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JANUAR 1903
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MOTTO:
Dort der Galgen, hier die Stricke
Und des Henkers roter Bart,
Volk herum und giftge Blicke —
Nichts ist neu dran meiner Art!
Kenne dies aus hundert Gängen,
Schreis euch lachend ins Gesicht:
Unnütz, unnütz, Mich zu hängen!
Sterben? — Sterben kann Ich nicht!
DER EIGENE
EIN BLATT FÜR MÄNNLICHE KULTUR, KUNST
•ÜÜCÜCÜCÜOSOS UND LITTERATUR isouDisoi&isoiSD
HERAUSGEBER: ADOLF BRAND o CHARLOTTENBURG.
INHALT:
..Motto" von Friedrich Nietzsche o Seite 3 o „Arkadische Hirten' von W. von Gloedcn
Seile 5 o „Zur Wanderfahrt", Gedicht von Clitus o Seite 5 o .Ein Wort voraus an die
Besseren" von Caesareon o Seite 7 o „Was tluist Du für Mich?*, Gedicht von Wulf
Schwmltfegcr o Seite 10 o „Alcide", Kunstblatt, nach einer Photographie aus dein
Atelier Böhme, Berlin o Seile II o „Der Oftizicrspostcn", Gedicht von Viclcir Helling
/ Seite 12 o „Der sehiinc Jüngling in der bildenden Kunst aller Zeiten" von Dr. U. Kiefer
Seite X'A o „Hermes", Vignette von der Neuen Photographist-hcu Gesellschaft in Steg-
litz o Seile i:i o „Narkissos", Kunsiblait aus dem Verla« Max Spohr o Seile 21 o „Dis-
kuswerfer", Schlußvignctte von der neuen Pbotographischen Gesellschaft in Steglitz
Seite 20 o „Faun und Jüngling", von W. von Gloedcn o Seite 27 o Der Abend, Gedicht
von Adolf Brand o Seite 27 o „Der Stellvertreter", Gedicht von Carl Wilhelm Gciß-
ler o Seite 28 o „Zeus und Ganymcdes", Proheillustration aus „Apulejus: Amor und
Psyche", Verlag: Hermann Seemann Nachfolger, Leipzig (Preis li Mark) o Seite 2!l o
„Der arme Lelian" von Arthur Rölilcr o Seite M o „BulStag," Gedieht von A. Römer
o Seile 43 o „Der Meinen", Kunstblatt von Dr. Luciau von Rümcr o Seite 45 o
„.Männliche Kultur", von Dr. Eduard von Mayer o Seite 40 o „Wenn Du —", Gedicht
von Max Katte o Seite CO o „Kopf eines Röinerknaben", aus dem Atelier Böhme, Ber-
lin o Seite Ol o „Der Schopf", Gedicht von Hadriau o Seite Ol o „Im Garten", Sonnett
von Peter Haincchcr o Seite 02 o „Hirten zwischen den Bergen", Kunstblatt von W.
von Gloedcn o Seite 03 o „In die Zukunft!" von Gotaiuo o Seite IM |o .Entgegnung,"
Gedicht von Paul R. Lchnliard o Seite 74 o „Narkissos", zweifarbige Kopf-Vignette
von Hans Kurth o Seite 75 o „An Narkissos', Nekrolog von Caesareon o Seite 75 o
„Bücher und Menschen", von Dr. Kiefer, Paul Vois, Felix Falk und Matthias Blank o
Seite 70 o .Unter dem Strich" o Seite 80 o c^c*z3e*tJ<rs^X<?szJt'<z3'?z3<^Je*^Sr^Jr*^J
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JANUAR 1903
Jahrcs-Abonncmcnts nehmen alle Buchhandlungen entgegen zum Preise von 12 Mark
ihr die zwölf Monats-Heftc, deren Gcsamtinhalt 50 Druckbogen umfassen wird. **z3
Einzelnummern sind für 1.50 Mark zu bezichen. r^Je^e^Jr^Jr^Je^Jr^ji^jr^j • ^
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6 o o DER EIGENE o o
ZUR WANDERFAHRT
2 ' c h , lieber Eigner, in die Welt hinaus
Zu weiter Fahrt und wechselvollcr Reise,
Zu milder Segenssaat, zu hartem Strauß,
Und grüße, — grüße Manchen laut und leise.
Zieh hin und wirb und halte wacker aus
Und singe fröhlich deine eigne Weise,
Bis aufgeweckt vom frohen Widerhalle
So Berg und Tal im deutschen Lande schalle!
Was uns der Schöpfer selbst ins Herz gelegt,
Was von der Wiege Flor zur dunklen Bahre
Sich gottgewollt in unserm Busen regt
Durch helle Erdenzeit und dunkle Jahre,
Das künde, wackrer Eigner, unentwegt, . .
8 o o DER EIGENE o o
Du kamst im Bettlergewande —
nun strahlst Du in blendender Pracht,
Ich hab aus dem frierenden Baumchen
Seht hin Freund! O seht ihrs nicht? Der Morgen Einen blühenden Frühling gemacht.
steigt herauf. Die ersten Strahlen tauchen empor und er- Ich gab meine ganze Seele
würmen unsere Seelen und ermutigen uns zum Kampfe und und all meinen Stolz für Dich! —
zur Freude.
Seid voll Hoffnung! Jetzt steh ich vor Dir als ein Bettler...
CAESAREON
Nun rede: Was thust Du für mich?
WULF SCHWER DTPEQER.
DER OFFIZIERSPOSTEN
jy^it der scheidenden Sonne letztem Strahl
Marschierten die Truppen hinaus zum Tal.
Wo das letzte sinkende Feuer brennt,
Da steht der Jüngste vom Regiment.
Ein weisses Gesicht, ein blonder Flaum,
Dem Knabenalter entwachsen kaum.
Er schaut in das schweigende Dunkel der Nacht.
Der jüngste Leutnant hält die Wacht.
Am Feuer da lagert manch bärtiger Mann
Und Zote und Zote wird abgetan.
Der Leutnant steht und denkt zurück
An seinen Freund, den er ließ im Glück.
An seinen Freund, wie er so jung — '
Eine holde süße Erinnerung.
Die Nacht ist still. Der Feind kommt sacht.
Der jüngste Leutnant hält die Wacht.
VICTOR HELLINO
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ALCIDE
AUS DEM ATELIER BÖHME, BERLIN
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J.< o o ÜEK EIGENE o o
Bewegung einer Schreitstellung, bei der die Last des Körpers fast nichts derart erhalten ist. Der originellste Schüler des
fast mir auf dem festauftretenden Bein ruht, während das Phidias, Alcamcnes, hat wahrscheinlich die Statue des Diskos-
andere Bein nachgezogen wird. Was ihn zu einem der be- werfers im Vatikan geschaffen, ein Kunstwerk, das entgegen-
zeichnendsten Künstler echt hellenischen Geistes macht, ist gesetzt dem gleichnamigen des Myron den Schwerpunkt auf
die ruhige, abgemessene Haltung seiner dem „Reinmensch- die Darstellung der geistigen Tätigkeit verlegt; verwandt mit
lichcn" entlehnten Motive. Aus den Tagen des Myron und diesem Werk ist sicher der sogenannte Ares Borghese, ein
l'ulyklet stammt auch die einzig schöne „Idolinostatue", einen Jüngling mit anmutigen Formen und für einen Kriegsgott
1-J—16jährigen, feingliedrigen Knaben darstellend, dessen entschieden zu verträumtem Gesichtsausdruck.
vorgestreckte rechte Hand eine Opferschale hielt. Die Haar- Die nun folgende Zeit bis auf Skopas und Praxiteles
behandlung und das prachtvolle Profil verrät Myronischen ist arm an originellen Künstlern, noch ärmer an Werken, die
Einfluß; man schreibt das herrliche Kunstwerk dem Sohne uns einigermaßen gut erhalten sind. Es vollzog sich in ihr
.Myrons, Lykios, zu, der auch durch andere Darstellungen langsam der Umschwung von der Darstellung ernster Erhaben-
des reifen Knabenalters einen bekannten Namen besitzt. heit, die fast alle Künstler vor dem peloponnesischen Kriege
Diesem Künstler standen zur Seite mit ähnlichen Bestrebungen gemeinsam auszeichnet, zur Wiedergabe heiterer, empfindungs-
Styppax mit einem „Eingeweideröster", der nicht mehr er- reicher Anmut und gesteigerten Innenlebens. Gerade letzteres
halten ist und Strongylion, dessen ebenfalls nicht mehr er- zeichnetdes Skopas Schöpfungen vor denjenigen seiner Vorgän-
haltene Knabenstatue von Brutus bewundert war. Die gleich- ger überraschend aus; die Richtigkeit des Satzes der Anthologie,
zeitige attische Kunst war vom Stern des Phidias bestrahlt. daß Skopas „dem Marmor Seele verliehen hat", läßt sich
Dieser geniale, vielseitige Meister schuf in seiner Jugend die auch aus den uns hier interessierenden Darstellungen männ-
Statue seines im Wettkampfe siegreichen Lieblings Antalkas; licher Schönheit dieses Künstlers erkennen: schon sein uns
unter seinen Meisterwerken interessieren uns hier nur die erhaltener Kopf eines jugendlichen Herakles (gefunden in
vollendeten Jünglings- und Männergestalten in den Metopen Genzano) mit leidenschaftlichem Ausdruck, halboffenem Mund
und Giebelgruppen des Parthenon. Von diesen sind einige und träumerischem Blick beweist dies, mehr noch derMeleager-
noch ziemlich gut erhalten und atmen ein geradezu feuriges kopf der Villa Medici und die Statue des „in Liebesträume
Leben, eine beinahe unübertreffliche Beherrschung der Natur.
versunkenen" Ares Ludovisi; das Gemütsleben, „die Seele",
Wenn ja auch viele dieser Figuren im einzelnen nur von
ist es in erster Linie, was Skopas, vielleicht zum ersten Mal
Schülern des großen Meisters ausgearbeitet wurden, so stammt
in der antiken Plastik, deutlich begonnen hat darzustellen.
doch die Komposition, der die Form belebende Geist, vom
Sein Zeitgenosse Praxiteles ist so recht der Darsteller „der
Meister selbst, der übrigens auch ein guter Lehrer war, wie
geheimnisvollen Reize des Jünglingsalters, welches in unbe-
die vielen dem „Kreis des Phidias" entstammenden Werke
stimmter Sehnsucht hinträumt" und wäre ohne die Annahme,
beweisen; vor allem entzücken uns die erhaltenen Marmor-
daß er so recht mit dem Empfinden durchtränkt war, das
reliefs dieser Richtung, wie ' das Orpheusrelief und das in
Eleusis gefundene Triptolemosrelief mit der anmutigen Ge- die Griechen mit dem edlen Namen TrmätQaaiia bezeichnen,
stalt des Knaben Triptolemos. Jedenfalls waren auf de» sehr eine unverständliche Erscheinung. Die neueren Kunstschrift-
zahlreichen jetzt wieder neu aufblühenden Grabreliefs dieser steller wissen das recht wohl, wenn sie etwas verschämt von
Zeit häufig auch jugendliche Lieblinge dargestellt, die die den beinahe „zwitterhaften Formen" seiner männlichen Statuen,
unerbittliche Moira in den Hades gerufen hatte, wenn auch „in denen die beiden Geschlechtern eigentümlichen Vorzüge
geschickt vereint sind", reden, wenn auch unsere bigotte
o o DER EIOÜNE o o
o o DUR SCIlÜNi: JÜNGI.I.NÜ o o
19 2t)
Kultur es verbietet, die an sich höchst natürliche Sache mit Formen in einer möglichst die Reize seiner Gestalt zur
dem richtigen Namen zu benennen! Doch sehen wir davon Geltung bringenden Stellung durch den Meißel des Praxiteles
all und erfreuen uns an den verhältnismäßig gut und reich- gleichsam verewigt werden sollte; daß er dieses Werk dann
lich erhaltenen herrlichen Meisterwerken dieses einzigartigen Apollon taufte, wird wohl nicht viel andere Gründe gehabt
Poeten der Jünglingsschönheit; unter seinen Jugend werken haben, als wenn ein Meister der Renaissance seine schönen
fällt uns auf der einschenkende Satyr, ein schlanker, ge- Menschen Christus oder Maria benannte! Dem eben ge-
schmeidiger Knabe, dessen Schöpfer, wie Collignon sehr nannten Werke Praxiteleischer Kunst verwandt ist die in
richtig sagt, „in alles, was Anmut der Formen und jugend- zahlreichen Kopien vorhandene Statue des „ausruhenden
lichen Reiz besitzt, wahrhaft verliebt ist;" dann ge- Satyrn", deren beste wohl der im Louvre befindliche Torso
denken wir seiner berühmten und vielfach kopierten Eros- ist; diese Statue, „ein vollendetes Bild süßen Nichtsthuns"
statuen, von denen die von Thespiae — ein Knabe, der weist noch zartere, weichere Töne auf wie die vorige; der
sich mit der linken Hand auf den Bogen stützt und dessen erwähnte Torso besonders hat die Übergänge von den
Rechte gesenkt war, sein leicht geneigter Kopf mit ver- Hüften zu den Schenkeln mit einer unnachahmlichen Weich-
schlossenem Gesichtsausdruck — in einer Kopie des Neapeler heit wiedergegeben, während die in der Villa Hadrians ge-
Museums und einem Torso, dem mit Recht berühmten von fundene, jetzt im kapitolinischen Museum befindliche Kopie
Centocelle mit dem fast träumerischen Gesichtsausdruck uns vor allem das kecke Schelmengesicht gut darstellt.
überliefert ist; eine andere Erosstatue hat Praxiteles für die Außer diesen leider nicht im Original erhaltenen Werken
Stadt Parion geschaffen, möglicherweise ist die uns erhaltene besitzen wir seit 1877 den Originaltarso des Praxiteleischen
Statue, genannt „der borghesische Genius" eine Kopie des- Hermes von Olympia! Es ist die bekannte Darstellung des
selben, wenn auch sicherlich das Original etwas geschmei- jugendlichen Gottes, der auf seiner Linken den nach ihm
digere Formen zeigte, wie es uns eine auf Parion gefundene strebenden Dionysosknaben trägt; die Arbeit zeigt eine
Münze ahnen läßt; die dritte Erosstatue dieses Meisters, nur geradezu bewunderungswürdige Wiedergabe schlanker männ-
bekannt nach einer schwülstigen Beschreibung des Kallis- licher Schönheit, mit allen Nuancen und einer Elastizität,
tratos, könnte vielleicht dem bekannten „Eros Farnese" als die ein einzigartiges Spiel der über den Marmor hingleiten-
Vorbild gedient haben, wenigstens erinnert die zarte Anmut den Schatten verursacht: der edle Kopf mit seinem unmerk-
dieses feingliedrigen Knaben, sein liebliches Gesicht und lich lächelnden Gesicht, seinem dichten kurzlockigen Haar ist
die ganze Körperhaltung entschieden an den athenischen für sich schon allein ein Meisterwerk allerersten Ranges.
Meister. Die bekannteste Darstellung jugendlich männlicher Möglicherweise ist der sogenannte belvcderische Antinous
Schönheit durch Praxiteles Kunst ist der in einigen guten (Hermes) der viele verwandteZüge mit dem oben besprochenen
Repliken überlieferte Appollon Sauroktonos, ein eben mann- Kunstwerk zeigt, auch eine Nachbildung eines unbekannten
bar gewordener Jüngling, in zwangloser Haltung an einen Praxiteleischen Vorbildes, oder gehört doch dem Kreise des
Baumstamm gelehnt, mit einem Pfeil in der Rechten auf Praxiteles an. Daß eine solche Erscheinung wie dieser
eine an dem Stamme heraufkriechende Eidechse lauernd. Künstler eine lange Reihe von Nachwirkungen in Schülern
Über die etwaige „Bedeutung" dieser Darstellung des Gottes und Nachahmern hervorruft, ist verständlich: so besitzen
können sich nur die streiten, die nicht begreifen, daß es den wir denn gerade an Verherrlichungen jugendlicher Mannes-
Künstler nicht reizt, irgend eine „Idee" darzustellen, sondern schöne eine Anzahl Werke, die von dem großen Athener
daß ein schöner lebender Mensch mit seinen bestrickenden wesentlich beeinflußt sind; in erster Linie erinnern wir uns
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22 o o DER EIGENE o o
ducll aufgefaßten Athleten dar, der sich nach dem Ringkampf Zeit des Hellenismus vor allem die Pergamonische und Rho-
mit dem Schabeisen vom Staub iuu\ Öl reinigt; das Werk dische Schule hervor. Jene, durch die Attaliden — gleich-
unterscheidet sich von den früheren Athletentypen rühmlich wie viel später in Florenz die Renaissancemeister durch die
durch die schlankeren, hager gewordenen Glieder, den klei- Medizäer — gehegt und unterstützt, wird uns am besten
neren, viel ausdrucksvolleren Kopf mit freierer Haarbehand- verkörpert durch die sehr naturalistischen mit packendem
lung, kurzum durch die größere Natürlichkeit, über die Pathos gegebenen verschiedenen Darstellungen aus dem
Lysipp selber gesagt haben soll, „er habe die Menschen so Galaterkriege (sterbender Galater, toter Galater u. s. w.); in
gebildet, wie sie uns erscheinen". Echt lysippisch ist auch ihrer späteren Entwickclung schuf diese Richtung den prunk-
die schöne Erzstatue des „ausruhenden Hermes" in Neapel. vollen Riesenaltar auf der Burg in Pergamon, dessen Unter-
Auch dies Werk zeigt alle die geschmeidigeren Formen, die bau der berühmte Gigantenkampffries zierte.
den Jünglingstypus aus den Zeiten Alexanders des Großen Das Werk ist gerade wegen seiner Behandlung unver-
von dem robusteren, ungeschlachteren Dorier des 5. Jahr- hüllter Jünglings- und Mannesschönheit eines derimponierend-
hunderts so wesentlich unterscheiden. Dem Lysipp zuge- sten klassischer Zeit, eine Symphonie, die sowohl die ernst-
schrieben wird auch das Original eines im kapitolinischen pathetischen Töne eines Skopas, als auch die lebendige
Museum befindlichen bogenspannenden Flügelknaben, ein Formensprache eines Praxiteles in gewaltiger Weise mit-
kleines, feines Bürschchen, das bereits an den Erostypus einander verbindet. Die Rhodische Schule hat u. a. die
späterer Zeiten gemahnt. Die sonst bekannten Werke Lysipps Laokoongruppe geschaffen, an der uns hier vor allem die
sind meist dem zum Manne ausgereiften Hcraklestypus ge- beiden meisterlichen Knabenkörper interessieren; an ihnen
widmet und der Verherrlichung Alexanders. wie an der ganzen Gruppe fällt vor allem die anatomisch
Die große neuschöpferische Kunst war mit Lysipp be- genaue Kenntnis des menschlichen Körpers auf und die
endet; was die griechische Plastik nachher noch leistete, bewußt auf Rührung berechnete Wiedergabe. Unter den
darf, so bedeutend wie z. B. die pergamonische Monumen- übrigen Werken hellenistischer Zeit mag noch genannt wer-
talkunst auch ist, nicht als originelle Geniekunst betrachtet, den die Marmorstatue des jungen Satyr mit den Bacchus-
sondern muß als wohlberechnete Anwendung dessen, was knaben; wenn auch die Mischung dreier älterer Motive dem
die großen Meister gefunden hatten, verstanden werden. Zu Ganzen den Eindruck des unkünstlerisch Überladenen ver-
den geschickten Nachahmern Lysipps gehört u. a. sein Sohn leiht, so wollen wir uns doch der eleganten Wiedergabe
Boethos, der Schöpfer des betenden Knaben, der uns in der des überaus schlanken feingliedrigen Jünglingskörpers er-
berühmten Berliner Erzstatue in Kopie überliefert ist. Einen freuen, derein interessantes derbes Gegenstück im sogenannten
weniger ernsten Knabentypus giebt der reizende flötenspie- „barberinischen Faun" findet, einem derbmuskulösen „Lüm-
lende Satyr des Louvre wieder; dieser Knabe ist ein zartes mel", der vom Schlaf übermannt auf einem Fels nieder-
Bürschchen mit mutwillfgem Ausdruck und überaus liebrei- gesunken ist und gerade durch die ungemein natürliche
zenden weichen Formen, die an Praxiteles erinnern. Noch (viele nennen es „unedel") Stellung den Eindruck sprühen-
näher steht der Art dieses Meisters der sogenannte Narciß, den Lebens macht. Ähnliche Wirkungen bringt hervor die
eine in Pompeji gefundene Bronzestatuette, wahrscheinlich „Ringergruppe" der Tribuna in Florenz, „die glänzendste
den Dionysos im Spiel mit dem (weggelassenen) Panther Athletendarstellung, die wir kennen".
darstellend. Im Hellenismus hatte die antike Plastik ihren letzten
Unter den nichtattischen Kunstrichtungen ragen in jener Höhepunkt erreicht; was später geleistet wurde, in Rom, wo
o o DER SCHÖNE JÜNGL1NQ o o 25 20 o o DER EIOENE o o
sich von nun an die geistigen Bewegungen konzentrierten, e emseher Plast.k, speziell der Verherrlichung der männ-
war Epigonenkunst in des Wortes schlimmster Bedeutung. Iiclicn Sdutahcit, in die Periode fallt, da zum ersten und
Wenn wir von der für unsern Zweck sehr ärmlichen etrus- einzigen Male in der Geschichte ein «hiinS-» .
kischen Kunst absehen, finden sich in Italien bemerkens- freidenkendes Vo.k seinen beste!, E L ^ f ^
werte plastische Werke nur von griechischer Hand stammend, Jünglingen und Männern einen ihnen zur L e L n L n
aber doch völlig hellenischen Geist nachahmend: beachtens- gewordenen Liebes- und F ^ n d . i ^ ^ ' S S Ä
wert ist so u. a. eine schlanke Jünglingsstatue des Praxiteles- heutzutage nur bei einzelnen wenigen deich«™ *»1 u
sehülers Stephanos, die freilich nichts anderes als eine Kopie Zeiten Verbannten seine * m n J % * J £ £ ^ * ?
allerer peloponnesischer Kunst zu sein scheint,ebenso istesmit
der sogenannten Orestes- und Pyladesgruppe, die die genannte
Jünglingsstatue benützt, und mit der Gruppe von „San Ilde-
toiiso", bei der ein Jüngling des genannten Typus mit einem
an Praxiteles erinnernden zu einem stillosen Nebeneinander
zusammengeflickt ist. Als nun vollends die kaiserliche Hof-
kunst sich entwickelte, erlebte man ein Schauspiel, wie wir DR. O. KIEFER.
es aus der Gegenwart nur zu gut kennen . . . . hohle leere
Purinen, äußerliche Pracht, Eklektizismus, alles mehr oder
minder dem großen „Schirmherrn" zu Ehren! Wir, die wir
die freie Schönheit suchen, wollen hier lieber aufhören; denn
auch die vielen Verherrlichungen, die ein homosexueller Fürst
wie Hadrian seinem romantischen Liebling durch die Skulp-
tur zuteil werden ließ, wiederholen nur alte Vorbilder und
interessieren mehr des Stoffes wegen.
Fragen wir nun noch, ob die antike Malerei, soweit
sie uns erhalten ist, keine Ausbeute liefert, so finden wir ja
allerdings genug archaistische Vasenmalerei mit Umrissen
mannlicher Körper, auch Überreste von Tafelmalerei, die wie
Zeuxis Kunst der Darstellung von männlicher Schönheit ge-
widmet sind, doch sind die Überreste für unsern Zweck zu
dürftig, und die gut erhaltenen Wandmalereien aus Pompei
und Herkulanum mit ihren oft schlüpfrigen Genrebildern
oder kunstlos wiedergegebenen unbedeutenden Alltagsszenen,
wie der bekannten Züchtigung eines nackten Knaben durch
seinen Lehrer, bieten doch für den Freund echter Jünglings-
und Mannesschöne zu wenig Beachtenswertes, als daß ein
näheres Eingehen sich verlohnte.
Rückblickend wird uns nicht entgehen, daß die Blütezeit
o o DER EIGENE o o
DER STELLVERTRETER
preude, komm, bei mir nun auch zu rasten,
Sorglos hab ich mich für dich geschmückt,
Einen frischen Kranz aufs Haupt gedrückt,
Würdig dich, Ersehnte zu begasten.
Nimm Besitz von Allem, was ich habe,
Wolle länger draussen nicht verziehn,
Lass umsonst die Rosen nicht verblühn! —
Da, es klopft: ein blondgelockter Knabe
Hüpft anmutig über meine Schwelle —
Wie er heimisch sich alsbald bewegt,
Jetzt ein Schemelchcn zum Herd sich trägt,
Jetzt ins Feuer bläst, verbreitet Zauberhellc —
Und am flackernd-Iustgen Widerscheine,
An den Glutcn, die er neu anfacht,
Freut sich herzlich nun der liebcnswürdge Kleine,
Sucht nach Bechern jetzt in ihm vertrautem Schreine,
Füllt eilfertig sie mit goldenem Weine,
Den er heimlich mir ins Haus gebracht.
Reicht den Kelch mir, teilt mit mir die Früchte,
Zierlich auf das Körbchen ausgelegt;
Dass kein Ende dieser Stunde schlägt,
Nimmt er von der Wanduhr die Gewichte!
W. VON QLOEDEN
Und ich lass den Springinsfeld gewähren,
IAIJN UND JÜNGLING
Der so viel geschäftig mich ergötzt,
DER ABEND Endlich hat er sich zur Seite mir gesetzt,
T~\em Abend lag ich an der treuen Brust, Endlich soll ich seinen Auftrag hören —
Also spricht er munter und vernehmlich:
Still träumend wie ein Kind
.Meine Schwester riefst du dir herbei,
Die braunen Wolkenlocken, Eros-wirr,
Und lachend froh sein tiefes Himmelsauge über mir Alle heischen sie als Wunderfei,
Und so ist sie selten nur abkömmlich —
Da dacht ich Dein!
Schein ich dir ein licbeleerer Schemen,
Zu meinen Füßen stumm sein weites Reich: Scheuche nur den Lästgen wieder fort,
Die schwarze Heide und das grüne Feld. Oder bin ich hier am rechten Ort?
Und segelstolz der sonnebronzne See, Willst fürlieb du mit dem Freunde nehmen?"
Dem schnell der Tag den goldnen Mantel raubt,
Dass weinrot seiner Tiefen Fluten glühn
Und bebend Well um Well ans Ufer rauscht . . . Schwester, Bruder — was liegt an der Hülle?
Da dacht ich Dein und spürte wollusthciß Freiidcnbringcr wirst auch du mir sein:
Des Abends weichen Mund auf meiner Stirn Längst verlangte mich nach solchem Herzverein,
Und leise Schauer durch die Fluren ziehn Dass er mir geheimste Sehnsucht stille!
Still träumend: über mir dein braunes Haar CARL WILHELM ÜEISSLER.
Im Goldgefunkel dunkler Sternrubinen —
Von Rosen Deiner Lenden Reiz umspielt
Und tief im Blick Dein süßer Schclmensinn:
Als wie ein Engel voller Lieb und Huld!
DER ARME LELIAN
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o o DER ARME LELIAN o o 38 o o DER EIQENE o o
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Ein Nebe! verschleiert schon die traurigen „Poems saturniens" dichtete, (die 1866
die Felder und winkt, als sein Erstlingswerk erschienen, mit dem %er nach St. Zweig
voll Wehmut feiert formell und auch inhaltlich innerhalb der strengen Regeln
die Sonne und sinkt. jener Kunst wurzelt, die den Ausdruck der vollkommenen
Voll Wehmut feiert
mein Herz mit und klingt Schönheit in der kühlen, objektiven Ruhe, „der impassibilite",
vcrgessenumschleiert, und der Marmorkälte einer ehernen, unnachgiebigen Form
und die Sonne sinkt. sucht) gerät er ah Akademiker, halb verführt von seinen
Von seltsamen Träumen, Kollegen, halb aus Furcht vor seiner Traurigkeit, in ein
wie Sonnen glühn wüstes Treiben in den Kneipen des Quartier latin. Seinem
in den himmlischen Räumen, Vater gelang es schließlich, ihn diesem Lotterleben dadurch
flammend und kühn, zu entreißen, daß er ihm eine Stellung im „Hotel de ville"
siehst du noch schäumen als Schreiber verschaffte. Sein Bureaukollege war der bei-
die Lüfte und sprühn,
wie Sonnen verglühn läufig gleichaltcrige Francois Coppee und durch ihn wurde
in den himmlischen Räumen. . . . nun Verlaine mit Anatole France, Catulle Mentees und an-
deren zeitgenössischen Dichtern bekannt. Noch Beamter der
Und von der hereinbrechenden Nacht sang er: Präfcktur, gab Verlaine 1869 den Band der „Fetes galantes",
Der Mond ist rot, von trüben Dünsten schwer,
in Nebelwogen rings die Wiesen rauchen, dies köstliche Kollier wundersam kunstvoll in abertausend
aus grüner Binsen Schlaf die Frösche tauchen, blitzenden Facetten geschliffener Roccocobijous, die „nur
ihr Ruf zerreißt das graue Schleiermeer. übermütigen Glanz und unruhigen Flimmer zu versprühen
scheinen" Aber wie über den lächelnden Maskenspielen des
Die Rosen schließen sich mit weißen Blättern ;
die Pappeln ragen fern und ungewiß ancien regime der düstere Schatten der furchtbaren Ereig-
gespenstig starr in schwarzem Schattenriß, nisse drohte, so zittert auch hier schon jener heimliche,
durch das Gebüsch Johanniswürmchen klettern; sentimentale Unterklang in die prickelnden Melodien mit,
Die Eulen taumeln auf und rudern sacht der sich manchmal noch in einen unruhigen, gezwungenen
durch Finsternisse hin mit trägen Schwingen, Zynismus flüchtet, um aber dann schließlich in dem letzten Ge-
ein taubes Licht will sich der Luft entringen: dichte „Colloque sentimental" unaufhaltsam hervorzubrechen,
Da blitzt der Abendstern — das ist die Nacht! wie ein Schluchzen aus tiefster Seele" und der endlich, gleich
einem wilden Tier, das schwer auf der Beute wuchtet, Verlaine
Paul Verlaine wurde am 30. März 1844 als Sohn eines
immer mehr bedrückte, bis er zu trinken begann. Er hielt
Genieoffiziers geboren. Als siebenjähriger Knabe war er
das gemächlich versickernde Leben eines Bourgeois in der
nach Paris gebracht worden. Der erste Eindruck, den er Kultur einer Welt, in der er sich nicht zurecht fand, nicht
von der großen Stadt empfing, war der von „Schmutz und aus. Ein durchdringender Giftsaft heimlich schleichender
nichts als Schmutz," wie er später in den „Confessions" Süchte durchrieselt brennend seine Adern — und plötzlich
bekannte. Seine Kindheitstage verrannen in ereignisloser brechen lang verdämmte Triebe wild aus. „Jener unersätt-
Einerleiheit und erfüllten die empfindliche Seele des Knaben liche Durst nach neuen Sensationen, der Baudelaire zum
mit einer tiefen Trauer und seinen Geist mit einer quälenden Haschisch geführt hatte, ließen ihn das Vergessen in den
Angst vor dem dunkel drohenden Leben. Zum Jüngling Kneipen suchen, wo er seine Unrast mit Absint ertränkte."
herangewachsen, der seit seinem 14. Lebensjahr dichtete,
o o DER ARME LELIAN o o 40 o o DER EIGENE o o
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Und doch schien noch einmal alles wieder gut zu wer- zu Verlaine kam, nicht erkennen wollen. Es war Liebe und
den. Im Frühling des Kriegsjahres 1870 erschien „La bonnc sie hat ihn zum armen Lelian gemacht.
chanson", das milde Buch, dessen Entstehungsgeschichte Giebt es Wunderlicheres, Rätselhafteres als Liebe? —
Verlaine in seinem schon vorhin erwähnten Prosaband Zwei Menschen leben, vegetieren eigentlich, voneinander
„Gmfessions" erzählt. Es ist die Geschichte seiner Liebe getrennt, aber sie suchen sich. Sie suchen sich im Wald,
/u seiner nachmaligen Gattin Mathilde Mante. Bei einem im Kunstwerk, im hindämmernden Ausruhn und auch im
Freunde, zu dem er eines Tages gegangen war, um ihn zum Menschen. Sie suchen und sehnen, und leben äußerlich
Absint abzuholen, lernt er ein liebliches Mädchen kennen, ruhig, da — Karma oder Zufall — dringt ein Wesen in
die Schwester des Freundes. Er verliebt sich in das an- ihren Kreis und magische Kräfte fangen an zu wirken.
mutige Wesen und das Verhältnis reift rasch zur Verlobung. Welche Wehr haben wir dagegen? Alles war bislang so
In dieser Zeit, bis zur Heirat, schrieb Verlaine die Lieder ruhig, fast traut gewesen, auf einmal kommt Jemand und das
der Liebe und Sehnsucht: „La bonne chanson". Nicht aus Herz begrüßt freudig: Da bist Du ja, du, du! Die Kräfte
liierarischen Absichten waren sie entstanden, sie waren wirken. Die beiden Menschen werden zueinander getrieben,
wahrster Gefühlsausdruck. „Er wollte nichts als sein Em- bis sie Eins werden, ein Mensch. Wir wissen ja nicht, wo
pfinden dem erwählten Herzen mitteilen und aus dieser der Eine beginnt und der Andere endet. Unentrinnbar
kleinen persönlichen Ursache entsprang ein Buch, das in fallen wir dem Geheimnisvollen zu — der Liebe. Wie ein
seiner Frische, Wahrheit und Ursprünglichkeit einzig ist und Dämon kommt sie über uns, erfüllt uns mit einer geheimnis-
eine neue Epoche für die französische Poesie bedeutet." vollen Kraft, die sich so sehr verschieden äußert. Der
Aber dem im Zeichen des Saturn Geborenen war kein Mensch, an dem wir gestern so achtlos vorbeischlendcrten,
dauerndes Glück beschieden. Das tragische Schicksal trat bedeutet für uns heute vielleicht die Menschheit, das
au ihn heran in der grazilen Ephebengestalt des siebzehn- Glück. Eine immense Umwälzung vollzieht sich in uns. Alles
jährigen Jean Arthur Rimbaud, dessen Wesen und Genie, Herkömmliche stürzt in sich zusammen wie ein Dominostcin-
dessen Schönheit an Leib und Geist Verlaine bald so völlig turm. Wir freveln an uns bislang Heiligem, wir werden
bezauberte, daß er, um mit dem Freund und Geliebten grausam, furchtbar, lasterhaft, wir verlassen treulos unsere
ungestört leben zu können, seine Familie verließ und nach Familien, vergiften, vernichten das Leben uns einst teuerer
Belgien reiste. In Brüssel wurde Verlaine zu zwei Jahren Wesen, wir werden zu bleichen Verbrechern, zu Wahn-
Gefängnis verurteilt, weil er Rimbaud zu erschießen ver- witzigen, zu Bestien! Wir werden aber auch zu Titanen
suchte, als dieser sich von ihm trennen wollte. Oskar durch diese geheimnisvolle Kraft und fähig, schwere Hinder-
Pannizza hat über das Verhältnis zwischen Verlaine und nisse zu überwältigen, auszuharren im grausesten Elend.
Rimbaud ausführlich in der „Wiener Rundschau" geschrieben. Und wir werden — freilich selten — durch diese Kraft zu
Ich verstehe es nicht, daß die Menschen solch ein Vor- Göttern; wir werden groß, still, schön und gut.
kommnis abtun zu können wähnen, indem sie von einer Unentrinnbar fiel auch Verlaine der Liebe zu, einer
„Schweinerei", einer „krankhaften Verirrung" sprechen. Es lieblich beginnenden und entsetzlich endenden Liebe;
mag ja all das sein, aber es ist doch noch viel mehr, es ist einer dämonischen Leidenschaft, die ihn bei lebendigem
etwas Bedeutsames, Großes, Ernstes und Furchtbares, und Leibe in furchtbaren Lohen verglühen ließ, ihn zum Frevler,
es ist nicht zuletzt Liebe. Ich staune darüber, daß die Leute zum Wahnwitzigen, zum Verbrecher, zur Bestie, zum er-
die große leidenschaftliche Liebe, in der Gestalt, in der sie bärmlichsten Trunkenbold machte, die ihm das Herz zerriß,
42 o o DER EIGENE o o
o o DER ARME LELIAN o o 41
daß es einen Klang gab so unsagbar groß und traurig, daß den Nerven, jene sich in knisternden, ächzenden, stöhnenden
sein Nachhall in den Gedichten noch zu vernehmen ist, — Fleisch-, Seiden- und Schmuck-Kaskaden wälzende Deca-
in der Liebe zu einem Manne! dence des faulenden Jahrhunderts Müdgelebter. All das
Der Wahnsinn dieser Liebe brachte ihn ins Gefängnis. totkranke fashionable Gesindel der Dirnen in allen Ab-
In der aufgezwungenen zweijährigen Einsamkeit der Ge- stufungen, von der zur linken Hand getrauten Fürstenmaitresse
fängniszelle zu Mons machte er Frieden mit Gott. Aus bis zur „notwendigen" Hure der dunkeln Straßenecke, haßte
diesem Frieden entstand und reifte das bedeutendste Buch er, und er haßte jene morbiden Männer, die sich aus dem
Verlaincs, sein „Sagesse", ein Buch religiöser Buße und Er- reinen Weib dieses lebende Gift schufen. Er wollte mit
hebung. Das Buch „Sagesse" bedeutet, wie Remer richtig dieser Welt und ihren lasterhaften Freuden brechen, er
sagte, die seelische und dichterische Höhe im Leben Verlaines, wollte Reinheit predigen, Reinheit! Aber nicht lange. Denn
den letzten und schönsten Aufflug seines Genius, der dann immer wieder entbrannte in ihm die große und mitleidige
auf die Erde zurückfällt und mit gebrochenen Schwingen Liebe zu denen, die sich nicht bewahren, die sich ver-
sich noch eine Strecke Wegs durch Staub und Schmutz schenken und in spitzbübisch-höfischer Weise den Mummen-
weiterschleppt. Nach Paris heimgekehrt, ohne Mittel und schanz des Lebens lächelnd mitmachen. Er vermochte die
ganz der Absintleidenschaft unterworfen, sank er zum ver- Heiligen nicht wahrhaft zu lieben, wahrhaft liebte er nur
lumpten Vagabunden herunter, den ich am Anfang dieses die Untergehenden, Hinübergehenden, deren Leid, ihnen
Artikels zu schildern versuchte. Die Augenblicke inneren selbst kaum bewußt, ein Sehnen nach der Ewigkeit ist.
Aufschwungs wurden immer seltener und erstickten schließ- Und er lachte der Tugend. Die Tugend galt ihm als
lich völlig in einer senilen Lasterhaftigkeit. Wenn er wild- der Geiz des Leibes, als der Neid der Seele.
imglücklich gewesen war — die Leute nannten es unzüchtige Am 8. Januar 1896 starb er in Paris.
Rohheit — gellte oft plötzlich ein jäher Schmerz in ihm
auf und ein herber Verdruß begann in ihm zu gähren, bis * *
auf einmal eine innere Stimme in ihm, eine Stimme aus den Keiner von den ausländischen Poeten hat so viele und
Hintergründen seines Wesens, empört über seine sadismische so vorzügliche Übersetzer bei uns gefunden wie Paul
Sucht zornig aufschrie: Tier! Tier! Verlaine. Und nicht nur fein nachempfindende, sondern ge-
Darob konnte er sich dann kindlich freuen; denn er festigte Dichterindividualitäten sind seine Übersetzer ge-
bewunderte den reinen Zorn, diesen Priesterzorn in der worden, wie Richard Dehmel, Franz Evers, Johannes Schlaf,
Stimme. Henckell, Cäsar Flaischlen. Der Jung-Wiener Lyriker Stefan
Eine heiße Reue überkam ihn dann und die Sehnsucht Zweig hat nun die verstreut in verschiedenen Blättern er-
nach Befreiung vom Leib- und Gedankensudel, und dann schienenen Übersetzungen gesammelt und zu einem Band
wieder Zorn. Und er braute sich eine kuriose Tinte zu- vereinigt bei Schuster & Löffier In Berlin herausgegeben
sammen aus Galle und Schmerz, Blut, Hirn und Tränen, und außer eigenen Übertragungen Verfälscher Gedichte dem
aus Patchouli und asa foetida, Jod, Karbol und verwesenden Band ein feines Essay beigegeben. Es ist so ein reiches
Chrysanthemen, und schrieb mit dieser Tinte in einigen und schönes deutsches Buch von Verlaine entstanden. Es
Sätzen einiger Gedichte eine faszinierende Schilderung dieser wird sicherlich viel gekauft werden. Es verdient dies
Welt voll muchelnder Pose, quienenden Elends und Bestialität. Schicksal.
Er haßte auf einmal die Welt der zuckenden Muskeln, fiebern- ARTHUR ROESSLER.
44 o o DER EIGENE o o
J
edes Ideal trägt auch Allzupersönliches an sich; denn
welches große Lebensziel hatte die Menschheit je ver-
folgt, das nicht vorher einem Einzelnen und Einsamen die
Aufgabe seines Daseins gewesen wäre? Aus dem Flugsand
seiner Triebe und Gedanken schafft erst die Persönlichkeit des
Menschen den festen Boden, auf dem des Lebens Tempel
errichtet werden sollen; was Wunder, daß dieser Boden nicht
für alle Ewigkeit aushalt und eines Tages im Winde zer-
stäubt. Aber was tuts? Der wahre Tempel des Lebens ist
das Leben selbst, und des Lebens köstlichster Reichtum ist
die Fülle der Gestalten, die es anzunehmen vermag. Um
so besser, wenn nicht starre Allgültigkeit und äußerliche Un-
vergänglichkeit zum Grabe des Lebens werden; um so besser,
wenn die Ideale neu ergrünen mit jedem Menschenfrühling.
Das Ideal, das nicht immer neu aufersteht und in jedem
Menschenherzen neue Siege erkämpft, ist gar kein Ideal,
sondern eine Fessel oder eine Krücke. „Ich bin Mensch,
sei du auch Mensch!" Das ist die einzige Allgemeinheit
des Ideals.
Als Mann ist mir darum auch natürlich eine männliche
Kultur das Menschenwürdige und Erstrebenswerte. Aber
ich glaube, daß in der Männlichkeit sich eine so tiefe Er-
scheinung der Natur verkörpert, die sich in der Geschicht-
»ER MÖNCH
Drs. LUCIAN VON RÖMER
lichkeit längst nicht erschöpft, daß ich über meine per-
4H o o IW.U EIGENE o o
o o MÄNNLICHE KULTUR o o 47
".unliebe Empfindung hinaus den „Mann" als das fleisch- Mann und Weib, beides ist der Mensch, und in jedem
newordene „Ding an sich" bezeichnen möchte und „männ- einzelnen Menschen mischen sich Vater und Mutter, männ-
liche" Kultur als ein unendliches Geleise hinstellen, auf dem liche und weibliche Kräfte. Wenn wir dann allgemein von
das Leben unaufhaltsam seiner Ewigkeit zurollt. „Mann" und von „Weib" zu reden wagen, so genügen wir
damit nicht dem groben Unterscheidungsbedürfnisse des
Menschen allein, sondern wir bezeichnen damit kurzweg
I. entgegengesetzte lebendige Mächte, die in der einen Gruppe
Hinter allen streitenden Naturkräften leuchtet das eine stärker zum Ausdruck gelangen, als in der entgegengesetzten.
e,r<»ttc Geheimnis des Seins hervor, die Tat; und aus In welchem Sinne wir aber trotz aller Übergänge und
allen Gebilden der Natur, den angeblich toten, wie den Zwischenstufen des einzelnen Falles doch berechtigt sind,
lebendigen, sprechen unerforschliche Taten, die aus der von „Mannheit" gegenüber der „Weibheit" zu reden, ergibt
wirbelnden Materie höheres und reicheres Dasein erschufen; sich aus der Entwicklungsgeschichte der Lebewesen.
und wenn der Mensch in sein Inneres hineinhorcht, hört er Die niedersten Lebewesen besitzen alle die Fähigkeit,
aus jeder seiner Empfindungen, im Handeln, wie Genießen, mit Hilfe ihrer aufgespeicherten Kräfte, sich zu ernähren,
den Siegesruf der Selbstbetätigung erschallen. Leben ist das heißt, fremdartigen Stoff in sich aufzunehmen und ihn
Tätigkeit und die Welt ist Tat! Das ist mein Glaubens- zur eignen Gleichartigkeit chemisch umzubilden. Dabei aber
bekenntnis. werden die inneren Kräfte erschöpft und der Zusammenhang
Das Höhere ist nur darum das Höhere, daß es das der Teile gelockert; das Lebewesen zerfällt in zwei oder
Niedere sich unterzuordnen weiß, und das Niedere nur darum mehr selbständige lebendige Gebilde. Bei unbegrenzter Ge-
niedriger, weil es der Unterordnung bedarf. Aus der Be- legenheit würde ein erstes Lebewesen den ganzen Erdball
herrschung geringerer Kräfte durch mächtigere entstehen alle in Organismen verwandeln, und diesem Ziele strebt eigent-
Gebilde; alle Gebilde, alles Ruhende und Dauernde, ver- lich die sogenannte Fortpflanzung zu.
körpern daher die innere zersplitternde Unselbständigkeit,
die durch Zwang zu stolzer Einheitlichkeit geworden. Dieser Das einfache EiweißkiUmpchen, das mit seiner ganzen
Zwang geht von einer Tat aus; was wären darum alle Ge- Oberfläche im Kraftaustausch zu seiner Umgebung steht,
bilde ohne die schöpferischen Taten? Sie wären überhaupt sondert bald — nach endlosen Zeiträumen — an derjenigen
nicht da und nur deshalb sind sie da, weil es das Wesen Stelle einen besonderen Teil ab, wo sich alle eindringenden
der Tat ist, sich an niedern Taten zu verwirklichen, das Kräfte kreuzen, in der Mitte. Und dieser Teil wird der
heißt, Gebilde aus ihnen zu erschaffen. Dies ist in nüchterneren Kern, dazu tritt an der besonders tätigen Oberfläche die
Worten die alte heilige Sage der Weltenschöpfung. Kraft Sonderung der Zellhaut ein, mit einem Worte: aus dem un-
und Stoff nannte diese beiden Erscheinungen der plumpe gegliederten Eiweiß ist die Zelle geworden. Damit beginnt
Materialismus; Taten und Gebilde müssen wir sagen, wenn ein neuer Abschnitt der lebendigen Weltgeschichte. Im
wir lebendige Werte in diese abgenützten Rechenpfennige Kerne besitzt die Zelle nun einen leistungsfähigen Speicher,
legen wollen. Keine Gebilde ohne die sie erschaffenden und erst wenn dieser nichts mehr fassen kann, hat die Zelle
Ttitcn, aber auch keine Taten, als die sich in Gebilden sich gegen die andringenden Kräfte der Umwelt tätig zu
verwirklichen. Leib und Seele, Seele und Leib! Und sagen wehren. Bei dem Kern, bei dem Z e n t r u m , liegt nun schon
wir gleich, Weib und Mann, Mann und Weib. die Entscheidung über die Leistungen der Zelle, und unser
o o MÄNNLICHE KULTUR o o 5Ü o o DER EIGENE o o
49
mächtiges Gehirn verdankt seine ganze Vorherrschaft im in so innige Berührung bringt Das Liebesleben der ge-
Leihe nur jenen ersten Kernen der ersten Eiweißzellen. Der samten Natur beweist diese „universelle Erotik", um Richard
Zellkern ist der Träger der ganzen Entwickelung; auch die Muthcrs Ausdruck anzuwenden.*)
Teilung, die Fortpflanzung ist ja ihm unterstellt. Denn von Jede Zellteilung bedeutet eine Steigerung, so unendlich
dein Kern geht jetzt der Anstoß aus, er teilt sich zuerst, gering sie auch sei, denn jede der Kernhälften bringt zu
und die neugebildeten beiden Kerne verstärken nur die ihrem selbständigen Neuanfang den Zuschuß an Kraft mit,
Tremuingsbestrebungen der gesamten Zelle. den ihr Stammkern in seinem kurzen Dasein hinzuerworben
Aber eine Zelle lebt ja nicht allein im freien Weltmeer, hatte. Sobald diese Steigerung nun eine gewisse Höhe er-
sie wird umschwärmt von Genossen. Wie alle Körper des reicht hat, behält die Stammzelle einen Einfluß auf die Neu-
Weltenraumes aufeinander Kraft ausstrahlen und einander zelle und diese trifft bei ihrer Entstehung nicht ein selbst-
anziehen, so ziehen einander auch die kleinen lebendigen ständiges Dasein an, sondern bleibt mit der Stammzelle
Kiirper, die Zellen, an, sobald der Zufall der Strömung sie verbunden. Seitdem gibt es mehrzellige, endlich mehrge-
einander nah genug bringt, um die Anziehung wirksam webige, mehrgliedrige Lebewesen, die ganze Fülle der
werden zu lassen. Vielleicht ist die Anziehung besonders höheren und höchsten Pflanzen und Tiere. Diese mußten
stark, wenn die Zellen gerade bei dem intensiven Geschäft eine weitere folgenschwere Eigentümlichkeit entwickeln,
der Teilung sind; genug, die Zellen stürzen aufeinander, ver- da ein ganzer zusammengesetzter Leib sich nicht teilen kann,
mischen sich, tauschen Saft und Kraft aus, bis eine Sättigung, wäre eine Fortpflanzung und Vermehrung der höheren Lebe-
ein Gleichgewicht eingetreten ist. Dann trennen sie sich wesen ausgeschlossen, wenn nicht einige, wenige Neuzellen
wieder, nachdem schon vorher die erst abgespaltenen Kcrn- die alte hohe Selbständigkeit sich bewahrt hätten, und mit
teile ausgeschnitten worden waren. Eine eigentliche Fort- der vollerreichten Macht des Stammkörpers ihr eigenes Leben
pflanzung ist das nicht zu nennen; denn die Zahl der Zellen begonnen hätten, das denselben Verlauf der Zellteilung, Zell-
ward nicht vermehrt; wohl aber ist dieser verschmelzende ansammlung und -Gliederung nehmen mußte. So vermochte
Kraftaustausch der Keim dessen, was wir Liebe heißen. denn die Keimzelle die ererbte innere Krafthöhe in einem
Nur allmählich entwickelt sich dieser innige Verkehr zu neuen, gleichartigen Leibe zu verwirklichen, und hier setzt
einer Gewohnheit, dann zu einem Bedürfnis, endlich zur eben die wunderbare Kraft der Vererbung ein, die ganze
Notwendigkeit. Erst von da ab wird die Verschmelzung Geschlechterfolge durch Jahrmillionen.
zweier Lebewesen die Vorbedingung zur Entstehung weiterer Aber besaß die Keimzelle das Vermögen, ein selbstän-
Lebewesen. Aber noch findet die Vereinigung zwischen diges Dasein zu führen, so mußte der Anstoß zur Betätigung
ganz gleichwertigen und gleichgearteten Individuen statt; dieses Daseins, zur Entwicklung der in ihr schlummernden
noch ist die geschlechtliche Trennung nicht eingetreten. Gestaltung doch erst von außen kommen. In seltenen Fällen
Die wichtigste Erkenntnis aus diesen Erscheinungen ist, war ein beliebiger Kraftreiz hinreichend, weitaus am häufig-
daß die Liebe, älter als der Geschlechtsgegensatz, auch nicht sten aber bedurfte es einer anderen lebenden Zelle und
die Überbrückung dieses Gegensatzes bedeutet, sondern ein meistens sogar einer Zelle, die einem anderen Leibe ent-
freier Austausch von Lebenskräften; daß sie auch durchaus stammte; die Durchschnittshöhe der Kraft, die Art, mußte
nicht Dienerin der Erhaltung der Art, der Fortpflanzung und die gleiche sein, eine geringe individuelle Abweichung aber
Vermehrung ist, sondern höchstens die Erfüllung dieser
N'attiraufgaben begünstigt, weil sie kraftstrotzende Lebewesen *) Im »Tag": «Leonardo da Vincis Roman."
i
o o DICH 1CIUICNE o o
o o MÄNNLICHE KULTUR o o
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51
schiede, Weib nennen. Erst durch das Entstehen des Mannes
erzeugte erst den Reiz der Spannung, die zur Befruchtung ist das „Geschlecht" gegeben.
nötig war. Diese andere Zelle mußte aber eben auch eine Die Mannheit ist also tatsächlich jünger als die Weib-
Ircic Zelle sein, also auch eine von den wenigen bevorzugten, heit, und faßt möchte man darin einen Sieg des tätigen
hochgespannten Neuzellen des Leibes, die nicht an ihren Prinzips über das stoffliche sehen, das aus jenem entstanden,
Stamm gekettet blieben. In diesen, den Samenzellen, mußte es doch lange zurück gedrängt hatte. Wollten wir mytho-
sich die ganze tätige Macht des Stammleibes verdichten, logisch reden, so ist der Mann der Gott-Erlöser des in die
wie in jenen anderen, den Keimzellen, die ganze stoffliche, tote Materie eingekerkerten Weltgeistes. Aber nicht nur als
chemische, latente Energie. Die Keimzellen sind die Träger Prinzip, auch als Einzelwesen ist der Mann die spätere,
der gleichartigen Neubildung, wir nennen sie die weiblichen jüngere, reifere und höhere Erscheinung. Diese tritt aber
Zellen, die Samenzellen sind der Funke der Tätigkeit, deren erst deutlicher hervor, wenn nach der ungeschlechtigen Vor-
erste Erfolge den ganzen weiteren Verlauf bestimmen; dies zeit auch die doppelgeschlechtige, hermaphroditische Früh-
sind die männlichen Zellen. Die Weibheit besteht daher in zeit des Lebewesens vorüber ist, und jedes Individuum sein
der Bewahrung und Neubildung der inneren und äußeren halbwegs gesondertes Geschlecht besitzt. Wie das Weib
Leibesform, die Mannheit in der Wucht, mit der sie die früher altert als der Mann, und die Mädchen früher reifer
Neubildung veranlaßt und ihr die Wege weist. Das Weib sind als die Knaben, so verdankt der Keimling im Mutter-
hält die einmal erreichte Gestaltung der Dinge fest, der Mann schoße sein weibliches Geschlecht auch einem früheren
bahnt neue, höhere Gestaltungen an; das Weib ist das Abschluß der organischen Sonderung, die bei weiterer Ent-
konservative, der Mann das fortschrittliche Prinzip in der wicklung durch Ausbildung der männlichen Wesensteile die
Natur; sie das stoffliche, er das tätige; sie das physische, weiblichen Anlagen zurückgedrängt hätte. Ein gewisser vor-
er das metaphysische. zeitiger Stillstand hält den weiblichen Keimling auf der
II. früheren, niederen Stufe zurück. Das Entscheidende und
Wichtigste ist aber hierbei, daß in diesem Stillstande, der
Alle Gebilde sind gebändigte Taten, die Tat geht dem den Keimling zum Weibe beschränkt, das weibliche Prinzip
Gebilde vorauf und so dürften wir in dem, was beim siegt und sich behauptet, während die Weiterbildung des
Menschen Mannheit heißt, in dem unbegrenzten Tätigkeits- Keimlings zum Manne der Obmacht der Mannheit zu ver-
dränge, die grundlegende, die erste und letzte Erscheinung danken ist. Monate lang vermag der Forscher im doppel-
der Welt sehen; die Weibheit aber als eine Folgeerschei- geschlechtlichen Keimling nicht das endgültige Ergebnis
nung, als das Zweite. Sobald wir aber die engeren biolo- vorauszusehen; entschieden ist es aber im wesentlichen
gischen Gesichtspunkte anwenden müssen, erscheint umge- doch wohl schon im Augenblicke der Zeugung, und spätere
kehrt der Mann als das spätere und jüngere Ergebnis der Ernährungszustände werden wohl nur selten umzuändern
lebendigen Entwicklung, das Weib als die ältere Vorbe- vermögen, was einmal schaffend und wirkend da ist. Der
dingung, denn was das Weib ausmacht, das Muttertum, die Zustand der Samen- und der Keimzelle bei der Befruchtung,
leibliche Neuschaffung der Art, das wohnte ja der ältesten darauf kommt es an, der lebendigere und kraftvollere Teil
einfachsten Zelle inne. Hingegen hat der Mann, die reine behält das Übergewicht. Entweder versagt die männliche
rastlose Tätigkeit, sich erst aus den Bedingungen der mehr- tätige Kraft bald und die Sonderung der Zellen und Ge-
zelligen Lebewesen erzeugt; er ist somit ein ausgesonderter webe wird immer langsamer, die Festigung der schon
Sprößling des großen Urbodens, den wir heute, zum Unter-
4«
o o MÄNNI.ICIIi: KULTUK o o 53 54 o o DER EIGENE o o
Gewordnen daher um so tiefgehender, der frühe Abschluß beschlußunfähig, das heißt, unfähig zur Tat Drittens hat
der großen Entwicklung notwendig, dann hat die reichge- jeder Mensch eine Mutter, der er zugetan ist und einen
uülirtc Keimzelle eben vorwiegend die älteste Uraufgabe der besonderen Einfluß einräumt. Viertens besitzt fast jeder
Lebewesen erfüllt, stofflich zu wachsen, statt tätig sich zu erwachsene Mann eine Gattin, deren Interessen er mit seiner
sondern; das weibliche Prinzip war das stärkere. Oder die gesamten Tätigkeit durchschnittlich doch dient. Gewohn-
schwächere Keimzelle hat den lebendigen Funken der Samen- heit, Nachahmung und Liebe schreiben also dem Manne
zelle nicht „im Fette" zu ersticken vermocht, nicht zur Er- sein festes Geleise vor, wenn er dazu kommt, an der All-
nährung aufgebraucht, und dann wirkt der erste Anstoß gemeingestaltung des Lebens mitwirken zu müssen. Das
weiter, die gliedrige Sonderung geht kräftiger vor sich, Weib herrscht mittelbar durch die dritte dieser drei Mächte
erreicht mehr, und der Stillstand tritt erst ein, wenn das im Mannesbusen, und die beiden ersten haben es ja gerade
männliche Prinzip sich durchgesetzt hat. So dürfen wir zur Erschaffung des weiblichen Prinzips in der Natur ge-
denn sagen, daß Mann wie Weib sich zu behaupten suchen, bracht, können deren Einfluß daher immer auch nur ver-
und ein kraftvoller Vater hat Aussicht auf Söhne, eine kraft- stärken. Unser heutiges Leben steht also im Zeichen des
volle Mutter auf Töchter. Da sich aber in der befruchteten Weibes oder unzweideutiger der Mutter, aber auch die ge-
Zelle männlicher Tätigkeitsdrang und weibliches Beharren schichtliche Entwicklung ist nicht anders verlaufen.
befehden und hemmen, ist es kein Wunder, daß jeder Mensch Für den Vater ist mit dem Augenblicke der Erzeugung
nur eine Zwischenstufe zwischen den beiden äußersten Polen eigentlich alles erledigt; für die Mutter beginnt dann erst
ist; die Frucht eines Ausgleiches, die Verschmelzung ent- die wahre Aufgabe und dauert fort bis das Kind nicht nur
gegengesetzter Grundkräfte in wechselndein Betrage, ein geboren, sondern auch herangewachsen ist und selbständig
Kind von Vater und Mutter. wird. Die Mutter macht sich ganz anders um das Kind
Die sich kreuzenden Einflüsse von Vater und Mutter be- verdient als der Vater, und das Mutterrecht war daher auch
stimmen auch das weitere, selbständige Leben des Menschen; der älteste Ausdruck des Gemeinlebens. Erst als der Mann,
und es darf nicht verkannt werden, daß der männliche Ein- wahrscheinlich in zahllosen Geschlechtern, durch die mütter-
fluß Stück für Stück dem weiblichen abgedungen und liche Fürsorge verwöhnt, die weibliche Haushilfe bei seinen
abgerungen werden muß. Trotz aller Frauenrechtlerinnen außerhäuslichen Heldentaten nicht entbehren mochte, be-
ist unsere ganze Gesittung wesentlich schon längst — oder hielt er sein Weib bei sich, auch wenn der Rausch der
noch? — eine weibliche, und wer weiß, ob die wenigen ersten Lust vergangen war. So entstand die Ehe. die aber
Zeiten männlicher Obmacht nicht wirklich ewig überwundene nun für die Frau zuerst tatsächlich Sklaverei war; das
und verlorene Versuche gewesen sind, die Kultur auf den Mutterrecht ward vom Gatten-, Vater- und Herrenrecht ab-
Mann zu stellen. gelöst. Das war der wahre Beginn der menschlichen Ge-
Erstens wurzelt in jedem Menschen tief das Beharrungs- sittung.
vermögen, die Trägheit, die jede Neuerung erschwert und Gewiß bot die Familie, das Heim, der Besitzstand an
am liebgewohnten Alten hängt. Zweitens beeinflußt das Ge- Menschen, Vieh und Land dem Manne immer steigend einen
meingefühl den Menschen derart, daß er ohne seine Mit- Rückhalt; sie trieben ihn aber auch in eine Entfremdung
menschen nichts wagt, wider sie nun erst recht nicht, und seines eigentlichen Wesens hinein. Früher war der Mann
daß viele Köpfe nicht unter einen Hut gehn, sagt schon in der Betätigung aller seiner Glieder durch den Wald
das Sprichwort: der soziale Mensch ist eigentlich immer und die Welt gerannt und hatte aus der Hand in den Mund
o o MÄNNLICHE KULTUR o o 55 5Ü o o DER EIGENE o o
gelebt. Nun, wo er, um für sicli sorgen zu lassen, für andre andern Artung offenbart sich aber allerdings die Natur des
surfen mußte, galt es im Schweiße des Angesichts zu Weibes; nur das, was ich am Weibe als hauptsächlichsten
arbeiten und das teure Hab und Gut auch zu schützen. und bedenklichsten Mangel empfinde, mir auch bei den
Und der Mann wäre zum Arbeitstiere geworden, wenn nicht meisten Männern mehr oder minder unangenehm entgegen-
sein ganzes Wesen im Großen wie im Kleinen, im Guten tritt: das ist die innere Unselbständigkeit.
wie im Bösen auf Eroberung, auf Herrschaft, auf schöpferische Das weibliche Prinzip beruht in letzter Linie auf der
Ausnutzung richtungsloserer Kräfte ausgegangen wäre. Die Unselbständigkeit, weil Unterwerfung schwächerer Kräfte
denkbar brauchbarste Kraft an Ausdauer wie an natürlicher unter eine höhere; das weibliche Prinzip der leiblichen Beharr-
Willigkeit war aber das Weib; jüngere Söhne, gefangene lichkeit beugte sich im Verlaufe der lebendigen Entwickelung
Feinde, unterjochte Völker kamen erst später hinzu. Und immer tiefer unter die Notwendigkeit der richtunggebenden
seitdem führt der Mann die Klinge der Herrschaft; aber das Männlichkeit; das Weib ist leiblich auf den Mann und geistig
Heft, das Heft hat doch die Frau in ihrer Hand! Gewiß hat zum mindesten auf ihre Umgebung angewiesen: nur unter
das Leben sich nicht anders entfalten können, als in der deren Einfluß entwickelt sie die vorzüglichen Leistungen,
Zusainmenwirkung der beiden Weltprinzipe, des Taten- deren sie fähig ist. Das Weib will beherrscht werden, na-
dranges und der Beharrlichkeit, die sich im männlichen und türlich von einer überlegenen Kraft, wenn das Weib daher
weiblichen Wesen einen tief bezeichnenden Gegensatz ge- eine vortreffliche Arbeiterin ist, die an Ausdauer den Mann
schaffen haben. Die Gefahr ist nur mehr als ein Traum, übertrifft, ob auch an Kraft nicht erreicht; wenn sie willig
daß das eine Prinzip auf Kosten des andern zur Allein- und gehorsam ist, wo der Mann gleich trotzig und unbot-
herrschaft gelangt; daß diese Niederlage nicht der Weisheit mäßig wird; wenn sie leicht faßt, was ihren Interessen
zuteil wird, dafür sorgt schon jeder Mensch, der vom Weibe dienlich ist, aber dem freieren und weiteren Gedankenflug
geboren, und träges Gebilde ist. Wer aber tritt für die kühl und blind gegenübersteht; wenn sie die peinliche
Mannheit ein, wenn sie verdrängt wird? Und heute, nicht Hüterin der großen Maßgesetze des Gemeindelebens ist,
seit heute erst, ist sie im Sinken. aber die ewige Neubegründung der menschlichen Werte in
der sittlichen Selbstverantwortung von sich weist: so wurzelt
III. das Alles einheitlich in ihrem Wesen, das seinen Schwer-
Der Unterschied von Mann und Weib, der im einzelnen punkt nicht in sich, sondern außer sich hat. Damit ist aber
ja mehr als verwischt sein kann, liegt im ganzen Wesen, auch ihr Wert umgrenzt, wie ihr Unwert angedeutet
nicht so sehr in den einzelnen Gliedern, die Geschlechts-
Gewiß bedarf das Leben, das sich nun einmal zwischen
merkmale etwa ausgenommen. Es heißt daher mit stumpfen
starren Gebilden abspielt, das sich in den höheren Körpern,
Waffen kämpfen, wenn man dem Einfluß des Weibes nur
in dem Menschen vor allem, nur aus der Zusammenwirkung
deshalb entgegentritt, weil ihre geistigen Fähigkeiten geringer
der EinzelmitgJieder erbaut, der Streitigkeit, der zuverlässigen
wären. Wer die Werkzeugnatur des Gehirnes erkannt hat, Formen, des Maßes, Aber eine höhere Stetigkeit, als das
wird überhaupt nicht in Überschätzung des bewußten Lebens träge Beharren im Ewiggestrigen, fließt aus dem Schaffens-
„machen" können und sich daher von einer ganz falschen drange der sich immer fernere Ziele hinter jedem erreichten
Unterschätzung weiblicher Intelligenz hüten. Der Verstand Ziele setzt; zuverlässiger, als die Form, die das Alter heiligt,
der Frau ist nicht geringer, er ist nur in nicht unwichtigen sind die lebendigen Gestalten, die ein ewig sich neu bestä-
Einzelheiten anders geartet wie der des Mannes. In dieser tigender Geist in den Dingen weckt; und ein echteres Maß,
o o MÄNNLICHE KULTUR o „ 53 o o DER EIGENE o o
57
als der Zollstock überkommener Satzungen, ergibt sich von tätigen, männlichen Kerne des Menschen. Wer dem Menschen
selbst, unmittelbar wirksam, aus der ehrlichen Verwirklichung das Recht an seiner Persönlichkeit nimmt, zersplittert deren
des Leibes. Ein Glied kann in Vereinzelung bis zur Kräfte, die nun zuchtlos und maßlos und gierig im Einzelnen
l-.rschüpfimg und Zerstörung gehn; bleibt aber oberstes und Kleinen sich Lüste zusammenraffen, da die Freude des
Uestreben die Zusammenwirkung aller Glieder, so hemmen Großen, Ganzen und Gesunden verpönt ist. Wer dem
und müßigen sie einander, wie es das gesunde Gedeihen Menschen die Freude an seiner Selbstbetätigung untersagt,
erfordert Hierin liegt die wahre Schranke des menschlichen macht ihn zum Genüßling, zum Wüstling, zum Schwächling.
Tuns und damit die wahre Sittlichkeit, die den Menschen Und an denen leidet unsre Weibergesittung wahrlich keinen
cinpurträgt, nicht ihn mit Ketten belastet Mangel. Hat nicht um der Frauen Willen eine prüde
Und diese Bestrebungen alle sind es, die ich im Manne Heuchelei um sich gegriffen, durch die alle-natürlichen Dinge
verkörpert finde, so selten sie sich auch rein zu gestalten künstlich entwertet und entheiligt worden sind? Hat nicht
vermögen. In diesem Sinne allein rede ich einer männ- die Vorherrschaft der Frau das Liebesleben des Mannes
lichen Kultur das Wort. dermaßen mit Beschlag belegt, daß sie ihn lieber in den
Kultur als menschlich gesteigerte Natur hat mit dem Armen der weiblichen gemeinen Käuflichkeit sieht, als daß
ersten Menschen, der diesen Namen verdiente, begonnen sie ihm einen veredelnden Liebesverkehr mit seinen Ge-
und wird bis zum letzten Menschen anhalten. Kultur als schlechtsgenossen gestattete, mögen auch die glänzendsten
Lebensgestaltung einer Rasse haben wir Europäer uns Zeugen der Vergangenheit und die ganze Natur mit feurigen
durch ungeheuerliche Blutmischung wohl dauernd unmöglich Zungen zu Gunsten der gleichberechtigten Lieblingminne
gemacht. Aber die Kultur als die Vollentfaltung der Persön- reden? Sie wittern nur zu gut, daß der Mann am Manne
lichkeit steht Jedem offen, der — Manns genug dazu ist. wieder männlich werden würde; daß das Echo in gleich-
Eine männliche Rassekultur, wie Sparta sie gekannt hat, ist gestimmter Mannesseele mit ganz andrem Mut den Kampf-
heute leider ein Unding: die Menschheit ist durch wider- ruf des Mannes erfüllen würde, als die laue, allzupersönliche
spruchsvolle Rasseinstinkte in ihrer Lauterkeit und Naivetät Zustimmung eines Weibes: daß der Mann am Manne den
geschwächt und zerstückelt, ist durch eine einseitige und unentwegten Rückhalt finden würde, wenn er für seine
daher übermäßige Geschlechtlichkeit merklich weibisch Überzeugung, für seine Persönlichkeit, für das Recht des
geworden. Aussichtslos ist daher die Hoffnung, daß es je Lebens an Wahrheit, Kraft und Schönheit zu kämpfen hätte;
wieder möglich sein wird, in, mit und durch das nicht mehr daß er im Vereine mit gleichempfindenden und engver-
zu entbehrende Gemeinleben die männliche freie und all- bundenen Männern eines Tages, ohne vor der Ungnade der
seitige Persönlichkeit zu wecken, zu erziehen, zu stählen, Frauen zu zittern, wieder sich an die Stelle setzen würde,
wie es in Sparta gewesen und wo, wohl gerade in der die ihm gebührt, an die Spitze der Kultur! Das Alles fühlen
herben Luft der Ehrlichkeit, auch das Ansehen der Frau die Frauen; sie fühlen aber auch, was der Mann in der
hoch stand, zwar nicht so verstiegen, wie bei uns, aber Omphalekomödie des heutigen Tages kaum mehr weiß, daß
eben ihrem lebendigen Wert entsprechend. Heute wirkt es Mannespflicht wäre, die Steuerung des Lebens in kühne,
das Gemeinleben, nicht zuletzt unter dem grundsätzlich und ehrliche starke Hand zu nehmen, statt es vor dem Sturm-
instinktiv sozialisierenden und gleichmacherischen Einflüsse winde unserer Gesittung treiben zu lassen, die den leben-
der Frau, notwendig ertötend auf das Persönlichkeitsgefühl. digen Menschenwert erdenfreudigen Stolzes, gegen den
Aber man tastet nicht ungestraft an diesem lebendigen. hohlen, toten Götzen des alleinselig- und allgleichmachen-
o o MÄNNLICHE KULTUR o o tili
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Jon Goldes vertauscht hat. Denn auf Etwas muß
der Mensch sein Leben setzen; ists nicht auf männliche
Selbstherrlichkeit und tütige Erdenkinderschaft, dann muß
es eben das bange Hetzen um ein glitzerndes Nichts sein, WENN DU —
und ein eben so unfrohes Verschwenden der zusammenge-
\ l / e n n du, an den ich meine ganze Seele hänge,
scharrten Schatze. VV
Mich einst verläßt,
Doch mit jedem Knaben wird ein neuer Mann geboren; Wenn sich ein andrer Mund auf deine Lippen preßt
Milltc es denn da nun wirklich nicht möglich sein, alle die Und andre Klänge,
.Milliarden Keime der Männlichkeit zum Wachsen, Gedeihen Als meiner Liebeswortc Flüstern dich umschweben:
und Blühen zu bringen? Kein Acker ist aber so schwer Dann senkt mit Macht
zu bestellen, wie der der Menschheit. Nur diejenige Saat Des Todes ewig-finstre Nacht
Sich auf mein Leben.
gedeiht, die mit Herzblut genährt wird; nur derjenige wird
Früchte schauen, der aus seinem Inneren die Samen nimmt! Dann stürzt, was jüngst so ho/d erwacht an Blut und Keimen,
Nur wir Männer, jeder an seinem Platz, können männliches Ins frühe Grab;
All meines Hoffens Überschwang sinkt jäh hinab
Lehen wecken, wenn wir eingedenk sind, daß das Leben Und all mein Träumen.
uns zu seinen Erlösern auserkoren! Soll nur das schlechte In meine Seele drängt sich tiefe, tiefe Trauer,
Beispiel von Schwäche, Kleinmut und Zerrissenheit wirken Und durch mein Herz,
können, und nicht auch das gute Beispiel der Einheitlichkeit Zerrissen von der Sehnsucht Schmerz,
Zichn kalte Schmier. —
der Hoffnungsfreudigkeit und selbsteignen Kraft?
Ihr Männer, seid Männer! — dann werden wir auch wieder Wenn aber stets aufs neue mir dein süßer Mund
eine männliche, was männliche, eine m e n s c h l i c h e Kultur In selgcn Küssen
haben; dann erst werden wir es verdienen, auf Erden zu Tut deiner Liebe wunderbaren Zauber kund,
Wenn mich dein Arm,
leben und zu schaffen! So traut, so warm,
DR. EDUARD VON MAYER.
Hält jeder bittren Zweifelsqual entrissen:
Dann steigt aus lichtem Raum
Zu mir herab ein froher Morgentraum,
Und jauchzend trinke ich aus deiner Augen Blick
Mir ewig neues, junges Lebensglück I
MAX KATTE
o o DER EIOENE o o
IM GARTEN
r \ e s Mondes Schein, wie Veilchenduft s o süß
und wie Gewander flinker Elfen leicht,
huscht auf den Beeten, und die Stille schleicht
sich leis durch unsrer Träume Paradies.
O komm und singe mir das alte Lied,
dem deine Stimme sondres Leben leiht.
Sacht drängt es mich aus aller Wirklichkeit,
Tl N RflMERKNABE wenn seine schlichte Weise durch die Nacht hinzieht.
ATEUER BÖHME
Da öffnen sich geheime Tore weit
und lauter klingen die verborgenen Bronnen
und sprudeln hell in des Gemütes Schacht.
O komm! Nun ist der Seele Feierzeit.
DER SCHOPF*) Bring, Knabe, mir in dieser klaren Nacht
des Liedes und der Liebe heilige Wonnen!
p \ i e Haare geschoren rings um den Kopf,
Nur vorn in der Mitte ein Lockenschopf, PETER I1AMECHER.
Der schaut stets keck unterm Hute hervor
Und ringelt sich oft gar neckisch empor.
— So ist es echte römische Tracht,
Die unscrn Burschen s o reizend macht.
— Hält er ein Röslein dann zwischen den Zähnen,
Die Arme erhoben, sich faul zu dehnen,
Und steht unterm Arm ein Büschel schwarz Haar:
. . . Kein Röslein duftet so wunderbar!
HADRIAN
über sie würden durch die öffentliche Anerkennung an Die Gegner der Aufhebung des § 175 haben ihren
sittlicher Vertiefung nur gewinnen können. Standpunkt auch schon mit dem Hinweis darauf begründet,
Fs ist allerdings kein Zufall, daß die meisten Hellenen daß nach der Aufhebung die Zahl der Homosexuellen sich
in der Liebe sich vor allem zu jugendlichen Vertretern ihres vermehren würde. So ganz unrecht haben sie nicht. Frei-
eigenen Geschlechts hingezogen fühlten. Das Gegenteil lich die Aufhebung an und für sich würde an der Lage
kam ja wohl auch vor, aber die Zahl dieser in ihrem Ge- nicht viel ändern. Wenn aber mal die „öffentliche Meinung"
schlechtstrieb völlig „invertierten" Personen war im Ver- unsere Liebe als gleichberechtigt anerkennt, wenn dann
hältnis zur Gesamtbevölkerung, nur gering, gerade wie heute. eine neue w e r d e n d e Kultur die G r u n d l a g e ä s t h e -
Daher richtete sich die Aufmerksamkeit auch nicht so sehr tischen E m p f i n d e n s w i e d e r h e r g e s t e l l t hat, wenn
darauf. Die außerordentliche Verbreitung der somatischen vielleicht auch eine so dringend notwendige Umgestaltung
Liebe in Hellas können wir nur durch die Lehre von der unserer männlichen Kleidung die herrlichen Linien und Ver-
Bisexualität erklären und dadurch löst sich jenes scheinbare hältnisse wohlgeformter Körper wieder erkennen lassen wird,
Rätsel von selbst. Dr. Hirschfeld hat gezeigt, daß es sich dann werden sich freilich Tausenclc auf sich selbst besinnen
bei der angeborenen „konträren Geschlechtsempfindung" und werden auch ihren homosexuellen Trieb zur Entfaltung
um Zwischenstufen handelt, um Übergangsformen vom Voll- bringen, der neben dem „normalen" in ihnen schlief und
niann zum Vollweib. Dabei kommen nun alle Schattierungen den unsere Gegenwartskultur mit hunderttausendfacher Sug-
vor, und als Übergang von der Normalität zur Homosexuali- gestion unterdrückt und vernichtet. Aber eine Bisexualität
täl entdeckte man den psychosexuellen Hermaphrodismus, auf solcher Grundlage scheint uns keine Gefahr. Wenn
die Bisexualität. Die Geschichte des Altertums lehrt uns, so die M ö g l i c h k e i t des Auslebens aller u n s e r e r
daß zahllose hervorragende Männer Gefallen fanden an den Anlagen g e b o t e n w i r d , so muß die Kulturstufe sich
reifen Formen des Weibes und dann wieder an der blühen- e r h ö h e n und dann wird sich auch eine edle Form
den Schönheit von Jünglingen, und wir können schlechter- für Alles finden. Unsere Sportplätze werden eine ähnliche
dings nicht annehmen, daß sie alle das aus Lasterhaftigkeit, Rolle spielen wie die Gymnasien von Athen. Und dann
Genußsucht, Übersättigung taten oder weil es allgemein werden wir der Jugend das verlorene Jünglingsalter zurück-
Sitte war. Dichter wie Anakreon und Horaz besingen ihre erobern!
Geliebten aus beiden Geschlechtern mit derselben Inbrunst. Wie man in solchen Bestrebungen eine Gefährdung
In denjenigen griechischen Staaten, wo die sokratische Liebe der Gesellschaft erblicken kann, ist unbegreiflich. Man ver-
sieh besonderer Anerkennung erfreute oder sogar staatlich schanzt sich in der Regel zuletzt hinter die Befürchtung,
geschützt und geregelt wurde, wie in Athen und Kreta, er- ein eventueller „geschlechtlicher Verkehr" könnte den Jungen
scheint die ganze Kultur, soweit sie überhaupt mit dem schaden an Leib und Seele, Nun ist aber erstens dieser
Geschlechtsleben irgendwie zusammenhängt, als auf bisexueller „Verkehr" doch nicht die Hauptsache und viele werden
Basis beruhend. Der homosexuelle Teil des Geschlechts- auch in Zukunft ganz gut ohne ihn das Leben aushalten.
triebs der Bisexuellen richtete sich vor allem auf jugendliche Anderseits ist doch gewiß die einsame Onanie, die aller-
Individuen, die dem weiblichen Typus einigermaßen ver- mindestens von vier Fünfteilen unserer Jugend betrieben wird,
wandt waren, und die ganze griechische Kulturgeschichte was nur eine lächerliche Heuchelei und Prüderie zu bestreiten
ist der sprechendste Beweis, zu welch herrlicher, sittlicher wagt, für die Tugend und für die Gesundheit weit schäd-
Höhe dieser Trieb gefördert werden kann. licher. Auf irgend eine Weise befriedigen die Jungen ihre
o o IN DIE ZUKUNFT o o 73 74