Sie sind auf Seite 1von 3

DIE ZEIT, 07.12.2006 Nr.

50

Gesang im Bordell

Der Musikwissenschaftler und Sänger Roger Stein widmet seine Forschung den Chansons von käuflicher Liebe.

Von Kai Michel

Das ist ein ernsthaftes Buch«, sagt Roger Stein. Die beiden Frauen nicken, betrachten den Einband mit der
nackten Dame und blättern höflich in den Seiten. »Es geht um Lieder von Brecht, Wedekind und Tucholsky.«
Sie lächeln bezaubernd, aber unsicher, nesteln am Mieder herum.

So ein Mann kommt ihnen sonst nicht unter. Es war die Idee des Fotografen, in das kleine Bordell am Wiener
Gürtel zu gehen. Wo soll man einen Dirnenliedforscher auch porträtieren, wenn nicht im Puff? Stein schlägt sich
tapfer. Er legt das Buch weg und posiert ungeniert vor der Kamera. Ein solcher Auftritt ist ja nichts Neues für
ihn: Er schreibt und komponiert Chansons, denen die Kritik das Etikett »literarischer HipHop« aufklebt. Da er
sie auch selbst vorträgt, weiß er sich im Rampenlicht und vor der Kamera zu bewegen. Der Puff allerdings ist
neu. »Ich musste keine Feldforschung betreiben«, scherzt er. Mit seiner theaterwissenschaftlichen Doktorarbeit
Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht hat er ein delikates Forschungsobjekt für
die Wissenschaft entdeckt.

»Es kommen nicht viele Männer«, erzählt eine der beiden Frauen. Zu viele Konkurrentinnen stünden draußen
auf den Straßen. »Die sind billiger und machen Dinge, die wir nicht machen.« Singen gehört allerdings nicht
dazu, das tut aber heute keine mehr, weder hier noch dort. »Früher war das anders«, sagt Stein später auf dem
Weg durch den Spittelberg, in Richtung Heldenplatz. Hier, in den Gassen, wo sich alles für den
Weihnachtsmarkt herausputzt, lockten einst Dirnen ihre Freier an wie die Sirenen den Odysseus. »Mein Herr,
lieben Sie etwas / von meiner Ware?«, rezitiert Stein, »hier ist der Mund, hier ist die Brust, / Hier ist die Fut samt
Haare.«

Aber solche pornografische Gebrauchslyrik ist nicht Steins eigentlicher Forschungsgegenstand. »Es sind zu
wenig Animierlieder überliefert«, sagt er. »Die meisten Prostituierten waren Analphabetinnen.« Und wer sonst
sollte so etwas notieren und sich als Besucher zwielichtiger Lokale outen? Stein geht es um die literarischen
Dirnenlieder, die unter Künstlern und Kabarettisten zwischen 1880 und 1930 gewaltig in Mode waren, Lieder
über Prostituierte und ihre Freier. Zumindest eins kennt heute noch jeder: »Ich bin von Kopf bis Fuß / auf Liebe
eingestellt, / Denn das ist meine Welt / Und sonst gar nichts.«

Roger Stein ist erst 31 Jahre alt. Der gebürtige Schweizer verschlang von klein auf deutsche Lieder, Schubert
und Schumann genauso wie Wecker und Biermann, nur keinen Schlager. In Wien studierte er
Theaterwissenschaft und Germanistik, absolvierte an der Musikhochschule eine klassische Gesangsausbildung.
Danach schrieb er die Doktorarbeit und verdiente als Musiker sein Geld. Mit seiner Frau Sandra Kreisler tritt er
als »Wortfront« auf. Für ihre Lieder eines postmodernen Arschlochs bekamen sie gerade den Preis der deutschen
Schallplattenkritik.

Jetzt geht’s am Stephansdom vorbei zur Broadway Piano Bar. Die besucht er oft, wenn er in Wien ist.
»Vermutlich der einzige Ort, wo sich Billy Joel ans Klavier setzen kann, und keiner hört zu.« Hier hätte sich
Stein lieber fotografieren lassen, inmitten von rotem Plüsch, vielleicht am Flügel. Er möchte nicht als
Nurwissenschaftler abgestempelt werden: »Künstler, die zu viel reflektieren, sind heute verdächtig.«

Traditionelle Liedersammlungen besingen Soldaten, aber keine Dirnen

In der Bar gibt es ein großes Hallo. Der Besitzer, Bela Koreny, ist selbst Komponist, spielt wunderbar Klavier.
Stein zeigt ihm stolz sein Buch. Als er endlich am Bier nippt, erzählt er, wie er zum Dirnenlied kam. Er sei bei
einer Seminararbeit darauf gestoßen. Er war erstaunt, dass in den einschlägigen Lexika nichts dazu steht.
Obwohl man dort vom Soldaten- bis zum Handwerkerlied alles findet. »Volksliedsammler wie Herder, Brentano
oder Arnim waren prüde Typen«, sagt Stein. Die Seele des Volkes sollte rein sein. Da durften nur Brünnlein
fließen, keine Körpersäfte.

Anfang des 20. Jahrhunderts aber fasste eine ganze Künstlergeneration das Dirnenlied als eigenes Genre auf. Ob
Tucholsky dichtete: »Und es gehen mit der Frau Studenten, / und auch Herr Zahnarzt Schmidt, / Redakteure,
Superintendenten, / die nimmt sie alle mit.« Um gleich fortzufahren: »Der eine will die Rute, / der andre will sie
bleun. / Sie steht auf die Minute / An der Ecke um halb neun.«
Man denke nur an die Ikonen der Goldenen Zwanziger: die Dreigroschenoper mit dem Luden Mackie Messer
oder Marlene Dietrich als fesche Lola im Blauen Engel. Doch ist das nicht nur ein Fall für die Theaterhistorie?
»Nein«, widerspricht Stein, »das Dirnenlied ist ein gutes Beispiel, wie die Kunst gesellschaftliche
Entwicklungen vorwegnimmt.« Eine junge Autorengeneration benutzte es, um das Frauenbild des 19.
Jahrhunderts sturmreif zu schießen. De facto sei das die erste sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts. Die
bürgerliche Gesellschaft hatte die Ehefrau zur Heiligen gemacht. Sie musste ihrem Mann treu ergeben dienen.
Ihre Welt war die von Heim und Herd - und sonst gar nichts. Sie sollte als Jungfrau in die Ehe gehen und durfte
nicht einmal bei deren Vollzug sexuelle Lust spüren. Vom Mann aber wurde erwartet, dass er sich vor der Ehe
austobte. Danach wurde das Fremdgehen geduldet.

An Prostituierten herrschte kein Mangel. Die Landflucht trieb zahlreiche Frauen in die Städte; viele fanden nur
in der Liebesdienerei ein Auskommen. Stefan Zweig schreibt in seinen Memoiren, dass es damals ebenso wenig
Mühe kostete, »sich eine Frau für eine Viertelstunde, eine Stunde oder Nacht zu kaufen wie ein Paket Zigaretten
oder eine Zeitung«.

Stein ist in seinem Redefluss kaum zu bremsen. Als er gefragt wird, ob er nicht etwas singen möchte, schüttelt er
den Kopf. »Und gegen solch eine bürgerliche Doppelmoral kämpfte die Boheme«, doziert er weiter. Diese
intellektuelle Künstlerschicht kürte die Prostituierte als Kampffigur: »Eine Dirne bin ich und will es sein, / ich
pfeife auf Schleier und Glorienschein«, dichtete Leo Heller. »Vor dem Hintergrund der Gesellschaftszwänge, die
es Frauen verboten, über Sexualität nur zu sprechen, erscheinen Dirnenlieder, in denen Frauen ihre Lust an der
Sexualität offen ausdrücken, revolutionär«, schreibt Stein in seinem Buch.Das hatte wenig mit Emanzipation zu
tun. »Auch die Dirnen in den Liedern waren ein von Männern entworfenes Frauenbild«, sagt Stein,
»Männerfantasien.« Die Männer steckten selbst im Dilemma. Sie konnten sich der Liebe einer Frau nie gewiss
sein. »Ob Ehefrau oder Dirne: Beide Lieben waren gekauft«, sagt Stein. Nach Ansicht Frank Wedekinds
prostituierte sich die Ehefrau sogar stärker. Die Dirne verkaufte sich für eine Nacht, die Ehefrau fürs ganze
Leben. »Lieben? – Nein, das bringt kein Glück auf Erden. / Lieben bringt Entwürdigung und Neid«, spottete er.
»Heiß und oft und stark geliebt zu werden, / Das heißt Leben, das heißt Seligkeit.«

»Damals formulierte sich der Wunsch nach freier Liebe«, fährt Stein fort. »Also nicht nur mit einem Mann ins
Bett zu gehen, weil er dir Geld zahlt oder weil er dein Ehemann ist, sondern weil man sich frei für ihn
entscheidet.« Dafür musste die Frau materiell unabhängig sein. Lange jedoch war ihre Berufstätigkeit
undenkbar. Der Erste Weltkrieg, als die Männer zu Millionen in den Krieg zogen, änderte die Lage radikal. Von
da an verdienten viele Frauen ihren Unterhalt selbst und mussten auch in Liebesdingen nicht mehr aufs Geld
schauen. Der Fotograf hat inzwischen in Erfahrung gebracht, dass nebenan Nina’s Bar ist. »Das berühmteste
Bordell der Stadt«, nickt Stein. »Nichts wie rüber«, sagt der Fotograf, der noch weitere Bilder von Stein machen
möchte. Also bricht man auf. Es gehe ihm nicht darum, eine Lanze für oder gegen das Dirnenlied zu brechen,
erklärt Stein beim Etablissementwechsel. »Ich untersuche, wie das Lied gesellschaftlich relevante Prozesse
widerspiegelt oder gar befördert.« Er würde gern eine Kulturgeschichte des deutschen Chansons schreiben. Denn
das ist auch seine künstlerische Überzeugung: Das Lied war nie bloße Unterhaltung. Deshalb ist es für ihn auch
kein Widerspruch, Wissenschaftler und Künstler zu sein.

Auch Goethe und Brecht schmiedeten gerne mal derbe Verse

Immer sei das Lied ein Ventil für gesellschaftlichen Druck gewesen. Und sei es auch nur, um auf subversive
Weise Obszönitäten rauszulassen, ein Mittel, um den Zwängen der Zivilisation eine Nase zu drehen. Dass es in
Animierliedern vor Schamlosigkeiten wimmelt, versteht sich: »Tuan ma’n eini, tuan ma’n eini / Tua m’s net
zreißen, / Steck ma’n eini ins vordre Loch, / ’s hintre ghört zum Scheißn«, sangen die Huren in den Wiener
Bordellen. »Aber auch Goethe hatte seinen Spaß am Derben«, sagt Stein und zitiert den Klassiker: »Für euch
Weiber sind zwey Dinge / von köstlichem Glanz: / das leuchtende Gold / und ein glänzender – «

Muss sich der Leser bei Goethe die Schweinerei noch selbst zusammenreimen, setzt Brecht auf Hardcore-Lyrik.
In den Augsburger Sonetten lehrt eine ältere Dirne eine jüngere das Metier: »Nicht immer ist es schmackhaft,
ungesalzen, / Sich einen bärtigen Schwanz ins Maul zu stecken / Und ihn, als wär es Lebertran, zu lecken.«

Nina’s Bar ist gut besucht. Alles vergnügt sich in Liebäugeleien. Doch kaum hat der Fotograf die Kamera
gezückt, avanciert der Dirnenliedforscher zur Attraktion des Abends. Selbst die Frauen machen große Augen.
Roger Stein bemerkt das nicht, er hat eine Gitarre entdeckt. Ob er eins der Lieder aus seinem Buch vortragen
soll: Ich bin die fesche Lola vielleicht? Einen Moment lang überlegt er. Nein, im Puff wird heute nicht mehr
gesungen.
Der Mensch…

Vom »Blauen Engel« bis zur »Dreigroschenoper«: Lieder über Prostituierte waren Anfang des 20. Jahrhunderts
populär. Mit ihnen provozierte eine ganze Künstlergeneration die Bürger und ihr antiquiertes Frauenbild. Sie
sind ein Beispiel dafür, »wie Kunst gesellschaftliche Entwicklungen vorwegnimmt«, findet Stein und belegt das
in seinem Buch: »Das deutsche Dirnenlied – Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht«, erschienen im
Böhlau Verlag.

…und seine Idee

Ob Heine oder Biermann: Schon als Junge stürzte sich Roger Stein aufs deutsche Liedgut. Er studierte
Theaterwissenschaft und Germanistik und absolvierte in Wien eine klassische Gesangsausbildung. Noch heute
widmet der Schweizer sich dem Lied wissenschaftlich und künstlerisch. Mit seiner Frau Sandra Kreisler tritt er
als Duo Wortfront auf. Ihre »Lieder eines postmodernen Arschlochs« bekamen jetzt den Preis der deutschen
Schallplattenkritik.

Das könnte Ihnen auch gefallen