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DER EIGENE

EIN BLATT FÜR MÄNNLICHE KULTUR

KUNST UND LITTERATUR

JANUAR 1903

»ERAUSGEBER ADOLF BRAND


IN CHAPLOTTFNBIIRG o °

VERLAG.VON MAX SPOHR


IN LEIPZIG o o o o o o o

Ifc
MOTTO:
Dort der Galgen, hier die Stricke
Und des Henkers roter Bart,
Volk herum und giftge Blicke —
Nichts ist neu dran meiner Art!
Kenne dies aus hundert Gängen,
Schreis euch lachend ins Gesicht:
Unnütz, unnütz, Mich zu hängen!
Sterben? — Sterben kann Ich nicht!

Bettler ihr! Denn euch zum Neide


Ward Mir, was ihr nie erwerbt:
Zwar Ich leide, zwar Ich leide —
Aber ihr ihr sterbt ihr —sterbt!
Auch nach hundert Todesgängen
Bin Ich Atem, Dunst und Licht —
Unnütz, unnütz, Mich zu hängen! _
Sterben? —Sterben kann Ich nicht!
FRIEDRICH NIETZSCHE.

DER EIGENE
EIN BLATT FÜR MÄNNLICHE KULTUR, KUNST
•ÜÜCÜCÜCÜOSOS UND LITTERATUR isouDisoi&isoiSD
HERAUSGEBER: ADOLF BRAND o CHARLOTTENBURG.

INHALT:
..Motto" von Friedrich Nietzsche o Seite 3 o „Arkadische Hirten' von W. von Gloedcn
Seile 5 o „Zur Wanderfahrt", Gedicht von Clitus o Seite 5 o .Ein Wort voraus an die
Besseren" von Caesareon o Seite 7 o „Was tluist Du für Mich?*, Gedicht von Wulf
Schwmltfegcr o Seite 10 o „Alcide", Kunstblatt, nach einer Photographie aus dein
Atelier Böhme, Berlin o Seile II o „Der Oftizicrspostcn", Gedicht von Viclcir Helling
/ Seite 12 o „Der sehiinc Jüngling in der bildenden Kunst aller Zeiten" von Dr. U. Kiefer
Seite X'A o „Hermes", Vignette von der Neuen Photographist-hcu Gesellschaft in Steg-
litz o Seile i:i o „Narkissos", Kunsiblait aus dem Verla« Max Spohr o Seile 21 o „Dis-
kuswerfer", Schlußvignctte von der neuen Pbotographischen Gesellschaft in Steglitz
Seite 20 o „Faun und Jüngling", von W. von Gloedcn o Seite 27 o Der Abend, Gedicht
von Adolf Brand o Seite 27 o „Der Stellvertreter", Gedicht von Carl Wilhelm Gciß-
ler o Seite 28 o „Zeus und Ganymcdes", Proheillustration aus „Apulejus: Amor und
Psyche", Verlag: Hermann Seemann Nachfolger, Leipzig (Preis li Mark) o Seite 2!l o
„Der arme Lelian" von Arthur Rölilcr o Seite M o „BulStag," Gedieht von A. Römer
o Seile 43 o „Der Meinen", Kunstblatt von Dr. Luciau von Rümcr o Seite 45 o
„.Männliche Kultur", von Dr. Eduard von Mayer o Seite 40 o „Wenn Du —", Gedicht
von Max Katte o Seite CO o „Kopf eines Röinerknaben", aus dem Atelier Böhme, Ber-
lin o Seite Ol o „Der Schopf", Gedicht von Hadriau o Seite Ol o „Im Garten", Sonnett
von Peter Haincchcr o Seite 02 o „Hirten zwischen den Bergen", Kunstblatt von W.
von Gloedcn o Seite 03 o „In die Zukunft!" von Gotaiuo o Seite IM |o .Entgegnung,"
Gedicht von Paul R. Lchnliard o Seite 74 o „Narkissos", zweifarbige Kopf-Vignette
von Hans Kurth o Seite 75 o „An Narkissos', Nekrolog von Caesareon o Seite 75 o
„Bücher und Menschen", von Dr. Kiefer, Paul Vois, Felix Falk und Matthias Blank o
Seite 70 o .Unter dem Strich" o Seite 80 o c^c*z3e*tJ<rs^X<?szJt'<z3'?z3<^Je*^Sr^Jr*^J
i

JANUAR 1903
Jahrcs-Abonncmcnts nehmen alle Buchhandlungen entgegen zum Preise von 12 Mark
ihr die zwölf Monats-Heftc, deren Gcsamtinhalt 50 Druckbogen umfassen wird. **z3
Einzelnummern sind für 1.50 Mark zu bezichen. r^Je^e^Jr^Jr^Je^Jr^ji^jr^j • ^

VERLAG: M A X SPOHR o LEIPZIG.

N
6 o o DER EIGENE o o

Dass jeder Freund und Gegner es erfahre.


üb sie es nicht verstehn, ob sie es fassen:
Du sollst von deiner Weise nimmer lassen!
Und wo ein einsam Herz verzweifelt ringt,
Da bringe Gruss und Trost wie Frühlingsregen;
Wo uns des Hasses Änathem erklingt,
Da rufe du ein Segenswort entgegen;
Was Tag und Zeit in buntem Wechsel bringt,
Was du gepflückt auf deinen Wanderwegen,
Das künde deiner lauschenden Gemeine,
Sub rosa hier und dort in Eros' Haine. —
Zieh hin! Viel Glück zu deiner Wanderfahrt!
Viel offne Herzen und viel offne Pforten!
Willkommen sei, was kräftig oder zart
Du künden magst in Bildern, Reimen, Worten.
Frisch greif in deine Saiten, lang schon harrt
Der Freunde Schar im Süden wie im Norden.
Und bleib dir selber Ircu auf allen Steigen!
So, lieber Eigner, sei dir selber eigen! —
Dresden, Sept. KOS, CLITUS

ARKADISCHE HIRTEN W. VON QLOEDEN

ZUR WANDERFAHRT
2 ' c h , lieber Eigner, in die Welt hinaus
Zu weiter Fahrt und wechselvollcr Reise,
Zu milder Segenssaat, zu hartem Strauß,
Und grüße, — grüße Manchen laut und leise.
Zieh hin und wirb und halte wacker aus
Und singe fröhlich deine eigne Weise,
Bis aufgeweckt vom frohen Widerhalle
So Berg und Tal im deutschen Lande schalle!
Was uns der Schöpfer selbst ins Herz gelegt,
Was von der Wiege Flor zur dunklen Bahre
Sich gottgewollt in unserm Busen regt
Durch helle Erdenzeit und dunkle Jahre,
Das künde, wackrer Eigner, unentwegt, . .
8 o o DER EIGENE o o

deuteln und uns herzlichst mißzuverstchen. Sie konnten es


nicht fassen, woher wir kamen, wohin wir gehen wollten.
Sie konnten unsere Seele nicht fassen, sie, die alles zerlegen,
analysieren, einschachteln und rubrizieren. Ja freilich für
jene Sehnsuchtsarmen taugte unser Sehnen nicht Vielleicht
auch hatten sie Angst vor uns. Immer, wenn die Sehnsucht
.lach reinster Schönheit sich regte, sich erhob, sich auf-
schwang zur ragenden Höhe des Siegers und Triumphators,
war es um ihren Schachtelgeist, um ihre Krämerseelen ge-
EIN WORT VORAUS AN DIE BESSEREN*) schehen.
So war es in Griechenland — einst, einst! o ihr
O ihr, die ihr das Höchste und Hoste Heiligen von damals, zürnt mir nicht, daß ich euch anrufe —,
sucht in der l i e f e des Wissens, im Ge-
tümmel des Handelns, im Dunkel der Ver-
so war es auch in Rom. Erst müssen wir, wir Schönheits-
gangenheit, im Labyrinthe der Zukunf , freudigen, das Panier ergreifen, ehe die Sonne der Kultur
in den Grüben) oder über den Sternen!
wisst ihr seinen Namen? den Namen des, auf Mittagshöhe steht
das Miiis ist uuil Alles? Wir waren die Gerechten, wir waren immer die Sieger.
Sein Name ist Schönheit I
Hölderlin Hyperion.
Wir werden auch diesmal die Sieger sein. Vor der Schön-
heit werden sie — die Anderen —; ihre Waffen strecken.
I ch glaube ein großer, feierlicher Morgen ist angebrochen.
Seht wie die erste Röte schon den Tag anzeigt. Nun
wird die Schönheit, die hehre, leuchtende, bald ihren
Einzug halten.
Es gibt nur eine Schönheit, ohne Unterabteilungen und
Zwischenstufen. Schönheit ist: Schönheit, ist das Letzte,
das Höchste, die Vollendung.
Die Schönheit kennt nur ein Gesetz — ihr eigenes —,
Der Wiederschein der großen Siegerin „Schönheit" hat das von ihr gegebene. Wie eine Flamme ist es, das Gesetz
meine arme Menschenseele erleuchtet. Laßt mich ihr ein
Lied singen. der Schönheit, leuchtend und glühend, alles überflutend mit
einem Meere von Licht und Glanz. Die aber, die ihr zu
Ich spreche zu euch Besseren, die ihr mit mir voll nahe kommen, die mit ihren garstigen Fingern sie ein-
Sehnsucht und Wonne des Sieges der Schönheit harrt. Wir dämmen wollen, versengt sie. Sie blendet ihre Augen und
sind die Besseren; ihr wißt es doch? Wir sind die, die verdorrt ihren Geist.
nur die Schönheit lieben, nur lieben um der Schönheit willen.
Die Besseren aber, die dem Sonnenaufgange mit offenen,
Wir sind die, die den Namen kennen des, das Eins ist und
Alles, wie Hölderlin singt. Wir wissen „sein Name ist freudigen Augen entgegensehen, werden sich die Hände
Schönheit". Wir hangen ihr an und leben ihr. Die Sehn- fassen und eine Kette der Glückseligen bilden. Sie alle
sucht nach Schönheit ist der Leitstern unseres Schaffens und sind eins: sie lieben die Schönheit Keiner wird den anderen
unseres Liebens. fragen: was liebst du, wen und wie liebst du? Nur die
„Schönheit" lieben sie, die Schönheit wie und wo sie
Wie haben sie alle versucht an uns zw drehen und zu sich zeigt
•) Vorwort zu einer, unter dem Titel » S e i n N a m e i s t S c h ö n h e i t - dem- Dann, wenn sie alle eins sind, werden diese die Gesetze
nächst erscheinenden Arbeit des Verfassers.
geben: neue Gesetze, diktiert von der einzig gerechten
o o EIN WORT VORAUS AN DIE BESSEREN o o 9

Kichteriu „Liebe", Liebe zur Schönheit und zu den Menschen.


Und Einer, ein Großer, wird vor die anderen hintreten, die
so lange dem Rechte den Weg versperrten und also wird
er sagen: „Eure Zeit ist zu Ende. Der Glanz des neuen
Tages hat eure Gesetze verblichen. Eure Tafeln sind zer-
brochen. Ihr s p r a c h t von der S c h u l d , und wußtet
nicht, was ihr richtetet. Euer Gesetz, sagtet ihr, sei
die Gerechtigkeit. Ich aber sage euch, die wahre Richterin
ist die Menschenliebe. Die kanntet ihr nicht. Darum fehlte „WAS THUST DU FÜR MICH?"
eurem Spruche die Gerechtigkeit. U n s e r Gesetz heißt
Mun hab ich Dir alles gegeben
Mc n s c h e n l i e b e !
und Welten und Sterne geschenkt,
Seht! wie nun von Manchem, den ihr Sünder nanntet, nun hab ich mein eigenstes Leben
die Schleier der Schuld wie Nebel fallen." in dem Meer meiner Liebe ertrankt.

Du kamst im Bettlergewande —
nun strahlst Du in blendender Pracht,
Ich hab aus dem frierenden Baumchen
Seht hin Freund! O seht ihrs nicht? Der Morgen Einen blühenden Frühling gemacht.
steigt herauf. Die ersten Strahlen tauchen empor und er- Ich gab meine ganze Seele
würmen unsere Seelen und ermutigen uns zum Kampfe und und all meinen Stolz für Dich! —
zur Freude.
Seid voll Hoffnung! Jetzt steh ich vor Dir als ein Bettler...
CAESAREON
Nun rede: Was thust Du für mich?
WULF SCHWER DTPEQER.
DER OFFIZIERSPOSTEN
jy^it der scheidenden Sonne letztem Strahl
Marschierten die Truppen hinaus zum Tal.
Wo das letzte sinkende Feuer brennt,
Da steht der Jüngste vom Regiment.
Ein weisses Gesicht, ein blonder Flaum,
Dem Knabenalter entwachsen kaum.
Er schaut in das schweigende Dunkel der Nacht.
Der jüngste Leutnant hält die Wacht.
Am Feuer da lagert manch bärtiger Mann
Und Zote und Zote wird abgetan.
Der Leutnant steht und denkt zurück
An seinen Freund, den er ließ im Glück.
An seinen Freund, wie er so jung — '
Eine holde süße Erinnerung.
Die Nacht ist still. Der Feind kommt sacht.
Der jüngste Leutnant hält die Wacht.
VICTOR HELLINO
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ALCIDE
AUS DEM ATELIER BÖHME, BERLIN

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J.< o o ÜEK EIGENE o o

wenig versteht, nicht nur allgemein anerkannt und geachtet,


nein, als sie für das Menschenwürdigste, für die wahrhaft
kulturtragendcn Stützen eines freien, für edle Siunenfreude
und Schönheitsreligion begeisterten Volkes galten! Mit dem
Sieg der düstern Asketenreligion verlor die Welt den Sinn
für die wahrhaft erlösende Religion der Schönheit, sah sie
es für sündhaft an, den nackten Menschen, vollends den
nackten Jüngling für die herrlichste Blüte der Welt zu er-
klären und seine Schönheit in Marmor und Farbe zu
DER S C H Ö N E J Ü N G L I N G preisen! . . .
Die Renaissance, jenes Erwachen der Welt aus dem
IN DER BILDENDEN K U N S T ALLER ZEITEN
Schlaf einseitig moralischer Weltverachtung und Weltflucht,
L war wie ein Läuten zu den Schönheitstempeln versunkener
Welten an die Ohren der dumpfen Schläfer gedrungen; ganz
IM ALTERTUM
ist die Sonne des neuen Weiffeiertags immer noch nicht
aufgegangen, auch heute nicht; denn haben wir gleich mit
W ährend man heutzu-
tage in der Kunst
glücklich wieder zu
vielen Flausen „christlicher" Herkunft aufgeräumt, immer
noch ist das Weib der brünstig umlagerte Altar dumpfer
Sinnenmenschen mit philiströsen Krämerseelen, die nicht die
einer einseitigen Berücksich-
tigung der Weiberschönheit ewige Schönheit anbeten in der freien Genossin, sondern
tierhaft dumpf den Trieb befriedigen wollen an der durch
gekommen ist, die nur in der
Priestersprüchlein ihnen zur Sklavin überlieferten Magd . . .
romantischen Weiberver-
und der glühende Anbeter auch derjenigen Schöne, die sich
himmlung der Minnesänger im jugendlichen Manneskörper darbietet, gilt vollends für
ihr Pendant findet, wußten verachtet oder bestenfalls für krank!
die alten Hellenen, jenes
Volk, bei dem überhaupt zum Wenn es im Folgenden trotzdem unternommen werden
ersten Mal in der Geschichte soll, den Spuren der Jünglingsschönheit nachzugehen in der
von der Darstellung derschü- bildenden Kunst, so geschieht dies jenem „dritten Reich"
nen Menschen die Rede sein zu Ehren, dessen herrlichen Sonnenglanz wir alle, die wir
kann, sehr wohl, was später die Schönheit anbeten, ahnen, mögen wir auch gleich seinen
ein Winkelmann, ein Schopenhauer ausgesprochen haben, daß, Einzug nicht mehr erleben!
absolut betrachtet, der Jüngling und nicht das Weib den Von der Vorstellung lebenswahrer Menschen- und
vollendetsten Typus menschlicher Schönheit repräsentiert, und darum - auch Jtinglingsschönheit kann in der altklassischen
beachteten dementsprechend in ihren größten Kunstwerken Kunst erst die Rede sein, als diese eine Höhe erklommen
vorzugsweise die Jünglingsschönheit. Diese Erscheinung war hatte, die sie zu derartigen Werken befähigte. Niemand
nur möglich in einem Zeitalter, als jene idealen Liebes- wird wenigstens behaupten wollen, daß die schüchternen
bündnisse zwischen Mann und Jüngling, die man heute so Versuche der altägyptischen Kunst mit dem Thema Mensch
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o o DEK SCHÖNE JÜNGLING o o 15
Knaben wegschleppen will, und den schlanken sich geschickt
fertig zu werden, wirklich der Sache auch nur annähernd wehrenden Menschen ist lebendig dargestellt, soweit dies
(«credit wurden. Die Wirklichkeit ist zu tief, zu vielseitig, die erhaltenen Trümmer noch erkennen lassen. Reizende
als daß eine naive Kunstepoche ohne weiteres mit ihr fertig Jünglingsgestalten jener Zeit sind auch der sog. Eros Soranzo,
würde! Nicht anders muß unser Urteil über die althcllenische eine schlanke Gestalt mit dem frei nach oben gewendeten
(„mykenisehe") Kunst lauten. Auch die sog. archaische Blick und den schönen Locken, ferner der mit Recht be-
Kunst mit ihren starren Zügen und engbegrenzten Typen rühmte kapitolinische Dornauszieher, ein gereifter Knabe mit
kann uns noch kaum interessieren, höchstens insofern, als äußerst schlanken geschmeidigen Gliedern, auf einem Fels-
diese Epoche bei den Doriern bezeichnenderweise ')am ersten block sitzend und aus dem linken Fuß, der auf dem rechten
die Freude an der Darstellung nackter Jünglingsgestalten Knie ruht, einen wohl beim Wettlauf eingedrungenen Dorn
offenbart. Die altattische Plastik bevorzugt mehr weibliche herausziehend. Wir haben es hier anscheinend mit einer
Gestalten. In den fortgeschritteneren Zeiten der Perserkriege für Olympia bestimmten Ehrenstatue eines jugendlichen
war es wiederum der dorische Stamm, den die Jünglings- Siegers im Wettlauf zu thun; ähnlichen Veranlassungen ver-
sehünheit zu Kunstwerken reizte. Das Meisterwerk dieser danken wir bekanntlich auch die herrlichen Siegeslieder
Richtung ist die Giebelausfüllung des Athenetempels in Pindars! Unser Dornauszieher, der einmal geschaffen, wie
Agina; alle, bis auf die bekleidete Athene, kräftige meist so oft in der antiken Kunst, zu einem genrehaften Vorwurf
nackte Jünglings- oder Männergestalten, die bereits deutlich für unzählige, meist nicht bessere Nachahmer wurde, zeigt in
den Zug der Entwicklung zum Athletentypus der kommenden der Behandlung der Haare altertümliche Züge, die in eigenem
Zeit ahnen lassen. Auf ähnlichen Bahnen wandelten die Widerspruch zu der sonst so lebenstreuen fortschrittlichen
benachbarten Meister von Sikyon, die trefflich erhaltene Gesamtauffassung stehen.
Erzstatue von Piombino liefert dafür ein hübsches Zeugnis. In der nun folgenden Zeit ragen als Schilderer des
Wie mächtig diese Leistung, der die Zukunft gehörte, war, Jünglingsideals zwei Meister hervor, die man mit Recht als
lehrt ihr Einfluß auf die attische Kunst. An die Stelle der die Vollender der „dorischen Schule", jener ja vor allem
„jonischen Rokokofrau" trat die nackte Männergestalt; die die jugendliche Mannesschönheit verherrlichenden Richtung,
Gruppe der Tyrannenmörder, die bereits eine sehr be- bezeichnen kann: Myron und Polyklet; jener, am besten für
wegungsfrei gewordene Behandlung erkennen läßt, ist das uns durch seinen „Diskoswerfer" vertreten, zeichnet sich aus
beste erhaltene Werk dieser Periode des attischen Archaismus. durch äußerste Lebendigkeit und Kühnheit der Stellungen
Im Laufe der weiteren Entwickelung begegnet uns zunächst und Geschmack für Zartheit der Linien besonders im Profil
wieder ein gewaltiges Werk dorischer Kunst, der Zeustempel des Gesichts, während sein Zeitgenosse Polyklet, vertreten
in Olympia; die Jünglings- und Männergestalten in den durch seinen „Kyniskos", der sich den Siegerkranz auf das
Giebeln dieses Heiligtums haben sich bereits wieder um geneigte Haupt aufsetzen will, und seinen berühmten „Dory-
ein gutes Stück von der archaischen Herbheit entfernt, die phoros", bestrebt ist, seine Kunst der Jünglingsverherrlichung
geschmeidigen Glieder sind fleischig geworden, alle atmen einem gewissen, für ihn bezeichnend gewordenen Typus zu
einen glücklichen Realismus. Der Gegensatz zwischen den nähern, über den er eine Schrift („Kanon") geschrieben hat.
ungefügen Centauren, deren einer sogar einen schönen Sein Ideal ist ein fester, beinahe gedrungener Körperbau mit
breitem, echt dorischen, etwas derben Kopf, weniger feinen
I) Wenn nun bedenkt, dals der dorische Stamm die erste und vollkommenste als kraftvollen Gesichtszügen, die Gestalt in der maßvollen
••«entliehe Regelung der Junglingsliebe zeigt, dar! die oben genannte Uisclieiiuing
kaum verwundern.
3 o DER SCHÖNE JÜNGLING o o 17 o o DER EIGENE o o
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Bewegung einer Schreitstellung, bei der die Last des Körpers fast nichts derart erhalten ist. Der originellste Schüler des
fast mir auf dem festauftretenden Bein ruht, während das Phidias, Alcamcnes, hat wahrscheinlich die Statue des Diskos-
andere Bein nachgezogen wird. Was ihn zu einem der be- werfers im Vatikan geschaffen, ein Kunstwerk, das entgegen-
zeichnendsten Künstler echt hellenischen Geistes macht, ist gesetzt dem gleichnamigen des Myron den Schwerpunkt auf
die ruhige, abgemessene Haltung seiner dem „Reinmensch- die Darstellung der geistigen Tätigkeit verlegt; verwandt mit
lichcn" entlehnten Motive. Aus den Tagen des Myron und diesem Werk ist sicher der sogenannte Ares Borghese, ein
l'ulyklet stammt auch die einzig schöne „Idolinostatue", einen Jüngling mit anmutigen Formen und für einen Kriegsgott
1-J—16jährigen, feingliedrigen Knaben darstellend, dessen entschieden zu verträumtem Gesichtsausdruck.
vorgestreckte rechte Hand eine Opferschale hielt. Die Haar- Die nun folgende Zeit bis auf Skopas und Praxiteles
behandlung und das prachtvolle Profil verrät Myronischen ist arm an originellen Künstlern, noch ärmer an Werken, die
Einfluß; man schreibt das herrliche Kunstwerk dem Sohne uns einigermaßen gut erhalten sind. Es vollzog sich in ihr
.Myrons, Lykios, zu, der auch durch andere Darstellungen langsam der Umschwung von der Darstellung ernster Erhaben-
des reifen Knabenalters einen bekannten Namen besitzt. heit, die fast alle Künstler vor dem peloponnesischen Kriege
Diesem Künstler standen zur Seite mit ähnlichen Bestrebungen gemeinsam auszeichnet, zur Wiedergabe heiterer, empfindungs-
Styppax mit einem „Eingeweideröster", der nicht mehr er- reicher Anmut und gesteigerten Innenlebens. Gerade letzteres
halten ist und Strongylion, dessen ebenfalls nicht mehr er- zeichnetdes Skopas Schöpfungen vor denjenigen seiner Vorgän-
haltene Knabenstatue von Brutus bewundert war. Die gleich- ger überraschend aus; die Richtigkeit des Satzes der Anthologie,
zeitige attische Kunst war vom Stern des Phidias bestrahlt. daß Skopas „dem Marmor Seele verliehen hat", läßt sich
Dieser geniale, vielseitige Meister schuf in seiner Jugend die auch aus den uns hier interessierenden Darstellungen männ-
Statue seines im Wettkampfe siegreichen Lieblings Antalkas; licher Schönheit dieses Künstlers erkennen: schon sein uns
unter seinen Meisterwerken interessieren uns hier nur die erhaltener Kopf eines jugendlichen Herakles (gefunden in
vollendeten Jünglings- und Männergestalten in den Metopen Genzano) mit leidenschaftlichem Ausdruck, halboffenem Mund
und Giebelgruppen des Parthenon. Von diesen sind einige und träumerischem Blick beweist dies, mehr noch derMeleager-
noch ziemlich gut erhalten und atmen ein geradezu feuriges kopf der Villa Medici und die Statue des „in Liebesträume
Leben, eine beinahe unübertreffliche Beherrschung der Natur.
versunkenen" Ares Ludovisi; das Gemütsleben, „die Seele",
Wenn ja auch viele dieser Figuren im einzelnen nur von
ist es in erster Linie, was Skopas, vielleicht zum ersten Mal
Schülern des großen Meisters ausgearbeitet wurden, so stammt
in der antiken Plastik, deutlich begonnen hat darzustellen.
doch die Komposition, der die Form belebende Geist, vom
Sein Zeitgenosse Praxiteles ist so recht der Darsteller „der
Meister selbst, der übrigens auch ein guter Lehrer war, wie
geheimnisvollen Reize des Jünglingsalters, welches in unbe-
die vielen dem „Kreis des Phidias" entstammenden Werke
stimmter Sehnsucht hinträumt" und wäre ohne die Annahme,
beweisen; vor allem entzücken uns die erhaltenen Marmor-
daß er so recht mit dem Empfinden durchtränkt war, das
reliefs dieser Richtung, wie ' das Orpheusrelief und das in
Eleusis gefundene Triptolemosrelief mit der anmutigen Ge- die Griechen mit dem edlen Namen TrmätQaaiia bezeichnen,
stalt des Knaben Triptolemos. Jedenfalls waren auf de» sehr eine unverständliche Erscheinung. Die neueren Kunstschrift-
zahlreichen jetzt wieder neu aufblühenden Grabreliefs dieser steller wissen das recht wohl, wenn sie etwas verschämt von
Zeit häufig auch jugendliche Lieblinge dargestellt, die die den beinahe „zwitterhaften Formen" seiner männlichen Statuen,
unerbittliche Moira in den Hades gerufen hatte, wenn auch „in denen die beiden Geschlechtern eigentümlichen Vorzüge
geschickt vereint sind", reden, wenn auch unsere bigotte
o o DER EIOÜNE o o
o o DUR SCIlÜNi: JÜNGI.I.NÜ o o
19 2t)

Kultur es verbietet, die an sich höchst natürliche Sache mit Formen in einer möglichst die Reize seiner Gestalt zur
dem richtigen Namen zu benennen! Doch sehen wir davon Geltung bringenden Stellung durch den Meißel des Praxiteles
all und erfreuen uns an den verhältnismäßig gut und reich- gleichsam verewigt werden sollte; daß er dieses Werk dann
lich erhaltenen herrlichen Meisterwerken dieses einzigartigen Apollon taufte, wird wohl nicht viel andere Gründe gehabt
Poeten der Jünglingsschönheit; unter seinen Jugend werken haben, als wenn ein Meister der Renaissance seine schönen
fällt uns auf der einschenkende Satyr, ein schlanker, ge- Menschen Christus oder Maria benannte! Dem eben ge-
schmeidiger Knabe, dessen Schöpfer, wie Collignon sehr nannten Werke Praxiteleischer Kunst verwandt ist die in
richtig sagt, „in alles, was Anmut der Formen und jugend- zahlreichen Kopien vorhandene Statue des „ausruhenden
lichen Reiz besitzt, wahrhaft verliebt ist;" dann ge- Satyrn", deren beste wohl der im Louvre befindliche Torso
denken wir seiner berühmten und vielfach kopierten Eros- ist; diese Statue, „ein vollendetes Bild süßen Nichtsthuns"
statuen, von denen die von Thespiae — ein Knabe, der weist noch zartere, weichere Töne auf wie die vorige; der
sich mit der linken Hand auf den Bogen stützt und dessen erwähnte Torso besonders hat die Übergänge von den
Rechte gesenkt war, sein leicht geneigter Kopf mit ver- Hüften zu den Schenkeln mit einer unnachahmlichen Weich-
schlossenem Gesichtsausdruck — in einer Kopie des Neapeler heit wiedergegeben, während die in der Villa Hadrians ge-
Museums und einem Torso, dem mit Recht berühmten von fundene, jetzt im kapitolinischen Museum befindliche Kopie
Centocelle mit dem fast träumerischen Gesichtsausdruck uns vor allem das kecke Schelmengesicht gut darstellt.
überliefert ist; eine andere Erosstatue hat Praxiteles für die Außer diesen leider nicht im Original erhaltenen Werken
Stadt Parion geschaffen, möglicherweise ist die uns erhaltene besitzen wir seit 1877 den Originaltarso des Praxiteleischen
Statue, genannt „der borghesische Genius" eine Kopie des- Hermes von Olympia! Es ist die bekannte Darstellung des
selben, wenn auch sicherlich das Original etwas geschmei- jugendlichen Gottes, der auf seiner Linken den nach ihm
digere Formen zeigte, wie es uns eine auf Parion gefundene strebenden Dionysosknaben trägt; die Arbeit zeigt eine
Münze ahnen läßt; die dritte Erosstatue dieses Meisters, nur geradezu bewunderungswürdige Wiedergabe schlanker männ-
bekannt nach einer schwülstigen Beschreibung des Kallis- licher Schönheit, mit allen Nuancen und einer Elastizität,
tratos, könnte vielleicht dem bekannten „Eros Farnese" als die ein einzigartiges Spiel der über den Marmor hingleiten-
Vorbild gedient haben, wenigstens erinnert die zarte Anmut den Schatten verursacht: der edle Kopf mit seinem unmerk-
dieses feingliedrigen Knaben, sein liebliches Gesicht und lich lächelnden Gesicht, seinem dichten kurzlockigen Haar ist
die ganze Körperhaltung entschieden an den athenischen für sich schon allein ein Meisterwerk allerersten Ranges.
Meister. Die bekannteste Darstellung jugendlich männlicher Möglicherweise ist der sogenannte belvcderische Antinous
Schönheit durch Praxiteles Kunst ist der in einigen guten (Hermes) der viele verwandteZüge mit dem oben besprochenen
Repliken überlieferte Appollon Sauroktonos, ein eben mann- Kunstwerk zeigt, auch eine Nachbildung eines unbekannten
bar gewordener Jüngling, in zwangloser Haltung an einen Praxiteleischen Vorbildes, oder gehört doch dem Kreise des
Baumstamm gelehnt, mit einem Pfeil in der Rechten auf Praxiteles an. Daß eine solche Erscheinung wie dieser
eine an dem Stamme heraufkriechende Eidechse lauernd. Künstler eine lange Reihe von Nachwirkungen in Schülern
Über die etwaige „Bedeutung" dieser Darstellung des Gottes und Nachahmern hervorruft, ist verständlich: so besitzen
können sich nur die streiten, die nicht begreifen, daß es den wir denn gerade an Verherrlichungen jugendlicher Mannes-
Künstler nicht reizt, irgend eine „Idee" darzustellen, sondern schöne eine Anzahl Werke, die von dem großen Athener
daß ein schöner lebender Mensch mit seinen bestrickenden wesentlich beeinflußt sind; in erster Linie erinnern wir uns
v

•—SBBMai——^——M—«•••••'" — I — m — r
22 o o DER EIGENE o o

der schönen Ganymedesgruppe des Leochares, die in einer


guten Marmorkopic überliefert ist: Das Werk, schon von
PI in ins wann gelobt, stellt den Moment dar, da der Adler
des Zeus eben mit seiner süßen Last gen Himmel sich er-
hebt, die Flügel mächtig ausgebreitet, den Schnabel wie zu
einem Triumphschrei geöffnet; der Körper des noch zarten
Hirtenknaben in seiner köstlichen Nacktheit atmet ein frisches
Leben, erstaunlich ist die bisher noch nie versuchte Wieder-
gabe des Hinaufschwebens, eine plastische Kühnheit ohne
gleichen! Demselben Künstler schreibt man heute auch den
weitbekannten Apollo von Belvedere zu, den Winkelmann
etwas übermäßig gelobt, später ohne Grund getadelt habe
und der mit seinen überaus schlanken glatten Formen sich
neben den besten antiken Darstellungen der Jünglingsschön-
heit wohl sehen lassen kann.
Ein nicht minder gutes, wenn auch weniger bekanntes
Werk dieser Zeit ist der Dionysos des Euphranor, von dem
wohl die in Tivoli gefundene Marmorstatue eine gute Kopie
ist; die fast mädchenhafte Zartheit seiner Glieder und das
Seelenvolle im Gesichtsausdruck weist mit Entschiedenheit
auf den Einfluß der jungattischen Schule hin. Dann gehört
hierher die im Original erhaltene Statue des Hypnos (Schlaf-
gott), wie er sich mit leichtgesenktem Kopf naht, um aus
einem Hörne Mohnsaft zu träufeln; der zarte Jünglingskörper
erinnert in der Anmut seiner Formen an den Apollon Saurokto-
nos; ihm zur Seite zu stellen sind zwei knieende Jünglings-
statuen („von Subiaco" und sog. „Ilioneus"), in ihrer jugend-
lichen Schönheit reizende Wiedergaben des eben gereiften
Knabenalters. Man wird bei diesen Werken unwillkürlich
an die Knabengestalten der bis heute noch nicht bestimmt
„eingeschachtelten" Niobegruppe erinnert, die möglicherweise
auch in diese Zeit fällt.
Zur selben Zeit erfreute sich auch die peloponnesische
Kunst, die lange nur von Traditionen gezehrt hatte, wieder
eines durchaus originellen Künstlers, des Lysippos; von ihm
besitzen wir den sog. „Apoxyomenos", der in einer guten
Marmorkopie überliefert ist; er stellt einen durchaus indivi-
o o DER SCHÖNE JÜNGLING o o 2-4 o o DER EIGENE o o
23

ducll aufgefaßten Athleten dar, der sich nach dem Ringkampf Zeit des Hellenismus vor allem die Pergamonische und Rho-
mit dem Schabeisen vom Staub iuu\ Öl reinigt; das Werk dische Schule hervor. Jene, durch die Attaliden — gleich-
unterscheidet sich von den früheren Athletentypen rühmlich wie viel später in Florenz die Renaissancemeister durch die
durch die schlankeren, hager gewordenen Glieder, den klei- Medizäer — gehegt und unterstützt, wird uns am besten
neren, viel ausdrucksvolleren Kopf mit freierer Haarbehand- verkörpert durch die sehr naturalistischen mit packendem
lung, kurzum durch die größere Natürlichkeit, über die Pathos gegebenen verschiedenen Darstellungen aus dem
Lysipp selber gesagt haben soll, „er habe die Menschen so Galaterkriege (sterbender Galater, toter Galater u. s. w.); in
gebildet, wie sie uns erscheinen". Echt lysippisch ist auch ihrer späteren Entwickclung schuf diese Richtung den prunk-
die schöne Erzstatue des „ausruhenden Hermes" in Neapel. vollen Riesenaltar auf der Burg in Pergamon, dessen Unter-
Auch dies Werk zeigt alle die geschmeidigeren Formen, die bau der berühmte Gigantenkampffries zierte.
den Jünglingstypus aus den Zeiten Alexanders des Großen Das Werk ist gerade wegen seiner Behandlung unver-
von dem robusteren, ungeschlachteren Dorier des 5. Jahr- hüllter Jünglings- und Mannesschönheit eines derimponierend-
hunderts so wesentlich unterscheiden. Dem Lysipp zuge- sten klassischer Zeit, eine Symphonie, die sowohl die ernst-
schrieben wird auch das Original eines im kapitolinischen pathetischen Töne eines Skopas, als auch die lebendige
Museum befindlichen bogenspannenden Flügelknaben, ein Formensprache eines Praxiteles in gewaltiger Weise mit-
kleines, feines Bürschchen, das bereits an den Erostypus einander verbindet. Die Rhodische Schule hat u. a. die
späterer Zeiten gemahnt. Die sonst bekannten Werke Lysipps Laokoongruppe geschaffen, an der uns hier vor allem die
sind meist dem zum Manne ausgereiften Hcraklestypus ge- beiden meisterlichen Knabenkörper interessieren; an ihnen
widmet und der Verherrlichung Alexanders. wie an der ganzen Gruppe fällt vor allem die anatomisch
Die große neuschöpferische Kunst war mit Lysipp be- genaue Kenntnis des menschlichen Körpers auf und die
endet; was die griechische Plastik nachher noch leistete, bewußt auf Rührung berechnete Wiedergabe. Unter den
darf, so bedeutend wie z. B. die pergamonische Monumen- übrigen Werken hellenistischer Zeit mag noch genannt wer-
talkunst auch ist, nicht als originelle Geniekunst betrachtet, den die Marmorstatue des jungen Satyr mit den Bacchus-
sondern muß als wohlberechnete Anwendung dessen, was knaben; wenn auch die Mischung dreier älterer Motive dem
die großen Meister gefunden hatten, verstanden werden. Zu Ganzen den Eindruck des unkünstlerisch Überladenen ver-
den geschickten Nachahmern Lysipps gehört u. a. sein Sohn leiht, so wollen wir uns doch der eleganten Wiedergabe
Boethos, der Schöpfer des betenden Knaben, der uns in der des überaus schlanken feingliedrigen Jünglingskörpers er-
berühmten Berliner Erzstatue in Kopie überliefert ist. Einen freuen, derein interessantes derbes Gegenstück im sogenannten
weniger ernsten Knabentypus giebt der reizende flötenspie- „barberinischen Faun" findet, einem derbmuskulösen „Lüm-
lende Satyr des Louvre wieder; dieser Knabe ist ein zartes mel", der vom Schlaf übermannt auf einem Fels nieder-
Bürschchen mit mutwillfgem Ausdruck und überaus liebrei- gesunken ist und gerade durch die ungemein natürliche
zenden weichen Formen, die an Praxiteles erinnern. Noch (viele nennen es „unedel") Stellung den Eindruck sprühen-
näher steht der Art dieses Meisters der sogenannte Narciß, den Lebens macht. Ähnliche Wirkungen bringt hervor die
eine in Pompeji gefundene Bronzestatuette, wahrscheinlich „Ringergruppe" der Tribuna in Florenz, „die glänzendste
den Dionysos im Spiel mit dem (weggelassenen) Panther Athletendarstellung, die wir kennen".
darstellend. Im Hellenismus hatte die antike Plastik ihren letzten
Unter den nichtattischen Kunstrichtungen ragen in jener Höhepunkt erreicht; was später geleistet wurde, in Rom, wo
o o DER SCHÖNE JÜNGL1NQ o o 25 20 o o DER EIOENE o o

sich von nun an die geistigen Bewegungen konzentrierten, e emseher Plast.k, speziell der Verherrlichung der männ-
war Epigonenkunst in des Wortes schlimmster Bedeutung. Iiclicn Sdutahcit, in die Periode fallt, da zum ersten und
Wenn wir von der für unsern Zweck sehr ärmlichen etrus- einzigen Male in der Geschichte ein «hiinS-» .
kischen Kunst absehen, finden sich in Italien bemerkens- freidenkendes Vo.k seinen beste!, E L ^ f ^
werte plastische Werke nur von griechischer Hand stammend, Jünglingen und Männern einen ihnen zur L e L n L n
aber doch völlig hellenischen Geist nachahmend: beachtens- gewordenen Liebes- und F ^ n d . i ^ ^ ' S S Ä
wert ist so u. a. eine schlanke Jünglingsstatue des Praxiteles- heutzutage nur bei einzelnen wenigen deich«™ *»1 u
sehülers Stephanos, die freilich nichts anderes als eine Kopie Zeiten Verbannten seine * m n J % * J £ £ ^ * ?
allerer peloponnesischer Kunst zu sein scheint,ebenso istesmit
der sogenannten Orestes- und Pyladesgruppe, die die genannte
Jünglingsstatue benützt, und mit der Gruppe von „San Ilde-
toiiso", bei der ein Jüngling des genannten Typus mit einem
an Praxiteles erinnernden zu einem stillosen Nebeneinander
zusammengeflickt ist. Als nun vollends die kaiserliche Hof-
kunst sich entwickelte, erlebte man ein Schauspiel, wie wir DR. O. KIEFER.
es aus der Gegenwart nur zu gut kennen . . . . hohle leere
Purinen, äußerliche Pracht, Eklektizismus, alles mehr oder
minder dem großen „Schirmherrn" zu Ehren! Wir, die wir
die freie Schönheit suchen, wollen hier lieber aufhören; denn
auch die vielen Verherrlichungen, die ein homosexueller Fürst
wie Hadrian seinem romantischen Liebling durch die Skulp-
tur zuteil werden ließ, wiederholen nur alte Vorbilder und
interessieren mehr des Stoffes wegen.
Fragen wir nun noch, ob die antike Malerei, soweit
sie uns erhalten ist, keine Ausbeute liefert, so finden wir ja
allerdings genug archaistische Vasenmalerei mit Umrissen
mannlicher Körper, auch Überreste von Tafelmalerei, die wie
Zeuxis Kunst der Darstellung von männlicher Schönheit ge-
widmet sind, doch sind die Überreste für unsern Zweck zu
dürftig, und die gut erhaltenen Wandmalereien aus Pompei
und Herkulanum mit ihren oft schlüpfrigen Genrebildern
oder kunstlos wiedergegebenen unbedeutenden Alltagsszenen,
wie der bekannten Züchtigung eines nackten Knaben durch
seinen Lehrer, bieten doch für den Freund echter Jünglings-
und Mannesschöne zu wenig Beachtenswertes, als daß ein
näheres Eingehen sich verlohnte.
Rückblickend wird uns nicht entgehen, daß die Blütezeit
o o DER EIGENE o o

DER STELLVERTRETER
preude, komm, bei mir nun auch zu rasten,
Sorglos hab ich mich für dich geschmückt,
Einen frischen Kranz aufs Haupt gedrückt,
Würdig dich, Ersehnte zu begasten.
Nimm Besitz von Allem, was ich habe,
Wolle länger draussen nicht verziehn,
Lass umsonst die Rosen nicht verblühn! —
Da, es klopft: ein blondgelockter Knabe
Hüpft anmutig über meine Schwelle —
Wie er heimisch sich alsbald bewegt,
Jetzt ein Schemelchcn zum Herd sich trägt,
Jetzt ins Feuer bläst, verbreitet Zauberhellc —
Und am flackernd-Iustgen Widerscheine,
An den Glutcn, die er neu anfacht,
Freut sich herzlich nun der liebcnswürdge Kleine,
Sucht nach Bechern jetzt in ihm vertrautem Schreine,
Füllt eilfertig sie mit goldenem Weine,
Den er heimlich mir ins Haus gebracht.
Reicht den Kelch mir, teilt mit mir die Früchte,
Zierlich auf das Körbchen ausgelegt;
Dass kein Ende dieser Stunde schlägt,
Nimmt er von der Wanduhr die Gewichte!
W. VON QLOEDEN
Und ich lass den Springinsfeld gewähren,
IAIJN UND JÜNGLING
Der so viel geschäftig mich ergötzt,
DER ABEND Endlich hat er sich zur Seite mir gesetzt,
T~\em Abend lag ich an der treuen Brust, Endlich soll ich seinen Auftrag hören —
Also spricht er munter und vernehmlich:
Still träumend wie ein Kind
.Meine Schwester riefst du dir herbei,
Die braunen Wolkenlocken, Eros-wirr,
Und lachend froh sein tiefes Himmelsauge über mir Alle heischen sie als Wunderfei,
Und so ist sie selten nur abkömmlich —
Da dacht ich Dein!
Schein ich dir ein licbeleerer Schemen,
Zu meinen Füßen stumm sein weites Reich: Scheuche nur den Lästgen wieder fort,
Die schwarze Heide und das grüne Feld. Oder bin ich hier am rechten Ort?
Und segelstolz der sonnebronzne See, Willst fürlieb du mit dem Freunde nehmen?"
Dem schnell der Tag den goldnen Mantel raubt,
Dass weinrot seiner Tiefen Fluten glühn
Und bebend Well um Well ans Ufer rauscht . . . Schwester, Bruder — was liegt an der Hülle?
Da dacht ich Dein und spürte wollusthciß Freiidcnbringcr wirst auch du mir sein:
Des Abends weichen Mund auf meiner Stirn Längst verlangte mich nach solchem Herzverein,
Und leise Schauer durch die Fluren ziehn Dass er mir geheimste Sehnsucht stille!
Still träumend: über mir dein braunes Haar CARL WILHELM ÜEISSLER.
Im Goldgefunkel dunkler Sternrubinen —
Von Rosen Deiner Lenden Reiz umspielt
Und tief im Blick Dein süßer Schclmensinn:
Als wie ein Engel voller Lieb und Huld!
DER ARME LELIAN

S o vergingen ihm die Tage:


Torkelnd kam er nachmittags in ein Cafe" getappt,
und gleich einem verprügeltem Hunde suchte er den
dunkelsten Winkel im rauchdunklen Räume auf. Da saß er
nun auf dem abgeschabten Sammeteinesmaroden Di vans hinter
einem Tischchen, auf dessen fleckige Marmorplatte ein
Kellner ein Kelchglas und eine Karaffe mit Absint gestellt
hatte. Als der arme Lelian seinen breitrandigen Schlapp-
hut zog, gab er einen wunderlich gebildeten Schädel dem
fahlen Lichte frei. Es war der Schädel eines Silens, oder
einer Robbe. Schweißnaß klebten spärliche, gilbliche Haar-
strähne auf einer verbuckelten und verbeulten Stirne, die
in einer matten und krankhaften Blässe leuchtete. Den von
einem beschlabbcrten Knisterbart umwucherten Mund umzog
in scharfen Falten ein grinsiges Lächeln, während aus dem
vom Trunk und ermüdenden Lastern verschleierten Augen
zuweilen blitzende Blicke ausstrahlten. Es mußten furcht-
bare Ausschweifungen gewesen sein, die das Antlitz eines
Menschen zu solch einer Larve ummodelten, daß selbst die
frechen Kellner nur scheu nach ihm zu blicken wagten,
furchtbare Ausschweifungen der geheimsten Laster und ein
zerstörender Kampf von entsetzlicher grausamer Größe.
Als der Abend seine feuchten, dunklen Schleier in die
Straßen der großen Stadt senkte, wankte dieser Mensch, der
nicht geschlafen, nicht gegessen, nicht gedacht, nicht gelebt
hatte, der trunken war von Alkohol und einer großen Traurig-
keit und gegeißelt vom Schmerz einer zerbrochenen Leiden-
ZKUS UND GANYMEDES schaft, die noch in den zerbröckelten Trümmern weiter-
l'rohcillustration aus „Apulejus: Amor und Psyclie"
Verla«; Hermann Seemann Nachfolger, Leipzig
o o DER ARME LELIAN o o 32 o o DER EIGENE o o
31
/wiktc, wieder aus dem Cafe hinaus. Er schlich sich an Kirche. Er geriet in sie hinein und wußte nicht wie. Das
<kn schmierigen Häusermaucrn entlang in winkeligen ver- vom schwerwürzigen Arom des bläulichweiß aufkräuselnden
wahrlosten Gassen, durch deren übles Dunkel schattenhafte Weihrauch erfüllte, hochhallige Kirchenschiff, nur dämmerig
Gestalten huschten. Die Verworfenen der Stadt, die Zuhälter erhellt durch das goldige Flackerlicht honiggelber Wachs-
und Gauner, die in allen häßlichen Qualen erfahrenen mensch- kerzen, ließ in ihm ein Gewimmel von Ahnungen und Ge-
lichen Ungetüme waren es, die sich sonst auf jeden nicht fühlen erwachsen, das zur überschwenglichen Reue und
/u ihnen Gehörenden stürzten und ausraubten, die den armen Sehnsucht wurde durch das ernst tönende Orgelspiel und
1 ili.ui jedoch, von einer Art achtungsvollen Scheu befangen, ihn zerknirscht aufschreien ließ:
unbehelligt ließen, weil ihr scharfspähender Blick einen un- Darf ich denn wagen, Herr, nur deiner Spur zu nahn,
itlii.rtcii Schmerz, und ein, ihr eigenes Elend überragendes ich, der auf eklen Knicen vor dir kriecht und ächzet?
Llend an ihm wahrgenommen hatte. Eine Stunde später saß der einsame Trunkenbold wieder
Und als er an einer Straßenecke vor einer noch jungen, in einem kleinen Cafe, auf einem abgeschabten Sammetdivan,
unverbrauchten, gesunden und hübschen Dirne stehen blieb trank wieder Absint, und verharrte, den Kragen seines
und sie in einer, von rollenden Rülpsern unterbrochenen An- Pellerinenmantels vor sein grausiges Gesicht geschlagen,
sprache für sich begehrte, stieß ihn das Mädchen nicht lange regungslos. Dann und wann enthüllte er sein Antlitz,
barsch von sich, sondern faßte den trunkenen, vom Rand- um in langen saugenden Zügen das opalisierende Gift mit
stein in die schmutzige Gosse abgleitenden Mann hilfreich lüstigen Lippen zu schlürfen. Und doch waren es diese
uiiierni Arm und führte ihn zu sich in ihre kleine, weiße Lippen, diese so oft nach dem Schmack biezender Laster
Stube. Sie erduldete ihn. Und als sie im freundlichsten lechzenden, lefzenlangen Leckerlippen, von denen sich bald
W.'ihncn ihren frischen Leib den Verwüstungen seiner ohn- lispelnde Laute innigster Andacht und tiefster Zerknirschung
mächtigen Sinnlichkeit darbot, als sie ihn „glücklich" machen lösten, bald ein tief auftünendes Schluchzen, ein bebendes
wollte, er aber begehrte, daß sie sich wie eine Schwester Dröhnen, ein laut gewordenes Wehwinden einer zerquälten
an ihn schmiegen, Stirn an Stirn und Hand in Hand legen
Seele, oder ein dünnes, knittriches Kichern mit Glucksern
und mit ihm weinen möge, ward sie nicht unwillig, sondern
darin. Denn dieser abscheuliche Mund, war der des „armen
tat, wie Lelian verlangte. An ihn gekauert wie ein Kind,
Lelian", wie sich Paul Verlaine selbst nannte, es war der
ihre weiche, weiße Hand in seine braune Faust gedrückt,
schlief sie mit Tränen an den langen Wimpern. Alles weil Mund eines Mannes, der das wunderlichste, reichste und
er ein Dichter war! elendeste Leben zugleich gelebt hatte; ein Dasein zehrender
Qualen und feiner, seltener Kostbarkeiten. Es war der
Im Morgengrauen strauchelte er schon wieder in den Mund, der dies Leben wundersam besungen hatte. Auf
Gassen. Er suchte die Budiken auf. Wenn er in eine den reinen Höhen und in den dumpfigsten Tiefen seines
solche erbärmliche Kneipe trat, machten ihm die vor der Lebens, immer hat der Mund dieses Mannes gesungen, und
Arbeit noch ein „Stamperl Magenwärmer" schluckenden Ar- er hat von den ärgsten Dingen so sehr schön gesungen,
beiter Platz, ohne das leiseste Spottwort über sein wunder- daß sie einen gewissen Adel bekamen und rührend wirken
liches, verschmiertes und verzaustes Aussehen. Auch sie durch ihre naive Wahrhaftigkeit. Wie köstliche, aus dem
respektierten ihn, weil ihm in ihrer Gesellschaft solche Ge- Kot des Gassenrinnsals aufgeklaubte und unterm fließenden
dichte eingefallen waren, wie das ernste „Charleroi". Wasser reingespülte Blumenblüten sind viele seiner Ge-
Die nächste Station seiner Leidenspilgerschaft war eine dichte; andere sind wieder wie zu Versstrophen gewordene
34 00 DER EIGENE o o
o o DER ARME LELIAN o o 33
und unsterblich gemacht. Er war durchtränkt von einem
lauchzcr sinnlicher Lust und Schreie letzter Krämpfe per- großen Schmerz, und sang so von ihm:
verser Laster. Es weint in meinem Herzen,
wie auf die Stadt es regnet;
Dieser Verlotterte mit dem garstigen Mund, der so er- was will dies kalte Schmerzen,
bärmlich dakauerte, hatte eine seltene, große Gewalt über in meinem Herzen?
die Worte gehabt. „Eine solche Gewalt hatte er über die Wie kühl des Regens Lied
Worte," wie Bahr sagt, „daß selbst die Alten, Ermatteten und auf Dächer füllt und Straßen!
Welken, wenn er seine sanfte Hand an sie legte, auflebten Für Herzen wund und miid
und wie Neugeborene zu lächeln schienen: mots frais, la so gutes Lied!
phrasc enfant, style naiv et chaste, wie er es selbst nannte. Es weint ohn allen Grund
Er suchte nicht; er nahm die gemeinen Worte, die in allen in diesem kalten Herzen.
tätlichen Gesprächen liegen, aber sonst schlafen, nur in Und ohne allen Grund
ist es so wund.
seinem Munde aufwachen. Oft hat er die einfachsten Dinge
so gesagt, daß man sie nie mehr vergessen kann; mit sei- Das sind die schwersten Schmerzen,
nen Worten hat er den Dingen ihre Haut abgezogen". Ver- wenn man nicht weiß, warum;
eine vergeistigte die Sprache, wie Verharren sagt. Die nicht Liebe, nicht Haß im Herzen,
nur Schmerzen . . . .
Schattierungen, die weichen Biegungen, die Gebrechlichkeit
des Satzes lockten ihn. Er machte köstliche, fließende, Er kannte das Laster der Tribadie, und sang von ihm:
weiche Sätze. Sie scheinen ein fast unmerkliches Säuseln Die junge Frau im roten Haar, das lose
der Luft; ein Flötenton im Schatten bei Mondschein; das herabfällt, redet zu dem blonden jungen
flüchtige Rascheln eines Seidenkleides im Winde; das bebende Mädchen mit klug verführerischen Zungen,
und ihre Stimme bebt im Wortgekose.
Klingen von Gläsern und Krystallgegenständen auf einer
Etagere. Manchmal enthalten sie einzig und allein die weiche „Steigender Saft du, hold erblühende Rose,
Gebärde zweier sich ineinanderfaltender Hände: Die Rein- dein Wuchs ist wie ein Buchenleib geschwungen.
heit, die Durchsichtigkeit, Unschuld der Dinge ward in ihnen Laß meine Finger irren in dem Moose,
wo zart die frische Knospe aufgesprungen.
wiedergegeben. Paul Verlaine erforschte die bald sanften,
bald brausenden Tiefen der menschlichen Seele. Er studierte O laß mich trinken unterm keuschen Grase
manche Laster der Decadence; er feierte die traute, lautlose die Tropfen reinen Taus, der sie befeuchtet,
in dessen Glanz die zarte Blüte leuchtet — —
Zärtlichkeit. Er besang namentlich den Mystizismus. Er
hat alles gekannt, nur die Ruhe nicht. Der Schmerz warf damit dir, Liebste, seclige Extase
ihn der Reue, das Vergnügen der Buße, die Freude der die reine Stirn erleuchte und erfreue
wie Morgenrot die matte Himmelsbläue."
Trauer und Verzweiflung zu. Sein Wesen war von Angst
geschüttelt oder durch das Gebet verklärt; es glühte bald in Er ließ um seinen begehrenden Leib alle fremden
Laster, bald in Tugend. Rote Flammen oder weiße Strahlen Gluten wabbern — und sang von ihnen:
verwüsteten oder erleuchteten es mit ihrer Glut oder ihrer Deine Augen, dein fahles Haar,
Helle. Er war ebenso Mensch wie Christ. Und diese seine deiner Brauen geschwungenes Paar,
Doppelnatur hat er als großer Dichter ausgedrückt, besungen deines Mundes blasse Blume,
o o DER ARAIE LELIAN o o 32 o o DER EIGENE o o
31
/uiktc, wieder aus dem Cafe hinaus. Er schlich sich an Kirche. Er geriet in sie hinein und wußte nicht wie. Das
ik-n schmierigen Häusermauem entlang in winkeligen ver- vom schwerwürzigen Arom des bläulichweiß aufkräuselnden
wahrlosten Gassen, durch deren übles Dunkel schattenhafte Weihrauch erfüllte, hochhallige Kirchenschiff, nur dämmerig
(k'.staltcii huschten. Die Verworfenen der Stadt, die Zuhälter erhellt durch das goldige Flackerlicht honiggelber Wachs-
und «immer, die in allen häßlichen Qualen erfahrenen mensch- kerzen, ließ in ihm ein Gewimmel von Ahnungen und Ge-
lichen Ungetüme waren es, die sich sonst auf jeden nicht fühlen erwachsen, das zur überschwenglichen Reue und
/u ihnen Gehörenden stürzten und ausraubten, die den armen Sehnsucht wurde durch das ernst tönende Orgelspiel und
I dkm jedoch, von einer Art achtungsvollen Scheu befangen, ihn zerknirscht aufschreien ließ:
unbehelligt ließen, weil ihr scharfspähender'Blick einen un- Darf ich denn wagen, Herr, nur deiner Spur zu nahn,
ifhorten Schmerz, und ein, ihr eigenes Elend überragendes ich, der auf eklen Kniccn vor dir kriecht und ächzet?
lüeiul an ihm wahrgenommen hatte. Eine Stunde später saß der einsame Trunkenbold wieder
Und als er an einer Straßenecke vor einer noch jungen, in einem kleinen Cafe, auf einem abgeschabten Sammetdivan,
unverbrauchten, gesunden und hübschen Dirne stehen blieb trank wieder Absint, und verharrte, den Kragen seines
uml sie in einer, von rollenden Rülpsern unterbrochenen An- Pcllerincnmantels vor sein grausiges Gesicht geschlagen,
sprache für sich begehrte, stieß ihn das Mädchen nicht lange regungslos. Dann und wann enthüllte er sein Antlitz,
barsch von sich, sondern faßte den trunkenen, vom Rand- um in langen saugenden Zügen das opalisierende Gift mit
stein in die schmutzige Gosse abgleitenden Mann hilfreich lüstigen Lippen zu schlürfen. Und doch waren es diese
unterm Arm und führte ihn zu sich in ihre kleine, weiße Lippen, diese so oft nach dem Schmack biezender Laster
Stube. Sie erduldete ihn. Und als sie im freundlichsten lechzenden, lefzenlangen Leckerlippen, von denen sich bald
W.'ilmcii ihren frischen Leib den Verwüstungen seiner ohn- lispelnde Laute innigster Andacht und tiefster Zerknirschung
mächtigen Sinnlichkeit darbot, als sie ihn „glücklich" machen lösten, bald ein tief auftönendes Schluchzen, ein bebendes
wollte, er aber begehrte, daß sie sich wie eine Schwester Dröhnen, ein laut gewordenes Wehwinden einer zerquälten
an ihn schmiegen, Stirn an Stirn und Hand in Hand legen
Seele, oder ein dünnes, knittriches Kichern mit Glucksern
und mit ihm weinen möge, ward sie nicht unwillig, sondern
darin. Denn dieser abscheuliche Mund, war der des „armen
tat, wie Lelian verlangte. An ihn gekauert wie ein Kind,
ihre weiche, weiße Hand in seine braune Faust gedrückt, Lelian", wie sich Paul Verlaine selbst nannte, es war der
schlief sie mit Tränen an den langen Wimpern. Alles weil Mund eines Mannes, der das wunderlichste, reichste und
er ein Dichter war! elendeste Leben zugleich gelebt hatte; ein Dasein zehrender
Qualen und feiner, seltener Kostbarkeiten. Es war der
Im Morgengrauen strauchelte er schon wieder in den Mund, der dies Leben wundersam besungen hatte. Auf
Gassen. Er suchte die Budiken auf. Wenn er in eine den reinen Höhen und in den dumpfigsten Tiefen seines
solche erbärmliche Kneipe trat, machten ihm die vor der Lebens, immer hat der Mund dieses Mannes gesungen, und
Arbeit noch ein „Stamperl Magenwärmer" schluckenden Ar- er hat von den ärgsten Dingen so sehr schön gesungen,
beiter Platz, ohne das leiseste Spottwort über sein wunder- daß sie einen gewissen Adel bekamen und rührend wirken
liches, verschmiertes und verzaustes Aussehen. Auch sie durch ihre naive Wahrhaftigkeit. Wie köstliche, aus dem
respektierten ihn, weil ihm in ihrer Gesellschaft solche Ge- Kot des Gassenrinnsals aufgeklaubte und unterm fließenden
dichte eingefallen waren, wie das ernste „Charleroi". Wasser reingespülte Blumenblüten sind viele seiner Ge-
Die nächste Station seiner Leidenspilgerschaft war eine dichte; andere sind wieder wie zu Versstrophen gewordene
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und unsterblich gemacht. Er war durchtränkt von einem


Jauchzer sinnlicher Lust und Schreie letzter Krämpfe per- großen Schmerz, und sang so von ihm:
verser Laster. Es weint in meinem Herzen,
wie auf die Stadt es regnet;
Dieser Verlotterte mit dem garstigen Mund, der so er- was will dies kalte Schmerzen,
bärmlich dakauerte, hatte eine seltene, große Gewalt über in meinem Herzen?
die Worte gehabt. „Eine solche Gewalt hatte er über die Wie kühl des Regens Lied
Worte," wie Bahr sagt, „daß selbst die Alten, Ermatteten und auf Dächer fallt und Straßen!
Welken, wenn er seine sanfte Hand an sie legte, auflebten Für Herzen wund und tniid
und wie Neugeborene zu lächeln schienen: mots frais, la so gutes Lied!
phrase enfant, style naiv et chaste, wie er es selbst nannte. Es weint ohn allen Grund
Kr suchte nicht; er nahm die gemeinen Worte, die in allen in diesem kalten Herzen.
Mißlichen Gesprochen liegen, aber sonst schlafen, nur in Und ohne allen Grund
ist es so wund.
seinem Munde aufwachen. Oft hat er die einfachsten Dinge
so gesagt, daß man sie nie mehr vergessen kann; mit sei- Das sind die schwersten Schmerzen,
nen Worten hat er den Dingen ihre Haut abgezogen". Ver- wenn man nicht weiß, warum;
laine vergeistigte die Sprache, wie Verharren sagt. Die nicht Liebe, nicht Haß im Herzen,
nur Schmerzen . . . .
Schattierungen, die weichen Biegungen, die Gebrechlichkeit
des Satzes lockten ihn. Er machte köstliche, fließende, Er kannte das Laster der Tribadie, und sang von ihm:
weiche Satze. Sie scheinen ein fast unmerkliches Säuseln Die junge Frau im roten Haar, das lose
der Luft; ein Flötenton im Schatten bei Mondschein; das herabfällt, redet zu dem blonden jungen
flüchtige Rascheln eines Seidenkleides im Winde; das bebende Mädchen mit klug verführerischen Zungen,
Klingen von Gläsern und Krystallgegenständen auf einer und ihre Stimme bebt im Wortgekose.
Etagere. Manchmal enthalten sie einzig und allein die weiche „Steigender Saft du, hold erblühende Rose,
Gebärde zweier sich ineinanderfaltender Hände: Die Rein- dein Wuchs ist wie ein Buchenleib geschwungen.
heit, die Durchsichtigkeit, Unschuld der Dinge ward in ihnen Laß meine Finger irren in dem Moose,
wo zart die frische Knospe aufgesprungen.
wiedergegeben. Paul Verlaine erforschte die bald sanften,
bald brausenden Tiefen der menschlichen Seele. Er studierte O laß mich trinken unterm keuschen Grase
manche Laster der Decadence; er feierte die traute, lautlose die Tropfen reinen Taus, der sie befeuchtet,
in dessen Glanz die zarte Blüte leuchtet — —
Zärtlichkeit. Er besang namentlich den Mystizismus. Er
hat alles gekannt, nur die Ruhe nicht. Der Schmerz warf damit dir, Liebste, seclige Extase
ihn der Reue, das Vergnügen der Buße, die Freude der die reine Stirn erleuchte und erfreue
wie Morgenrot die matte Himmelsbläue."
Trauer und Verzweiflung zu. Sein Wesen war von Angst
geschüttelt oder durch das Gebet verklärt; es glühte bald in Er ließ um seinen begehrenden Leib alle fremden
Laster, bald in Tugend. Rote Flammen oder weiße Strahlen Gluten wabbern — und sang von ihnen:
verwüsteten oder erleuchteten es mit ihrer Glut oder ihrer Deine Augen, dein fahles Haar,
Helle. Er war ebenso Mensch wie Christ. Und diese seine deiner Brauen geschwungenes Paar,
Doppelnatur hat er als großer Dichter ausgedrückt, besungen deines Mundes blasse Blume,

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o o DER ARME LELIAN o o 38 o o DER EIQENE o o
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Ein Nebe! verschleiert schon die traurigen „Poems saturniens" dichtete, (die 1866
die Felder und winkt, als sein Erstlingswerk erschienen, mit dem %er nach St. Zweig
voll Wehmut feiert formell und auch inhaltlich innerhalb der strengen Regeln
die Sonne und sinkt. jener Kunst wurzelt, die den Ausdruck der vollkommenen
Voll Wehmut feiert
mein Herz mit und klingt Schönheit in der kühlen, objektiven Ruhe, „der impassibilite",
vcrgessenumschleiert, und der Marmorkälte einer ehernen, unnachgiebigen Form
und die Sonne sinkt. sucht) gerät er ah Akademiker, halb verführt von seinen
Von seltsamen Träumen, Kollegen, halb aus Furcht vor seiner Traurigkeit, in ein
wie Sonnen glühn wüstes Treiben in den Kneipen des Quartier latin. Seinem
in den himmlischen Räumen, Vater gelang es schließlich, ihn diesem Lotterleben dadurch
flammend und kühn, zu entreißen, daß er ihm eine Stellung im „Hotel de ville"
siehst du noch schäumen als Schreiber verschaffte. Sein Bureaukollege war der bei-
die Lüfte und sprühn,
wie Sonnen verglühn läufig gleichaltcrige Francois Coppee und durch ihn wurde
in den himmlischen Räumen. . . . nun Verlaine mit Anatole France, Catulle Mentees und an-
deren zeitgenössischen Dichtern bekannt. Noch Beamter der
Und von der hereinbrechenden Nacht sang er: Präfcktur, gab Verlaine 1869 den Band der „Fetes galantes",
Der Mond ist rot, von trüben Dünsten schwer,
in Nebelwogen rings die Wiesen rauchen, dies köstliche Kollier wundersam kunstvoll in abertausend
aus grüner Binsen Schlaf die Frösche tauchen, blitzenden Facetten geschliffener Roccocobijous, die „nur
ihr Ruf zerreißt das graue Schleiermeer. übermütigen Glanz und unruhigen Flimmer zu versprühen
scheinen" Aber wie über den lächelnden Maskenspielen des
Die Rosen schließen sich mit weißen Blättern ;
die Pappeln ragen fern und ungewiß ancien regime der düstere Schatten der furchtbaren Ereig-
gespenstig starr in schwarzem Schattenriß, nisse drohte, so zittert auch hier schon jener heimliche,
durch das Gebüsch Johanniswürmchen klettern; sentimentale Unterklang in die prickelnden Melodien mit,
Die Eulen taumeln auf und rudern sacht der sich manchmal noch in einen unruhigen, gezwungenen
durch Finsternisse hin mit trägen Schwingen, Zynismus flüchtet, um aber dann schließlich in dem letzten Ge-
ein taubes Licht will sich der Luft entringen: dichte „Colloque sentimental" unaufhaltsam hervorzubrechen,
Da blitzt der Abendstern — das ist die Nacht! wie ein Schluchzen aus tiefster Seele" und der endlich, gleich
einem wilden Tier, das schwer auf der Beute wuchtet, Verlaine
Paul Verlaine wurde am 30. März 1844 als Sohn eines
immer mehr bedrückte, bis er zu trinken begann. Er hielt
Genieoffiziers geboren. Als siebenjähriger Knabe war er
das gemächlich versickernde Leben eines Bourgeois in der
nach Paris gebracht worden. Der erste Eindruck, den er Kultur einer Welt, in der er sich nicht zurecht fand, nicht
von der großen Stadt empfing, war der von „Schmutz und aus. Ein durchdringender Giftsaft heimlich schleichender
nichts als Schmutz," wie er später in den „Confessions" Süchte durchrieselt brennend seine Adern — und plötzlich
bekannte. Seine Kindheitstage verrannen in ereignisloser brechen lang verdämmte Triebe wild aus. „Jener unersätt-
Einerleiheit und erfüllten die empfindliche Seele des Knaben liche Durst nach neuen Sensationen, der Baudelaire zum
mit einer tiefen Trauer und seinen Geist mit einer quälenden Haschisch geführt hatte, ließen ihn das Vergessen in den
Angst vor dem dunkel drohenden Leben. Zum Jüngling Kneipen suchen, wo er seine Unrast mit Absint ertränkte."
herangewachsen, der seit seinem 14. Lebensjahr dichtete,
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Und doch schien noch einmal alles wieder gut zu wer- zu Verlaine kam, nicht erkennen wollen. Es war Liebe und
den. Im Frühling des Kriegsjahres 1870 erschien „La bonnc sie hat ihn zum armen Lelian gemacht.
chanson", das milde Buch, dessen Entstehungsgeschichte Giebt es Wunderlicheres, Rätselhafteres als Liebe? —
Verlaine in seinem schon vorhin erwähnten Prosaband Zwei Menschen leben, vegetieren eigentlich, voneinander
„Gmfessions" erzählt. Es ist die Geschichte seiner Liebe getrennt, aber sie suchen sich. Sie suchen sich im Wald,
/u seiner nachmaligen Gattin Mathilde Mante. Bei einem im Kunstwerk, im hindämmernden Ausruhn und auch im
Freunde, zu dem er eines Tages gegangen war, um ihn zum Menschen. Sie suchen und sehnen, und leben äußerlich
Absint abzuholen, lernt er ein liebliches Mädchen kennen, ruhig, da — Karma oder Zufall — dringt ein Wesen in
die Schwester des Freundes. Er verliebt sich in das an- ihren Kreis und magische Kräfte fangen an zu wirken.
mutige Wesen und das Verhältnis reift rasch zur Verlobung. Welche Wehr haben wir dagegen? Alles war bislang so
In dieser Zeit, bis zur Heirat, schrieb Verlaine die Lieder ruhig, fast traut gewesen, auf einmal kommt Jemand und das
der Liebe und Sehnsucht: „La bonne chanson". Nicht aus Herz begrüßt freudig: Da bist Du ja, du, du! Die Kräfte
liierarischen Absichten waren sie entstanden, sie waren wirken. Die beiden Menschen werden zueinander getrieben,
wahrster Gefühlsausdruck. „Er wollte nichts als sein Em- bis sie Eins werden, ein Mensch. Wir wissen ja nicht, wo
pfinden dem erwählten Herzen mitteilen und aus dieser der Eine beginnt und der Andere endet. Unentrinnbar
kleinen persönlichen Ursache entsprang ein Buch, das in fallen wir dem Geheimnisvollen zu — der Liebe. Wie ein
seiner Frische, Wahrheit und Ursprünglichkeit einzig ist und Dämon kommt sie über uns, erfüllt uns mit einer geheimnis-
eine neue Epoche für die französische Poesie bedeutet." vollen Kraft, die sich so sehr verschieden äußert. Der
Aber dem im Zeichen des Saturn Geborenen war kein Mensch, an dem wir gestern so achtlos vorbeischlendcrten,
dauerndes Glück beschieden. Das tragische Schicksal trat bedeutet für uns heute vielleicht die Menschheit, das
au ihn heran in der grazilen Ephebengestalt des siebzehn- Glück. Eine immense Umwälzung vollzieht sich in uns. Alles
jährigen Jean Arthur Rimbaud, dessen Wesen und Genie, Herkömmliche stürzt in sich zusammen wie ein Dominostcin-
dessen Schönheit an Leib und Geist Verlaine bald so völlig turm. Wir freveln an uns bislang Heiligem, wir werden
bezauberte, daß er, um mit dem Freund und Geliebten grausam, furchtbar, lasterhaft, wir verlassen treulos unsere
ungestört leben zu können, seine Familie verließ und nach Familien, vergiften, vernichten das Leben uns einst teuerer
Belgien reiste. In Brüssel wurde Verlaine zu zwei Jahren Wesen, wir werden zu bleichen Verbrechern, zu Wahn-
Gefängnis verurteilt, weil er Rimbaud zu erschießen ver- witzigen, zu Bestien! Wir werden aber auch zu Titanen
suchte, als dieser sich von ihm trennen wollte. Oskar durch diese geheimnisvolle Kraft und fähig, schwere Hinder-
Pannizza hat über das Verhältnis zwischen Verlaine und nisse zu überwältigen, auszuharren im grausesten Elend.
Rimbaud ausführlich in der „Wiener Rundschau" geschrieben. Und wir werden — freilich selten — durch diese Kraft zu
Ich verstehe es nicht, daß die Menschen solch ein Vor- Göttern; wir werden groß, still, schön und gut.
kommnis abtun zu können wähnen, indem sie von einer Unentrinnbar fiel auch Verlaine der Liebe zu, einer
„Schweinerei", einer „krankhaften Verirrung" sprechen. Es lieblich beginnenden und entsetzlich endenden Liebe;
mag ja all das sein, aber es ist doch noch viel mehr, es ist einer dämonischen Leidenschaft, die ihn bei lebendigem
etwas Bedeutsames, Großes, Ernstes und Furchtbares, und Leibe in furchtbaren Lohen verglühen ließ, ihn zum Frevler,
es ist nicht zuletzt Liebe. Ich staune darüber, daß die Leute zum Wahnwitzigen, zum Verbrecher, zur Bestie, zum er-
die große leidenschaftliche Liebe, in der Gestalt, in der sie bärmlichsten Trunkenbold machte, die ihm das Herz zerriß,
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daß es einen Klang gab so unsagbar groß und traurig, daß den Nerven, jene sich in knisternden, ächzenden, stöhnenden
sein Nachhall in den Gedichten noch zu vernehmen ist, — Fleisch-, Seiden- und Schmuck-Kaskaden wälzende Deca-
in der Liebe zu einem Manne! dence des faulenden Jahrhunderts Müdgelebter. All das
Der Wahnsinn dieser Liebe brachte ihn ins Gefängnis. totkranke fashionable Gesindel der Dirnen in allen Ab-
In der aufgezwungenen zweijährigen Einsamkeit der Ge- stufungen, von der zur linken Hand getrauten Fürstenmaitresse
fängniszelle zu Mons machte er Frieden mit Gott. Aus bis zur „notwendigen" Hure der dunkeln Straßenecke, haßte
diesem Frieden entstand und reifte das bedeutendste Buch er, und er haßte jene morbiden Männer, die sich aus dem
Verlaincs, sein „Sagesse", ein Buch religiöser Buße und Er- reinen Weib dieses lebende Gift schufen. Er wollte mit
hebung. Das Buch „Sagesse" bedeutet, wie Remer richtig dieser Welt und ihren lasterhaften Freuden brechen, er
sagte, die seelische und dichterische Höhe im Leben Verlaines, wollte Reinheit predigen, Reinheit! Aber nicht lange. Denn
den letzten und schönsten Aufflug seines Genius, der dann immer wieder entbrannte in ihm die große und mitleidige
auf die Erde zurückfällt und mit gebrochenen Schwingen Liebe zu denen, die sich nicht bewahren, die sich ver-
sich noch eine Strecke Wegs durch Staub und Schmutz schenken und in spitzbübisch-höfischer Weise den Mummen-
weiterschleppt. Nach Paris heimgekehrt, ohne Mittel und schanz des Lebens lächelnd mitmachen. Er vermochte die
ganz der Absintleidenschaft unterworfen, sank er zum ver- Heiligen nicht wahrhaft zu lieben, wahrhaft liebte er nur
lumpten Vagabunden herunter, den ich am Anfang dieses die Untergehenden, Hinübergehenden, deren Leid, ihnen
Artikels zu schildern versuchte. Die Augenblicke inneren selbst kaum bewußt, ein Sehnen nach der Ewigkeit ist.
Aufschwungs wurden immer seltener und erstickten schließ- Und er lachte der Tugend. Die Tugend galt ihm als
lich völlig in einer senilen Lasterhaftigkeit. Wenn er wild- der Geiz des Leibes, als der Neid der Seele.
imglücklich gewesen war — die Leute nannten es unzüchtige Am 8. Januar 1896 starb er in Paris.
Rohheit — gellte oft plötzlich ein jäher Schmerz in ihm
auf und ein herber Verdruß begann in ihm zu gähren, bis * *
auf einmal eine innere Stimme in ihm, eine Stimme aus den Keiner von den ausländischen Poeten hat so viele und
Hintergründen seines Wesens, empört über seine sadismische so vorzügliche Übersetzer bei uns gefunden wie Paul
Sucht zornig aufschrie: Tier! Tier! Verlaine. Und nicht nur fein nachempfindende, sondern ge-
Darob konnte er sich dann kindlich freuen; denn er festigte Dichterindividualitäten sind seine Übersetzer ge-
bewunderte den reinen Zorn, diesen Priesterzorn in der worden, wie Richard Dehmel, Franz Evers, Johannes Schlaf,
Stimme. Henckell, Cäsar Flaischlen. Der Jung-Wiener Lyriker Stefan
Eine heiße Reue überkam ihn dann und die Sehnsucht Zweig hat nun die verstreut in verschiedenen Blättern er-
nach Befreiung vom Leib- und Gedankensudel, und dann schienenen Übersetzungen gesammelt und zu einem Band
wieder Zorn. Und er braute sich eine kuriose Tinte zu- vereinigt bei Schuster & Löffier In Berlin herausgegeben
sammen aus Galle und Schmerz, Blut, Hirn und Tränen, und außer eigenen Übertragungen Verfälscher Gedichte dem
aus Patchouli und asa foetida, Jod, Karbol und verwesenden Band ein feines Essay beigegeben. Es ist so ein reiches
Chrysanthemen, und schrieb mit dieser Tinte in einigen und schönes deutsches Buch von Verlaine entstanden. Es
Sätzen einiger Gedichte eine faszinierende Schilderung dieser wird sicherlich viel gekauft werden. Es verdient dies
Welt voll muchelnder Pose, quienenden Elends und Bestialität. Schicksal.
Er haßte auf einmal die Welt der zuckenden Muskeln, fiebern- ARTHUR ROESSLER.
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Und zur Empore wendet sich mein Blick


Wie suchend nach entsch wundncnTraumgcstalten —
Da — täuscht ein Trugbild die erregten Sinne?
Blendet mich Kcrzcnglanz? — Im Sängerchor
Steht, schön und herrlich, wie Johannes Bildnis
BUSSTAG Ein Jüngling dort, mit Richards Aug und Haar! —
EINE ERINNERUNO Wild wallt mein Blut empor, die Stirne preß ich,
A m Bußtag wars. — In Fcierstüic ruhte Die heiße, an den kalten Marmor — zwingend
Mit Nebelschleiern grau verhüllt, die Stadt. — Mein Herz, das schreien will in Weh und Lust!
Ich schlich allein den altgewohnten Weg Er ist es, mein Erlöser soll mir werden
In meines Lebens öder Wüstenei, Aus Sehnsuchtsschmerz und tausendfacher Qual!
Trostlos und freundlos, selbst ein Büßender, — Der OrgelKIang verdröhnt, der Sang verstummt —
Der unverschuldet schleppt des Fluches Kreuz! — Ein still Gebet—dann Schritte, Rauschen, Stimmen —
Ich schlich allein eleu altgewohnten Weg Ich raffe mich empor — halb taumelnd taste
Im todesmüden Hirn die Rätsel wälzend, Zur Türe ich, die zur Empore führt —
Die ungelösten, meines bangen Lebens! Ein Einzger steigt, der Letzte nun herab —
Die wunde Brust zernagt von wildem Sehnen Ich warte bebend, dann mit leiser Stimme
Nach Liebe — meiner Liebe — der verfehmten! Ruf: „Richard!" ich — Mich trifft ein Frageblick,
Dann ein Erzittern, dann ein Augenleuchten,
Ein Jubelschrei, ein stürmisch-heiß Umschlingen —
An mir vorüber glitten, schattengleich, Der Freund, der teure, liegt an meiner Brust
Die Gläubgen alle, die zur Kirche wallten — Und „Hallclujah" jauchzen unsre Seelen! — —
Schon hebt sich vor mir der gewaltge Bau
Der Kathedrale — Hundertfarbig glühen A. RÖMER.
Der Gotenfenster Purpurmosaiken,
Und dröhnend ruft zum Büßen und zum Beten
Der Glockenstimmen herrlicher Akkord! —
Ich trete ein — vielleicht, daß Orgelklang,
Daß himmlische Musik mir Trost verleihe,
Und Lindrung gieße in mein krankes Herzl —
Nun braust hernieder der erhabne Sang,
Auf Orgeltönen mächtig fortgetragen,
Jubelnd wie Engelsruf aus Himmelshöhu
Der „Hallelujah"-Chor aus dem „Messias"!
Ich berg mich still in einer Säule Schatten
Dicht am Altar — in Schauern bebt mein Herz
In süßen Schauern der Erinnerung,
Des selgen Denkens goldner Knabenjahre!
Auch ich stand damals an geweihter Stätte
Voll Inbrunst singend — und an meiner Seite
Stand „Richard", meiner Seele liebster Freund,
Der herzge Bube, mir in Lieb ergeben.
Versunken längst die Paradiesestage! —
Des Schicksals wandelvolles Walten trennte
Der Freunde Weg — und öde ward mein Herz. —
MÄNNLICHE KULTUR
EIN STÜCK ZUKUNFTSMUSIK

J
edes Ideal trägt auch Allzupersönliches an sich; denn
welches große Lebensziel hatte die Menschheit je ver-
folgt, das nicht vorher einem Einzelnen und Einsamen die
Aufgabe seines Daseins gewesen wäre? Aus dem Flugsand
seiner Triebe und Gedanken schafft erst die Persönlichkeit des
Menschen den festen Boden, auf dem des Lebens Tempel
errichtet werden sollen; was Wunder, daß dieser Boden nicht
für alle Ewigkeit aushalt und eines Tages im Winde zer-
stäubt. Aber was tuts? Der wahre Tempel des Lebens ist
das Leben selbst, und des Lebens köstlichster Reichtum ist
die Fülle der Gestalten, die es anzunehmen vermag. Um
so besser, wenn nicht starre Allgültigkeit und äußerliche Un-
vergänglichkeit zum Grabe des Lebens werden; um so besser,
wenn die Ideale neu ergrünen mit jedem Menschenfrühling.
Das Ideal, das nicht immer neu aufersteht und in jedem
Menschenherzen neue Siege erkämpft, ist gar kein Ideal,
sondern eine Fessel oder eine Krücke. „Ich bin Mensch,
sei du auch Mensch!" Das ist die einzige Allgemeinheit
des Ideals.
Als Mann ist mir darum auch natürlich eine männliche
Kultur das Menschenwürdige und Erstrebenswerte. Aber
ich glaube, daß in der Männlichkeit sich eine so tiefe Er-
scheinung der Natur verkörpert, die sich in der Geschicht-
»ER MÖNCH
Drs. LUCIAN VON RÖMER
lichkeit längst nicht erschöpft, daß ich über meine per-
4H o o IW.U EIGENE o o
o o MÄNNLICHE KULTUR o o 47

".unliebe Empfindung hinaus den „Mann" als das fleisch- Mann und Weib, beides ist der Mensch, und in jedem
newordene „Ding an sich" bezeichnen möchte und „männ- einzelnen Menschen mischen sich Vater und Mutter, männ-
liche" Kultur als ein unendliches Geleise hinstellen, auf dem liche und weibliche Kräfte. Wenn wir dann allgemein von
das Leben unaufhaltsam seiner Ewigkeit zurollt. „Mann" und von „Weib" zu reden wagen, so genügen wir
damit nicht dem groben Unterscheidungsbedürfnisse des
Menschen allein, sondern wir bezeichnen damit kurzweg
I. entgegengesetzte lebendige Mächte, die in der einen Gruppe
Hinter allen streitenden Naturkräften leuchtet das eine stärker zum Ausdruck gelangen, als in der entgegengesetzten.
e,r<»ttc Geheimnis des Seins hervor, die Tat; und aus In welchem Sinne wir aber trotz aller Übergänge und
allen Gebilden der Natur, den angeblich toten, wie den Zwischenstufen des einzelnen Falles doch berechtigt sind,
lebendigen, sprechen unerforschliche Taten, die aus der von „Mannheit" gegenüber der „Weibheit" zu reden, ergibt
wirbelnden Materie höheres und reicheres Dasein erschufen; sich aus der Entwicklungsgeschichte der Lebewesen.
und wenn der Mensch in sein Inneres hineinhorcht, hört er Die niedersten Lebewesen besitzen alle die Fähigkeit,
aus jeder seiner Empfindungen, im Handeln, wie Genießen, mit Hilfe ihrer aufgespeicherten Kräfte, sich zu ernähren,
den Siegesruf der Selbstbetätigung erschallen. Leben ist das heißt, fremdartigen Stoff in sich aufzunehmen und ihn
Tätigkeit und die Welt ist Tat! Das ist mein Glaubens- zur eignen Gleichartigkeit chemisch umzubilden. Dabei aber
bekenntnis. werden die inneren Kräfte erschöpft und der Zusammenhang
Das Höhere ist nur darum das Höhere, daß es das der Teile gelockert; das Lebewesen zerfällt in zwei oder
Niedere sich unterzuordnen weiß, und das Niedere nur darum mehr selbständige lebendige Gebilde. Bei unbegrenzter Ge-
niedriger, weil es der Unterordnung bedarf. Aus der Be- legenheit würde ein erstes Lebewesen den ganzen Erdball
herrschung geringerer Kräfte durch mächtigere entstehen alle in Organismen verwandeln, und diesem Ziele strebt eigent-
Gebilde; alle Gebilde, alles Ruhende und Dauernde, ver- lich die sogenannte Fortpflanzung zu.
körpern daher die innere zersplitternde Unselbständigkeit,
die durch Zwang zu stolzer Einheitlichkeit geworden. Dieser Das einfache EiweißkiUmpchen, das mit seiner ganzen
Zwang geht von einer Tat aus; was wären darum alle Ge- Oberfläche im Kraftaustausch zu seiner Umgebung steht,
bilde ohne die schöpferischen Taten? Sie wären überhaupt sondert bald — nach endlosen Zeiträumen — an derjenigen
nicht da und nur deshalb sind sie da, weil es das Wesen Stelle einen besonderen Teil ab, wo sich alle eindringenden
der Tat ist, sich an niedern Taten zu verwirklichen, das Kräfte kreuzen, in der Mitte. Und dieser Teil wird der
heißt, Gebilde aus ihnen zu erschaffen. Dies ist in nüchterneren Kern, dazu tritt an der besonders tätigen Oberfläche die
Worten die alte heilige Sage der Weltenschöpfung. Kraft Sonderung der Zellhaut ein, mit einem Worte: aus dem un-
und Stoff nannte diese beiden Erscheinungen der plumpe gegliederten Eiweiß ist die Zelle geworden. Damit beginnt
Materialismus; Taten und Gebilde müssen wir sagen, wenn ein neuer Abschnitt der lebendigen Weltgeschichte. Im
wir lebendige Werte in diese abgenützten Rechenpfennige Kerne besitzt die Zelle nun einen leistungsfähigen Speicher,
legen wollen. Keine Gebilde ohne die sie erschaffenden und erst wenn dieser nichts mehr fassen kann, hat die Zelle
Ttitcn, aber auch keine Taten, als die sich in Gebilden sich gegen die andringenden Kräfte der Umwelt tätig zu
verwirklichen. Leib und Seele, Seele und Leib! Und sagen wehren. Bei dem Kern, bei dem Z e n t r u m , liegt nun schon
wir gleich, Weib und Mann, Mann und Weib. die Entscheidung über die Leistungen der Zelle, und unser
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mächtiges Gehirn verdankt seine ganze Vorherrschaft im in so innige Berührung bringt Das Liebesleben der ge-
Leihe nur jenen ersten Kernen der ersten Eiweißzellen. Der samten Natur beweist diese „universelle Erotik", um Richard
Zellkern ist der Träger der ganzen Entwickelung; auch die Muthcrs Ausdruck anzuwenden.*)
Teilung, die Fortpflanzung ist ja ihm unterstellt. Denn von Jede Zellteilung bedeutet eine Steigerung, so unendlich
dein Kern geht jetzt der Anstoß aus, er teilt sich zuerst, gering sie auch sei, denn jede der Kernhälften bringt zu
und die neugebildeten beiden Kerne verstärken nur die ihrem selbständigen Neuanfang den Zuschuß an Kraft mit,
Tremuingsbestrebungen der gesamten Zelle. den ihr Stammkern in seinem kurzen Dasein hinzuerworben
Aber eine Zelle lebt ja nicht allein im freien Weltmeer, hatte. Sobald diese Steigerung nun eine gewisse Höhe er-
sie wird umschwärmt von Genossen. Wie alle Körper des reicht hat, behält die Stammzelle einen Einfluß auf die Neu-
Weltenraumes aufeinander Kraft ausstrahlen und einander zelle und diese trifft bei ihrer Entstehung nicht ein selbst-
anziehen, so ziehen einander auch die kleinen lebendigen ständiges Dasein an, sondern bleibt mit der Stammzelle
Kiirper, die Zellen, an, sobald der Zufall der Strömung sie verbunden. Seitdem gibt es mehrzellige, endlich mehrge-
einander nah genug bringt, um die Anziehung wirksam webige, mehrgliedrige Lebewesen, die ganze Fülle der
werden zu lassen. Vielleicht ist die Anziehung besonders höheren und höchsten Pflanzen und Tiere. Diese mußten
stark, wenn die Zellen gerade bei dem intensiven Geschäft eine weitere folgenschwere Eigentümlichkeit entwickeln,
der Teilung sind; genug, die Zellen stürzen aufeinander, ver- da ein ganzer zusammengesetzter Leib sich nicht teilen kann,
mischen sich, tauschen Saft und Kraft aus, bis eine Sättigung, wäre eine Fortpflanzung und Vermehrung der höheren Lebe-
ein Gleichgewicht eingetreten ist. Dann trennen sie sich wesen ausgeschlossen, wenn nicht einige, wenige Neuzellen
wieder, nachdem schon vorher die erst abgespaltenen Kcrn- die alte hohe Selbständigkeit sich bewahrt hätten, und mit
teile ausgeschnitten worden waren. Eine eigentliche Fort- der vollerreichten Macht des Stammkörpers ihr eigenes Leben
pflanzung ist das nicht zu nennen; denn die Zahl der Zellen begonnen hätten, das denselben Verlauf der Zellteilung, Zell-
ward nicht vermehrt; wohl aber ist dieser verschmelzende ansammlung und -Gliederung nehmen mußte. So vermochte
Kraftaustausch der Keim dessen, was wir Liebe heißen. denn die Keimzelle die ererbte innere Krafthöhe in einem
Nur allmählich entwickelt sich dieser innige Verkehr zu neuen, gleichartigen Leibe zu verwirklichen, und hier setzt
einer Gewohnheit, dann zu einem Bedürfnis, endlich zur eben die wunderbare Kraft der Vererbung ein, die ganze
Notwendigkeit. Erst von da ab wird die Verschmelzung Geschlechterfolge durch Jahrmillionen.
zweier Lebewesen die Vorbedingung zur Entstehung weiterer Aber besaß die Keimzelle das Vermögen, ein selbstän-
Lebewesen. Aber noch findet die Vereinigung zwischen diges Dasein zu führen, so mußte der Anstoß zur Betätigung
ganz gleichwertigen und gleichgearteten Individuen statt; dieses Daseins, zur Entwicklung der in ihr schlummernden
noch ist die geschlechtliche Trennung nicht eingetreten. Gestaltung doch erst von außen kommen. In seltenen Fällen
Die wichtigste Erkenntnis aus diesen Erscheinungen ist, war ein beliebiger Kraftreiz hinreichend, weitaus am häufig-
daß die Liebe, älter als der Geschlechtsgegensatz, auch nicht sten aber bedurfte es einer anderen lebenden Zelle und
die Überbrückung dieses Gegensatzes bedeutet, sondern ein meistens sogar einer Zelle, die einem anderen Leibe ent-
freier Austausch von Lebenskräften; daß sie auch durchaus stammte; die Durchschnittshöhe der Kraft, die Art, mußte
nicht Dienerin der Erhaltung der Art, der Fortpflanzung und die gleiche sein, eine geringe individuelle Abweichung aber
Vermehrung ist, sondern höchstens die Erfüllung dieser
N'attiraufgaben begünstigt, weil sie kraftstrotzende Lebewesen *) Im »Tag": «Leonardo da Vincis Roman."
i
o o DICH 1CIUICNE o o
o o MÄNNLICHE KULTUR o o
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schiede, Weib nennen. Erst durch das Entstehen des Mannes
erzeugte erst den Reiz der Spannung, die zur Befruchtung ist das „Geschlecht" gegeben.
nötig war. Diese andere Zelle mußte aber eben auch eine Die Mannheit ist also tatsächlich jünger als die Weib-
Ircic Zelle sein, also auch eine von den wenigen bevorzugten, heit, und faßt möchte man darin einen Sieg des tätigen
hochgespannten Neuzellen des Leibes, die nicht an ihren Prinzips über das stoffliche sehen, das aus jenem entstanden,
Stamm gekettet blieben. In diesen, den Samenzellen, mußte es doch lange zurück gedrängt hatte. Wollten wir mytho-
sich die ganze tätige Macht des Stammleibes verdichten, logisch reden, so ist der Mann der Gott-Erlöser des in die
wie in jenen anderen, den Keimzellen, die ganze stoffliche, tote Materie eingekerkerten Weltgeistes. Aber nicht nur als
chemische, latente Energie. Die Keimzellen sind die Träger Prinzip, auch als Einzelwesen ist der Mann die spätere,
der gleichartigen Neubildung, wir nennen sie die weiblichen jüngere, reifere und höhere Erscheinung. Diese tritt aber
Zellen, die Samenzellen sind der Funke der Tätigkeit, deren erst deutlicher hervor, wenn nach der ungeschlechtigen Vor-
erste Erfolge den ganzen weiteren Verlauf bestimmen; dies zeit auch die doppelgeschlechtige, hermaphroditische Früh-
sind die männlichen Zellen. Die Weibheit besteht daher in zeit des Lebewesens vorüber ist, und jedes Individuum sein
der Bewahrung und Neubildung der inneren und äußeren halbwegs gesondertes Geschlecht besitzt. Wie das Weib
Leibesform, die Mannheit in der Wucht, mit der sie die früher altert als der Mann, und die Mädchen früher reifer
Neubildung veranlaßt und ihr die Wege weist. Das Weib sind als die Knaben, so verdankt der Keimling im Mutter-
hält die einmal erreichte Gestaltung der Dinge fest, der Mann schoße sein weibliches Geschlecht auch einem früheren
bahnt neue, höhere Gestaltungen an; das Weib ist das Abschluß der organischen Sonderung, die bei weiterer Ent-
konservative, der Mann das fortschrittliche Prinzip in der wicklung durch Ausbildung der männlichen Wesensteile die
Natur; sie das stoffliche, er das tätige; sie das physische, weiblichen Anlagen zurückgedrängt hätte. Ein gewisser vor-
er das metaphysische. zeitiger Stillstand hält den weiblichen Keimling auf der
II. früheren, niederen Stufe zurück. Das Entscheidende und
Wichtigste ist aber hierbei, daß in diesem Stillstande, der
Alle Gebilde sind gebändigte Taten, die Tat geht dem den Keimling zum Weibe beschränkt, das weibliche Prinzip
Gebilde vorauf und so dürften wir in dem, was beim siegt und sich behauptet, während die Weiterbildung des
Menschen Mannheit heißt, in dem unbegrenzten Tätigkeits- Keimlings zum Manne der Obmacht der Mannheit zu ver-
dränge, die grundlegende, die erste und letzte Erscheinung danken ist. Monate lang vermag der Forscher im doppel-
der Welt sehen; die Weibheit aber als eine Folgeerschei- geschlechtlichen Keimling nicht das endgültige Ergebnis
nung, als das Zweite. Sobald wir aber die engeren biolo- vorauszusehen; entschieden ist es aber im wesentlichen
gischen Gesichtspunkte anwenden müssen, erscheint umge- doch wohl schon im Augenblicke der Zeugung, und spätere
kehrt der Mann als das spätere und jüngere Ergebnis der Ernährungszustände werden wohl nur selten umzuändern
lebendigen Entwicklung, das Weib als die ältere Vorbe- vermögen, was einmal schaffend und wirkend da ist. Der
dingung, denn was das Weib ausmacht, das Muttertum, die Zustand der Samen- und der Keimzelle bei der Befruchtung,
leibliche Neuschaffung der Art, das wohnte ja der ältesten darauf kommt es an, der lebendigere und kraftvollere Teil
einfachsten Zelle inne. Hingegen hat der Mann, die reine behält das Übergewicht. Entweder versagt die männliche
rastlose Tätigkeit, sich erst aus den Bedingungen der mehr- tätige Kraft bald und die Sonderung der Zellen und Ge-
zelligen Lebewesen erzeugt; er ist somit ein ausgesonderter webe wird immer langsamer, die Festigung der schon
Sprößling des großen Urbodens, den wir heute, zum Unter-

o o MÄNNI.ICIIi: KULTUK o o 53 54 o o DER EIGENE o o

Gewordnen daher um so tiefgehender, der frühe Abschluß beschlußunfähig, das heißt, unfähig zur Tat Drittens hat
der großen Entwicklung notwendig, dann hat die reichge- jeder Mensch eine Mutter, der er zugetan ist und einen
uülirtc Keimzelle eben vorwiegend die älteste Uraufgabe der besonderen Einfluß einräumt. Viertens besitzt fast jeder
Lebewesen erfüllt, stofflich zu wachsen, statt tätig sich zu erwachsene Mann eine Gattin, deren Interessen er mit seiner
sondern; das weibliche Prinzip war das stärkere. Oder die gesamten Tätigkeit durchschnittlich doch dient. Gewohn-
schwächere Keimzelle hat den lebendigen Funken der Samen- heit, Nachahmung und Liebe schreiben also dem Manne
zelle nicht „im Fette" zu ersticken vermocht, nicht zur Er- sein festes Geleise vor, wenn er dazu kommt, an der All-
nährung aufgebraucht, und dann wirkt der erste Anstoß gemeingestaltung des Lebens mitwirken zu müssen. Das
weiter, die gliedrige Sonderung geht kräftiger vor sich, Weib herrscht mittelbar durch die dritte dieser drei Mächte
erreicht mehr, und der Stillstand tritt erst ein, wenn das im Mannesbusen, und die beiden ersten haben es ja gerade
männliche Prinzip sich durchgesetzt hat. So dürfen wir zur Erschaffung des weiblichen Prinzips in der Natur ge-
denn sagen, daß Mann wie Weib sich zu behaupten suchen, bracht, können deren Einfluß daher immer auch nur ver-
und ein kraftvoller Vater hat Aussicht auf Söhne, eine kraft- stärken. Unser heutiges Leben steht also im Zeichen des
volle Mutter auf Töchter. Da sich aber in der befruchteten Weibes oder unzweideutiger der Mutter, aber auch die ge-
Zelle männlicher Tätigkeitsdrang und weibliches Beharren schichtliche Entwicklung ist nicht anders verlaufen.
befehden und hemmen, ist es kein Wunder, daß jeder Mensch Für den Vater ist mit dem Augenblicke der Erzeugung
nur eine Zwischenstufe zwischen den beiden äußersten Polen eigentlich alles erledigt; für die Mutter beginnt dann erst
ist; die Frucht eines Ausgleiches, die Verschmelzung ent- die wahre Aufgabe und dauert fort bis das Kind nicht nur
gegengesetzter Grundkräfte in wechselndein Betrage, ein geboren, sondern auch herangewachsen ist und selbständig
Kind von Vater und Mutter. wird. Die Mutter macht sich ganz anders um das Kind
Die sich kreuzenden Einflüsse von Vater und Mutter be- verdient als der Vater, und das Mutterrecht war daher auch
stimmen auch das weitere, selbständige Leben des Menschen; der älteste Ausdruck des Gemeinlebens. Erst als der Mann,
und es darf nicht verkannt werden, daß der männliche Ein- wahrscheinlich in zahllosen Geschlechtern, durch die mütter-
fluß Stück für Stück dem weiblichen abgedungen und liche Fürsorge verwöhnt, die weibliche Haushilfe bei seinen
abgerungen werden muß. Trotz aller Frauenrechtlerinnen außerhäuslichen Heldentaten nicht entbehren mochte, be-
ist unsere ganze Gesittung wesentlich schon längst — oder hielt er sein Weib bei sich, auch wenn der Rausch der
noch? — eine weibliche, und wer weiß, ob die wenigen ersten Lust vergangen war. So entstand die Ehe. die aber
Zeiten männlicher Obmacht nicht wirklich ewig überwundene nun für die Frau zuerst tatsächlich Sklaverei war; das
und verlorene Versuche gewesen sind, die Kultur auf den Mutterrecht ward vom Gatten-, Vater- und Herrenrecht ab-
Mann zu stellen. gelöst. Das war der wahre Beginn der menschlichen Ge-
Erstens wurzelt in jedem Menschen tief das Beharrungs- sittung.
vermögen, die Trägheit, die jede Neuerung erschwert und Gewiß bot die Familie, das Heim, der Besitzstand an
am liebgewohnten Alten hängt. Zweitens beeinflußt das Ge- Menschen, Vieh und Land dem Manne immer steigend einen
meingefühl den Menschen derart, daß er ohne seine Mit- Rückhalt; sie trieben ihn aber auch in eine Entfremdung
menschen nichts wagt, wider sie nun erst recht nicht, und seines eigentlichen Wesens hinein. Früher war der Mann
daß viele Köpfe nicht unter einen Hut gehn, sagt schon in der Betätigung aller seiner Glieder durch den Wald
das Sprichwort: der soziale Mensch ist eigentlich immer und die Welt gerannt und hatte aus der Hand in den Mund
o o MÄNNLICHE KULTUR o o 55 5Ü o o DER EIGENE o o

gelebt. Nun, wo er, um für sicli sorgen zu lassen, für andre andern Artung offenbart sich aber allerdings die Natur des
surfen mußte, galt es im Schweiße des Angesichts zu Weibes; nur das, was ich am Weibe als hauptsächlichsten
arbeiten und das teure Hab und Gut auch zu schützen. und bedenklichsten Mangel empfinde, mir auch bei den
Und der Mann wäre zum Arbeitstiere geworden, wenn nicht meisten Männern mehr oder minder unangenehm entgegen-
sein ganzes Wesen im Großen wie im Kleinen, im Guten tritt: das ist die innere Unselbständigkeit.
wie im Bösen auf Eroberung, auf Herrschaft, auf schöpferische Das weibliche Prinzip beruht in letzter Linie auf der
Ausnutzung richtungsloserer Kräfte ausgegangen wäre. Die Unselbständigkeit, weil Unterwerfung schwächerer Kräfte
denkbar brauchbarste Kraft an Ausdauer wie an natürlicher unter eine höhere; das weibliche Prinzip der leiblichen Beharr-
Willigkeit war aber das Weib; jüngere Söhne, gefangene lichkeit beugte sich im Verlaufe der lebendigen Entwickelung
Feinde, unterjochte Völker kamen erst später hinzu. Und immer tiefer unter die Notwendigkeit der richtunggebenden
seitdem führt der Mann die Klinge der Herrschaft; aber das Männlichkeit; das Weib ist leiblich auf den Mann und geistig
Heft, das Heft hat doch die Frau in ihrer Hand! Gewiß hat zum mindesten auf ihre Umgebung angewiesen: nur unter
das Leben sich nicht anders entfalten können, als in der deren Einfluß entwickelt sie die vorzüglichen Leistungen,
Zusainmenwirkung der beiden Weltprinzipe, des Taten- deren sie fähig ist. Das Weib will beherrscht werden, na-
dranges und der Beharrlichkeit, die sich im männlichen und türlich von einer überlegenen Kraft, wenn das Weib daher
weiblichen Wesen einen tief bezeichnenden Gegensatz ge- eine vortreffliche Arbeiterin ist, die an Ausdauer den Mann
schaffen haben. Die Gefahr ist nur mehr als ein Traum, übertrifft, ob auch an Kraft nicht erreicht; wenn sie willig
daß das eine Prinzip auf Kosten des andern zur Allein- und gehorsam ist, wo der Mann gleich trotzig und unbot-
herrschaft gelangt; daß diese Niederlage nicht der Weisheit mäßig wird; wenn sie leicht faßt, was ihren Interessen
zuteil wird, dafür sorgt schon jeder Mensch, der vom Weibe dienlich ist, aber dem freieren und weiteren Gedankenflug
geboren, und träges Gebilde ist. Wer aber tritt für die kühl und blind gegenübersteht; wenn sie die peinliche
Mannheit ein, wenn sie verdrängt wird? Und heute, nicht Hüterin der großen Maßgesetze des Gemeindelebens ist,
seit heute erst, ist sie im Sinken. aber die ewige Neubegründung der menschlichen Werte in
der sittlichen Selbstverantwortung von sich weist: so wurzelt
III. das Alles einheitlich in ihrem Wesen, das seinen Schwer-
Der Unterschied von Mann und Weib, der im einzelnen punkt nicht in sich, sondern außer sich hat. Damit ist aber
ja mehr als verwischt sein kann, liegt im ganzen Wesen, auch ihr Wert umgrenzt, wie ihr Unwert angedeutet
nicht so sehr in den einzelnen Gliedern, die Geschlechts-
Gewiß bedarf das Leben, das sich nun einmal zwischen
merkmale etwa ausgenommen. Es heißt daher mit stumpfen
starren Gebilden abspielt, das sich in den höheren Körpern,
Waffen kämpfen, wenn man dem Einfluß des Weibes nur
in dem Menschen vor allem, nur aus der Zusammenwirkung
deshalb entgegentritt, weil ihre geistigen Fähigkeiten geringer
der EinzelmitgJieder erbaut, der Streitigkeit, der zuverlässigen
wären. Wer die Werkzeugnatur des Gehirnes erkannt hat, Formen, des Maßes, Aber eine höhere Stetigkeit, als das
wird überhaupt nicht in Überschätzung des bewußten Lebens träge Beharren im Ewiggestrigen, fließt aus dem Schaffens-
„machen" können und sich daher von einer ganz falschen drange der sich immer fernere Ziele hinter jedem erreichten
Unterschätzung weiblicher Intelligenz hüten. Der Verstand Ziele setzt; zuverlässiger, als die Form, die das Alter heiligt,
der Frau ist nicht geringer, er ist nur in nicht unwichtigen sind die lebendigen Gestalten, die ein ewig sich neu bestä-
Einzelheiten anders geartet wie der des Mannes. In dieser tigender Geist in den Dingen weckt; und ein echteres Maß,
o o MÄNNLICHE KULTUR o „ 53 o o DER EIGENE o o
57

als der Zollstock überkommener Satzungen, ergibt sich von tätigen, männlichen Kerne des Menschen. Wer dem Menschen
selbst, unmittelbar wirksam, aus der ehrlichen Verwirklichung das Recht an seiner Persönlichkeit nimmt, zersplittert deren
des Leibes. Ein Glied kann in Vereinzelung bis zur Kräfte, die nun zuchtlos und maßlos und gierig im Einzelnen
l-.rschüpfimg und Zerstörung gehn; bleibt aber oberstes und Kleinen sich Lüste zusammenraffen, da die Freude des
Uestreben die Zusammenwirkung aller Glieder, so hemmen Großen, Ganzen und Gesunden verpönt ist. Wer dem
und müßigen sie einander, wie es das gesunde Gedeihen Menschen die Freude an seiner Selbstbetätigung untersagt,
erfordert Hierin liegt die wahre Schranke des menschlichen macht ihn zum Genüßling, zum Wüstling, zum Schwächling.
Tuns und damit die wahre Sittlichkeit, die den Menschen Und an denen leidet unsre Weibergesittung wahrlich keinen
cinpurträgt, nicht ihn mit Ketten belastet Mangel. Hat nicht um der Frauen Willen eine prüde
Und diese Bestrebungen alle sind es, die ich im Manne Heuchelei um sich gegriffen, durch die alle-natürlichen Dinge
verkörpert finde, so selten sie sich auch rein zu gestalten künstlich entwertet und entheiligt worden sind? Hat nicht
vermögen. In diesem Sinne allein rede ich einer männ- die Vorherrschaft der Frau das Liebesleben des Mannes
lichen Kultur das Wort. dermaßen mit Beschlag belegt, daß sie ihn lieber in den
Kultur als menschlich gesteigerte Natur hat mit dem Armen der weiblichen gemeinen Käuflichkeit sieht, als daß
ersten Menschen, der diesen Namen verdiente, begonnen sie ihm einen veredelnden Liebesverkehr mit seinen Ge-
und wird bis zum letzten Menschen anhalten. Kultur als schlechtsgenossen gestattete, mögen auch die glänzendsten
Lebensgestaltung einer Rasse haben wir Europäer uns Zeugen der Vergangenheit und die ganze Natur mit feurigen
durch ungeheuerliche Blutmischung wohl dauernd unmöglich Zungen zu Gunsten der gleichberechtigten Lieblingminne
gemacht. Aber die Kultur als die Vollentfaltung der Persön- reden? Sie wittern nur zu gut, daß der Mann am Manne
lichkeit steht Jedem offen, der — Manns genug dazu ist. wieder männlich werden würde; daß das Echo in gleich-
Eine männliche Rassekultur, wie Sparta sie gekannt hat, ist gestimmter Mannesseele mit ganz andrem Mut den Kampf-
heute leider ein Unding: die Menschheit ist durch wider- ruf des Mannes erfüllen würde, als die laue, allzupersönliche
spruchsvolle Rasseinstinkte in ihrer Lauterkeit und Naivetät Zustimmung eines Weibes: daß der Mann am Manne den
geschwächt und zerstückelt, ist durch eine einseitige und unentwegten Rückhalt finden würde, wenn er für seine
daher übermäßige Geschlechtlichkeit merklich weibisch Überzeugung, für seine Persönlichkeit, für das Recht des
geworden. Aussichtslos ist daher die Hoffnung, daß es je Lebens an Wahrheit, Kraft und Schönheit zu kämpfen hätte;
wieder möglich sein wird, in, mit und durch das nicht mehr daß er im Vereine mit gleichempfindenden und engver-
zu entbehrende Gemeinleben die männliche freie und all- bundenen Männern eines Tages, ohne vor der Ungnade der
seitige Persönlichkeit zu wecken, zu erziehen, zu stählen, Frauen zu zittern, wieder sich an die Stelle setzen würde,
wie es in Sparta gewesen und wo, wohl gerade in der die ihm gebührt, an die Spitze der Kultur! Das Alles fühlen
herben Luft der Ehrlichkeit, auch das Ansehen der Frau die Frauen; sie fühlen aber auch, was der Mann in der
hoch stand, zwar nicht so verstiegen, wie bei uns, aber Omphalekomödie des heutigen Tages kaum mehr weiß, daß
eben ihrem lebendigen Wert entsprechend. Heute wirkt es Mannespflicht wäre, die Steuerung des Lebens in kühne,
das Gemeinleben, nicht zuletzt unter dem grundsätzlich und ehrliche starke Hand zu nehmen, statt es vor dem Sturm-
instinktiv sozialisierenden und gleichmacherischen Einflüsse winde unserer Gesittung treiben zu lassen, die den leben-
der Frau, notwendig ertötend auf das Persönlichkeitsgefühl. digen Menschenwert erdenfreudigen Stolzes, gegen den
Aber man tastet nicht ungestraft an diesem lebendigen. hohlen, toten Götzen des alleinselig- und allgleichmachen-
o o MÄNNLICHE KULTUR o o tili
59
Jon Goldes vertauscht hat. Denn auf Etwas muß
der Mensch sein Leben setzen; ists nicht auf männliche
Selbstherrlichkeit und tütige Erdenkinderschaft, dann muß
es eben das bange Hetzen um ein glitzerndes Nichts sein, WENN DU —
und ein eben so unfrohes Verschwenden der zusammenge-
\ l / e n n du, an den ich meine ganze Seele hänge,
scharrten Schatze. VV
Mich einst verläßt,
Doch mit jedem Knaben wird ein neuer Mann geboren; Wenn sich ein andrer Mund auf deine Lippen preßt
Milltc es denn da nun wirklich nicht möglich sein, alle die Und andre Klänge,
.Milliarden Keime der Männlichkeit zum Wachsen, Gedeihen Als meiner Liebeswortc Flüstern dich umschweben:
und Blühen zu bringen? Kein Acker ist aber so schwer Dann senkt mit Macht
zu bestellen, wie der der Menschheit. Nur diejenige Saat Des Todes ewig-finstre Nacht
Sich auf mein Leben.
gedeiht, die mit Herzblut genährt wird; nur derjenige wird
Früchte schauen, der aus seinem Inneren die Samen nimmt! Dann stürzt, was jüngst so ho/d erwacht an Blut und Keimen,
Nur wir Männer, jeder an seinem Platz, können männliches Ins frühe Grab;
All meines Hoffens Überschwang sinkt jäh hinab
Lehen wecken, wenn wir eingedenk sind, daß das Leben Und all mein Träumen.
uns zu seinen Erlösern auserkoren! Soll nur das schlechte In meine Seele drängt sich tiefe, tiefe Trauer,
Beispiel von Schwäche, Kleinmut und Zerrissenheit wirken Und durch mein Herz,
können, und nicht auch das gute Beispiel der Einheitlichkeit Zerrissen von der Sehnsucht Schmerz,
Zichn kalte Schmier. —
der Hoffnungsfreudigkeit und selbsteignen Kraft?
Ihr Männer, seid Männer! — dann werden wir auch wieder Wenn aber stets aufs neue mir dein süßer Mund
eine männliche, was männliche, eine m e n s c h l i c h e Kultur In selgcn Küssen
haben; dann erst werden wir es verdienen, auf Erden zu Tut deiner Liebe wunderbaren Zauber kund,
Wenn mich dein Arm,
leben und zu schaffen! So traut, so warm,
DR. EDUARD VON MAYER.
Hält jeder bittren Zweifelsqual entrissen:
Dann steigt aus lichtem Raum
Zu mir herab ein froher Morgentraum,
Und jauchzend trinke ich aus deiner Augen Blick
Mir ewig neues, junges Lebensglück I
MAX KATTE
o o DER EIOENE o o

IM GARTEN
r \ e s Mondes Schein, wie Veilchenduft s o süß
und wie Gewander flinker Elfen leicht,
huscht auf den Beeten, und die Stille schleicht
sich leis durch unsrer Träume Paradies.
O komm und singe mir das alte Lied,
dem deine Stimme sondres Leben leiht.
Sacht drängt es mich aus aller Wirklichkeit,
Tl N RflMERKNABE wenn seine schlichte Weise durch die Nacht hinzieht.
ATEUER BÖHME
Da öffnen sich geheime Tore weit
und lauter klingen die verborgenen Bronnen
und sprudeln hell in des Gemütes Schacht.
O komm! Nun ist der Seele Feierzeit.
DER SCHOPF*) Bring, Knabe, mir in dieser klaren Nacht
des Liedes und der Liebe heilige Wonnen!
p \ i e Haare geschoren rings um den Kopf,
Nur vorn in der Mitte ein Lockenschopf, PETER I1AMECHER.
Der schaut stets keck unterm Hute hervor
Und ringelt sich oft gar neckisch empor.
— So ist es echte römische Tracht,
Die unscrn Burschen s o reizend macht.
— Hält er ein Röslein dann zwischen den Zähnen,
Die Arme erhoben, sich faul zu dehnen,
Und steht unterm Arm ein Büschel schwarz Haar:
. . . Kein Röslein duftet so wunderbar!
HADRIAN

•) Aus: „Hadrian: Gedichte eines Heiden.«


IN DIE ZUKUNFT!

E lisar von Kupffer hat als Einleitung zu seiner Sammlung


„Lieblingminne" einen Aufsatz geschrieben über die
etisch-politische Bedeutung der Liebe des Mannes
zum Manne. Es ist schwer, nach dieser ganz vorzüglichen Dar-
stellung noch etwas wesentlich Neues zu sagen. Und
dennoch sei mir gestattet, hier nochmals auf das Thema
zurückzukommen und auch einige Punkte jenes Aufsatzes
näher zu erörtern.
Wir befinden uns zweifellos in einer ausgesprochenen
Übergangsperiode. Die ganze Kultur Westeuropas basiert
auf dem Christentum. Aber diese Grundlage ist durch die
Aufklärung des 18. Jahrhunderts arg erschüttert worden und
hat im 19. durch die ungeheuren Fortschritte, die die Wissen-
schaft auf allen Gebieten in wahrhaft schwindelerregenden,
sprungweisem Tempo gemacht hat, so viele Keulenschlüge
bekommen, daß sie sich kaum wieder erholen wird. Täuschen
wir uns darüber nicht hinweg! Mögen die christlichen
Kirchen noch so viele „Gottes-"Häuser bauen, in tausenden
von Andachtsstunden den schwankenden Glauben durch
suggestive Mittel zu stützen suchen und mit einem Aufwand
von ungeheueren Geldmitteln jährlich ein paar Tausend
Heidenseelen bekehren: diese äußerlichen Manifestationen
können den innern Abfall und Zerfall auf die Dauer nicht
verdecken! Es tritt uns in der kolossalen Machtentfaltung
speziell der katholischen Kirche ein ganz ähnliches Zeichen
entgegen, wie es das letzte Aufflackern der römisch-polite-
istischen Weltanschauung charakterisierte. Auch da baute
HIRTEN ZWISCHEN DEN BERGEN
man wahnsinnig Tempel auf Tempel und erfand mit allem
VON \V. VON GLOEDEN
o o IN DIE ZUKUNFT o o
65 !
66 o o DER EIGENE o o
Raffinement einer neurasthenischen Überkuitur neue Formen
der Anbetung und neue Götter. Und die Massen jubelten Und wir müssen noch etwas mehr als die Andern lügen,
ihnen zu und fühlten nicht, wie der Sturmwind des Christen- wir, in denen die Elemente so gemischt wurden, daß unsere
iiniis schon grollte, der den schön geputzten, aber faulen Augen vor allem die Schönheit unserer eigenen Geschlechts-
und hohlen Bau überwältigen mußte. Heute wissen es die genossen erfassen, und daß uns der siedende Taumel unse-
Vertreter des Christentums freilich, daß der Kampf auf rer Sinne zeigt, wo wir die Ergänzung suchen, die urwunder-
Leben und Tod unvermeidlich ist und sie rüsten sich darauf! bare, mystische und tausendfach geheimnisvolle Liebe. Uns
Und so erleben wir das seltsam prächtige Schauspiel, daß läßt man zuerst ein paar Jahre durch künstliches Verschwei-
der Anfang des XX. Jahrhunderts einen Höhepunkt priester- gen und durch Verunmöglichung einer offenen Aussprache
licher Macht bezeichnet wie er kaum vorher dagewesen, im Dunkeln irren. Und wenn wir uns dann selber entdeckt
während man ein Jahrhundert vorher das Christentum bei- und den Weg gefunden haben, so sehen wir mit Schaudern, "
nah für besiegt halten konnte. Krampfhaft vereinigt es alle daß er über jahrtausendalte versteinerte Vorurteile führt, die
Kräfte auf den letzten Kampf, und es könnte eine schöne uns dräuend entgegenglotzen. Hilft nichts, wir müssen hin-
Tragödie geben, wenn die moderne Welt nicht alles so durch! Avdyri, der gezwungene Zwang! Und da wird sich
nüchtern, so geschäftsmäßig betreiben würde. Auch die Ver- eben jeder zu helfen suchen, wie er kann. Aber die Welt, die
änderung von Weltanschauungen ganzer Völker. Überall große Welt, in der man die überkommene Moral ängstlich
.uälirt es. Von den leisen Zweifeln des Schuljungen, dem beschützt, verwundert sich darüber, daß die Homosexuellen
man erzählt, daß Gott in sieben Tagen die Welt geschaffen, so exzentrisch, so bizarr, so charakterlos,so verlogen sind, wenn
bis zum bergeversetzenden Jubelruf Nietzsche-Zarathustras — nun wenn sie gelegentlich mal auf einen stoßen, der
über den Tod Gottes ist nur ein Schritt. Und doch sind durch die jahrelange Schauspielerei seine moralischen Grund-
alle Schattierungen von Übergängen enthalten. Man zweifelt, lagen noch etwas gründlicher zerrüttet hat, als seinen „nor-
man sucht sich noch einzureden, daß man glaubt, oder man malen" Mitmenschen, den diese Eigenschaften nicht verhin-
ist sich selber gegenüber ehrlich und belügt nur die Andern. dern, zu den exklusivsten „Stützen von Thron und Altar"
Und lügen lernt man ja so gut! Und eines Tages kommt zu gehören.
Einer und prägt das Wort von der konventionellen Lüge. Wir können ruhig zugeben, daß die homosexuelle Ge-
Und die Leute lesen es und finden es so wahr, daß sie sellschaft, wenigstens wie sie sich in Berlin darstellt, auf
sagen, es sei eigentlich gar nichts Neues. Aber dann zucken keinem höheren Kulturstandpunkt steht wie die andere, —
sie die Achseln und lügen weiter. Und die große Zahl eher umgekehrt Das mystische Halbdunkel der Unbekannt-
derer, die auch Nietzsche recht geben, helfen im Lügen. heit, der Verborgenheit und des Verbotenen, mit der diese
Lügen muß Jeder. Alle empfinden instinktiv, daß das Gesellschaft einen Staat im Staate bildet, ist nicht geeignet,
schwankende Gebäude der Gesellschaftsordnung auf Lügen die besseren Eigenschaften der mehr oder weniger weiblich
gebaut ist und fürchten die Wahrheit mehr als die Pest und veranlagten Mitglieder zur Entfaltung zu bringen. Daher sind
den Tod. Und doch gibt es so viele, welche die Wahr- auch tatsächlich viele, denen man jene schlechten Eigen-
heit gern haben möchten und alle diese empfinden bewußt schaften nicht mit Unrecht nachsagt Es sind eben Weiber
die Sehnsucht, die große Sehnsucht nach neuer Kultur.*)
und können wie die wirklichen hysterisch werden. Ander-
seits findet man unter den männlichen Prostituierten genau
Kultur: .Die MöKlichkcit des Auslcbcns unserer Triebe und Kräfte." Kupffcr. denselben Schmutz und dieselbe ethische Minderwertigkeit,
5 die nach allen Angaben ihre weiblichen Kolleginnen aus-
zeichnet
o o IN DIE ZUKUNFT o o
67
68 • ° DER EIGENE e e
Mit Unrecht dagegen verallgemeinert man diese Vorwürfe.
Gerade die Edelsten, Vornehmsten und Männlichsten, Sumpf, in den man uns hineingedrängt hat. Wir m ü s s e n
>lie dein Eros huldigen, treten am wenigsten ans Tageslicht h i n a u s , k o s t e es w a s es w o l l e !
und werden am wenigsten beachtet. Aber für diese liegt in B e n u t z e n wir die G e l e g e n h e i t . Alles d r ä n g t
der ihnen aufgezwungenen Verborgenheit eine Schmähung n a c h n e u e r Kultur. Da müssen auch wir unsere Stimme
und Kränkung, die oft genug die herrlichsten Anlagen nicht erheben und unsere Kräfte dafür einsetzen, daß Das, was
zur Entfaltung kommen läßt und zu verbitterter Abschließung wird, schöner und höher wird als das Bisherige. Wir müssen
vuii der menschlichen Gesellschaft führt. Und der Mensch Denjenigen, die überhaupt sehen gelernt haben, durch unser
braucht doch den Menschen so sehr! eigenes Leben beweisen, daß diese verpönte Liebe, der Eli-
So sehen wir, daß eine zahlreiche Menschenklasse durch sar von Kupffer den schönen Namen L i e b l i n g m i n n e gab,
die Vorurteile der Menge in eine wahrhaft jammervolle Lage tatsächlich eine stille starke Quelle der Kraft darstellt und
geraten ist, aus der sich durch eigene Kraft nur wenige zu daß es eine Sünde wider den heiligen Geist der Schöpfung
erliehen vermögen. Die meisten werden ja gar nicht em- ist, wenn man versucht, diese Quelle zu verstopfen oder zu
'jifinden, wie beschämend ihre fortwährende Heuchelei ist. vergiften. Lassen wir sie sprießen und zum mächtigen Strom
.Man ist abgestumpft, man geht leichtsinnig darüber hinweg werden, jeder von uns in seinem Gebiet, und dann sollen
und sucht in rasendem Sinnentaumel, in immer neuen Raffi- die Feinde sehen, wie dieser Strom seine Ufer befruchtet!
nements des Genusses V e r g e s s e n . Und es ist ja in den Aber sehen lernen müssen die Leute zuerst! Sie müssen
großen, in den ganz großen Städten so leicht, sich das zu wissen, um was es sich handelt Da war nun freilich das
verschaffen. Man geht auf die Friedrichstraße und holt sich Buch von Kupffer eine ethische Kulturtat. Aber es ist
einen Jungen. Nichts Einfacheres! Und die Geschichte wie- nicht aller Leute Sache, eine literarische Sammlung durch-
derholt sich und die L e u t e w e r d e n a l l m ä h l i c h unfähig zuarbeiten, und dann gibt es — so unglaublich dies scheinen
/u g r o ß e r s c h ö n e r Liebe! Aber wenn seine Trunken- mag — noch genug solche, die nach der Lektüre ganz ein-
heiten mal einen mitreißen und sein Mund überfließt von fach erklären: Ja, wenn es so ist, so sind diese großen
Dem, wessen das Herz voll ist, dann schreit die ganze ehren- Männer alle pathologisch zu werten, überall Entartung! Und
werte Gesellschaft der Zionswächter Zeter und Mordio und gelegentlich kommt einer, der auf Lombroso schwört und
alle Gutgesinnten exkommunizieren den Unvorsichtigen wie findet hier ein bequemes Material zur Begründung der
einen räudigen Hund. Die Strengeren rufen nach dem Zucht- Hypothese vom Zusammenhang von Genie und Wahnsinn.
haus und der Prügelstrafe, die Milden schütteln den Kopf Alle diese werden erst dann glauben, daß wir gesund sind,
und meinen, wenn einer schon so sei, so solle er doch wenn sie entweder uns selber beobachten können, oder
wenigstens schweigen und kein öffentliches Ärgernis erregen! wenn die Wissenschaft sie darauf hinweist Daher sollten
Und dann sprechen sie ein paar interessante Worte über wir die Hilfe, die diese uns in jüngster Zeit leistet dankbar
Scxualpsychopathologie und Dekadenz und nachher — Schwei- annehmen. In diesem Punkte stimme ich mit v. Kupffer
gen. Hinterher aber hinkt der Staatsanwalt und holt irgend nicht überein. Auch ich bin kein Freund dieser sezierenden
einen mumifizierten Paragraphen hervor, um den allzu Ver- Untersuchungen und des pathologischen Getues, wie es lei-
wegenen, der dem Gott in seinem Busen noch Lobgesänge der hie und da die Folge war, vielleicht auch die Voraus-
und Opfer weiht, anstatt ihn zu verleugnen, mit der Macht setzung dieser merkwürdigen spätgeborenen Wissenschaft
der Gesetze mores zu lehren. Wahrlich, es ist ein giftiger von der „psychopathia sexualis". Aber tatsächlich wirken
die Schriften von Krafft-Ebing, Moll und Hirschfeld in wei-
5*
o o IN DIE ZUKUNFT o o 69 70 o o DER EIGENE o o

ten Kreisen ungemein belehrend und aufklärend. Vor allem


sich erneuern. Aber damit nicht einmal wollen wir uns be-
sieben sie die in den Augen der Gesetzgeber notwendigen gnügen. Unsere Kultur soll noch höher und herrlicher
„wissenschaftlichen Voraussetzungen" zur Abänderung der werden.
Strafgesetzgebung. Schon sind, wenigstens in den Groß-
Wenn dann endlich die Berechtigung unserer Liebe zu-
städten, fast alle Gebildeten überzeugt, daß hier eine
gegeben wird, dann müssen wir vor allem ans Tageslicht
Änderung eintreten muß, während vor 20 Jahren noch der-
treten und durch Taten beweisen, daß wir nicht bloße
artige Anträge einfach verhöhnt worden wären. Wenn diese
Duldung verdienen, sondern daß die Lieblingminne an
Männer und mit ihnen noch möglichst viele andere, deren
ethischer Bedeutung, an Kraft und Schönheit der bisher
wissenschaftlicher Ruf unantastbar erscheint, nicht aufhören,
einzig berechtigten Frauenminne gleich steht. Dann werden
ihr ceterum c e n s e o p a r a g r a p h u m e s s e tollendum zu
wir es auch erreichen, daß wir öffentlich um Gegenliebe
verkünden, so wird nach ein paar Lustren unsere heutige
und um Freundschaft w e r b e n dürfen und die Väter werden
Gesetzgebung völlig mittelalterlich erscheinen. Und darüber
nicht mehr kurzsichtig ihre Söhne vor dem Umgang mit
sind wir uns doch wohl alle einig, daß der erste äußerliche
Freunden warnen und zurückhalten. Sie werden sich im
Erfolg, den wir erzielen, die Beseitigung dieser unglück-
Gegenteil freuen, wenn ein tüchtiger Mann um die Gunst
seligen Paragraphen sein muß, die sich in die Gesetze fast
ihrer Söhne wirbt und ein tüchtiger Jüngling wird im An-
aller Staaten eingeschlichen haben. — Daß Das aber nicht
schluß an seinen Liebhaber Manches finden, was ihm für
genügt, hat auch Elisar von Kupffer betont mit dem Hin-
das ganze Leben von wertvoller Bedeutung wird und was
weis auf die Verhältnisse in Frankreich und Italien. Aber
ihm die Schule und oft auch das Elternhaus nicht zu bieten
die Aufhebung dieser Gesetze ist der notwendige Ausgangs-
vermögen. Man hat nun die Möglichkeit solcher Verhält-
punkt für alle weitere Entwicklung. Sie wird nicht ohne
nisse in der Gegenwart bezweifelt, ja, direkt verneint. Vor
heftigen Kampf ablaufen, gewiß. Desto besser! Denn Das
allem Karl Jentsch (vergl. Jahrb. f. sex. Zwischenst. II. 381 ff)
gibt uns die Möglichkeit, zu kämpfen mit einem Ziel vor
dessen Aufsatz ich allerdings nicht zu Gesicht bekam.
Augen und wird uns die Mitarbeit aller Aufgeklärten sichern.
Jentsch weist darauf hin, daß in der modernen Welt das
Dieser Kampf wird dann die öffentliche Meinung zwingen,
Jünglingsalter überhaupt ausfalle. Ich halte diese Ansicht
sich mit uns zu beschäftigen. Und wenn der Paragraph
für nicht so allgemein richtig. Die Jugend, die unsere immer
fällt, was über kurz oder lang geschehen muß, so wird das
zahlreicheren Sportplätze bevölkert, ist doch ein gewiß er-
in den Augen der Vielen einen um so größeren Erfolg für
freuliches Zeichen, daß Jentsch nicht ganz recht hat und wir
uns bedeuten, je länger und verzweifelter wir darum ringen
haben ja auf diesem Gebiet erst einen kleinen Anfang ge-
mußten. Und dieser Erfolg wird ihnen gleichbedeutend sein
macht. Außerdem wird die Liebe, die zwei erwachsene
mit der Anerkennung der Berechtigung der Lieblingminne.
Homosexuelle verbindet, von diesem Einwand von vornherein
Dieser Kampf muß daher mit aller Kraft geführt werden
nicht betroffen. Numa Praetorius weist mit Recht darauf
und alle Bundesgenossen sollen uns willkommen sein, die
hin, daß die Homosexuellen, welche erwachseneMänner lieben,
an unsere Seite treten wollen.
ebenso zahlreich sind, wie diejenigen, deren Trieb sich auf
Wenn wir aber dieses Ziel erst erreicht haben, o dann, Jünglinge richtet All das hat mit der Ästhetik nur sehr
hinauf! hinauf! Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag! Un- wenig zu tun und beruht nur auf psychologischen Gründen.
geahnte, unermeßliche Kulturperspektiven eröffnen sich uns Solche Verhältnisse zwischen erwachsenen Männern sind
und wir sehen schon die lichte sonnige Kultur Alt-Hellas heute ja schon möglich und auch verhältnismäßig zahlreich;
o o IN DIE ZUKUNFT o o 71 72 o o DER EIGENE o o

über sie würden durch die öffentliche Anerkennung an Die Gegner der Aufhebung des § 175 haben ihren
sittlicher Vertiefung nur gewinnen können. Standpunkt auch schon mit dem Hinweis darauf begründet,
Fs ist allerdings kein Zufall, daß die meisten Hellenen daß nach der Aufhebung die Zahl der Homosexuellen sich
in der Liebe sich vor allem zu jugendlichen Vertretern ihres vermehren würde. So ganz unrecht haben sie nicht. Frei-
eigenen Geschlechts hingezogen fühlten. Das Gegenteil lich die Aufhebung an und für sich würde an der Lage
kam ja wohl auch vor, aber die Zahl dieser in ihrem Ge- nicht viel ändern. Wenn aber mal die „öffentliche Meinung"
schlechtstrieb völlig „invertierten" Personen war im Ver- unsere Liebe als gleichberechtigt anerkennt, wenn dann
hältnis zur Gesamtbevölkerung, nur gering, gerade wie heute. eine neue w e r d e n d e Kultur die G r u n d l a g e ä s t h e -
Daher richtete sich die Aufmerksamkeit auch nicht so sehr tischen E m p f i n d e n s w i e d e r h e r g e s t e l l t hat, wenn
darauf. Die außerordentliche Verbreitung der somatischen vielleicht auch eine so dringend notwendige Umgestaltung
Liebe in Hellas können wir nur durch die Lehre von der unserer männlichen Kleidung die herrlichen Linien und Ver-
Bisexualität erklären und dadurch löst sich jenes scheinbare hältnisse wohlgeformter Körper wieder erkennen lassen wird,
Rätsel von selbst. Dr. Hirschfeld hat gezeigt, daß es sich dann werden sich freilich Tausenclc auf sich selbst besinnen
bei der angeborenen „konträren Geschlechtsempfindung" und werden auch ihren homosexuellen Trieb zur Entfaltung
um Zwischenstufen handelt, um Übergangsformen vom Voll- bringen, der neben dem „normalen" in ihnen schlief und
niann zum Vollweib. Dabei kommen nun alle Schattierungen den unsere Gegenwartskultur mit hunderttausendfacher Sug-
vor, und als Übergang von der Normalität zur Homosexuali- gestion unterdrückt und vernichtet. Aber eine Bisexualität
täl entdeckte man den psychosexuellen Hermaphrodismus, auf solcher Grundlage scheint uns keine Gefahr. Wenn
die Bisexualität. Die Geschichte des Altertums lehrt uns, so die M ö g l i c h k e i t des Auslebens aller u n s e r e r
daß zahllose hervorragende Männer Gefallen fanden an den Anlagen g e b o t e n w i r d , so muß die Kulturstufe sich
reifen Formen des Weibes und dann wieder an der blühen- e r h ö h e n und dann wird sich auch eine edle Form
den Schönheit von Jünglingen, und wir können schlechter- für Alles finden. Unsere Sportplätze werden eine ähnliche
dings nicht annehmen, daß sie alle das aus Lasterhaftigkeit, Rolle spielen wie die Gymnasien von Athen. Und dann
Genußsucht, Übersättigung taten oder weil es allgemein werden wir der Jugend das verlorene Jünglingsalter zurück-
Sitte war. Dichter wie Anakreon und Horaz besingen ihre erobern!
Geliebten aus beiden Geschlechtern mit derselben Inbrunst. Wie man in solchen Bestrebungen eine Gefährdung
In denjenigen griechischen Staaten, wo die sokratische Liebe der Gesellschaft erblicken kann, ist unbegreiflich. Man ver-
sieh besonderer Anerkennung erfreute oder sogar staatlich schanzt sich in der Regel zuletzt hinter die Befürchtung,
geschützt und geregelt wurde, wie in Athen und Kreta, er- ein eventueller „geschlechtlicher Verkehr" könnte den Jungen
scheint die ganze Kultur, soweit sie überhaupt mit dem schaden an Leib und Seele, Nun ist aber erstens dieser
Geschlechtsleben irgendwie zusammenhängt, als auf bisexueller „Verkehr" doch nicht die Hauptsache und viele werden
Basis beruhend. Der homosexuelle Teil des Geschlechts- auch in Zukunft ganz gut ohne ihn das Leben aushalten.
triebs der Bisexuellen richtete sich vor allem auf jugendliche Anderseits ist doch gewiß die einsame Onanie, die aller-
Individuen, die dem weiblichen Typus einigermaßen ver- mindestens von vier Fünfteilen unserer Jugend betrieben wird,
wandt waren, und die ganze griechische Kulturgeschichte was nur eine lächerliche Heuchelei und Prüderie zu bestreiten
ist der sprechendste Beweis, zu welch herrlicher, sittlicher wagt, für die Tugend und für die Gesundheit weit schäd-
Höhe dieser Trieb gefördert werden kann. licher. Auf irgend eine Weise befriedigen die Jungen ihre
o o IN DIE ZUKUNFT o o 73 74

Triebe ja doch, sei es durch die Masturbation, diese


„traurige Fratze" der normalen Befriedigung, sei es mit
Hilfe der Prostitution, wo sie die Keime zur Entartung ihrer
ganzen Familie holen, um von der moralischen Schädigung
ganz abzusehen.
Andere haben befürchtet, die Frauen könnten wieder in ENTGEGNUNG
eine Ähnlich erniedrigende Stellung geraten wie in Griechen- Ihr, die Ihr Euch meist
1
land. Ich halte diese Gefahr für sehr gering. Die Weiber Voll Gottesfurcht preist,
wehren sich jetzt schon selber. Elisar von Kupffer hat ganz Solltet mit nichten
recht, wenn er von der Notwendigkeit einer Emanzipation Ober unsrichtenI
Gott selbst hats gewollt,
der Manner spricht und unsere Bestrebungen mit der be- Wies kommen gesollt
kannten Frauenbewegung vergleicht. Wieweit die Frauen Glaubt Ihr, wir würden
ihre Forderungen durchsetzen weiden, weiß man ja nicht, Leid uns aufbürden? —
jedenfalls gerade so weit, wie sie es verdienen. Und wenn Kennt Ihr unsre Pein?
dann ihr Geschlecht dem männlichen in größerer Selb- Stets einsam, allein
Mit den Gedanken
ständigkeit gegenübersteht, so bedeutet das noch lange Durchs Leben wanken,
nicht den Kampf der beiden Parteien. Die Frauen k ö n n e n Von Liebe entflammt —
nur g e w i n n e n , w e n n d e r Mann aufhört, sie als a u s - Zur Lüge verdammt,
s c h l i e ß l i c h e s Objekt d er Kurmacherei zu b e t r a c h t e n . Um nie zu finden
Die Beziehungen der beiden Geschlechter werden freier sein Ein treu Verbinden. —
Verhöhnt und verhetzt
auf beiden Seiten, dafür vornehmer und glücklicher. Und dann noch — zuletzt —
Man mag das alles für Utopieen halten. Aber wir Durch Eure Hände
sehen, daß etwas Neues sich gestalten muß und da dürfen Ein ehrlos Ende! —
wir wohl das wogende Chaos uns entwickelt vorstellen. Wahr- PAUL R. LEHNHARD.
lich, trotz aller Schwierigkeiten ist es eine herrliche Zeit
zu leben! Wir dürfen kämpfen in der Überzeugung, daß
wir die Grundlagen schaffen zu neuer Kultur.
Und so blicken wir getrost in die Zukunft. «
GOTAMO
BÜCHER UND MENSCHEN
HOMOSEXUALITÄT UND lischen Oeittlichen sein, daß die Bibel vom
Homosexuellen keine andere Enthaltsam-
RASSENKUNDE ttttttjtjtg keit als von dem Heterosexuellen vor der
Ehe verlange und daß es darum unbe-
Jahrbuch f. sexuelle Zwischen- rechtigt ist, immer wieder auf Grund des
stufen. Herausgeber Dr. Hirsch- Alten oder Neuen Testamentes den Homo-
sexuellen als solchen schon für einen
feld in Charlottenburg. Verlag: verlorenen ehrlosen .Sünder* zu halten.
Max Spohr in Leipzig. IV. Jahr- Weitere Artikel bringen Bemerkenswertes
gang. Preis I6M., geb. I7.50M. über die Homosexualität bei den alten
An Inhalt und Ausstattung steht der Skandinaviern und in Japan. Dr. phil.
neue Band seinen Vorgängern nicht nach, Katte untersucht, etwas einseitig theistisch,
an Umfang aber übertrifft er sie. Ob das den .Daseinszweck der Homosexuellen",
gerade für die Verbreitung des Werkes während Prof. Karsch-Berlin eine sehr
sehr von Nutzen ist, bezweifle ich. Mögen eingehende Arbeit über die Homosexualität
die Beiträge noch so interessant und so vor- des Reformators Theodor Bezak, des His-
zuglich an wissenschaftlichem und lite- torikers Joh. v. Müller und des Roman-
rarischem Werte sein: man schrickt un- schriftstellers Freiherrn von Sternberg
willkürlich wie vor einem dicken Bibelbuch bringt; besonders die vielen Auszüge aus
zurück, wenn einem nicht vor allem der des letzteren, heute ziemlich vergessenen
Preis zu teuer ist. Der guten Sache wegen schönheitstrunkenen Werken sind anzie-
wäre es dem Verlage jedenfalls anzuraten, hend und lassen uns ahnen, ein wie weites
in Zukunft alles nicht rein Wissenschaft- und reiches Gebiet auch dem heutigen
liche auszuscheiden, oder die Arbeit eines Dichter noch zur Bearbeitung offenließ,
ganzen Jahres zu teilen und zwei Bände wenn er es nur verstellt, statt der heute
statt einen herauszugeben. von der Modeliteratur last ausschließlich
Aus dem reichen Inhalt seien hier nur behandelten heterosexuellen Liebe die
hervorgehoben: eine umfassende Arbelt des reichen Schätze des homosexuellen Liebes-
Hofrats von Neugebauer-Warschau über problcms künstlerisch zu heben-! Dr. von
Scheinzwirtertum mit zahlreichen äußerst Römer-Amsterdam hat schließlich noch
interessanten Illustrationen, dann die Ar- einen wertvollen historischen Beitrag Über
beiten von Dr. A. Fuchs-Wien über Heil- .Heinrich III. — die Herrschaft der Mig-
bestrebungen auf dem Gebiete sexueller nons" geschrieben, dem sich die sehr aus-
Anomalien und von Dr. G. Merzbach- führliche Bibliographie anschließt, aus der
Berlin über Homosexualität und Beruf; die gründliche und erschöpfende Wider-
dieser Forscher verhält sich gegenüber der legung des ziemlich unwissenschaftlichen
Frage der .Heilung* homosexueller Veran- Wachenfeldschen Buches .Homosexualität
lagung mit Recht sehr pessimistisch, warnt und Strafgesetz* als besondere Glanz-
vor dem Heiraten Homosexueller und rät zur leistung hervortritt Den Schluß des
Ergreifung von der homosexuellen Veran- Bandes bildet neben einem Aufruf für
lagung entsprechenden Berufsarten und Meerscheidt-HUIIessen der Jahresbericht,
AN NARIKSSOS offenem, mutigen Bekennen der homo- der u a. ein Telegramm Björnsons ent-
hält, wonach sich dieser gewaltige Geist
sexuellen Veranlagung. Sehr bedeutend
— den neuen Werther — für einen groben Teil unseres Volkes wird für die Bestrebungen des Komitees erklärt.
Hoffen wir, daß auch dieser Band eine
der ausführliche Nachweis eines katho-
0, Narkissos, nicht von Angesicht sah ich Dich je,
Doch innigst verwandt ist meine Seele der Deinen.
Du starbst, — sich Narkissos — ich weine um Dich.
An Deinem Grabe meißelt der holdeste Knabe
Mit feiner Hand in den Marmor die Schrift:
Hir-r rnht Nft-W««-,« dg *n Sfhnnhr-il Sln.h."!
o. o BÜCHER UND MENSCHEN x> o
77
recht weite Verbreitung finde und neue
Einflüsse soll die Entwicklung der se-
Lichtstrahlen in die Finsternisse der vor-
urteilsvollen Mitwelt werfe. lisclien Seite des Geschlechtslebens sich
heterogen der Ausbildung der sekundären o o DER EIOENE o o
DR. O. KIEFER
Geschlechtsmerkmale vollziehen.
78
Ich kann mich mit dieser Anschauung
HOMOSEXUALITÄT UND nicht befreunden. Auch bekenne ich rück- man eine große Weichheit des ganzen Furcht vor dem Urteil der Welt, aus fal-
haltlos, daß meine naturwissenschaftliche FUhlens beobachten. Besonders ist dies schem Ehrbegriff handelt. Brentano hat
MALTHUSIANISMUS g g g Bildung auf zu schwachen Fundamenten bei homosexuellen Dichtern der Fall. Diese diese Tragödie in seiner Geschichte vom
beruht, als daß ich Entscheidendes in Leute haben ein bedeutendes Kunstgelühl schonen Anoerl dargestellt und bewiesen,
In München ist eine .Freundlings"- dieser Hinsicht vorbringen könnte und eine große Gabe des Hineinemplindens, daS ein Dichter noch immer ein schärferer
Liga gegründet worden zum Kampf gegen indes habe ich versucht, mich in wie such die Frauen, van denen Dehmel Psycholog Ist als ein Kriminalist aus
den § 175 und, wie es scheint, zur meiner Art mit dem Thema auseinander- einmal sagte, daß sie infolge ihrer hin- Lombrosos Schule.
„Freundschaftskultur", eine Vereinigung, zusetzen. Schopenhauer ist mein Pfad- gebenden Eigenschaften sich vorzuglich zu Franz Oppenheimer hat sich in einer
die jedoch mit dem „Wissenschattlich- finder gewesen. Wie er annimmt, kommt Übersetzern eigneten. Ich füge hinzu, daß bei John Edelheim-Berlin erschienenen
Humanitären Komitee" zu Charlottenburg Päderastie (er braucht noch diesen heute - viele bedeutende Kunstvermittler homo- Schrift Bit dem Prinzip, daß die Bevöl-
und Leipzig in keinerlei Verbindung steht. verlästerten Ausdruck) nur bei solchen sexuell waren. kerung, die in geometrischer Reihe voran
Das Einzig-Rühmenswerte dieser Liga ist Leuten vor, bei denen die Zeugungskraft Man wird mich verstehen. schreite, stets die Tendenz habe, sich Über
die Tatsache: daß von ihr das Material noch nicht ausgebildet ist, also bei Jüng- Ich glaube, daß der Homosexuelle das die, nur in arithmetischer Reihe wachsen-
ausging, mit dem der „Vorwärts* mit einem lingen an der Grenze der Pubertät, oder Produkt eines erschöpften Zeugungswillens den Unterhiltungsmittel hinaus zu ver-
Schlage das ganze Volk und die ganze wo sie schon erlosch, also bei Greisen. ist, sei bliese Erschöpfung bei den Eltern mehren, was Malthus für eine immanente 1
gebildete Welt zum Denken über die Das wäre in einem Zustand unentwickelter eine vorübergehende oder sei sie durch Kategorie Mit, während ihm nur die Be- i
Notwendigkeit dieses Kampfes aufgerüttelt oder erschöpfter Geschlechtsreife: Para- Ausschweifung oder Ermüdung bedingt. deutung einer historischen zukommt, sehr
hat und das durch die Folgen der Ver- doxie in Verbindung mit Pajasthesie des Und in dieser Ansicht bestärkt mich noch ausfuhrlich und eindringlich beschäftigt
öffentlichung geradezu klassisch wurde. •) Triebes. die Beobachtung, daß es Personen gibt,
Man ha! mir aber auch ein paar~Nuiiiim.ru Ich mochte dieses Werk den Herren,
Es gibt nun aber doch Homosexuelle die, infolge eines erschlafften Triebes bei welche die hier gerügte Theorie vertreten,
des publizistischen Organs dieser Ver- Weibern impotent, zum gleichgeschlecht-
in allen Lebensaltern und Gesellschafts- empfehlen, um sie von dem Grotesken
einigung gesandt. Ich weiß nicht mehr, lichen Verkehr gelangen.
schulden, wenn auch vielleicht vorwiegend ihrer Behauptungen zu Überzeugen. Je
ob es auch .der Freundling" heißt, wel-
in solchen Schichten, deren Lebensfähig- Man könnte hieraus ein Naturgesetz dichter doch die Bevölkerung und je inten-
ches Wort ich für eine dumme ärgerliche
keit durch übermäßigen Kräfteverbrauch ableiten und wurde damit nur einem ord- siver und beschleunigter Produktion- und
9\
Neubildung halte; zumal wir die Bezeich-
früherer Generationen vermindert ist. nenden Bedürfnis unserer Natur folgen. Umsatzmöglichkeit, um so weniger sind
nung Urning haben, und der »Liebling",
Jedenfalls habe ich gefunden, daß der Etwas anderes ist es aber, der Natur Übervölkerung und Hungersnot zu be-
den ich gerne aeeeptiere, immer mehr in
eigentliche brutale Wollust-Trieb bei kon- Absichten und Ziele im menschlischen furchten, wahrend gerade in Ländern mit
Gebrauch kommt. Jedenfalls kann ich
trär-sexuellen Individuen weniger vehe- Sinne unterzuschieben. Gesetze können dUnner Bevölkerungsziffer und mangel-
mich fürs erste nicht für das neue Blatt
ment und zwingend wirkt wie bei gesunden wir aus allem Geschehenen herauslesen. haften Beförderungs- und Austausch-
und seine Anschauungen erwärmen, und
Männern, und daß er, wo er übermäßig Aber zielbewußtes Handeln kommt nur mitteln die Gefahr einer Verelendung weit
ich hoffe, daß Fleischmann Wort hält
begehrlich erscheint, durch neuropathische einem denkenden. Überlegenden Wesen zu. größer ist. Und in einem Lande, wo man
und das Blatt mit Erscheinen des Eigenen
Belastung beeinflußt ist. Diejenigen aber, welche behaupten, mit kapitalistischem Ausbeutungssystem
wieder vom Schauplatz tritt.
Das ganze Liebesempfinden des Ur- daß die Umkehr des normalen Geschlechts- und Latihindienbesitz gänzlich aufräumen
In einem kurzen Artikel wird jedoch triebs eine Vorbeugung gegen Über- wollte, wurden derartige Gefahren Über-
nings ist abgeblaßt und hat etwas schwär-
die Homosexualität für ein kluges Vor- völkerung sei, tragen ein Zweckprinzip in haupt nur noch chimärisch sein.
merisches, impotentes und feminines.
beugungsmittel der Natur gegen Übervöl- die Naturerscheinungen hinein.
kerung erklärt. Man kann beobachten, daß ein durch- Ich möchte aber auch noch auf einen
aus stark und männlich empfindender Auch arbeiten diese Leute mit einem Vorwurf eingehen, den man der homo-
Ehe ich weiter gehe, möchte ich meine
Künstler mehr impulsiv schafft. Sein veralteten Wirtschaftsprinzip, einem von sexuellen Propaganda-Literatur gemacht
eigene Anschauung festlegen.
Empfinden ist so mächtig, data es"gewalt- der Wirklichkeit längst ad absurdum ge- hat. Vorzüglich sind mir zwei Stimmen
Einige Autoren, auch Krafft-Ebing,
sam hervordrängt, sich befreit und sich führten Gespenst, einem Überbleibsel einer in der Erinnerung: Max Bruns in der
glauben die Entstehung derjenigen Ab-
seine eigne natürlich zugehörende Form verflossenen Wirtschaftsordnung. Ich Vorrede zum 2. Bande seiner Baudelaire-
weichung von der gewöhnlichen Ge-
schafft, wie das Volkslied. Je schwächer meine die Populationstheorie des Malthus. Übersetzung, auf welche ich ausführlicher
schlechtsnorm, die wir Homosexualität
das Empfinden wird, um so weniger Zwar scheint die Malthus'sche Ansicht zurückkomme, und ein Herr Witry im
nennen, auf gewisse unerklärliche Beein-
zwingend wirkt die Form, und bei den viel zu tief eingewurzelt zu sein, als daß Literar. Echo. Es wird uns dort vorge-
flussungen des noch bisexuellen Embryos
eigentlichen Formlyrikern, wie Platen, man hoffen durfte, daß die Soziologen ihr worfen, daß wir mit bedeutenden Männern,
zurückführen zu müssen Durch diese
Schack, Meyer, Lons, Rilke etc.-, kann endlich die gebührende Stellung anwiesen. die zufällig homosexuell gewesen, brillie-
Enrico Fern sogar glaubt noch an dieselbe ren wollen. Es mag wohl Leute geben,
*) Ehrensache jedes Wahrheitsfreundes ist es: Zeugen- und Zeitungs-Material zum
Falle Krupp zu sammeln und unter genauer Angabe der Namen. Adressen und son-
stigen Daten eingeschrieben an mich einzusenden. ADOLF BRAND.
und meint, daß mit praktischer Durch-
führung dieser Lehre die meisten Kindcs-
mnrde und Fruchtabtreibungen verschwin-
die sich (Ur etwas Besonderes halten, weil
einige Größen ebenso in sexueller Bezie-
hung emplanden; wie es auch Philister
gibt, die in mancher Äußerung Goethes
I
den wUrden. Wenn auch manche Personen
derartige Verbrechen begehen, weil sie eine Bestätigung ihrer kläglichen Existenz
furchten, die kleinen Wesen nicht durchs finden. Wir wissen recht genau, daß die
Leben bringen zu können, so nehme ich Sexualität Michel Angelos sehr wenig mit
seinem Genie zu tun hat Aber man soll
doch an, daß der größte Prozentsatz aus
80 o o DER EIGENE o o
o o BÜCHER UND MENSCHEN o o 79
.1 leiten*-wollen eine LeluMisliifje war! — ist ein Schaffender, ein Former; seine
Die Sprache des Werkchens ist iesscliul, Gestalten erstehen bei der bis ins kleinste
doch nicht vergessen, daß wir einen Kampf geschichte. Verlag von Max stellenweise von hohem pnclischcnSchwuiig Detail gehenden Genauigkeit, mit welcher
zu führen haben gegen eine Menge er-
Spohr in Leipzig. Preis 2 Mk. und reich au Gedanken und eigenen Be- er Charaktere zeichnet, zu neuem Leben.
starrter Hirne, die nur noch durch ganz obachtungen. Milgc es nicht so unbeachtet
Meines Wissens zum ersten Mal wird Seine Personen sind keine bloße Schein-
gewaltige Autoritäten aus ihrer Lethargie bleiben, wie sonst Derartiges, selbst wenn
hier der Versuch gemacht, das Problem figuren, die handeln, wie es der Verfasser
aufzuwecken sind, und daß im Kampfe es, wie der einzige .Rubi", ein Meister-
der angeblichen Heilbarkeit der homosexu- vorschreibt, sie sind Gestalten von Fleisch
jedes Mittel recht ist. Daß unsre Taktik werk ist. Dr. O. KIEFER.
ellen Anlage künstlerisch darzustellen und und Blut, die unter dem zwingenden Ein-
falsch gedeutet wird, ist nicht unsre
psychologisch auszubeuten.*) Ein junger fluß ihres Charakters agieren. So ent-
Schuld. Einen Grund für diese Taktik
Student erzählt uns in Tagebüchern, wie rollt er uns im vorliegenden Werk das
mag man aber darin erblicken, daß das
er in der Meinung, von seiner durchaus ROMAN ©®®®®®@®afi®®® Seelenleben der assyrischen Königin Se-
Leben bedeutender Leute, die auf einen
reinen Leidenschaft für das gleiche Ge- miramis. Sein ungewöhnliches Talent er-
bevorzugten, weithin sichtbaren Platz ge-
stellt sind, eindringlicher, bekannter und
schlecht befreit werden zu müssen, sich Peter Hille: Semiramis. Verlag möglicht es ihm, daß uns an diesem Weib
einem bekannten Sexualpsychologen in Carl MessenS Co.,Berlin. Preis 1 M. nichts mehr rätselhaft erscheint. Wir
lehrreicher wirkt, als das irgend welcher
die Behandlung gibt, der es mit Hypnose begreifen Ihre Herrschsucht, Ihren unbeug-
obskurer Herren.
versuchen will, ihn zu .heilen". Die Peter Hille war uns bisher unbekannt samen Stolz, ihre brünstige Sinnlichkeit.
Unsere Schriftsteller möchte ich noch .Heilung" glückt nicht nur keineswegs, — seinen Werken nach. Ich hatte ledig- Vor uns steht Semiramis als Weib mit
ermahnen, mit äußerster Vorsicht vorzu- sondern der Student verliebt sich auch lich von ihm reden hören als einem rein menschlichen Vorzügen und Schwä-
gehen. Am besten ist es, sich e i n e r gleichzeitig in einen Altersgenossen, der Dichter von außergewöhnlicher Gestal- chen. Dies kann natürlich nur einem
Zentralleitung zu unterstellen und mit nach einiger Zeit seine Liebe leidenschaft- tungskraft und Können. Die Lektüre echten Dichter gelingen.
Rucksicht auf die Bedeutung des uns ein- lich erwidert, sich dann aber plötzlich dieses Romans bestätigte dies. Hille MATTHIAS BLANK.
mal aufgezwungenen Kampfes alle per- kühl zurückzieht, sei es, weil er nicht so
sönlichen Absichten beiseite zu stellen. tiei empfinden kann, sei es aus Furcht vor
Die strenge Organisation und das feste der Mitwelt, — dieser Punkt ist unklar,
Gefüge des römischen Katholizismus ist was mir ein technischer Fehler scheint —;
ein gutes Vorbild; denn nur dem festen der andere aber, tief unglücklich, macht
Ineinandergreifen aller Teile verdankt dieser dem immer noch Oeliebten eine Szene mit
pg^HRg^Ln UNTERM STRICH RS^^RS^n
wunderbare Bau seinen beinah uner- dem Revolver, die zur Folge hat, daß .die
schütterlichen Bestand. Alle Leser, die an männlicher Kraft voll ist. Alles was mir zugeht: die Be-
beiden zusammen in den Schmutz tauchen".
PAUL VOIS. und Schönheit ihre Freude haben, bitte richte aus unserer Bewegung — Aufsätze,
Nach dem Rausch kommt aber in der
ich, mitzuwirken und mitzuhelfen, daß Gedichte, Novellen und Skizzen — Zeich-
vornehmen, feinet) Seele des unglücklich
LYRIK &{&(&sfc®<s<&<<i>(&t&®<&® Liebenden die Ernüchterung. Er kann
DER EIGENE ein internationaler Turnier- nungen, Aquarelle und Photographien —
platz Aller werde, denen die Ehre und Mitteilungen Über Werke der Kunst und
nicht mehr leben, weil er sich .einem
Marie Madeleine: Auf Kypros. Verächtlichen* ausgelieiert hat anstatt sich Freiheit unserer Liebe gilt! Jeder ist mir Literatur, deren Wiedergabe oder Bespre-
bei diesem Kampfe als Mitarbeiter will- chung im Eigenen wichtig wäre — Zei-
Berlin. Vita, Deutsches Verlagshaus. .dem Freisten zu geben, dem König, der
kommen, der bereit ist, den Eigenen und
mit ihm die Welt eroberte"; darum tötet tungsartikel und Rezensionen; Alles wird
Verzeiht Marie, wenn ich dem Klang der er sich, nachdem er dem verachteten, aber sein Vorhaben furchtlos mit Rat und Tat dankbare Aufnahme und gewissenhafte
Saiten immer noch geliebten Freund in einem zu unterstützen und freudig das große Prüfung bei mir finden! — Arbeite Jeder
Aus Eurer Leier nicht so feurig lausch; symbolischen Märchen das Verächtliche Werk heiliger Selbstachtung zu fördern, fröhlich mit an seiner Statt! Halte sich
Ich kann Sie doch nicht Tag und Nacht seines feigen Standpunktes klar gemacht das in der Bewegung um die Abschaffung Niemand für zu gut, unserm Fähnlein dau-
begleiten hat. Ein künstlerisches Meisterstück (ist des § 175 des Strafgesetzbuches seinen ernd immer neues Volk zu werben — dann
Durch einen heißen FUnfsekundenrausch I dieser Selbstmord gerade nicht, wenn er mächtigsten Grundstein findet. r*& c*z3 wird DER EIGENE alle Hoffnung gern er-
Marie I Auf Kypros habt Ihr so gesprochen: auch bei idealistischen Schwärmern wie DER EIGENE wird jeden Wunsch be- füllen, die man auf ihn setzt! rtcJ r*zJ
Messieurs, mesdames, die Lieb ist ne hier einigermaßen psychologisch begreiflich rücksichtigen, der diesem Zwecke dient,
sofern er für die künstlerische und lite- ADOLF BRAND, Charlottcnburg,
Tinktur, sein mag. .Wahrscheinlicherfreilich scheint
mir in solchen Fällen, daß der Liebende, rarische Ausgestaltung der Zeitschrift wert- Knescbcckstraßc 27.
Gemischt aus Liebesnächten, Flitterwochen,
der einmal die Süßigkeit der vollen gegen-
Und einem kleinen Tröpfchen Galle nurl
seitigen Hingabe — mag dieselbe auch
FELIX FALK. Die X. Halbjahrskonferenz des WIssenechaftllch-HumanItSren Komitees ist auf
unter der hier vorausgegangenen Szene
erfolgt sein — empfunden hat, nun erst den II. J a n u a r 1003, n a c h m i t t a g s um 3 U h r anberaumt. Die Versammlung
NOVELLE <&<$(&<$(&(&&(&<&<$ findet in Berlin, im Hötcl Prinz Alhrccht statt. Eintrittskarten sind nur bei dem Vor-
recht zu leben anfangt, zumal wenn er,
wie hier, erkannt hat, daß nicht die Be- sitzenden des Komitees: Herrn Dr. med. M a g n u s H i r s c h f c l d , C h a r l o t t c n b u r g ,
Narkissos: Der neue Werther, tätigung seiner Anlage, sondern deren B e r l i n c r s t r 104, zu haben.
Eine hellenische Passions-
•) Dr. Kiefer scheint die Novelle für eine Dichtung zu halten. Ich kann hier Verantwortlich für die Redaktion: Adolf B r a n d , Charlottenburg, Knescbcckstr. 27,
demgegenüber mitteilen, daß das Tagebuch eine wahre Lebensgeschichte ist, deren für den Verlag: M a x S p o h r , Leipzig; für den Druck: 0 . R c i c h a r d t , Qrnltzsch I. S.
tragisches* Ende erst vor kurzem »ich ereignet hat — — — ADOLF BRAND.

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