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DER EIGENE
s t r e b t einen geistigen T u m m e l p l a t z Kunst und Eigenart schätzen-
den Menschen zu bieten. Schönheit und Liebe, Wissenschaft,
Freiheit und Vaterland sind die Güter, um die er k ä m p f t . —
Ein B a h n b r e c h e r „neuhellenischer" K u l t u r - I d e e n , will er die
Lebensauffassung der Gedankenlosigkeit m i t ihrer Elends- und
M i t l e i d s m o r a l , samt den Knechts-Idolen ihrer Gleichheitsflegelei,
d u r c h eine selbstbewusste, zukunftsherrliche verdrängen helfen,
in der das offiziell Geaichte, das Herdenmässige, den einsamen
Eigencharakter nicht erdrückt. — Er f o r d e r t die freie, d u r c h ^
keine A u t o r i t ä t g e h e m m t e Bethätigung des Individuums, weil sie
, \
die sicherste Garantie f ü r den sozialen F o r t s c h r i t t bietet, f ü r die
entwickelungsmässige, gewaltlose Neuordnung der Dinge, die
s
j e d e n in den Stand setzt, a u f seine eigene Weise glücklich zu
sein. Sein Ziel ist so: die grösstmöglichste W o h l f a h r t Aller!
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Philosophie: - ein kraftlos gleissend Wort.
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der Mette vorbehalten. 4 4 - 6 . 4 4 4 . 4 4 - 4 4 4 4 4 4 A Ich hall soviel studiert. Nun schall* mir Klarheit.
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Lasst Mensch mich werden in der hcilgen Liebe —-
-#- -*- -:!f- -*- Unsere Freunde -*- -*- -m- -*- Nur dieses dieses eine schreibt die Welt mir vor!
u e r d e n dringend gebeten, überall, wo sich Gelegenheit dazu
Ferdinand Freiherr.
bietet, für die Verbreitung des Blattes besorgt zu sein und in
Restaurants, Cafes, Konditoreien, Buchhandlungen und bei den
I . 11. 2. (ll T l.^|w.,|,..lt |«nn.
Zeitungshftndlern immer wieder den Eigenen zu verlangen. 4 4
bedürfen wir einer Emanzipation des Mannes zur Wiederbelebung
einer m ä n n l i c h e n Kultur; und d i e ist es, für die ich hier
eintrete.
Ich bin nicht so aberwitzig zu verkennen, dass auch wir
Männer haben, auch wir haben Schlachten geschlagen, wie 1870,
aber dennoch ist unsre Kultur jetzt keine gesund männliche. Zur
Förderung des männlichen Sinns gehört aber vor allem, dass die
Die ethisch-politische Bedeutung der Lieblingminne. Männer sich aneinander anschliessen, dass die jüngeren in nahem
Verhältnis zu den älteren stehen, dass der männliche Sinn in
E i n l e i t u n g zur demnächst erscheinenden Sammlung.
steter Übung des Lebens genährt wird. Und das wird niemals
Der Eigene. — 182 — I. u. 2. OklobcrheFt 18«9. Der Eigene. - 183 — t. u. 2. Oktoberbeft 1899.
wird sich davon überzeugen, dass er wahrlich kein Feind weiblicher historischen Entwickelung fallen zu lassen. Wahrlich, es ist
Tugenden, Anmut und Reize ist. keine dankbare Aufgabe, wenn man sich dessen bewusst ist, mit
Im Anschluss daran muss ich gegen die ganze neuere wieviel Unwissenheit, Böswilligkeit und Feigheit man dabei zu
Richtung Stellung nehmen und die kränkelnde Prinzipiensucht kämpfen hat. Es ist weit leichter, die Dinge gehen zu lassen,
unsrer wissenschaftelnden Zeit bekämpfen. Es ist nun mal in wie sie gehen, und ungestört seinen Neigungen im stillen zu
human-wissenschaftlichen und anderseits in nahbeteiligten Kreisen leben. Aber, wie ich sagte, wo es sich um das gemeine Wohl,
Mode geworden, von einem „dritten" Geschlecht zu reden, dessen um eine gesunde Kulturentwickelung und um persönliche Freiheit
Seele und Leib nicht zusammenstimmen sollen. Der hannoversche handelt, da verlangt der männliche Sinn, dass wir handeln und
Jurist K . H. Ulrichs, allerdings ein mutiger und ehrenwerter reden, ohne feige Besorgnis.
Charakter, aber nicht gerade umsichtiger Kopf, hat gar für dieses Was ich unter Kultur verstehe? Die Möglichkeit des Aus-
dritte Geschlecht, zu dem er sich selbst zählte, eine Bezeichnung lebens unsrer Triebe und Kräfte, doch ohne Gewaltthätigkeit.
erfunden; dieses Wort „Urning" (von Venus Urania), „urnisch" Nichts liegt mir ferner, als eine Erlösung durch das £ T bermass
hat sich wie eine verallgemeinernde'Epidemie verbreitet. Es ist des Sinnengenusses zu predigen; nein, gerade in der wiederholten,
von wissenschaftlicher Seite aufgenommen worden, so von dem freiwilligen Beschränkung und Zügelung seines Selbst wird man
bekannten Psychiater Professor Freiherrn von K r a l l t - E b i n g in zum Meister, aber ich möchte auch die Worte des griechischen
Wien. Die Sache ist untersucht, bekrittelt, klassifiziert, hypno- Weisen wiederholen: „Es zeugt gewiss von Männlichkeit, über
bemediziniert, popularisiert und Gott weiss was worden. Es die Sinnenfreuden zu gebieten, ohne ihnen zu unterliegen, nicht
haben sich zuletzt Leute daran gemacht, die mit frommen und aber sich ihrer zu enthalten."
unfrommen Sensationen ihr Schäfchen bei der Sache scheren
Wir leben — wie immer — in einer Welt der Schlagworte,
wollten; kurz, wir haben einen ganzen Wust von krankhaften
bei denen man nicht weit denkt. Man hört von Dekadenz und
und albernen Geschichten, die unsrer Kultur zu nichts fruchten.
Verfall und tauft damit, ohne erst nach dem Sinn der Worte
Und was dasVerdriesslichste dabei war, die Spitzen unsrer ganzen
viel zu fragen. Was heisst denn Verfall? Das Absterben der
Menschheitsgeschichte wurden dabei verzerrt, so dass man diese
Lebenskräfte, die Unfähigkeit, den Kampf mit dem Leben zu
reichen Geister und Helden in ihren uniischen Unterröckchen
führen, die Sehnsucht nach der Auflösung, Zersetzung. Nur wo
' k a u m wiedererkennen mochte. Auf der andern Seite, besonders'
wir das finden, dürfen wir von Verfall reden. Und da kommen
der philologisch-historischen, die natürlich so etwas anekelte, fuhr
gewisse Leute, um hier keinen Namen zu nennen, und sagen:
man munter mit der Fälschung der Thatsachen fort, die man
die Lieblingminne ist Verfallserscheinung. Warum ? — — Hat
euphemistisch „Ehrenrettung" nennt. Auf der einen Seite ein
etwa Sophokles seine Stellung im Leben nicht ehrenvoll erfüllt,
Verkleinern und Verzerren, um nur das Mitleid der Gesetzgeber
hat er wicht kulturell, ja moralisch gewirkt? Hat Alexander der
und Richter zu erbetteln; auf der andern Seite ein Fälschen und
Grosse den Kampf mit dem Leben gescheut? Ja sogar zeitlich
Unterdrücken, das nicht weniger schlimm als Banknotenfälschung
ist jene Behauptung eine historische Unwahrheit, da sich in den
ist. Und nun gar die Partei der Schimpfenden, die teils aus
Anfängen der Volksgeschichte die Lieblingminne findet. Und
Unwissenheit, teils aus Bosheit ihre Lauge ausgössen! Musste
ich erinnere an Theognis und Pindar; haben sie nicht beide zu
da nicht einem gesunden Manne, der nochjeinen Funken ehrlichen
Ehren des Vaterlandes und der Kultur gewirkt? Ja sogar eine
Sinns für Wirklichkeit und Geschichte hatte, der Ekel ergreifen?!
Nachkommenschaft haben die meisten in die Welt gesetzt, ob-
E s ist nachgerade eine moralische Pflicht geworden, in all gleich das bei solchen Männern wahrlich nicht das grösste Ver-
dieses Krankheitsgedusel und diesen Sumpf von Lügen und dienst ist. Und da wagen es die einen, zu deuteln und zu drehen
Unflätigkeiten einen Sonnenstrahl aus der Wirklichkeit unsrer und gar zu fälschen, und die andern suchen ängstlich nach einem
Der Eigene. — 184 - 1. u. 2. Okloberheft 1899. Der Eigene. — 185 — 1. u. 2. Oktoberheft 1899.
Anzeichen des dritten Geschlechts, nach einer rein weiblichen Seele Aber die Zeit, die so gern von der Frau beherrscht wird, ver-
in der armen männlichen Hülle. Da könnte ein Gott ungeduldig steht keinen männlichen Monarchen; man lechzt nach dem Ge-
werden! Wozu soll das sein?! W e r die reiche Natur mit oflenen schwätz von Demagogen und nach den salbungsvollen Phrasen
Augen nicht sieht und hinnimmt, dem hilft auch keine Brille. von Parteiegoisten, wie nach dem gebietenden Geplauder der
Und um von Männern aus christlicher Zeit zu reden: hat Salondamen. Es ist verpönt geworden, sich um männliche Kraft
Shakespeare nicht die Kräfte seines Lebens erprobt und die und Huld zu bewerben. Ich für mein Teil halte es für würdiger,
Kultur für immer bereichert? Es giebt absonderliche Käuze, einem Monarchen, dem Vertreter einer ganzen nationalen Kraft,
die es für unmöglich und unwürdig erklären, dass ein so hoch- dem Erben einer machtvollen Vergangenheit, die Hand zu küssen,
stehender, reifer Mann wie Shakespeare um die Gunst eines als einem Dämchen Soundso. Was soll der prunkende Stolz vor
jungen Mannes wirbt — eines feingebildeten jungen Mannes, der Thronen, wenn die Herren doch jämmerliche Pantoffelhelden sind!
ihn versteht und durch seine jugendliche Frische mit Jugend Ja, das ist eher Verfall.
belebt. Und dieselben Herren geben ihre greisen Köpfe dem Und wenn wir einen Frauen- und Krankheitssüchtigen, wie
Gespötte preis, indem sie zu den Füssen einer jungen Schönen Felix Dörmann, mit dem Grafen August von Platen vergleichen,
liegen, die sie auslacht oder ihnen die Hand reicht, um sie etwa oder diesen wiederum auch mit seinem taktlosen Gegner Heinrich
in guter Situation zum Hahnrei zu machen. Mir scheint das eine Heine, dem cynischen Frauendichter — wer ist wohl da der
Tragikomödie. Männliche? Man höre jene Verse von Dörmann:
Und Friedrich der Grosse, jener einzige Mann? Wahrlich, Ich liebe die fahlen und bleichen.
der ist keine Verfallserscheinung, er, der gegen eine Welt von Die Frauen mit müdem Gesicht,
Aus welchen in (lammenden Zeichen
Feinden das Fundament des heutigen Deutschen Reiches schuf.
Verzehrende Sinnenglut spricht.
Nein, er ist der männlichste Mann der That, obwohl er einen
Ich liebe, was niemand erlesen,
Cäsarion liebte und sich nicht zu einer Staatsmaitresse verpflichtet
Was keinem zu lieben gelang:
fühlte. Freilich es giebt ja Leute, die es für allerliebst halten, Mein eigenes, urinnerstes Wesen
wenn ein Monarch einem Dienstmädchen eine gefallene Sache Und alles, was seltsam und krank,
aufhebt, blos weil sie ein Weib ist — so las ich es in einer oder:
grossen Zeitung, die allerdings mehr amerikanisch-pariserisch als Auch meine Seele wurde krank geboren,
deutschen Geistes ist. Es ist auch kaum zu verwundern, wenn Ihr fehlt die Lust, die Kraft, der Mut zum Leben.
solche Halbmänner keine Vorstellung von der Würde eines Mon- - Und Heine ist ja sattsam bekannt. Wer daneben die meist
archen haben, dieses ersten Mannes im Staate. Der Monarch kraftvollen Poesieen Platens stellt und mit gesundem Verstände
ist, wenn er seine Stellung wirklich erfüllt, die Personifizierung liest, dem. wird es wohl nicht schwer fallen, zu sagen, wer hier
der Kraft einer Nation, der natürliche Vermittler aller Parteien. ". -sa^tmitm
der Männlichere, Moralischere und auch der Gesundere ist. Gerade
Er ist der Schirmherr der vornehmen Minderheit gegen die Flut Graf Platen, der offener als irgend einer seine Liebe zu Jünglingen
von unten, er ist aber auch zugleich die Stütze der wirtschaftlich bekennt.
Schwächeren gegen die starke Minderheit, denn das übergrosse Wenn alle jene Grössen unsrer politischen und kulturellen
Anwachsen dieser gefährdet seine Machtstellung. So ist die Geschichte so schlecht, so verlumpt oder so krankhaft waren,
Person des Monarchen der ausgleichende Faktor der sozialen ja warum preisen wir sie? Warum stellen wir ihnen Denkmäler,
Interessen, dessen Macht nicht so sehr gebunden sein darf, dass warum füttern wir die Jugend mit ihren Werken? Ist das nicht
seine Wirkung gehindert wird. Der kraftvolle Monarch hat auch eine jämmerliche, unmoralische, unchristliche Verlogenheit? Es
kein Wort zu fürchten, wenn er in männlichen Herzen wurzelt. ist eine unmännliche Feigheit, eine Rückgratschwindsucht, an der
Der Eigene. — 186 — 1. u. 2. Okloborheft 1899. Der Eigene • — 187 — 1. u. 8. Oktoberbeft 1899.
wir kranken. Und nun gar das Verdrehen und sinnlose Deuteln! Tollhauskranken ist? Was soll uns die Sucht der geistreichelnden
Ich will es gewissen Leuten nicht verdenken, wenn sie von wirk- Psychiater wie Lombroso?! Es ist eine Krankheit unsrer Zeit,
lichen Dichtern und Männern behaupten, sie arbeiteten in Nach- um jeden Preis originell sein zu wollen. Alle Kritik hascht da-
empfindung oder auf Bestellung. Wie könnte man auch von nach, einem Nachahmung vorzuhalten, wenn sie einem eins aus-
Menschen, die nicht aus eigener Erfahrung wissen, was innerstes wischen will. Daher das Verlangen vieler, sich etwas ganz Apartes
Schaffen ist, erwarten, dass sie da nicht auf Holzwege geraten, auszudüfteln, daher diese Kleinkrämerei und Zerfahrenheit, daher
wo es sich um Beurteilung eines so ursprünglichen Gebietes dieses Spüren nach Krankheitsvmptomen. Je spezialisierter,
handelt. Ein wahrer Dichter schöpft nur aus seinem Herzen und absonderlicher, müder, stammelnder, je sensitiv-kleiner, blass-
Empfinden, und sollte es auch scheinbar Anlehnung sein; es blümeranter, niedriger und ärmer eine Erscheinung ist, desto
klang dann eine verwandte Saite in seiner Seele wider. eigenartiger, desto bewunderter. Ich frage nochmals, wozu dient
Wenn es in der T h a t erwiesenermassen der Fall wäre, dass uns solche Krankheit- und Absonderlichkeithascherei? Das ist
die Lieblingminne (und Freundesliebe) dem Staate, der Gesund- den Tonangebern von heute ja gleich, denn wir haben keinen
heit, der Moral schädlicher werden könnte als die übliche Frauen- Gemeinsinn. Jeder ist seine Welt, sein kleines Selbst und kommt
minne, wenn beide nicht über das Mass gepflegt werden, so sich dabei ungeheuer wichtig vor. D a stehen wir wieder vor
wäre ich der ersten einer, der für ihre Einschränkung wäre. zwei Schlagworten: objektiv und subjektiv. Das eine soll antik
Gewiss, der Staat ist um der Menschen willen da, nicht um- und veraltet, das zweite modern und neu sein. Als ob die
gekehrt; aber wir brauchen den Staat, denn trotz aller Humanität Antiken nicht ebenso persönlich empfanden! Wie unterscheidet
— hovw homini lupiis — ist der Mensch im Kampf mit dem sich ein Pindar von einem Kuripides! Wie ein Aschylos von
Menschen, und da ist nichts zu jammern, denn so ist's von Natur. einem Aristophanes! Jene Männer waren mit einer männlichen
Darum ist der Staat und sein gesundes Gedeihen als eine natür- Seele begabt, davon zeugen ihre Thaten; und der kleine Aberwitz
liche Notwendigkeit zu schätzen. Also nur was fördert und der Feinde und falschen Freunde kann ihnen nichts anhaben.
gesund und stark macht, wollen wir fördern. Und gerade des- Es ist wie ein Zirpen der Grillen an Pyramiden.
halb und nur, weil ich das nahe Verhältnis von Mann zu Mann, Nun zur Bedeutung der Lieblingminne. Ich bemerke, dass
vom Manne zum Jüngling, vom Jüngling zum Jüngling für ein dieses Wort eine Neubildung von mir ist; ich musste ein Wort
starkes Element des Staates und der Kultur halte, habe ich mich finden, das — bis jetzt — noch nicht im Munde der Leute be-
im Interesse des gemeinen Wohls und der persönlichen freien schmutzt worden ist. Einen Doppeltitel wählte ich, um durch
Entwickelung dieser schwierigen Arbeit unterzogen. die „Freundesliebe" anzudeuten, dass sich in dieser Sammlung
Jeder vernünftige und überlegende Mensch muss sich doch manches findet, was weniger den bewussten Charakter der Minne
fragen: Kann das ein Zufall sein, dass soviel hervorragende trägt, manches, wo dieses Gefühl vielleicht unbewusst unter der
Vertreter unsrer Kulturgeschichte diese Neigung und diese Liebes- Oberfläche pulsiert. Jede Erscheinung des Lebens, die unter-
verhältnisse gepflegt haben oder wenigstens, wo sie selbst noch drückt wird, artet im Verborgenen zu einer hässlichen Schatten-
in dem Wahne ihrer Zeit befangen waren, von dieser Neigung pflanze aus. Es ist daher die Aufgabe eines vernünftigen Staats-
beherrscht wurden? Erklären wir sie für abscheulich, so müssten wesens, alles, was nicht Gewaltthat wider den Staat und das
wir uns vernünftigerweise mit Abscheu von ihnen abwenden und Gemeinwesen ist, wie Mord, Raub, Diebstahl u. s. w., an die
unsre Kultur auch für die Zukunft vornehmer, lebenskräftiger Sonne des öffentlichen Lebens zu ziehen. So auch das innige
Elemente berauben. Wozu dient es aber, wenn wir soviel T r a g e r Verhältnis von Mann zu Mann. Erste Bedingung ist dabei freilich,
der Kultur für halbverrückt erklären? Was haben wir dabei dass das Strafgesetzbuch keinen beschmutzenden Paragraphen
gewonnen, wenn ein grosser Teil unsrer Kultur eine Stiftung von dagegen enthält, es sei denn gegen einen Gewaltakt. Das ist
Der Eigene. - 188 — 1. u. 8. Oktoberheft 1899. Der Eigene. — 189 — 1. u. 2. Oktoberheft 1899.
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wohl die Grundlage einer gesunden Entwickelung, genügt aber sie hat sich stets damit vertragen bis heutigen Tages. Aus
noch nicht: wir, sehen das praktisch im heutigen Frankreich und welchem absoluten Geiste lässt sich so etwas herausdüfteln!
Italien, wo die Lieblingminne Gesetzesfreiheit geniesst und doch Und gerade bei uns Deutschen, die wir trotz allem den
zu keiner Kulturblüte gelangt, mithin dem Öffentlichen Leben Griechen am nächsten stehen, trifft sich das innige Verhältnis
nicht dienstbar geworden ist. Es handelt sich nicht darum, die vom Mann zum Manne, welches in der Liebe seinen höchsten
Augen vor einem Laster zuzudrücken oder eine Unzurechnungs- Ausdruck findet. Aus Frankreich, von den provencalischen Höfen
fähigkeit zu dulden. Das ist eine fruchtlose Halbheit. Es handelt kam jene abgöttische Frauenverehrung, die durch den Marien-
sich vielmehr darum, Nutzen zu ziehen aus einer Erscheinung kultus ihre Weihe erhielt; von dem Hofe des deutschen Erz-
des Lebens. Es liegt mir ferne, hier dafür Stimmung zu machen, feindes Ludwigs X I V . und des Mätressenkönigs Ludwigs X V .
dass die gesetzgebende Regierung sich gewisser „Enterbter" des ward die Abgötterei des Weibes diktiert. Noch heute heisst es
Lebens erbarme, die von der Natur stiefmütterlich behandelt ja, der Deutsche sei nicht so. galant wie der Franzose, will
seien; nein, mir Hegt es daran, darauf hinzuweisen, dass wir uns heissen: der Deutsche hat noch nicht seinen Rest von Männlich-
eine Quelle der Kraft entgehen lassen. keit verloren, er sieht im Weibe die Genossin, nicht die Herrin,
Ja, eine Quelle der Kraft: das können diese Verhältnisse und im Freunde noch den Genossen. Mag man darüber spotten
sein. Wenn wir mit offenen Augen in der Geschichte blättern, jenseits und diesseits des Rheins, die Siege sprechen für die
werden wir auch Beweise dafür finden. Obenan steht das alte Deutschen. Der galante Soubise nahm Reissaus vor dem männ-
lichen Hohenzollern Friedrich, der so innig und zart um seinen
Griechenland, um nicht thöricht von der Antike zu reden, denn
Cäsarion zu klagen wusste.
Römer und Griechen gleichen einander wie Franzosen und Deutsche.
Die Griechen waren gewiss kein tadelloses Idealvolk. W o gäbe Im Kriege wie im Frieden können diese Verhältnisse von
es ein solches! W e r aber behauptet, diese Liebe wäre daran hoher moralischer und staatlicher Bedeutung sein. Wie die Dinge
schuld gewesen, dass sie politisch zu Grunde gingen, beweist jetzt liegen, betrachtet der Mann den Mann hauptsächlich als
nur, wie wenig er die Geschichte kennt oder kennen will. E s Konkurrenten um den Beutel des Dritten und als Nebenbuhler
um die Gunst einer Schönen oder den Beutel einer Unschönen.
wäre das ebenso thöricht, wie zu behaupten, dass Christus an
Höchst selten findet eine nahe, innige Einwirkung von Mann zu
den Greueln des Christentums schuldig sei. Die Zerfahrenheit, die
Mann statt, und gerade das ist die beste männliche Erziehung.
Spaltung und die wachsende demokratische Verständnislosigkeit
Was fruchtet es, ob wir soviel mehr oder weniger in der Schule
für grosse Politik und grosse Männer, sowie das Wachsen äusserer
uns -eintrichtern, wenn wir nicht praktisch für den Kampf des
Mächte (Makedonien und Rom) wurden am Untergange Griechen-
Lebens durch die Liebe Erfahrener geschult werden? Unpersönlich-
lands schuld. So ging auch die frühere Grossmacht Schweden
weise Ermahnungen wirken nur allzu wenig auf den Knaben oder
durch Preussens und Russlands Wachsen zurück. Und welches Jüngling, der dabei doch kein Herz schlagen fühlt. Wie schädlich
Volk wird nicht zuletzt zur Geschichte? Gerade in der Zeit des wirken nicht solche Erzieher und Lehrer der Jugend, die ohne
Verfalls verschwindet in Hellas die Lieblingminne als ehrlicher, Herz, ja oft mit Bosheit ihre Weisheit den Knaben auskramen!
staatlicher Faktor, gleichzeitig mit dem Zerbröckeln aller alten, Wer die Knaben nur als Schulobjekte betrachtet, ja wer sie nicht
grossen Institutionen. Dass es sich nicht um Verführung von lieben kann, wird ihnen fast nie ein förderlicher, anspornender
Kindern handelt, versteht sich von selbst. Es ist auch in Griechen- Lehrer sein. Und das merkt die Jugend.
land nicht der Fall gewesen. Es ist auch ganz willkürlich und Was denken sich die weisen Lehrer und Eltern von der
nur eine Folge unsrer Gewohnheiten, wenn jemand behauptet, männlichen Jugend, die doch erst meist in der zweiten Hälfte
die Hingabe vertrage sich nicht mit dem Ehrgefühl des Mannes; der Zwanzig oder gar später zur Heirat schreiten kann? Wenig
Der Eigene. — 190 — 1. u. 2. Oktoberheft 1899. Der Eigene. — .191 — 1. u. 2. Okloberholt 18s)».
oder nichts. Wer denkt daran, wie viele ihr Nervensystem OXO-WÖL Anacharsis bei Lukianos führt. Der Skvthe denkt es sich etwa
schädigen, weil man auf ihre natürlichen Funktionen keine Rück- so, wie es bei uns hergeht, und Solon lehrt ihn die Bedeutung
sicht nimmt, die doch ihren W e g gehen müssen, und bald in der ästhetischen Erziehung Athens. Die Frauen selbst könnten
Selbsterschöpfung, bald bei der verseuchten Käuflichkeit ihre nur dabei gewinnen, wenn die Männer ein feiner geschultes Gemüt
Befriedigung suchen müssen. Wie lange soll diese Nichtachtung mit sich brächten.
der von Gott geschaffenen Natur die Nervosität und Verseuchung Das enge Verhältnis zweier Männer bewirkt ferner, dass
der Geschlechter bis ins Grenzenlose steigern! Statt den Forde- man unwillkürlich und nicht ohne Grund von dem einen auf
rungen der Sinne und des Gemüts mit offenen Augen in mass- den andern schliesst; ist also der eine achtbar und ehren-
voller Weise gerecht zu werden, lassen wir sie im Dunklen wert, so wird ihm naturgemäss daran liegen, dass auch der
wuchern, um unsrer trägen Beschränktheit den gewohnten Lauf andre ihm nicht Schande bereite. Es entsteht somit ein Band
zu lassen. W i r ignorieren und leugnen, was doch da ist, oder der moralischen Verantwortlichkeit in bezug auf die Tüchtigkeit.
erheben ein unthätiges Klagegeschrei über geheime Sünde und Und was kann dem gemeinen Leben förderlicher sein, als wenn
Verderbtheit. sich seine einzelnen Glieder für einander verantwortlich fühlen? —
Das ist es doch, was den nationalen Sinn ausmacht, die Kraft
Im offenen Anschluss aneinander muss sich die Jugend der
eines Volkes, dass es ein in sich geschlossenes Ganzes ist, wo
Jugend freuen. Im Anschluss an einen andern verlernt der Mensch
eins sich im andern angegriffen fühlt. Solche Verbindungen
nur an sich zu denken; in der Liebe und Fürsorge und Belehrung,
können von höchstem sozialen Werte sein, wie es die Familie
die der Jüngling von seinem Liebhaber erfährt, lernt er von
ist. Gerade in der Stunde der Gefahr erprobt sich die Wirkung
Jugend auf die Wohlthaten der Hingebung kennen; in der Liebe,
dieser Geschlossenheit, denn wo einer mit dem andern steht und
die er erweist, bei den kleinen., und grossen Opfern eines innigen
fällt, wo die Opferfreudigkeit, im kleinen geschult, gleichsam
Verhältnisses gewöhnt er sich an die Hingabe seiner selbst an
zum warmherzigen Instinkte wird, da giebt es eine Macht von
einen andern. So wird schon der junge Mann zu einem Gliede
unberechenbarer Bedeutung, eine Macht, die nur die Thorheit
des Gemeinwesens herangebildet, zu einem nützlichen Gliede, das
gering achten kann. Die stählende Kraft dieser Bündnisse hat
nicht nur sich und immer sich im Sinne hat. Wieviel näher ver-
sich ja auch schon praktisch erwiesen, wie in der heiligen Schar
wächst da der Einzelne mit dem Einzelnen, so dass das Ganze
der Thebaner, die den Sieg von Leuktra erfocht (vgl. Plutarch,
^ich in der T h a t als Ganzes fühlt. Heute scheint das vielen
Epaminondas und Flaubert). Dies erklärt sich doch wohl auf
lächerlich, weil sie von ihrer Selbstsucht nicht lassen können.
höchst natürliche, psychologische Weise: wo jemand sich mit
Unsre studentischen Verbindungen haben ihre nationale Aufgabe
Leib und Seele dem andern verbunden fühlt, sollte er da nicht
erfüllt und sind nur noch von geringem äusserlichen Nutzen für
alle Kräfte anspornen, um ihm förderlich zu sein, um ihm diese
das Gemeinwesen, mögen sie auch nebenbei manches treue Ver-
seine Liebe auf jede Weise darzuthun ? Wer das nicht einsehen
hältnis fördern. Meist steht doch der eine dem andern wie einem
kann und mag, dessen Verständnis oder guten moralischen Willen
eventuellen Feinde gegenüber, den er fordern muss, sobald ihn
dürfte man mit Recht anzweifeln. Natürlich wird es immer
ein schiefer Blick trifft; es ist stets ein Bürgerkrieg im Kleinen,
Subjekte geben, die allein dem grossen Egoismus und einzig der
der im Keime da ist, und das ist dem Staate wahrlich nicht
Befriedigung ihrer nächstliegenden Instinkte huldigen. Diese
förderlich.
Elemente werden wir nie ausrotten, mit ihnen haben wir immer
Der rauhe Verkehr von Mann zu Mann erstickt die Keime und unter allen Gesetzen zu rechnen. Es ist aber, gelinde ge-
einer feineren Kultur und lässt jenen Unteroffizierston aufkommen, sagt, eine Thorheit, nach den schlechten Elementen die guten
der wenig zur Veredelung eines Volkes beiträgt. Jch muss an zu beurteilen. Da ich hier nur eine Einleitung geben will, möge
das Gespräch denken, das der weise Solon mit dem Barbaren
Der Eigene. - 193 - I. u. 2 Oktoberheft 1899.
Der Eigene. 152 1. u. 2. Oktoberheft 1699.
der Leser sich die weitere Erläuterung in der Sammlung selbst Hass und Verfolgung, Blutvergiessen und grausame Kämpfe, ein
suchen. gegenseitiges Zerfleischen ohne Schonung des Nächsten . . . Und
N u r noch einen Blick vom christlich-religiösen Standpunkte. das alles im Namen Dessen, der da gebot, seine Feinde zu lieben,
Es hiesse die Seele des Menschen verkennen, wollte man nicht im Namen Dessen, der da sagte: „Mein Reich ist nicht von
mit der Religion Christi rechnen. Die Religion überhaupt ist dieser AVeit"! Und all das Schimpfen und Beschmutzen, die
ein Bedürfnis der Menschen. Daher ist es nicht zu vermeiden, Sucht, Fusstritte auszuteilen — im Namen der Moral Dessen,
dass auch der Staat und die Regierung auf sie Rücksicht nimmt. der da verlangt, dass wir alles zum Besten kehren. Ist es nicht
Die völlige Trennung von Kirche und Staat ist schon aus dem eine stumpfe Blindheit, den schreienden Gegensatz da zu ver-
Grunde nicht gut möglich, weil die Regierenden selbst doch kennen ?
Menschen sind mit religiösen Bedürfnissen. Was ist denn Religion? Nach der Anschauung Christi ist es vor allem die Gesinnung,
Die Art und Weise, wie wir uns mit dem Leben auseinander- welche den Unwert, die Sünde einer Handlung bestimmt. Daher
setzen, mit dem Werden, Wachsen und Vergehen. Es ist eine sein Unwillen über die Pharisäer, welche auch heute noch zu
Weltanschauung, die für den Einzelnen zur Welterlösung werden Gericht sitzen. Käme doch heute derselbe Heiland und spräche
kann. Bei uns ist die -Person Jesu Christi der Brennpunkt einer dieselbe Sprache und triebe die Feilscher aus seinem T e m p e l !
solchen Religion. Es ist neuerdings Mode geworden, mit tönenden Was würde man wider so groben Unfug sagen! In einer Notiz
Worten und einem aufgeklärten Achselzucken über das „Christ- der Lokalchronik würden die Zeitungen den Heiland der Welt
liche" hinwegzugehen. Man kommt sich dabei so frei und vor- abthun, und dann kämen die Witzblätter . . . ein dankbarer Stoll'
geschritten vor. Aber „es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten neben all den sogenannten verlumpten Baronen und albernen
spotten"! Wer mit seiner Unabhängigkeit prahlt, gemahnt mich Leutnants, wie man sie heute für einige Groschen der grossen
stets an einen freigelassenen Sklaven, der im geheimen noch den Menge auftischt. — Das Reich Christi ist nicht von dieser Welt,
Druck der Fesseln spürt. Wer innerlich frei geboren ist, kann also hat er auch keine Staatsgesetze in dieser Welt. W e m fiele
auch in den Schranken einer überkommenen Weltanschauung es denn auch ein, die wirklichen ethischen Forderungen Christi
freier sein, als jener. Man kann ein Christ sein und doch vor- zum Gesetz zu machen. Das wäre den Herren viel zu unbequem,
urteilsloser und ehrlicher sein, als ein Atheist und Freidenker, dann mtissten ja fast alle hinter Schloss und Riegel sitzen. Oder
wie etwa ein Schopenhauer, der gewiss die Antike und Geschichte sind die Herren am Ende so gerecht, dass sie alle Gebote Christi
kannte und doch sich dazu hergab, eine beschränkte Unwahrheit erfüllt haben? Dann brauchten wir ja den Erlöser nicht mehr.
zu schreiben, die sein Wissen nicht verantworten konnte, indem Darin- hat die katholische Kirche recht, wenn sie den Unglauben
er diese Neigung einzig dem Alter zuschrieb — und das einer für schlimmer als irgend eine sündige T h a t ansieht. Denn so
spekulativen Konstruktion zuliebe. sagt es Christus selbst: „ . . . . Und wo euch jemand nicht auf-
Erscheinungen, die in der Geschichte der Menschheit ergraut nehmen, wird, noch euere Rede hören, so gehet hinaus aus jenem
sind, kann man nicht mit einigen Phrasen in die Rumpelkammer I lause oder jener Stadt und schüttelt den Staub von euren Füssen.
werfen; man muss sie behutsam sichten und klären. Es ist wahr, Wahrlich, ich sage euch, dem Lande der Sodomer und Gomorrher
wir haben mit dem heutigen Christentum zu rechnen, das im wird es erträglicher gehen am T a g e des Gerichts als denn solcher
ganzen nur ein Zerrbild ist. Das ist das Los aller Ideale, dass Stadt . . . ." (Matth. 10). Aber Christus hatte auch dafür keine
sie zu Zerrbildern werden. Wenn wir das alles christlich nennen irdischen Strafen, geschweige denn Gefängnis und Scheiterhaufen.
wollten, was im Laufe der verflossenen anderthalb Jahrtausende Wahrlich, ein Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, braucht
geschehen, es wäre lächerlich. Fast die ganze Geschichte des doch keine Polizeispitzel und Kerker, um seine Hoheit zu wahren;
Christentums ist ein Protest gegen die Persönlichkeit Christi. das sind menschliche, rein staatliche Einrichtungen. S e i n Reich
Der Eigene. — 194 — 1. u. 2. Oktoberheft 1899. Der Eigene — 195 — 1. o. 2. Oktoberheft 1899.
ist aber nicht von dieser Welt. Christus hielt wahrlich nicht Eine wie kurze Weile ist es erst her, dass man noch Hexen
mit seinen Worten hinter dem Berge, er rügt, wo er rügen will. verbrannte — im Namen Christi! Aber verkennen wir es nicht,
Verhältnisse, wie sie die Lieblingminne mit sich bringt, hat er es war ein Christ, der Jesuit Friedrich von Spee, der zuerst
nie mit einem offenen Wort verurteilt. Es findet sich keine solche seine Stimme gegen diesen Wahn erhob. Und es werden sich
Stelle in sämtlichen Evangelien. L a g es nicht gerade im Orient auch Christen meiner Erkenntnis nicht ewig verschliessen.
nahe, davor zu warnen, wo diese Verhältnisse gang und gäbe Der Herausgeber selbst dürfte wohl, wenn Entwickelung
sind, und gar in einer Zeit, da sich der griechische Geist so und Gewöhnung durch Generationen etwas bedeutet, dem Ver-
stark in Palästina verbreitet hatte. Wir erfahren nur eins immer ständnis für christliche Kultur nicht ferne stehen, da er, von
wieder, dass Christus einen Jünger hatte, den er vor allen liebte, tiefreligiösen Eltern, einer alten christlichen Familie entstammt,
obwohl es doch selbstverständlich war, dass er ihn als seinen in der sich eine geistliche Herrschaft (Zabeln) ununterbrochen
Nächsten lieb hatte; aber es wird stets betont, dass er zu ihm wie ein Majorat durch hundert Jahre gleichsam fortgeerbt hat.
in inniger, persönlicher Beziehung stand. Und die ganze christ- Somit wäre die Erscheinung, um die es sich hier handelt,
liche Kunst hat es nicht anders versfanden, als dass sie diesen nach zwei Seiten hin beleuchtet worden und einerseits diejenigen
Jünger Johannes als einen schönen Jüngling von zartem Gemüte zurückgewiesen, welche sich in feindseliger Verleumdung nicht
darstellte. Ich ziehe deshalb noch keine übereilten Schlüsse. genug ergehen können, anderseits auch die, welche durch ihre
Und dennoch klammert sich unsre sogenannte christliche krankhaften Theorieen (vom Urning und von der Effemination)
W r elt gerade einzig an den ehemaligen Pharisäer Paulus, der mit alles verwirren und verzerren. Ich will ja nicht leugnen, dass
Christus nicht einmal persönlich in Berührung gekommen war es solche extreme Erscheinungen giebt, denn die Natur ist uner-
und der Einzige ist, bei dem sich eine Stelle findet, die aber schöpflich reich, aber die Lieblingminne deckt sich mit ihnen
beweist, wie wenig Paulus die ethische Bedeutung dieser Ver- keineswegs. Und ich hoffe, die Sammlung thut das Ihrige, zu
hältnisse im Auge hatte und dass er dabei einzig an blos ein- zeigen, wie Unrecht beide Parteien haben, wie sehr sie der
seitige Beziehungen der Übersättigung dachte, wie sie die käuf- Wirklichkeit Gewalt anthun durch das Verallgemeinern, diesen
liche Lust noch heute mit sich bringt. Das geht auch nur die Hauptfehler alier Menschen. Demgegenüber sagt Goethe mit
jüdisch-römischen Buchstabengläubigen was an. Wer sich als Recht von J. J. Winckelmann: „Er hat als Mann gelebt und ist
Christ allein an die Person Christi hält, findet nichts dawider als ein vollständiger Mann von hinnen gegangen."
und wird sich nicht der Erkenntnis verschliessen, dass Christus Der Nationaldeutsche ist am Ende doch der Mensch in der
mehr als Paulus ist und dass letzterer, als er das schrieb, nicht heutigen Kulturwelt, der etwas ernst nimmt, darum lässt er sich
genügend Einsicht in die Sache genommen, wie das auch heute schwer überzeugen, sehr schwer; aber wenn er in seiner Gründ-
noch bei vielen ehrenwerten Männern der Fall ist; denn Paulus lichkeit,, und Gewissenhaftigkeit dazu kommt, dann erwächst ihm
war als Pharisäer streng im alten Gesetz aufgewachsen, in dem daraus ein Kulturfaktor, im Gegensatz zum Franzosen und Italiener,
es auch heisst: „Aug um Auge, Zahn um Zahn", wogegen sich deren Einsicht, so schnell sie scheint, so wenig in die Tiefe dringt.
ja Christus ausdrücklich tadelnd wendet. In keinem Falle greift Ihr Freiheitssinn und ihr „Laisser faire" ist zumeist ein oberfläch-
Christus mit Gewalt in das Staatsleben ein, denn sein Reich ist licher Kompromiss schroffer Gegensätze, bei dem es sich unter
nicht von dieser Welt. Freilich, die christlichen Kirchen sind Umständen gut leben lässt, wenn man kein zu peinliches Gewissen
einmal in ihrer Ordnung da und rechtens; aber sie werden sich und kein starkes, offenherziges Ehrempfinden hat — aber neue
sagen, dass sie durch Verfolgung und Ignorierung dieser Macht Kulturmöglichkeiten entstehen da schwer. So freue ich mich des
sich mehr Feinde als Freunde machen, mehr Gläubige verlieren Deutschen, obwohl er in manchem noch zurück scheint, und ich
als gewinnen; und es fehlt auch schon nicht an dieser Einsicht. wünschte nimmer ein andrer zu sein, noch in einer andren Sprache
Der Eigene. — 196 — 1. u. 2. Oktoberheft 189». Der Eigene. — 197 — 1. n. 2. Oktoberheft 1899.
zu schreiben, als in dieser überreichen, schönen, die der alt- der Deutlichkeit halber bringen musste. Zur Klarstellung einer
griechischen am nächsten kommt, die die zartesten Töne der so verdunkelten Sache musste auch manches seinen Platz finden,
Lyrik hat und zugleich wie ein gewaltiger Strom sich zu er- was vielleicht sonst in einer litterarischen Lese unterblieben wäre.
giessen vermag. Aus alledem wird der Leser im voraus schliessen, dass es
W a s die Sammlung anlangt, so versteht sich von selbst, dass dem Herausgeber n i c h t a u f e i n s e n s a t i o n e l l e s W e r k an-
sie nur ein Stückwerk werden konnte, schon aus dem Grunde, kam, n i c h t a u f e i n e e r o t i s c h e S a m m l u n g , sondern auf
weil sich eine solche Riesenarbeit vollständig nur unter gegen- e i n e e t h i s c h e K u l t u r t h a t . Wie weit das gelungen ist, ist
seitiger Bereicherung entwickeln kann; und hier gab es so gut eine andre Frage. Unter eine Arbeit, die nicht der Ehrlichkeit
wie gar keine Vorarbeiten, es musste alles selbst gewonnen, ja dient, hätte ich meinen ehrlichen Namen nicht gesetzt, auf den
allzuhäufig unter der Hülle verblendeter Verstümmelung heraus- ich nur allen Grund habe stolz zu sein. Es wurde absichtlich
gefunden werden. Ohnehin hat dieses Werk dem Herausgeber nur bereits Gedrucktes gebracht, mit Ausnahme des toten Dichters
viel Zeit von seinen eigentlichsten Arbeiten geraubt. Aber wo Verlaine, so dass sich keine einzige sensationelle Enthüllung
es sich um eine Kulturarbeit handelt, durfte die Mühe nicht ge- findet. Daher wurde auf manches Verzicht geleistet, das auch
scheut werden; und sollte damit die sachliche, vernünftige Er- auf bekannte lebende Personen ein erläuterndes Licht geworfen
kenntnis um einen Schritt gefördert werden, so wird es mich hätte, auf Persönlichkeiten, die bei uns in sozialem Ansehen
mehr freuen, als jedes Lob meiner persönlichen Werke. Häufig stehen. Eine genaue Bibliographie findet sich am Schluss des
sah ich mich zu Neuübersetzungen veranlasst, weil die früheren Werkes. Diese Arbeit, von der ich mir noch keinen Dank ver-
mir nicht zu entsprechen schienen. Demgemäss habe ich auch spreche, obwohl sich schon Stimmen moralischen Mutes erheben,
fast nur das bringen können,-was ich selbst nachprüfen konnte; übergebe ich somit der Öffentlichkeit — der Zukunft.
das Skandinavische fehlt daher ganz. Einige Übersetzungen hat
mein Freund, Herr Dr. phil. Eduard von Mayer, übernommen, Elisar von Kupffer.
wofür ich ihm hiermit meinen Dank ausspreche. Da die Über- P o m p e j i , 1899.
setzer wechseln, habe ich stets den Namen des Betreffenden zur
Orientierung angegeben. Natürlich konnten in dieser Sammlung,
die einen so weiten Umkreis hat und nicht zu teuer werden'
durfte, wiederholt nur Bruchstücke gebracht werden. Ich habe
nach Möglichkeit versucht, dabei das Verständnis und den Zu-
sammenhang zu wahren. Daher musste auch die so lehrreiche
Beifügung von Belegen zur Frauenminne, die sich bei denselben
Autoren finden, unterbleiben. Der Anhang, welcher Urteile über
führende Geister oder sehr kleine Bruchstücke von ihnen bringen
soll, ist allerdings beinahe nur eine grosse Anmerkung geworden
und beschränkt sich hier ziemlich auf die bedeutenden Männer
Griechenlands. Sollte nach fünfzig oder hundert Jahren vielleicht
eine Neuauflage nötig werden, so würde sich ja dieser Anhang
zu einem zweiten Teil erweitern lassen, und dann würden viel-
leicht auch die kleinen Biographieen eine andre Gestalt gewinnen
und einiges Polemische fallen können, das ich wider Willen hier
ADOLF BRAND
UND
FERDINAND FREIHERZ
111
Um Eichenkronen rauscht Morgenwind,
Weissbirken sich neigen und leuchten lind,
Im Haar grünschimmernde Seide.
So zogst Du einsam still von Land zu Land — Die Nornen ziehn stumm ihre Schicksalskreise,
Und ob das Herz auch nimmer Ruhe fand: Und Raben flattern zum Toteneise:
Das Scheiden wird der Seele thränenschwer! Auf ewig Dein!
Tod,
Du seist uns schrecklich? — nimmermehr!
Komm, Freund,
Und führe mich zum grossen Heer.
Begleite mich zum schönen Reich,
Wo Alles frei und gleich.'
Der Eigene. — ÜU4 — 1. u. 2. Oktoberhelt 1SS>9. ZU FERD. MAX KURTH: REIGEN DER TOTENTÄNZE
R E I G E N DER T O T E N T Ä N Z E .
m.
Hei der friedlichen Arbeit des Pflügens wurde der L a n d m a n n (8) vom
Hufe des Pferdes erschlagen. Aus dem Erdboden wächst eine dämonische
Hand, die sich um den noch warmen Leib des Getöteten krallt.
D a s Dachstubenelend in der a r m e n F a m i l i e (9) ist durch den soeben
erfolgten Tod des Ernährers ins Verzweifelte gesteigert worden. Wie tröstend
erhebt selbst der Tod seine rippige Rechte, während draussen schon für den
Toten das Armengrab geschaufelt wird.
D a s Schlussblatt spricht in seiner Inschrift den Leitsinn des Halb-
eyklus a u s :
Wir lliehn die Form des Todes, nicht den Tod, denn unsrer
höchsten Wünsche Ziel i s t : T o d .
Da erscheint in der Wüste einer sündenschweren Familie d e r T o d a l s
H e i l a n d (10). Nur ein Mitglied ahnt die göttliche Sendung und ladet in
Erkenntnis des Himmlischen die Busse der Übrigen, die angstvoll fliehen, auf
seine Schultern. — Scenen aus dem Jenseits sind dem Kernstich beigefügt und
heben noch die Wirkung des äusserst dramatisch belebten Ganzen. — — —
W a r dieser e r s t e T e i l „Vom Tode" in den Hauptzügen in Berlin
entstanden, so machte sich der Künstler während seines späteren römischen
Aufenthaltes daran, den z w e i t e n auszugestalten. Ist in jenem der Hauptvvert
auf die Geistreiche, die Ursprünglichkeit der Idee gelegt, so geht durch diese
Blätfer ein Sturmwind von Empfindung, den nur ein Übermächtiger zu ent-
fesseln vermochte.
Schon das erste Blatt Integer vitae scelerisque purus (I) ist mit
der vollen Seelentiefe der nachfolgenden gesättigt. — Über der Welt thront
der Riese Tod auf seinem Wolkensitze. Felsen, Berge, überhaupt die Erde in
seiner rechten, Menschen unter der Sanduhr in seiner linken Hand haltend,
genügt ein leiser Druck dieser — und der Staubgeborene saust in die Tiefe.
Vorn steht der nackte, im Wandel reine Mensch, ringend, die verborgenen
Tiefen jener Macht mit seinen klaren Augen zu durchdringen.
Knieend überreicht der T o d a l s K i r c h e n f ü r s t (2) dem Despoten mit
dem Schwert die Kriegsfackel. Die Gemahlin hatte schreckliche Gesichter in
der Nacht, aber der zögert nicht, den Kriegsbrand ins Land zu schleudern. Er
wird den nichtsahnenden Unterthanen mit den Sparren der eigenen Häuser die
Stuben einheizen.
Der Eigene. — 208 — 1. u. 2. üktoberbeft 1899. Der Eigene. — 209 — 1. u. 2. Oktoberheft 1899.
hinter ihm herschreitenden Todes gepaart, der jenen bald erreicht haben wird? Vignette beigegeben. Dieselbe besteht in einer Sphinx, welche in den Krallen
Ich verweise besonders auch auf den lokalen Hintergrund, der echte Schwarz- eine Schlange und eine Sense hält — ein sinniges Wahrzeichen des Totentanzes.
waldstimmung atmet. — „ Z u r g u t e n H e r b e r g e ' * prangt über einer schlichten Der bekannte J o s e p h S a t t l e r macht sich in Strassburg daran, einen
Thor, in die der Tod als Wirt den müden Wandersmann zur letzten Rast hin- wirklichen modernen Totentanz zu entwerfen. Er bricht mit aller Tradition.
eingeleitet. — Dem S t e i n k l o p f e r * , welchem mit jedem Stein, den er zer- Nicht a u f den Holzstock oder f ü r den Holzschnitt zeichnet er — nein, in
schellte, ein Stückchen Leben zersprang, iliistert der Tod unter der schützenden Tuschmanier führt er seine Blätter aus. Es ist dies zu verwundern, da man
Matte ein tröstendes Wort zu. — Dem E i n s i e d l e r * bringt er die ersehnte ja sattsam weiss, welch' ausgezeichneter Schwarzweissstrichkünstler Sattler ist.
Ruhe, welche dieser trotz aller Zurückgezogenheit doch noch nicht so ganz Er hielt die beliebig zu nuancierende Aquarellfarbe seinem Vorwurf für an-
linden konnte. In den Sternenhimmel, welcher des Eremiten Behausung über- gemessener.
wölbt, ist ein schön Stück Poesie verflochten. — Im Gegensatz zur Friedens- Er hat versucht für das, was am modernen Leben nagt und frisst, Ge-
stille jenes Stiches wird dem H o l z f ä l l e r * durch den stürzenden Baum ein stalt zu finden. Die dreizehn Bilder, aus denen sich sein Cyklus zusammensetzt,
gewaltsames Ende bereitet. — Ein Klostergarten von höchstem landschaftlichen sind bezeichnet:
Reiz dient dem M ö n c h * als Staffage, der mit offenen Armen freudwillig dem 1. D e r W u r m s t i c h . Der Tod als Skelett läuft auf Stelzen über auf-
Tode entgegengeht. — Auch die G r e i s i n * fleht den Allerbarmer an, sich geschlagene dickleibige Folianten. Die Spur, welche jeder Stelztritt zurück-
doch endlich ihrer anzunehmen. — Die rauschenden Klänge der Zirkusmusik lässt, bedeutet einen Wurmstich.
werden der P a r f o r c e r e i t e r i n zum Grabgeläut werden — Clown Tod hält
2. D e r L o c k r u f d e s T o d e s . Voll Grösse. Im Hause hört ein herz-
den Seidenpapierreifen. — W u c h e r e r behandelt das alte — immer neue
wunder Jüngling die grausige Melodie, welche der Tod oben auf dem Schorn-
Thema von der Vergänglichkeit irdischer Schätze. — Die Schilderung des
stein — nach Art der Pansfiöte —• pfeift.
B l i n d e n h a t mich ergriffen, wie er vom Tode über eine Brücke geführt wird,
deren hinteren Teil der jähe Sturzbach fortgespült hat. — Welche Naivität 3. D a s b a u f ä l l i g e H a u s . Der Tod stemmt sich als Stütze gegen ein
zieht durch den Ringelreihen üppiger Kinder, die mit dem Tode M u m m e l s a c k baufälliges Haus, welches umzusinken droht — ein zermorschender Schutz.
spielen. — Dass der rücksichtslose Zerstörer seine Lust zuweilen am Zusammen- 4. D e r B r a n d . Rauch; Flammen; über allem — in der Luft — der
prall von E i s e n b a h n z ü g e n übt, ist unserm Zeitalter eine z u bekannte Er- grinsende Schädel Heins, der einen Sturmwind in das Feuer bläst . . .
scheinung. — Dem S c h l e m m e r , der an prunkender Tafel sein Leben ver- 5. D i e E i s e n b a h n b r ü c k e . Wohl das genialste aller Blätter. — Hinten
geudet und den Tod zum Tischgenossen gewählt hat, sind wir auf den Alltags- der Eisenbahndamm; — ein Fluss; als Brücke darüber der rippige Brustkorb
wegen wiederholt begegnet. — Wer hat nicht von Schiffen gehört, denen eine des T o d e s : Wie lange wird das fahle Kalkgestell halten? Wie lange . . .
scharfe Hand Segel, Ruder, Masten im Sturm abgetrennt hat. — 6. D e r Z e c h e r u n d d e r T o d . Erinnert an die ähnliche Darstellung
Holbeins: Der Säufer. Tod und Zecher stossen miteinander a n : „Auf
Unser Ende ist — Tod. Und wenn wir diesen letzten Punkt, der ja Brüderschaft 1«
immerhin noch mit zum Leben zu rechnen ist, erledigt haben, treten diejenigen
7. D e r l e t z t e A k t : e i n e T h a t . Die rücksichtslose Konsequenz des
in Aktion, welche uns die Strasse zurück zur ewigen Mutter Erde bahnen —
Dramas. Eine durch das Thema bedingte, wenig geschmackvolle Darstellung.
die T o t e n g r ä b e r .
8. G l e i c h h e i t . Die Arme des Todes zwängen das ungleich wogende
Sechs Schuh die Länge, Menschengewimmel auf ein festes glattes Niveau — die eine — die grosse
Vier Schuh die Breite, Gleichheit.
Hübsch glatt die Gänge
9. D r e i W ü r f e l : P e s t , C h o l e r a , T y p h u s . Sie gehören zum Spiel,
Auf jeder Seite.
das die Augen der Menschheit, wie die Roulette die des Spielers, in eisernem
Bann hält.
Ich kenn' die Masse:
's ist alter Satz; — 10. D e r l e t z t e S p r u n g d e s T o d e s . ( E i n M e t e o r . ) Eine grotesk-
Sogar i h r s e l b e r phantastische Schöpfung, die Sattlers grandioses Schaffensgenie im sensitivsten
Habt darin Platz . . . Lichte zeigt. Der Meteor — ein Menschheitszerstörer, der sich jenen drei
Würfeln ehenbürtig zugesellt.
singt der eine den zwei Gefährten zu, die gemeinsam eine Grube schaufeln. — 11. D i e A u g e n h ö h l e d e s P e s s i m i s t e n . Dies Blatt wirkt ins Herz
Dieser Eine ist Er: — der Tod . . . schneidend. In der Schädelbuchtung, die für das Auge bestimmt ist, sehen
D a s sind im wesentlichen die Blätter und ihr Inhalt, von denen bisher wir einen Gehenkten en miniature.
nur die mit einem * bezeichneten im Verlage von Rud. Schuster in Radierung 12. K a r f r e i t a g s A b e n d l ä u t e n . Das sind die Glockenklänge, welche
erschienen sind. Diesen Lieferungen h a t Meyer auf dem Schutzdeckel eine der Menschen sündige Gedanken in Aufruhr bringen.
Der Eigene — 210 — 1. u. t, Oktoberheft 18B9. Der Eigene. — 211 — 1. u i. Oktoberheft 1899.
13. C h r i s t u s v o m T o d e m i t L o r b e e r b e k r ö n t . Dass der Tod des
E i n e n die Erlösung aller bedeutet, wird hier symbolisch veranschaulicht.
Dieser Totentanz, der im Jahre 1895 bei I. A. Stargardt in Berlin er-
schien, ist in seiner ganzen Anlage, Auffassung, Ausführung nicht dazu be-
stimmt, auf „Masse" Eindruck zu machen. N u r den einzelnen durchbildeten
Betrachter vermögen diese Bilder hinzureissen. Man kann sich nicht der T h a t -
sache verschliessen, dass Sattler in diesen Cyklus zuviel hineinspintisiert hat,
das für das riesenhafte, draufgängerische und dreinschlagende Wirken des Todes
wenig geeignet ist. — Eine Originalradierung: „Schnitter Tod auf der Brücke"
rührt vom selben Künstler her.
Im zweiten Teil des herrlichen Werkes: „Heinrich Hoos, Geschichte der
rheinischen Städtekultur" (I. A. Stargardt, 189/), hat Joseph Pattler unter
mehreren hundert anderen auch einige das Totentanzthema streifende Bilder
veröffentlicht. Da sehen wir ein Floss, welches reich mit Lebensmitteln und
Gerätschaften befrachtet ist, und auf welchem hinten der Tod hockt. Vielleicht
soll die Ladung eine ganze durch irgend ein hartes Schicksal in Bedrängnis
geratene Stadt wieder aufbauen helfen. Ein Sturm zieht auf . . . Unbarmherzig
werden giere Elemente die Rettungssendung in den Grund peitschen . . . Ein
anderes Blatt zeigt den Sensenmann, wie er die schartig gewordene Hippe
betrachtet . . . Gleich einem Unsinnigen h a t er unter den Menschen Ernte
gehalten — nun macht er erschöpft eine kurze R a s t ; jetzt muss er erst die
Klinge wieder dengeln . . . Ein Initial Z aus demselben Bande ist zu erwähnen,
um das sich der Tod klammert und — Blumen pflückt . . . Z ist der letzte
Buchstabe des Alphabets — Tod ist der letzte Buchstabe im grossen Alphabet:
Leben . . .
A n einem Totentanz, der, wie ich glaube, eine aussichtsreiche Zukunft
haben wird, arbeitet gegenwärtig O t t o S e i t z .
A m 3. September 1846 zu München geboren, bezog er die dortige
Akademie und wurde Schüler Karl von Pilotys, dem so mancher treffliche
'Künstler — Lenbach, Defregger — seine Ausbildung verdankt. Seit fünfund-
zwanzig Jahren wirkt Seitz selbst als Professor an dieser Hochschule. Auf
Pilotys Einfiuss ist seine Vorliebe für düstre Stoffe zurückzuführen. So ent-
standen die Ölgemälde „König Eduards Söhne", das den Augenblick festhält,
in welchem die Mörder an das Bett der schlafenden Kinder schleichen, und
„Riccios Ermordung".
Seitz greift in seiner T e c h n i k auf die Holbeinsche zurück. In markigen
Strichen führt er wie jener seine Zeichnungen wie für den Holzschnitt aus.
In der A u f f a s s u n g jedoch unterscheiden sich beide Tänze himmelweit von-
einander. Bei dem mittelalterlichen tritt der T o d als Skelett auf, indem er die
einzelnen Menschen bei den Händen fasst und sie so in das Beinhaus entführt.
D a s h e i s s t : der Tod, als Wesen gedacht, greift p e r s ö n l i c h in das Schicksal
der Menschen ein. Anders bei Seitz. Nirgend erscheint der Tod handgreiflich,
sondern seine M i t a r b e i t wird als F o l g e — den Tod haben. Das lässt sich
am besten an einem Beispiel zeigen. Ein Baum soll gefällt werden. An seinem
Fusse ist er mit der Axt genügend vorbearbeitet worden. Nun gilt es ver-
mittelst eines Strickes den Baum niederzureissen. Ein Fäller zwingt's nicht
Der Eigene. — 216 - I. a. 2. Oktoberheft 1899. Der Eigene. — 217 — 1. u. 2. Oktoberheft 1899.
V o g e l e r diesen V o r g a n g b e o b a c h t e t : g i n g d a durch die tiefblau ü b e r l e u c h t e t e Ich m u s s w e g über hundert Stufen,
W i e s e ein steinaltes M ü t t e r c h e n an der S e i t e eines m i t S a m t m a n t e l und P a p p - Ich m u s s empor und hör' e u c h r u f e n :
krone versehenen Königs, d e s s e n S c e p t e r — eine S e n s e — unbedenklich seine „Hart b i s t d u ! Sind w i r denn v o n S t e i n ? • —
Würde verriet . . . In den n ä c h s t e n T a g e n sah Vogeler einen Stich fertig Ich m u s s w e g über hundert Stufen,
vor sich, dessen I d e e n g e h a l t sich g e n a u m i t j e n e m n ä c h t i g e n Ereignis deckte,
U n d n i e m a n d m ö c h t e S t u f e sein.
und nannte ihn T o d und A l t e . — A u c h die Provinz W o r p s w e d e im R e i c h e
. . . und n i e m a n d m ö c h t e Stufe sein — ja, und dann? w e n n er o b e n ist
T o d wird v o n Zeit zu Zeit einer R e v i s i o n u n t e r z o g e n — und w e n n noch so
auf d e m h ö c h s t e n F e l s und Blöcke in die M a s s e n unten schleudert — w e l c h e n
viel Elfen und N i x e n in v e r b o r g e n e n B ü s c h e n und Sträuchen ihr n e c k i s c h e s und
M o m e n t die Künstlerin festgehalten hat — dann? — sitzt schon der T o d
k o b o l d i g e s W e s e n treiben . . .
am F u s s e des F e l s e n s und unterwühlt des Ü b e r m e n s c h e n Standpunkt. Wenn
In der „Jugend" hat ferner der M ü n c h e n e r F r i t z R e h m zwei Zeich-
er a u c h „ Ü b e r — " ist, „ — m e n s c h " bleibt er d o c h . . . — Z w a r s c h w i n d e t bei
n u n g e n veröffentlichen lassen, in d e n e n er den Riesenstoff in w e i c h e r T u s c h -
der O h n m a c h t vollständig j e d e s B e w u s s t s e i n s - und Begriffsvermögen, d o c h der
manier z u m Ausdruck g e b r a c h t h a t ; sie tragen die I t c z e i c h n u n g e n : „ D e s T o d e s
Ü b e r g a n g v o m w a c h e n z u diesem todähnlichen Zustande ruft G e d a n k e n v o r g ä n g e
Klage", „ P e r Eisliiufer". A l s edler Ritter g e p a n z e r t , an einem Felsen lehnend,
w a c h , w e l c h e uns die P a c z k a in ihrem T o d m i t d e r O h n m ä c h t i g e n gezeigt
säubert Er sein S c h w e r t v o m g e r o n n e n e n Jtlute und bricht s c h m e r z d u r c h w ü h l t
hat. Da wird diese von stumpfen Greisinnen: S o r g e und Arbeit umdrängt,
in die e i n s a m e K l a g e a u s :
w ä h r e n d ihr ein s c h l a n k e s M ä d c h e n den Lorbeerkranz: L e b e n w i e d e r zureichen
In wilder Zeit
will, w a s der T o d zu verhindern scheint.
bei K a m p f und Streit
N e b e n beiden Bildern fand ich i m W e b e r a u f s t a n d K a t h i e K o l l w i t z '
da w a r ein lustiges Sterben,
die S c e n e einer h u n g e r n d e n Familie, aus deren Mitte ein Gerippe die M u t t e r
da ritt ich einher
abberuft. Scheu blickt ihr Kindchen mit rührenden A u g e n umher — denn
m i t S c h w e r t und m i t Speer plötzlich hat das L i c h t s o seltsam geflackert . . .
und s c h l u g die S c h ä d e l in Scherben. Wer leben will — braucht Licht I Jedermann w e i s s es. — D i e Welt
aber, w e l c h e H u g o F r e i h e r r v o n H a b e r m a n n mit dem Pinsel zu schildern
N u n krieche ich s a c h t
unternommen hat — s c h e u t e s und g e d e i h t üppiger im Mantel der N a c h t .
an die Kranken bei N a c h t ,
U n d den T o t e n t a n z dieser Sphäre h a t uns Habermanns Kohlenstift v e r a n -
erlauert und z e h n m a l v e r t r i e b e n ;
s c h a u l i c h t ; die Z e i c h n u n g w a r auf der o b e n erwähnten A u s s t e l l u n g zu s e h e n .
und w e n n ich's erschleich' — N e b e l h ä n g e n z w i s c h e n nächtigen Häuserreihen der Grossstadt . . . trübe —
und führe den S t r e i c h , u n g e w i s s flimmern die Gaslaternen . . . K o k e t t und frech aufgeputzt läuft eine
w a s ist n o c h zu töten g e b l i e b e n ? Buhlerin durch die G a s s e n und lockt die Opfer in die F ä n g e — des T o d e s . . .
D a s Gedicht rührt v o n A . M o . her. Hier sind die V e r s e w e d e r er-: Schliesslich sei erwähnt, dass mein Freund H a n s K u r t h (nicht V e r -
klärender T e x t des Bildes, n o c h ist dieses Illustration z u m Gedicht. Beide wandter!) für die A u g u s t s e p t e m b e r n u m m e r des früheren „Eigenen" ein R ö t e l -
B e i t r ä g e m ü s s e n wir als z w e i in sich a b g e s c h l o s s e n e G a n z e betrachten. Wenn blatt b e i g e s t e u e r t hat, d a s den K n o c h e n m a n n als Flötenspieler darstellt, u n d
sie d e n n o c h z u s a m m e n zu g e h ö r e n s c h e i n e n , s o haben wir ein treffliches B e i - w e l c h e s das G e g e n s t ü c k zu m e i n e m Gedicht „ V o m f a h r e n d e n P f e i f e r "
spiel dafür, dass D i c h t k u n s t und Malerei sehr g u t z u s a m m e n eine reine Harmonie bildet. Hier strebt der Künstler danach, man kann fast s a g e n , die L i c h t s e i t e
e r g e b e n können, ohne dass die eine zur anderen in ein D i e n s t v e r h ä l t n i s d e s T o d e s darzustellen. Er w e i s s in s e i n e m Entwürfe eine S t i m m u n g z u m
tritt. U n d das sollte streng g e n o m m e n k e i n e K u n s t dürfen, denn sonst hört Ausdruck zu bringen, die dem unheimlichen Stoff, w e l c h e n er zum V o r w u r f
sie auf w e l c h e zu sein. V o n ähnlicher W i r k u n g w i e „ D e s T o d e s Klage" ist hat, seine U m h e i m l i c h k e i t raubt und den T o d als den b e s t e n , edelsten und g e -
„ D e r Eisläufer". Hier breitet der T o d sein L e i c h e n t u c h vor eine g ä h n e n d e Eis- w a l t i g s t e n Freund erscheinen lässt. S o a u c h im „ B e s u c h . " — J e d o c h sein
spalte, in w e l c h e ein e i n s a m e r Läufer unerbittlich hineinrasen m u s s . U r e i g e n s t e s hat H a n s K u r t h im „B1 u t s e e" aufgerollt. D a w ä l z t das B l u t m e e r
der Revolution s e i n e Riesenfluten g e g e n das Ufer, an d e s s e m Rande die g i e r i g e
C o r n e l i a P a c z k a , g e b . W a g n e r , w a r auf der Berliner Kunstausstellung
Guillotine aufgerichtet ist. Hinter ihr s t e i g t aus den Tiefen ein R i e s e n s c h ä d e l ,
v o n 1898 mit zwei Originalalgraphien vertreten. T o d u n d Ü b e r m e n s c h ist
der mit d e m K a i s e r h u t d e s Korsen b e d e c k t ist, in die furchtbare N a c h t . Er
die eine benannt. Ich h a b e diese Z e i c h n u n g , die m i c h schon ihrer T e c h n i k
b e d e u t e t der sinkenden Z e i t das M o r g e n l i c h t — die n e u e G r ö s s e : w e l c h e als
w e g e n reizte — sie w u r d e an Stelle des lithographischen Steines auf eine
s o l c h e a u c h s c h o n — w i e e s die N a t u r g e b i e t e t — einen g e w a l t i g e n U n t e r g a n g
A l u m i n i u m p l a t t e g e b r a c h t — still für mich a n g e s c h a u t , und plötzlich sah ich
in sich trägt. — K u r t h s t e h t am A n f a n g seiner künstlerischen Laufbahn. Es
den N a m e n Friedrich N i e t z s c h e vor mir a u f s t e i g e n und mir k a m der Leitspruch
l i e g t bereits eine s t a t t l i c h e Anzahl von Blättern vor, die sich mit der M a j e s t ä t
seines Ü b e r m e n s c h e n in den S i n n :
TODES-KUSS.
Als es dämmerte . . . in meiner »Seele,
Da kam der T o d zu mir;
In der Abenddämmerung- kam er,
Ein schöner, lächelnder Jüngling. —
Das Gold seiner Locken leuchtete.
Wie ferner, sterbender Fackelschein;
Seine weich-kräftigen Arme umfassten mich,
Wie das Abendrot die schläfernde E r d e ;
Er küsste leise meine Lippen:
Langsam . . . . langsam trank er von ihnen
"Meine Seele.
Wonnig erschauernd liebte ich
Den schönen, schönen Jüngling T o d .
Aber gross und gewaltig ist meine Seele:
Lange, lange hing jener an meinen Lippen.
Als die Sonne versank,
Floss mein Leben zu ihm;
Als die Nacht hereinbrach,
Sog er gierig seine Ströme;
Und als der bleiche, bleierne Mond herabsah,
Der keine Seele mehr hat,
HANS KURTH:BESUCH Der Eigene. — 221 — 1. u. 2. Oktoberbeft 18UD
Schlürfte der Jüngling noch immer • „Armer Jüngling," sagte ich,
Von meiner Seele. „So warst du nicht der lösende, zwingende Tod? —:
Da wurde ich müde des langsamen Sterbens, Warum hast du dich s o vermessen,
Müde des Todes und der Liebe, Von meiner Sieger-Seele zu trinken? —
Und ich sprach zu dem Jüngling, Den starken Bezwinger T o d glaubte ich zu lieben,
Als die Morgenröte heraufzog: Nun habe ich dein schwaches Leben veratmet."
„In e i n e m Kusse Auf der grünen Erde lagen seine weissen Glieder,
Entseeist du andere Menschen; Nur das Gold seiner Locken leuchtete,
In einem Augenblicke Wie ferner, sterbender Fackelschein.
Kannst du Ströme von Leben trinken; Mein langer Schatten fiel auf den Leichnam.
In einem Atemzuge von dir Ileiter-kraftig schritt ich dahin
Verhauchen herrliche Völker: — In den hochrot lachenden Morgen.
Einen Abend gab ich dir Zeit'
Für m e i n e Seele, freiherr Karl von Levetzow.
Und eine ganze, lange, schwere Nacht;
Denn ich liebte die Wollust deiner Schönheit,
Welche der meinen gleicht. —
W e l t s p i n n e n sind wir beide,
Die im Kusse alles Leben leersaugen,
Das Leben aller, die uns nahen. —
Dieser T a g aber ist in e i n Eigen,
Und du — — sollst sein Morgentrunk werden."
Da umfasste ich küssend den schönen Jüngling
Und in einem einzigen Atemzuge
T r a n k ich seine ganze Todesschönheit,
Seine ganze, gewaltige Seele.
Dann stiess ich ihn von mir
Zur grünen Erde, —
Wie einen geleerten Becher.
„Er wird sich wiedererheben," dachte ich,
„Mit der Dämmerung wird er weiterwandern,
Und dämmernde Seelen trinken
Wie ich.«
Aber er blieb liegen, wie der tote Adonis;
Marmorweiss waren seine Glieder,
Und seine Augen gebrochen.
Nur das Gold seiner Locken leuchtete in der Sonne,
Wie ferner, sterbender Fackelschein. —
Mein Schatten . . . fiel auf den Leichnam,
Als ich in die Morgenstrahlen schritt.
Der Eigene. - 284 — I. u. 2. Oktoberheit 1898. Der Eigene. - 225 — 1. u. 2. Oktoberheft 1899.
ziehen muss. Über letztere ist bei dem Kultusministerium verbrechen, als zur Deckung unwürdiger Justizbeamten sowie
von den Herren Rittmeister a. D. von Oertzen und Stabsarzt des damaligen Justizministers v. Schelling begangen, rückhalts-
Dr. Sternberg direkt Klage geführt worden, aber trotz be- los enthüllt wird. — Niemand wagte dagegen einzuschreiten.
stimmter Zusagen der Bescheid ausgeblieben. Andere öffentliche Blätter — z. B. die „Charlottenburger
In derselben Gerichtsverhandlung musste der frühere Nachrichten" — brachten die Enthüllung, dass die Justiz-
Justizminister v. Schelling u. a. einräumen, im November 1892 verwaltung sich ihrer „partie honteuse" wohl bewusst sei,
zu dem früheren Chariteeprediger Entzian geäussert zu haben, ebenfalls ohne behördlicherseits einer Verwahrung zu begegnen.
dass „er sich von Dr. Sternberg beleidigt fühle und deshalb Die He rren Kaufmann G. Riebow und Hauptmann von
auf Durchführung der von ihm veranlassten Entmündigung Forell brachten das Verbrechen an den Herrn Justizminister
bestehe. Er empfehle dringend Verzicht auf die Anfechtungs- und selbst an Se. Majestät den Kaiser und König ohne jeden
klage, dagegen werde ein Wiederaufhebungsantrag auch ohne Erfolg.
ärztliches Zeugnis, blos unter Beibringung eines polizeilichen Ausser den genannten Personen würde vor allem der
Führungsattestes, sicher von Erfolg sein." Der Missbrauch Hauptgeschädigte, Stabsarzt Dr. Sternberg, zu vernehmen sein,
der Amtsgewalt (§ 339 St.-G.-B.) ist hiermit erwiesen. wobei sich sofort und ohne weiteres das umfangreiche Ver-
Aus einer Petition von v. Oertzen und Genossen ist mir brechen mit allen Details in Akten und Thatsachen heraus-
unter anderem bekannt, dass die Staatsanwaltschaft den jugend- stellen würde.
lichen Hilfsrichter, einen der Anstellung harrenden Assessor, Vorstehendes, durch die genannten Zeugen und Akten
zur Beschleunigung und zum Abschluss des Yeriahrens ge- erhärtetes Material dürfte vorläufig zur Verfolgung ausreichen;
drängt habe, worüber er dein Herrn Justizminister v. Schelling weiteres, in Überfülle vorhandenes bleibt vorbehalten. — —
Bericht zu erstatten habe. (§ 339 bis § 357 u. § 336 St.-G.-B.) Da die Kgl. Staatsanwaltschaft II die Verfolgung der an
Dass unter solcher Beeinflussung der angehende Beamte dem Justizverbrechen verschuldeten Beamten unterlässt, fordere
sich über die gesetzliche Pflicht der Vernehmung, über die ich, gestützt auf das vorliegend Unterbreitete, jetzt nochmals
durchsichtige Falschheit der Gutachten u. a. m. hinwegsetzen die Einleitung des Strafverfahrens gegen dieselbe auf Grund
konnte, ist einleuchtend. Er hat sich zweifellos durch diese I des § 346 St.-G.-B.
Beeinflussung zu einer Rechtsbeugung verleiten lassen. (§ 336 i
St.-G.-B.)
Diese Gutachter, zu denen der von den Gerichten mehrfach
Adolf Brand.
der Unzuverlässigkeit und Unwürdigkeit überführte l'hysikus
Sanitätsrat Dr. Mittenzweig gehörte, sind übrigens in der Neurahnsdorf, am 24. September 1899.
Öffentlichkeit — so in der „Neuen Preussischen Zeitung" vom :
I
Der Eigene. — 22« — I. u. 2. Oktoberheft 1899. Der Eigene — 227 - t. u. 2. Oktoberbeft 1699
Auf meine letzte — die vierte! — Immediat-Eingabe vom
Veranlasst durch den Bescheid der Kgl. Oberstaatsanwalt-
24. August traf endlich aus dem Justizministerium eine Antwort
schaft vom 6. September, erhob ich ferner gegen die letztere
ein, die aber nur beweist, dass die von Sr. Majestät dem Kaiser
beim Justizminister folgende Beschwerde:
und König a n g e o r d n e t e Prüfung der Angelegenheit Sternberg
thatsächlich vom Justizminister als eine leere Formalität behandelt
wurde, womit der Wahrheit direkt ins Gesicht geschlagen und
der Befehl des Kaisers illusorisch gemacht ist. Das Schreiben
lautet:
An das Kgl. Justizministerium - Berlin.
Herrn A d o l f Brand-Neurahnsdorf.
Auf den im Original beiliegenden oberstaatsanwaltlichen
Bescheid vom 6. Septbr. 1899, das Aktenzeichen K —--'-''-—-^r Berlin, den 22. September 1899.
O.St. A. IV. / 122.
tragend, erhebe ich hiermit Beschwerde mit dem Ersuchen, Ihre an Seine Majestät den Kaiser und König gerichtete
den fehlenden Strafantrag zu meiner Verfolgung nunmehr erneute Vorstellung vom 24. August d. Js. in der Dr. Stern-
ungesäumt stellen zu wollen. bergschen Entmündigungsangelegenheit ist Allerhöchst dem
Es ist klar, dass dieser Antrag längst hätte erfolgen Justizminister zur Prüfung zugefertigt worden.
müssen, wenn meine, ebenso wie Anderer Beschuldigungen
Die Prüfung hat stattgefunden, aber keinen Anlass zu
gegen die Justizbehörden nicht vollständig begründet waren —
weiteren Massnahmen gegeben.
und ebenso müssen die in Frage kommenden Amtsverbrechen
und ihre Thäter der Strafbehörde längst bekannt sein. Der Justizminister.
Es erübrigt nur noch, den oberstaatsanwaltlichen Bescheid
dahin richtig zu stellen, dass Gründe für die versagte An- In Vertretung:
wendung des § 346 St.-G.-B. mir in Wahrheit nicht zugegangen Nebe-Pflugstaedt.
1 :
sind und augenscheinlich nicht existieren.
Adolf B?-and. - A n l a g e : die Broschüre „Ist ein Fall Dreyfus in Deutschland unmöglich?"
Der Eigene. — 236 — 1. u. 2. Oktoberheft 1899. Der Eigene — 237 — 1. u. 2. Oktoberheft 1899.
die Veröffentlichung der Ulrichssrhen Otto de Joux oder die Verrücktheiten
Briefe zu begrüssen. des Geruchs-Philosophen Gustav Jäger.
IST
Was den Artikel über Chantage b e - Über den letzten Teil des Werkes,
trifft : die Arbeit an sich ist für ihren
Zweck ja sehr gut und bringt auch
vorzügliches Material. Aber soll denn
die bekannte Petition um Abänderung
des § 175 und die daran anknüpfenden
Reichstagsreden will ich schweigen.
EIN FALL DREYFUS
diesen Erpressern nicht beizukommen Nicht wegen des so rühmenswerten
sein? Von einem diesbezüglichen Gesetz
will ich schweigen. Sollten die Homo-
sexuellen nicht sorgen können, dass
Unternehmens des wissenschaftlich-
humanitären Komitees, sondern weil
ich mich nicht ob der Dummheit ge-
IN DEUTSCHLAND
sie solchen Leuten einfach nicht in die wisser Leute aufregen möchte.
Hände fallen? Ich denke, die Prostitution Nun zum Srhluss ein Wort an UNMÖGLICH?
und verwandte Institutionen wollen wir homosexuelle Künstler: Liebe Freunde!
den Verehrern des Ewig - Weiblichen es ist soviel Mögliches und Unmög-
überlassen. Oder soll vielleicht die liches über uns geschrieben worden.
edle griechische Liebe auch durch den Lasst uns endlich schatTenl Menschen Nach der Broschüre „Klassen-Justiz und
Dreck geschleift werden ? Dann, Freund schaffen von unserm Fleisch und Blutl Entmündigungs-Unfug" von Dr. med. Her-
Eros, umhülle dein Herz mit Eisen und Tretet hinaus aus dem Dämmer Eurer
mann Sternberg in offenen Briefen an
plaidiere im deutschen Reichstage Tempel in das helle Licht des Tages.
tüchtig gegen die Abschaffung des Wenn wir auch sinken: was liegt an preussische Justizbehörden, den Kaiser, das
§ 175. uns!? Unser Bestes, unsre Liebe kann Staatsministerium und den Bundesrat be-
Die wertvollsten Arbeiten des ganzen nicht untergehen, wenn wir's ver-
Bandes sind der juristisch - historische mochten, ihren edlen Geist in ewige
antwortet von
Beitrag von Numa Prätorius: „Die
strafrechtlichen Bestimmungen gegen
Formen zu bannen. Lasst uns schaffen 1
Wie auch um uns der Pöbel lärmt und
A D O L F BRAND.
den gleichgeschlechtlichen Verkehr, schreit: wir wollen nicht darauf hören;
historisch und kritisch dargestellt" und es geht uns nichts an. Andre mögen
die „Bibliographie der Homosexualität"; auf der Gasse der Dummheit wehren.
denn sie sagen über das Alter und die Unser Streben sei es, den Brüdern, die A D O L F BRAND'S VERLAG
Verbreitung und infolgedessen auch noch in der Enge und Dumpfheit ihrer ,• BERLIN-NEURAHNSDORF
über die Unwillkürlichkeit des homo- eignen Seelen leben, den Weg zu zeigen,
sexuellen Geschlechtstriebes im Grunde der auf zum Lichte führt. 1899
viel mehr als das Phrasengewäsch eines Peter Hamecher.
20 ~ Pfge.
Der Eigene. — 238 — 1. u. 2. Oktoberhelt 1899. Der Eigene. — 239 - 1. u. 2. Okioberheft 189».
Voranzeige. | Ankündigung. 0:0:0:0«;OiO»:OiO O OSJAOOMÖ O-O»ttt* Ö«KO CittOO«tfOOiOfl:CftO:0;tJftO:ffiO
FERDINAND MAX K U R T H :
Mitte Oktober erscheint:
Numa. *4sfS * V * ;
^ . - ^ " ; • * • , , * i j 2 ^ : : ,Ende.'Oktober erscheint: « *
'Diese litterarisch Jcuiturhislorische Sammlung wird nach rein wissenschaftlichen und künst*
, lerisi-hen Grundsätzen zusammengestellt; sie soll daher weder fromme - noch unfromme
Sensationen bringen. Die ausgewählten Stücke sind sinngetreu und unverfälscht übertragen
und zwar zum grossen Teile vom Herausgeber selber. -Einzelnes ist dem deutschen Publikum
Bei 2 4 maliger A u f n a h m e noch gam fremd.- Je.der Gebildete, jeder Kenner der Antike, jeder Kunst- und Litteraturfreund,
jeder BUcherliebhaker wird an dem Werke seine Freude haben. x x x w x - 1 xyx xxy
3 6 Mk. VXZZ3CJ Das Buch'kostet bei Vorausbestellung 4 Mark, nach Erscheinen 5 Mark, (x y>
Es wird auch eine handschriftlich nummerierte Sonder-Ausgabe in dreissig Exemplaren auf
Kunstdruckpapier'hergestellt.- xyx . xxx~~-—yyy xxx yycx yyy y*y x>r*
• xv* yy* *yy Das Werk ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen, sowie direkt von
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