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WeltanSChaBÜcheS. K a r f Hermann."
Kosmische Wanderung. Hans Benz-
v ;mann. A A A A £ ' ^ -A A -!$.

Die wirtschaftliche Entwickeimig. Xand-


«j^gerichts-ßat Hermann •'Krectö'/.'

Vogelers Yersnnkene Glocke in Bildern.


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v..vFerdinand Max Kurth.' -^'A '4.
.^Gefallene Mädchen". Adolf.Brand v

L ÄDÖLR BRAND'S VERLAG , |


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HEUE FOLGE. # L JAHRG.* HEFT 2.


A A A 2 . Sulihefl 1899. * A A

Inhalt:
Ecce Yenns-genus! Theodor Kix.o.
•Armer Junge! Hanns Heinz Ewers.

Verwirkl. Adolf Br and. A A A A


Wcllanschauliches. Karl H ermann.
Kosmische Wanderung. Hans Benz-
mann. A A A A Ä A A A A
Die wirlschallliche Enlwickclunn. Lami-
gerichts-ßat Hermann Krecke.

Vogelers Versunkene Glocke in Bildern.


Ferdinand Max Kurth. A A A
„Gefallene Mädchen". Adolf Brand.

ADOLF BRAND'S VERLAG


BERLIN - NEURAHNSDORF.

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POLf B R A H P ' 5 VCRLAQ * B£R.Ü[\-r\eUR.AHrv5I?OR.F :*,*.*.-.HU.:.
DER EIGENE
1
s t r e b t einen geistigen Tummelplatz feinsinnigen und eigenartig
veranlagten Menschen zu bieten, denen Kunst und Wissen-
schaft, Schönheit und Liebe, Freiheit und Vaterland kein leerer
Wahn, sondern denen sie e w i g - t r a u t e Geheimnisse und tiefe
Brunnen seliger Sehnsucht sind. — Ein Bahnbrecher „neu-
hellenischer" Kultur-Ideen, will er die Lebensauffassung der
Gedankenlosigkeit mit ihrer Elends- und Mitleidsmoral, samt
den Knechts-Idolen ihrer Gleichheitsflegelei, durch eine selbst-
bewusste, zukunftsherrliche verdrängen helfen, in der das
offiziell Geaichte, das Herdenmässige, den einsamen Eigen- ECCE VENUS — GENUS!
charakter nicht erdrückt. — Er fordert die freie, durch keine
Ks ist wahr, wir lieben das Leben,
Autorität gehemmte Bethätigung des Individuums, weil sie die nicht, weil wir ans Leben, sondern
sicherste Garantie für den sozialen Fortschritt bietet, für die weil wir ans Lieben gewöhnt sind. —
entwickelungsmässige, gewaltlose Neuordnung der Dinge, die Es ist immer etwas Wahnsinn in der
j e d e n in den Stand setzt, auf seine eigene Weise glücklich zu Liebe. Es ist aber immer auch e t w a s
Vernunft im Wahnsinn.
sein. Sein Ziel ist s o : die grösstmöglichste Wohlfahrt Allerl
Also sprach Z a r a t h u s t r a .

Was kauerst du im Nachtfrost an den Gittern


jfc •#• -fc ^ J a h r e s a b o n n e m e n t s %• %• •£•• Der Toten, wo die Lebensbäume zittern,
für 4,50 Mk. nehmen ausser A d o l f B r a n d ' s Verlag, Berlin- Wo alle Hoffnungen und Leiden modern
'Neurahnsdorf, alle Buchhandlungen des In- und Auslandes a n , : : - Und aus Miasmen irre Lichter lodern ?
ebenso alle Zeitungshändler — auf die Sonder-Ausgabe zu 10 Mk. L^nd was du graue Thränen weinst und jammerst
auch alle Postanstalten. Postzeitungsliste M 2242. •«• ^ -6- -6- -^ " Und dich um diese Marmorsäule klammerst,
Es erscheinen monatlich zwei Nummern. «^•sSS^j^wj-^SSs^S
Als wolltest du dem Toten all dein Leben
Aus deiner jungen Brust zu trinken geben!

•#• •£ * * * $faf W u n s c h • * - - & - * - * * Siehst du die gold'ne Schrift im Steine stehen:


erfolgt briefliche Zustellung und besondere Kuvertierung bei eiit „Die Lieb' hört nimmer auf. — Auf Wiedersehen!" —
sprechender Porto - Erhöhung. Lass ihm doch seine heilige Ruh', dem Braven!
Willst du denn noch bei seinen Knochen schlafen? —

Was starrst du so mich an mit deinen grossen


•*£• * * * * ProbenummeFn % -^ -^ -^ ^ Glühaugen, thränenblau wie Skabiosen ? —
stehen unsern Freunden jederzeit zur Werbung neuer Abonnenten Sieh' doch, wie droben tausend Sterne spielen
gratis zur Verfügung. Um solche direkt a n ' Interessenten ver- Und lüstern sich in alle Himmel wühlen!
senden zu können, ist jedoch auch die Angabe neuer Adressen
Der liigenc. — :>3 — 2. Juliheft I8!l!l.
stets erwünscht.
Und d u willst dir so kleine Trübsal machen, Du kamst zu mir — und um den bleichen Leib
W o ganze Welten miteinander lachen?! — In losem Wurf ein rot Gewand dir floss
Komm' . . . lehne dich an meine Schulter . . . sacht — Und in dem Gürtel trugst du dunkle Rosen.
Ich will dich tragen durch die kalte Nacht. Du sprachst: Ich liebe dich — und bin dein Weib —
* * Du sprachst: Die Liebe ist so gottesgross — —.
Und es umflackerten die fessellosen
Wir geh'n entlang die Kirchhofshecken Blutbraunen Haare dich wie Nordlichtnacht.
In den roten Abend hinaus. Und ich erbebte tief vor deiner Grösse .
Die schwarzen Totenkreuze strecken Doch wie mein durstiger Mund sich blutig brannte
Die breiten Arme nach uns aus. In deinen Nacken, hast du aufgelacht,
In meinem Arme Hegt der deine — Und drängtest mich, dass ich den Gurt dir löse —
Ich fühl' ihn lebenheiss erzittern. Und schmiegtest deinen Leib aus dem Gewände . . .
Dein grosses Auge irrt hinüber
Du sahst mich an, wie ich vor dir erschrak —
Auf die blassen Leichensteine
Die dunklen Rosen fielen in den Schoss
Zwischen rostbraunen Gittern
Und dufteten auf deine weissen Glieder —
Und auf verwilderte Gräber, darüber
Du sahst mich an, wie ich vor dir erschrak,
Der Trauereschen trübe Zweige
Und sprachst: Die Liebe ist so gottesgross —
Wie lange Thränen herunterfallen.
Und zogst mich auf die heissen Brüste nieder . . .
Cypressen starren im Totenreiche,
W i e stumme verrauchte Kerzen
Da hat dein Auge hell emporgelacht,
In öden Klosterhallen.
Als stiegen neue Welten in die Nacht.
Ich fühle dich beben . . . * *
Ich höre ein Pochen in deinem Herzen . . . *
Die Leichen sind tot — D a du noch in unseren heiligen Nächten
D o c h wir s i n d d a s L e b e n ! Gläubig mit mir wachtest
Und die glatten düsterroten Flechten
Sieh' doch, der Abend glüht rot —
Langsam lose machtest,
Sieh' doch die Fackeln am Horizont! Dass die Strähnen dir wie durstige Schlangen
Die Nacht ruft uns zum Küssegeben — "- Krochen auf die Brüste,
D u ! wir sind vom Leben Die so schwer nach Luft und Atem rangen,
Noch voll übersonnt! Wenn ich tief sie küsste — ;
Da ich noch im Flammen deiner heissen,
Aus den Cypressenkerzen schlagen
Höllendunklen Augen
F ü r uns die langen Flammen auf — Jeden Herzschlag aus dem schlanken, weissen
Mit roten Flackerzungen klagen Leib dir wollte saugen,
Die Toten in die Nacht hinauf. Wenn mich deine liebewilden Arme
Hörst du es, was sie mahnend sagen? Weltenstark umschlossen
Sie werden euch auch unter Eschen tragen: Und durch uns des ewigen Lebens warme
Dann hört es auf . . . . Schöpferhauche flössen — :

— U — 2. Juliheft 1899. Uer Eigene. — 86 - 2. Julibert 18SD.


Der Eigene.
Da v e r g a s s ich dich und deine Liebe,
Und ich wollte hassend
Dich ersticken, dass allein m i r bliebe,
A l l e Lust umfassend,
Alle Liebe!!

Aber da du fern bist, komm' nicht wieder!


Fürchte — fürchte mich!
Nur wenn einsam nachts ich sinke nieder,
Dann — d a n n l i e b ' i c h d i c h ! !
* *
*
In letzter Nacht sollst stumm du bei mir sitzen
In einem schwarzen Hemd mit roten Spitzen:
So schwarz als eine Totennacht —
So rot als eine Brautnacht
Sollst du bei mir sitzen.

Und sollst du tief und .schwer dich auf mich drängen,


Den heissen Mund in meine Lippen zwängen:
Dass hoch mir spannt die wunde Brust
In Totenlust — in Brautnachtlust ihm ein Brief die Ankunft von Verwandten ankündigte. So fragte
Unter deinem Drängen. ich im „Kater", wo ja allabendlich sich die Fremden in Capri
ein Rendezvous geben, ob nicht irgend ein anderer Lust habe,
Dann mag ich mich in wehen Schauern bäumen — mit mir zu gehen. Aber alle die Künstler und Offiziere mochten
Im Tode noch von allem Leben träumen: nicht; waren schon dort gewesen, oder hatten kein Geld, oder
Von dir, du nacktes Brautnachtweib! — hatten etwas anderes vor. Dann Hess sich mir Fritz v. S. vor-
Dann lass vermodern den Totenleib stellen. Er sei erst seit einigen Tagen hier, habe wenig Anschluss,
Unter Lebensbäumen. sei noch mangelhaft in der Sprache; ob ich die Liebenswürdigkeit
Theodor Etzel. haben wolle u. s. w. Ich war froh, einen Begleiter zu finden,
sagte natürlich: ja. — Mit dem Frühboot am andern Morgen
fuhren wir nach Neapel.
Fritz v. S. war einundzwanzig Jahre alt, von alter hessischer
Familie, Leutnant in einem hessischen Kavallerie-Regiment. E r
hatte eine Lungenentzündung gehabt, zur Rekonvaleszenz war
er im Süden. E r war ein hübscher Junge, von schlanker, leichter
Figur, schwarz, Augen und Haar, auf den Oberlippen der leichte
Anflug des schwarzen Schnurrbarts. In zwei Minuten kannte
ich seine Lebensgeschichte: Kadettenschule, Leutnant, Manöver,
Der Eigen«. — 38 — 2. Julihclt 1899.
Der Eigene. — 37 — 8. Juliheft 1899.
Rennen, Bälle, Tennisspielen. Aber er sprach davon mit einer leutnanttugend wohl nicht zu sehr verletzen. — Wenn Sie artig
gewissen müden Traurigkeit, ohne sichtbares Interesse. Aha, sind, sollen Sie übrigens meine Freundin gelegentlich kennen
mein Junge, dachte ich, irgend eine unglückliche Liebe! lernen. Sie wird Ihnen schon gefallen!"
Wir blieben vier T a g e fort: Vesuv, Pompeji, Castellamare, — — Fritz ging immer aus, wenn Hyppolita zu mir kam.
Sorrent. E r war von allem entzückt, doch schien es mir nicht Einmal jedoch blieb sie länger wie gewöhnlich. Sie hatte sich
jene frische auftauende Freude am Schauen, die nichts anderes verspätet, war erst um vier Uhr gekommen. Sie hatte die
in sich aufkommen lässt, jene vielleicht reinste Freude, die ich Gouvernante mit dem Knaben fortgeschickt und konnte nun
vor Jahren selbst empfunden und die ich so oft bei andern länger bleiben. Es mochte etwa sechs Uhr sein. Sie sass auf
beobachtet hatte. Es musste ihn noch etwas anderes beschäftigen. meinem Schoss, nur ihr Hemdchen an, und rührte im Theeglase.
Ich blieb nur noch kurze Zeit in Capri. Ging von da nach Da trat Fritz herein. Ich hatte ihm von ihr erzählt und ihr von
Taormina in Sizilien. Als ich abfuhr, brachte er mir einen grossen ihm, so glaubte ich die etwas peinliche Situation leicht halten zu
Strauss weisser Rosen ans Boot. ' Er fragte mich, wo ich im können. Hyppolita war aufgesprungen, sie standen sich gegen-
August sein würde. Ich antwortete: „Wahrscheinlich in Tivoli." über und sahen sich an. Und in ihrem Blick tauschten sie solch
— »»Wo d a ? " — „Chalet des Cascades." — A l s das Boot ab- tötlichen Hass aus, wie ich ihn beiden nicht zugetraut hatte.
fuhr, glaubte ich Thränen in seinen Augen zu bemerken. Dann, ehe ich noch meine leichte Phrase beenden konnte, ver-
beugte sich Fritz und eilte hinaus.
„Quel drole de chien!" lachte ich.
— Im August war ich nicht in Tivoli. Meine kleine Floren- Hyppolita — — eine Scene natürlich.
tiner Freundin wollte mit ihrem fünfjährigen Knaben den Rest Ein paar T a g e darauf überraschte ich Fritz im Garten,
des Sommers in ihrer Villa in Sestri verbringen; ihr Mann war dicke Thränen in den Augen. Ich fragte ihn nach dem Grund
in Florenz geblieben. Sie hatte mich überredet, auch nach Sestri — er gab keine Antwort. Endlich rief er: „Da — da —" und
zu kommen, so hatte ich mir dort eine kleine Villa gemietet. warf mir ein Stück Papier zu. Es war ein Bogen, auf dem ich
Eines Morgens Hess sich Fritz melden. am Morgen ein paar Verse für Hyppolita hingekritzelt hatte. —
„Sieh' da, Sie in Sestri?" Die Verse lauteten:
„„Ich war in Tivoli, ich hörte dort, dass Sie nicht hin- Mein kleines Mädchen hat blonde Haare,
Blonde Haare nach Florentiner Mode,
kommen würden, dass Sie — hier seien, da bin ich — auch —
Mein kleines blondes Mädchen scheitelt ihre Haare
hergekommen." a Grad' durch die Mitte nach Florentiner Mode.
Das kam zögernd heraus, er wurde rot wie ein Backfisch.
— Einen Goldreif hat mein blondes Mädchen,
„Na, und wo wohnen Sie denn?" Einen Goldreif hat sie am kleinen Finger,
„„Ich war schon in drei Hotels — es scheint alles überfüllt Und es küsst ihren Goldreif mein blondes Mädchen,
zu sein."" ' Küsst ihren Goldreif am kleinen Finger.
Das klang so traurig, er that mir ordentlich leid. „Sag' mir doch, sag' mir, mein blondes Mädchen,
„Passen Sie 'mal auf, Fritz, Platz habe ich genug hier: Was küsst du den Goldreif am kleinen Finger?"
— — nach hinten wirft sie das Köpfchen und die blonden Haare,
wollen Sie bei mir wohnen? Wir frühstücken hier, pranzo im
Küsst mich aufwärts nach Florentiner Model —
Grand Hotel."
— Am Abend stellte ich Fritz zur Rede.
Seine Augen leuchteten.
„Du bist eifersüchtig!?"
„Noch etwas, mein Junge. Zu der Stunde, wo jedes Jung-
Und recht aus dem Grund seines Herzens antwortete er:
gesellennest sein Vögelchen empfängt, müssen Sie unsichtbar
bleiben: Sie wissen ja, von drei bis fünf! Das wird Ihre Reiter- „Ja!""
Der Eigene. - 88 - 2. Juliheft 1899. Der Eigene. — 89 — 2. Juliheft 1899.
„Auf Hyppolita?" Ich sann nach. Diese Art griechischer Liebe kannte ich
nicht! Der Mann, der den Knaben lie t, dessen schlanke, bieg-
„Warum?" same Formen er bewundert — j a ! So Epaminondas, so Horaz,
„„Du liebst sie!"" so Tiberius. So Lord Byron und Graf Platen. So herab bis
„Sie ist schön, klug und lieb — ich mag sie gerne leiden: auf die vielen, vielen Männer, die ich getroffen hatte von der
Themse bis zum Nil. Der Mann, der sich als Mann fühlt, liebt
ja; ich liebe sie: — nein!"
den Jüngling anstelle des Weibes.
E r schrie beinahe:
Mir fiel Horaz ein:
„„Du liebst sie nicht!? — Du könntest jemand anders
— — — quo simul mearis,
lieben"?"?"" Nee tenerum Lycidam mirabere, quo calet Juventus,
„Ich glaube sogar, ich thu's!" Nunc omnis, — — — — — — — — —
, W e n ? " " — Das klang, als ob von der Antwort seine Nicht die männlichen, sondern die zarten, weichen, knaben-
Seligkeit abhinge! haften Linien liebt und besingt er.
A b e r ich verstand ihn noch immer nicht. Aber Alkibiades? — Ich rufe mir Piatons Gastmahl ins
Ich lachte:
Gedächtnis zurück. Er stellt dem Sokrates nach, wie die Madame
„Dich gewiss nicht, guter Junge! — Sie wohnt jenseits der
Potiphar dem Josef, seltsam — mit demselben negativen Resultat.
Alpen und ist gross und schlank und schwarz!"
Freilich sind die Motive für die ausgeteilten Körbe andere —
Die Antwort schien ihn wie ein Peitschenhieb zu trcllcn. die Keuschheit des frommen Josef und der hochmütige Stolz des
Er zitterte, schluchzte. — Mit einer gewissen Zärtlichkeit strich Sokrates, der den reichsten und vornehmsten, den schönsten und
ich sein H a a r : gebildetsten Jüngling Athens zurückweist. — So meint wenigstens
„ W a s ist dir, Junge?" Alkibiades. Oder aber — war Sokrates nur nicht homosexuell
Und nun machte er mir sein Geständnis. Er kniete vor veranlagt?? — Das ist doch so viel einfacher!
mir nieder, ergriff meine Hände. Und er sprach von seiner Liebe Doch das interessiert mich nicht. Ich suche die Gründe,
zu mir in so glühenden Farben, in so herzzerreissenden Tönen, die den Alkibiades bewegen konnten, seine Verführungskünste
wie ich es nie aus Frauenmund gehört hatte. bei Sokrates zu versuchen. Und da finde ich dasselbe, was er
Als er geendet, stand er auf, ging zu seinem Stuhl zurück. dem Sokrates als Motiv seiner Weigerung unterschiebt; nicht
„So," sagte er, „nun — verachtest du — mich!!" Liebe, sondern Ehrgeiz und Hochmut! Ja, das ist es: von d e m
„„Ich denke nicht daran! Jetzt — geh' zu Bett!"" Manne will er geliebt werden, den er, den einzigen, bewundern
E r wollte meine Hände küssen, ich konnte ihn kaum muss; nicht lieben will er — geliebt werden, von dem Sokrates,
hindern. den das stolze Athen als Ersten anerkennt. Will ein neues Lorbeer-
„„Geh' jetzt zu Bett!«" blatt für seine Locken pflücken.
E r ging. Nein, auch das ist es h i e r nicht.
Das also war es! — Und ich Narr hatte nichts davon ge- Die Liebe dieses Jünglings ist anders. Noch klingen mir
merkt, g a r nichts! Weder damals in Capri noch jetzt während seine Worte in den Ohren:
der drei Wochen — nun erst verstand ich seine Thränen, als „ — dein selbstbewusster männlicher Gang, deine
ich von Capri abfuhr, nun erst diese plötzliche Ankunft in Sestri, breite Brust, dein kräftiger Schritt, das Höhnische, Überlegene in
nun erst die wütenden Blicke Hyppolitas. Dieses Weib hatte deiner Stimme, das spöttische Zucken um deine Lippen —
also einen schärfern Blick als ich! oh, ich bete dich an!"

Der Eigene. — 40 — 2. Julihert 1899. Der Eigene. — 41 — 2. Juliheft 1899.


— • Nein, seine Liebe ist nicht die des Mannes: E r antwortete nicht.
er liebt in mir den Mann, er, der sich als Weib fühlt! — „Und sieh', mein Junge, du wirst dichtrösten. G l a u b ' m i r :
Armer Junge! ich verstehe deinen Schmerz. Meinst du, ich habe nie durch
— Am folgenden T a g e machte mir Hyppolita wieder eine Nächte durchgeweint und die Lippen mir wund gebissen, wenn
Scene. Ich solle Fritz wegschicken; er sei ihr unsympathisch; mich ein geliebtes Weib verlassen ? Aber für die Schwarze fand
er habe den bösen Blick u. s. w. — Ich fragte nach Gründen. ich die Blonde und für die Blonde die Brünette, und in den
Sie wusste keine. Armen der einen vergass ich die leichten Wunden, die mir die
Aber als mich ihr Klagen schliesslich langweilte, als ich ihr andere gekratzt. — Auch du wirst einen andern finden für deine
sagte, dass sie ein Kind sei, dass ich ihn gerne hätte, dass er Liebe, wirst mich vergessen."
mein Freund sei — — — da kreischte sie plötzlich auf: Er sprach noch immer nicht.
„ E uno finocchio,, un orecchione! Un figlio del cane ! Figlio Erst als wir vor unserer Villa standen, blieb er stehen:
del cane!" „„Sagtest du mir nicht einmal, du seiest polygam ver-
Sie sah aus, wie ein Fischerweib von Santa-Lucia. Sie war anlagt?""
entzückend in ihrer W u t ! Einfach herrlich! „Ich glaube es."
Ich hatte sie beinahe lieb. „„Glaubst du, dass es Männer giebt, die monogam veranlagt
Und dann schlang sie ihre Arme um mich, weinte und sind, die nur einmal und nur ein Weib lieben können?""
schrie. Ich solle ihn wegschicken, morgen, heute noch! .Ja."
— Natürlich versprach ich es ihr. „„Nun — so ähnlich wird es auch bei mir sein!""
K a u m war sie fort, so trat Fritz herein. „Ach was — Unsinn!" rief ich. Aber es kam mir nicht
„Ich habe gehört, was ihr gesprochen, ich war im Neben-
von Herzen, ich fühlte, dass er Recht hatte.
zimmer."
A m andern Morgen brachte ich ihn zur Bahn. Als
„„Du verstehst nicht italienisch.""
der Z u g einlief, sagte e r :
„Ich habe jedes Wort verstanden!"
• „Willst du mich zum Abschied küssen?"
n »Du weisst, was ""
„ W a s finocchio heisst oder orecchione?! Freilich weiss ich's! „„Warum n i c h t ? " " antwortete ich.
Soll ich dir's auf deutsch sagen ?" Ich hatte hundertmal Freunde beim Abschiede geküsst;
„„Ich danke!"" thut's doch jedermann in Südfrankreich und Italien. Warum ihn
„Ich — ich — muss weggehen?" nicht ? — Und doch widerstrebte es mir, ich zögerte einen Augen-
Ich nahm mich zusammen: blick." Dann fasste ich einen herzhaften Entschluss, nahm seinen
„„Es wird wohl das beste sein!"" Kopf in meine Hände — Aber als mich sein Blick traf,
sanken mir die Arme herunter.
Wir gingen zum „pranzo", dann zum Konzert. Als „Ich kann nicht," murmelte ich. —
wir nach Hause gingen, hatte ich das Bedürfnis, noch einmal mit —- — Und ich kam mir vor wie sein Henker I
ihm zu sprechen. Der Zug fuhr a b ; in seinen Augen zitterten dieselben Thränen
„Höre 'mal, Fritz," sagte ich, „es ist wirklich das beste, wie damals in Capri, in meinen Händen lag ein selber Busch
wenn du gehst. Ich glaube, ich verstehe dein Fühlen. Aber ich weisser Rosen. Ich biss meine Lippen zusammen und küsste die
kann dir nicht helfen; meine Natur ist so ganz anders: i c h liebe Rosen. — D a sah ich ihn jämmerlich, herzzerreissend auf-
das Weib." schluchzen

Der Eigene. — *2 — 2. Julibeft 1899. Der Eigene. — 43 — 2. Juliheft 1899.


Als ich vom Bahnhof ging, warf ich die Rosen fort und
wischte die Lippen ab.
Armer, armer Junge!
— Zwei T a g e darauf las ich im „Osservatore", er habe
sich in Rom erschossen. Ich zeigte das Blatt Ilyppolita, zugleich VERWIRKT.
erzählte ich ihr, was sie noch nicht wusste.
Sie jauchzte auf: Am blauen See, am bunten Blumenhang,
„Io son' contenta, son' ben' contenta!" Sass hold mein Liebling fein und sang —
— Sie wurde stiller:
In seinem Schosse lag ich still im Traum,
„Ich will für ihn beten. — Ich will eine Messe für ihn lesen
Sah Paradiese, frohster Minne Baum.
lassen. W a r er katholisch?"
„„Nein."" Sah Sonnenkönigspurpurs stolze Lust
„— — Ich will — doch für ihn beten!" Den Himmel winden um die weisse Brust,
Dann strich sie ihr blondes Haar aus der Stirne, als
ob sie die Gedanken auch wegstreichen wolle, und küsste mich, Um seine Locken milden Heilandsglanz,
küsste mich: Im Blättersäuseln und beim Wellentanz.
„Io t'amo, io t'amo, io t'amo!"
Da rief ein Vöglein leis im tiefen W a l d :
N e a p e l , März 1898. Hanns Heinz Ewers.
Geliebt, geliebt! Sag es dem Knaben bald!

Rasch küsst ich jauchzend Fuss ihm heiss und Hand


Und wild ihm fort den keuschen Heilandstand —

' Der Knabe aber sah mich klagend an,


Dass all mein Glück wie Abendgold zerrann! —
/cdolf Brand.

Oer Eigene. — 44 - 2. Juliheft 18»«. Der Eigene. Juliheit 1699.


ganz anderen Formierungspuhktel Diese durchgehende Differenz
entspricht der inneren Wertspannung (zwecks polarer Steigerung),
um das Kind beim modernen Namen zu nennen.
Wir dürfen uns daher herüber und hinüber nicht augen-
scheinlich — dem Effekt nach — vergleichen; müssen es vielmehr
inhaltlich thun, d. h. in bezug auf die betreffenden Personalien.
Dann urteilt man individuell! Es wäre z. B. sehr verkehrt, die
WELTANSCHAULICHES. Begierde nach der Nacktheit, wie sie der Rohmensch und der Künstler
zugleich haben, in ein und dieselbe Beurteilung zu stellen: was für
W enn unser Schlimmstes wider den heiligen Geist die Angst
ist, so ist gewiss eine unserer schönsten Genugthuungen jene
an einem stattlichen Gegensatz I Liebe deine Gegner, wo
den Einen sich verbieten mag, erlaubt sich dem Andern! Wenn
zwei dasselbe thun, sagt ein gutes, wenn auch von der sozial-
demokratischen Zensur viel angefochtenes Sprichwort: so ist es nicht
sie dem Lebendigen dienen! Ist eine Kraftäusserung nur direkt
verwandt, auch in einer sich scharf abhebenden Sonderart: gut! dasselbe! Aber indem Jeder seine eigene Norm ausfindig macht
Aber auch die gegnerische Berechtigung befriedigt mich, weil sie, und — statt sich schlechtweg ins Verhältnis zu Anderen, d. h. zum
sobald sie eine starke Note anschlägt, in meinem Gehirn mich auf- Augenschein zu setzen — sich ins Verhältnis zu sich selbst setzt,
sucht, sich daselbst meinem Zusammenhang einverleibt, d. h. Rede findet der Anschluss auf der ganzen Linie statt: das Entsprechende
und Gegenrede erzeugt und somit zu mir gehört! Aus diesem in seinen besonderen Formen, das Allgemeingiltige in seiner indivi-
Grunde ist der Fanatismus immer ein Widersacher des Lebendigen, duellen Fassung giebt Aneinanderreihung all jener Verschiedenheiten,
weil er privates Für und Wider dort aushängt, wo es sich um die in sich das Gleiche symbolisieren, d. h. das (in sich progressiv-
Angelegenheiten handelt, in denen die Menschheit sich in jedem differenzierte) Allselbst zur Erscheinung bringenI
denkenden Kopfe wiederholt, sei es nun in der Form von Rede oder Unsere Gesetzgebung hat allerdings den „demokratischen" Satz:
Gegenrede! Vor dem Gesetze sind wir alle gleich! Und wenn sie Ausnahmen
Wenn alle Zeiten nur immer dasselbe offenbaren, wenn im macht, sind es leider auch wiederum meist ebenso ungerechte Aus-
,Wechsel der Namen die Geschichte Gottes sich verzeichnet — so dass nahmen nach dem Motto: Die einen hängt man und die andern
das erste Märchen die erste Wahrheit war und die letzte Wahrheit lässt man laufen! Aber ich begreife die Schwierigkeit, vor der
nur ein letztes Märchen sein wird; der Unterschied aber zwischen der Staat steht, sobald er sich auf individuelle Messungen einlassen
allem Mythos nur in jener Skala von Verhältnisgrössen liegt, welche seil: Ich begreife aber auch den Widerwillen eines Nietzsche und
ich die Entwickelung des aus sich selbst Hervorgegangenen nenne, — Anderer vor jenem Pathos, mit welchem jene doch rein „utilitarische"
so beantwortet sich auch die Frage, ob wir noch etwas mit dem Gesetzesegalität als Gipfel humaner und freiheitlicher Gerechtigkeit
Begriff „Sünde" anzufangen vermögen, sehr einfach! Was der von.dem Demos gepriesen wird. Ueberhanpt ist die Zarathustra-
kindliche Sprachlant Sünde nannte, stellt sich uns als ein durch- lanze gegen die naive Annäherung des Massenmenschen*) recht
gehendes Gegenmoment in der Wertbewegung der Kräfte dar, ein erklärlich: gegen jenes nivellierende Evangelium, das in der abwärts-
Moment, das sich nur immer je nach Niveau des Menschen anders
formt! Dieselbe „Sünde" ist bei zweien (niveauverschiedenen) *) E s fällt m i r auch n i c h t ein, m i t dieser B e z e i c h n u n g irgend eine
Menschen nicht dieselbe, d. h. derselbe Augenschein hat eine ver- private Geringschätzung aussprechen zu wollen; sind w i r doch alle n i c h t
bestimmt, irgend eine W e r t p h a s e , in der wir u n s von überlegenen Nachbar-
schiedene Triebfeder. Aber mag dies Grundmotiv noch so verschieden
w e r t e n r ü c k s t ä n d i g unterscheiden, zu umgehen. Sofern w i r aber darin n u r
sein, soviel ist sicher: Jeder hat seine Sünde, d. h. seine eigene wieder unsere eigene Ueberlegenheit zurücknehmen, fällt die Isolierung irgend
Differenz in sich —: Wenn auch jeder vielleicht wieder in einem eines Zustandes, u n d d a m i t der G r u n d zur ungerechten Klassifikation weg.

Der Eigene. — 46 — 2. Juliheft 1899. Der Eigene. — 47 - 2. Juliheft 189».


definierten Gleichheit und Brüderlichkeit nur dem eigenen kontra- ins Ganze ausstrahlende Selbstdramatik herumbetrügt — und er
punktierten Horizonte ausweichen will! Leider überstürzt sich das hasst, freilich mit blindem Stosseifer — das Christentum, weil er
Nietzschetum in seiner Abwehr ebenfalls, wenn auch immer noch in ihm den Träger verkappter Rücksichtslosigkeit sieht, — und wie
so, dass ein taktvoller Kopf, (Glossisten wie Dr. Türck vermag ich denn auch ein gut Teil Sanktion eines sentimentalen Massenanspruchs
nicht dazu zu rechnen) es selbst in seinen Purzelbäumen noch auf christliche Rechnung zu setzen ist! Steht nicht, genau besehen,
interessant genug finden kann, interessanter jedenfalls, als ein ganzes Not gegen Not? Sollen die Individualitäten ewig das Brandschatzungs-
Schock gesetzter Weisheit zusammen. Aber abgesehen davon, dass objekt der Individuen sein? Soll die Masse ihre Unzulänglichkeit
Nietzsche das Dichtervorrecht für sich beanspruchen darf, alle ewig auf Kosten der Persönlichkeiten zur Tugend umtaufen dürfen?
Möglichkeiten des Gehirns in sich aufzuwerfen, wird er auch in seinem Warum sollen nicht aucli einmal die Armen am Geiste resignieren?
Paradoxieren selten verstanden! Da klagt man über seinen Aus- Gilt ihnen die altruistische Predigt zu gunsten der Oberwerte etwa
spruch: „Leiden sehen thut wohl — leiden machen noch wohler!" weniger? Ist die Notlage derer, die nach Schönheit und Ausbreitung
Sagt denn nicht auch Jesus dasselbe mit den Worten: „Ich bin hungert, weniger brennend, als die populäre Magenfrage? Wenn
nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert!"? schon die Voraussetzung richtig wäre, dass es sich im Existenzstreit
Es Hesse sich noch eine Reihe ähnlicher, auf heroische Forderungen aller um eine auf Entselbstung lautende Alternative handelte —
hinauslaufende, Sprüche Jesu beifügen, die ebenso schon das Schicksal sollte nicht zur Abwechselung auch einmal der Massenegoismus sich
einer vorwurfsvollen Anfechtung auf sich luden, wie das Orakel dem Egoismus der Persönlichkeit unterwerfen? Aber was das
des Alsosprechers. Stirner-Nietzschetum zu einem die Gewaltlhat in sich bergenden
Nietzscho hat ganz Recht, wenn er eine gewisse landläufig Antagonismus aufbauschte, stellt sich Umtsächlich in einer einheitlichen
gewordene Sorte von Wehleidigkeit auf dieselbe Stufe stellt mit dem, Analyse als gewaltlose Lösung darl
was man sonst einen ganz gewöhnlichen Egoismus zu nennen pflegt! Es bedarf keines Kampfes aller gegen alle und keiner Herren-
Und er wittert scharfsinnig genug hinter dem vielausgepaukten diktate; an Stelle der Resignationspraxis tritt die Übereinstimmungs-
Kultus des Mitleids*) eine versteckte Rückversicherung — eine lehre — an Stelle jener Freiheit des Egoismus, welche mit ihrer
Association auf gegenseitige Schonung in punkto Landgraf! Den unbedingten Bejahung aller Widersprüche zur Narrenfreiheit führt,
Nächsten lieben, heisst nicht seine sentimentale Lässigkeit unter- tritt das Identitätsgesetz, in welchem die Welt des Massenmenschen
stützen, sondern ihn leidensfähiger, heroischer machen! Denn die' — (worunter ich den Mammon- und Wappenpöbel so gut wie den
aus der grossgezüchteten Notseligkeit, aus der Armutsempfindlichkeit Hinterhausmob einbegreife) seine folgerichtige Selbstentgegnung
herausgefolgerte Schröpfung des Herzens, geht vielfältig auf Kosten findet! Frei ist nur derjenige Egoismus, der seine wahre Definition
individueller Entfaltungsbedingungen und damit auf Kosten des erlangt, sich mit seiner vollbegreiflichen Richtung deckt: nicht der-
gesamten sich im Umlauf individueller Werte entwickelnden Gesell- jenige,-der zum Unsinn wird und die Apotheose der Willkür illustriert.
schaftskörpers, der Societät. Nietzsche fordert — und er thut dies Die. Masse besitzt eben im Erstwert vorangestellter Kräfte ihre
mit dem Plan eines gewaltigen Gegenschlags — zum Heroismus auf, eigene Bewusstseinsschwelle, über welche der in allen liegende Er-
er hasst die Verhätschelung, in der der Nachsichtige sich um die gänzungstrieb in die weitergehende Logik der Selbstsucht tritt! Die
unzulängliche Relativität setzt sich im Zusammenhang alles dessen
*) Natürlich fällt es mir nicht ein, das Mitleid, das Schopenhauer so fort, was die ganze Gattung gleichsam zu einem einzigen grossen
schön zu apostrophieren weiss, schon 'im Prinzip herabsetzen zu wollen. Ichvorgang macht, der nur in der Vervielartung sich variiert! Also
Im Gegenteil: wo es zum Weltfaktor wird, zählt es zu unserem herrlichsten
Können, meine Einschränkung bezieht sich nur auf jene diplomatische Rolle, nicht aus Unterwerfung unter die Norm einer Herrendiktatur, —
welche die Sentimentalität an the other hand gegen die Persönlichkeits- (der die Menge doch blos die Norm einer Majorität entgegensetzen
gesetze und ihre Unterscheidungen ausspielt. würde: „Wie du mir, so ich dir") — sondern aus Identitäts-
Der Eigene. — 48 — 8. Juliheft 1899. Uer Eigene. 2. Jnliheft 1899.
— « —
erkenntnis, aus egoistischem Vollständigkeitstrieb ordnet sich der Geht doch alle Auferstehung durch das Chaos hindurch: am dritten
Unterwert seiner Perspektivität ein: opfern sich die beschränkten Tage! Das erste Märchen war die erste Walirheit und die letzte
Eadien den ausgreifenderen, um so zur Selbsterfüllung zu streben! Wahrheit wird das letzte Märchen sein! Aber die Furcht ist des
Dieses Opfer, welches eben in Walirheit einen Zuschuss bedeutet, Menschen Schlimmstes wider den heiligen Geist und seine Tugend
ist das einzige, das naturgemäss und freiheitlich stattfindet, weil richtet sich auf, ohne Vorurteil, aber im bindenden Allhaupte ein
es der eigenen Norm entspricht! Urteil! Denn seine Unterscheidungs-Mission ist, Gottes Selbst-
Sothanen Selbsterguss und damit die Ungleichwertigkeit erschauen zum eigenen Anblick zu machen! Oder wie es die Wissen-
(— welche meist mit blosser Ungleichartigkeit verwechselt wird —) schaft trockener nennt: die Weltwendung des in ihr sich selbst
dessen, was unter Egoismus verstanden werden kann, versäumte erfüllenden Vollbegriffs!
Karl hferman.
das Stirner-Nietzschetum zu analysieren. Ihm fiel der in ein und
demselben Selbstwesen statthabende Differenzvorgang in zertrennte
Bezieliungslosigkeiten auseinander, denen damit der Charakter des
Gleichberechtigten im absoluten, statt bloss bedingten Sinne ver-
liehen ward, so dass die Lösung zwischen gleichgesetzten Anta-
gonismen dann allerdings nur noch im Gewaltsinn denkbar wird.
Nietzsche ist metaplrysisch nicht mit sich im Reinen: er übersetzt
die in ihm gäluende Idee eines in sich absoluten „Für sich", also
den VollbegrifF, schon in die,Erscheinung und verlegt sich damit
gerade den Weg zur Selbstbestimmung, dessen feurigster Anwalt
er werden wollte. Die Praxis giebt auf die zweideutige Dialektik
eine andere-Antwort: Es ist deshalb Sache derer, welche an Stelle
des Einzigen und seines gedruckten Eigentums den Eigenen in realiter
zu setzen gewillt sind, die Ableitungsformel zu greifen, aus der,
wie wir zeigten, ein folgerichtiger, weil kritischer Egoismus seinen"
Bedarf bezieht!
Auch der kleine Spass, den sich eine rudimentäre Persönlichkeits-
theorie leistete, indem sie den Zweckbegriff über Bord tanzte, ist
nicht tragisch zu nehmen. Es kann sich dabei blos um einen Ausfall
gegen jene handeln, die das Zweckliche stets zu kurz nehmen, um
zu philiströsen Teleologieen zu gelangen. Der Totalzweck alles
Lebendigen, der in der Selbstmanifestation auf dem Wege der Mittel-
barwerdung besteht, wird von einem Einheitsdenken durchaus nicht
geleugnet l
Und ebenso untriftig ist die Scheu vor dem „Chaos", dem
Lieblingspfiff gewisser Halbphäaken! So ihr nicht das Sterben lernt,
werdet ihr nicht leben! Sogar der sanfte Nazarener wurde in diesem
Sinne schon von manchen Auslegern zum „Anarchisten" geweiht.
Der Eigene. — 60 — 2. Juliheft IM!). Der Eigene. — 51 — 2. Juliheft 1899.
In einer wunderbaren Nacht
Hielt ich mit meiner Seele Rast . . .
O Seele, sprach ich, sieh' die Pracht,
Die du nun ganz ergründet hast —

O Seele, wenn einst mehr als dies


KOSMISCHE WANDERUNG. Die ferne Menschheit froh geniesst,
Die Erde wie ein Paradies
Ich ging gen Sonnenuntergang, Von Frucht und Fülle überfliesst —?
Und meine stille Seele trank,
Leis' faltend ihre Flügel, Komm, sprach die Seele, du wirst seh'n:
Den Duft der Heidehügel: An aller dieser Erdenpracht
Wirst du nun still vorübergeh'n
Ich sprach beglückt: O Seele du, Schlaftrunken in die ewge Nacht . . . .
Wie wunderbar ist diese Ruh'!
JHans Benzmann
Hast du ihn nicht vernommen?
Gott ist zu uns gekommen —

Fuhr meine Seele da empor: () du vergisst,


Dass du weit mehr als Gott und Weltall bist!
Lass uns an ihm vorübergeh'n,
Mag er auf unsre Spuren seh'n! . . .
* *
*
Und rüstig schritt ich weiter fort,
Als wieder eine Frage schlich
Scheu über meines Herzens Bord,
Der meine Seele nicht entwich . . . .

O Seele, gross ist deine Macht!


Was niemand weiss, nur du allein
Weisst alles nun, was w e i s e macht,
Und deine Fülle, sie ward dein —

Sprach meine Seele: Thor, du siehst


Nicht weiter, als dein Atem fiiesst!
Nun wandern wir den W e g zurück
Und suchen deiner Kindheit Glück . . .
* *
*
Der liigeno. — 03 — 2. JulilicTL lK'.i'J. — 58 — 2. Julibeft 1899.
fassenderen Bewusstsein zu bringen und dadurch die weitere bewusste
Erkenntnis vorzubereiten, dass dieses Gesetz auch auf höheren
Lebensgebieten wirksam ist. So unsagbar kleinlich daher auch im
einzelnen manche Erscheinungen des heutigen wirtschaftlichen Kampfes
erscheinen mögen und gerade bei geistig höher Strebenden den
Abscheu erwecken, sich mit solchen Dingen stumpfsinnigster Selbst-
sucht zu befassen, der Kampf als solcher ist von der weittragendsten
DIE WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKELUNG. Bedeutung und sein Ausgang zweifellos der Beginn einer säkularen
*
Menschheitsepoche, in der nicht mehr instinktiv wie bisher, sondern
K ein Verhältnis ist mehr geeignet, die Richtigkeit der bisher
erörterten allgemeinen Gesichtspunkte zu bewähren, als die
menschliche Wirtschaft. Sie ist der dem heutigen Verständnis
mit wachsendem Bewusstsein von breiten Schichten die Menschheits-
entwickelung gefördert werden wird, wo dieses objektive Entwicke-
lungsgesetz als Norm des subjektiven Handelns erkannt und iu
am meisten einleuchtende induktive Beweis für die durch die bis-
herige Deduktion gewonnene Erkenntnis; und indem die wirtschaftlich freier Selbstbestimmung in den eigenen Willen aufgenommen und so
sich entwickelnde Menschheit in ihrer geschichtlichen Gegenwart der Gegensatz von objektiver Notwendigkeit und subjektiver Freiheit
und nächsten Zukunft diesen Beweis selbst liefert, diese deduzierte zum erstenmal durch Selbstbestimmung der Massen aufgelöst werden
Wahrheit selbst erlebt, wird diese Wahrheit zum allgemeinsten wird. Diese freie Selbstbestimmung schafft die Massen zu einem
ßewusstseiu kommen. Heute freilich herrscht hinsichtlich der wirt- Organismus um. Die bisherige Entwickelung ist die Vorbereitung
schaftlichen Dinge noch sehr wenig Übereinstimmung; das unmittel- auf diesen Geburtsakt, dessen Wehen wir heute durchmachen.
bare selbstische Interesse, das die meisten an der Wirtschaft nehmen, Dem unbefangenen Beobachter tritt die Integrationstendenz der
treibt die Menschen auseinander und richtet scheinbar unüberbrück- wirtschaftlichen Entwickelung, die auf einheitliche Zusammenfassung
bare Gegensätze unter ihnen auf. Dem unbefangeneren Beobachter der durch individuelle Verschiedenheiten getrennten Einzelpersonen
zeigt aber die wirtschaftliche Entwickeluiig besonders deutlich die gerichtet ist, in doppelter Weise entgegen. Zunächst rein äusserlich
geistig-positive Tendenz des Fortschritts, so dass kein Zweifel be- betrachtet, folgen auf die urmenschliche Einzelwirtschaft des im wesent-
stehen kann, der Fortgang der wirtschaftlichen Entwickelung werde lichen nur okkupierenden Wilden die geschlechterrechtliche und terri-
sich künftig noch mehr wie bisher im wesentlichen in den Bahnen torialgenossenschaftliche Viehzucht und Landwirtschaft der Familien-
der friedlichen Kraftsteigeruug bewegen.. Wie die menschliche Wirt- und Stammverbände. Hier vollzieht sich die erste auf Autorität und
schaft bisher gewachsen ist durch Zusammenfassung (Integration) Herrschaft gegründete Gliederung des Produktionsprozesses, während
wirtschaftlicher Einzelkräfte zu einer potenzierten Gesamtkraft, so die Veuteilung der Verbrauchsgüter zunächst im wesentlichen innerhalb
wird sie auch künftig in derselben Weise weiter wachsen bis zur des in sich geschlossenen kleinen Produktionsverbandes stattfindet.
allseitigen einheitlichen Zusammenfassung sämtlicher wirtschaftlichen Unter allmählicher Auflösung dieser Verbände entwickelt sich die
•Einzelkräfte, womit dann die wirtschaftliche Entwickelung der auf V e r t r a g s f r e i h e i t gegründete Ordnung der Gütererzeugung
Menschheit ihr Endziel erreicht hat. Und so sonderbar es der und der alle Verbrauchsgüter an sich reissende Handel der modernen
üblichen Auffassung erscheint, erkennen wir von dem höheren Stand- Verkehrswirtschaft. Wie diese Verkehrswirtschaft mit ihrer Arbeits-
punkte, zu dem unsere allgemeinen Betrachtungen uns geführt haben, teilung und parallel gehenden Arbeitsvereinigung immer mehr die ihrer
gerade den heutigen heftigen Kampf um die wirtschaftlichen Grund- Sonderart der Vertragsfreiheit entsprechenden Formen wachsender Zu-
lagen des Menschheitskörpers als das notwendige und höchst wirk- sammenschliessung (Aktiengesellschaften, Produktionsvereinigungen,
same Mittel, das polarische Entwickelungsgesetz zunächst an dieser Banken und Börsen) herausbildet und wie dabei die in den meisten
niederen Lebensäusseruug der Mensclüieit zum klareren und um- übrigen Lebensäusserungen der Völker streng innegehaltenen natio-

Der Eigene. — H - 2. Juliheft 1889. Der Eigene. — 55 — 2. Juliheft 1899.


nalen Schranken immer leichter vom Welthandel übersprungen werden, dieser Kampf aber, in den das Wirtschaftsleben unter solchem An-
das ist ein vor unsern Augen sich vollziehender Vorgang. Diesen trieb immer wieder hineintreibt, erscheint dieser einseitigen Richtung
äusseren Formen entspricht aber auch das innere Wachstum an als das Wesentliche, die Entwickelung Fördernde. In Wahrheit ist
Verständnis für weitergehende gemeinsame Ziele und an Bereit- dieser Kampf der egoistischen Interessen nur die eine (negative)
willigkeit, diesen über die Einzelpersönlichkeit hinausführenden Seite der Entwickelung, ihre Differentiationsbahn. Denn die wirt-
Zwecken sich freiwillig zu widmen. Nur wenn wir diesen inneren schaftliche Entwickelung hat wie die Gesamtentwickelung eine
Umwaudlungsprozess in der Strebensrichtung der Völker als die doppelte Bewegung, die Entstehung und Auflösung des Gegensatzes;
eigentlich treibende Ursache der in der Wirtschaft sich vollziehenden sie ist auf der grossen Kreisbahn der Gesamtentwickelung gleichsam
gewaltigen Umwälzung richtig würdigen, werden wir neben dieser ein kleiner Kreis, ebenfalls mit ab- und aufsteigendem Bogen. Inner-
wirtschaftlichen Evolution auch die sonstigen Äusserungen der sozialen halb dieses kleinen Kreises differentiiert sich der Gegensatz in seiner
Evolution einheitlich aufzufassen vermögen und insbesondere in dem ihm eigentümlichen, hier also wirtschaftlichen Art, in der Weise,
unruhigen Befreiungskampfe der sozial emporstrebenden Menschheits- dass wirtschaftliche Sonderbestrebungen wachsender Gegensätzlich-
schichten überall dies Streben verfolgen können, durch organischen keit auftreten, die erst auf der zweiten Bahnhälfte durch die Ein-
Zusammenschluss die Einzelkraft zu potenzieren und so gleich heitsbestrebungen des gestiegenen Bewusstseins allmählich über-
mächtig wie gleich berechtigt mit den heute herrschenden Klassen wunden werden. Auf der Differentiationsbahn der wirtschaftlichen
in eine neue Ordnung sich einzugliedern. Aber auch auf mehr Entwickelung stellen deshalb auch die wirtschaftlichen Sonder-
geistigem Gebiete ist dieser „Verbrüderungs"Vorgang zu bemerken bestrebungen, wie die Geschichte zeigt, — absolut genommen —
und ist nicht einmal auf die Menschheit beschränkt, greift vielmehr eine stets wachsende Kraftgröese dar trotz der auf fortschreitende
auch auf die übrige organische Welt hinüber, wie Tierschutz und Zusammenfassung hinzielenden und dadurch wachsenden G e s a m t -
Vegetarismus. Die mehr oder weniger von einem metaphysischen energie, zu dessen Einheitsbestrebungen sie beständig an r e l a t i v e r
Standpunkte ausgehenden theosophischen Richtungen der Neuzeit Bedeutung abnehmen, bis auf der Integrationsbahn auch die absolute
sind hierher zu zählen. Steigerung der Sonderbestrebungen in eine absolute Abnahme um-
schlägt. Das Maximum dieser individuellen Sonderbestrebungen liegt
Neben dieser zusammenführenden Tendenz der Entwickelung
also in der Mitte der Entwickelungsbahn, auf der Scheide der
ist aber, da eben jede Entwickelung auf einem polaren Gegensätze
Differentiation und Integration. An diesem Punkte der wirtschaft-
beruht, die entgegengesetzte Tendenz der Trennung und Sonderung
lichen Entwickelung befinden wir uns aber augenscheinlich gegen-
nicht zu verkennen; sie ist die Negation dieser neu sich regenden
wärtig, und daraus erklärt sich zur Genüge die Schärfe des wirt-
Tntegrationskraft, von der sie überwunden werden soll und wird;
schaftlichen Gegensatzes und die daraus hervorwachsende falsche
bis das geschehen, entbehrt diese Gegenkraft natürlich nicht der
Meinung von der Steigerung individueller Kraft als der eigentlichen
äusseren Wirksamkeit. Dass das so ist, auch auf dem wirtschaft-
und ausschliesslichen Entwickelungstendenz, während sie doch nur
lichen Gebiete so ist, das verwirrt nun für die meisten, die das
die eine und dazu negative Seite der polarischen Gesamtentwickelung
Entwickelungsgesetz und seine Polarität nicht begriffen haben, das
ist. Trägt nun diese falsche Meinung auch zur Schärfung des Gegen-
wirtschaftliche Geschehen vollständig. Die grosse Mehrheit der
satzes bei, so ist sie doch (wie überhaupt jedes sogenannte Böse,
heute lebenden Menschen kann sich eine Wirtschaft ohne diese
weit entfernt davon, diese Entwickelung zu hemmen) nichts weniger
negative individuell-egoistische Tendenz überhaupt nicht vorstellen.
als die negative B e d i n g u n g ihrer Förderung. Das positive
Wirtschaftlich handeln und auf den selbstischen Sondervorteil bedacht
Förderungsmittel, ohne das die Negation nie überwunden würde,
sein, ist ihnen ein und dasselbe; Wirtschaft in der sich stets er-
besteht allerdings in der wirksamen Steigerung der vereinigenden
weiternden Form der Gemeinsamkeit ist noch nicht begriffen. Natur-
Kraft und in der bewussten Einsicht in diese Wirksamkeit.
gemäss führt dieses selbstische Streben zum wirtschaftlichen Kampf;

Der Eigene. — 58 — 2. JuUhert 1899. Der Eigene. — 57 - 2. Juliheft 1899.


Befinden wir uns nach dieser Erkenntnis an der Scheide einer entgegengesetzte Willensrichtung Geltung erlangen wird, wenn auf
umkehrenden Bewegung, dann kommt es darauf an, die Machtfiille Grund gewachsener Erkenntnis aus freier Entschliessung die Ein-
dieser wirtschaftlichen Bewegung zu steigern, nicht mehr wie bisher ordnung in die umfassenderen Formen organischer Zusammenfassung
durch wirtschaftlichen Egoismus, sondern durch wirtschaftlichen vollzogen wird. Solche Erkenntnis wird aber — das ist das Be-
Gemeinsinii. Das ist ja auch die übereinstimmende Meinung aller merkenswerteste — hauptsächlich gefördert durch die i n n e r e n
sozial Empfindenden. Diese Meinung ist aber heute meistens noch W i d e r s p r ü c h e , in die sich dies Recht zu den von ihm selbst
mehr Gefühlssache als vernunftmässige Erkenntnis. Zu dieser Er- entwickelten Formeu des wirtschaftlichen Verkehrs und der diese
kenntnis wird sie erst, wenn man sich zu der Einsicht der Rela- Formen beherrschenden Vertragsfreiheit gesetzt hat und die es von
tivität der Gegensätze erhebt und sich klar macht, wie die Tag zu Tag noch verschärft.
entwickelungfördernden Gegensätze ineinander übergehen und sich Nur der Einzelwirt, der seine Produkte auch selbst verzehrt,
selbst auflösen in einer höheren Einheit. kann rein individuell-egoistisch wirtschaften. Sobald die primitive
Diese höhere Einheit gilt es herauszuarbeiten, diese Einheit, die Einzelwirtschaft sich differentiiert und durch die Vervielfältigung
den treibenden Gegensatz nicht blos äusserlich überbrückt, sondern der gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen aus dieser Urform
ihn innerlich auflöst. Was es mit dieser innerlichen Auflösung des allmählich die moderne Verkehrswirtschaft herauswächst, gewinnen
Gegensatzes auf sich hat, zeigt, ein Beispiel für analoge Fälle, die gemeinsamen Interessen die Oberhand. Thatsächlich ist die
wieder aufs klarste die wirtschaftliche Entwickelung. moderne Wirtschaft auf dieser Gemeinsamkeit der Beziehungen auf-
Es genügt nicht, dass die wirtschaftlichen Einzelkräfte in den gebaut, und das ganze Gebäude wankt in seinen Grundfesten, wenn
äusseren Formen der Zusämmeufügung, wie sie sich geschichtlich iufolge eines grossen Krieges, einer Handelskrise, eines umfassenden
herausgebildet haben, zusammengefasst werden. So werden sie Ausstandes — diese Gemeinsamkeit der Beziehungen gestört wird. Ist
mehr gebunden und gefesselt, als zu höheren Leistungen befähigt. es da nun nicht ein Widersinn ohnegleichen, wenn in einer solchen
Gewiss aber bietet eine solche äussere Form keine Gewähr, dass Verkehrswirtschaft, die auf der Interessengemeinschaft aller ihrer
ihr auch die innere Strebensrichtung entspreche und dauernd auf Glieder beruht, die individuellen Interessen sich herrschaftlich durch-
vereinigende Zusammenfügung hinziele. Die potenzierte wirtschaft- zusetzen suchen, und wird dieser Widerspruch nicht noch grösser,
liche Macht, die schon jede mechanische Zusammenfassung vieler wenn die auf f r e i h e i t l i c h e r Vereinigung gegründeten Formen
Einzelkräfte gewährt, kann ausschliesslich individuell-egoistischen dieser Verkehrswirtscbaft als Mittel des herrschaftlichen Sonder-
Zwecken eines Einzelnen dienen, der diese Zusammenfassung voll- interesses dienen?
bringt und durch seine Macht solchen Missbrauch erzwingt. So Arbeitsvereinigung und ihre Unterart, die der Kapitalsvereinigung
wird die Zusammenfassung das wirksamere Mittel des auf dem «ist in der Gütererzeugung das Mittel, die menschlichen Einzelkräfte
Standpunkt individuellerVereinzelung innerlich stehengebliebenen, von zu potenzieren und so auch die der Einzelkraft überlegenen Natur-
der höheren Erkenntnis noch nicht geläuterten Willens. Dies ist der kräfte in den Dienst der menschlichen Wirtschaft zu zwingen, hier-
Standpunkt der Herrschaft. Äussere Zeugen von der gewaltigen durch aber die Güterproduktion in ungeahnter Weise zu steigern.
entwickelungfördernden Bedeutung dieser Herrschaft bewundern wir Der herrschaftliche Unternehmer beutet dies Mittel zu seinem Sonder-
noch heute in den ägyptischen Pyramiden. Welche Fülle von Kraft vorteil aus, und der darob entbrennende Kampf ist ein wirksames
aber diese systematisierte Herrschaft hervorzubringen vermag, das Hemmnis des sonst möglichen technischen Fortschritts. Welch
lernen wir vom römischen Recht, dessen starre Einseitigkeit zu Widerspruch!
überwinden noch heute trotz jahrhundertlanger Vorbereitung die Konsumentenvereinigung (Kundschaftsorgauisation) ist in der
Kulturmenschheit nicht stark genug geworden ist. Dies Recht wird Güterverteilung das Mittel, zum Vorteil aller mit dem kleinsten
auch völlig erst überwunden werden, wenn die seiner Herrschsucht Kraftmass den Verbrauchern die erzeugten Produkte zuzuführen.
Der Eigene. - 59 — 8. Juliheft 189«.
Der Eigene. - 58 - t. Julihelt 18y».
Der auf Sonderprofit erpichte Handel mit seineu spekulativen Aus- Die der herrschaftlichen entgegengesetzte Einheitsform der
wüchsen schiebt sich ganz unnötigerweise zwischen Produzenten Wirtschaft nennen wir die g e n o s s e n s c h a f t l i c h e , das ist also
und Verbrauchern ein, macht sich gegenseitig die Kundschaft ab- diejenige, bei der die innere Strebensrichtung aller einzelnen, vermöge
spenstig, verzettelt dadurch seine Kraft ohne Nutzen für die All- der gewonnenen Einsicht von der wirtschaftlichen Interessengemein-
gemeinheit und vergeudet in diesem traurigen, auf gegenseitige schaft aller aus eigener Entschliessung, ohne jeden Zwang, sich den
wirtschaftliche Vernichtung ausgehenden Konkurrenzkämpfe durch heute schon bestehenden Einheitsformen einordnet und neue noch
Warenfälschung und Preistreiberei das Volksvermögen. Abermals vollkommenere Formen ausbildet.
welch Widerspruch! Die Geschichte der Genossenschaftsbewegung, namentlich der
Produzenten und Verbraucher sind ganz und gar auf einander englischen, aber auch der deutschen, schweizerischen und belgischen,
angewiesen, da einerseits nur produzierte Güter verzehrt werden zeigt das allmähliche Heranwachsen einer völlig neuen Ordnung.
können, andererseits aber produzierte Güter, die keinen Verbraucher Man darf dabei nicht blos auf die äusseren Erfolge sehen, so gross
finden, wertlos sind. In der Verkehrswirtschaft, in der die Güter- diese in den vorgeschritteneren Ländern auch sind, so dass man in
bewegung von den Produzenten zu den Verbrauchern durch Tausch- England mit den Genossen Schäften als einem Staat im Staat rechnet.
und Kaufverträge geschieht, müssen aber die Verbraucher den Gegen- Viel wichtiger ist das meistens übersehene oder nicht genügend
wert (den Kaufpreis) in Händen haben, den sie gegen die Güter gewürdigte Wachstum an Einsicht in die grundsätzliche Verschieden-
den Produzenten hergeben sollen, sonst ist dieser Güterverkehr und heit der neuen Wirtschaftsweise. Die Erkenntnis bricht sich langsam
damit auch die Produktion unmöglich gemacht. Die herrschaftliche aber sicher Bahn, dass die genossenschaftliche Wirtschaft der
Beutegier aber findet es in ihrem Sonderinteresse, durch ihr Macht- herrschaftlichen unendlich überlegen ist an wirtschaftlicher Leistungs-
verhältuis Sondergewinne zu erzielen, diese zur weiteren Maeht- fähigkeit, dass sie darüber hinaus aber auch eine neue Stufe geistiger
vermelirung aufzuspeichern und damit dem Verkehre zu entziehen. Kultur einleitet. Was will diesem sich emporringenden Gemeinsam-
Um diesen aufgespeicherten Betrag muss die Produktion liinter ihrem keitsbewusstsein gegenüber sagen, dass die kenntnisreichsten und
sonst möglichen Umfange zurückbleiben, und in den gefürchteten mächtigsten Personen heute noch die bestehende Ordnung zu halten
Krisen der Unterkonsumtion wird die Notwendigkeit Wirklichkeit, suchen! Morsch wie diese Ordnung ist die äussere Macht, die auf
, wenn die Produktion ihr Maass überschritten hat. Dieser letzte sie gegründet ist und sie unmöglich stützen kann gegen die auf-
Widerspruch namentlich, der durch die Machtverhältnisse unseres kommende gesunde und überlegene Macht der neuen Ordnung. Die
heutigen herrschaftlichen Rechts (Renteneigentum an Boden und technischen Kenntnisse und deren beständige Vervollkommnung leihen
an Kapitalien, Unternehmertum im Produktionsprozesse, Händlertum ihr allerdings noch für einige Zeit nicht nur Leben, sondern auch
im Verteilungsprozesse) immer von neuem hervorgerufen wird, setzt Wachstum. Was hindert aber das heranwachsende Genossenschafts-
dem herrschaftlichen Wirtschaftsbetriebe notwendig eine unnatürliche geschlecht, diese Kenntnisse auch zu erwerben, nachdem die erste
Grenze. Die Produktion kann sich nicht so weit ausdehnen, als Arbeit gethan ist, um hierfür die Mittel zu beschaffen, und nunmehr
sie das natürliche Streben hat und technisch möglich sein würde. die Möglichkeit, solche Kenntnis zu erwerben, nicht mehr durcji
Entweder müsste alle Herrschft in einer Hand vereinigt sein, herrschaftliche Absperrung genommen werden kann?
oder, da diese herrschaftliche Einheitsform dem menschlichen Frei-
Längst kann es den Thatsachen gegenüber keinem begründeten
heitsstreben vollständig widerspricht, diese herrschaftliche Grundlage
Zweifel mehr begegnen, dass die genossenschaftliche Entwickelung
der Einheitsbestrebungen muss endgiltig aufgegeben werden, aus dem
fortschreiten, die gesamte Gütererzeugung und Güterverteilung von
rein wirtschaftlichen Grunde einer möglichst vollkommenen, reibungs-
den herrschaftlichen Widersprüchen befreien und nach den Grund-
freien und ausgedehnten Verkehrswirtschaft. So wird die herrschaft-
sätzen genossenschaftlicher Interessengemeinschaft neu ordnen wird.
liche Wirtschaft von innen heraus gedrängt, sich selbst aufzugeben.
Der induktive Beweis für unsere Deduktion ist heute schon, wo wir
Der Eigene. — 60 - 2. Juliheft 1899. Der Eigene. - 61 — 2. Juliheft 1899.
erst im Beginnen der neuen Bahn vorwärts schreiten, zur genüge
geführt. Die Kreisbahn der einsetzenden Integration geht aufwärts
und einwärts. Die primitiven genossenschaftlichen Wirtschaftsformen
der Vorzeit werden von der Freiheit der modernen Verkehrswirt-
schaft, diesem hohen Gewinne schwerer Kämpfe, zu weit wirkungs-
volleren Genossenscbaftsformen geläutert werden, und die Einheit K U N S T UND L E B E N .
der Wirtschaft, mit der die Entwickelung begann beim Einzelmenschen,
wird wiedergewonnen werden auf einem nunmehr viel höheren MALEREI.
Standpunkte, wo die Menschheit, in ihrer vielheitlichen Gliederung H e i n r i c h Vogel er, W o r p s w e d e . heiten der Dichtung bis aufs letzte
ein einziger Organismus, die Wirtschaft aller ihrer Teile durch D i e v e r s u n k e n e G l o c k e (Gerhart Atom zersetzen muss. Auf der andern
Hauptmann) in B i l d e r n . — Verlegt Seite gesellt sich dem Dichter ein eben-
ihre einheitlich zusammengefasste Kraft besorgen und allen nie ge- bürtiger, feiner freier Geist zu, den es
bei Fischer und Franke in Berlin, 1898.
sehenen Reichtum zuführen wird. Ausgabe auf Kunstdruckpapier: M. 3. reizt, das, was dem Dichtungswerke
Das grosse Geheimnis, wie Eigenheit mit Gemeinsamkeit zu- Ausgabe auf echtemjapan, vom Künstler infolge des ziemlich spröden Ausdrucks-
sammengehen, wie Freiheit mit Notwendigkeit stimmen könne, oder signiert und nur in 92 numerierten mittels der Sprache an intimster Grazie
Exemplaren hergestellt: M. 30. abgehen muss, durch die wandlungs-
wie man sonst den unentrinnbaren Gegensatz formulieren mag, hat fähigere Feder oder Radiernadel in
Jede K u n s t ist um ihrer selbst
dann einen weiteren Zipfel seiner Hülle gelüftet. Form eines veranschaulichenden Bild-
willen da. Ein Verkennen dieses Satzes
iirisst sie zum Handwerk erniedrigen. werkes zu e r g ä n z e n . Zu ergänzen
Hermann Krecke. — das ist der Brennpunkt. Und als
Man schliesse hieraus nicht eineGering-
schätzung meinerseits gegen das Kunst- Heinrich Vogeler die versunkene Glocke
gewerbe. Wohl kann Kunst dem Hand- in „Bildern" ankündigte, da wusste ich
werk einen Schönheitsglanz verleihen— im vornherein, dass er uns ein eigenes
selbständiges Werk bieten würde. Dazu
aber Kunst bleibt eben d i e Schönheit.
ist dieser Künstler zu sehr in sich ge-
Jedoch völlig verliert d i e Kunst ihren
festigt, zu tief, als dass seine Feder
innern Wert, welche zu einer zweiten
zum flachen, kommentierenden, er-
in ein sklavischesDienstverhältnis tritt.
klärenden, lehrerhaften Zeigestock ge-
Ich ziehe die absurde — aber beliebte
worden wäre. —
Angewohnheit i l l u s t r i e r t e r Dichter-
äusgaben an. Man verstehe mich nur Vogeler hat sich vom Überlieferten
recht genau: ich sage illustrierter losgelöst. Keine Rautendeleinphoto-
Dichterausgaben, nicht e t w a : Dichter- graphie hat ihn bestimmt, seinem
ausgaben mit künstlerischem Buch- elbischen Wesen eine ähnliche bühnen-
schmuck. Denn so nah' verwandt die hafte Physiognomie zu geben. Draussen
ideelichen Begriffe zu sein scheinen, so in seinemWorpswederTorfmoore haben
unendlich entfernt von einander sind ihm echte Märchenwesen Modell ge-
ihre Bedeutungen. Hier haben wir dem standen, und dass es keine Irrlichter-
Dichter gegenüber die Jammergestalt leiber waren, die nur ihren losen Spott
des Illustrators, der sich mit blöder und Scherz mit ihm getrieben haben,
Zähigkeit an die Worte seines Autors zeigt uns seine neue Mappe, aus der
klammert und nur bestrebt ist, diese einem so richtige Höhenluft entgegen-
ins Bildliche zu übersetzen; eine Zwei- flutet, dass man sich nur widerwillig
heit desselben Gegenstandes, welche in in den Dunst der Grossstadtstube
zurückversetzt . . .
ihrer Nüchternheit die etwaigen Schön-

Der Eigen«. - 62 — 2. Juliheft 1X99 Der Eigene. - 63 - 2. Julibert 1869.


Aus zwölf Blättern, von denen die Kranken Brust gräbt — gräbt, denn LYRIK.
meisten in mehrfarbigem Druck aus- des Glockengiessers Sinne weilen ja
geführt sind, setzt sich der Cyklus bei ihr — Rautendelein . . . Und ihn Hans Benzmann: Sommer- quellfrischeste Kraft zum Versiegen
zusammen. Das erste Blatt der Folge hat's nicht lange hier unten gehalten, s o n n e n g l ü c k . — Verlegt bei Schuster bringen muss. Aus obigen Gründen
bildet zugleich die Deckelzeichnung mit ihr zusammen ist er als ein frischer und Löffler, Berlin und Leipzig, zum will ich keine Kritik — nur eine An-
der Mappe, die, zu einer vorzüglichen Geist insBergesparadieszurückgekehrt. Preise von Mk. 3. Eine Umschlag- zeige des Werkes bieten.
Farbenharmonie (dunkelgrün u. sultan- Nun sehen wir den pflichtgetreuen zeichnung: Emil Orlik. Sieben Zier- Benzmann hat uns ein Herbstbuch *
rot) abgestimmt, trefflich den Genuss Pfarrer (VII) zu jenem Lamm, das sich leisten: Hans Heise. beschert. Aber nicht eins, das Ent-
des Werkes einleitet. Für den Biblio- von der Herde gelöst hat, wagemutig Einige Gedichte, die m i r gerade sagung heuchelt, sondern eins, das den
philen interessant erscheint mir das empordringen. Eine Fussleiste dieser besonders gefallen, aus diesem Band Zauber verflossener Monate wieder
Inhaltsverzeichnis. Es wurde vom Szene zeigt Heinrich in seiner felsigen herauszugreifen, sie — nur mit kleinen aufleuchten und die Köstlichkeiten
Künstler entworfen und strömt einen textlichen Übergängen zwischen den heiterer Tage reflektierend durch die
Werkstatt, von den Zwergen umgeben,
seltenen Blütenduft aus. Die Haupt- einzelnen Kostproben — hierherzu- Seele zittern lässt. Wenn er auch
in rüstiger Arbeit. Da plötzlich dringen
setzen — ist zwar eine äusserst be- manchmal Trübes auf seine Blätter
sache des Blattes besteht für mich dem verlorenen Erdensohne dumpfe
queme Art des Kritikübens, auch wohl bannen will — da langt's nicht recht
darin, dass es in wunderbar diskreter Klänge jener versunkenen Glocke ins
hierzulande Sitte — aber nicht nach zu, und der Wille zum lachenden Leben
Weise die Stilreinheit des Ganzen auf- Ohr, durch deren Absturz er überhaupt
meinem Geschmack. Überhaupt ist es bricht immer wieder siegreich hervor,
recht erhält, was doch meistens bei erst in diesen Wunderwinkel gelangte
mit diesem Kritiküben an lyrischen und aus Zeilen und aus Strophen quillt
grossen Feder- und Radierwerken durch — und seine Augen klammern sich an
Erzeugnissen eine missliche S a c h e : sein blutwarmes, liebebegehrendes
Mitwirkung des Typendruckes nicht die Erscheinung lieblicher Kinder (VIII),
erstens, weil es wahnsinnige An- Sommersonnenglück. Ein fromme«,
ganz der Fall sein kann. Und nun die dem Vater der Mutter Thräncn
massung wäre, in rein persönlicher schlichtes Gemüt lässt durch alle Verse
reihen sich die einzelnen Darstellungen bringen. Heines Erachtens ist dieses
Kunst — wie es doch Lyrik ist — die treuen ehrlichen Himmelaugen hin-
an, deren jede mit den übrigen in bezug Blatt das grossartigste des ganzen
selbsteignes Wohlgefallen oder Miss- durchglänzen. Einen Ewigkeitsgesang
auf Zartheit, Innigkeit, Geschlossenheit, Cyklus, wie diese Darstellung von einer
achtung an einem Dichter mit dem der das tiefe Menschheitsproblem bei
Treffsicherheit, Lieblichkeit des Aus- Glocke gekrönt wird, deren Klöppel seiner verborgensten zartesten Wurzel
Wertgrad seiner Leistungen zu identi-
drucks zu wetteifern scheint. der nackte Körper eines toten Weibes fasst, sucht man im Bande vergeblich,
fizieren — und zweitens, weil es nicht
Wir lauschen dem Sonnenkinde zum Schwingen bringt. Die letzten man nehme denn den „Schädel" dafür,
im Beruf des Einzelnen liegt, dem
Rautendelein (I), wie es den alten Bär- Blätter zeigen uns das verlassene und der mir nicht ohne Gedankenwucht zu
Seelenkünstler Rechnung über die Diffe-
beisser Kickelmann foppt. Das Staunen verstossene Märchenkind (IX), das die sein scheint. Doch darin wird niemand
1
renz zwischen den erstrebten Zielen
der Märchenjungfrau erleben wir, wie schwermütige Ballade von den drei:' und den erreichten Wirkungen zu legen. einen Tadel finden wollen; dem em-
sie zum erstenmal des Erdenwesens: Äpfeln — weiss, gold und rosenrot — Das kann man getrost der Nach- pfindungsfrischen Sänger des Keimens,
M e n s c h ( I I ) a n s i c h t i g wird. DieBusch- vor sich hinsummt, und den sterbenden generation üherlassen. Die wird mit Werdens, Seins wird noch jede genuss-
grossmutter hören wir ihr: Hülle, hülle, Meister (X), der zum letztenmal die Er- grösserer Sicherheit durch Vergleiche, frohe Seele gern lauschen. Aus manchen
hülle Hulzmannla! krähen (III). Wir scheinung des holden Rautendelein hat. Inbetrachtziehung sozialer und ethi- Liedern klingen anheimelnde Melodieen
durchwachen die tiefe Nacht (IV), in Jeder spekulative Charakter des scher Elemente jener Epoche viel ver- an unser Ohr. D a ist es u n s , als
welcher Bader, Schulmeister und Pfarrer Wirkenwollens fehlt diesen Bildern; es nünftiger und sicherer als Zeitgenossen stehen wir verlassen an einem Wege,
den verirrten Glockengiesser Heinrich sind ergreifende Szenen, deren jede aus ihr begründetes Urteil über denMensch- zu dem laue Winde verschlafene T a k t e
zu Frau und Kinderchen heimtragen. ihrem Grundgehalt heraus den Beweis heitswert solches Schriftstellers fällen. hinüberwehen, zwischen denen liebe
Schlingt und windet euch im Tanz, der Echtheit des Gegebenen führt. Ist Diese mögen sich begnügen, das, was Volksweisen gleichsam hindurch-
Ringelreigenflüsterkranz . . . (V), und es dem Verlag als Verdienst anzu- ihnen zusagt, anzuerkennen und vor schillern. Man bedenke nur, wie be-
wir fühlen die Elfen zu ihrem ge- rechnen, das Werk durch niedrige allen Dingen zu k a u f e n und zu ge- haglich es ist, in rauhen Herbsttagen
heimnislispelnden Gesang im Schwebe- Preisbemessung jedermann zugänglich messen. So ehrt man die am besten, im halb frostig, halb durchwärmten,
schritt über den Erdboden gleiten. gemacht zu haben, so ist auch anderer- deren Dichtungen uns erquicken und nach Kohlendunst riechenden Zimmer
Schlicht und ergreifend wirkt das Bild, seits dem Feinschmecker Gelegenheit reiche Labungen spenden — — denn aus den Seiten eines Buches, dessen
in welchem sich Frau Mngda über geboten, sich in der Künstlerausgabe der Hunger ist ein Gast, der die schweres Papier und nette Ausstattung
ihren geliebten Heinrich beugt (VI) einen köstlichen Schatz zu sichern. Schönheit hasst — und schliesslich die schon an sich etwas Belebendes haben,
und heisse Liebesbeteuerungen in des Ferdinand Max Kurth.

Der Eigene. Der Eigene. — 65 — 2. Juliheft 1899.


- M — 2. Juliheft 1899.
ein volles und lustiges Sommersonnen- n- verwöhnten Lippen zu reichen. Es sind
glück um uns aufblühen zu lassen. Da Individualität grausamstes Unrecht wegen, oft auch, weil ein natürliches
~>& zumeist eigene „Dichtungen", die der
kommt einem alles so vergnügt vor wäre. Findet doch das monogamische Bedürfnis nach Abwechselung von ihr
or Herausgeber spendet, aber auch fremde
und unwillkürlich ist man wieder mitten Sehnen des Weibes in der Gebunden- fordert, sich nicht nur einem, sondern
en Sänger sind bei ihm öfter zu Gast, die
drin: auf dem Lande — am Meer — heit der Empfangenden seinen leicht vielen Männern preiszugeben — Sie
— dann gern manch schönes Liedchen
in den Bergen — oder wo man sonst verständlichen Hintergrund, während ist dem Gatten manchmal mehr als
ist weihen. Sein Freund, der Maler Hans die polygamische Wollust des Mannes
die Sommerzeit verlebt hat. daheim das Weib, dem Verlobten oft
Kurth, stattet diese Lieblinge stiller nur durch die Freiheit des Gebenden
Ferdinand Max Kurth. ein Ersatz für die ersehnte Braut, dem
Stunden mit allerhand duftigem Bild- Klang und Farbe gewinnt. Das Weib,
F e r d i n a n d M a x K u r t h : D i c hh -- Schmachtenden die Gewährerin un-
schmuck aus und auch Fidus zeichnete das den Erzeuger empfangen hat,
t u n g e n . Erster Cyklus. Drittes Heft. dämmbarer Begierden. Nirgends kann
:ft. für das ihm zugeeignete stimmungs- wünscht ihn ausschliesslich zu besitzen.
Verlegt bei F. M. Kurth, Berlin SW. 48, man ihrer entbehren. Und doch g e -
18, tiefe Gedicht „Der Freund" eine Um- Es geniesst monatelang die Freuden
in der Wilhelmstr. 21. hört sie zu den Parias der Gesellschaft,
rahmung, die von holdseliger Anmut, der Umarmung nach, nach Wieder-
Ein neues seltenes Bemühen, den zu den Unreinen und Verachtetsten. —
en Sonnigerjugend und blütenrauschendem holungen dieser Vereinigung lechzend,
prickelnden Reiz, das köstliche Aroma Warum? Weil sie aus der Liebe ein
na Glücke redet. Jedes einzelne der vor- aber in Schmerzensseligkeiten Mutter
einsamer Lyrik in herb-bizarre, eigen- Geschäft macht? . . . Giebt es denn
•n- nehm ausgestatteten Heftchen ist ein werdend, das lebendige Pfand seiner
artig geschliffene Kelche des Kunst- ein widerwärtigeres Geschäft als die
st- kleines Kunstwerk für sich, das bei Liebe unter dem Herzen. Die Natur
druckes zu bannen, um sie lächelnd moderne Ehe? — Weil sie sich an-
nd keinem Bücherliebhaber und bei keinem hat ihr alles, ihr mehr gegeben, als
Tropfen für Tropfen schönheitsseligen, bietet? . . . Werden nicht Fürsten-
;n, Freunde moderner Lyrik fehlen sollte. der holde Augenblick sie wünschen
töchter, die ein ähnliches Verhängnis
Adolf Brand. Hess, damit ihr aber auch Fesseln auf-
zu Falle brachte, von ihren königlichen
erlegt, die kein Gott zu lösen vermag,
Vettern um Geld und hohe Würden
solange nicht die Stunde des neuen
angeboten ? — Weil sie trotz der staat-
Lebens schlägt. — Den Mann bindet
LIEBE. nichts. Ihm bleibt nur die Erinnerung
lichen Kontrolle für die Gesellschaft
Karl T h e o d o r Schulz-Dresden: eine Gefahr, weil sie trotz alledem die
n: reformerischer Ideen freundlichst und an die schöne Nacht und das immer-
Gefallene Mädchen und die währende Verlangen nach neuen, Trägerin und Verbreiterin verheerender
ie hochachtungsvollst zugeeignet" und mit
Frauenforderung: „Gleiches grösseren Seligkeiten. Ein unbezwing- Krankheitskeime bedeutet? . . . Hm.
es einem Begleitwort des Geh. Sanitäts-
m o r a l i s c h e s M a s s für beide barer D r a n g stachelt ihn an. Er geht Vielleicht! Man weiss es nur nicht.
ie rats Dr. Konr. Küster versehen. Ruhig,
G e s c h l e c h t e r . " — Verlagshaus für auf Verführung aus. Eine Andere giebt Man braucht sie und macht sich
'ür sachlich, derb und grob, wenn's darauf
» Volkslitteratur, C.TeistlerS Co., Berlin- sich ihm hin. — Ganz natürlich so. d a r ü b e r die wenigsten Gedanken.
in- ankommt, mit oft umständlicher, immer;'
Friedrichshagen 1899. Preis 1 M. Alles Moralisieren ist da Unsinn I Nur Man verlässt sich in dieser Beziehung
aber sicherer Beweisführung deckt
Der Verfasser hat bereits durch die Niedrigkeit seiner Gesinnung kann ganz auf das wachsame A u g e der
ch Schulz die Ursachen und das Bedürfnis
mehrere Schriften sexueller N a t u r den warmen Glanz solcher Umarmung Polizei. Man bezahlt sie und — ver-
:ur der Prostitution auf, die in körper-
(„Wider die eheliche Pflicht" — „Früh- mit Schmutz besudeln. An und für achtet die Luststillerin seiner heim-
h- liehen und gesellschaftlichen Verhalt-
ehe und Heiratskonsens" — „Seelen- sich ist sie fleckenlos. — Doch nicht lichen Nächte, sei sie selbst noch so
en- nissen liegen. Mit unerbittlicher Logik
kämpfe") genügend erhärtet, dass er jeder Mann kann wie jener süddeutsche schön und noch so gutl anstatt
er zeichnet er die Unfähigkeit des Staates,
auf seinem Acker Bescheid weiss, und Universitätsprofessor 60 Kindern das ihr die Achtung und soziale Stellung
nd auf diesem Gebiete Wandlungen zum
sich durch seine gründliche Klarstellung Leben schenken. Ausserstande, eine einzuräumen, die ihr auf Grund ihrer
ng Besseren zu schaffen. Die moderne
aller einschlägigen Verhältnisse die An- zahlreiche Nachkommenschaft zu er- gesellschaftlichen Leistungen zukommt.
,n- Frauen -Verhimmelung ä la Berliner
erkennung Derer erworben, die die nähren, allerhand Verantwortungen Das Christentum hat die Prostitution
iie Lokal-Anzeiger ist ihm fremd. Uner-
Lösung der sexuellen Fragen unserer und Widerwärtigkeiten aus dem Wege nicht zu überwinden vermocht und
rer schrocken stellt er den Herrschafts-
Zeit als eine der wichtigsten Aufgaben gehend, sucht er das Freudenmädchen, wird die natürliche Preisgebung auch
en gelüsten der Emanzipationswütigen, der
sozialer Reformen betrachten. Vor- die aussereheliche Bettgenossin unseres in alleEwigkeit nicht überwinden. Aber
>r- obigen kleinlichen Forderung Keusch-
liegendes Büchlein ist „dem Geheimen gesetzlich - spiessbürgerlichen Gatten- es hat den Leib, die Fleischeslust, ver-
en heit suchender Rechtlerinnen die uner-
Medizinalrat Herrn Dr. A. Eulenburg, standes. — Und sie giebt ihm, was er achten lernen und die Priesterinnen
rg, schütterlichen realenThatsachen gegen-
Professor an der Herliner Universität, braucht, giebt ihm ihren Leib. Meist der Venus wie Verbrecherinnen zu be-
ät, über, denen jede Schablone Unnatur,
als dem Förderer volkswohlfahrtlich- thut sie es ausschliesslich des Geldes handeln. Es hat uns die naive Freude
:h- jede widernatürliche Beschränkung der
an dem sinnlich Schönen mit seiner
Der Eigene. — 66 —
2. Juliheft 1899. Der Eigene. — 67 — 2. Julihelt 1899.
Nichtachtung alles Lebendigen dauernd machen zu müssen. Er sieht nicht
vergiftet und den Leib zu einem toten den schönen Kultus einer „natürlichen * yemrich Vofleler-Worpswede;^;:^;}^:
Altar gemacht, auf dem die heiligen Preisgebung", frei von Schande und
Opferfiammen glücklicher Freundschaft ohne den Druck einer zwingenden
und Liebe seit Hellas Zeiten erloschen Notlage — nicht die Freuden eines
sind. — Ja, der Mann braucht die verfeinerten Ueschlechtsgenusses, wie
5<?*ti .'«&?**
Preisgebung des Weibes, aber er ver- er dem Verfasser vorliegender Schrift
achtet die käufliche und denkt nicht vorschwebt und wie er ihn uns bald
daran, neben der Ehe Organisationen in seinen „Neuen Bahnen" im Dämmer-
zu schaffen, die die Zwangslage des scheine kommender Venusfeste zeigen
AVeibes beseitigen könnten, aus der wird.
Verlegt bei Fischer & Franke in Berlin;
Hingabe ihres Körpers ein Gewerbe Adolf Brand.
&Mß$l 1898.' ä^&yi:?::
""Ausgabe^ aufc Kunstdrucke "
Notiz.
In seiner Nr. 3 beginnt „Der Eigene" mit der ersten Veröffentlichung 2fAusgabe'auf. echtem';
vom-KtosÜer-.
' ; ; • <
Japan,' j
saniert';
einer kulturhistorischen Arbeit von Ferdinand Max Kurth: „Reigen der Toten-
tänze". Dieselbe giebt eine Darstellung der bedeutendsten Totentänze in md norm 92;niimmerierten3
Kirchen, Klöstern, als Zeichnungen, Bücher vom Anfang des fünfzehnten Jnhr- ;|;_Exemplaren Hergestellt..:" •
hunderts bis auf unsere Tage, unter besonderer Berücksichtigung z e i t g e n ö s s i -
s c h e r Meister, wie Meyer, Kliuger, Seitz, Sattler u. a.

lEinfteueivLyrikerSl ix-* ™ '.


Arbeiter^
;i/'Z;* l^-t' lf$&ßanv%-.Yoix JlUxander- jKielland.,.••
V Am den Noriregischeo TDO Dr.' Lei Bloch. -"
<?$!> P r e i sJ.,60 Mk„, g e b ; 2 M k V ; U
»Verjag von KaHHenckell &Co.,'Zürich.'-^
f S § * E i n e j n s p a n n e n d e ßomanfornii;;;
; gekleidete;; Satire. 1 a u f ' d i e " ' B u r e a u - '•
&
^^-fl^/ug^. Benner.; . i r a t i e des modernen S t a a t e s , ' w i e s i e ' / '
glänzender u n d e i n s c h n e i d e n d e r n i c h t fjj
: gedacht werden kann.' ( D e r b e r ü h m t e r e
^Iien^.Yerlag ioa' Georg' Szelinskfö
; ; skandinavische D i c h t e r zeigt sich h ier. .
"als*wahrhaft'rberufener Ä i l t u r s c h i l - f ' . '
;^^*f>'lns" dieser•? i n t e r e s s a n t e n f Flug-v derer u n s e r e r ' Z e i t , "'Mit'.'souveräner; .<
&schrif^ >d^iel S^lion.;, ihre£- allgemeinen I r r m i e ' w e r d e n ? d i e S c h w ä c h e n " u n d ' / - .
Ä A u s b % k e . y e g e n ' j e d e n t ^ e u r j . d e ' d e r ; f Auswüchse;'der". staatlichen.'Bevor-;*',
n e u e r e n ^ t t e r a t u r V Ä r i r e g u r i g S b i e t e ^ . ^mundung^gezejchnetl ^''T^i'Ji^&'^'rf/i'J,
^ ^ S y e i s s t l d e r ^ y e r f a s s e r n a q j i ^ a s s Xo&&
* ^ ^ t o t i r . . d u r c ^ B e h a n u , l u r j g ^ealer, Stoffe: '/i^fy--r>rV. I m s e l b e n V e r l a g e e r s c h i e n : f-1
w i m A r e i n s t e n * lyrischen;* Lied,'i* sowie'
wS,durcn^künstlerische;Gestaljtung'psy-.:
Die ^üpher; JCains S £ f >^
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Verantwortlicher Redakteur: ^.der^Jyrj^ben^ JXunstj stofflich.*;-wie. irlcjl.Von E d u a r d v o n &JCayer./':, ? £ •
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UIT Eigene. - 68 - 2. Juliheft 1899.
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