteranalyse“) und bildet derart z. B. ein Kundensegment auf der Basis
des Online-Kaufverhaltens, um gezielter zu werben. Es ist jedoch auch in der Lage,
­Anomalien oder „Ausreißer“ (z. B. Analyse verdächtiger Netzwerkaktivitäten), die nicht
den gebildeten Clustern zugeordnet werden können (z. B. eine Giraffe), zu identifizieren
und so ein ggf. neues, innovatives Service- bzw. Kundensegment zu entwickeln. Hier
könnte man in einem weiteren Schritt bzw. einer weiteren Anwendungsmöglichkeit des
unüberwachten Lernens verborgene Zusammenhänge (Assoziationen bzw. Korrelationen:
Personen, die sich coachen lassen, lesen auch bestimmte Zeitschriften) dieses Kundenseg-
ments finden und genauer definieren lassen.
Die dritte Variante des maschinellen Lernens ist das verstärkende Lernen. Dieses
nutzt man, wenn keine oder nur wenige (beschriftete oder unbeschriftete) Daten zur Ver-
fügung stehen, und es ist aktuell das interessanteste und das wohl zukunftsträchtigste Mo-
dell des Maschinenlernens zur Bewältigung komplexer Steuerungsprobleme. Die Daten
erhält der sogenannte „Agent“ aus seiner Lernumgebung/Umwelt z. B. über die Mess-
werte eines Sensors. Diese Werte geben ihm nach zahlreichen Versuchen nach dem
Versuch-­ Irrtum-Prinzip mit den jeweils gemessenen Ist-Werten im Idealfall ein ver-
stärkendes, d. h. belohnendes Feedback hinsichtlich der Erreichung des Soll- bzw.
Wunschziels (Ramage, 2018, S. 52). Die Anwendungen gehen dabei von der Spieleent-
wicklung über die (Saug-)Robotersteuerung bis hin zum selbststeuernden Pkw. Neben
dem dahinterstehenden Muster der Zielerreichung geht es in einem anderen Bereich um
Optimierungsaufgaben, wie z. B. automatische Temperaturregelung der Wohnungs-
heizung oder die ideale personelle und technische Auslastung von Zügen und Zugstrecken,
bzw. letztlich um größere Kundenzufriedenheit oder aber die Optimierung der Begriffs-
vorschläge beliebter Suchmaschinen bei der Eingabe durch den Nutzer.
Ein jüngerer Bereich des Maschinenlernens ist das sogenannte „Deep Learning“ (dt.
tiefes oder tiefergehendes Lernen). Der wesentliche Unterschied zwischen dem dar-
gestellten Machine Learning und Deep Learning ist die Fähigkeit, durch sogenannte
künstliche neuronale Netzwerke (KNN) auch bei wenigen und völlig unstrukturierten
sowie unpräzisen Eingabedaten, d. h. z. B. Texte, Bilder, Töne und Videos, diese in nume-
rische Werte umzuwandeln und dadurch digital zur Mustererkennung und zum weiteren
Lernen verarbeitbar zu machen (Ramge, 2018). Obwohl letzten Endes Algorithmen, sind
die KNN dem biologischen Vorbild des menschlichen Gehirns nachempfunden (Ramage,
2018, S. 46). Die einfachste Version eines KNN baut sich immer aus einer Eingangs-
schicht (Input Layer), mindestens einer versteckten Schicht (Hidden Layer) sowie einer
Ausgangsschicht (Output Layer) auf. Die „Tiefe“ des Lernens ergibt sich über die Anzahl
der versteckten, hierarchisch angeordneten Schichten bzw. die dort vonstattengehende so-
genannte Gewichtung der Informationen. Im Falle z. B. der Bilderkennung sind dies die
Informationen hinsichtlich der Helligkeitswerte, horizontaler, vertikaler Linien, Flächen
usw. Um die dabei anfallenden, übergroßen Datenmengen (Big Data) und die durch Men-
schen nicht mehr nachvollziehbare Gewichtung der Vielzahl der Layer durchzurechnen,
benötigt man selbst bei leistungsstarken Computern längere Rechenzeiten, die zuweilen in
402 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

die Wochen und Monate gehen können. Der sich dabei mit jeder Iteration durch die ver-
steckten Layerschichten ergebende Lernzuwachs, Selbstoptimierung, die nicht mehr
nachvollzogen werden kann und damit eine gewisse Autonomie des Algorithmus
­konstituiert, werden von vielen Menschen als Bedrohung gesehen (Grimm et al., 2019).
So lernte z. B. das Programm AlphaZero der Google-Firma 2017 zunächst die Spiele
Schach, Go und Shogi auf Meisterniveau innerhalb weniger Stunden, obwohl ihm ledig-
lich die basalen Spielregeln vorgegeben wurden und es nur gegen sich selbst spielte
(Grimm et al., S. 164). Diese publicityträchtigen Events sollten jedoch nicht darüber
hinwegtäuschen, dass diese buchstäblich spielerisch daherkommenden Meilensteine für
das Deep Learning bereits seit Längerem ein zentraler KI-Bestandteil der Produkte und
Services von Google, Facebook, Amazon und & Co sind und wir mit jeder Nutzung –
sprich „Trainingseinheit“ – ihrer Angebote dazu beitragen, diese kontinuierlich zu ver-
bessern und damit auch deren Monopolstellung auszubauen.
Bewusstsein: Doch worin würde sich das Bewusstsein der starken KI bzw. Super-KI
zeigen, für die der Turing-Test keine wirkliche Herausforderung mehr darstellen würde?
Dazu erdachte der Philosoph John Searl das Gedankenexperiment des sogenannten „chi-
nesischen Zimmers“. Man stelle sich vor, als eine der chinesischen Schrift und Sprache
nicht mächtige Person in einem abgeschlossenen Raum zu sitzen, der nur zwei Schlitze
zur Außenwelt besitzt. Durch den einen Schlitz erhalten Sie von einer Person auf einzelne
Karten gemalte Schriftzeichen sowie Anweisungen bzw. Regeln in Ihrer Muttersprache
bzw. in welcher Reihenfolge Sie die Schriftzeichen am anderen Schlitz wieder heraus-
geben sollen. Da die Regeln die Erstellung von sinnvollen Wörtern und Sätzen beschreiben
(ohne dass Sie dies jedoch durch ihre fehlenden Kenntnisse in Mandarin wissen), hat der
am Ausgangsschlitz befindliche Chinese den Eindruck, dass Sie als „Prozessor“ der Ma-
schine der chinesischen Sprache mächtig sind. Doch ist dies wirklich der Fall? Wohl eher
nicht, da Sie weder die Semantik noch die Syntax hinter den Anweisungen der produzier-
ten Wörter oder Sätze verstehen. Ohne zu wissen, d. h. sich bewusst zu sein, was Sie tun,
haben Sie einfach formale Regeln befolgt und die erwarteten, formal richtigen Ergebnisse
produziert. In weiteren Varianten des Gedankenexperimentes zur abgeleiteten und in-
trinsischen Intentionalität des „Prozessors“ (Misselhorn, 2018, S. 34) konnte Searl dar-
legen, dass nur eine intrinsische Intentionalität (das Wissen um die Sinn ergebende Rei-
hung der Schriftzeichen liegt in der Maschine) ein stichhaltiger Beleg für deren Bewusstsein
sein könnte. Noch tiefer in die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine gehend,
müsste man, wie von dem Philosophen Ned Block vorgeschlagen, zwischen Zugangs-
bewusstsein und phänomenalem Bewusstsein unterscheiden.Misselhorn (2018, S. 35) be-
schreibt das phänomenale Bewusstsein, als die menschliche Fähigkeit, das intensive Rot
der Rose oder ihren herrlichen Duft zufällig oder intentional bewusst wahrzunehmen. Es
geht also um das subjektive Empfinden physikalischer Qualitäten. Mittels des Zugangs-
bewusstseins werde ich mir durch die wahrgenommenen Eigenschaften der Rose zudem
bewusst, dass ich mit beiden Merkmalen mal wieder den/die Partner:in erfreuen könnte
und daher (bewusst) entscheide, den Blumenladen zu betreten, um sie zu kaufen und dem
geliebten Menschen letztlich zu schenken. Häufig, aber nicht zwangsläufig, treten beide
6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching) 403

Bewusstseinsarten in Kombination auf und erschaffen bei jedem Menschen ein einzig-
artiges Innenleben. Bevor man künstliche Systeme jedoch mit beidem ausstatten könnte,
müsste man zunächst verstehen, wie es dazu im Gehirn kommt und warum wir überhaupt
ein Bewusstsein (im Gegensatz zu den meisten Tieren – soweit wir dies heute wissen)
haben. Diese Problemstellung bezeichnen Bewusstseinsforscher wohl zu Recht als das
„schwierige Problem des Bewusstseins“. Man vermutet jedoch, dass beides mit den ein-
zigartigen sprachlichen (Symbolisierungs-)Fähigkeiten des Menschen zusammenhängt.
Sebstbewusstsein wäre nach Misselhorn (2018, S. 266) das Bewusstsein für das individu-
elle Empfinden (Selbstgefühl, präreflexives Selbstbewusstsein) seiner selbst bzw. des eige-
nen Denkens (reflexives Selbstwissen). So ist das menschliche Bewusstsein eines der ent-
scheidenden Unterscheidungsmerkmale zu nur informationsverarbeitenden, unbewusst
und damit empfindungslos agierenden Automaten.
Emotion: Soll es in der Folge um (Maschinen-)Ethik gehen, ist auch die Beschäftigung
mit Emotionen unumgänglich. Gefühle z. B. der Schuld, Scham, Skrupel etc. sind ent-
scheidende Wegweiser, was wir (im sozialen Miteinander) tun oder lassen sollten. Wiede-
rum müssen KI-Forscher, um Maschinen ein menschenähnliches moralisches Innenleben
einhauchen zu können, zunächst verstehen, was denn beim Menschen Gefühle eigentlich
sind bzw. wie sie zustande kommen. Dabei gibt es aktuell zwei Lager der Emotions-
theorien. Zum einen die Kognitivisten, die starke Parallelen bis hin zu Emotionen und
Urteilen bzw. Überzeugungen sehen oder diese sogar gleichsetzen. Zum anderen die Non-
kognitivisten, welche die subjektive Erlebnisqualität des Gefühls betonen. Diese werden
jedoch auf Grund ihrer fehlenden Erklärung für das Zustandekommens der verschie­
denen Emotionen von den Kognitivisten kritisieren. Die kognitionsbasierte, sogenannte
„Appraisal-­Theorie“ ist aktuell der wohl populärste Ansatz in der Emotionspsychologie,
da er inter- und intraindividuelle Unterschiede erklärbarer macht. Er stellt die Bewertung
(„Appraisal“) eines z. B. Schuld oder Scham auslösenden Reizes in den Mittelpunkt. An-
dere, potenziell damit in Verbindung stehende Bereiche bzw. Konzepte wie die Ziel-
bildung, die vermeintliche Bewältigungskompetenz (z. B. wie man sich entschuldigt), das
Selbstbild (z. B. „Ich bin ein guter Mensch!“) sowie die der letztlichen Folgehandlung
(z. B. moralisches Verhalten) können mit den kognitiven Ansätzen zwar gut kombiniert
werden, machen die Integration in einer „Emotionstheorie“ wieder umso schwerer (Mis-
selhorn, 2018, S. 41). So zeigt gerade die anhaltende Diskussion in diesem Forschungs-
bereich, wie komplex das Wechselspiel zwischen Biologie bzw. Neurologie und Psycho-
logie ist und dass es mit Sicherheit nicht mit einfacher Maschinenlogik berechenbar wird.
Dennoch soll die künstliche Intelligenz auch künstliche Emotionen hervorbringen. Die-
ses „Hervorbringen“ wird durch die noch unbefriedigende Forschungslage bei der Er-
klärung der Entstehung von Emotionen durch eine Änderung des Blickwinkels bewerk-
stelligt. Man fokussiert nicht mehr auf die Nachbildung von „echten“ Emotionen in den
Maschinen, sondern auf die kognitiven Funktionen von Emotionen wie z. B. Alarm-
mechanismen, Aufmerksamkeitssteuerung, Lernverstärkung, Zielbildung etc. (Missel-
horn, 2018, S. 43). Das heißt, wie muss ein künstliches System agieren, um diese Funktion
zu erfüllen und womöglich indirekt auch in der Interaktion mit dem Menschen hervorzu-
404 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

rufen, dass dieser z. B. das Lob im richtigen Moment als Lernverstärkung wahrnimmt?
Dieser, aber auch alle anderen Ansätze (z. B. die Nachbildung von hormonellen Prozes-
sen) würden jedoch nicht das oben bereits erwähnte „schwierige Problem des Bewusst-
seins“ lösen, nämlich: Wie und inwieweit könnte man feststellen, dass synthetisch er-
zeugte Gefühle denen des Menschen zumindest ähnlich sind? Dass dazu passende und als
„Marys Zimmer“ bekannt gewordene Gedankenexperiment lieferte 1982 der australische
Philosoph Frank C. Jackson in seinem Artikel „Epiphenomenal Qualia“. Es beschreibt die
hochbegabte, junge Neurowissenschaftlerin Mary, die jedoch seit Beginn ihres Lebens in
einem Zimmer lebt, in dem alles nur schwarz oder weiß ist. Durch ihr intensives und lang-
jähriges Fernstudium über ein Schwarzweiß-Fernsehgerät eignet sie sich alles zur Ver-
fügung stehende Wissen über das Sehen bzw. die Netzhaut, die dazugehörenden neuro-
logischen Prozesse und Farben bzw. deren Kombination von Wellenlängen sowie deren
differenzierte Benamsung etc. an. Die zentrale Frage ist nun, was passieren würde, wenn
Mary ihr schwarzweißes Gefängnis verlassen dürfte oder wenn man ihr einen Farb-
fernseher geben würde. Anders gesagt: Reicht es aus, alles über Farbwahrnehmung zu
wissen, ohne aber je Farben erlebt zu haben – also wie sich z. B. das Rot der Rose anfühlt?
Jackson Antwort lautete, dass sich das auch als Qualia beschriebene, phänomenale
Bewusstsein mit seinem sehr subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes eben
nicht auf noch so umfang- und detailreiches, physikalisches Wissen oder Erklärungen re-
duzieren lässt.

Was tun bei langfristig zunehmend schwindenden Unterschieden?


Angenommen, die „qualitative Aufwertung“ der Maschinen würde in den kommenden
Jahrzehnten Realität werden: Was heißt das für unser Verhalten gegenüber solchen dann
auch „fühlenden“ Systemen? Welche moralischen bzw. juristischen Rechte und Pflichten
erwachsen uns und ihnen daraus? Welchen Status würden wir ihnen geben wollen? Den
von Tieren? Und was hieße dies bei der Entwicklung einer Superintelligenz (Misselhorn,
2018, S. 45)? Zudem könnte die in 20–40 Jahren erwartete Möglichkeit von einem bis dato
unvorstellbar leistungsfähigen Quantencomputer die partielle (Über-)Menschenähnlich-
keit infolge der ebenfalls verbesserten Algorithmen um ein Vielfaches steigern. Schon
heute macht man dazu vielversprechende Schritte (Fraunhofer-Gesellschaft, 2021). So ist
es wohl ein Gebot der Stunde, schon heute über die ethischen Folgen für die Interaktion
zwischen den Menschen untereinander wie auch zwischen Menschen und Maschinen und
vielleicht auch zwischen Maschinen untereinander (das „Internet of Things“ hat ja gerade
erst begonnen!) nachzudenken und auf sehr menschliche Weise zuweilen auch sehr emo-
tional zu diskutieren. Womit wir beim nächsten Thema wären.

Wozu und warum über Ethik und Moral nachdenken?


Ethische Fragestellungen sind für Coaches nicht neu. Sowohl der größte internationale
Coaching-Verband ICF (Schweppenhäußer, 2021) als auch der Deutsche Bundesverband
Coaching e.V. besitzen ethische Richtlinien, welche diese spezielle Interaktionsform
zwischen zwei Menschen und deren Rahmenbedingungen definieren. Ein Novum für
6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching) 405

diese Berufsgruppe wäre es, (zukünftig) über die Art und Weise der Nutzung der von ihr
verwendeten digitalen, unterstützenden Tools (z. B. VR bzw. MR, Wearables, Assistenz-
systeme etc.) oder gar potenziellen, digitalen Substitute (z. B. Chatbots, Cobots etc.) ihrer
Arbeit nachzudenken bzw. sich an einer Diskussion darüber zu beteiligen.

Für beide Verbände ist dieser spezielle Themenbereich jedoch Neuland. Wie auch in
der Gesellschaft findet die Auseinandersetzung mit dem Thema (Digitalisierung, KI etc.)
in diesen Gruppen entweder gar nicht statt oder eher mit den Vorstellungen von (schlech-
ten) SciFi-Filmen, weitgehender Uninformiertheit und bizarren Ängsten hinsichtlich der
KI-Thematik, wie zuweilen auch einer mit dem häufig sozial- und geisteswissenschaft-
lichen Hintergrund der Coaches einhergehenden, generellen Technikskepsis basiert. Be-
feuert werden diese Fantasien zudem von der Sorge über den Untergang ihrer zuweilen
sehr idealistisch und humanistisch geprägten Wertewelt. Dies könnte und wird viel-
leicht auch geschehen, wenn die Coaching-Community (bzw. die Gesellschaft als Ganzes)
den „Jüngern des Silicon Valley“ auch dieses Themenfeld kampflos überlässt, wie z. B. bei
den Coaching-Plattformen bereits weitgehend geschehen. Denn diese gehen nach Nida-­
Rümelin & Weidenfeld (2018, S. 204) mit einer Mentalität zu Werke, die zum einen von
einem geradezu technologischen Millenarismus getragen wird und damit auch stark
ideologisch aufgeladen ist – zum anderen mit höchster fachlicher Kompetenz gepaart ist
und von einem unbändigen Erfinder- und Tatendrang unaufhaltsam vorangetrieben
wird. Diese Spezies „bittet lieber im Nachhinein um Vergebung als vorab um Erlaubnis“
( – in einer freien Übersetzung aus dem Englischen). Für Nida-Rümelin & Weidenfeld
(2018, S. 20) „[…] hängt dies mit der amerikanischen, puritanischen Erlösungshoffnung
zusammen, eine Welt der Reinen und Gerechten zu schaffen, die Schmutz und Sünde hinter
sich gelassen haben“. Bei (Google) Alphabet, Facebook, Amazon zu arbeiten heißt damit,
zu den „Auserwählten“ zu gehören, um die Menschheit (mit ihren überdurchschnittlichen,
aber sehr speziellen Gaben Gottes) von allen Problemen zu befreien und den Weg zu
einem neuen, technologischen Utopia zu ebnen. Oder wie einer der Götter der Software-
entwickler es einmal formulierte: „Silicon Valley is a mindset, not a location“ (Nida-Rü-
melin & Weidenfeld, 2018, S. 22). Nicht nur vor diesen Utopien, sondern bereits vor den
aktuellen, realen Entwicklungen warnen interessanterweise ausgewiesene Koryphäen wie
das verstorbene Physikgenie Stephen Hawking, der Oxford-Philosoph Neil Bostom oder
aber sogar ein ehemaliger Jünger dieser Gemeinschaft wie der Ex-Google-Forscher Ray
Kurzweil und selbst der Vater der VR-Technologie Jaron Lanier usw. Sich von den großen
Verlockungen des schnöden Mammons und ihrer potenziellen Hybris loslösend, gründen
diese – wie im Falle des Ex-Chefethikers Tristan Harris geschehen – eine Aussteiger-
organisation wie das „Center for Humane Technology.7 Zugleich verzichten diese Rebel-
len mit ihrem Befreiungsakt wahrscheinlich darauf, in der für die Dekaden um 2050
vorausgesagten Singularität (siehe auch Abschn. 2.1) vielleicht einmal mit einem gott-
gleichen, superintelligenten Wesen als „technisches Gehirn im Tank“ (Wikipedia, Gehirn
im Tank, 2021d) verschmelzen zu können. Gleich wie, macht es bis dahin wahrscheinlich

7
Center for Humane Technology (CHT) https://www.humanetech.com/. Zugegriffen am 15.06.2021.
406 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

auch mehr Sinn, hübsch bescheiden das Gehirn in unserem Schädel dazu zu nutzen, über
das für und wider, das wie, warum, wann und wo nachzudenken und sich damit in das Feld
der Ethik bzw. Moral zu begeben.

Das kleine Einmaleins der (Maschinen-)Ethik


Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Ethik und Moral von den meisten von
uns – wenn überhaupt – unspezifisch genutzt. Ethik ist jedoch ein Unterbereich der eher
wissenschaftlich-theoretisch und eher diskursiv ausgerichteten Moralphilosophie. Letz-
tere grenzt sich wiederum von der religiös begründeten eher präskriptiv ausgerichteten
Moraltheologie ab. Ist es Ziel der Ersteren, Entscheidungen bzw. Handeln möglichst re-
flexiv durch inhaltlich nachvollziehbare und/oder logische Argumentation zu begründen,
reicht es aus – etwas überspitzt formuliert –, in ihrem theologischen Zweig die passenden
Bibelstellen zusammenzutragen und sie entsprechend zu interpretieren. Ethik soll da-
gegen ohne jegliche Bevormundung eine substanziell begründete bzw. eine zuweilen müh-
sam ausgehandelte Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“ unterstützen und wird auch
als die „Theorie des richtigen Handelns“ definiert (Grimm et al., 2019, S. 9). So gesellt
sich nach dem Philosophen John Rawls zu diesem starken Alltags- und Praxisbezug ein
„vernünftiger Pluralismus“. Die Ethik als Konzept unterteilt sich auf einer nächsten Ebene
in die deskriptive und die normative Ethik. Die deskriptive Ethik mit ihrer Beschreibung
moralischer Phänomene in bestimmten Kulturen und Epochen (= empirische Ethik) und
deren theoretischen Voraussetzungen in Sprache, Diskurslogik etc. (= Metaethik) aus-
klammernd, konzentrieren wir uns hier auf die Handlungsorientierung ermöglichende
normative Ethik. Sie unterscheidet wiederum die allgemeine von der angewandten Ethik.
Beschäftigt sich die allgemeine Variante entsprechend ihrer Benennung auf mögliche
„Standards“ bei Normen, Handlungsweisen, Charakterzügen oder gar Gefühlen, fokus-
siert die Zweitgenannte auf Handlungsempfehlungen für konkrete und spezielle An-
wendungsbereiche, wie zum Beispiel die Maschinenethik, die mit der zunehmenden
Durchdringung der menschlichen und technischen Lebenswelten durch das Digitale auch
immer häufiger mit digitaler Ethik gleichgesetzt wird. Deren Teilgebiet der Roboter-
ethik thematisiert und hinterfragt die Entwicklung, Herstellung und Verwendung von Ro-
botern. Die Informationsethik macht sich über den Umgang mit Daten und die heute
allgegenwärtigen Informations- und Kommunikationstechnologien Gedanken. Ihre wei-
tere Verfeinerung der Computerethik soll hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt wer-
den (Misselhorn, 2018, S. 47). Dasselbe gilt für die Gentechnik, Organtransplantation,
Schwangerschaftsabbruch, das Klonen etc., welche ebenfalls durch die technischen
Möglichkeiten des modernen Lebens auch zu ethischen Fragestellungen werden.

Die drei bewährtesten Ansätze zur Analyse im Rahmen der normativen Ethik be-
trachten das Themengebiet (z. B. die Digitalisierung) aus teleologischer, deontologischer
oder tugendethischer Perspektive. Die teleologische Herangehensweise hat dabei das Ziel
oder den Verwendungszweck und seine Folgen i. S. eines Kosten-Nutzen-Verhältnisses
einer technischen Anwendung für den Einzelnen und die Gesellschaft im Blick (Grimm
6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching) 407

et al., 2019, S. 14). Mithin verbindet sich mit der teleologischen Sichtweise auch das
Themengebiet der sogenannten Technikfolgeabschätzung (Grimm et al., 2019, S. 14).
Wichtige teleologische Konzepte sind z. B. Utilitarismus (nach Jeremy Bentham,
1748–1832; John Stuart Mill, 1806–1873), der Machiavellismus (nach Niccolò Machia-
velli, 1449–1516) und der Hedonismus, der keinen speziellen geistigen Vater hat. Ein
Beispiel wäre hier der Einsatz von VR- oder MR-Brillen im Coaching. Was soll damit
erreicht werden und wozu bzw. wann würde man sie nutzen? Was sind die Vor- und Nach-
teile, für wen bzw. wer (z. B. Coachee, Coach, Ausbilder, Wissenschaftler, Hersteller etc.)
profitiert wie (z. B. bei der Intervention bzw. hinsichtlich des Behandlungserfolges, finan-
ziell etc.) davon? Eine Fragestellung aus einer deontologischen Perspektive zu betrachten
hieße, sich in der Beurteilung von idealerweise verinnerlichten Pflichten, Werten, Normen
und Gesetzen leiten zu lassen. Als Gegenstück z. B. zum Utilitarismus geht es hier eben
nicht nur um die eigenen Vorteile, sondern um das kluge Abwägen der Rechte und Pflich-
ten aller Beteiligten bei Entscheidungen (Grimm et al., 2019, S. 15). Der wohl bekannteste
deutsche Pflichteethiker ist Immanuel Kant (1724–1804) mit seinen Maximen (Leit-
pflichten) zur allgemeinen Lebensführung, wie z. B. dem „kategorischen Imperativ“
(„Handele so, dass die Maxime deines Willens Grundlage einer allgemeinen Gesetz-
gebung werden könnte“). Im Kontext des Coachings wäre dies die Frage, wie intensiv der
Coach den Coachee über die Nebenwirkungen der Nutzung der VR-Technologie aufklären
muss, ohne ihn jedoch schon vorab abzuschrecken. Eine tugendethische bzw. eudemi-
sche Betrachtungsweise hat das „gute“ bzw. „gelingende Leben“ des Einzelnen wie des
Kollektivs im Blick. Die auf den griechischen Sprachraum (eudaimonia = Glück oder
Glückseligkeit) bzw. Aristoteles (384–322 v. Chr.) zurückgehende Denkart strebt eine Ver-
vollkommnung der eigenen Natur und Charakterbildung i. S. einer „Vortrefflichkeit“ oder
„Exzellenz“ an. Auf den Coaching-Bereich übertragen wäre daher z. B. zu fragen, ob es
„tugendhaft“, menschlich und professionell vertretbar wäre, einer Rat suchenden Person
in der gleichen oder sogar einer höheren Preiskategorie einen Chatbot des heutigen Ent-
wicklungsstandes als Dialogpartner anzubieten (Grimm et al., 2019, S. 16).
Mit dieser multiperspektivischen, ethischen Betrachtung von Themenstellungen wie
z. B. der Digitalisierung verbindet sich die Hoffnung, nach intensiven und ggf. auch kon-
troversen Diskussionen zu Entscheidungen zu kommen, welche durch ihre Differenziert-
heit und Ganzheitlichkeit so tragfähig wie praktikabel sind (Grimm et al., 2019, S. 17).
Die nachfolgend vorgestellten Überlegungen zur Ethik umreißen daher nur die aus Sicht
des Autors relevanten Themen, die jedoch in einem Diskurs der Coaching-Community
gefüllt und mit entsprechenden Leitlinien zum Leben erweckt sowie in einem Sachver-
ständigenrat bei Fehlverhalten auch angeprangert werden müssen. Grundlage dafür jedoch
ist, dass möglichst viele Menschen über ein entsprechendes Grundlagen- bzw. Hinter-
grundwissen verfügen, um die Chancen, aber auch Gefahren der Digitalisierung realis-
tisch einschätzen zu können. Um diese neu zu entwickelnden Fertigkeiten – oder im Eng-
lischen als „Literacy“ bezeichneten Kompetenzen des Klienten – soll es im nächsten
Kapitel gehen.
408 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

6.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten

Die hier darzustellenden positiven und negativen Folgen der Digitalisierung für den Klien-
ten stehen zwar nicht ausschließlich bzw. automatisch in Verbindung mit dem Coaching –
jedoch erhalten sie durch die schon vorab und/oder im Coaching selbst zum Einsatz kom-
menden Technologien (z. B. Wearables, VR, Chatbots etc.) respektive die sich potenziell
während des Coachings ergebende professionelle Intimität der Beziehung und verstärkte
Vulnerabilität durch die Öffnung des Klienten größere Bedeutung. Ganz unpsychologisch
und sachlich bzw. praxisbezogen kommen dagegen auch hier Themen der Privatheit, der
persönlichen wie auch technischen Aspekte zur Sprache.

Die Notwendigkeit der (neuen) „Human Literacy“


Wurde auf die Gefahr der Abhängigkeit bzw. das Suchtpotenzial digitaler Informations-
und Kommunikationsangebote (Stichwort „Digital Detox“) als explizites Coaching-Thema,
aber auch als Rahmenbedingung bereits in Abschn. 2.1.3 hingewiesen, sollen hier einige
aktuell wenig beachtete, aber mit fortschreitender Menschenähnlichkeit der KI zumindest
latent problematische Aspekte angesprochen werden.

Da ist zunächst die Tendenz des Menschen, Wünsche und Gefühle auf Maschinen zu
projizieren, obwohl sie diese bis dato nur simulieren können (Bartneck et al., 2019, S. 81).
Die Gefahr des damit angesprochenen „Anthropomorphismus“ könnte sich dabei durch
die wachsende Natürlichkeit in der reinen Dialogfähigkeit von gestaltlosen Chatbots er-
geben und/oder es könnten ergänzende, zweidimensionale, naturgetreue und interaktions-
sensible Abbildungen der Dialogpartner entstehen. Da dreidimensionale Androiden als
echte Dialogpartner bis dato eher dem Bereich der Science Fiction zuzurechnen sind, sol-
len diese hier zunächst ausgeklammert werden. Erste Prototypen humanoider Roboter,
wie z. B. der Robotertorso „Sophia“ des Hongkonger Unternehmens, Hanson Robotics,
oder die bereits erwähnte „Ameca“ der britischen Firma „Engineered Arts“, vermitteln
jedoch bereits einen Eindruck, was bereits in eng gesteckten Rahmen hinsichtlich der
Imitation menschlichen Aussehens und Verhaltens schon heute möglich ist. In beiden Fäl-
len wirkt der von Reeves und Nass (Reeves & Nass, 1996) als „Media Equation“ be-
zeichnete Effekt, bei dem die Äußerungen von KI-Systemen mit menschlichen Inter-
aktionspartnern gleichgesetzt und entsprechend höflich, freundschaftlich oder sogar als
Intimpartner (wie bei dem Kinofilm „Her“) behandelt werden. Ursachen dieses Effektes
sind die von Heider und Simmel (1944) beschriebenen Tendenzen des Menschen, selbst
abstrakten Formen wie z. B. Kreisen, Quadraten oder Dreiecken menschliche Eigen-
schaften zuzuschreiben. Folge dieser Tendenzen zum Anthropomorphismus ist die zwie-
spältige Tatsache, dass Menschen Gefühle der inneren Verbundenheit gegenüber KI ent-
wickeln können. Der bereits in Abschn. 2.1.2 erwähnte Film „Her“ von Spike Jonze wäre
als „Liebesgeschichte“ mit seinem durch den Namen „Samantha“ personalisierten Be-
triebssystem OS ein Beispiel für die Gefahren, die von zwar gestaltlosen, aber sehr dialog-
starken Chatbots ausgehen können – die im gleichen Kapitel aufgeführte App „Replika“
6.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten 409

eine erste konkrete ­technische Umsetzung. Eine negative Folge wäre z. B., dass eine von
Abhängigkeit und Einseitigkeit geprägte Beziehung entstehen könnte. Auf der positiven
Seite kann ein solches System wie bei der Entwicklerin der App „Replika“, Eugenia
Kuyda, in einem quasitherapeutischen Sinne durch eine Art „Trauerhilfe“ über den
Schmerz bzgl. des Todes eines Freundes hinweghelfen.8 Von unangemessenem Verhalten
von Menschen gegenüber Robotern beschreiben Bartneck, Lütge, Wagner & Welsh (2019,
S. 82). So berichten sie von Soldaten im Irak, die ihrem Assistenzroboter nach seiner Zer-
störung eine Medaille verliehen und ihn in einer Zeremonie beerdigt haben. Dass die
„Mutter aller Dialogsysteme“, ELIZA, von Joseph Weizenbaum als therapeutisches Sys-
tem konzipiert wurde und damit selbst bereits Anfang der 60er-Jahre erfolgreich war, kann
als weiterer Indikator dafür gesehen werden, dass wir Menschen KI, wenn sie „mensch-
lich“ daherkommt, (allzu) schnell vertrauen. Die Nutzung eines Navigationsgerätes im
Auto oder bei Wanderungen – aber insbesondere auch die zuweilen sehr lautstarken,
menschlichen Reaktionsweisen, wenn es einmal nicht einwandfrei funktioniert – sind ein
weiterer Beleg dieser speziellen „Beziehung“. Vertrauen Menschen eher Menschen, die
ihnen ähneln, ermöglicht der Audio-Editor Voco der Firma Adobe (Wikipedia, Adobe
Voco, 2021b) als das „Photoshop for the Voice“ nach einem 20-minütigen Gespräch mit
dem System eine komplette Nachahmung und Manipulation der stimmlichen und sprach-
lichen Besonderheiten eines Individuums. Dass die Ursachen für Erfolg – neben der
Funktionserfüllung – eigentlich bei Menschen geschätzte Eigenschaften wie (stimmlicher)
Rapport, Freundlichkeit, ggf. Geduld bei häufigem Wiederholen von z. B. An-
weisungen, geduldiges Zuhören oder permanente Ansprech- bzw. Verfügbarkeit usw.
sind, sollte jedoch zu denken geben. Ist die explizite Funktion z. B. eines Pflegeroboters
Sorge bzw. Fürsorge für einen Menschen, ist die Gefahr einer letzten Endes natürlich
völlig einseitigen Bindung oder gar Abhängigkeit bzw. von Gefühlen von Freundschaft
oder gar Zuneigung insbesondere bei psychisch und/oder physisch vulnerablen Menschen
wahrscheinlich latent gegeben. Die in Abschn. 2.1.1 und 2.1.2 dargestellten Wearables er-
möglichen dem quantifizierbaren Selbst („Quantified Self“) zum einen das Gefühl der
Selbstkontrolle (in einer womöglich als VUCA erlebten Welt), zum anderen eine spezi-
fische soziale Vergleichbarkeit und die Mitgliedschaft der sozialen Zugehörigkeit. Das
scheinbar objektive und verlässliche Feedback über den physischen oder psychischen
Zustand verschafft bei Erreichen und besonders bei Übertreffen der Leistungsnormen
Sympathiebekundungen („Likes“) und eine Resonanz des eigenen Tuns, die im „realen“
Leben in dieser Häufung oft fehlen. Die sehr intensiv mit KI arbeitenden sozialen Medien
wie z. B. Facebook oder Instagram sind hier (besonders für Heranwachsende) wohl als die
kritischsten Akteure zu sehen. Technische (z. B. craniale Stimulationsapparate) oder
neurologisch-pharmakologische Enhancements (i. S. von „Gehirndoping“) ermöglichen

8
https://replika.ai/about/story: „The idea was to create a personal AI that would help you express
and witness yourself by offering a helpful conversation. It’s a space where you can safely share your
thoughts, feelings, beliefs, experiences, memories, dreams – your “private perceptual world”.. Zu-
gegriffen am 19.06.2021.
410 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

eine scheinbar (anstrengungslose und) unendliche Leistungssteigerung, die im schlimms-


ten Falle zu einer Art Hybris führen könnte. Die übermenschliche Leistung ist jedoch
letzten Endes eben nicht auf natürliche Talente oder besondere Charakterstärke etc.
zurückzuführen, sondern wahrscheinlich durch finanzielle Ressourcen bedingt. Ob sich
überdies das Versprechen von Glück für das sich durch die permanente Selbstoptimierung
am Selbst berauschende Individuum einlöst, ist ohnehin fraglich. Denn ein Glücksquell
kann eben auch in der Fürsorge für andere oder in der Optimierung des großen Ganzen,
der Gesellschaft bestehen. Die gesunde, das heißt dynamische Balance zwischen beiden
Polen wäre das Ziel (Grimm et al. S. 97). Dieses Glück jedoch z. B. über VR-Technologie
in einem „Second Life“,9 d. h. in von Benutzern gestalteten, eigenen virtuellen Welten
(Metaversum), zu suchen, in dem Menschen nur noch als Avatare in verschiedensten Be-
reichen des Lebens miteinander interagieren, wäre jedoch eine extreme Reduktion des von
Körper und Geist geprägten menschlichen Seins. Ironischerweise machen jedoch man-
chen VR-Nutzern die Nebenwirkungen in Form einer speziellen Art von Übelkeit („VR
Sickness“), die potenziell mit dem Eintauchen (Immersion) in die computergenerierte
Umgebung verbunden sind, ihre Körperlichkeit (auf dann leider unangenehme Weise)
wieder bewusst. Als „Ausgleich“ für diese latenten körperlichen Negativeffekte bietet VR
überwältigende psychische Erlebnisse, bei denen die Gesetze der Physik und Biologie
überwunden (z. B. fliegen, end- bzw. gefahrenloses Tauchen) werden können. In dieser
durch nichts begrenzten „neuen Freiheit des Erlebens“ könnten jedoch auch Dinge (zu
Trainingszwecken!) juristisch folgenlos getan werden bzw. könnten Menschen realitäts-
getreu zu Handlungen animiert werden, die die meisten von uns in der realen Welt wahr-
scheinlich nicht tun würden (z. B. töten, quälen, foltern). Diese Möglichkeiten der physi-
schen und psychischen Grenzüberschreitung könnten bei übermäßigem Konsum
überdies Anlass für einen bislang ungekannten Eskapismus, also den häufigen Rückzug
aus der realen Welt in eine (ideale) Scheinwirklichkeit sein. Im Falle von Suchtverhalten
wären bei ohnehin schon vulnerablen Personen diese Form von Realitätsflucht oder gar
ein Realitätsverlust bis hin zur Paranoia die möglichen Folgen. So nannte der Groß-
meister cineastischer Illusionen, Steven Spielberg, VR auch eine „Superdroge“ (Handels-
blatt, 2018) und lieferte 2018 mit seinem SciFi-Streifen „Ready Player One“ ein dys-
topisches Szenario, in dem sich im Jahr 2045 Millionen Menschen mit VR-Brillen in eine
digitale Parallelwelt – eine Metaversum (Wikipedia, Metaversum, 2021h) flüchten. Den
aktuellen Stand der Forschung zu den potenziellen Fehlentwicklungen in einer Übersicht
präsentiert das Herausgeberwerk von Sheldon, Rauschnabel, Philipp & Honeycutt „The
Dark Side of Social Media: Psychological, Managerial, and Societal Perspectives“ (Shel-
don et al., 2019).
Wie so oft bei technischen Neuerungen stecken diese – wie soeben dargestellt – voller
vieler positiver Möglichkeiten. Um den ebenfalls vorhandenen, latenten Gefahren der di-
gitalen bzw. KI- Entwicklungen vorzubeugen, hilft jedoch nicht eine noch raffiniertere KI,
sondern – vergleichbar der Antirauch- bzw. Antisuchtkampagne bei Zigarettenkonsum –

9
https://secondlife.com/?lang=de-DE. Zugegriffen am 11.06.2021.
6.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten 411

zum einen Wissen bzw. Aufklärung bzgl. der Chancen und Risiken der Digitalisierung,
insbesondere der KI, zum anderen (wieder) mehr Menschlichkeit unter den Menschen.
Die (bis dato) bereichsspezifische, übermenschliche Stärke der KI kann sich nur dann
gegen uns wenden, wenn wir das, was uns menschlich macht, nicht bewusster leben und
kultivieren, sondern sogar weiterentwickeln bzw. zunächst womöglich bereits vorhandene
Defizite – bar jeder Sozialromantik – gezielt angehen. Coaching in vielen Arbeits- und
Lebensbereichen könnte dazu ein Beitrag unter vielen Maßnahmen sein. So gesehen
könnte man die erstarkende KI bzw. ihre zunehmende Bedeutung in unserem Leben sogar
als Chance eines neuen (digitalen) Humanismus sehen. Die Ausfaltung dieser Gedanken
erfolgt in Abschn. 6.3.

Die Notwendigkeit der „Privacy Literacy“


Wie den Begriff „Freiheit“ erleben wir auch das Recht auf „Privatheit“ in den westlichen
Demokratien als Alltagsnormalität, über die wir uns bislang keine weiteren Gedanken
machen. Halten wir jedoch kurz inne, wird uns bewusst, dass beide weder überall auf der
Welt geschweige denn schon immer gegeben waren, voneinander abhängig und damit
eben keine Selbstverständlichkeiten sind. Um weiterhin ihre Gültigkeit zu erhalten, müs-
sen sie immer wieder überdacht, falls notwendig modifiziert oder aber sogar auch neu
verteidigt werden. Und dieser Zeitpunkt scheint nach Ansicht von immer mehr Menschen
nun gekommen.

Denn mit der zunehmenden, meist nicht offensichtlich voranschreitenden Datafizie-


rung der Privatsphäre über den alltäglichen Gebrauch des Smartphones bzw. der sozialen
Medien, den Onlinekonsum, Fitnessarmbänder, mit dem Internet verbundene Hausgeräte,
zunehmend autonome Fahrzeuge etc. kommt es nach Grimm, Geber & Zöllner (2019,
S. 29) durch die voranschreitende Kapitalisierung zu einer noch nie dagewesenen
Informationsasymmetrie zwischen den „Datenkraken“ wie Alphabet (Google), Face-
book, Amazon etc. und dem (oft naiven) Nutzer. Und dies, obwohl nach dem Pflichten-
ethiker Immanuel Kant eigentlich nur Dinge einen Preis haben sollten, Menschen jedoch
Würde. Zum ausbeutbaren, digitalen Datendouble degradiert, merken wir nicht mehr, wie
wir zunehmend die Kontrolle über unsere Lebensräume (z. B. Intimität, Familie/Be-
ziehung/Freundschaft, Wohnorte, Gesellschaft/Staat/Wirtschaft), unsere Handlungen
(→ was und wie handeln wir), Verhaltensweisen (→ wer verhält sich wie und warum) und
unser Wissen verlieren und damit ein im Grundgesetz verbrieftes Grund- bzw. ein
Menschenrecht. Da diese Erosion sich sehr langsam und in sehr kleinen Schritten voll-
zieht, ist die reale Untergrabung der Grundmauern unserer Zivilisation nicht mehr nur eine
Dystopie paranoider Spinner, sondern ernst zu nehmender Wissenschaftler:innen (Zuboff,
2018). Diese Gefahr ist besonders dann gegeben, wenn wir uns nicht erneut die Funktio-
nen und Relevanz der Privatheit für unser Sozialleben ins Gedächtnis rufen. Grimm, Geber
& Zöllner (2019, S. 36) folgend würde (1) der Verlust der aktiven Entscheidungs- bzw.
Regulationsmöglichkeit, personen- und situationsspezifisch Vertrauen schenken zu kön-
nen, auch zu einem Verlust der sozialen Verarmung der Kommunikations- und Inter-
412 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

aktionsmöglichkeiten führen. Aber auch ein selbstbestimmtes Leben innerhalb einer Ge-
meinschaft wäre damit unmöglich, da im Falle totaler Transparenz (2) der Kontrolle, dem
Zwang oder der Diskriminierung Tür und Tor geöffnet wäre. Gleiches gilt für den Miss-
brauch der für alle offenliegenden Daten durch verschiedenste Interessengruppen wie
z. B. Unternehmen, politische Parteien etc. Das Denken, Fühlen und Verhalten der Men-
schen zu eigenen Zwecken zu manipulieren wäre jedoch nur noch bedingt gegeben, falls –
wie in der Endsequenz des dystopischen SciFi-Films aus dem Jahr 2017 „The Circle“
(Wikipedia, The Circle (2017), 2021k) des Regisseurs James Ponsold – die Protagonistin,
Mea, die zum Geschäftsmodell erhobene umfassende Transparenz des Lebens aller Men-
schen auch von den Geschäftsinhabern als Personen und Unternehmer fordert. Die so
i. S. v. „gleiches Recht für alle“ offengelegten Manipulationsversuche wären zwar
ethisch auch nicht besser vertretbar, sie würden jedoch auf einer Art „Waffengleichheit“
beruhen. Eine andere Funktion von Privatheit ist die Vermeidung des sogenannten „Chil-
ling-Effekts“: Er beschreibt den vorauseilenden Gehorsam bzw. selbstbeschränkendes
Handeln von Menschen durch vermeintlich zu erwartende Restriktionen. Der mit Un-
kenntnis über die Datenverwertung seitens der Anbieter im Internet einhergehenden, eige-
nen Normierung des Verhaltens bzw. des daran potenziell gekoppelten Verlustes an
Integrität und Authentizität, setzt erfreulicherweise schon heute das Recht auf informa-
tionelle Selbstbestimmung10 im Rahmen des Datenschutzes deutliche Grenzen. Obwohl
sicher noch unzureichend, sind die Internetanbieter daher aufgefordert z. B. vom User vor
Nutzung seiner Webseite aktiv eine Zustimmung bzgl. der Cookieverwendung einzuholen.
Besonderes Augenmerk ist dabei auf Heranwachsende zu legen, da sich bei ihnen die
Identität im Entwicklungsstadium befindet und sie damit extreme Vulnerabilität hinsicht-
lich aller Arten von Manipulationen aufweisen. Die Verlautbarung von Facebook im März
2021, eine „altersgerechte und sichere“ Version der sozialen Plattform „Instagram“ für
Kinder unter 13 Jahren anbieten zu wollen, ist daher äußerst kritisch zu sehen. Es wäre
mehr als fatal, wenn wir es zulassen würden, unsere Kinder – und damit die nächste Ge-
neration – schon in frühen Jahren zu fremdgesteuertem „Datenschlachtvieh“ heranziehen
zu lassen.
Nicht durch die obigen Impulse zur (erneuten) Bewusstwerdung hinsichtlich des gro-
ßen Wertes der Privatheit für das soziale Leben gilt es mit Grimm, Geber & Zöllner (2019,
S. 43) eine Art digitale Privatheitskompetenz (Privacy Literacy) zu entwickeln. Den eige-
nen, wahrscheinlich eher unbedachten Umgang mit privaten Daten im Kontext ethischer
Überlegungen zu reflektieren, wäre dabei ein erster Anfang (ethische Reflexions-
kompetenz). Nachzuforschen, wann und wo man welche und wie viele Daten preisgibt,
ein Zeichen der strukturellen Kompetenz. Die bewusste Auseinandersetzung mit dem
Wertedilemma zwischen z. B. dem Wunsch nach einer authentischen Teilnahme an den
Interaktionen in den sozialen Medien auf der einen Seite, aber größtmöglicher quantitati-
ver Datensparsamkeit sowie einer Sensibilität für die qualitativen Inhalte der Veröffent-

10
Das Recht des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persön-
lichen Daten zu bestimmen als Teil der freien Entfaltung der Persönlichkeit und Menschenwürde.
6.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten 413

lichungen auf der anderen Seite macht zudem möglicherweise eine Neujustierung der bis-
herigen Werthaltungen notwendig. Diese „Wertearbeit“ wird in Abschn. 6.3 erneut
aufgegriffen. Eng damit verbunden ist die Einschätzung der speziellen Gefahren bei
­Offenlegung verschiedenster Informationen (Risikokompetenz). Die bewusste Auswahl
und Nutzung von Anbietern, die datenschutzkonform agieren (Handlungskompetenz),
sowie die Kenntnis der großen Linien des Datenkapitalismus setzen die vielfältigen Aktivi-
täten in einen größeren Kontext (ökonomische und politische Kompetenz).

Die Notwendigkeit der „Digital Literacy“


Ältere Leser aus dem Bildungssektor werden sich vielleicht erinnern, dass der Begriff der
„Digital Literacy“ um die Jahrtausendwende in der damals viel beschworenen Medien-
kompetenz bereits einen Vorläufer hatte. Doch auch das Alphabetisierungskonzept der
70er sowie das Konzept der „Grundbildung“ Anfang der 1990er machen deutlich, dass
derartige Ideen stark an zeitliche und damit gesellschaftliche, später auch technische Ent-
wicklungen gekoppelt waren und deshalb end- und allgemeingültige Definitionen ins-
besondere durch die Dynamik der Fortschritte und Innovationen durch das Internet bzw.
die Digitalisierung immer eine besondere Herausforderung darstellten und dieser Sach-
verhalt unverändert besteht (Kilian, 2019).

Als kleinster gemeinsamer Nenner der vielfältigen Definitionsansätze und Modelle zur
Medienkompetenz kristallisierte sich das Wissen über Medien, ihre Funktionsweise sowie
das kompetente und selbstbestimmte Handeln mit den Medien heraus, welche zudem stets
kritisch hinterfragt werden sollten. Das wohl populärste Medienkompetenzmodell von
Dieter Baacke (Baacke, 1996) bezieht dabei explizit die Wechselwirkung zwischen dem
medialen und gesellschaftlichen Wandel bzw. dessen Chancen und Risiken für die (Le-
bens-)Welt mit ein.
So wurden wir alle in den letzten 20–30 Jahren Zeitzeugen des anhaltenden Kampfes
der traditionellen Medien, wie z. B. Fernsehen, Zeitung, Radio und Bücher, gegen digitale
Medien mit ihren sehr vielfältigen und vermeintlich (monetär) kostenlosen Internetan-
geboten. Mit ihnen veränderten sich auch die Kommunikationsformen (z. B. E-Mails,
Kurznachrichten, manipulierte Fotos etc.), Kommunikationscodes (Abkürzungen durch
wenige Buchstaben, z. B. „LOL“, „chatten“ etc.) und -stile (z. B. Emojis, GIFs, kurze
Sprachnachrichten etc.). Der Medienbegriff von früher taugt daher nicht mehr in einer sich
unaufhaltsam digitalisierenden Welt. Hinsichtlich des gesellschaftlichen Wandels ist
unsere (Lebens-)Welt in den letzten Jahrzehnten europäischer und globaler geworden.
Daher ist es nicht überraschend, zu sehen, dass es sehr schwierig ist, sich auf ein – wenn
schon nicht auf globaler, so doch zumindest auf europäischer Ebene – einheitliches Ver-
ständnis für den zeitgemäßeren und umfassenderen Begriff der „Digital Literacy“ zu ver-
ständigen. Denn wird in Großbritannien diese eher als eine normative, kulturunabhängige
Basiskompetenz gesehen, fokussiert man gemäß Kilian (2019) in Deutschland auf die
Schriftkultur. Beide Nationen stimmen jedoch zum einen darin überein, dass sie heutzu-
tage als Voraussetzung der Teilhabe an entwickelten, schriftlich organisierten Gesell-
schaften zu sehen ist, zum anderen, dass sie neben den basalen Lese- und Schreib-
414 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

kompetenzen das Management und die Evaluation von Wissen beinhalten sollte. Mit dem
Definitionsansatz von Kilian (2019) würde Digital Literacy dem Individuum ermöglichen,
„[…] Wissen durch Information und Kommunikation über digitale Medien zu erwerben
und zu teilen. Der Zugang zu Wissensressourcen mithilfe digitaler Medien, die Integration
und das Management des Wissens sowie die Evaluation sind dabei zu berücksichtigen.
Digital Literacy stellt somit eine Grundlage der erfolgreichen Teilhabe in einer Gesell-
schaft dar, die zunehmend durch digitale Medien, Techniken und Prozesse durch-
drungen wird“.
Definitionen in Form von Modellen zur produktiven Interaktion zwischen Individuen
und Medien existieren nach Narr & Friedrich (Narr & Friedrich, 2021) aktuell in zwei
Varianten. Das sogenannte 4K-Modell als „Framework for 21st Century Learning“ (Wiki-
pedia, 4K-Modell des Lernens, 2021a) vereint sehr übersichtlich und praxisbezogen Kol-
laboration und Kommunikation, Kreativität und kritisches Denken als die Kompetenzen
für die ungewissen beruflichen Anforderungen im 21. Jahrhundert. An ein Periodensystem
erinnernd, beschreiben die 8 Cs of Digital Literacy (Cultural, Confident, Creative, Co­
gnitive, Constructive, Critical, Communicative und Civic) in der Dissertation von Doug
Belshaw (Belshaw, 2011) ein zusätzlich erweitertes Set an vermeintlich zukunftsträchtigen
Kompetenzen. Dem Aufbau der Basiselemente in der Chemie folgend, kommen diese in
der Realität jedoch selten in Reinform vor, sondern meist in Verbindungen. So hängt
z. B. die Kritikfähigkeit nicht nur von der kognitiven Leistungsfähigkeit ab, sondern – soll
sie denn wirksam werden – auch vom Selbstvertrauen, diese zu äußern, bzw. der Fähig-
keit, diese auch noch anschlussfähig zu kommunizieren. Uneinigkeit herrscht bis dato
darüber, welches der beiden Konzepte denn nun das zukunftsweisendere sei. Gilt einigen
nach Narr & Friedrich (2021) das 4K-Modell als zu sehr an den Interessen der Wirt-
schaftswelt orientiert, beklagen andere die mangelnde Eindeutigkeit des Ansatzes von
Belshaw. Beiden ist gemein, dass der „harte“ technologische Aspekt zugunsten „weiche-
rer“ Faktoren in den Hintergrund tritt.
Diese beiden Faktoren integrierte wiederum die internationale Vergleichsstudie „Inter-
national Computer and Information Literacy Study“ (ICILS). Sie erweiterte ihren Fragen-
katalog für die gleichlautende Studie im Schulbereich um die sogenannte ICT-Literacy
(Informations- und Computertechnologie) oder kurz „Technology Literacy“. Sie umfasst
ein „[…] grundlegendes Funktionswissen über Programmanwendung. Informations-
kompetenz meint die Fähigkeit, mittels digitaler Medien Informationen zu ermitteln, kri-
tisch auszuwählen und effektiv zu nutzen, aber auch zu erzeugen“ (Kilian, 2019).
Kilian (2019) sieht den fehlenden Konsens bzw. die noch fehlende Homogenität bzw.
internationale oder zumindest interregionale Einheitlichkeit als Indikator einer noch „jun-
gen Disziplin“, aber zugleich als unentbehrlich für das von nun an geforderte lebenslange
Lernen, welches bereits in Abschn. 4.2 entfaltet wurde.
Ein konkretes und richtungweisendes Beispiel für die umfassende Förderung von
„Digital Literacy“ von Kindern und Jugendlichen ist die von dem Sohn des SAP-­
Mitbegründers Dietmar Hopp, Oliver Hopp, 2013 gegründete „Hopp Foundation for Com-
6.1 Vermutete Konsequenzen für den Klienten 415

puter Literacy & Informatics“.11 Sie hat es sich zum Ziel gemacht, Schulen in der Region
zum einen in ihren Defiziten hinsichtlich der Anschaffung von Hard- und Software, zum
anderen bei deren Nutzung im Rahmen digitaler Unterrichtskonzepte oder umfassenderer
Projektvorhaben zu unterstützen, um Informatik und Medienbildung nachhaltiger an
Schulen zu verankern. In Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg vergibt die Stif-
tung zudem Stipendien an Studierende des Faches Informatik auf Lehramt und bemüht
sich so um die engere Kooperation mit den Nachwuchskräfte für den Informatikunterricht
an Schulen. Parallel zu Fortbildungen für das Fach Informatik und den Bereich Medien-
bildung engagiert sich die Institution im Rahmen ihrer Angebote auch verstärkt für die
Nutzung praxisnaher und innovativer Lernformate. Wegweisende Beispiele für Er-
wachsene sind zum einen das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend (BMFSFJ) geförderte Projekt „Innovationsbüro Digitales Leben“,12 zum anderen
das obiges Büro mitbetreibende „iRights.Lab“,13 welches sich selbst als unabhängigen
„Think Tank für die digitale Welt“ bezeichnet. Laut der Webseite möchte es zur „Ent-
wicklung von Strategien und praktischen Lösungen beitragen, um die Veränderungen in
der digitalen Welt vorteilhaft zu gestalten“. Es unterstützt öffentliche Einrichtungen, Stif-
tungen, Unternehmen, Wissenschaft und Politik dabei, die Herausforderungen der Digita-
lisierung zu meistern und die vielschichtigen Potenziale effektiv und positiv zu nutzen.
Dazu verknüpft es rechtliche, technische, ökonomische und gesellschaftspolitische Exper-
tise. Die eigene Akademie14 bietet darüber hinaus Schulungsmöglichkeiten zu ver-
schiedensten Themen. Ähnlich das national ausgerichtete Innovationsbüro Digitales
Leben: Als Innovationstreiber möchte es zur positiven Gestaltung der Digitalisierung
innerhalb und außerhalb des BMFSFJ beitragen. Ziel ist es dabei, eine neue, digitale Ge-
sellschaftspolitik über die Bündelung verschiedener Projekte und Prozesse zu entwickeln.
Es sieht sich als „Schnittstelle zwischen der Zivilgesellschaft und der öffentlichen Ver-
waltung“. Zielgruppen der Aktivitäten sind Vereine, Initiativen, Stiftungen, Familien,
Junge und Alte, Kleine und Große aller Herkünfte und Geschlechter, um dem Ziel der di-
gitalen Transformation der Gesellschaft gemeinsam Schritt für Schritt näher zu kommen.
Eine erste Kongressveranstaltung bzw. Begegnungsplattform für Macher:innen und Vor-
denker:innen aus allen Bereichen der Bildung in Deutschland bzw. lokaler Ebene zu die-
sem Thema ist beispielsweise die educon15 in der Metropolregion Rhein-Neckar. Auf
internationaler Ebene ist es z. B. die OECD (OECD, 2020) welche die verschiedenen Stra-
tegien und Herangehensweisen über die Analyse der jeweiligen Bildungskonzepte zum
Thema „Innovative Lernkonzepte durch Digitalisierung“ beobachtet.
Der Coachee (der Zukunft), welcher sich den neuen Anforderungen der drei Literali-
täten generell gewachsen fühlt, wird wahrscheinlich auch eher bereit sein, sich auf die

11
https://www.hopp-foundation.de/. Zugegriffen am 08.07.2021.
12
https://www.innovationsbuero.net/allgemein/. Zugegriffen am 12.08.2021.
13
https://www.irights-lab.de/; https://www.irights-lab.de/ueber-uns. Zugegriffen am 12.08.2021.
14
https://www.academy.irights-lab.de/. Zugegriffen am 12.08.2021.
15
https://educon.live/workshops/digital-literacy/. Zugegriffen am 02.10.2021.
416 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

Nutzung digitaler Prozesse im Rahmen des Online-Coachings bzw. die Nutzung der neuen
digitalen Tools (z. B. Wearables, VR etc.) und die digitale Distribution über Plattformen
einzulassen. Was ferner deutlich wurde, ist, dass aufgeklärtes und damit verantwortungs-
volles Handeln von Coach und Coachee in diesem neuen Arbeitskontext gefordert ist.
­Inwieweit dieses Verantwortungsbewusstsein bei den Digital Natives und noch kom­
menden Generationen automatisch stärker (i. S. des Aufbegehrens gegen die Daten-
monopolisten) oder sogar geringer ausgeprägt sein wird (i. S. der Ignoranz oder Akzep-
tanz der übermächtigen Datenkraken), ist aktuell noch nicht abzusehen. Was sich allerdings
in Teilaspekten sehr deutlich andeutet, sind die ethischen Aspekte im Prozess des Coa-
chings von der Coach-Identifikation bis hin zu der Durchführung (ggf. unterstützt durch
einen Cobot-­Coach).

6.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“

Die vermuteten ethischen Konsequenzen für eine stärkere Digitalisierung des „Service
Coaching“ sind untrennbar an den Entwicklungsstand der Technik wie auch den ge-
sellschaftlichen Diskussions- oder sogar den juristischen Gesetzgebungsprozess ge-
koppelt. Weiterhin muss man den Spezialfall der konkreten Techniknutzung betrachten,
um eine vielleicht letzten Endes (womöglich) generalisierbare Entscheidung treffen zu
können. Die folgenden Ausführungen sind daher als allgemeiner, erster Diskussionsanstoß
bzw. als ein erster Denkrahmen zu verstehen. Zur Orientierung für diesen Denkrahmen
soll – bis auf die Identifikation und Selektion des Coaches – pragmatischerweise der Ab-
lauf eines Serviceprozesses von der Identifikation und Auswahl eines Coaches durch den
Klienten bis hin zur etwaigen Nachbetreuung durch den Coaching-Anbieter dienen.

Ethische Denkanstöße bei der Identifikation und Selektion eines Coaches


durch Kunden
Wurden die Nutzung bzw. die Vor- und Nachteile von Plattformen als neuer Distributions-
kanal für Coaching-Services bereits in Abschn. 5.3.1 ausführlich aus der Perspektive aller
Beteiligten erläutert, sollen an dieser Stelle nur die ethisch bedenklichen Aspekte ver-
tiefend entfaltet werden.

Handelt es sich bei dem Kunden um eine Einzelperson, entspricht es wohl gelebter
Realität, dass die bis dato hinsichtlich der eigenen Privacy und Digital Literacy noch
wenig sensiblen und informierten Nutzer die AGBs und Cookies einfach akzeptieren.
Ohne im schlimmsten Fall selbst die grundlegenden Funktionen von Cookies zu kennen
bzw. die AGBs zu lesen, geschweige denn das „Juristendeutsch“ verstanden zu haben,
willigen die meisten Nutzer ein, dass verschiedenste Informationen von dem Webseiten-
anbieter mittels der diversen Trackingtechnologien gesammelt und verarbeitet werden
dürfen. So z. B. über „Cookies“ zum Zwecke der Reichweitenmessung, für mehr Informa-
tionen über die Zielgruppe und damit die gezielte Platzierung von eigenen Anzeigen mit
relevanten Inhalten oder aber zukünftig vielleicht auch Werbeanzeigen von Drittanbietern.
6.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“ 417

Ferner sorgen diese harmlos daherkommenden „Kekse“ für die Messung der Wirksamkeit
der Werbeanzeigen, da von ihnen jede Aktion und Interaktion nach der Einwilligung zur
Verwendung von Cookies“ dokumentiert wird. Die Nutzungsrechte der Daten mit einer
Nebenabsicht bis ins Detail des „Kleingedruckten“ abgesichert, beginnt so das juristisch
legitimierte Data Harvesting und Data Mining, um die Services zu verbessern und neue
Bedarfe zu schaffen. Ist an Letzterem als einem Grundanliegen von Unternehmen prinzi-
piell nichts Verwerfliches, ist es jedoch genau die Ausnutzung dieses Mixes aus Unkennt-
nis, Bequemlichkeit und Vertrauensseligkeit der Kunden gegenüber den Plattform-
betreibern, die es ethisch bedenklich macht. Beschreibt dieser Missstand die Gegebenheiten
generell aller Plattformbetreiber, wiegt dieser – da es im Coaching potenziell auch um
sehr sensible Themenbereiche und persönliche Befindlichkeiten geht – in diesem Kontext
nach Ansicht des Autors jedoch umso schwerer. Das im nächsten Punkt angesprochene
Problem der Bildung von Oligo- oder sogar Monopolen durch zu groß und damit zu (ver-
handlungs-)mächtig gewordene Plattformbetreiber betrifft indirekt auch Einzelpersonen
(wie auch die Coaches), wird aber in seiner (auch wirtschaftsethischen) Bedenklichkeit
eher bei Großabnehmern sichtbar.
Ist der Kunde ein Großeinkäufer (z. B. ein Unternehmen) von Coaching-Services
(z. B. 1600 Coaching-Stunden pro Jahr), sehen sich diese nach Jahren (mit Venture Capi-
tal) hart geführter Verdrängungskämpfe im schlimmsten Fall nur noch einigen oder sogar
nur einem Anbieter gegenüber. Für den Einkäufer bedeuten diese Oligo- und Monopole
geringere inhaltliche bzw. servicebezogene Angebotsvielfalt bzw. Wahlfreiheit sowie eine
verminderte preisliche Verhandlungsmacht, welches letzten Endes in einem Wettbewerbs-
nachteil mündet. Ob es dadurch aufseiten der Anbieter auch zu einer methodischen oder
sonstigen Homogenisierung der Coaching-Services kommen würde, d. h. es zu einer nach-
lassenden Innovationsfreudigkeit durch geringeren Konkurrenzdruck kommen würde und
die marktbeherrschenden Unternehmen sich auch „auf ihren Lorbeeren ausruhen“ wür-
den, ist heute noch nicht abzusehen. Verstärken würden sich jedoch die Standardisierungs-
bestrebungen, falls sich die aktuellen Gerüchte im Markt bestätigen, dass die Plattformen –
zurückkehrend zu ihren Wurzeln in der IT – sich zu HR- und/oder PE-Komplettanbietern
entwickeln wollen. Im negativsten Fall wären Coaching-Services dann nur noch als ein
Teil eines nur bedingt anpassungsfähigen Portfolios von Personalentwicklungsmaß-
nahmen einkaufbar. Doch ungeachtet des Wahrheitsgehaltes derartiger Vermutungen: Be-
stehen bleibt der Fakt, dass alle oligo- oder monopolistischen Tendenzen schlecht für
Einkäufer (in Unternehmen) sind und auch die ethischen Prinzipien unserer sozialen
Marktwirtschaft untergraben. Die zielgerichteten Maßnahmen des Bundeskartellamtes
gegen diese Tendenzen (Bundeskartellamt, 2021) sind dafür ein eindrücklicher Beleg. Das
ethisch generell sehr bedenkliche Steuergebaren von Oligo- oder Monopolisten sei hier
der Vollständigkeit halber erwähnt. Das Kernproblem dabei – wie in vielen ähnlich ge-
lagerten Situationen – ist, dass das formaljuristische Recht und ethische Rechtschaffenheit
oft auseinanderklaffen.
Für die für Plattformen arbeitenden Coaches ist ebenfalls deren Marktmacht ein ge-
wichtiges Thema. Je größer die Wahlmöglichkeiten bei den Geschäftspartnern, desto eher
418 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

wird der Coach (mit hohem Qualifikationsniveau und großem Erfahrungsschatz) ein
Unternehmen finden, dass ihn nicht durch ein Diktat der Preise und sonstiger Konditionen
übervorteilen will. Negativ im Sinne des Wandels hin zum Käufermarkt (d. h. eines An-
gebotsüberhangs) für die Coaching-Community generell wirkt sich bereits aktuell deren
wachsende Anzahl aus. Inwieweit Coaches von den Plattformbetreibern darüber infor-
miert werden, wann, wie und wozu die im Coaching-Prozess entstehenden Daten (ethisch
vertretbar, d. h. komplett transparent) verwertet werden, sie – etwas überspitzt gesagt –
zu Datenbeschaffern für weitere (Werbe-)Aktivitäten, aber potenziell auch Service-­
Innovationen werden, wurde bereits in Abschn. 5.1.3 erörtert. Unter Berufung auf das
Unternehmensgeheimnis ist jedoch nicht zu erwarten, dass die Plattformen hier sonderlich
freizügig sind. Das ethische Dilemma zwischen einerseits relativ sicheren, d. h. ohne
(Kalt-)Akquise eingehenden Aufträgen bzw. dem verminderten unternehmerischen Risiko
von Soloselbstständigen oder Freelancern und andererseits der Ignoranz der parallelen
Datenbeschaffung (eines mehr oder weniger informierten Coachees) sollte von jedem
Coach selbst oder auch in deren Communitys diskutiert und entschieden werden.
Ort für derartige Diskussionen könnten die heute noch plattformunabhängigen Ver-
bände sein. Jedoch stellt sich die Frage, wie sich das aktuell sehr intensive Kooperations-
interesse der DCPs in der Zukunft entwickelt. Hier definiert die aktuell vorherrschende,
„friedliche Koexistenz“ und Kollaboration den einen Endpol, eine schleichende Durch-
dringung und Abwerbung von Mitgliedern für eine aggressiv-unternehmerisch aus-
gerichtete Kopie den anderen Endpol. „Kopie“, da das von den (soloselbstständigen) Coa-
ches in den Verbänden gesuchte Gemeinschaftsgefühl bzw. die professionelle Heimat,
Aus- und Weiterbildungmöglichkeiten und eine gewisse Wissenschaftsanbindung auch
von den DCPs geleistet werden könnte und teilweise schon angeboten wird. Allerdings
mit dem Unterschied, dass die Coaches als „Mitglieder“ der DCPs nicht unbedingt Zeiten
für Vereinsaktivitäten und Mitgliedsbeiträge investieren müssten, sondern (durch z. B.
Qualifikationspunkte bei intensivem Engagement) mehr Aufträge erhalten würden. Der
Abschied von dem Verbandsgedanken als freier Zusammenschluss von Personen mit ge-
meinsamen Interessen zur Verfolgung gemeinsamer Ziele zugunsten des Interesses eines
oder mehrerer Unternehmensinhaber wäre jedoch der Preis. Qualifizieren sich manche
zum Coach, weil sie nach einem mehr oder minder langen und oft auch unbefriedigenden
Berufsleben Menschen in Unternehmen helfen und die Arbeits- und Unternehemenswelt
verbessern wollen, wäre jedoch zu fragen, ob diese (erneute) An- bzw. Einbindung in ein
notgedrungenermaßen hart gewinnwirtschaftlich arbeitendes Unternehmen der richtige
Schritt ist.

Ethische Denkanstöße zum Einsatz von Assistenzsystemen


Für die heutigen, leistungsstärksten Assistenzsysteme, die sogenannte „Conversational
Artificial Intelligence“16 (wie z. B. Amelia17), ist es nach entsprechender Bedarfsanpassung

16
https://www.ibm.com/cloud/learn/conversational-ai. Zugegriffen am 15.06.2021.
17
https://amelia.com/. Zugegriffen am 15.06.2021.
6.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“ 419

wahrscheinlich kein Problem mehr, alle die reine Administration betreffenden Aspekte
einer Terminierung und der Kundendatenerfassung erfolgreich zu bewältigen. Auch eine
rein formale Erwartungsabfrage wäre – falls diese nicht bereits einen explorativen An-
spruch hat – in einem formalen Prozess für modernste Chatbot-Systeme wahrscheinlich
schon heute machbar. Gleiches gilt für die Unterstützung des Prozesses der ­Profilerstellung
durch einen persönlichkeitsdiagnostischen Fragebogen – gleich ob es sich dabei nur um
eine Selbstauskunft oder die inhaltliche und terminliche Koordination mehrerer Fremd-
feedbacks im Rahmen eines 360-Grad-Feedbacks handelt. Parallel könnte ein derartig
hoch entwickeltes System durch eine Analyse verbaler und paraverbaler Stimmmerkmale
z. B. das (situative?) Stresslevel oder die Emotionssignale in der Mimik des Coaching-­
Interessenten (bei Videokommunikation) analysieren und dies zusätzlich z. B. mit dem
Schwierigkeitsgrad der Terminfindung (in einem ggf. übervollen Kalender) oder der An-
zahl der Terminänderungen kombinieren. Weiterere kontextuelle Informationen zum
Klienten könnten – sofern vorhanden – eine automatische Internetsuche zur wirtschaft-
lichen Gesamtsituation des Unternehmens und/oder der Branche sein. Soll die reine Er-
gebnisrückmeldung hinsichtlich des Profils nicht nur ein reines Ablesen der Werte und
deren Interpretation entsprechend der Testkonstruktion sein, könnte bis dato die un-
zähligen Verbindungen zwischen den direkt (formale Personendaten, Coaching-Ziel/
Thema) und indirekt ermittelten Daten (z. B. Stresslevel der Stimme) vermutlich nur eine
sehr fortgeschrittene KI leisten. Auch das Matching von zuvor erstellten, sehr detaillierten
Profilen der Coaches (mit identischen persönlichkeitsdiagnostischen Verfahren, welche
oft eher schwache Werte hinsichtlich der Gütekriterien aufweisen!) mit dem Profil des
Klienten könnte bis dato über einen reinen Abgleich der Formaldaten nicht hinausgehen,
da „echte“ (d. h. nicht nur simulierte) Intuition bzw. „Bauchgefühl“ bis heute keine Kate-
gorien einer schwachen KI sind.

Um jedoch die soeben skizzierten, umfangreichen Erhebungen und Verwertungen äu-


ßerst privater Daten durchführen zu können, müsste – wenn nicht bereits im ersten, dann
zumindest vor dem zweiten Telefonkontakt – mit der formalen Abfrage bzw. Zustimmung
zu einem umfangreichen Datenschutzdokument begonnen werden. Eine Alternative
könnte jedoch sein, dass vor der ersten Kontaktaufnahme automatisch die Zusendung
eines entsprechenden Vertrages erfolgt, der nach Unterzeichnung die relevanten Kontakt-
daten freigibt. Da noch nicht als Massenprodukt vorhanden, würden sich jedoch die In-
vestitionen in ein solches System nur für einen Coaching-Großanbieter wie die DCPs
amortisieren. Die nicht unproblematische Folge wäre die Datenkonzentration von buch-
stäblich führenden Persönlichkeiten verschiedenster Hierarchielevel einer Nation bei
(letztlich einigen wenigen) Providern, wie heute im Onlinehandel bzgl. der Massendaten
bereits geschehen. Geht man zukünftig von einem zunehmenden Anteil von Arbeitskraft-
unternehmern („Ich-AGs“) aus, die keine juristische Fachabteilung zur Aufdeckung von
Missbrauchsmöglichkeiten im Hintergrund haben, könnte man diese Daten zur gezielten
Beeinflussung nicht nur der wenig einflussreichen, „breiten Masse“, sondern von
Führungskräften (darunter auch Meinungsmachern durch das sogenannte Mikrotargeting)
nutzen. Mit dem Datenmissbrauch von u. a. Facebookdaten bei dem Meinungsmacher
420 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

„Cambridge Analytica“ im Rahmen des Brexitprozesses wurde hier erstmals und un-
umkehrbar die Schwelle in den Kriminalitätsbereich überschritten. Eine Art „Lobbying
durch die Daten-Hintertür“ wäre eine in einem Anflug von Paranoia denkbare Folge. In
der Abwägung der Chancen und Risiken wäre daher zu fragen, ob in diesem Initialstadium
nicht auch weiterhin in diesem Bereich statt Hightech die menschliche Intelligenz und
­Professionalität (zumindest in Teilbereichen) und damit ein Hightouch-Kundenerlebnis
letztlich sogar bessere Ergebnisse hinsichtlich der Vertrauensbildung und Zufriedenheit
bei diesen ersten Kontaktpunkten erzielen würde.

Ethische Denkanstöße beim Online-Coaching


Ethische Richtlinien für den Coaching-Prozess selbst gibt es, wie bereits erwähnt, von den
meisten Coaching-Verbänden. Rekurrierend auf die Vielzahl der Mindestanforderungen
an eine Selbstverpflichtung eines professionell arbeitenden Coaches hat sich jedoch Elke
Berninger-Schäfer in ihrem fachlichen Meilenstein zum Online-Coaching (Berninger-­
Schäfer, 2017) als Erste auf die Nutzung digitaler bzw. virtueller Medien spezifiziert. Be-
sonders deutlich wird dies bei den Ausführungen zu den erforderlichen fachlichen und
technischen Kompetenzen sowie beim Thema Vertraulichkeit bzw. Transparenz und
Integrität.

So weist sie explizit darauf hin, dass das von Virtualität und neuen Verfahren geprägte
Online-Setting mit seinen Vor- und Nachteilen (Berninger-Schäfer, 2017, S. 217) be-
sondere fachliche Kompetenzen (Berninger-Schäfer, 2017, S. 201) benötigt, die mög-
lichst in einer speziellen Zusatzqualifikation erworben und kontinuierlich weiterentwickelt
werden sollten. Deren wissenschaftliche Fundierung wäre – soweit dies in dieser jungen
Disziplin möglich ist – wünschens- wie auch erstrebenswert.
Das eigentlich Neue liegt jedoch in der zumindest als Basiswissen geforderten techni-
schen Kompetenz hinsichtlich der virtuellen und medialen Möglichkeiten, ihrer spezi-
fischen Nutzung sowie deren Auswirkung auf die menschliche Kommunikation bzw.
Interaktion (Berninger-Schäfer, 2017, S. 201). Um dabei auftretende technische Störun-
gen erfolgreich zu bearbeiten oder von vorneherein zu verhindern, fordert sie neben der
eigenen professionellen, technischen Ausstattung vom Coach eine Beratungsfähigkeit des
Klienten zu dessen Ausstattung und zur Störungsbehebung durch vorab definierte Rück-
fallszenarios. Dies wird umso wichtiger, als die zuvor ausgeführte „Technology Literacy“
beim Klienten zuweilen noch eher schwach ausgeprägt ist. Identisch verhält es sich mit
den mit der Privacy Literacy verbundenen Themen der ethischen, juristischen und
technisch-­praktischen (z. B. in Form regelmäßig durchgeführter Updates) Implikationen
des Datenschutzes und der Datensicherheit.
Damit in Verbindung stehen auch die nach Berninger-Schäfer (2017, S. 202) zur Ver-
traulichkeit zählenden Bereiche der Datenverwaltung und -übertragung aller Systeme
und deren Schutz durch Firewalls, starke Passwörter, Verschlüsselungen und ein ak­
tuell gehaltenes Antivirensystem. Die Kenntnis und Einhaltung der Datenschutz-­
6.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“ 421

Grundverordnung (DSGVO)18 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April
2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten
zum freien Datenverkehr bieten hier die entsprechende Leitlinie – so auch für die digitale
und analoge Aufbewahrung von Daten.
Im Themenfeld „Transparenz und Integrität“ weist ebenfalls Berninger-Schäfer
(2017, S. 202) sinnigerweise darauf hin, dass alle oben aufgeführten, ethischen Ansprüche
im Online-Vorgehen nur in dem Maße vom Coach (zusammen mit dem Klienten) verwirk-
licht werden können, wie auch die angebotenen technischen Lösungen diese erfüllen bzw.
nicht durch wissentliche Unzulänglichkeiten oder unbeabsichtigte Fehler bei der Pro-
grammierung bereits Schwachstellen für etwaige Cyberkriminalität begünstigt werden.
Diese Mitverantwortung der Hersteller betont auch das Whitepaper „Vertrauens-
würdiger Einsatz von künstlicher Intelligenz“ (Fraunhofer-Institut (IAIS), 2019) des
Fraunhofer-­Instituts für intelligente Analyse und Informationssysteme (IAIS),19 welches
eine Grundlage für die Zertifizierung von KI erarbeitet hat. Basis dieser Arbeit waren
zum einen die Empfehlungen der „Datenethikkommission“20 der Bundesregierung, zum
anderen die „High Level Expert Group on AI“21 der Europäischen Union. Nicht über-
raschend tauchen auch hier unter dem Metathema „Ethik und Recht“ (→ Respektiert die
KI-Anwendung gesellschaftliche Werte und Grenzen?) Begriffe auf wie Autonomie und
Kontrolle (→ Ist eine selbstbestimmte, effektive Nutzung der KI möglich?), Fairness
(→ Behandelt die KI alle Betroffenen fair?), Transparenz (→ Sind Funktionsweise und
Entscheidungen der KI nachvollziehbar?), Verlässlichkeit (→ Funktioniert die KI zuver-
lässig und robust?), Sicherheit (→ Ist die KI sicher gegenüber Angriffen, Unfällen und
Fehlern?) und Datenschutz (→ Schützt die KI die Privatsphäre und sonstige sensible In-
formationen?). Dass dieser Prüfkatalog bei der Entwicklungsdynamik des Themenfeldes
„Work in Progress“ ist und ggf. auch erweitert werden muss, ist eine Selbstverständlich-
keit. Die Notwendigkeit der engen Zusammenarbeit der Bereiche Recht, Philosophie und
Informatik vielleicht eher ein Novum. Eine in diesem Zusammenhang interessante Idee ist
die des „Ethic by Design“ von Spiekermann (Spiekermann, 2019), welches die generelle,
materielle Umsetzung von menschlichen Werten bereits in der Designphase und bei der
Herstellung von Technologie fordert. Die schon heute weitgehend vorhandenen Kinder-
sicherungen in Soft- und Hardware wären hier ein gelungenes und populäres Beispiel dafür.
In der direkten Interaktion zwischen Coach und Coachee sollte man jedoch generell
von einer Verantwortungsgemeinschaft der beiden Parteien sprechen, wobei der Coach
durch das Bestreben zur Wahrung der ethischen Ansprüche seiner Profession und persön-

18
https://europa.eu/youreurope/business/dealing-with-customers/data-protection/data-­protection-­
gdpr/index_de.htm. Zugegriffen am 18.06.2021.
19
https://www.iais.fraunhofer.de/de/forschung/kuenstliche-intelligenz/ki-zertifizierung.html. Zuge­
griffen am 20.06.2021.
20
https://www.bmi.bund.de/DE/themen/it-und-digitalpolitik/datenethikkommission/
datenethikkommission-­node.html. Zugegriffen am 18.06.2021.
21
https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/policies/expert-group-ai. Zugegriffen am 18.06.2021.
422 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

lichen Integrität ein besonderes Augenmerk auf die Einhaltung der dargestellten ethischen
Richtlinien im Online-Coaching legen sollte.

Ethische Denkanstöße bei der VR- bzw. AR-Nutzung


HDM-Endgeräte (HDM = Head-Mounted Displays/„VR-Brillen“) zur computer-
generierten, interaktiven, (a) komplett virtuellen (VR) oder (b) nur ergänzenden, d. h.
­augmentierten (AR) visuellen und auditiven Umgebungswahrnehmung sind in den letzten
Jahren äußerst eindringliche (immersive) und daher sehr überzeugende (persuasive) For-
men der alternativen Realitätswahrnehmung geworden. Immer kleinere, jedoch leistungs-
fähigere Prozessoren und stark verbesserte, bildgebende Technologien erlauben heute –
wie bereits ausführlich in Abschn. 2.1.2 dargestellt – eine graduelle Vermischung der
virtuellen und der physischen Realität (MR). Rekurriert man erneut auf Gunther Schmidts
prägnante Beschreibung des Coaches als „Realitätskellner“, eröffnen sich dieser „Service-
kraft“ mit diesem Tool bislang unvorstellbare, neue Interventionsmöglichkeiten.

Der im selben Kapitel genannte Mainzer Kognitionswissenschaftler Thomas Metzinger


(Metzinger & Madary, 2016, S. 2) vertritt sogar die Sichtweise, dass diese Technologie
zukünftig nicht nur unsere Vorstellung vom Menschsein selbst verändern wird, sondern
auch unsere bislang als sicher angesehenen Auffassungen von bewusster Erfahrung,
Individualität, Authentizität und was denn nun Wirklichkeit sei. Nach seiner Ansicht wird
es eine komplexe und dynamische Wechselwirkung geben zwischen dem, was wir heute
als „Normalität“ (in einem beschreibenden Sinne) und einer neuen, künstliche Standards
setzenden „Normalisierung“ (in einem normativen Sinne). Kulminieren würde dies in
einer perfekten Körperillusion – dem sogenannten „Virtual Embodiment and Robotic
Re-Embodiment“ (VERE) –, bei der die Empfindung vorgibt, einen Körper zu besitzen
und kontrollieren zu können, der nicht der eigene ist, wie zum Beispiel ein Avatar. Zentrale
Frage dabei ist, wie sich das regelmäßige und/oder längere Eintauchen in virtuelle Welten
auf die Psyche auswirkt bzw. welche positiven, erwünschten und negativen Effekte erzielt
werden können. Ein anderer kritischer Aspekt läuft unter dem Stichwort „Mensch als
Fleischroboter“, wobei der Mensch roboterhaft Bewegungen etc. nachahmt, die ihm das
AR-System z. B. im Rahmen einer Lehrinstruktion vorgibt.
Die ebenfalls in Abschn. 2.1.2 angerissenen Erfolge in der „Cybertherapie“ oder
„Cyberpsychologie“ im Bereich der Verhaltenstherapie bei verschiedenen Angstformen
(z. B. Platz-, Höhen- oder Spinnenangst) könnten dabei Ansatzpunkte alternativer An-
wendungsmöglichkeiten für das Coaching sein. Die im selben Kapitel angesprochene Stu-
die des Mainzer Kognitionswissenschaftlers Thomas Metzinger (Metzinger & Madary,
2016) bietet erste ethische Empfehlungen für die Wissenschaft wie auch für das öffentli-
che Leben, die als Grundlagen für künftige, substanziellere Diskussionen dienen können.
So besteht die Herausforderung darin, ethische Verhaltensmaßstäbe möglichst parallel
zum technischen Fortschritt zu entwickeln. Hier soll auf die Empfehlungen – die zuweilen
auch eher den Charakter einer Frage haben – für die Allgemeinheit fokussiert werden
(Metzinger & Madary, 2016, S. 19, in freier Übersetzung durch den Autor).
6.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“ 423

Folgen länger anhaltender Immersion Da es bis dato keine Langzeitstudien darüber


gibt, welche Auswirkungen eine häufige und/oder lang anhaltende Nutzung der VR-­
Technologie auf die Psyche des Menschen hat, sollten aus ethischen, psychologischen und
physiologischen Gründen schon heute entsprechende Forschungsprojekte angestoßen
werden. Forscher und Nutzer müssen jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, dass
diese Arbeiten selbst ethischen Restriktionen unterliegen und daher besonders v­ ulnerablere
Versuchspersonen wie z. B. Kinder und (latent) psychisch erkrankte Menschen aus-
geschlossen werden müssen, zudem sind die sich potenziell im Experiment ergebenden
Vulnerabilitäten für sich, aber auch den Probanden möglicherweise noch unbekannt.

Aber nicht nur das Immersionserleben könnte neue Herausforderungen zeitigen. Denn
bis dato wissen wir so gut wie nichts über die Folgen permanenter Informationsein-
blendungen in die AR-Brille bzw. den sich dabei potenziell für die Nutzer:innen er-
gebenden Technostress, vor allem für die intensiven Nutzer der AR-Technologie.

Wachsender Anteil der Virtualisierung der sozialen Interaktionen Welche Folgen


würde es für das eigene Menschenbild (als soziales Wesen) haben, wenn wir durch die
zukünftige (noch intensivere) Nutzung noch weiter entwickelter Telepräsenztechniken die
Fähigkeit zum direkten sozialen Austausch verloren hätten, die zumindest teilweise aus-
gleichend wirken könnte?

Riskante Inhalte Mit der schnell voranschreitenden Entwicklung der VR-Technologie


besteht im Vergleich zu den heutigen zweidimensionalen Filmen, die Gewalt oder Porno-
grafie zum Inhalt haben, bei stark immersiven Settings die Gefahr von psychischen Trau-
mata. Ferner hat VR das Potenzial, massive soziale Halluzinationen hervorzurufen, un-
realistische Handlungsfähigkeiten vorzutäuschen, verschiedene Persönlichkeitsmerkmale
durch Identifizierung mit virtuellen Charakteren auszuleben und zu variieren oder mit
tieferen Schichten des eigenen Bewusstseins in Verbindung zu treten und zu interagieren.
Über diese potenziell massiven Auswirkungen müssen Nutzer vorab informiert und ggf.
vorbereitet werden. Ferner wird das (Besitz-)Verhältnis zum eigenen Avatar und dessen
Ausgestaltung wahrscheinlich ein wichtiges Thema für staatliche Regulierungsbehörden
sein. Denn es gibt starke Gründe, die Art und Weise, wie Avatare sein können und ver-
wendet werden dürfen, einzuschränken. Beispielsweise zum Schutz der Interessen und der
Privatsphäre von Personen, die sich in sozialen Netzwerken stark mit ihrem eigenen Ava-
tar identifizieren. Auf der anderen Seite könnten sich diese Beschränkungen als un-
praktikabel erweisen und die persönliche, schöpferische Freiheit unnötig einschränken.
Die Kunst für die staatlichen Stellen wird es daher sein, hier ein vernünftiges Gleich-
gewicht zu finden.
424 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

Privatheit
Alle Nutzer sollten darauf aufmerksam gemacht werden, dass es Belege dafür gibt, dass
Werbetaktiken, die Verkörperungstechnologie wie VR verwenden, einen starken un-
bewussten Einfluss auf ihr (Kauf-)Verhalten haben können. So könnte beispielsweise eine
Kombination von „Big Nudging“-Strategien (Erfassung von Big Data zum Zwecke
des Nudgings der Allgemeinheit) mit VR-Technologie Langzeitwirkungen über die
­Beeinflussung der zugrunde liegenden, mentalen Mechanismen selbst beeinflussen. (Die
Strategien des „Nudgings“ werden unter der nächsten Zwischenüberschrift erläutert.)

Datenschutz VR-Nutzer sollten ferner auf alle bekannt werdenden, neuen Möglichkeiten
bzw. Risiken der Überwachung mittels VR aufmerksam gemacht werden. Dazu zählen
heute schon z. B. das Auslesen von „motorischen Absichtsbewegungen“ oder der personen-
spezifische, sogenannte „kinematische Fingerabdruck“ (d. h. individuenspezifische Be-
wegungsmuster) während der Avatarnutzung. An den Zugang zu unserem Smartphone
über den haptischen Fingerabdruck haben wir uns ja gerade schon (zu schnell?) gewöhnt.
Entsprechende Grundlagen, die hier bereits im Bereich der Cybertherapie gelegt wurden
(Botella et al., 2009), könnten hier als erste Orientierung dienen. Siehe dazu auch den ent-
sprechenden Abschnitt in Abschn. 2.1.2. So wird allein bei Betrachtung dieses Teil-
bereiches der Empfehlungen mit Metzinger & Madary (2016, S. 20) deutlich, dass dies
das neue Tor nicht nur zu ganz neuen psychologischen Möglichkeiten, aber auch Risiken
ist, sondern auch ganz neue ethische und rechtliche Dimensionen darstellt, an und mit
denen es (im Coaching) zu wachsen gilt. Dabei ist jedoch größte Wachsamkeit angesagt,
da die hoch dynamische VR-Technologie einen Bereich beeinflussen kann, den wir gerade
erst beginnen zu verstehen, welcher uns (nach heutigem Kenntnisstand) so einzigartig
macht: das über Jahrmillionen entwickelte menschliche Bewusstsein. Um daher den
Reichtum der (biologischen) Realität nicht durch naive Leichtsinnigkeit und/oder fach-
liche Technikbegeisterung zu verlieren, ist ein gezielter, kritischer, evidenzbasierter und
rationaler Einsatz der neuen Wahrnehmungsdimensionen empfehlenswert, denn „percep-
tion drives reality“. Diese im Sinnes des bzw. mit dem Klienten zu modifizieren, ist ein
wichtiger Aspekt des Coaching-Ansatzes. Wie bereits mehrfach betont, füllt sich die
Goldgrube der Digitalkonzerne durch die Verknüpfungsmöglichkeiten verschiedenster
Datenquellen. Vorausschauend hat daher das Bundeskartellamt z. B. im Dezember 2020
ein Missbrauchsverfahren gegen Facebook eingeleitet. Ziel ist es, die Verknüpfung von
Oculus Virtual-Reality-Produkten (z. B. der VR-Brille „Quest 2“) mit dem sozialen Netz-
werk und der Facebook-Plattform zu überprüfen (Bundeskartellamt, 2020).

Ethische Denkanstöße für die Nutzung von Nudges


Sind die ethischen Anforderungen für einen konventionellen Coaching-Prozess zwischen
einem Klienten und einem Coach durch z. B. die entsprechenden, ethischen Richtlinien
der Verbände hinreichend geklärt, steht eine Ausarbeitung für die in der Zukunft stärker zu
erwartete Integration in Organisationsentwicklungsprozesse noch aus. Ein aus der Ver-
6.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“ 425

haltensökonomie stammendes Verfahren und durch das Autorengespann Richard Thaler


und Cass Sunstein mit ihrem Buch „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“
(Thaler & Sunstein, 2010) popularisiert, ist das sogenannte Nudging. Es besteht in einem
Anstoßen oder „Anstupsen“ („to nudge“) systemseitig erwünschter Verhaltensweisen
durch kontextbezogene sogenannte Entscheidungsarchitekturen. Dabei ist „Archi-
tektur“ oder Design nahezu wörtlich zu verstehen. Das einfachste, etwas humorige und
wahrscheinlich für Männer eingängigste Beispiel ist dabei das Fliegenabbild als „Ziel“
nahe dem Syphon eines Urinals. Untersuchungen haben hier festgestellt, dass 80 % weni-
ger „danebengeht“, da bei der Miktion der Wunsch besteht, die (mittige) Fliege zu treffen
(Thaler & Sunstein, 2010, S. 13). Die ökonomische Folge davon wäre die mögliche Ver-
ringerung der Reinigungsintervalle auf öffentlichen Toiletten. Die Architekturanalogie,
übertragen auf die Gestaltung der Essensausgabe in einer Kantine, könnte bewirken, dass
die Kunden eher zu gesunden Lebensmitteln greifen (z. B. mittels einer prominenten und
sehr ansprechenden, aber ungeordneten Präsentation, die eine bewusste Entscheidung ab-
verlangt) anstatt zu den ernährungsphysiologisch weniger wertvollen (z. B. Süßigkeiten
nur an einer unterbesetzten Kasse abseits der Laufstrecke). Die auch in Deutschland
leidenschaftlich geführte Diskussion eines Ampellabels als „Selbstkontroll-Nudge“ für
den gesundheitlichen Wert von Lebensmitteln ist ein weiteres Beispiel. So könnte dieses
Verfahren (durch einen positiven Einsatz der sozialen Medien) mittelfristig sogar eine ge-
sellschaftliche bzw. politische Relevanz bekommen. Zu einer regelrechten Wissenschaft
wurde dies im gleichen Themenbereich bei der möglichst verkaufsförderlichen Gestaltung
und Positionierung von Regalen bzw. deren Bestückung und Präsentation in Supermärkten
entwickelt. Obwohl vielen Konsumenten bekannt, jedoch nicht immer bewusst, wird hier
das Kaufverhalten systematisch beeinflusst.

Gerade das letztere Beispiel macht jedoch deutlich, dass diese Strategien auch manipu-
lativ i. S. einer einseitigen Interessenverfolgung (z. B. Gewinnmaximierung) genutzt wer-
den können und genau hier auch die Debatte um den sogenannten „libertären Paternalis-
mus“ geführt wird. Ausgangspunkt aller damit verbundenen, ethischen Implikationen
sind, wie bei allen potenziell sehr wirksamen Sozialtechniken (z. B. im Bereich der
Psychologie das in Verruf geratene, eklektische Theoriegebäude des neurolinguistischen
Programmierens, NLP), der etwaige Missbrauch der Verhaltenslenkung der Bevölkerung
durch ein ausbeuterisches und/oder totalitäres bzw. autoritäres System sowie das sich
damit verbindende Bild des Menschen als nur bedingt rational handelndes Wesen. Außer-
dem würde dieser Ansatz dem Individuum das Recht, eigene Erfahrungen zu machen,
vorenthalten und wäre mithin (paternalistisch) überprotektiv. Entschiedene Gegner des
libertären Paternalismus sind deshalb der Meinung, dass man die das Individuum be-
treffenden Themen (auch wenn sie latent sehr starke soziale Auswirkungen haben kön-
nen), wie z. B. die Alters- und Gesundheitsvorsorge, Umwelt- und Klimaschutz, Organ-
spende etc., auch weiterhin dem Einzelnen oder aber der „unsichtbaren Hand“ des Marktes
(Thaler & Sunstein, 2010, S. 313) überlassen soll.
Diesen Befürchtungen und Einwänden entgegentretend, formulieren Thaler & Sunstein
(2010, S. 308) drei ethische Grundsätze für Nudges. Transparenz: Nudges sollten dem
426 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

Prinzip der Öffentlichkeit folgen und damit offen sichtbar und durchsichtig, d. h. für den
Entscheider hinsichtlich der Voraussetzungen, Durchführung und Folgen transparent sein
und nie irreführend. Entscheidungsfreiheit: Letztlich soll es immer dem Individuum
überlassen bleiben, ob man sich für oder gegen den möglichst einfach und unmissver-
ständlich formulierten „Schubser“ entscheidet. Auch eine nachträgliche Entscheidungs-
änderung sollte möglich sein. Gemeinwohlorientierung: Die mit den Nudges ver-
bundenen Ziele sollen dem Wohle des Gesamtsystems dienen und darin gut begründet
sein. Überdies dürfen sie dem Individuum keine finanziellen Anreize (Organspende!) bieten.
Mit der nicht neuen Erkenntnis, dass menschliches Verhalten nicht nur durch die Inter-
aktion mit anderen Menschen (Coaches) verändert wird, wäre daher zu fragen, ob zu-
künftige Generationen an Coaches neben ihrer personellen Wirkkraft auch kontextuelle
bzw. situative Faktoren bei ihrem Bemühen um eine Verhaltensänderung ihre Be-
trachtungsweise und das Methodenrepertoire einbeziehen sollten. Dies umso mehr, als
Organisationsentwicklung diese Aspekte (unter Einbeziehung der Menschen) ja auch be-
tont. Exemplarisch soll in diesem Zusammenhang erneut auf die in Abschn. 5.4 dar-
gestellten räumlichen Gestaltungsmerkmale und deren intendierter Assoziationen und
Wirkungen im „New Work Office“ hingewiesen werden.

Ethische Denkanstöße zur Augmentierung bzw. Substituierung der Coaches


durch KI
Spricht man mit Coaches über Technologie i. e. S. oder KI i. w. S., schwingt zuweilen un-
überhörbar die dystopische Vorstellung einer entmenschlichten Welt mit, in der eben auch
die Coaching-Profession mit der erstarkenden Hightech zu kämpfen hat. Angefeuert wer-
den diese inneren Kämpfe vermutlich durch zwei scheinbar unversöhnliche Gegensätze.
Da ist zum einen ein eher humanistisch-idealistisch geprägtes Welt- und Menschenbild
eines Gutmenschen – zum anderen eine Skepsis und Befangenheit gegenüber den neuen,
bösen digitalen Technologien, deren (Zerr-)Bild wie so oft von einer diffusen Mischung
aus Wissensdefiziten, effekthascherischen Bildern in SciFi-Streifen, von reißerischen und
daher gewinnmaximierenden medialen Schlagzeilen über den bevorstehenden Weltunter-
gang oder aber den Bildern einer zu „schönen neuen Welt“ der extrem finanzstarken
Marketingabteilungen der GAFA (Google, Apple, Facebook und Amazon) geprägt ist.
Doch was sagt die nüchterne Wissenschaft über die Zukunft? Und was meint Zukunft
überhaupt in diesem Zusammenhang?

Wenn hier von Zukunft gesprochen wird, beziehen wir uns auf einen Zeithorizont von
10–20 Jahren, d. h. die Jahre 2030–2040. Nicht dass die prognostischen Fähigkeiten des
Autors wirklich diesen Zeithorizont erreichen könnten. Demografisch voraussagbar ist
jedoch die aktuell (2021) dominante Gruppe der Babyboomer nahezu komplett aus dem
Arbeitsmarkt ausgeschieden, die Gen X bereitet sich auf eine Art Rente vor, die Gen Y hat
gerade ihre „Karriereplateaus“ erreicht und Gen Z steuert auf die Höhepunkte ihrer beruf-
lichen Laufbahn zu (falls es überhaupt sinnvoll ist, diese heutigen HR-Begriffe und -Kon-
zepte auch in der Zukunft zu verwenden). Das heißt, wir fokussieren auf die Kunden-
gruppe der Generation X oder Y, die sich selbst oder die nächste Generation Z coacht. Wir
6.2 Vermutete Konsequenzen für den „Service Coaching“ 427

sprechen daher von dem Zuschnitt bzw. der Ausgestaltung des Service für die Kunden
der Generation Z und folgende. Gelingt diese in Abb. 5.30 skizzierte Anpassung an die
service- und interaktionsseitig sehr anspruchsvolle Generation, sollte Coaching in dieser
Hinsicht überlebensfähig sein. Die aufstrebenden Coaching-Plattformen machen dies hin-
sichtlich der Distribution bzw. des kompletten Kauferlebnisses (Stichworte: einfach,
schnell, jederzeit und von überall) gerade vor.
Neben der zukünftigen Gestaltung des Service wäre ein Blick auf die Zukunft des
Berufsstandes selbst zu werfen. Gemäß den dem Autor vorliegenden Studien (McKinsey
Global Institut, 2017 in einer Prognose bis 2030) liegt die Wahrscheinlichkeit einer Sub­
stituierung durch die Digitalisierung bei den (organisations-)psychologischen, be-
ratenden oder lehrenden Tätigkeiten im einstelligen Hundertstelbereich (z. B. Frey & Os-
born, 2013, S. 58), da die menschliche Interaktion, die zudem kognitionsbasiert ist (wie
z. B. im Coaching), eben nur sehr schwer standardisierbar und damit algorithmisier- und
automatisierbar ist. Wie in 2.4.4 dargestellt, besitzen die Berufsgruppen der „5 Cs“ – der
„erkauften Zuwendung“ (Reich, 2002: Computerisation, Caring, Catering, Consulting und
Coaching) – wahrscheinlich sogar eine beachtliche Immunität gegen die Digitaliserung.
So ist die gute Nachricht: Ein der Verelendung preisgegebenes Proletariat von (hoch quali-
fizierten und für die neuen technischen Anforderungen neuer Kundengenerationen sensi­
blen und von menschlicher Reife geprägten) Coaches wird es sehr wahrscheinlich
nicht geben.
Der Einschub in Klammern deutet jedoch an, dass z. B. die dynamische Entwicklung
der „Conversational Artificial Intelligence“ (CAI) in 2D oder sogar 3D in den nächsten
20–30 Jahren nur basal unter mittelmäßig qualifizierten Coaches mit Fragenkatalogen und
Standardmethoden den Rang ablaufen könnte. So lange jedoch – wie eingangs des Kapi-
tels dargestellt können Bewusstsein, Emotion, Empathie, Witz und Ironie, also alles, was
das „wahrhaft Menschliche“ ausmacht, nur simuliert werden – werden selbst noch so fort-
schrittliche CAI-Systeme Coaches nur ergänzend (durch einen „augmentierenden“ Cobot-­
Coach) unterstützen. So sollten und müssen wir es uns auch nicht zumuten, uns von unter-
entwickelter Technik „coachen“ zu lassen. Der von vielen gefürchtete Robocoach wird
jedoch auf absehbare Zeit eine Fantasie von notorischen Defätisten oder eine Vision von
technikbegeisterten Utopisten bleiben. Gefordert wären jedoch Wissen und Aufklärung,
Vernuft, Augenmaß, Pragmatik sowie Experimentier-, Lern- und Verantwortungsbereit-
schaft. Stand heute könnte CAI – wie dies in manchen kundennahen Servicebereichen von
z. B. Banken, Versicherungen oder Autoherstellern geschieht – für spezielle, d. h.
standardisierbare und genau eingegrenzte Tätigkeiten eingesetzt werden. Eine Teil-
substituierung innerhalb des Coaching-Prozesses und Kollaboration (vs. Kooperation)
wären daher nur schrittweise möglich. Durch die fehlenden Komplettsubstituierungs-
möglichkeiten könnte der Fokus beim Coaching bis dahin – wenn überhaupt – auf einer
Augmentierung und damit auf der Nutzung von Wearables bzw. VR-Technologie liegen,
um an und mit ihnen zu lernen. Eine verpasste (Lern-)Chance wäre es jedoch, wenn Coa-
ches auf diese besonderen Stärken der Technologie völlig verzichten. So ist es bei ent-
sprechender Grundeinstellung und Handhabung daher für den Berufsstand der Coaches
428 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

ethisch vertretbar und sogar wünschenswert, sich diesen neuen, technischen Entwicklungen
zu öffnen.
Hinsichtlich der Grundeinstellung wäre es jedoch empfehlenswert, die bereits vor-
handenen ethischen Coaching-Richtlinien (z. B. des DBVC e.V.22 oder des ICF Deutsch-
land23) zumindest mittelfristig um Überlegungen zur Digital- bzw. Maschinenethik im
Coaching-Kontext zu ergänzen. Tenor sollte der Werkzeugcharakter von KI sein. An-
knüpfungspunkt dafür könnte die „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen
Union“24 sein. Auch deren Unterzeichnung wäre ein klares Statement des Berufsstandes
hinsichtlich seiner Ausrichtung und Weiterentwicklung.
In einem zweiten Schritt wäre für die Verbände zu diskutieren, ob und wie eine Art
Ethikkommission oder eine Mitwirkung in entsprechenden über den Berufsverband
hinausgehenden Organisationen aussehen könnte. Im DBVC e.V. könnte sie z. B eine
Untersektion des Sachverständigenrates25 sein. Bestehend aus Coaches, Coachees, Aus-
bildern, Wissenschaftlern, Unternehmensvertretern und Plattformanbietern wäre es deren
Aufgabe, über neu auf den Markt kommende, digitale Technologien vor- und nachzu-
denken und entsprechende Empfehlungen zu geben. Um die erforderliche Neutralität zu
besitzen, wären diese im Idealfall, wie im Falle des Deutschen Ethikrates, sogar völlig
unabhängig von den Verbandsstrukturen.
Eine Balancierung der soeben erwähnten notorischen Defätisten und technik-
begeisterten Utopisten könnte der zu Beginn des Kapitels erwähnte „digitale Humanis-
mus“ von Nida-Rümelin & Weidenfeld (Nida-Rümelin & Weidenfeld, 2018) sein, der im
nächsten Kapitel vorgestellt werden soll.

6.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching

Eine Möglichkeit, sich den praktischen Implikationen des Themas „Ethik, Coaching
und Digitalisierung“ zu nähern, bietet die als „Denkmuster“ bezeichnete Analysestruktur
einer Kooperation der Unternehmensberatung Deloitte, der „Initiative D21“ (Initiative
D21, 2017) und ehemals der Bundesregierung.26 Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe ana-
lysiert dazu in einem ersten Schritt die Lebensbereiche und Handlungsoptionen der digi-
talen Lösung. Im zweiten Schritt geht es um das Aufdecken ethischer Zielkonflikte. Be-

22
https://www.dbvc.de/standards/ethik. Zugegriffen am 22.06.2021.
23
https://www.coachfederation.de/verband/werte-und-ethik.html. Zugegriffen am 22.06.2021.
24
https://digitalcharta.eu/. Zugegriffen am 22.06.2021.
25
https://www.dbvc.de/der-verband/gremien/sachverstaendigenrat. Zugegriffen am 22.06.2021.
26
https://initiatived21.de/20-jahre-initiative-d21-der-kompass-fuer-die-digitale-gesellschaft/. Zuge­
griffen am 22.06.2021. Impulsgeber waren im Juli 1999 der damalige Bundeskanzler Gerhard
Schröder und der damalige IBM-Chef Erwin Staudt sowie rund 70 Gründungsunternehmen aus
verschiedenen Branchen. Der Verein wurde ins Leben gerufen, um laut Satzung das Interesse und
die Bereitschaft für den Wandel zur Informationsgesellschaft zu wecken und zu fördern.
6.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching 429

währte Ausgangsbereiche sind dabei Werteabwägungen, Interessenabwägungen vers­chiedener


Stakeholder und (Technik-)Folgeabschätzungen für die Unternehmen bzw. Wirtschafts-
welt und die Gesellschaft. Das Schema ermöglicht daher themenunabhängig zunächst die
verschiedenen Facetten des Untersuchungsgegenstandes zusammenzutragen, um sie dann
strukturiert zu diskutieren und ggf. zu entscheiden. Abb. 6.2 zeigt dies exemplarisch am
begonnenen Beispiel zum generischen Einsatz von IT im Coaching.
Für den Coach selbst ergeben sich i. S. einer beidseitigen bzw. geteilten Verantwortung
die Anforderungen der oben dargestellten Privacy und Digital bzw. Technology Lite-
racy. Idealerweise hat der Coach hinsichtlich der Privacy and Digital Literacy sogar einen
Vorsprung und kann als gezielter Ratgeber agieren oder insgesamt sogar als Rollenmodell
mit entsprechenden, (in-)direkten Lernanreizen dienen.
Ähnliches gilt eingeschränkt auch für die Human Literacy. Denn glücklicherweise
wird der Coachee („Beobachter“) ganz i. S. von Banduras Modelllernen selbst entscheiden,
ob das (Coach-)Modell für ihn zur „Nachahmung“ oder als Inspirationsquelle attraktiv ist.
Dennoch sollte man generell davon ausgehen können, dass das Thema der Persönlich-
keits- oder Selbstentwicklung bei Coaches hoch im Kurs steht bzw. für sich bereits ein
erstebenswertes Ziel ist. „Menschlich“ (gereift) oder „tugendhaft“ zu werden oder zu sein
und mehr als die 5000+ Datenpunkte als digitales Double zu haben, ist jedoch – wie jeder
weiß – kein Seminarprogramm, sondern eine Lebensaufgabe, die der ständigen Selbst-
reflexion und intensiver und wahrhafter Interaktionen mit anderen Menschen bedarf.
Selbst zahlreiche und reaktionsschnell eingehende „Likes“ oder ein kurzer Halbsatz im
Netzjargon, garniert mit einem Akronym (z. B. YOLO: „You only live once“) und zwei
Emojis reichen da nicht. Auf einen Nenner gebracht heißt dies buchstäblich der eigenen
Natur gerecht zu werden, d. h. die Eigenkomplexität zu erhöhen und vielfältiger und ana-
loger statt einfältiger und digitaler zu werden. Damit würden Techniknutzer alles das stär-
ker entwickeln und betonen, was sie als Spezies „Mensch“ von allen anderen biologischen
Lebensformen abgrenzt – aber insbesondere von Maschinen.
Spiekermann (Spiekermann, 2019, S. 17) sieht im Zusammenhang mit der Entwicklung
einer digitalen Ethik generell drei werte- bzw. sinnbezogene Fragen (Spiekermann,
2019, S. 33) bzgl. des „Warum“ und „Wozu“ als hilfreich, um dem „digitalen ­Brainwashing“
(Nida-Rümelin & Weidenfeld, 2018, S. 163) entgegenzuarbeiten: (1) Wie genau wirkt sich
die Technologie auf den Charakter der Nutzer oder Stakeholder aus? (2) Welche Werte
werden durch die Nutzung der Technologie in menschlicher, sozialer, ökonomischer Hin-
sicht berührt und welche Vor- und Nachteile hat dies – bzw. was überwiegt bei der summa-
rischen Bewertung? (3) Welche der herausgearbeiteten, betroffenen Werte oder Maximen
sind für unsere Gesellschaft so wichtig, dass sich ihnen alles andere unterzuordnen hat?
Einer der als Ex-Marketingfachmann dieses latente gesellschaftliche Bedürfnis, nach dem
„Warum“ zu fragen, früh erkannt und dies in den letzten Jahren bis an die Schmerzgrenze
kommerzialisiert hat, ist Simon Sinek (Sinek, 2011). Offensichtlich war der Zeitgeist bei
der Erstauflage 2011 noch nicht reif genug, diese Frage zuzulassen.
Wurden obige Fragen möglichst präzise beantwortet, ist es nach Grimm et al. (2019,
S. 231) die sogenannte „innere Haltung“, das Rückgrat der mit ihren Antworten einen
430

Beispiel: Datifizierung Automatisierung & Vernetzung & Mensch-Maschine-


(Datenerhebung, algorythmische Virtualisierung Interaktion
IT-Einsatz im Coaching -auswertung,
-interpretation)
Entscheidung
Werteabwägungen (= W) Ad W2.: Zur Interventions- Ad W4.: Effizientes und
6

1. Zugänglichkeit vs. Privatheit optimierung werden effektives “Standard-


2. Personalisierung vs. Privatsphäre möglichst viele Coachee- coaching“ ohne wirkliche
Ad W4.: Interventions- disruptive / Aha- oder
3. Sicherheit vs. Privatsphäre daten abgefragt
methoden werden Überraschungsmomente
4. Kundennutzen vs. Privatsphäre „schematisch“ durch
5. Anpassung vs. Agilität Ad W7: Möglichst einfacher System bestimmt Ad W8: Orientierung /
6. Sicherheit vs. Agilität bzw. passwortfreier Zugang Entscheidung wer, wann,
7. Kundenzufriedenheit vs. Willensfreiheit zum Programm birgt große was zu welchen Kosten
8. Benutzerfreundlichkeit vs. Angemessenheit etc. Unsicherheit nutzen soll oder darf

Ad I3.: Coachee-Daten
Interessenabwägungen (= I) werden mechanisch mit
1. Strafverfolgung vs. Privatsphäre Datenbank abgeglichen
2. Erlöse/ Gewinne vs. Privatsphäre Ad I4.: Systembetreiber
3. Gruppen- vs. Einzelbedürfnis verkauft Daten an Gesund-
4. Unternehmerischer- vs. Wert von heitsinstitutionen für billi-
Interessengruppen gere Kundenpreise verkauft
5. Unternehmerischer- vs. Wert für die Gesellschaft Ad I7.: Coachee-Daten
6. Erkenntnisse vs. Privatsphäre werden in Datenbank ge-
7. Transparenz vs. Privatspähre etc. speichert und in Wirksam-
keitsforschung verwertet

Ad F2.: Menschen
Folgeabwägungen (= F) vertrauen Expertensys-
1. Zukünftige Verwertungsoptionen vs. aktuelle temen/ KI stärker als dem
Datennutzung eigentlich zu entwickelnden
2. Kurzfristige Vorteile vs. langfristige Risiken etc. Selbstgefühl, ihrer Reflex-
ionsfähigkeit und Intutition

Abb. 6.2 Digitale Ethik als die bewusste Identifikation, Reflexion bzw. Entscheidung über Zielkonflikte. (adaptiert nach Initiative D21, 2017; mit
freundlicher Genehmigung der © Initiative D21, 2017)
Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)
6.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching 431

Standpunkt beziehenden Menschen, dass diese auch bei widrigen Konsequenzen standhaft
bleiben. Bedient man sich für die Haltung der Definition von Drath (2014, S. 143), ge-
hören zu diesem Aspekt der Resilienz Selbstverantwortung, Disziplin und Impulskontrolle,
eine Art innerer Führung, ein realistischer Optimismus sowie die Fähigkeit, auch zu einem
Passionsthema immer wieder eine gesunde Distanz aufbauen zu können. Sind diese Be-
reiche jedoch i. S. einer „inneren Stärke“ gut entwickelt, ermöglichen sie dem Individuum,
seiner ethischen „Pflicht“ als Mensch und Bürger nachzukommen und sich entsprechenden
Fehlentwicklungen in diesem Bereich entgegenzustellen. Nur: Ist es möglich und macht es
überhaupt noch Sinn, in einer völlig unüberschaubaren und multikausalen Welt („Hen-
ne-Ei“-Problematiken) als Einzelner für etwas geradezustehen und Haltung zu beweisen?
So wird es in der Alltagsrealität durch diese zunehmend uneindeutigen Kausal-
zusammenhänge immer schwieriger, dieses klassische Pflichtenkonzept auch anzunehmen
und ihm auch nachzukommen. Buer (2008, S. 168) folgend ist es daher notwendig, durch
diese fehlende eindeutige Zuschreibung von Verantwortung für das System, in dem man
lebt und arbeitet – wie bereits bei der „Haltung“ erwähnt –, freiwillig Eigenverantwortung
für das System zu übernehmen, um im buchstäblichen Sinne auch eine „Antwort“ zu
geben. Ganz konkret kann dies z. B. mit der Beantwortung der oben genannten drei werte-
bzw. sinnbezogenen Fragen beginnen. Aber diese Anworten bzw. „Ver-antwortung“ kann
ich eben nur zeigen, wenn ich mir durch entsprechendes Wissen – d. h. entsprechend aus-
gebildete „Literacys“ – auch zutraue, einen Standpunkt zu beziehen. Derart „gebildet“
kann der Coach von heute und auch der Zukunft die sogenannte „Paradoxie der Ver-
antwortlichkeit“ (Heidenbrink, 2007, S. 127) wahrscheinlich besser ertragen, wonach wir
heutzutage eigentlich nicht mehr nicht verantwortlich sein können, aber dennoch in einem
begrenzten Sinn für einen begrenzten Bereich (Heidenbrink, 2007) verantwortlich sind.
Und diese Verantwortung gilt es hinsichtlich des Einsatzes von Technologie und in der
(gesellschaftlichen) Diskussion um ihre Entwicklung auch als Coach wahrzunehmen.
Zentral erscheint dabei die Auflösung der Paradoxie, des Widerspruches generell zwi-
schen der technischen, digitalen Welt und der Welt des natürlichen bzw. menschlichen,
also analogen Bereiches. Beschreibt Letzterer kontinuierliche Verläufe (i. S. eines
„Sowohl-­als-auch“) wie bei einem Quecksilberthermometer, bei dem immer alle Werte zu
sehen sind, bezieht sich Erstere auf die nur diskret bzw. binär (0 oder 1; Strom an oder
aus – dazwischen gibt es nichts) anzeigbaren Werte (i. S. eines „entweder das eine oder das
andere“).27
Das Reich oder der Reichtum des Analogen beschreibt auch die Welt des Humanismus
bei dem es im Rückgriff auf die Antike und Aristoteles um die Entwicklung eines „aristo-

27
Doch das Analoge kann, wie wir es bei Musikaufnahmen gesehen haben, in das Digitale über-
führt – also „digitalisiert“ – werden. Menschen mit einem sehr geschulten Gehör behaupten jedoch,
dass sich digitalisierte Musik auch schnell zu perfekt und „kalt“ anhören kann. https://www.music-­
knowhow.de/analog-oder-digital-was-klingt-besser/. Zugegriffen am 25.06.2021.
432 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

kratischen“28 Menschen geht. Dieser Mensch ist sich seiner besonderen Stärken bewusst,
besitzt eine sehr individuelle Denk-, Fühl- und Handlungsweise und nutzt diese, um sich
selbstbestimmt Ziele zu setzen. Ferner kann er sich mittels Selbstreflexion bzw. in der
Interaktion mit seiner Umwelt kreativ und lernend verändern. Erlebbar wird dies für ihn in
einer einzigartigen Bewusstseins- und Gefühlswelt. Vernunft und Augenmaß und die be-
wusste Akzeptanz der eigenen Begrenztheit sind die Ideale dieser Welt. Die Abb. 6.1 stellt
weitere Unterschiede tabellarisch gegenüber.
Komplexe Vielfalt, Begrenztheit, Vergänglich- bzw. Sterblichkeit, potenzielle Ir-
rationalität, Unberechenbarkeit sind menschliche Merkmale, welche die Ideologen aus
dem Silicon Valley ins Feld führen und damit den sogenannten Transhumanisten das
Wort reden würden. Nach Nida-Rümelin & Weidenfeld (2018, S. 22) nutzen diese – wie
bereits andere nach allumfassendem, globalem Einfluss strebende Ideologien – die huma-
nistische Gedankenwelt als Ausgangspunkt, um sie in eine eigentlich antihumanistische,
technizistische Utopie zu überführen. Die ständig angestrebten Verbesserungen sind für
die Transhumanisten nur dann valide, wenn sie zugleich auch Schritt für Schritt in einer
Überwindung des Humanistischen münden. Technologien (Wikipedia, Transhumanismus,
2021l), die diesen Weg ebnen sollen, sind im Bereich der Nanotechnologie, Biotechno-
logie mit einem Schwerpunkt in der Gentechnik und der regenerativen Medizin zu finden,
im Bereich der Prothetik zwecks Kompensation fehlender oder geschädigter Körperteile,
durch die Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen zur Überführung des mensch-
lichen Bewusstseins in digitale Speicher oder aber der Weiterentwicklung der sogenannten
Kryonik, bei der ganze Organismen oder einzelne Organe (meist das Gehirn) speziellen,
meist kältebasierten Konservierungsverfahren unterzogen werden, um sie in ferner Zu-
kunft durch eine dann entwickelte Spezialtechnologie wieder zum Leben zu erwecken und
damit unsterblich zu werden. Im Silicon Valley fokussiert man jedoch auf die Entwicklung
einer Ultra- oder Superintelligenz durch eine starke KI. Diese starke KI impliziert nach
Nida-Rümelin & Weidenfeld (2018, S. 203) zwei Sichtweisen: die materialistische, nach
der das Gehirn eigentlich nur ein sehr komplexer Computer ist und mit dem Erkenntnis-
fortschritt in beiden Bereichen beides unweigerlich zukünftig im Zustand der Singularität
eine Einheit bilden wird. Zum anderen die bereits angesprochene, animistische Sicht-
weise, die Maschinen in der Ausgestaltung ihrer Hard- und Software „vermenschlicht“,
indem sie ihnen eine namenswürdige Identität zubilligt und meist unbewusst auch mensch-
liche Eigenschaften zuschreibt, um dann auch entsprechend auf sie zu reagieren. In den
Traumfabriken der Filmindustrien werden dazu die notwendigen dys- oder utopischen
Fantasien in Bildern und Geschichten auch erlebbar.

Aus dem griechischen „kratos“ von „Macht“ oder „Stärke“ kommend und mit dem Wort „aristos“
28

zusammen den besonders tugendhaften, „ausgezeichneten“ oder „exzellenten“ Menschen beschrei-


bend(vgl. Spiekermann, 2019, S. 267).
6.3 Vermutete Konsequenzen für den Coach und das Coaching 433

Diesem insgesamt von ideologieartigen Erlösungshoffnungen, eher regressiven All-


machts- und Unverwundbarkeitsfantasien getragenen Weltbild setzen Nida-Rümelin &
Weidenfeld (2018, S. 205) den „digitalen Humanismus“ mit vier Postulaten entgegen.
(1) Wie alle neuen Technologien ist auch die KI ambivalent. Es hängt von deren kluger
(i. S. v. das Menschliche fördernd) Gestaltung und konkreter Nutzung ab, ob und wie sie
unserer Spezies zum Vorteil gereicht. Nur eine wissensbasierte, nüchterne Annäherung
sowie eine umfassende und sorgfältige Technikfolgeabschätzung ermöglichen eine instru-
mentelle Sichtweise dieser neuen technischen Möglichkeiten. Dabei darf auch der starke
Einfluss von wirtschaftlichen und auch politischen Interessengruppen nicht außer Acht
gelassen werden. (2) Der digitale Humanismus lehnt eine starke KI ab, denn wir könnten
am Ende dem Trugbild aufsitzen, dass die womöglich sehr glaubhaft simulierten Emotio-
nen oder ein entsprechendes Bewusstsein wirklich identisch mit den unsrigen sind. Ange-
sichts der Tatsache, dass wir bei der starken KI nicht mehr wirklich wissen, was in der
Black Box geschieht und wie die Maschinen zu ihren Bewertungen und Entscheidungen
kommen, wäre es zudem ein großes Wagnis, diesen „Geist aus der Flasche“ zu lassen.
Denn was wären die Folgen, wenn wie bei anderen als komplett sicher geglaubten Heils-
technologien wie z. B. der Kernkraft es hier zu dem vorab ebenfalls als sehr unwahrschein-
lich erachteten Super-GAU kommt? Bis dato wissen wir noch nicht, ob, wann und wo die
End- und Zwischenlager der hochradioaktiven Abfälle auf der zweihunderttausendjähri-
gen (!) Zeitstrecke im schlimmsten Fall in irgendeiner Form kollabieren werden, bevor sie
auf das Strahlungsniveau der Abfälle von Natururan abgesunken sind. Wurde bei der
Atomkraft die Frage der moralischen Vertretbarkeit für billigen Strom für eine Generation
von der Politik und vor allem der Wirtschaft damals mit der Verlagerung des Risikos und
der Investitionslast auf unzählige kommende Generationen beantwortet, stehen wir im
Falle der starken KI nun vor einer ähnlich weitreichenden Entscheidung. Weitreichend
u. a. auch deshalb, weil mit maximaler Menschenähnlichkeit z. B. auch die Fragen von
Menschenrechten für diese künstlichen Existenzformen diskutiert werden müssten. (3)
Der digitale Humanismus betont die weitgehende Unveränderlichkeit des Menschen und
damit seine von den Transhumanisten eher als auszumerzende Schwächen angesehenen
physiologischen und psychologischen Eigenschaften. Inbesondere gilt es auch seine Stär-
ken bzw. kulturellen Errungenschaften wie verschiedenste, sehr differenzierte (heute me-
dial erweiterte bzw. gestützte) Kommunikationsformen, die Trennung von Privatem und
Öffentlichem und auch die informationelle Selbstbestimmung zu bewahren. Er plädiert für
eine Stärkung der Demokratie sowie die individuelle Urteilskraft. Dabei kann die kluge
Nutzung schwacher KI ein Hilfsmittel (!) sein. (4) Mithin steht der digitale Humanismus
nicht für die Verhinderung der Nutzung und des Fortschrittes durch KI, sondern statt-
dessen für eine Beschleunigung des menschlichen Fortschrittes durch die Entwicklung der
Individuen und von deren verschiedensten Interaktionsformen und -settings unter gezielter
Zuhilfenahme digitaler Werkzeuge. Dabei könnten und sollten Coaches als „Menschen-
entwickler“ einen Beitrag leisten.
434 6 Ethik als Imperativ für die kommenden Veränderungen (im Coaching)

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Statt eines Nachwortes: Vordenken
in Szenarien 7

Die in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Sachverhalte werden sich nicht im


luftleeren Raum abspielen, sondern mit speziellen, situativen Variablen der Gesellschaft,
(Welt-)Wirtschaft, des Arbeitsmarktes etc. interagieren und so unser Leben in den kommen-
den Dekaden bestimmen. „Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“, d. h. etwaiger
„schwarzer Schwäne“ (Taleb, 2018), kann dabei naturgemäß nicht berücksichtigt werden.
Ein von den meisten unerwartetes und, schreckliches Beispiel dafür ist der im Februar 2022
begonnene Krieg in der Ukraine oder aber die nicht weniger disruptive Corona-Pandemie.
Wie und was sich in Deutschland auf den (1) Arbeitsmarkt 2030, auf die (2) Zukunft der
Arbeit bis 2050 und auf (3) Deutschland als einen Player in einer globalisierten Welt-
wirtschaft auswirken könnte, beschreiben die drei folgenden (Szenario-)Analysen aus ver-
schiedenen Blickwinkeln und auf verschiedenen, systemischen Ebenen.
Leser, die dieses Kapitel als überflüssig, da nicht i. e. S. coachingrelevant erachten, über-
sehen die starke systemische Koppelung ihrer Klienten wie auch ihrer eigenen Arbeit. Es
soll daher eine Weitung des Blickes über die Dyade „Coach-Coachee“ unterstützen und
Belege für die „Glaubensbekenntnisse“ vieler Coaches zum systemischen Denken und Ar-
beiten wie auch des Coachings als Business sein. Ganz im Sinne von Böning & Strikker
(2021, S. 7) geht es darum, sich auch als Coach wieder mit diesen vermeintlich fernen, aber
doch so nahen Themen zu beschäftigen oder sogar (gesellschafts-)politisch aktiv zu werden.

Mögliche Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt und die


Beschäftigung in Deutschland 2030
Die Bertelsmann Stiftung bot 2016 (Bertelsmann Stiftung, 2016) mit ihrer Studie „Auf
dem Weg zum Arbeitsmarkt 4.0. Mögliche Auswirkungen der Digitalisierung auf Arbeit
und Beschäftigung in Deutschland 2030“ sehr illustrative Beschreibungen über mögliche
Zukünfte. Die „Zukunft“ im Plural signalisiert dabei, dass es bei den entwickelten Szena-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 437
von Springer Nature 2022
S. Stenzel, Die Zukunft des Coaching-Business,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-64421-8_7
438 7 Statt eines Nachwortes: Vordenken in Szenarien

rien nicht um die eine zu prognostizierende Zukunft geht, sondern auf der Basis von
herausgearbeiteten Randvariablen um sechs Zukunftsvarianten innerhalb eines vordefi-
nierten Möglichkeitsraumes. Sie hat das Ziel, risikominimierend i. S. eines Frühwarnsys-
tems (1) schon heute dringend anstehende Weichenstellungen aufzuspüren, (2) darauf
aufbauend zeitnah entsprechende Maßnahmen einzuleiten und (3) sich dabei insgesamt so
wenig wie möglich von vorherrschenden Denkmustern leiten zu lassen. Letztlich sind (4)
die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik, aber eben auch die Zivilgesellschaft aufge-
rufen, perspektivisch zur Erhaltung des heutigen Wohlstands, der Wirtschaftskraft und des
sozialen Friedens in Deutschland beizutragen.

Die Forscher bedienen sich dabei einer als „Foresight Lab“ (= strategische Voraus-
schau) bezeichneten, qualitativen Methode, die in einem dreiphasigen Workshop zur An-
wendung kommt. Erklärtes Ziel der durch die drei Prozessschritte (1) Initialworkshop
(zum Zwecke der Erarbeitung der Fragen, Themen und Faktoren), (2) Vertiefungswork-
shop (zwecks Fokussierung und damit Reduzierung der Szenarienkomplexität) und dem
letztlichen (3) Transferworkshop (zur Erarbeitung von Entwicklungswegen zu den einzel-
nen Szenarien) war es, „[…] die Szenarien in sich plausibel und schlüssig zu beschreiben,
wichtige neue Aspekte anzudenken und zu formulieren und schließlich auch Unterschiede
zwischen den Szenarien und im Vergleich zur aktuellen Situation zu identifizieren“ (Ber-
telsmann, 2016, S. 14). Es ist bei dieser qualitativ geprägten Forschungsmethode selbstre-
dend, dass die Zusammenstellung der Teilnehmer die Ergebnisse maßgeblich beeinflusst.
Nur die profunde Expertise und größtmögliche Diversität der Teilnehmer kann hier in ih-
rer Multiperspektivität eine Verzerrung in die eine oder andere Richtung abmildern.
Mittels der soeben skizzierten Methode entwickelte die Gruppe sechs Szenarien. Ziel
dieser Szenarien ist es, in einem sogenannten „Steckbrief“ inklusive einer pointierenden
Überschrift die speziellen Ausprägungen der fünf Kernvariablen (1) Wettbewerbsfähig-
keit, (2) digitale Infrastruktur, (3) politische Steuerung, (4) Nachfrage am Arbeitsmarkt
und (5) vorherrschende Arbeitsform möglichst eingängig zu verdichten. Am Ende jedes
Szenarios wird der Kern des Zukunftsbildes in ein bis zwei Sätzen zusammengefasst und
um einige weiterführende Leitfragen ergänzt. Da man der Reichhaltigkeit der Studie in
einer Kurzfassung nicht gerecht werden würde, soll die folgende akzentuierende Darstel-
lung (Titel, Kernaussage) eher als Appetizer dienen, sich letzten Endes doch die Zeit für
die 80 Seiten zu nehmen. Ein sich daran anschließender Aufriss der Treiber und Hand-
lungsfelder im Zuge der Digitalisierung ergibt sich aus der Gegenüberstellung der Interes-
sen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Im Szenario 1 „Ingenieursnation mit Herzchen“ ist (Bertelsmann Stiftung, 2016,
S. 20) „[…] das ökonomische Ziel des wirtschaftlichen Wachstums […] erreicht, der Ar-
beitsmarkt ist stark flexibilisiert und das bedingungslose Grundeinkommen scheint eine
kühl berechnete Stillhaltefunktion zu erfüllen“. Im mit „Silicon Countryside mit sozialen
Konflikten“ überschriebenen Szenario 2 hat (Bertelsmann Stiftung, 2016, S. 24) „[…] die
Finanzbranche […] eine Vorreiterrolle im globalen Wettbewerb; die Old Economy verliert
an Einfluss. Dadurch finden Softwareentwickler Traumjobs und viele andere Disziplinen
7 Statt eines Nachwortes: Vordenken in Szenarien 439

gehen in Rente und werden aussterben“. Im als „Rheinischer Kapitalismus 4.0“ über-
schriebenen Szenario 3 hat sich (Bertelsmann Stiftung, 2016, S. 28) „[…] das Internet der
Dinge […] aufgrund einer erstklassigen Netzinfrastruktur etabliert und die überaus erfolg-
reiche New Economy geht mit einem stark fragmentierten Arbeitsmarkt einher“.
Die „Digitalen Hochburgen mit abgehängtem Umland“ beschreiben in dem Szenario
4 den Fall, dass es (Bertelsmann Stiftung, 2016, S. 32) „eine nennenswerte digitale Ent-
wicklung (…) nur in den Großstädten gab, das ländliche Umland zeichnet sich durch eine
sehr schlechte Arbeitsmarktlage und eine damit einhergehende, mangelnde Kaufkraft der
Bevölkerung aus“.Die „Bundesländer befinden sich in einem starken Wettbewerb als
Standorte für die digitale Wirtschaft. Während einige Bundesländer hochattraktiv für die
Digitalwirtschaft geworden sind, sind andere Bundesländer abgeschlagen und selbst klas-
sische Industrie und Mittelständler wandern zunehmend in die attraktiveren Bundesländer
ab“ (Bertelsmann Stiftung, 2016, S. 37). So beschreibt das Szenario 5 mit dem Titel „Di-
gitale Evolution im föderalen Wettbewerb“ einen weiteren Möglichkeitsraum der Digita-
lisierung im Jahre 2030. Am pessimistischsten ist das Szenario 6 mit dem vielsagenden
Titel „Digitales Scheitern“. Diesen „digitalen GAU“ skizziert die Studie (Bertelsmann
Stiftung, 2016, S. 41) wie folgt: „Den globalen Standortwettbewerb hat das Land verloren.
Auf dem Arbeitsmarkt gibt es noch viele sozialversicherte Festangestellte, allerdings kon-
zentriert sich die Nachfage am Arbeitsmarkt inzwischen nur noch auf Jobs, die nur wenig
Bildung voraussetzen.“
Abgeleitet aus den Szenarien wurden in einem Folgeschritt die übergreifenden Ent-
wicklungstendenzen erarbeitet, welche als Grundlage für drei politische Handlungsfelder
dienen. Als „politisch“ werden sie deshalb beschrieben, weil sie natürlich nicht nur Ge-
genstand der politischen Debatte im Parlament und in der Regierung, sondern im Wesent-
lichen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen sein sollten. Die drei (tabellarischen)
Gegenüberstellungen der verschiedenen Interessenlagen der beiden Parteien zu den (1)
Aspekten moderner Arbeitsorganisation, den (2) Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt und
den (3) Qualifizierungsträgern machen dabei überdeutlich, dass die Zukunft in einem
demokratisch-­partizipativen Führungsklima diskursiv ausgehandelt werden muss.
Dieser Geist der sozialen Marktwirtschaft spiegelt sich zudem nach Meinung der Auto-
ren im Rahmen der Interessenvergleiche darin (Bertelsmann Stiftung, 2016, S. 51), dass
zum einen die Politik die Wirtschaftskraft und damit das Interesse der Arbeitgeber im
Auge haben muss, denn nur eine starke Wirtschaft kann gute Beschäftigungschancen lie-
fern – zum anderen soll die Wirtschaft i.S. der Arbeitnehmer sozial gestaltet sein. Kon-
struktiv mit den dabei unvermeidlichen Konflikten umzugehen, ist mithin das Gebot der
Stunde an alle beteiligten Akteure.
Die Studie schließt mit den zwei hoffungsvollen Erkenntnissen (Bertelsmann Stiftung,
2016, S. 51), dass die Zukunft durch Arbeitnehmer, Unternehmen und Politik zwar nicht
deterministisch bestimmbar, jedoch beeinfluss- und sogar gestaltbar ist und dass wir uns –
sofern wir uns wie im Rahmen dieser Szenarien aktiv damit auseinandersetzen – allesamt
sogar vorbereiten können. Dies passt sehr gut zum intendierten Tenor dieses Buches und
schützt jedoch auch vor überambitionierten Prognoseanstrengungen.
440 7 Statt eines Nachwortes: Vordenken in Szenarien

2050: Die Zukunft der Arbeit. Ergebnisse einer internationalen Delphi-Studie des
Millennium Projekt
Die gleichlautende Studie der Bertelsmann Stiftung von 2016 (Daheim & Wintermann,
2016) möchte „offene Fragen stellen statt vorschnelle Antworten geben“ (Daheim & Win-
termann, 2016, S. 7), d. h. Zukunftsoptionen und die darin möglichen Handlungsoptionen
erkunden. Über eine Kollaborationsplattform wurden dazu 298 Experten aus aller Welt
befragt. Um zu möglichst authentischen Aussagen zu kommen, wurden dabei auch Perso-
nen aus dem „Maschinenraum“ befragt. Die Delphi-Methode sollte durch die Vereinze-
lung bei der initialen Ideengenerierung und den „geschützten Raum“ des Plattformaustau-
sches eine Atmosphäre von „Hinterzimmergesprächen“ schaffen (Daheim & Wintermann,
2016, S. 8). Ziele der Studie war dabei die Identifikation von die Zukunft der Arbeit gestal-
tenden Determinanten. Dass sich viele davon in den vorangegangenen Teilen dieses Bu-
ches wiederfinden, dürfte dabei keine Überraschung sein.

Zentrale Ergebnisse der Studie (Daheim & Wintermann, 2016, S. 9) sind, dass (1) wir
naturgemäß nicht genau voraussagen können, was kommt, wir können es jedoch gestalten.
Zu hoch ist die Wahrscheinlichkeit zufälliger Ereignisse. Das sollte uns jedoch nicht davon
abhalten, verschiedene Szenarien zu durchdenken. Ein eher kritischer Aspekt dabei ist,
dass (2) die globale Arbeitslosigkeit 2050 auf 24 % (oder mehr) ansteigen könnte, falls wir
nicht schon heute beginnen, das gesamte schulische und berufliche Lernen völlig neu zu
denken. Eine Ursache dafür ist die gerade erst begonnene (3) Entwicklung der KI und
Robotertechnologie. Ob der sich durch sie ergebende Produktivitätszuwachs sich dabei
eher als Fluch oder als Segen erweist, hängt maßgeblich von unserem neu zu entwickeln-
den Lern-, Arbeits-, Freizeit- und mithin Lebensverständnis ab. Laut der Studie bleiben
uns für diese Transformation ein bis zwei Jahrzehnte. Neben den vorgenannten Verände-
rungsnotwendigkeiten führt dieses (4) neue Arbeiten bzw. Wirtschaften hinsichtlich der
Sozialsysteme zwingend zu einem grundlegend neuen Verständnis von Lohnarbeit. Gilt
mobiles und multilokales Arbeiten für viele schon heute als normal, sprechen die Autoren
in ihrer Studie sogar davon, dass (5) Arbeit in einem kollektiven und vor allem virtuellen
Raum – einem Metauniversum – stattfinden wird. Die konkreten Tätigkeiten werden ihrer
Ansicht nach stärker kollaborativ sein und sich in Netzwerken vollziehen (Daheim & Win-
termann, 2016, S. 10). Wurden der durch die Produktivitätsgewinne größere Anteil er-
werbsfreier Zeit und der notwendige Wandel der benötigen Kompetenzen oben bereits zur
Sprache gebracht, weisen die Verfasser auf (6) die erforderlichen, neuen Berufsbilder im
Bereich der Freizeit, Gesundheit und der Datenanalyse hin. Obwohl es bei neuen Formen
des Lernens mit MOOCs und P2Ps bereits einige Pioniere gibt, sehen die Forscher das
Bildungssystem als Ganzes als überfordert, da z. B. selbstgesteuertes Lernen hier noch zu
selten als eine Technik des Selbstmanagements und/oder Methodik bei der Inhaltsvermitt-
lung angeboten wird. Als zukunftskritische (8) Inhalte sehen sie dabei sowohl Basiskom-
petenzen im Programmieren wie auch eine Entwicklung von Metakompetenzen, welche
die Erwerbstätigen resilienter für die volatilen Arbeitsmärkte macht. 60 % der befragten
Experten stimmen weiterhin darin überein, dass die vermeintlichen Produktivitätszu-
7 Statt eines Nachwortes: Vordenken in Szenarien 441

wächse sogar in der (9) bisher als Utopie (oder Dystopie) beschriebenen, komplett arbeits-
freien Gesellschaft münden könnten. Parallel sprechen sie sich daher für ein bedingungs-
loses Grundeinkommen aus sowie für die Suche nach zur Lohnarbeit alternativen
Einkommensmöglichkeiten für alle Bevölkerungsschichten. Da z. B. moderne Wissensar-
beit generell entkoppelt von Zeit und Raum ist, sieht auch die Studie Lösungen für die
vielfältigen Herausforderungen nur in inter- bzw. transnationalen Ansätzen. So machten
die Flüchtlingsströme 2015 eines für Daheim & Wintermann (2016, S. 28) überdeutlich:
Die Welt ist ein Dorf und die Probleme anderer Länder sind auch die unsrigen.
Da die Experten große bzw. staatliche Systeme als zu langsam ansehen, um schnell und
„smart“ genug auf diese Veränderungen zu reagieren, hoffen diese auf die Veränderungs-
willig- und -fähigkeit vieler Einzelner – insbesondere des Entrepreneurships der Genera-
tion Y (Daheim & Wintermann, 2016, S. 29).

Roadmap 2030: Deutschlands Stellung in einer globalisierten Weltwirtschaft


Aus einer Makroperspektive beschreibt auch die zweite Studie der Bertelsmann Stiftung
„Roadmap 2030: Deutschlands Stellung in einer globalisierten Weltwirtschaft“ (Bluth,
et al., 2019) die potenziellen Rahmenbedingungen für das Business (von Klienten und
ihren Coaches). Zielsetzung dieses fünf Jahre dauernden Projektes „Global Economics
Dynamics“ war es, „[…] ein tieferes Verständnis der Globalisierung und Determinanten
sowie ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen zu vermitteln“ (Bluth et al., 2019, S. 7). Dabei
schicken sie sinnigerweise bereits in ihrem Vorwort voraus, dass Globalisierung eben nicht
wie oft angenommen erst ein Phänomen des 19. oder 20. Jahrhunderts war, sondern bereits
bei den Phöniziern, Römern oder den Chinesen maßgeblich zum Aufblühen dieser Kultu-
ren beitrug, d. h. unter anderem zu Innovationen bei der Ausgestaltung der Infrastuktur
und Kommunikationstechnologie führte (Bluth et al., 2019, S. 6).

Das heute wirtschaftlich erneut erstarkende China ist dabei ein gutes Beispiel dafür,
wie noch vor zwei bis drei Jahrzehnten (1) eine als weniger bedeutsam angesehene Wirt-
schaftsnation plötzlich zu einem ernst zu nehmenden Player unter den entwickelten, west-
lichen Volkswirtschaften (USA, Frankreich, Deutschland) werden kann (Stichworte: Sei-
denstraße, KI). Gleiches gilt dabei für Brasilien, Indien und Russland. Ferner sind bei
deren Integration die (2) globalen Wertschöpfungsketten sowie die Zu- und Abflüsse aus-
ländischer Direktinvestitionen von immer zentralerer Bedeutung. Die (3) zunehmende
Digitalisierung des Handels wie auch die auf ihr beruhende „Industrie 4.0“ verschieben
die globale Wettbewerbsfähigkeit von Industrien und Dienstleistungen. Erschwerend
kommt hinzu, dass (4) internationale Organisationen infolge des allerorts aufkeimenden
Nationalismus und Protektionismus (z. B. die Welthandelsorganisation) in Zeiten ge-
schwächt werden, wo es nach Bluth, et al. (2019, S. 6) eigentlich einer stärkeren Integra-
tion und Kollaboration nicht nur im wirtschaftlichen Bereich bedürfte.
Neben dieser faktenbezogenen Analyse der Globalisierung gibt es jedoch auch eine
stark dogmatisch und emotional geführte Diskussion um das Pro (z. B. Globalisierung als
Quelle von wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftlichem Wohlstand) und Kontra
442 7 Statt eines Nachwortes: Vordenken in Szenarien

(z. B. Globalisierung als Ursache rücksichtsloser Umweltzerstörung und Verstärkung der


ungleichen bzw. ungerechten Lebensverhältnisse auf dem Globus). Um dem zu begegnen,
plädieren die Autoren (Bluth et al., 2019, S. 6) für eine umfassend evidenzbasierte Politik-
gestaltung, die sich durch Aufklärung, Transparenz und Versachlichung vermittelt. Daran,
dass sie jedoch eine stärkere internationale Integration und damit Globalisierung als den
Königsweg sehen, lassen die Verfasser der Studie keinen Zweifel. Denn – so ihre Kernthese
(Bluth et al., 2019, S. 22) – Deutschland als Exportland (wie auch andere OECD-Staaten)
wird nur in diesem Kontext seinen Wohlstand halten oder sogar weiter ausbauen können.
So geht es bei ihrem Mehrebenenansatz auch nicht mehr um das „ob“ der Globalisierung,
sondern nur noch um das „wie“. Um bei diesem „wie“ das Positive dominieren zu lassen,
gilt es auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene anzusetzen.
In Deutschland und damit auf nationaler Ebene muss nach Bluth et al. (2019, S. 22) die
Kernfrage i. S. unserer sozialen Marktwirtschaft daher lauten, wie es im Zuge der auszu-
bauenden Globalisierung möglichst viele Gewinner und möglichst wenige Verlierer geben
kann. Um dies bewerkstelligen zu können, gilt es jedoch das in die Jahre gekommene Er-
folgsmodell „soziale Marktwirtschaft“ den neuen Rahmenbedingungen auzupassen bzw.
zu ergänzen.
Auf europäischer Ebene muss Deuschland mit gleichgesinnten Partnern dafür sorgen,
dass der schleichenden Erosion (Stichwort: Brexit) und dem aufkeimenden Nationalismus
(Stichwort: Visegrád-Gruppe, d. h. Ungarn, Slowakei, Polen, Tschechien) in der Eurozone
Einhalt geboten wird. Damit verbunden sind auch Fragen der Entwicklung von für alle
tragfähigen Strategien wie auch die Einigung auf einen für alle stimmigen Proporz bei
Abstimmungen. Dies würde der EU auch international mehr Gewicht verleihen.
Richtet man den Fokus auf den internationalen Bereich, hat sich die Welt seit der Ent-
stehung der Studie 2019 bereits dramatisch gewandelt. So gelten die USA nach dem Sieg
von Joe Biden über Donald Trump wieder als verlässlicher Partner. China wird jedoch
heute (2022) noch stärker als technologischer Wettbewerber des Westens gesehen. Seine
zumindest auf Gleichberechtigung – wenn nicht sogar Dominanz – abzielenden Groß-
machtbestrebungen gegenüber den USA und Russland werden im Zweifelsfall eher den
eigenen statt internationalen Regeln folgen. Die deutsch-französischen Ambitionen, Eu-
ropa mit einer gemeinsamen Industriepolitik hier im Spiel zu halten, sehen die Autoren
(Bluth et al., 2019, S. 23) neben dem generellen Überdenken der Außenbeziehungen der
EU als einen ersten, aber wichtigen Ansatz. Dies heißt aber z. B. auch, sich den bereits von
China umworbenen südostasiatischen und insbesondere aber afrikanischen Staaten stärker
anzunähern und ihre Rolle bei den verschiedenen internationalen Wirtschaftsorganisatio-
nen zu stärken bzw. diese Institutionen selbst bei ihren Reformvorhaben tatkräftig zu un-
terstützen. Es geht daher für die EU bzw. Deutschland um nicht weniger als um eine
Neupositionierung und Neuausrichtung innerhalb des globalen Wirtschaftssystems.
Literatur 443

Literatur

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lisierung auf Arbeit und Beschäftigung in Deutschland 2030. https://www.bertelsmann-­stiftung.de/
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Bluth, C., Coka, D. A., Esche, A., Jungbluth, C., Petersen, T., & Rausch, T. (2019). Roadmap 2030.
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Böning, U., & Strikker, F. (2021). Coaching in der zweiten Romantik: Abstieg oder Aufstieg? Zwi-
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Taleb, N. N. (2018). Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse.
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