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Felix Klein
Visionen für Mathematik,
Anwendungen und Unterricht
Felix Klein
Renate Tobies
Felix Klein
Visionen für Mathematik, Anwendungen und
Unterricht
Renate Tobies
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Jena, Deutschland
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Abb. 1: Felix Klein, 1875
Euphorisch sprach Richard COURANT über Felix Klein: „Sein Leben war erfüllt
von der Kraft des Denkens und dem Willen zur Tat, beide beflügelt durch eine
geniale Phantasie, welche immer neue und neue Entwürfe gestaltete. Er war ganz
der Typus des Weisen und Herrschers, wie ihn Plato in seinem Staate gezeichnet
hat.“ (1926: 211) Klein wies auch Wege weise. Er bestimmte Geometrie mit sei-
nem Erlanger Programm überzeugend neu: geometrische Eigenschaften als Inva-
rianten von Transformationsgruppen. Er systematisierte weitere mathematische
Theorien, sah Zusammenhänge, prägte Begriffe. Seine visionären Programme be-
trafen Mathematik, deren Anwendungen in Natur-, Technik-, Finanzwissenschaf-
ten, aber auch Geschichte, Philosophie und Unterricht vom Kindergarten bis zur
Hochschule. Er engagierte sich außergewöhnlich, um die eminente Kulturbedeu-
tung der Mathematik und ihrer Anwendungen in das Bewusstsein zu rücken.
Ludwig Boltzmann schwärmte 1892 von Kleins Allseitigkeit:
Heute habe ich in den Fortschritten der Mathematik1 nachgeblättert und da […] die Allseitig-
keit und Produktivität Kleins bewundert. Man könnte kurz etwa sagen:
Kleins Arbeiten umfassen fast alle Gebiete der mathematischen Wissenschaft. Besonders her-
vorragend sind seine Arbeiten über
1 Algebra und deren Anwendung auf Theorie der algebraischen Formen, Zahlentheorie,
Geometrie, Auflösung höherer Gleichungen.
2 allgemeine Funktionentheorie, Theorie der elliptischen, Abelschen, θ-Funktionen und der
Riemannschen Flächen;
3 Theorie der Differentialgleichungen;
4 Fundamente der Geometrie, Krümmung und sonstige gestaltliche Verhältnisse der Kur-
ven und Flächen, auch neuere Geometrie und Projektivität, Anwendung der Geometrie in
der Mechanik.2
vii
viii Vorwort
Als junges Talent legte Klein das Abitur im Alter von 16 Jahren ab, erwarb
mit 19 Jahren den Doktortitel und habilitierte sich im Alter von 21. Bereits mit 23
erreichte er die erste ordentliche Professur. Seine Stationen waren die Universität
Erlangen (1872), das Polytechnikum (Technische Hochschule) München (1875),
die Universitäten Leipzig (1880) und Göttingen (ab 1886). Klein kooperierte mit
Personen und Instanzen in Bayern, Sachsen und Preußen. Durch Studienreisen
nach Paris, Großbritannien, Italien, die USA u.a. weitete er seinen Blick. Er wurde
ein Weltbürger, der nationalen Chauvinismus verurteilte. Der französische Ma-
thematiker Charles Hermite – oft sehr überschwänglich – bezeichnete Klein in
den 1890er Jahren euphorisch comme un nouveau Josué dans la terre promise.3
Klein pflegte einen kooperativen Arbeitsstil. Im Alter von 20 gewann er mit
dem Norweger Sophus Lie seinen wichtigsten Partner. Klein wünschte einver-
nehmliche Kooperation, nicht Konkurrenz. Dennoch musste er sich mit Gegnern,
Konkurrenten, anderen Ansichten und Interessen auseinandersetzen. David Hil-
bert, der 1909 anlässlich Kleins 60. Geburtstag bewusst Poincaré und Mittag-
Leffler nach Göttingen einlud, verwies in seiner Rede (Anhang Nr. 8) auf Gegner
und Unterstützer und demonstrierte selbst seine Verbundenheit mit Klein.
Felix Klein soll in diesem Buch als Mensch neben seinen Erfolgen hervor-
treten. Im Alter von 26 heiratete er Anna Hegel, Enkelin des großen Philosophen.
Ihre Briefe an Felix Klein dokumentieren ein liebevolles Verhältnis und dass sie
oft in seine akademischen Probleme einbezogen wurde. Von ihren vier Kindern
folgte der Älteste der technischen Richtung. Die Jüngste studierte Mathematik
und wurde eine anerkannte Schulleiterin, die in der NS-Zeit Rückgrat behielt.
Klein war nicht von vornherein der „Zeus, der über den anderen Olympiern
thronte“, wie ihn Max Born, der spätere Physik-Nobelpreisträger, beim Studium
erlebte: „Er hieß bei uns der große Felix und herrschte über unser Schicksal.“4
Uns wird ein Mathematiker begegnen, der wiederholt von Selbstzweifeln geplagt
war, mathematisch seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht zu genügen, und der
gleichzeitig die spezifischen Begabungen bei ihm Studierender weitblickend er-
kannte. Klein förderte Begabte unabhängig von Religion, Nationalität und Ge-
schlecht. Mit ihm begann das mathematische Frauenstudium in Preußen zu einer
Zeit, als Frauen noch nicht regulär studieren durften. Er führte 1895 zwei Frauen
zur Promotion, brachte mehr als fünfzig Doktorschüler sowie weitere Personen
aus dem In- und Ausland zu neuen Resultaten. Er kooperierte mit Emmy Noether
und unterstützte deren Habilitation.
Klein legte in Göttingen den Grund für eine neue Blütezeit und erließ dafür
die Ausführungsbestimmungen, wie es Hilbert ausdrückte (Anhang Nr. 14). Dazu
gehörte, dass er die besten Wissenschaftler (darunter Hilbert, Carl Runge, Ludwig
Prandtl, Edmund Landau) neben sich berufen ließ und dass er mit dem „Einwer-
ben“ von Mitteln aus der Industrie neue Wege fand, um wichtige Personen in Göt-
tingen zu halten und neue Institute aufzubauen. Bis ins hohe Alter hinein stand
Klein neuen mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Theorien aufge-
3 als einen neuen Joshua im gelobten Land, vgl. im Buch Abschnitt 8.2.2.
4 BORN/BORN 1969, 16.
Vorwort ix
5 Das dort ebenfalls präsentierte Porträt von David Hilbert wurde 1928 von Eugen Spiro (der
sich 1935 zur Emigration gezwungen sah) gemalt. (Zu Hilbert vgl. besonders die Abschnitte
6.3.7.3 und 7.9 im Buch.)
6 FRICKE 1919, 275. – Vgl. Stammbaum in Abb. 2
x
Abb. 2: Auszug aus dem Stammbaum der Familien Hegel und Klein
INHALT
VORWORT .................................................................................................................................. vii
1 EINFÜHRUNG .......................................................................................................................... 1
1.1 Zum Stand der Forschung .................................................................................................. 3
1.2 Forschungsleitende Aspekte ............................................................................................. 6
1.3 Editorische Bemerkungen ................................................................................................ 9
2 PRÄGENDE GRUPPEN ........................................................................................................... 11
2.1 Der Familienverband Klein – Kayser ............................................................................. 11
2.1.1 Königstreue, sparsame Erziehung westfälischen Ursprungs ................................ 11
2.1.2 Pädagogische Begabung und vielseitige Interessen als mütterliche Gabe ........... 13
2.1.3 Felix Klein und seine Geschwister ....................................................................... 14
2.2 Schulzeit in Düsseldorf ................................................................................................... 15
2.2.1 Abitur mit 16 Jahren am Humanistischen Gymnasium ........................................ 16
2.2.2 Reifeprüfungsaufgaben in Mathematik ................................................................ 18
2.2.3 Naturwissenschaftliche Interessen während der Schulzeit ................................... 20
2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn ........................................................... 21
2.3.1 Besuchte Lehrveranstaltungen, und Seminarprämien .......................................... 22
2.3.2 Assistent und Auszeichnung für eine physikalische Preisschrift ......................... 26
2.3.3 Geometrischer Arbeitsunterricht bei Julius Plücker ............................................. 29
2.3.4 Das Promotionsverfahren ..................................................................................... 33
2.4 Eintritt in die Denkgemeinschaft um Alfred Clebsch ..................................................... 37
2.4.1 Die Clebsch-Schule .............................................................................................. 39
2.4.2 Die Mathematischen Annalen .............................................................................. 45
2.4.3 Liniengeometrische Arbeiten 1869 ...................................................................... 49
2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin ................................................. 51
2.5.1 Berliner Professoren und Felix Klein ................................................................... 52
2.5.2 Begegnungen im Mathematischen Verein: Kiepert, Lie, Stolz ............................ 56
2.5.3 Cayleys Maßbestimmung und Kleins nichteuklidische Auslegung ..................... 60
2.6. In Paris mit Sophus Lie .................................................................................................. 63
2.6.1 Felix Klein und französische Mathematiker ........................................................ 64
2.6.2 Gemeinsame Arbeiten mit Sophus Lie in Paris .................................................... 68
2.6.2.1 Noten über W-Gebilde ............................................................................... 68
2.6.2.2 Die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche vierten Grades ...... 70
2.6.3 Bericht über die Mathematik in Paris ................................................................... 71
2.7 Deutsch-Französischer Krieg und Habilitation ............................................................... 72
2.7.1 Kriegsteilnahme als Sanitäter und Auswirkungen ............................................... 73
2.7.2 Habilitation ........................................................................................................... 77
2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen ...................................................................................... 79
2.8.1. Lehrtätigkeit im Kontext ..................................................................................... 80
2.8.2 Forschungsresultate im Überblick ........................................................................ 86
2.8.3 Diskussionskreise ................................................................................................. 97
2.8.3.1 Verein zu Dritt mit Clebsch und Riecke .................................................... 97
2.8.3.2 Der mathematisch-naturwissenschaftliche Studentenverein ..................... 99
2.8.3.3 Wissenschaftliches Kränzchen: Eskimo .................................................. 101
2.8.3.4 „Sociale Thätigkeit“: Alle organisatorisch einen .................................... 103
xi
xii Inhalt
1
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_1
2 1 Einführung
Klein erlebte als Student den Streit zwischen mathematischen Schulen und spürte
den Nachteil einseitiger Orientierung. Er sah, dass jede Methode Vor- und Nach-
teile besitzen kann. Hinsichtlich des Konflikts zwischen analytischen und synthe-
tischen Methoden in der Geometrie gelangte er zu der Ansicht: „Eine gesunde
Entwicklung wird sich beider Methoden bedienen und die Früchte ihrer wechsel-
seitigen anregenden Wirkung auf einander genießen.“4 So versuchte er früh wei-
tere mathematische Richtungen kennenzulernen. Sich ca. 600 km zu entfernen
und von dort auf die Verhältnisse am Heimatort zu schauen, sei das beste Mittel,
um als junger Forscher nicht von einer Schule vereinnahmt zu werden, inter-
pretierte später der Physiologe Carl Ludwig mit Bezug auf Klein.5
Kleins Streben nach Systematisieren, Zusammenbringen von Methoden und
Gebieten schloss den Blick auf mathematische Ordnungsmuster ein. Der Grup-
penbegriff und sein Prinzip der Stufenteilung innerhalb der Theorie der ellipti-
schen Funktionen dienten ihm zum Klassifizieren.6 Er suchte den Überblick und
sah sich selber im Rückblick als „Romantiker, nicht Klassiker“7 – gemäß Wilhelm
OSTWALDs (1909) Einteilung. Im Unterschied zum ruhigen bedächtigen Klassiker,
der ein Gebiet detailliert „mit klassischer Nüchternheit“ durcharbeitet und
manchmal nicht fertig wird, rechnete sich Klein zu den „Revolutionären“ in der
Wissenschaft mit „romantischem Eroberungsgeist“, die mit einem Übermaß an
Ideen, Plänen, rascher Reaktion gesegnet seien. Sein Credo lautete:
Gewiß ist es der Schlußstein am Gebäude einer jeden mathematischen Theorie, den zwingen-
den Beweis für alle Behauptungen zu erbringen. Gewiß spricht sich die Mathematik selbst ein
Urteil, wenn sie auf zwingende Beweise verzichtet. Das Geheimnis genialer Produktivität
wird es jedoch ewig bleiben, neue Fragestellungen zu finden, neue Theoreme zu ahnen, die
wertvolle Resultate und Zusammenhänge erschließen. Ohne die Schaffung neuer Gesichts-
punkte, ohne die Aufstellung neuer Ziele, würde die Mathematik in der Strenge ihrer logi-
schen Beweisführung sich bald erschöpfen und zu stagnieren beginnen […]8
Wir wollen untersuchen, welche neuen Fragen Klein aufwarf, welche neuen Rich-
tungen und welche Talente er erkannte und förderte.
Im Folgenden wird ein Einblick in den Stand der Forschung gegeben. Zudem
sollen zentrale Fragen, methodisches Herangehen und Quellen bezeichnet werden.
Klein verfasste eine kleine Autobiographie.9 Sein Bruder Alfred hinterließ eine
Familienchronik. Die in 29 Bänden aufbewahrten Protokolle von Kleins Semina-
ren sind eine einzigartige, bisher wenig analysierte Quelle.10 Die online verfügba-
ren Bände reichen vom ersten gemeinsamen Seminar mit Clebsch 1872 bis zum
Jahr 1912. Klein stattete seine Gesammelten Mathematischen Abhandlungen
(GMA 1921-23) selbst mit Kommentaren und Zusätzen aus. Seine Vorlesungen
waren oft so angelegt, dass er Themen historisch einordnete. Das betraf nicht nur
die aus dem Nachlass edierten Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik
im 19. Jahrhundert (1926-27). Konrad JACOBS (1977) brachte Teile aus Kleins
Nachlass als Faksimile heraus. Anlässlich Kleins 70. Geburtstages erschien ein
Sonderheft der Zeitschrift Die Naturwissenschaften mit Beiträgen von R. Fricke,
A. Voß, W. Wirtinger, A. Schönflies, C. Carathéodory, A. Sommerfeld, H. E. Ti-
merding und L. Prandtl. Meist frei von Hagiographie wird darin das Spektrum von
Kleins Produktivität in Kurzform gespiegelt. Nachrufe ergänzen das Bild.
Gerd FISCHER (1986, 22018) publizierte ein zweibändiges Werk Mathemati-
sche Modelle, die für Kleins Art des Forschens maßgeblich waren. Bereits 1985
brachte er auch Kleins schriftliche Abiturarbeit heraus.
Kleins eigene Darlegungen können wir zwar nicht ohne kritische Distanz
übernehmen. Sie sind jedoch eine Fundgrube für Ausgangspunkte, Zusammen-
hänge, Motive. In der erwähnten, von Klein dirigierten ENCYKLOPÄDIE sind man-
che früheren Urteile, kleine Prioritätsstreitigkeiten (mit Camille Jordan11, mit
Lazarus Fuchs12) verschwunden, geglättet, relativiert. Dort präsentieren interna-
tionale Experten den damaligen Stand der Forschung im jeweiligen Gebiet. Dabei
kam kaum einer der Autoren daran vorbei, Arbeiten von Klein zu zitieren, was
selten einer so widerwillig ausführte wie der streitsüchtige Eduard Study.13
Die ENCYKLOPÄDIE sowie das zweibändige Mathematische Wörterbuch NAAS/
SCHMID 1961/1984 enthalten eine Vielzahl nach Klein benannter bzw. von Klein
geprägter Begriffe, was eine besondere wissenschaftliche Ehrung darstellt. Einige
seien hervorgehoben: Kleinsche Linienkoordinaten (vgl. 2.3.3), Cayley-Kleinsche
Maßbestimmung (vgl. 2.5.3), Kleins Modell der hyperbolischen Geometrie,
Kleins Erlanger Programm, Clifford-Kleinsches Raumformenproblem (vgl. 3.3),
9 KLEIN 1923a.
10 Vgl. CHISLENKO/TSCHINKEL 2007; TOBIES 2014; HELLER 2015; ECKERT 2018.
11 Vgl. vor allem BRECHENMACHER 2011.
12 Zur Polemik mit L. Fuchs vgl. Abschnitt 5.5.7. und Anhang Nr. 5.
13 Den Klein dennoch förderte, vgl. Abschnitt 5.4.1; auch HARTWICH 2005.
4 1 Einführung
David E. Rowe, einer der besten Kenner der Mathematik Felix Kleins, ver-
fasste eine Rezension zu HAWKINS (2000), die ein Meisterstück von wohlwollen-
der Reverenz an den mit Preisen Geehrten darstellt und zugleich mit Hinweisen
gepaart ist, was aus historischer Sicht ungenau bzw. unterbelichtet blieb. Hier
deutet sich an, dass es nahezu unmöglich scheint, ein auch noch so enges Gebiet
exakt im historischen Prozess zu erfassen und zugleich für den aktuell Forschen-
den hinreichend einzuordnen. Rowe analysierte mit seiner Dissertation (1992) und
weiteren Arbeiten maßgebliche Ergebnisse der Tätigkeit Felix Kleins. Zudem
regte er Schüler im Themenfeld an. Jüngst fasste er eigene ältere Aufsätze noch
einmal in einem Sammelband zusammen (ROWE 2018a).
Dreißig Jahre zuvor hatte David Rowe Mathematikhistoriker zu einem inter-
nationalen Symposium vereint24, woraus drei Bände History of Modern Mathema-
tics erwuchsen. Er selbst betrachtete die frühen geometrischen Arbeiten von Felix
Klein und Sophus Lie, denen sich lange Zeit auch Eldar Straume (Norges teknisk-
naturvitenskapelige universitet, Trondheim) und Leslie Kay (Virginia Tech, USA)
im Kontext mit einer Edition der Briefe Kleins an Lie widmeten.
Beim Symposium 1988 lieferte Jeremy J. Gray einen Beitrag über algebrai-
sche Geometrie des 19. Jahrhunderts. Weitere Arbeiten Grays über Lazarus Fuchs
und dessen Theorie der Differentialgleichungen (1984), die Poincaré-Biographie
(2013)25 u.a. sind für die Klein-Forschungen wertvoll. Hinsichtlich der Beziehun-
gen zwischen Klein und französischen Mathematikern seien zudem Arbeiten von
Cathérine Goldstein und ihrer Schüler hervorgehoben; sie betreffen insbesondere
die Beziehungen zu Charles Hermite. François LÊ (2015) befasste sich in seiner
Dissertation mit der kubischen Fläche mit 27 Geraden, die Klein Zeit seines Le-
bens begleitete.26 Frédéric Brechenmacher, Experte für Camille Jordan, analy-
sierte dessen Bezüge zu Klein. Im Rahmen einer Abschlussarbeit in Jena über-
setzte und kommentierte Tina RICHTER (2015) Briefe, die Gaston Darboux an
Klein schrieb. Auf der Basis weiterer Quellen konnte Kleins Verhältnis zu fran-
zösischen Mathematikern detaillierter untersucht werden. (TOBIES 2016)
Felix Kleins umfangreiche Korrespondenz, die sich wohlgeordnet im Nach-
lass in der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universi-
tätsbibliothek Göttingen befindet, ist bisher nur zu einem kleinen Teil ediert wor-
den. Die Briefe, die Klein und Hilbert austauschten, gab Günther FREI (1985) her-
aus, der im Juni 1988 ebenfalls am Symposium in Poughkeepsie teilnahm. Hier
traf die Autorin auch Umberto Bottazini, der zu Riemanns Einfluss auf italieni-
sche Mathematiker arbeitete. Er nahm in einer Darstellung mit Jeremy Gray die
Herausbildung der Theorie komplexwertiger Funktionen in den Blick (BOTTAZINI/
GRAY 2013). Bottazini und weitere italienische Mathematikhistoriker/innen tru-
24 Das Symposium fand vom 20. bis 24. Juni 1988 im Vassar College, Poughkeepsie (New
York) statt. In der Buch-Publikation ROWE/MCCLEARY 1989 steht für das Datum des Sym-
posiums das falsche Jahr 1989.
25 Das Buch beschränkt sich vor allem auf die Analyse der wichtigsten publizierten Arbeiten,
vgl. hierzu die Rezension von Scott A. Walter (Historia Mathematica 44 (2017), 425-35).
26 Anlässlich Kleins 150. Geburtstages wurde ein Keramik-Modell davon (1,40m breit, 2,50m
hoch) an der Universität seines Geburtsorts Düsseldorf aufgestellt, vgl. KAENDERS 1999.
6 1 Einführung
Drittens. Kleins Lebenszeit fiel in das deutsche Kaiserreich und den Beginn
der Weimarer Republik. Er war kurze Zeit Sanitäter im Deutsch-Französischen-
Krieg und erlebte den Ersten Weltkrieg. Er gewann finanzielle Mittel aus der In-
dustrie und auch von Militärbehörden, um Lehre und Forschung in Göttingen aus-
zubauen. Es soll geprüft werden, welche politische Haltung dahinter stand.
Um die strukturellen Besonderheiten in Felix Kleins Karriere zu erfassen, er-
weist sich der von Ludwik Fleck eingeführte Begriff des Denkkollektivs als nütz-
lich. Dessen Werk wurde als Vorläufer von Thomas S. Kuhns The Structure of
Scientific Revolutions bekannt. Der polnisch-jüdische Mikrobiologe, Mediziner
und Wissenschaftstheoretiker Fleck analysierte 1935 lange vor Kuhn das Entste-
hen und die Struktur einer Forschergemeinschaft, von ihm Denkkollektiv genannt.
Für die darin vorherrschenden Ansichten prägte er das Wort Denkstil:
„Definieren wir ‚Denkkollektiv‘ als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch
oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtli-
cher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstan-
des, also eines besonderen Denkstiles.“27
Fleck verwies sowohl auf die Gruppen bildende, soziale Wirkung von gemeinsam
vertretenen Ansichten und Begriffen als auch auf die besondere Rolle der Einfüh-
rung in ein Arbeitsgebiet für einen jungen Forscher. Die in Kindheit und Jugend
erworbenen Gruppennormen können Sinn stiftend für die weitere Laufbahn sein.
Erfahrungen in einem Gebiet und das sich Erproben in anderen Gemeinschaften
können zugleich Ausgangspunkte sein, um Mitglied eines speziellen Denkkollek-
tivs zu werden bzw. selbst ein Kollektiv zu formen. Dabei kann nach Fleck jedes
Mitglied gleichzeitig verschiedenen Gemeinschaften angehören (wissenschaftli-
chen, politischen, kulturellen) und differierende Ansichten einbringen.
Das Bilden, Lenken und Leiten von Vereinen oder Gruppen können wir gera-
dezu als ein Kleinsches Charakeristikum erkennen. Kleins Arbeitsethos basierte
auf den Werten seiner Familie und Schule. Seine Verbundenheit mit Plücker und
Clebsch ließ ihn zugehörig zu einer internationalen Gemeinschaft von „neuerer
Geometrie“ werden, die sich national erst durchsetzen musste. Das frühe Ableben
sowohl von Plücker als auch von Clebsch trug bei, dass Klein relativ schnell
Haupt eines Denkkollektivs werden konnte, welches Riemanns geometrisches
Programm auszuführen gedachte. Leo Koenigsberger, erster bedeutender Schüler
von Karl Weierstraß, nahm damit einen Umbruch im Denkstil wahr:
Auch wir jüngeren Mathematiker hatten damals sämtlich das Gefühl, als ob die Riemann-
schen Anschauungen und Methoden nicht mehr der strengen Mathematik der Euler, La-
grange, Gauß, Jacobi, Dirichlet u. a. angehörten — wie dies ja stets der Fall zu sein pflegt,
wenn eine neue große Idee in die Wissenschaft eingreift, welche erst Zeit braucht, um in den
Köpfen der lebenden Generation verarbeitet zu werden. So wurden die Leistungen der Göttin-
ger Schule von uns, zum Teil wenigstens, nicht so geschätzt, als es ihrer großen Bedeutung
zukam, und wir gaben ihnen häufig nicht sogleich die Stelle, welche die Wissenschaft ihnen
sehr bald anwies.28
27 FLECK 1935/1980, 54-55. Vgl. dazu auch TOBIES 2010, 19-20; 2012.
28 KOENIGSBERGER 1919, 55.
8 1 Einführung
Klein blieb dem geometrischen Denkstil verhaftet, auch wenn er Methoden ande-
rer Richtungen in sein Konzept integrierte. Als fast 60-Jähriger akzeptierte er den
axiomatischen Denkstil, der sich in Deutschland vor allem mit David Hilbert
durchsetzte29. Klein hatte Hilberts neuen Ansatz in der Invariantentheorie geför-
dert, mochte sich aber zunächst seiner „abstrakten“ Zahlentheorie nicht anschlie-
ßen. Wir werden sehen, dass Kleins viel diskutierte „Arithmetisierungs“-Rede
(1895) zunächst gegen Hilberts neue „abstrakte“ Herangehensweise zielte, was
Klein später selbst als subjektiv qualifizierte (vgl. 6.3.7.3; 8.2.2; 8.3.2).
Im Unterschied zu MEHRTENs (1990) Zuordnungen von modern und gegen-
modern in der Mathematik scheint es mir möglich, bei Klein von einer besonderen
Art von Moderne zu sprechen, auf deren Basis sich Arbeitsrichtungen wie Nume-
rische Mathematik, Versicherungs- und Finanzmathematik u.a. entfalten konnten,
die auch in Gebiete wie Techno- und Wirtschaftsmathematik30 mündeten.
Um für mathematische Anwendungen in technischen Gebieten die erforderli-
che institutionelle und personelle Basis zu schaffen, bedurfte es neuer Finanz-
quellen, die Klein für Göttingen fand, orientiert an der Carl-Zeiss-Stiftung in Jena
und am US-amerikanischen Beispiel. Mitchel Ash entwarf ein wissenschaftshisto-
risches Konzept, das den Blick auf Ressourcen „finanzieller […] kognitiver, appa-
rativer, personeller, institutioneller oder rhetorischer Art“31 für Wissenschaftsent-
wicklung lenkt. Dieses Ressourcen-Konzept eignet sich, Kleins Bestreben zu ver-
stehen, Finanzmittel für Lehre und Forschung, für Apparate und Institute von al-
len verfügbaren Quellen (Staat, Industrie und Militärbehörden) zu nutzen. Umge-
kehrt kann das Interesse der Geldgeber an wissenschaftlichen Ergebnissen einge-
ordnet werden. Zugleich lässt sich Kleins Agieren als parteiloser Repräsentant der
Universität Göttingen im Herrenhaus (Erste Kammer des Preußischen Landtags),
sowie manche staatsnahe Rhetorik und Zustimmung zu Deklarationen während
des Ersten Weltkrieges großenteils damit erklären.
Cordula TOLLMIENs (1993) sorgfältige Analyse ermöglichte, Kleins Unter-
schrift unter den nationalistischen Aufruf an die Kulturwelt neu zu interpretieren.
Klein wie auch Max Planck u.a. kannten den Text zuvor nicht und bedauerten den
erzwungenen Rückzug von der internationalen Gemeinschaft. Weitere Quellen be-
legen Kleins eindeutige Verurteilung von nationalem Chauvinismus (vgl. 8.4).
Zu Kleins Zeit waren antisemitische Ansichten stark verbreitet. David ROWE
(1986) äußerte sich bereits grundsätzlich zu Kleins Haltung. Wir können dessen
Haltung auch unter dem Nutzen-Aspekt betrachten. Klein suchte jeweils nach der
für eine konkrete Aufgabe am besten geeigneten Person. Dabei engagierte er sich
für Befähigte unabhängig von Geschlecht, religiöser Zugehörigkeit oder Nation,
wozu Georg Pick (vgl. 5.5.2.4), Max und Emmy Noether, Adolf Hurwitz, Arthur
Schönflies, Gino Fano und viele weitere gehörten.
29 Vgl. auch Kleins Notizen zu den Hilbertschen Problemen von 1900 im Schlusskapitel 10.1.
30 Vgl. NEUNZERT/PRÄTZEL-WOLTERS 2015; FRAUNHOFER ITWM 2018.
31 Vgl. ASH 2002, 32; auch ASH 2016.
1.3 Editorische Bemerkungen 9
Dieser Abschnitt gibt Hinweise auf den Umgang mit den Quellen, die Zitierweise
und weitere editorische Aspekte.
Ausgehend von TOBIES (1981a) bot Emil Fellmann (Basel) bereits 1982 an,
eine große Klein-Biographie für seine Reihe Vita mathematica zu verfassen. Das
konnte damals nicht realisiert werden, weil erst Kleins umfangreicher Nachlass in
Göttingen studiert werden musste. David Rowe ermöglichte der Autorin einen
ersten vierwöchigen Studienaufenthalt dort 1985, sodass Teilergebnisse seit dieser
Zeit publiziert wurden. Die vorliegende Biographie basiert somit auf zahlreichen
Vorarbeiten.
Originalbriefe sind Dokumente mit dem höchsten Grad an Authentizität. Des-
halb wurden für das vorliegende Buch zahlreiche weitere Briefe von und an Felix
Klein studiert, und Klein soll im Buch möglichst oft selbst zu Wort kommen. Ein
Anliegen des Buches ist es, anhand bisher nicht benutzter oder kaum analysierter
Quellen Gründe für Entscheidungen aufzudecken, das Entstehen von Ansätzen zu
erkennen, zeitgenössische Argumente und Urteile zu präsentieren.
Felix Klein vernichtete bedauerlicherweise im Jahre 1878 die zuvor an ihn ge-
richteten Briefe. Um die frühe Zeit zu beurteilen, sind deshalb Kleins an anderen
Orten (Oslo, Paris, Pisa, St. Petersburg…) liegende frühe Briefe an die Korres-
pondenzpartner besonders wichtig. Darüber hinaus waren Unterlagen aus dem
Privatnachlass der Familie Meinolf Hillebrand, eines Urenkels Felix Kleins, Ma-
terialien vom Gymnasium in Düsseldorf, und weitere Privatnachlässe wertvoll.
Eine Übersicht über diese Primärquellen enthält das Verzeichnis der Archivalien
im Anhang.
In den Fußnoten enthaltene abgekürzte Quellen befinden sich in voller Länge
in der Bibliographie. Dabei verweisen in [eckige] Klammern gesetzte Quellen-
angaben auf Archivalien, in KAPITÄLCHEN gesetzte Autorennamen auf Literatur.
Einige Sekundärliteratur, die nur für den speziellen Kontext wichtig ist, wurde
vollständig in die jeweilige Fußnote und nicht extra in die Bibliographie auf-
genommen.
Zitate folgen dem Original. Dabei ist zu beachten, dass Texte aus den Zeit-
schriften (und Briefen) des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu den Texten, die in
die Gesammelten Mathematischen Abhandlungen (GMA) Kleins aufgenommen
wurden, aufgrund einer späteren Rechtschreibreform unterschiedlich gesetzt sind
(z.B. Function bzw. Funktion; Complex bzw. Komplex; definirt bzw. definiert;
nothwendig bzw. notwendig). Abkürzungen wie GMA oder DMV (Deutsche
Mathematiker-Vereinigung) u.a. sind im Abkürzungsverzeichnis am Ende des
Buches erklärt. Im laufenden Text des Buches sind manche Zitatauszüge kursiv
gesetzt. Das erfolgt aufgrund einer erwarteten besseren Lesbarkeit und basiert auf
keiner grundsätzlichen Regel. Hier orientiert sich die Autorin an ECKERT 2013.
Die Transkription kyrillischer Namen bleibt aufgrund der in den Quellen differie-
renden Schreibweisen uneinheitlich.
10 1 Einführung
Danksagungen
Arbeitsethos und weitere bestimmende Faktoren wurden Klein in die Wiege ge-
legt. Dabei speisten die väterliche und die mütterliche Seite verschiedene Gaben
ein. In diesem Urteil waren sich Felix Klein und sein Bruder Alfred einig.
Ein zäher Wille, nie nachlassender Fleiß, nüchterner Wirklichkeitssinn, unbedingte Zuverläs-
sigkeit und wohlbedachte Sparsamkeit – das sind die althergebrachten Eigenschaften dieses
harten deutschen Stammes, die auch in meinem Vater unverfälscht verkörpert waren.1
11
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_2
12 2 Prägende Gruppen
Weil Caspar Klein ein schwächliches Kind war, hatte er nicht das kärgliche Hand-
werker- und Bauernleben führen müssen. Er hatte sich mit 15 als Schreiber beim
Bürgermeisteramt der Enneper Straße verdingen können. Das Amt umfasste die
Gemeinden Haspe, Voerde (der Wohnsitz der Großeltern), Vorhalle, Waldbauer
und Westerbauer. Die Straße erstreckte sich zwei Meilen entlang des Flusses
Ennepe und war Ende des 18. Jahrhunderts von der preußischen Regierung zu
einer Heerstraße ausgebaut worden. An ihr lagen zahlreiche eisengewerbliche
Produktionsstätten. Mit dem Militärdienst gelangte Caspar Klein nach Düsseldorf,
wo er als Brigadeschreiber und Unteroffizier, 1829-1831, nebenher für die „Kö-
nigliche Regierung“ tätig war. Düsseldorf fungierte seit dem Wiener Kongress
(1815) als Regierungssitz der Rheinprovinz des Königreichs Preußen. Hier wurde
Felix Kleins Vater Civil-Supernumerar (Beamtenanwärter) und diente sich bis
zum Präsidial-Sekretär hinauf. Im Jahre 1845 übernahm er zusätzlich das Neben-
amt als Inspektor für die Schlösser Jägerhof und Benrath. Als Vertrauter der Re-
gierungspräsidenten, Adolph Theodor Freiherr von Spiegel-Borlinghausen und zu
Peckelsheim (von 1837 bis November 1849 im Amt) und Karl Friedrich Leo Frei-
herr von Massenbach (von 1850 bis 1866) stand Caspar Klein treu zum Königs-
haus. Während der Bürgerlichen Revolution 1848/49 saß er mit seiner Familie
ängstlich auf gepackten Koffern. Doch es passierte wenig, und seine Treue wurde
am 7. August 1850 mit dem Roten Adlerorden IV. Klasse belohnt.4 Ende 1853
In dieses Urteil bezog Felix Klein seine Mutter mit ein. Der Vater hatte im Alter
von 35, am 10. September 1844, die zehn Jahre jüngere Sophie Kayser geheiratet,
nachdem er eine Summe von 2000 Reichstalern angespart hatte.
Meine Mutter stammte aus ebenfalls zugewanderten Kreisen der Aachener Industrie. Sie war
heiterer Natur und von größerer Beweglichkeit der Auffassung als der Vater. Infolgedessen
waren ihre vielseitigen Interessen die Hauptquelle geistigen Lebens im Hause. Freilich war
mit dieser größeren Regsamkeit auch eine Neigung zu nervöser Erschöpfung verbunden, die
mir als ein Erbteil meiner mütterlichen Herkunft im späteren Leben häufig zu schaffen ge-
macht hat.7
Dieses Urteil Felix Kleins ergänzte sein Bruder Alfred: „Meine Mutter stellte die
Güte und Milde im Hause dar, sie besaß ausgeprägte pädagogische und spekula-
tiv-wissenschaftliche Interessen und ein großes Gedächtnis für Geschichtszahlen.“
Alfred Klein betonte zudem die geistige Regsamkeit beider Elternteile und deren
Aus der Ehe von Caspar und Sophie Klein gingen vier Kinder hervor. Felix Klein
wurde als zweites Kind in der Jägerhofstraße 11 in Düsseldorf geboren. Sein
Geburtsdatum, der 25. April 1849, setzt sich aus den Quadraten der Primzahlen 5,
2 und 43 zusammen, was er gern selbst zum Besten gab. Die Eltern prophezeiten
ihm mit der Wahl des Vornamens (lat. felix, felcis) „vom Glück begünstigt“ zu
sein. Er wurde mit leichter Auffassungsgabe und auch „einem fröhlichen Humor
seiner rheinischen Heimat“ ausgestattet, die man ihm nach den ersten drei Worten
lebenslang habe anhören können.12
Felix Kleins ältere Schwester Aline Leonore (*19.8.1847) heiratete am 1. Mai
1869 den Unternehmer August Hermann Flender, dessen erste Frau nach kinderlo-
ser sechsjähriger Ehe im Jahre 1867 verstorben war. Flender gründete Eisenfabri-
ken in Düsseldorf und Benrath und hinterließ nach frühem Tode, am 3. Januar
1882, ein beträchtliches Vermögen. Seine Schöpfungen lebten fort in Aktienge-
sellschaften wie Brückenbau Flender sowie Balcke, Tellering & Co. zu Benrath.13
In der Ehe von Aline und August Flender wurden acht Kinder geboren, vier Söhne
und vier Töchter. Von diesen sei nur die an dritter Stelle geborene Hermine Adol-
fine Leonore (*2.3.1873, †28.8.1912) hervorgehoben, weil sie Felix Kleins Dok-
torschüler Robert Fricke heiratete, nachdem dieser zum 1. April 1894 eine Profes-
sur an der Technischen Hochschule Braunschweig erhalten hatte.
Felix Kleins erwähnter Bruder Alfred, am 15. Oktober 1854 geboren, stu-
dierte Jura, erwarb den Doktortitel und den Titel Justizrat. Am 25. April 1880 ließ
er sich als Rechtsanwalt in Düsseldorf nieder.14 Aus dessen erster Ehe mit Magda
Schulz (*12.9.1865, †24.5.1893) entstammten zwei Kinder, aus der zweiten mit
Helene Portig (*30.10.1873) vier Kinder. Die Briefe von Alfred an seinen Bruder
Felix dokumentieren ein gutes Verhältnis. Alfred Klein pflegte u.a. den Kontakt
mit Felix Kleins Sohn, als dieser in den USA lebte. Er beriet seinen Bruder in ju-
ristischen Dingen, z.B. bei der Anlage eines Testaments: „Ein gemeinschaftliches
ist nach meinem Dafürhalten einfacher und genügt vollkommen Deinen Wün-
schen.“15 Alfred Kleins kaisertreue Haltung lässt sich aus seinen ängstlichen Wor-
ten über den anarchistischen Charakter der Novemberrevolution 1918 und über
die Spartakisten deuten: „Mein lieber Felix! […] Mich hat seit dem 15/10 der Pes-
simismus erfasst; ich sehe sehr schwarz in die Zukunft. Wir haben hier ja reiche
Gelegenheit, den Wahnsinn der Spartakisten zu geniessen.“16
Die jüngere Schwester Eugenie (*20.1.1861, †30.1.1910) blieb unverheiratet.
Sie übte eine Tätigkeit als Krankenschwester, Johanniterin und Vorstandsdame im
evangelischen Krankenhause in Düsseldorf aus und fand nebenher Zeit, ihre
Nichten auf große Reisen mitzunehmen, wie Alfred Klein 1910 überlieferte. Das
Erinnerungsfoto von Felix Kleins Silberhochzeitsfeier im August 1900 zeigt 15
Personen, darunter seine Geschwister Eugenie und Alfred. (Vgl. Abschnitt 3.6.3)
Im Lesen, Schreiben und Rechnen durch seine Mutter vorgebildet, wurde Felix
Klein als Sechsjähriger für 2,5 Jahre in eine private Elementarschule geschickt
und zum Herbst 1857 in das achtklassige Gymnasium Düsseldorfs. Dieses heutige
Görres-Gymnasium17 ist eines der ältesten Gymnasien im deutschen Sprachraum,
dessen Geschichte bis in das Jahr 1545 zurückreicht. Kleins Bonner Professor
Julius Plücker absolvierte hier 1819 die Reifeprüfung. Zu Kleins Schulzeit befand
sich das Schulgebäude in der Alleestraße (heutige Heinrich-Heine-Straße).
Nach einem durch Wilhelm von Humboldt initiierten Erlass vom 12. Novem-
ber 1812 war Gymnasium im Königreich Preußen eine amtliche Bezeichnung für
unmittelbar zur Universität entlassende Schulen. Das waren humanistische Gym-
nasien mit Dominanz der alten Sprachen. Daneben entstanden im 19. Jahrhundert
Realgymnasien (nur Latein als alte Sprache) und Oberrealschulen (stärker natur-
wissenschaftlich und neusprachlich orientiert). Die Abgänger der jüngeren Typen
durften nicht jedes Fach studieren; in Sachsen erhielten sie noch in den 1880er
Jahren keine Erlaubnis zur Habilitation.18 Felix Klein sollte maßgeblich beitragen,
dass im Jahre 1900 die Gleichwertigkeit der drei nebeneinander bestehenden Ar-
ten höherer Knabenschulen verfügt wurde (vgl. Abschnitt 8.3.4.2).
Das Kgl. Gymnasium Düsseldorf stand seit 1844 unter Leitung des promo-
vierten Historikers Karl Kiesel, der Lehrbefähigungen für die Fächer Geschichte,
Geographie, klassische Sprachen, Hebräisch, Deutsch, philosophische Propädeu-
tik für alle Klassenstufen sowie für Mathematik bis zur mittleren Stufe besaß.19
Klein beschrieb seinen Gymnasialdirektor als strengen hervorragenden Pädago-
gen; dieser bewertete Kleins griechische Abiturarbeit. Nach acht Schuljahren,
zwei davon in der obersten Klasse (Prima), erwarb Felix Klein das Zeugnis der
Reife.20 Die Urteile der Lehrer und seine eigenen späteren Kommentare zum
Gymnasialunterricht erhärten die Ansicht, dass das im Elternhaus vorgeprägte
Ethos harten fleißigen Arbeitens hier vertieft wurde.
Die Mühe ist also der einzige Weg, auf welchem der Mensch zur Empfindung seines Glückes
gelangen kann. (Klein 1865)
Dies schrieb Felix Klein als Quintessenz seines Abituraufsatzes in Deutsch zum
Thema Des Lebens Mühe lehrt allein des Lebens Güter schätzen. Er schloss mit
den Worten: „So sind nicht diejenigen die Glücklichsten, welche, im Schoße des
Ueberflusses geboren, von Jugend auf im vollsten Besitze alles Wünschbaren ge-
lebt haben, sondern diejenigen, welche allmählich im harten Kampfe mit den Mü-
hen des Lebens von Stufe zu Stufe emporgeklommen sind.“ Der Abiturient Felix
Klein nahm auf den Bibel-Spruch Bezug und ergänzte noch: „Ja, ist ein Leben
köstlich gewesen, so ist es, wie der Psalmist sagt, Mühe und Arbeit gewesen.“
Das Aufsatzthema war von August Uppenkamp gestellt worden, der wie
Kleins Familie aus Westfalen stammte. In Münster 1847 promoviert, war Uppen-
kamp seit 1851 Oberlehrer am Gymnasium in Düsseldorf, später auch Direktor
dieser Schule.21 Sein Urteil über Kleins Aufsatz lautete: „Das Thema ist im We-
sentlichen richtig durchgeführt, die Sprache ist zwar ohne Schmuck, aber hinläng-
18 Vgl. dazu Felix Kleins Engagement an der Universität Leipzig, Abschnitt 5.4.1.
19 [BBF] Personalblatt.
20 [Gymnasium Düsseldorf] Reifezeugnis; schriftliche Abiturarbeiten Felix Kleins 1865. Nach
den Schulakten absolvierten alle Abiturienten 1865 die Prima zweimal; einer sogar dreimal.
21 [BBF] Personalblatt.
2.2 Schulzeit in Düsseldorf 17
lich correct. Kl.’s frühere Aufsätze waren in der Regel noch etwas besser. Befrie-
digend.“ Uppenkamp, auch für Latein zuständig, belohnte Kleins Leistung in die-
sem Fach (Übersetzung und Aufsatz) mit gut, wobei im Aufsatz eine Sentenz von
Cicero zu behandeln war: „In omnibus saeculis pauciores viri reperti sunt, qui
suas cupiditates, quam qui hostium copias vincerent.“ (Zu allen Zeiten fand man
weniger Männer, die über ihre Begierden wie über feindliche Heere obsiegten.)22
In Evangelischer Religionslehre war das folgende Thema gestellt worden:
Was lehrt uns die heilige Schrift über die Person des Heilands? Hugo Deussen,
seit 1864 Religionslehrer am Gymnasium und an der Realschule in Düsseldorf
und zugleich Hilfsprediger der dortigen evangelischen Gemeinde,23 begleitete die
erteilte Note befriedigend für Kleins Arbeit mit folgenden kritischen Worten:
In vorliegender Arbeit wäre allerdings ein genaueres Eingehen auf den Lehrinhalt der h.
Schrift über die Person unseres Heilandes zu wünschen gewesen, während manches andere,
wie z.B. die Sinnlosigkeit Jesu, eine kürzere Fassung gefordert hätte. Ebensowenig war es am
Platze, eine Vertheidigung dessen, was die Schrift uns lehrt, zu geben. Ein wesentlicher Man-
gel dieser Arbeit ist es auch, daß die praktische Bedeutung der dargestellten Lehre gar nicht
hervortritt, worauf doch schon die Worte des Themas „unseres Heilands“ hinwiesen. Auch in
dem Ausdrucke wäre eine größere Klarheit sowie strengere Ordnung in der Darstellung
nöthig gewesen.
Kleins schriftliche Arbeit in Hebräisch beurteilte Lehrer Krahe – der nicht näher
identifiziert werden konnte – mit gut. Ebenso fiel die Arbeit im Französischen
aus: nur „wenige und geringe Versehen“, wobei das Thema „Victoire de Sobieski
à Lemberg“24 auf den kriegerischen Unterrichtsinhalt deutet. Die Sprachkennt-
nisse sollten Klein das spätere Studium in Paris und die Korrespondenz mit fran-
zösischen, italienischen, russischen u.a. Kollegen erleichtern.
Das Abiturzeugnis enthielt Worturteile über die erworbenen Kenntnisse in
neun Fächern (Tab. 1) und bescheinigte hinsichtlich sittlicher Aufführung und
Fleiß im Allgemeinen: „K.[lein] hat leicht und mit frohem Sinne gearbeitet, für
den Unterrichtsstoff große Theilnahme bewiesen, sich stets sehr gesittet verhalten
und in Betreff seiner ferneren Bestrebungen sehr günstige Erwartungen erregt.“
Die Lehrer wählten nur die Noten Gut und Befriedigend für Felix Kleins
Leistungen, wobei offensichtlich deutlich strenger als heute bewertet wurde. Das
humanistische Gymnasium vermittelte ein Bildungsgut, in welchem die logisch-
grammatikalische Seite betont und das Gedächtnis trainiert wurde. So erinnerte
sich Klein in seiner Autobiographie 1923 an Freude und Genugtuung, nachdem er
Strophen aus Schillers Kraniche des Ibykus fehlerlos in griechische Verse über-
tragen hatte, bezweifelte allerdings, ob er dabei Inhalt und poetischen Wert des
Gedichtes voll erfasst habe. Es sei eine ungeheure Stoffmenge ohne lebendige
Anschaulichkeit behandelt worden. Poesie, Kulturgeschichte, Volkstum usw. habe
gefehlt:
Man war eben der Ansicht, daß der Schüler am besten erzogen würde, wenn er sich in harter
Arbeit durch einen spröden widerspenstigen Stoff hindurchringen müsse. Wenn auch bei die-
ser Methode die Phantasie und jedes künstlerische Empfinden leer ausgingen und uns viel
wahres Bildungsgut vorenthalten blieb, so wurde uns doch eine wertvolle Fähigkeit übermit-
telt: Wir lernten arbeiten und nochmals arbeiten.25
27 Niels Hendrik Abel lieferte 1824 den ersten vollständigen Beweis. – Basierend auf der Ga-
loistheorie gaben George Paxton Young und Carl Runge ein explizites Kriterium dafür, ob
eine gegebene Gleichung 5. Grades mit Wurzeln lösbar ist.
28 Nach FISCHER 1985, 465.
29 Vgl. KLEIN 1923a, 13.
30 Vgl. die vier Modelle zur Theorie der Linienkomplexe zweiten Grades, KLEIN 1922 GMA II,
7-10; auch die Abschnitte 2.3.4; 2.7.2 im vorliegenden Buch.
31 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 11.3.1871.
20 2 Prägende Gruppen
Robert Luther war seit 1851 Direktor der Sternwarte Bilk bei Düsseldorf.34 Er
entdeckte von 1852 bis 1865, Kleins Abiturjahr, 14 Asteroiden, zehn weitere noch
bis 1890. Luther führte Bahnberechnungen durch und erlangte internationale Eh-
rungen. Klein sollte später in Göttingen nicht nur die gute Besetzung der Astro-
nomie, sondern auch das Einrichten von (Schul-)Sternwarten im Auge haben.
Ein anderer Mitschüler Kleins, Adolph Kirdorf, erreichte eine Karriere in der
Montanindustrie. Klein konnte ihn im Jahre 1894 für ein Comité gewinnen, um
naturwissenschaftlich-technische Forschungen zu fördern (vgl. 7.8). Schon bei
seinen frühen Fabrikbesichtigungen interessierte Klein „das Naturwissenschaftli-
che im weitesten Sinne, vom rein Gedanklichen bis in das virtuos Technische hin-
ein“, weniger die kaufmännische Seite von Unternehmen.35 Hier ordnet sich ein,
dass er im Jahre 1916 den Beitritt der Göttinger Vereinigung zum Verband tech-
nisch-wissenschaftlicher Vereine ablehnen sollte, weil dieser Verband vornehm-
lich wirtschaftspolitische Interessen von Unternehmen durchzusetzen gedachte.
Auf Kleins Abiturzeugnis ist vermerkt, dass er sich dem Studium der Mathe-
matik und Naturwissenschaften widmen wird. Die Abitur-Prüfungskommission
entließ ihn „unter der höheren Voraussetzung, daß er in fortgesetzter Hingebung
an seine Aufgabe sich die Mittel zu nützlicher und edler Wirksamkeit erwerben
werde.“ Er wählte die nächstgelegene Universität Bonn, die damals die einzige
Universität im heutigen Gebiet Nordrhein-Westfalens war.
32 KLEIN 1923a, 12; vgl. hierzu auch Abschnitt 9.2.3 im vorliegenden Buch.
33 Ebd., 13-14.
34 Bilk ist heute Stadtteil von Düsseldorf. Zu Luther vgl. auch NDB, Bd. 15 (1987) 561-62.
35 KLEIN 1923a, 14.
2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn 21
36 1544 als protestantische Universität von Herzog Albrecht von Brandenburg-Ansbach gegrün-
det; preußisch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, heute Kaliningrad (Russland).
37 1811-1945 Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität; seit 1946 polnische Uniwersytet
Wrocławski.
38 SYBEL 1868, 101; zur Gründungsgeschichte vgl. BECKER 2006.
39 Zum Mathematiklehrerberuf im 19. Jahrhundert vgl. SCHUBRING 1983; 1991.
40 [UA Bonn] Abgangszeugnis F. Kleins.
41 Vgl. KRAUS 2015, und Kraus in FREUDENSTEIN 2016, 102-104.
42 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 26.8.1872.
22 2 Prägende Gruppen
43 Die Angabe der Jahreszahl ist nichttrivial; GRAY 2013 (p. 88) lässt Plücker 1871 sterben, was
den Weg von Felix Klein anders hätte verlaufen lassen.
44 [UABonn] Immatrikulationsbuch AB-07, WS 1864-1872.
45 [BBF] Personalblätter. – Zu Wüllners Behandlung der Infinitesimalrechnung in Lehrbuch der
Experimentalphysik (61907, Teubner Leipzig) vgl. KLEIN 31924, 234.
46 BBF, Personalblatt; KÖSSLER 2008, Band: Saage – Szymanski, S. 18. Sagorski, E.: Analy-
tisch-geometrische Untersuchungen. Naumburg 1875; FLÖTER 2009, 235f.
47 SCHUBRING 1985, 11, gibt 1825 als Gründungsjahr an.
48 [Nachlass Hecke] Vorlesung Kleins 1910/11, 246-47.
49 Vgl. SCHUBRING 1989a, 210. – Kryptogamen (griech. kryptos verborgen, heimlich; gamein
heiraten) sind Pflanzen, die sich im Rahmen von Generationswechsel und ohne Blüten ver-
mehren (z.B. Algen, Moose, Farne, Flechten, Pilze).
2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn 23
Im ersten Semester studierte Klein thematisch breit und besuchte typische Anfän-
gerkurse (Tab. 3): Experimentalphysik bei Julius Plücker, Analytische Geometrie
bei Rudolf Lipschitz und Differentialrechnung beim Privatdozenten Franz Geh-
ring – den er allerdings als „sehr konfus“ beurteilte.51 Klein belegte Logik beim
Extraordinarius für Katholische Theologie Joseph Neuhäuser, dessen Schwer-
punkt vor allem antike Philosophie (Anaximander, Aristoteles) war. Für Astro-
nomie hatte sich Klein schon als Gymnasiast interessiert; er hörte nun bei Arge-
lander, auf den der Bau der Bonner Sternwarte 1837 zurückgeht und der auch
beim Bau der Sternwarte in Bilk (Düsseldorf) beraten hatte. Argelanders Vorle-
sungsthema, die von Gauß und Legendre entwickelte Methode der kleinsten
Quadrate, integrierte Klein später in die Fakultas für angewandte Mathematik
(vgl. Abschnitt 8.1.2), als er selbst Lehrinhalte bestimmen konnte. Klein hörte zu
Beginn auch eine Goethe-Vorlesung beim Kunsthistoriker Anton Springer.52
Die Lehre war in zwei Kategorien eingeteilt: Privat-Vorlesungen mussten be-
zahlt werden. Öffentliche Veranstaltungen waren kostenfrei.53
WS 1867-68
1) Landolt: Chemisches Practicum 1) Lipschitz/Plücker:
Mathematisches Seminar
2) PD Dr. Eduard Ketteler:
Interferenz-Erscheinungen
SS 1868
1) Lipschitz: Differentialgleichungen 1) Gehring: Variationsrechnung
2) Lipschitz/Plücker54:
Mathematisches Seminar
WS 1868-69
1) Lipschitz: Zahlentheorie („gratis nach § 20“)55 1) Prof. Dr. Gustav Radicke56:
Analytische Statik
2) PD Dr. Ernst Pfitzer:
Über parasitische Pilze.
In seiner Vita verwies Klein auch auf eine Vorlesung von Karl Gustav Bischof,57
einem der Mitbegründer der Geochemie in Deutschland. Hiervon könnte sein In-
teresse für Geowissenschaften beflügelt worden sein, für deren Aufbau er später
in Göttingen sorgen sollte. Die Breite des Studiums zielte darauf, Lehrbefähigun-
gen in möglichst vielen Gebieten zu erhalten. Wenn Klein auch bei dem Chemiker
Hans Landolt, beim Mineralogen und Geologen Johann Jacob Nöggerath, beim
Zoologen Franz Hermann Troschel und beim Botaniker Johannes von Hanstein
teilnahm, so übte doch Julius Plücker den nachhaltigsten Einfluss auf ihn aus. Be-
reits im ersten Semester hatte Plücker über Kleins Vorträge zu physikalischen
Themen geurteilt: „Durch Talent, Kenntnisse und Fleiss ragte vor allen anderen
Mitgliedern des Seminars Klein hervor.“ „Ein eminentes Talent für mathemati-
sche Physik sowohl, als für Experimentalphysik legte Klein an den Tag.“58
Dass der Lehrbetrieb für Mathematik und Physik weniger gut entwickelt war
als der für beschreibende Naturwissenschaften, basierte auf Plückers Doppelbe-
lastung sowie auf Animositäten zwischen Plücker und Lipschitz.59 Als Lipschitz
mit Amtsantritt 1864 als Professor für „reine“ Mathematik ein Mathematisches
Seminar beantragte, bremste Plücker, weil der in Berlin sozialisierte Analytiker
Lipschitz nicht sein Wunschkandidat gewesen war. Plücker hätte lieber den ihm
mathematisch näher stehenden Alfred Clebsch auf dem Lehrstuhl gesehen, mit
dem er gerade auf der 39. Naturforscherversammlung 1864 in Gießen über sein
aktuelles Forschungsfeld „Über eine neue Auffassung des Raumes vermöge der
Geraden als Raumelement“ diskutiert hatte.60
Plücker unterließ anfangs jeden Kontakt mit Lipschitz – was auf Klein nicht
ohne Wirkung blieb. Gemäß Vorschlag des Bonner Universitätskurators entstand
schließlich doch ein Mathematisches Seminar mit zwei Abteilungen. Das preußi-
sche Kultusministerium verfügte mit Erlass vom 4. Oktober 1866 einen jährlichen
Zuschuss von 220 Talern und übertrug Plücker und Lipschitz die Leitung. Beide
boten ab Winter 1866/67 gesonderte Übungen an, die Klein besuchte. Ein Bericht
des Universitätskurators vom 16. Dezember 1867 lässt erkennen, dass Klein hier
in Plückers neueste Forschungen eindringen konnte, während Lipschitz aufgrund
unzureichender Vorbildung der Teilnehmer sein Niveau hatte reduzieren müssen:
Professor Plücker wählte im Wintersemester 1866/67 zum Gegenstande der Uebungen, in
dem er die Bekanntschaft mit den Elementen der analytischen Geometrie voraussetzte, das
Prinzip der Reziprozität. Der Hauptgesichtspunkt hierbei war der Parallelismus zwischen ge-
ometrischer und analytischer Behandlungsweise. Im Sommersemester 1867 verteilte derselbe
die Uebungen auf zwei Stunden wöchentlich. In einer Stunde behandelte er für die Geübteren
eines der wichtigeren Kapitel der neueren analytischen Geometrie: „Die Bedeutung der An-
zahl der Konstanten in den Gleichungen der algebraischen Kurven und Oberflächen“. In der
zweiten Stunde diskutierte er die analytische Darstellung der geraden Linie im Raume, in den
beiden Fällen, wo sie durch Punkte, welche auf derselben liegen, oder durch Ebenen, welche
57 Dissertation, Exemplar UB Bonn; Klein erwähnte Bischof ebenfalls in der Vita zum Habili-
tationsantrag, publiziert in TOBIES 1999a, 85.
58 Zitiert nach SCHUBRING 1989a, 210.
59 Vgl. Gründungsgeschichte des Math. Seminars ERNST 1933, 33-37; SCHUBRING 1985.
60 Vgl. TOBIES/VOLKERT 1998, 236.
26 2 Prägende Gruppen
nach derselben sich schneiden, bestimmt wird. Er betrachtete diese Diskussion als erste Ein-
leitung in eine neue Geometrie des Raumes, wobei als Element desselben eine gerade Linie
genommen wird. –
Professor Lipschitz bildete zwei Kurse und richtete für jeden Kurs wöchentlich eine Stunde
ein. Es war beabsichtigt, in dem niedern Kurse eine elementare Begründung der Konvergenz-
sätze für die Potenzreihen zu entwickeln. Allein die Kenntnisse, welche die Mehrzahl der
Teilnehmer von dem Gymnasium mitbrachte, waren so mangelhaft, daß nichts übrig blieb, als
eine Stufe herabzusteigen und den binomischen Lehrsatz mit ganzen positiven Exponenten,
die Grundlagen der Rechnung mit gebrochenen Potenzen und Exponentialgrößen in einer
Folge von Aufgaben zu behandeln. Erst im zweiten Semester wurde der ursprüngliche Plan
ausgeführt. In dem höheren Kurse wurde während des ersten Semesters die Theorie der Sys-
teme von linearen Differentialgleichungen namentlich mit konstanten Koeffizienten schritt-
weise entwickelt. Hieran schloß sich im zweiten Semester die Anwendung der Lehre von den
Funktionaldeterminanten auf Systeme von Differentialgleichungen. Ueberall ging das Bestre-
ben dahin, den Zusammenhang der angedeuteten analytischen Probleme mit den entsprechen-
den Problemen der Mechanik lebendig zu machen.61
Wie Gert Schubring herausfand, genehmigte das Ministerium 85 Taler pro Semes-
ter für Seminar-Prämien und 50 Taler pro Jahr für eine Handbibliothek. Felix
Klein erhielt drei Semester lang eine Seminarprämie.62 Der Vergleich mit ähnli-
chen Seminarprämien an der Universität Berlin (vgl. Abschnitt 2.5.1) zeigt, dass
das Ministerium dafür Leistungsbeurteilungen einforderte.
Erst in Kleins letztem Studienjahr entstand in Bonn am 9. März 1868 ein ma-
thematisch-naturwissenschaftlicher Studentenverein (Marsia). Klein trat diesem
Verein bei und wird noch heute als dessen besonderes Mitglied aufgelistet.63 Er
traf hier u.a. Friedrich Neesen, der ein langjähriger Freund werden sollte (vgl.
Abschnitt 2.8.3.2). Derartige Studentenvereine existierten damals ebenfalls in
Greifswald, Breslau, Berlin und Halle.64
Als Julius Plücker zum Sommersemester 1866 einen neuen Assistenten für seine
Vorlesung Experimentalphysik benötigte, wählte er Felix Klein. Dieser schrieb in
seiner Vita zur Dissertation: „Es wurde mir das Glück zu Theil, mit einem der
bedeutendsten Vertreter dieser Wissenschaften [Mathematik und Physik] Herrn
Geh. Regierungsrath Professor Dr. Plücker in nähere Verbindung zu kommen, der
mir während zweier Jahre das Amt eines Assistenten an dem physikalischen In-
stitute zu Bonn übertrug und mich zur Theilnahme an seinen mathematischen Ar-
beiten heranzog, – bis der Tod, den 22. Mai 1868, das schöne Verhältnis löste.“65
Plücker hatte in Bonn, Berlin, Heidelberg und Paris studiert, sich in Bonn
1825 habilitiert, wo er drei Jahre später a.o. Professor wurde. Nach Zwischensta-
tionen in Berlin und Halle hatte er in Bonn 1835 das Ordinariat für Mathematik
übernommen, 1836 zusätzlich das Physik-Ordinariat. Zu seinen bedeutsamen phy-
sikalischen Entdeckungen gehörte die Erscheinung des Kristallmagnetismus
(1847) sowie die Entladungsspektren verdünnter Gase unter Magneteinwirkung
(1857). Plücker erkannte, dass jedes Gas sein eigenes charakteristisches Spektrum
besitzt und beobachtete die drei ersten Wasserstofflinien. Er schuf damit eine Ba-
sis für die moderne Spektralanalyse und gemeinsam mit dem Glasbläser und In-
strumentenbauer Heinrich Geisler Grundlagen für die moderne Vakuumtechnik.
Es verwundert nicht, dass der junge Klein an einen Weg in die Physik dachte.
Diese Idee wurde erhärtet, als er eine Preisaufgabe zum Thema „Aetherschwin-
gungen“ löste, die Plücker im Wintersemester 1867-68 anlässlich des bevorste-
henden 50-jährigen Universitätsjubiläum formuliert hatte.66 Zwar sind Kleins
Preisarbeit oder ein Gutachten darüber nicht erhalten, aber aus seiner beim Habi-
litationsverfahren eingereichten Vita geht hervor, dass „eine historisch-kritische
Behandlung der Frage nach der Richtung der Schwingungen im polarisierten
Lichte“ verlangt worden war.67 Hierzu passt, dass Klein 1867/68 Eduard Kette-
lers68 Vorlesung Interferenzerscheinungen belegte.
Die Auszeichnung für studentische Preisaufgaben erfolgte am letzten Tag der
Feierlichkeiten zum Universitätsjubiläum, das vom 1. bis 4. August 1868 began-
gen wurde. Zwar konnte der verstorbene Plücker der Ehrung seines Schützlings
nicht mehr beiwohnen, aber der Kreis der Anwesenden war bemerkenswert. Der
19-Jährige begegnete Personen, die für ihn später wichtig werden sollten. Es sei
erwähnt, dass Karl Weierstraß zu den „akademischen Deputirten“ gehörte.69 Er
überreichte als Repräsentant der Berliner Akademie eine Grußadresse, die von
weiteren Akademie-Mitgliedern, darunter die Mathematiker Ernst Eduard Kum-
mer und Leopold Kronecker, mit unterzeichnet worden war. Felix Klein sollte
sich bald, im WS 1869/70, auf den Weg begeben, um seine Studien bei dem Ber-
liner „Dreigestirn“ fortzusetzen (Abschnitt 2.5). Die Universität Erlangen hatte
den Historiker Karl Hegel delegiert. Dieser konnte hier seinen späteren Schwie-
gersohn Felix Klein im Rampenlicht wahrnehmen (vgl. Abschnitt 3.6.2).
Die Veranstaltung am 4. August 1868 begann um 11.00 Uhr in Bonns evange-
lischer Kirche und wurde mit Carl Maria von Webers eben komponierter Jubel-
Ouvertüre (op. 59) eröffnet.70 Nach einer in Latein gehaltenen Rede von Friedrich
Heimsoeth, klassischer Philologe, Musikwissenschaftler und Kunsthistoriker,
wurden neun Studenten geehrt: einer von der katholisch-theologischen Fakultät,
zwei von der evangelisch-theologischen Fakultät, einer von der medizinischen
Fakultät sowie fünf von der Philosophischen Fakultät, wobei letztere eine philo-
sophische, zwei chemische, eine physikalisch-theoretische und eine philologische
Preisarbeit betrafen. Der erwähnte Ernst Sagorski wurde für eine Aufgabe aus der
Chemie ausgezeichnet; danach folgte Felix Klein für theoretische Physik.
Letzter der geehrten Studenten war Otto Lüders, der die sog. „Welcker’sche
Preisaufgabe“ bearbeitet hatte. Der klassische Philologe und Archäologe Friedrich
Gottlieb Welcker (†17.12.1868) hatte seit 1819 in Bonn beigetragen, ein liberales
Klima zu prägen, und der geehrte Student Lüders trat in dessen Fußstapfen. Über
die enge Freundschaft zwischen Lüders und Ulrich von Wilamowitz-Moellen-
dorff, der seit 1867 ebenfalls in Bonn studierte, lässt sich ein Bogen zu Felix
Klein spannen. Wilamowitz-Moellendorff hatte ausgehend von Platon auch klas-
sische mathematische Texte im Blick.71 Klein gewann mit ihm einen Bündnispart-
ner bei späteren Göttinger Reorganisationsplänen (vgl. Abschnitt 6.4.3).
Direkt im Anschluss an die Preis-Vergabe für die Studenten wurden Eh-
rendoktorate verliehen. Die Auswahl der Personen deutet auf das erwähnte libe-
rale Klima und auf ein ungewöhnlich emanzipiertes Denken der Entscheidungs-
träger. Zu den Ehrendoktoren gehörte Charles Darwin, dessen Hauptwerk On the
Origin of Species erstmals 1859 publiziert und bereits 1860 in deutscher Überset-
zung erschienen war. Darwins heftig umstrittene Evolutionstheorie war in
Deutschland viel günstiger aufgenommen worden als in anderen Ländern und
hatte bereits in den 1860er Jahren mit Ernst Haeckel in Jena einen nachhaltigen
Förderer gefunden.72 Klein entwickelte früh ein waches Verständnis für neue
naturwissenschaftliche Theorien. Kein Wunder, wenn sich später Biologen an ihn
wandten, damit er ihre Interessen unterstützt. (Vgl. Abschnitte 4.3.3 und 8.3.4)
Die Ehrendoktorwürde erhielten zudem der in Paris tätige Optiker und Mikro-
skopbauer Eduard Hartnack sowie der Glasbläser und Instrumentenbauer Heinrich
Geissler, der mit Julius Plücker kooperiert hatte. Klein mag bereits erkannt haben,
dass gute Universitätsmechaniker eine Voraussetzung für Ergebnisse in ange-
wandten Bereichen sind; später unterstützte er eine neue Fachschule für Feinme-
chanik (vgl. Abschnitt 8.1.1). Weiterhin wurden Chemiker wie August Wilhelm
Hofmann und August Kekulé anlässlich des Bonner Universitätsjubiläums geehrt.
Kekulé war 1867 von Gent (Belgien) nach Bonn gewechselt, wo damals neben
dem Poppelsdorfer Schloss (in dem Felix Klein als Student wohnte und auch das
erste chemische Institut untergebracht war) das weltweit größte chemische Institut
entstand. Bonner Ehrendoktoren wurden gleichfalls der liberale britische Philo-
soph und Ökonom John Stuart Mill, ein Sozialreformer und Förderer der Frauen-
emanzipation; der französische Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur, der
71 Zum Beispiel promovierte Eva Sachs bei Wilamowitz mit De Theaeteto Atheniensi Mathema-
tico (1914) und publizierte „Die fünf platonischen Körper. Zur Geschichte der Mathematik
und der Elementarlehre Platons und der Pythagoreer“. In: A. Kiessling/U. v. Wilamowitz
(Hg.), Philologische Untersuchungen 24 (1917). Berlin.
72 HOßFELD/OLSSON 2009; HOßFELD/LEVIT/OLSSON 2016. – Darwins Sohn George Howard
Darwin arbeitete als Astronom mit mathematischen Methoden. Klein gewann ihn als Autor
für die ENCYKLOPÄDIE, Bd. VI.
2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn 29
Geograph August Heinrich Petermann, sowie die aus jüdischen Familien stam-
menden Botaniker Nathanael Pringsheim und Julius Sachs, u.a.
Betrachten wir diese Ehrungen mit den Augen des jungen Felix Klein, so
könnten hier Funken für Ansichten, Ideen, Pläne entfacht worden sein: Anregun-
gen dafür, immer die Nachbargebiete mit im Auge zu behalten sowie neu auf-
kommenden Disziplinen und Theorien mit Interesse zu begegnen; Motivation da-
für, Begabte unabhängig von Nation, Religion und Geschlecht wertzuschätzen.
Plücker war 1863, bei seiner Teilnahme an der Jahrestagung der British Associa-
tion for the Advancement of Science, durch James Joseph Sylvester angeregt wor-
den, sich wieder stärker der Mathematik zu widmen. Plücker hatte, wie erwähnt,
1864 in Gießen Ergebnisse präsentiert sowie auch in Großbritannien und Frank-
reich mathematische (Holz-)Modelle vorgestellt.74 Die Royal Society of London
verehrte ihm 1866 ihre höchste Auszeichnung, die Copley-Medaille.75 Die Acadé-
mie des Sciences in Paris ernannte Plücker 1867 zu ihrem korrespondierenden
Mitglied. Auch zu Cremona in Mailand gewann Plücker 1867 guten wissen-
schaftlichen Kontakt. Klein sollte von diesen Kontakten profitieren.
Der „Arbeitsunterricht“, den Plücker mit seinem Assistenten pflegte, umfasste
sowohl Einblicke in die Rolle und den Bau von Modellen als auch die Mitarbeit
an Plückers Buch zur Liniengeometrie. Diese Geometrie basierte auf der geraden
Linie als Raumelement und vereinte drei Aspekte: einen rein geometrischen, ei-
nen mechanischen und einen optischen (auf Brechung und Lichtreflexion basie-
renden).76 Wie aus Briefen von Plücker an Klein hervorgeht, wünschte Plücker
seinen Assistenten im Oktober 1867 frühzeitig, vor Semesterbeginn, nach Bonn
zurück, um mit ihm letzte Arbeiten am Band 1 seiner Liniengeometrie „in Ord-
nung zu bringen“. Klein wurde um die Durchsicht von Korrekturbögen ersucht.
Am 25. April 1868 bat ihn der schon schwerkranke Plücker noch einmal zu sich.77
Kleins Konzentration auf diesen einen Gegenstand hatte offensichtlich Vor-
und Nachteile. Der Nachteil lag im begrenzten Studienumfang und in der anfäng-
lich zu engen Bindung an eine Schule. Der Vorteil bestand in der früh gewonne-
nen Fähigkeit zu eigener kreativer mathematischer Tätigkeit, verbunden mit ei-
nem tiefen Eindringen in ein relativ neues Themenfeld, das international mit For-
schern in Frankreich, Großbritannien und Italien verknüpft war. Klein fühlte sich
schnell einer Denkgemeinschaft zugehörig, die „Neues“ durchzusetzen suchte. Er
betonte das Glück, von Plücker „[…] in die Anschauungsweisen der neueren Ge-
ometrie eingeführt, so wie zu den geometrischen Arbeiten, mit denen er sich da-
mals beschäftigte, herangezogen […]“ worden zu sein.78
Plücker war in seiner ersten geometrischen Phase in Paris vor allem durch
Jean-Baptiste Biots Vorlesungen über analytische Geometrie und indirekt durch
Gaspard Monge geprägt worden.79 Einen Neuaufbau der analytischen Geometrie
(im Rahmen der projektiven Geometrie) anstrebend, hatte Plücker bereits 1828
und 1831 zwei Bände Analytisch-geometrische Entwicklungen publiziert. Wie
Hermann Grassmann und August Ferdinand Moebius trug Plücker dazu bei, die
bisherige Vorherrschaft synthetischer Methoden zu überwinden – damit auch in
Konflikt mit dem Berliner Vertreter der synthetischen Geometrie, Georg Steiner,
geratend. Klein schrieb später:
In der Plückerschen Geometrie wird die bloße Kombination von Gleichungen in geometrische
Auffassung übersetzt und rückwärts durch letztere die analytische Operation geleitet. Rech-
nung wird nach Möglichkeit vermieden, dabei aber eine bis zur Virtuosität gesteigerte Be-
weglichkeit der inneren Anschauung, der geometrischen Ausdeutung vorliegender analyti-
scher Gleichungen ausgebildet und in reichem Maße verwendet.80
In Plückers zweiter mathematischer Phase, als Klein bei ihm studierte, stand die
Liniengeometrie im Zentrum, in welcher sowohl synthetische als auch analytische
Methoden benutzt wurden. Synthetisches habe Plücker dazu gedient, um
Einblicke in Strukturen zu gewinnen.81 Ein anerkannter Beweis musste dagegen
notwendig analytisch sein. PLUMP 2014 (155f.) vermutet hierin Ausgangspunkte
für die von Klein diskutierte Arithmetisierungstendenz (vgl. Abschnitt 8.3.2).
Bereits 1846 hatte Plücker die Idee einer vierdimensionalen projektiven Geo-
metrie vorgeschlagen, in welcher Geraden und ihre „Linienkoordinaten“ als
Grundelemente des dreidimensionalen Raumes fungieren. Dies arbeitete er seit
An die von Plücker entwickelten grundlegenden Begriffe wie Strahlen- und Ach-
senkoordinaten, Komplexe, Kongruenzen, höhere Regelflächen, Komplexflächen
u.a. knüpften Klein und andere an.85 Klein bezeichnete die Plückerschen Formeln
als dessen Hauptleistung in diesem Gebiet. Diese verbinden die Ordnung einer
Kurve n (Grad der Gleichung in Punktkoordinaten) mit der Klasse k (Grad der
Gleichung in Linienkoordinaten) und den einfachen (notwendigen) Singularitäten.
Wenn auch bei Plücker das projektive Denken noch nicht voll ausgebildet
war86, so waren dessen Ansätze einer Neueren Geometrie höchst anregend für sei-
nen Schüler Klein, der in diesem Feld Ideen für seine Dissertation fand. Anknüp-
fend an Plückers Formeln entwickelte Klein noch 1876 eine eigene Formel, um
82 Eine gute Einführung in die historischen Begriffe gibt Wilhelm Blaschke 1926, der Kleins
Vorlesung Einleitung in die höhere Geometrie von 1893, stark am Original orientiert, neu
edierte, KLEIN/BLASCHKE 1926. Vgl. auch VOSS 1919, 280. – Zur Einordnung Plückers und
zur Rolle des Dualitätsprinzips bei ihm vgl. auch Jeremy Gray in SCHOLZ 1990, 280-88.
83 Zu weiteren Erläuterungen hierzu vgl. z.B. Schoenflies, A. (1926): Einführung in die Analyti-
sche Geometrie der Ebene und des Raumes. Berlin: Springer.
84 KLEIN 1926, Vorlesungen I, 123-24. – Vgl. auch die Dissertation LORANAT 2015.
85 Vgl. KLEIN 1926, 119-26.
86 Vgl. Karzel, H.: „Wandlungen des Begriffs der projektiven Geometrie (1959)“. In: KARZEL/
SÖRENSEN 1984, 13-19.
32 2 Prägende Gruppen
Plückers Familie hatte den jungen Felix Klein beauftragt, die unveröffentlichten
Materialien zu edieren.93 Klein verbrachte Ferientage im Hause der Witwe Anto-
nie Plücker geb. Altstätter, die er auch später wiederholt konsultierte, um Clebsch
beim Schreiben des Nachrufs auf Julius Plücker zu unterstützen.94
87 Klein, F. (1876): „Eine neue Relation zwischen den Singularitäten einer algebraischen
Kurve“. Math. Ann. 10, 199-209, GMA II; erläutert in KLEIN 1926, 125-26.
88 Vgl. Anhang zu diesem Buch Nr. 8.
89 KLEIN 1922 GMA II, 5.
90 KLEIN 1921 GMA I, 490; KLEIN 1872, 41.
91 Zitiert nach ERNST 1933, 40.
92 Clebschs Vorwort, verfasst am 8.6.1868, in PLÜCKER 1868, III-IV.
93 Vgl. TOBIES 1999a, 85; Klein schrieb 1868 dazu auch im Auftrag der Erben Plückers an den
Leipziger Verlag B.G. Teubner, vgl. ACKERMANN/WEIß 2016, 31.
94 [Canada] Klein an Antonie Plücker geb. Altstätter, Brief v. 10.11.1871. Für die Übermittlung
der Quelle dankt die Autorin Eisso Atzema, Utrecht, später University of Maine Orono. –
[Oslo] Klein an Lie, Brief v. 20.11.1871. – Vgl. auch Abschnitt 8.3.1.
2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn 33
Die Idee für seine Dissertation „Über die Transformation der allgemeinen Glei-
chung zweiten Grades zwischen Linien-Coordinaten auf eine canonische Form“97
gewann Klein im Sommer 1868 während der Arbeit an Plückers Werk. Clebsch
verwies Klein auf die erwähnte Arbeit Battaglinis und auf die an Plückers homo-
gene Koordinaten anknüpfende Habilitationsschrift von Jacob Lüroth98. Um sich
international zu orientieren, studierte Klein die Lehrbücher des Iren George Sal-
mon zur analytischen, projektiven und algebraischen Geometrie, die Otto Wil-
helm Fiedler ins Deutsche übersetzt hatte. Klein erklärte dazu:
Es wurde mir nicht ganz leicht, von den mehr elementaren Methoden der Plücker’schen Dar-
stellung zu dem konsequenten Verfahren der projektiven Koordinaten überzugehen, wie es
von Battaglini genutzt wurde. Das Studium der Lehrbücher von Salmon-Fiedler und mancher
Originalabhandlungen half mir über diese Schwierigkeit weg. Ich bemerkte dann aber bald,
daß die von Battaglini zugrunde gelegte kanonische Form der Komplexe zweiten Grades
nicht die allgemeine sein konnte. Damit hatte ich das Thema, aus dem ich hoffte, eine Dis-
sertation gestalten zu können, nämlich die Herstellung einer wirklich allgemeinen kanoni-
schen Form.99
Guiseppe Battaglini hatte 1866 die Theorie der durch eine, zwei oder drei alge-
braische Gleichungen ersten und zweiten Grades zwischen den Koordinaten der
Geraden definierter Gebilde mit moderneren Methoden als Plücker behandelt.
Klein erkannte, dass die allgemeine lineare Transformation der Linienkoordinaten
noch fehlte und notwendig ist, um weitere Fragen lösen zu können. Den Aus-
gangspunkt betonte er in These 1 zu seiner Dissertation (vgl. unten).
Im September 1868 hatte Klein bei seinen Eltern in Düsseldorf (Bahnstraße 15)
die ersten Ideen zu seiner Dissertation ausgearbeitet und Rudolf Lipschitz präsen-
tiert. Lipschitz, der das Doktorexamen abzunehmen, empfahl Klein, nicht nur den
einfachsten Fall, sondern möglichst alle Spezialfälle zu betrachten. Er gab Klein
die Korrekturbögen einer gerade im Druck befindlichen Arbeit von Weierstraß.100
Diese Arbeit enthielt die für beliebige Variablenzahl n aufgestellte Theorie der
Elementarteiler.101 Klein nutzte Weierstraß’ Theorie für seine Dissertation. Er
100 Weierstraß, K.: „Zur Theorie der quadratischen und bilinearen Formen“ Monatshefte der
Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Mai 1868, 310-38 (Werke, Bd. 2).
101 Zur Geschichte dieser Theorie vgl. HAWKINS 1977.
2.3 Studium und Promotion an der Universität Bonn 35
Klein verwendete anstelle der (vier) Koordinaten von Plücker eigene (sechs) Li-
nienkoordinaten.104 Er gab in seiner Dissertation der Theorie der Elementarteiler,
insbesondere den kanonischen Formen für n = 6, eine liniengeometrische Deutung
und baute sie hinsichtlich der Reelität der Wurzeln und der Unbestimmtheit der
Transformation auf eine kanonische Form im Falle gleicher Elementarteiler weiter
aus. Adolf Weiler diskutierte später (1873) in seiner durch Klein angeregten Dis-
sertation die kanonischen Formen geometrisch. Der italienische Mathematiker
Corrado Segre übertrug die Theorie in die Sprache der mehrdimensionalen Geo-
metrie, während Rudolf Sturm diese in die synthetische Geometrie überführte.
Segre promovierte 1883 in Turin, wobei er an Kleins Motto „die Liniengeo-
metrie ist wie die Geometrie auf einer M 4( 2 ) des R5“ anknüpfte und das Thema
ausbaute. Zugleich erkannte Segre einige Inkorrektheiten in den Dissertationen
von Klein und Weiler,105 woraufhin Klein eine korrigierte Version seiner Disser-
tation in Band 23 (1884) der Mathematischen Annalen publizierte. Dabei hob er
Segres Hinweise hervor und nahm außerdem dessen einschlägige, z.T. mit Gino
Loria verfasste Arbeiten in denselben Annalen-Band auf.106
Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass in etlichen Arbeiten Kleins Un-
genauigkeiten, ungenügende Beweise oder auch Fehler enthalten sind. Kleins
Umgang damit war: Er anerkannte die Arbeiten der anderen, korrigierte, ergänzte
und druckte neu ab, jeweils mit den Hinweisen, Beiträgen bzw. Briefen von den-
jenigen, die zu neuen Ergebnissen gelangt waren.
Bei der Edition seiner Dissertation in GMA I griff Klein Segres Ansatz von
1884 noch einmal auf.107 Er verwies zur Einordnung auf die Überblicksdarstel-
lungen in der ENCYKLOPÄDIE von Konrad Zindler (1921), der zuvor zwei
Göschen-Bändchen zur Liniengeometrie mit Anwendungen (1902, 1906) publi-
ziert hatte, sowie auf Arbeiten von Ernst Steinitz, der die Liniengeometrie und die
von Klein untersuchten Konfigurationen ausführlich analysiert hatte.108
Klein hatte seine Dissertation seinem unvergesslichen Lehrer Julius Pluecker
in dankbarer Erinnerung gewidmet. Lipschitz bewertete Kleins Leistungen in der
mündlichen Doktorprüfung mit summa cum laude (vgl. Abb. 5).109 Für die damals
übliche öffentliche Disputation, die am 12. Dezember 1868 stattfand, waren drei
Opponenten zu bestimmen und Thesen zu formulieren. Ein Opponent war der
sieben Jahre ältere, bereits promovierten Physiker Emil Budde, der wie Klein am
Gymnasium in Düsseldorf das Abitur abgelegt, Mathematik und Physik in Bonn
studiert, ebenfalls als Plückers Assistent gedient hatte und ein bedeutender, inter-
national und mathematisch orientierter (Industrie-)Physiker werden sollte. Als
zweiter Opponent fungierte Kleins erwähnter Kommilitone Ernst Sagorski. Der
Dritte, Johannes Seeger, wurde nicht näher bekannt.
Die Thesen, die sich nicht notwendig auf den Inhalt der Arbeit beziehen
mussten, dokumentieren Kleins weiten Horizont, aber auch den damaligen z.T.
beschränkten Stand der Erkenntnisse:
1. Diejenige kanonische Gleichungsform, welche Battaglini seiner Arbeit über Komplexe des
zweiten Grades zugrunde legt:
∑a
2
x x p x = 0, ist nicht die allgemeine.
2. Die Anwendung, welche Cauchy von den in seiner méthode générale, propre à fournir les
équations de conditions rélatives aux limites des corps [Comptes rendus, VIII (vgl. Cau-
chys Werke (1) IV, p. 193 ff.)] entwickelten Prinzipien auf lineare Differentialgleichungen
einer beliebigen Ordnung gibt (ibid.), scheint nicht über alle Bedenken erhaben.110
3. Bei Erklärung der Lichtphänomene kann die Annahme eines Lichtäthers nicht umgangen
werden.
4. Positive und negative Elektrizität sind nicht als entgegengesetzt gleich zu betrachten.
5. Es ist wünschenswert, daß neben der Euklidischen Methode neuere Methoden der Ge-
ometrie in den Unterricht auf Gymnasien eingeführt werden.111
Als der 19-jährige Felix Klein Anfang 1869 nach Göttingen kam, gehörte die
Kleinstadt mit ca. 15.000 Einwohnern seit drei Jahren zu Preußen. Seit Inbetrieb-
nahme der Eisenbahnstrecke am 31. Juli 1854 bildete der Bahnhof das Eintrittstor
in das Städtchen. Der Blick des Zugereisten fiel auf das Hotel Gebhard, dessen
Besitzer die Zeichen der Zeit erkannt und sechs Jahre nach Bestehen der Bahnli-
nie das Haus in modernem Stil hatte errichten lassen. Klein besuchte später als
Privatdozent regelmäßig Gebhards Biertunnel und übernachtete auch als junger
Erlanger Professor im Hotel Gebhard.114 Als junger Doktor 1869 wohnte er bei
der Witwe des Kaufmanns Fobbe in der Groner-Tor-Straße 25.115
Die Kleinstadt wurde vor allem durch ihre Bildungseinrichtungen geprägt.
Die 1737 feierlich durch die hannoversche Landesregierung eingeweihte Georg-
August-Universität116, nun unter preußischer Herrschaft, bildete das Zentrum der
Stadt Göttingen, ergänzt durch die seit 1751 bestehende Kgl. Gesellschaft der
Wissenschaften (seit 1942 Akademie der Wissenschaften genannt). Bis Ende der
1860er Jahre hatte sich vor allem Gewerbe angesiedelt, das Bezug zu wissen-
schaftlicher Arbeit besaß. Es gab damals sieben Werkstätten für wissenschaftli-
chen Gerätebau mit ca. fünfzig Fachkräften, deren Zahl sich bis um 1900 auf
zwölf Betriebe mit 270 Gehilfen und Lehrlingen erweiterte.
Gemeinsam mit dem Leipziger Mathematiker Carl Neumann hatte Clebsch 1868
die Mathematischen Annalen begründet. Diese heute noch bestehende Zeitschrift
entwickelte sich in den Anfangsjahren zum international ausgerichteten Sprach-
rohr der Clebsch-Schule und wurde später vor allem durch Felix Klein über
Schulengrenzen hinaus geführt (Abschnitt 2.4.2).
Klein sah sich in der Göttinger Zeit von Januar bis August 1869 noch in der
Ausbildungsphase. Als junger Doktor schloss er sich dem Göttinger mathe-
matisch-naturwissenschaftlichen Verein der Studenten an, der durch Clebschs
Initiative am 7. Dezember 1868 gebildet worden war. Für Klein blieben hier
geknüpfte Kontakte zuverlässige Bausteine im Netzwerk der Beziehungen, wie
das Beispiel des Biologen Karl Kraepelin dokumentiert (vgl. Abschnitt 8.3.4.1).
Klein besuchte in Göttingen weiterhin Vorlesungen, richtete sein Hauptaugen-
merk auf die Edition von Plückers Liniengeometrie und vollendete außerdem fünf
weitere Arbeiten, die von seiner frühen Kreativität zeugen (Abschnitt 2.4.3).
Als gebürtiger Königsberger hatte Alfred Clebsch die Ausbildung an seiner ost-
preußischen Heimatuniversität genossen, insbesondere das mathematisch-physi-
kalischen Seminar, das schon 1834 unter Jacobi und dem Physiker Franz Neu-
mann gegründet worden war. Hieraus gingen zahlreiche Mathematiker hervor,
denen Felix Klein auf seinem Wege begegnen sollte, darunter Adolph Mayer,
Karl von der Mühll, Carl Neumann und Heinrich Weber.119 Clebsch war in
algebraisch-geometrischer Richtung durch den Jacobi-Schüler Otto Hesse120 und
in mathematisch-physikalischer Richtung durch Franz Neumann geprägt worden.
Ebenso hatte ihn Friedrich Julius Richelot angeregt, der begeistert über Jacobi
sowie „[…] über die noch wenig bekannten Riemann’schen Anschauungen
vor[trug].“121 Nach der Promotion 1854 unter Franz Neumann galten Clebschs
erste Arbeiten mathematischen Problemen der Optik, Hydrodynamik und Elasti-
zitätstheorie. In Berlin 1858 zum Privatdozenten ernannt, avancierte Clebsch noch
im selben Jahre zum Professor für theoretische Mechanik am Polytechnikum
Karlsruhe. 1863 wechselte er als Mathematik-Professor an die Universität Gießen
und 1868 nach Göttingen, wo sich Felix Klein dessen Schule anschloss.
Clebsch verband Geometrie mit den elliptischen und Abelschen Funktionen,
woraus sich Sätze auf neue Weise ergaben, die Hesse bei den Kurven dritter und
vierter Ordnung gefunden hatte. Die Abhandlung Ueber die Anwendung der
Abel’schen Functionen in der Geometrie122 gilt als Geburtsstunde der algebrai-
schen Geometrie. Clebsch hatte auch an Plücker angeknüpft und verknüpfte die
Traditionen von Jacobi und Georg Steiner, die Arbeiten der Engländer Cayley,
Sylvester und Salmon mit den von Riemann stammenden Ideen. Dabei schuf
Clebsch einen neuen Typ wissenschaftlicher Gemeinschaft, als deren Repräsen-
tanten SHAFAREVICH hervorhob: „Gordan, Brill, Lüroth, Zeuthen, und die be-
rühmtesten: Noether und Klein.“123 Diese bauten das Gebiet weiter aus.
119 Vgl. OLESKO 1991; TILITZKI 2012. – Königsberg (heute Kaliningrad, Russland).
120 KLEIN 1875; Noether, M: „Otto Hesse“. Zeitschrift f. Math. u. Physik 20 (1875) 77-88.
121 Nach Heinrich Weber war das 1854, vgl. KOENIGSBERGER 1919, 206.
122 Clebsch, A. (1864), in: Crelle-Journal 63, 189-243.
123 Vgl. SHAFAREVICH 1983, 140.
40 2 Prägende Gruppen
132 Voss, Aurel (1914): „Heinrich Weber“. Jahresbericht DMV 23, 431-44.
133 KLEIN 1926,Vorlesungen I, 307.
134 Vgl. Finsterwalder, S.: „Alexander v. Brill“. Math. Ann. 112 (1936) 654.
135 Vgl. Brill, A.; Noether, M.: „Jakob Lüroth“. Jahresbericht DMV 20 (1911) 279-99.
42 2 Prägende Gruppen
derte er die begabten Hurwitz-Brüder144 und empfahl Adolf Hurwitz das Studium
bei Felix Klein (vgl. 4.2.4.2). Klein band Schubert später als Repräsentanten for-
schender Gymnasiallehrer in den Vorstand der Deutschen Mathematiker-Vereini-
gung ein (vgl. 6.4.4).
Aurel Voß (*1845) promovierte am 17. März 1869 in Göttingen mit der Ar-
beit „Über die Anzahl reeller und imaginärer Wurzeln höherer Gleichungen“ bei
Moritz Abraham Stern, und wurde durch Clebsch wissenschaftlich angeregt, den
er 1868/69 hörte.145 Zunächst im Schuldienst tätig, entschied sich Voß doch für
eine wissenschaftliche Karriere bei Clebsch. Da dieser unerwartet plötzlich ver-
starb, folgte Voß dem jüngeren Professor Klein nach Erlangen. Aurel Voß war
Felix Klein lebenslang dankbar für den geebneten Weg zur Habilitation und
wurde ein Duzfreund. Als etablierter Professor ließ sich Voß als Autor für das
ENCYKLOPÄDIE-Projekt und für das Projekt Kultur der Gegenwart gewinnen. Voß
verfasste ein eindringliches Bild des jungen Klein, des „jugendlichen Dozenten“
mit der „ungewöhnlichen Vielseitigkeit seiner Begabung, sein divinatorisches
wissenschaftliches Taktgefühl, die Originalität seiner Konzeptionen“.146
Während seiner ersten Göttinger Zeit hatte Klein Vorlesungen von M. A.
Stern (Theorie der numerischen Gleichungen), Bernhard Minnigerode147 (Theorie
der partiellen Differentialgleichungen und deren Anwendung auf mathematische
Physik) gehört und gemeinsam mit Aurel Voß, Max Noether u.a. im Hörsaal bei
Alfred Clebsch gesessen. Letzterer las im Winter 1868-69 Analytische Geometrie
des Raumes (5 Wochenstunden) und hielt eine Stunde öffentliche Übungen zur
Geometrie.148 Im Sommer 1869, vom 15. April bis 15. August, bot Clebsch 4-
stündig Ueber Determinanten, Elimination und algebraische Formen sowie Ma-
thematische Theorie des Lichts.149 Aurel Voß überlieferte:
Die schöne Form seines Vortrags, die Freude, die dieser unvergleichliche Lehrer selbst zu
empfinden schien, wenn er die Gedanken, die ihn und seine wissenschaftlichen Freunde, A.
Cayley, C. Jordan, L. Cremona gerade in jener Zeit lebhaft beschäftigten, vor seinen Hörern
entwickelte, die Eleganz, mit der er in dieser ersten in Göttingen gehaltenen Vorlesung über
Geometrie des Raumes alle neuern Hilfsmittel, von den homogenen Koordinaten und dem
Prinzip der Dualität bis zur Theorie der Abbildung der algebraischen Flächen in Verbindung
mit dem Abelschen Theorem, und endlich die Neue Geometrie des Raumes von J. Plücker
behandelte, mußten seine Schüler in eine ganz neue Welt einführen, in die lebhafteste Ver-
bindung mit der Gegenwart versetzen und zum Studium ihrer Literatur anregen.150
mona, sondern auch Plückers jüngere Ergebnisse zur Liniengeometrie. Wie Voß
mitteilte, vernahmen die Zuhörer überrascht, dass Clebsch auf den in der Vorle-
sung sitzenden jungen Felix Klein als Experten für dieses Gebiet hinwies:
Mit Staunen vernahm man, daß dieser junge Mann, dessen liebenswürdige Persönlichkeit
über die Jahre hinaus gereift und originell erschien, in der Vorlesung von Clebsch als Autori-
tät in dieser Neuen Geometrie des Raumes bezeichnet wurde, mit der Plücker in seinen letz-
ten Lebensjahren die Wissenschaft bereichert hatte.151
Die aus der Königsberger Schule stammenden Leipziger Professoren Carl Neu-
mann und Adolph Mayer gehörten zur Redaktion der Mathematischen Annalen,
wofür der Nachruf vorbereitet wurde. Den Part mathematische Physik überließ
Neumann schließlich dem Leipziger Kollegen Karl von der Mühll, der ebenfalls
in Königsberg studiert hatte. Klein brachte das Ganze in einen einheitlichen Guss
und berief dazu mehrfach Diskussionsrunden ein. Sie unterstrichen Clebschs
Denkweise, „vom einzelnen ausgehend […] allgemeine Methoden“ zu erfassen
und somit zu Arbeiten mit einheitlichem, systematischen Gepräge zu gelangen.156
Dieser Kreis initiierte auch eine Clebsch-Stiftung, um dessen Frau und die
Söhne bis zum Berufseintritt zu unterstützen.157 Wissenschaftlich sahen sie sich in
heftiger Konkurrenz mit in Berlin sozialisierten Mathematikern. Sie mussten sich
ohne ihren bisherigen Kopf gegen eine traditionelle „strenge“ Mathematik durch-
setzen. Dazu gehörte, Riemanns Denkweise auf den Weg zu bringen. Leo Koe-
nigsberger sah darin eine Änderung des Denkstils in der Mathematik.158
Alfred Clebsch und Carl Neumann hatten im Mai 1868 bei der erwähnten Berg-
straßen-Wanderung beschlossen, eine neue mathematische Zeitschrift unabhängig
von den Berlinern zu begründen. Carl Neumann, der 1868 gerade einem Ruf an
die Universität Leipzig gefolgt war, nahm den Kontakt mit dem Leipziger Ver-
lagshaus B.G. Teubner auf. In einem Schreiben vom 10. Juni 1868 schlug er die
Herausgabe einer neuen Zeitschrift Mathematische Annalen vor und empfahl
Clebsch als Herausgeber. Neumann prognostizierte, dass „[…] durch dessen Ta-
lent und Energie das Journal wahrscheinlich binnen kurzer Zeit alle übrigen
Math.[ematischen] Zeitschriften Europas überflügeln [werde] in Bezug auf Reich-
haltigkeit, Eleganz und Verbreitung […]“.159 Das erste Heft kam am 22. Dezem-
ber 1868 heraus. Diese Zeitschrift und die damit verbundenen Autoren sollten
beitragen, die seit 1811 bestehende Verlagsbuchhandlung B.G. Teubner zu einem
der wichtigsten Verlage für mathematische Literatur zu entwickeln.160
Die Herausgeber Clebsch und Carl Neumann orientierten auf Internationalität.
Beiträge konnten in Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch eingereicht wer-
den. Bereits der erste Band enthielt zwei Artikel von Camille Jordan aus Paris, je
einen Beitrag von Arthur Cayley aus London, von Eugenio Beltrami aus Bologna,
von Zeuthen aus Kopenhagen – Mathematiker, mit denen auch Felix Klein schnell
verbunden sein sollte. Klein gehörte ab Heft 2 des zweiten Bandes (1870) zu den
Autoren. Nach Clebschs Tod suchte Neumann neue Mitstreiter. Er wählte ab
Band 6 (1873) Klein und Gordan aus der Clebsch-Schule sowie die Leipziger
Adolph Mayer und Karl von der Mühll161 für den Kreis der Mitwirkenden.
Kleins Briefe an Carl Neumann von 1873 bis 1875 dokumentieren bereits sein
besonderes Engagement für die Zeitschrift. Klein sandte eigene Beiträge, veran-
lasste die Aufnahme von Dissertationen seiner Erlanger Schüler (Lindemann,
Weiler, Harnack, Wedekind), die Habilitationsschrift von Aurel Voß, Arbeiten
von Wilhelm Frahm, Max Noether. Klein begutachtete Arbeiten (R. Sturm, A.
Brill, F. E. Eckardt, u.a.) und informierte, dass er den Austausch mit dem Bulletin
de la Société Mathématique organisiert habe. Kleins Literaturkenntnis erstreckte
sich inzwischen auch auf Carl Neumanns Domäne (vgl. 5.5.1.1). So konnte Klein
ihm z.B. mitteilen, dass der Annalen-Autor Ferdinand Lippich (theoretischer
Physiker) an Neumanns Vorlesungen über Riemann’s Theorie der Abel’schen
Integrale (Leipzig: B.G. Teubner, 1865) anknüpfend ein Theorem behandelte,
dass Camille Jordan zuvor schon besser abgeleitet hatte. Nach dem Tode von
Clebsch fühlte sich Klein verantwortlich, „[…] da die Aufrecht-Erhaltung der
Annalen, soweit sie in meinen Kräften liegt, meine erste Sorge ist.“162
Neumann liebte redaktionelle Tätigkeit weniger. Er wusste die Zeitschrift in
guten Händen, als er mit Band 10 (1876) die Herausgabe an Klein und Mayer
übergab und selbst in den Kreis der Mitwirkenden zurücktrat. Sie erweiterten das
Netzwerk von Tauschorganen und regten Beiträge an. Sie zeigten sich weitsichtig,
als sie Georg Cantors Arbeiten zur Mengenlehre aufnahmen, die Kronecker beim
Crelle-Journal abgewiesen hatte. Weniger weitsichtig war, dass Klein Gottlob
Freges Manuskript „Boole’s rechnende Logik und die Begriffsschrift“ als unge-
eignet zurückschickte und für eine philosophische Zeitschrift empfahl.163
Als neben dem Crelle-Journal noch ein weiteres mathematisches Konkur-
renzorgan auf den Markt trat, die durch den schwedischen Weierstraß-Schüler
Gösta Mittag-Leffler 1882 begründeten Acta Mathematica, verfolgte Klein eine
interessante Politik. Er bot Kooperation an, sandte auch einen eigenen Beitrag für
die Publikation, wurde aber abgewiesen. Mittag-Leffler betrieb eine hinterhältige
Politik des gegenseitigen Ausspielens von Mathematikern164, die auch Sophus Lie
(als Initiator und Redaktionsmitglied der Acta) dazu brachte, dort nicht zu publi-
zieren. Dennoch empfahl Klein seinem besten Schüler Adolf Hurwitz:
Dass Sie ab und zu in Mittag-Leffler publiciren, scheint mir unter allgemeinen Gesichtspunc-
ten sogar wünschenswerth: wir setzen uns, wenn wir uns auf die Annalen beschränken, gar so
leicht auf den Isolirschemel (ich würde selbst in Mittag-Leffler und Kronecker gedruckt ha-
ben, wenn ich nicht an beiden Stellen zurückgewiesen worden wäre). Aber Ihre Hauptarbei-
ten möchte ich in der That gerne für die Annalen haben bez. behalten.165
Zugleich erweiterten Klein und Mayer die internationalen Kontakte, vor allem
auch in Richtung Osteuropa (vgl. Abschnitte 5.4.2.5; 6.3.7.1).
162 [UBG] Math. Archiv: 165a, Zitat aus Brief v. 27.4.1873 (Bl. 3). Zu Lippich/Jordan (Bl. 8v, 9)
in Brief v. 12.1.1874; Lippich, R. (Prag): „Ueber den Zusammenhang der Flächen im Sinne
Riemann’s“. Math. Ann. 7 (1873) 212-29.
163 TOBIES/ROWE 1990, 37, Brief Kleins an Frege v. 14.8.1881.
164 Vgl. hierzu die präzise Darstellung bei ROWE 1992, 610-12.
165 [UBG] Math. Archiv 77: 192, Klein an Hurwitz, Brief v. 15.1.1888.
48 2 Prägende Gruppen
Klein sorgte später regelmäßig dafür, die Redaktion zu erneuern. Dies einer-
seits, um sich persönlich hinsichtlich organisatorischer Aufgaben zu entlasten
(1887 durch seinen Schüler Walther Dyck), andererseits, um das inhaltliche Ni-
veau zu halten und neu entstehenden Richtungen Raum zu geben. So kamen mit
Band 42 (1893) Heinrich Weber und Max Noether in den Kreis der Mitwirken-
den. Sophus Lie lehnte dasselbe Angebot ab (er wäre nur als Hauptherausgeber
eingetreten). Dieses Amt traute ihm Klein nicht zu. Dagegen setzte Klein nach
mehrjährigem Widerstand aus dem Kreis der alten Clebsch-Schüler durch, dass
David Hilbert ab Band 50 (1898) in den Kreis der Mitwirkenden und ab Band 55
(1902) als einer der Hauptherausgeber zu den Mathematischen Annalen kam.166
Nachfolgend achtete Klein darauf, dass in der Zeitschrift die jeweils moder-
nen Gebiete hinreichend vertreten sind. So insistierte er z.B. bei Hilbert mit Brief
vom 31. Juli 1901: „Aus den Annalen kann in der That Niemand z. Z. erkennen,
wie intensiv bei Ihnen nach den verschiedensten Richtungen gearbeitet wird!“167
Klein regte an, Hilberts ersten Doktorschüler Otto Blumenthal, inzwischen Pro-
fessor an der TH Aachen, ab Band 62 (1906) auf das Titelblatt der Annalen-Hefte
zu bringen, da Blumenthal „[…] sich als Mitarbeiter bei der Redaktion so sehr
[bewährt hat], dass wir ihm m.E. die hierin liegende Anerkennung nicht weiter
vorenthalten sollten.“168 Abgestimmt zwischen Klein und Hilbert traten nach
Adolph Mayers Tod, ab Band 66 (1909), Hermann Minkowski und Otto Hölder in
den Kreis der Mitwirkenden.169 Nach dem Ableben von Paul Gordan (1912), Karl
von der Mühll (1912) und Heinrich Weber (1913) unterstützte Klein die Empfeh-
lung Otto Blumenthals – der inzwischen die redaktionellen Geschäfte maßgeblich
leitete – Luitzen Brouwer und Constantin Carathéodory in den Kreis der Mitwir-
kenden ab Band 76 (1915) aufzunehmen.170
Als die Mathematischen Annalen 1920 von Teubner zum Verlag Julius Sprin-
ger wechselten, gewann Klein noch persönlich Albert Einstein als einen Heraus-
geber.171 Noch 1924 warf Klein sein Gewicht in die Waagschale, um über die
Aufnahme eines Beitrags in die Zeitschrift zu entscheiden. Erst nach Differenzen
mit dem Redaktionsmitglied Brouwer zog sich Klein ca. zehn Monate vor seinem
Tod von der Hauptredaktion zurück.172
Felix Kleins erste Arbeiten, die in den Mathematischen Annalen erschienen,
entstanden 1869 in Göttingen.
166 Klein wollte Hilbert bereits 1894 in das Board integrieren. Als dies nicht gelang, sorgte er
dafür, dass Hilbert ab 1894 ein Freiexemplar der Math. Ann. vom Verlag erhielt (vgl. FREI
1985, 95). Zur Systematisierung der bei Teubner verlegten mathematischen Zeitschriften vgl.
Abschnitt 5.6; TOBIES 1986b, 1987a; TOBIES/ROWE 1990, 28-37.
167 Vgl. in FREI 1985, 129.
168 Rundschreiben Kleins v. 23.4.1906 an die Redaktionsmitglieder (Hilbert, A. Mayer, Gordan,
M. Noether, v. Dyck, H. Weber) [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 L.
169 Vgl. dazu FREI 1985, 135-37. – Minkowski starb am 12.1.1909.
170 Blumenthal an Klein, am 5.6.1914 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 8: 138. Vgl. auch ROWE 2018b.
171 Vgl. auch Abschnitt 9.2.2.
172 [UBG] Klein 8: 143/A, 146 (Blumenthal an Klein). – Zur Würdigung Kleins für die Zeit-
schrift vgl. Math. Ann. 95 (1926) 1; auch DALEN 2005, 601-33.
2.4 Eintritt in die Denkgemeinschaft um Alfred Clebsch 49
Nachdem Klein zum 25. Mai 1869 Plückers Liniengeometrie vom Tisch hatte,
konnte er sich dem Aufschreiben nebenher gewonnener eigener Resultate wid-
men, die den Einfluss des Clebsch-Kreises erkennen lassen. Kleins fünf im Zeit-
raum vom 4. Juni 1869 bis 4. August 1869 verfasste Artikel brachte Clebsch bei
den Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-
Augusts-Universität (kurz: Göttinger Nachrichten) ein oder nahm sie in die Ma-
thematischen Annalen auf. Klein verwies auf den Einfluss:
Beim Vergleich mit der Dissertation wird man den anregenden Einfluß erkennen, den die
Göttinger Umgebung auf mich ausgeübt hat. Ich wähle diesen etwas unbestimmten Ausdruck,
weil neben Clebsch selbst die vorab noch kleine Zahl von Spezialschülern, die er um sich
versammelt hatte, regsten Einfluß auf mich gewann. Clebsch selbst hatte uns damals vor allen
Dingen die von ihm entdeckte rationale Abbildung der niedersten algebraischen Flächen auf
die Ebene vorgetragen und insbesondere Nöther die prinzipielle Weiterführung dieser Unter-
suchungen und ihre Erweiterung auf mehrdimensionale Gebilde übertragen.173
Voß urteilte, dass Klein durch eine scharfsinnige Kombinatorik der Fundamental-
komplexe und ihrer Lagenbeziehungen untereinander erkannt habe, dass die be-
reits von Plücker gefundene Singularitätenfläche des allgemeinen Komplexes
zweiten Grades schon bei Kummer aufgetreten war, als in sich selbst duales Ge-
bilde vierter Ordnung und Klasse mit 16 Doppelebenen und Doppelpunkten.177
Klein erkannte, dass die Bestimmung der Singularitäten einer Kummerschen Flä-
che von der Auflösung der Gleichung sechsten Grades und mehrerer quadratischer
Gleichungen abhängt. Er erwähnte auch Camille Jordans Entdeckung aus dem
Jahre 1868, dass sich die Gleichung 16. Grades der Doppelelemente auf eine
Gleichung 6. Grades und mehrere quadratische reduzieren lässt.178 Kleins Leis-
tung bestand darin, dies auf geometrische Weise bestätigt zu haben. Sein Hinweis
auf eine algebraisch lösbare Gleichung sechsten Grades bildete einen Ausgangs-
punkt für seine späteren Untersuchungen über die Lösung algebraischer Glei-
chungen.179 Es ist das Verdienst von François LÊ (2015b), hier verwendete sog.
„geometrische Gleichungen“ als Weg hin zum Erlanger Programm noch einmal
hervorgehoben zu haben. Bereits Otto Hölder widmete diesen Gleichungen einen
kurzen Abschnitt in seinem ENCYKLOPÄDIE-Beitrag.180
Klein führte in dieser Sporen-Arbeit bereits aus, dass sich die Kummersche Fläche
konstruieren lässt und wie ihr Modell gefertigt werden kann (Abb. 8).181 Unter
den vier Modellen zur Theorie der Linienkomplexe zweiten Grades, die Kleins
Schulfreund Albert Wenker für ihn herstellte, befanden sich zwei Modelle für die
Kummersche Fläche. Sie waren anders als Plücker an die Konstruktion herange-
gangen. Plücker hatte „[…] seine Modelle von Komplexflächen nach geeigneter
Annahme der in der Gleichung vorkommenden Konstanten nur erst empirisch aus
den Gleichungen der horizontalen Schnitte, bez. der durch die z-Achse hindurch-
178 KLEIN 1921 GMA I, 71. Kleins „Sporen verdienende Arbeit“ war Mitte 1869 fertig, erschien
aber erst in Math. Ann. 2 (1870) 198-226. Er nutzte algebraisches Wissen von Clebsch, des-
sen Schülern und Jordans Arbeiten „Commentaire sur Galois“ (Math. Ann. 1 (1869) 145-60)
und „Sur les équations de la division des fonctions abéliennes“ (ebd., 583-91).
179 Vgl. VOSS 1919, 281; und Abschnitt 4.2.1 dieses Buches.
180 Hölder, O. (1899): Galois’sche Theorie mit Anwendungen. Bd. I.1, 3.c,d., bes. 518-20.
181 VOSS 1919, 281.
2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin 51
Klein hatte Weierstraß’ Theorie der Elementarteiler erfolgreich genutzt und war
mit Kummers Arbeiten zur Theorie der geradlinigen Strahlensysteme vertraut – zu
welcher die nach ihm benannte Fläche gehörte. Das war ihm Grund genug, für ein
Semester nach Berlin zu gehen. Klein hatte selbstständige Resultate erzielt, die
ihm den Zugang zum Mathematischen Seminar an der Universität Berlin ermög-
lichten, auch wenn Kummer von einem Manuskript, welches Klein noch vom 5.
September bis 15. Oktober 1869 erarbeitete, wenig beeindruckt schien.183
Trotz der günstigen Verhältnisse in Göttingen trieb mich der Drang nach Erweiterung des Ge-
sichtskreises fort, da ich über die Grenzen der wissenschaftlichen „Schulen“ hinauswachsen
wollte.184
Der 20-jährige promovierte Felix Klein verbrachte von Herbst 1869 bis zum 17.
März 1870 ein Studiensemester in Berlin, obgleich ihm sowohl Plücker als auch
Clebsch davon abgeraten hatten. Klein reiste mit den Vorurteilen seiner Lehrer im
Gepäck,185 wollte das inzwischen berühmte mathematische Zentrum selbst ken-
nenlernen. Er wohnte in der Karlstraße 11 (heute: Reinhardtstraße), nahe zur Uni-
versität und zu den Wohnungen der wichtigsten Studienfreunde.186 Klein sah sich
zu zahlreichen „gesellschaftlichen Verpflichtungen“ genötigt.187 So war es z.B.
üblich, sich bei den Professoren persönlich zu Hause vorzustellen.
182 Zitate in KLEIN 1922 GMA II, 3; 7-10. Nach Wenkers Tod ließ Klein die vier Modelle aus
Zink in der mechanischen Werkstatt von Joh. Eigel Sohn in Köln herstellen.
183 Vgl. hierzu ROWE 2000, 64; ROWE 2013, 2. – Zur Geschichte mathematischer Modelle vgl.
auch die Dissertation von Anja SATTELMACHER 2017.
184 KLEIN 1923a Autobiographie, 15.
185 Zu Plückers Gastrolle als a.o. Professur in Berlin und zur Abneigung des synthetischen Geo-
meters Steiner gegenüber Plücker siehe BIERMANN 1988, 67-68. KOENIGSBERGER (1919, 39)
gab für die „gereizte Stimmung einiger Berliner Mathematiker gegen Clebsch und Gordan“
einen „geringen Prioritätsstreit bezüglich des Abschnitts in dem ausgezeichneten im Jahre
1866 erschienenen Werke Theorie der Abelschen Functionen, welcher der linearen Transfor-
mation gewidmet ist, und die Zurückführung aller dieser auf eine bestimmte Anzahl solcher
Fundamentaltransformationen behandelt“ an.
186 AMTLICHES VERZEICHNIS (1869), 24. Sophus Lie wohnte in der Kronenstr. 52; Otto Stolz in
der Schumannstr. 1b (eine Parallelstraße der Karlstraße); L. Kiepert in der Dessauer Str. 7.
187 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 13.4.1870.
52 2 Prägende Gruppen
Wir werden sehen, an wessen Veranstaltungen Klein teilnahm und wie Berli-
ner Professoren den jungen Doktor beurteilten. (Abschnitt 2.5.1)
Wir werden sehen, welche neuen Freunde und Kooperationspartner Klein im
Mathematischen Verein der Studierenden gewann. (2.5.2)
Wir werden sehen, wie Klein erstmals die von Clebsch geförderte Fähigkeit
nutzte, um Zusammenhänge zwischen scheinbar getrennt liegenden Gebieten auf-
zudecken. (2.5.3)
Vorab sei erwähnt, dass Klein auch physikalischen Gremien beitrat, so dem
Physicalischen Colloquium, das 1843 vom Ordinarius für Physik Gustav Magnus
ins Leben gerufen worden war. Außerdem besuchte Klein die Sitzungen der 1845
gegründeten Berliner Physikalischen Gesellschaft. Letztere schloss nicht-akade-
mische Kreise ein; hier sprach Klein am 11. März 1870 „Über ein Modell einer
Plücker’schen Komplexfläche“ (vgl. Abschnitt 2.4.3).188 Dieser Auftritt Kleins
erscheint weniger ungewöhnlich, wenn wir in Betracht ziehen, dass sich Gustav
Magnus und Julius Plücker persönlich kannten und sich bereits in den 1840er
Jahren über Modelle und Ideen zu Linienkoordinaten ausgetauscht hatten.189
Als Klein im Herbst 1869 nach Berlin kam, wurde die nach dem preußischen Kö-
nig benannte, seit 1810 existierende Friedrich-Wilhelms-Universität vom Rektor
Emil du Bois-Reymond geleitet. Dieser bedeutende Physiologe, der auch eine
zeitlang in Bonn Mathematik – neben Theologie, Philosophie, Geologie – studiert
hatte, plädierte früh für den Einsatz graphischer Methoden in der Medizin. Klein
wies später auf ihn als einen Vorreiter für die Unterrichtsreform (vgl. 8.3.4).
Der Mathematiker Ernst Eduard Kummer war 1869 Prorektor der Universität
Berlin.190 Sein Ruf 1855 auf die Professur als Nachfolger Dirichlets191 gilt als
Start der Goldenen Ära in der Berliner Mathematik.192 Kummer erwirkte ein Ex-
traordinariat für den 41-jährigen Karl Weierstraß, der ebenso wie er mehr als zehn
Jahre sein Geld als Gymnasiallehrer verdient hatte. Dritter des Triumvirats wurde
Leopold Kronecker, der Kummers Schüler am Gymnasium in Liegnitz (heute:
Legnica, Polen) gewesen war. Kronecker hatte 1845 bei Encke und Dirichlet
promoviert, sich kaufmännisch betätigt und sich 1855 als Privatgelehrter in Berlin
niedergelassen; er entstammte einer reichen jüdischen Familie.
Wenn auch das Verhältnis des berühmten Dreigestirns nicht konfliktfrei
war193 und keineswegs von einer einheitlichen Berliner mathematischen Schule
188 Fortschritte der Physik 24 (1868), erschienen 1872, VII; vgl. auch Vita Kleins v. 5.12.1870,
publiziert in TOBIES 1999a, 85
189 Vgl. hierzu PLUMP 2014, 106-107; 114, 302-303.
190 AMTLICHER BERICHT 1869, III.
191 Kummer und Dirichlet waren über ihre Ehefrauen miteinander verwandt (die Cousinen Ottilie
und Rebecca Mendelssohn).
192 BIERMANN 1988, 79-152; KLEIN 1926 Vorlesungen I, 281.
193 Zur Entfremdung zwischen Weierstraß und Kronecker vgl. BIERMANN 1988, 137-39.
2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin 53
gesprochen werden kann, so zogen sie doch zahlreiche Studierende in die preußi-
sche Hauptstadt. Zwischen 1860 und 1870 verdoppelte sich hier die Zahl der
Mathematik-Studenten.194 Im Wintersemester 1869/70 schrieben sich 74 Studen-
ten für das Fach an der Universität Berlin ein.195
Die Berliner Mathematiker gruppierten sich um das 1826 durch August Leo-
pold Crelle gegründete Journal für die reine und angewandte Mathematik (Crelle-
Journal). Unter Crelle als weltoffenes Organ bekannt,196 gestaltete es der nachfol-
gende Herausgeber Carl Wilhelm Borchardt zu einem Sprachrohr der Berliner.
Zur Redaktion gehörten 1869 Schellbach197, Kummer, Kronecker und Weierstraß.
Borchardt hatte bei Jacobi promoviert und sich 1848 habilitiert, aber keine Profes-
sur erhalten. Bereits 1861 hatte er seine Lehrtätigkeit aufgegeben und wollte ge-
rade vom Amt des Herausgebers zurücktreten, als „Clebschs“ Organ herauskam.
Er blieb auf dem Posten,198 denn er lag mit Clebsch im Streit wegen der Edition
von Jacobis Vorlesungen über Dynamik (Clebsch 1866). Dieses Zerwürfnis sei
maßgebliche Ursache für die Gründung der Mathematischen Annalen gewesen.199
Borchardt schürte noch nach Clebschs Tod Differenzen, schrieb von der gegen
mich gemünzte[n] Gründung der math. Annalen und von deren angeblichem Ab-
weg in die Oberflächlichkeit, was er dem verstorbenen Clebsch anlastete,
[…] der sein Talent nicht für tiefere Forschung verwerthet sondern mehr zur Erreichung gele-
gentlicher und nahe liegender mitunter nur scheinbarer Erfolge benutzt hat. Unter seinen
Schülern ist wohl Klein derjenige, der dieser Oberflächlichkeit am meisten Vorschub leis-
tet.200
Borchardt war modernen Entwicklungen weniger zugetan und agierte selbst ge-
genüber dem Berliner Nachwuchs steif und penibel.201 Das Crelle-Journal büßte
damit Weltoffenheit ein, sodass die Mathematischen Annalen es bald überflügeln
konnten.202 Auch nach Borchardts Tod, als zunächst Kronecker und Weierstraß
die Herausgabe des Crelle-Journals übernahmen, von Band 91 (1881) bis Band
103 (1888), litt die Zeitschrift unter Differenzen: so hinsichtlich der Begründung
der Analysis, und auch in Bezug auf Georg Cantors Arbeiten zur Mengenlehre. So
überließ Weierstraß bald Kronecker das Feld allein.203
Klein lieferte erst im Jahre 1905 einen Beitrag für das Crelle-Journal, als der
damalige Herausgeber Kurt Hensel (nach Lazarus Fuchs im Amt) einen Dirichlet-
Festband vorbereitete. Für diesen Festband sollte Klein das Thema „Über die
Auflösung der allgemeinen Gleichungen fünften und sechsten Grades“ wählen.
Seine Ergebnisse dazu hatte er bereits für eine italienische Zeitschrift zusam-
mengefasst; das Thema besaß maßgeblichen Bezug zu Kronecker.204
Kronecker bereicherte Zahlentheorie, Theorie der elliptischen Funktionen, Al-
gebra mit Ergebnissen, und es gelang ihm, wie Klein hervorhob: „Beziehungen
grundlegender Art […] vorahnend richtig zu erfassen“.205 Als „lesendes Akade-
mie-Mitglied“ bot Kronecker seit 1861/62 Vorlesungen an. Klein hörte 1869/70
dessen Vorlesung über die Theorie der quadratischen Formen und arbeitete sich
erstmals etwas in das Gebiet der Zahlentheorie ein.
Weierstraß’ Art vorzutragen, behagte Klein dagegen nicht:
Nach meinen Erinnerungen […] war Weierstraß’ Stellung die einer absoluten Autorität, deren
Lehren die Zuhörer hinnahmen als unanfechtbare Norm, oft ohne sie im tieferen Sinn recht
aufgefaßt zu haben. Ein Zweifel durfte nicht aufkommen, eine Kontrolle war schon deshalb
schwer möglich, da Weierstraß außerordentlich wenig zitierte. Er hatte sich in seinen Vorle-
sungen als Ziel gesetzt, ein System wohlgeordneter Gedanken im Zusammenhang vorzutra-
gen. So begann er mit einem methodischen Aufbau von unten herauf und, seinem Ideal der
Lückenlosigkeit nachstrebend, richtete er den Gang so ein, daß er in der Folge nur auf sich
selbst zurückgreifen brauchte.206
verkleinern, jedenfalls weniger veranlasst durch sein vermeintes Recht im sachlichen Streit,
sondern durch eine kleinliche Eifersucht. Diese wurde vor einigen Monaten besonders ange-
facht, indem bei Gelegenheit der schwedischen Preisaufgabe es sich herausstellte, daß das
Ausland Weierstraß für den größten deutschen Mathematiker hält.“ Dies führte u.a. zu einer
Desorganisation der Feierlichkeiten anlässlich Weierstraß’ 70. Geburtstag. (HILDEBRANDT/
STAUDE-HÖLDER 2014, 197; Brief Otto Hölders v. 5.11.1885).
204 Klein, F.: “Sulla risoluzione delle equazioni di sesto grado (Auszug aus einem Brief an Ca-
stelnuova)”. Rendiconti della Reale Accademia dei Lincei, Classe di scienze fisiche, matema-
tiche e naturali (9. April 1899) 8 (1899) 324; Klein, F. in Crelle-Journal 129 (1905) 151-74;
Nachdruck Math. Ann. 61 (1905) 50-71; KLEIN 1922 GMA II, 260; 482. – Vgl. die
Abschnitte 4.2.1; 5.5.2.1; 5.5.6.
205 Zitat in KLEIN 1926 Vorlesungen I, 282; vgl. auch BIERMANN 1988, 85.
206 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 284.
207 [Oslo] II (Klein am 1.11.1892), abgedruckt in ROWE 1992, 589.
208 Vgl. BIERMANN 1988, 104.
2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin 55
Dieser Bericht ging an das Kultusministerium und konnte die Karriere fördern.
Die zweite Prämie des Semesters erhielt der Wiener Privatdozent Otto Stolz. In
weiteren Semestern wurden Ludwig Kiepert, Eugen Netto, Georg Frobenius u.a.
auf diese Weise ausgezeichnet.219
Kleins viel diskutierter Seminarvortrag, in welchem er Cayleys Maßbestim-
mung mit nichteuklidischer Geometrie zusammendachte (vgl. 2.5.3), fiel übrigens
nicht in den prämierten Zeitraum.
Die Zahl der Mathematik-Studenten in Berlin ging über die Zahl zwölf hinaus, die
pro Semester im Mathematischen Seminar von Kummer und Weierstraß aufge-
nommen wurden. Deshalb hatten Nichtaufgenommene bereits im November 1861
einen Mathematischen Verein zu Berlin gebildet, der offen für alle und Vorbild
für derartige Vereine an anderen Orten war. Der Verein nahm Mitgliedsgebühren,
hielt eine Bibliothek und wollte die mathematischen Kenntnisse der Mitglieder
durch Vorträge, Diskussionen, Stellen und Lösen von Aufgaben vertiefen.220
Felix Klein begegnete hier Ludwig Kiepert, Sophus Lie, Otto Stolz, Heinrich
Bruns, Eugen Netto, Hermann Schubert, Max Simon u.a.; von diesen promovier-
ten alle, bis auf Lie und Stolz, bei Weierstraß und Kummer, in der Zeit von 1867
bis 1871.221 Für Klein sollten zunächst Kiepert, Lie und Stolz besonders wichtig
werden. Heinrich Bruns traf Klein später als Kollegen (Astronom) in Leipzig
wieder. Hermann Schubert ist der erwähnte forschende Gymnasiallehrer mit en-
gem Bezug zur algebraisch-geometrischen Schule (vgl. Abschnitt 2.4.1).
222 KIEPERT 1926, 59. – KOENIGSBERGER 1919, 23, gab ebenfalls an, dass sich bei Weierstraß die
Zahl „allmählich auf 4 bis 5 Hörer reduzierte“. – Jürgen Elstrodt in KÖNIG/SPREKELS 2016,
43, muss deshalb korrigiert werden.
223 Weierstraß’ Gutachten zu Kieperts Dissertation v. 11.7.1870, in BIERMANN 1988, 117-18.
224 KIEPERT 1926, 62.
225 Ebd., 62-64. Vgl. auch [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 49-120 (Briefe Kieperts an Klein).
226 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 293.
227 Klein F.: Theorie der elliptischen Funktionen, II. Teil, SS 1884, ausgearbeitet von Bieder-
mann, Bibliothek des Mathematischen Instituts der Universität Leipzig, 411, 412.
58 2 Prägende Gruppen
Weierstraß und einige seiner Schüler sollten dagegen durchaus subjektiv gefärbte,
herablassende Urteile über Klein äußern, um zu verhindern, dass dieser einen Ruf
an „ihre“ Universität erhalten könne (vgl. Abschnitt 6.5.1.1).
Mit Sophus Lie231 aus Christiania (seit 1924: Oslo) traf Klein in Berlin seinen
mathematisch wichtigsten Partner, der im selben Semester nach Berlin gekommen
war.232 Inspiriert durch einen Vortrag, den Hieronymus Zeuthen beim skandinavi-
schen Naturforschertreffen 1868 gehalten hatte233, war Lie in Arbeiten von Ponce-
let, Chasles, Plücker u.a. eingedrungen, hatte eine erste Arbeit publiziert und diese
auch an Clebsch geschickt. Klein erklärte seiner Mutter:
Unter den jüngeren Mathematikern habe ich eine Bekanntschaft gemacht, die mir sehr zusagt.
Es ist ein Norweger Lie, dessen Namen ich nach einem in Christiania von ihm veröffentlich-
ten Aufsatze schon kannte. Wir haben uns mit ähnlichen Gegenständen speziell beschäftigt,
so daß es uns an Material zur Unterhaltung nicht fehlt. Uns vereinigt nicht nur diese gemein-
same Liebe, sondern auch eine gewisse gemeinsame Opposition gegen die Art und Weise, in
welcher sich hier die Mathematik breit macht, gegenüber den mathematischen Leistungen an-
derer, besonders der Ausländer.234
Unter den 74 Mathematik-Studenten 1869/70 in Berlin waren nur wenige aus dem
Ausland: Drei aus der Schweiz, je einer aus Polen und Italien, der Norweger Lie,
der Österreicher Stolz. Klein hatte herablassende Bemerkungen über ausländische
Wissenschaft bei Kultusbehörden und auch bei Professoren gehört, u.a. als er dem
Meteorologen Heinrich Wilhelm Dove einen Antrittsbesuch abstattete.235 Da Wei-
erstraß wenig zitierte, konnte er derartige Haltungen bei seinen Schülern begüns-
tigen, wie über H. A. Schwarz bekannt werden sollte (vgl. 5.5.2.4).
228 [UGB] Cod. Ms. F. Klein 10: Kiepert an Klein, Brief v. 15.10.1881.
229 Ebd. 108 Kiepert an Klein, Brief v. 25.5.1884.
230 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 293. – Vgl. auch Abschnitt 4.2.2 in diesem Buch.
231 Zur jüngsten Biographie vgl. STUBHAUG 2003; auch ENGEL 1899, NOETHER 1900.
232 AMTLICHES VERZEICHNIS 1869, 24, 28, 66.
233 Vgl. STUBHAUG 2003, 105. – Zu den Arbeiten von Klein und Lie vgl. auch ROWE 1989.
234 Brief Kleins v. 31.10.1869, abgedruckt in LIE 1934 GMA I, Anmerkungsband, 636.
235 Ebd.
2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin 59
Lie hatte seine erste, oben erwähnte Arbeit ins Deutsche übersetzen lassen,
beim Crelle-Journal im Februar 1869 eingereicht und außerdem in Christiania
publiziert.236 Klein war begeistert über die gleichen Ausgangspunkte und begann,
Lies aktuelle Arbeit zu redigieren: „Über die Reciprocitäts-Verhältnisse des Reye’
schen Complexes“, die Clebsch in die Göttinger Nachrichten aufnahm. Das
Thema besaß Bezüge zu Max Noethers Abbildung des linearen Komplexes auf
den Punktraum und zu Theodor Reyes Erzeugen der Gesamtheit der Geraden,
welche die Seitenflächen eines Tetraeders nach einem konstantem Doppelverhält-
nis schneiden (=Reye-Komplex). Am Ende dieser Arbeit von Lie steht: „Die letz-
ten beiden Sätze verdanke ich Herrn Dr. Klein, mit dem zusammen ich gelegent-
lich eine ausführlichere Untersuchung der hieher gehörigen Congruenzen zu ge-
ben hoffe.“ Diese Arbeit enthielt wichtige Ideen im Keim: die Idee der Berüh-
rungstransformation (mit der gerade Linien in Kugeln umgewandelt werden
konnten; d.h. die Plückersche Liniengeometrie zu einer Kugelgeometrie) und dass
der Komplex eine partielle Differentialgleichung erster Ordnung definiert.237
Lie fiel das Aufschreiben schwer und Klein übernahm dies gern für ihn. Klein
half, den Stoff zu systematisieren und bereicherte die Ansätze mit Analogie-
schlüssen. Er stärkte Lies Selbstvertrauen und trug die Arbeit zum Reye-Komplex
im Berliner Mathematischen Seminar vor, da sich Lie noch unsicher im mündli-
chen Ausdruck fühlte.238 Lie schrieb nach Hause: „Ich betrachte es als außeror-
dentliches Glück, dass Klein, der ein hervorragender (wenn auch junger) Schüler
von Plücker und Clebsch ist, sich in diesem Semester in Berlin aufgehalten hat.
Wir reisen gemeinsam nach Paris, und wenn ich das betreffende Stipendium be-
komme, auch nach Mailand und Cambridge.“239 Klein urteilte später:
Lie war ganz productiver Forscher, er arbeitete aus sich heraus und nahm nur auf, was unmit-
telbar für ihn von Interesse war. Ich selbst hatte mir schon in Berlin das Ideal gebildet, dem
ich seitdem treu geblieben bin, dass ich in der Wissenschaft etwas leisten wollte, indem ich
verschiedene Standpuncte erfasste und verglich. Insbesondere verfolgte ich damals, wie noch
längere Zeit später, auch physikalische Interessen. Ich war überhaupt nicht so ausschliesslich
mathematisch wie Lie.240
Klein förderte und nahm sich selbst eher zurück. Sophus Lies Karriere sollte er in
ganz außergewöhnlicher Weise unterstützen (vgl. 5.8.3). Lie drückte früh aus,
dass Klein ein ebenso eminenter Forscher wie Lehrer sei und die besondere Fä-
higbeit besitze, sich auf die Gedanken anderer einzustellen.241
Der erwähnte Wiener Privatdozent Otto Stolz, gleichaltrig mit Lie, war zum
Wintersemester 1869/70 mit einem staatlichen Reisestipendium nach Berlin ge-
kommen. Felix Klein erfuhr durch Stolz von der Existenz nichteuklidischer Geo-
236 LIE 1934 GMA I, 1-11; Lie, S.: „Ueber eine Darstellung des Imaginären in der Geometrie“.
Crelle-Journal 71 (1869) 346-53; vgl. dazu NOETHER 1900, 3; STUBHAUG 2003, 13.
237 Publiziert in Göttinger Nachrichten 1870, No. 4 (16. Februar), 53-66; LIE GMA 7, 50, zum
Bezug zu Max Noether vgl. NOETHER 1901, 5.
238 STUBHAUG 2003, 128, 137.
239 Zitiert nach STUBHAUG 2003, 140-41.
240 [Oslo] II (Klein, am 1.11.1892), publiziert in ROWE 1992a, 588-604, Zitat 590.
241 Lie an Holst, 1874, zitiert nach STUBHAUG 2003, 244-45.
60 2 Prägende Gruppen
metrien und gewann durch ihn den Zugang zur projektiven Geometrie Karl Georg
Christian von Staudts. Klein gab an: „Stolz war alle die Zeit nicht nur mein
strenger Kritiker, sondern auch mein literarischer Anhalt. Er hatte Lobatscheffsky,
Joh. Bolyai und v. Staudt genau studiert, wozu ich mich nie habe zwingen kön-
nen, und stand mir bei allen meinen Fragen Rede und Antwort.“242
Hier sei kurz ausgeführt, dass von Staudt die projektive Geometrie von me-
thodischen Mängeln befreit hatte.243 Poncelets projektive Geometrie war aus der
dreidimensionalen (euklidischen) Geometrie entstanden, indem die Ebene bzw.
der Raum um sog. „unendlichferne Punkte“ ergänzt und die Aussage „parallel“
durch „sich im Unendlichen schneidend“ ersetzt worden waren. Das führte zu
Aussagen wie: „Zwei verschiedene Geraden in einer Ebene schneiden sich in ge-
nau einem Punkt“. Die projektive Geometrie zielte auf das Zusammenfassen der
geometrischen Resultate, die sich nur mit den Begriffen „Verbinden“ und
„Schneiden“ formulieren lassen. Dabei waren zunächst metrische Begriffe wie
Strecke und Winkel (insbes. zur Definition des Doppelverhältnisses) benutzt wor-
den, die allmählich als Fremdkörper in der projektiven Geometrie erschienen. Von
Staudt hatte im Unterschied zu seinen Vorgängern mit seiner Geometrie der Lage
(1847; 1856) einen metrikfreien Aufbau angestrebt, der sich nur auf Annahmen
über die Lage und Anordnung von Punkten, Geraden usw. stützte.
Die Grundideen schnell erfassend, erkannte Klein das mögliche Verknüpfen
von Cayleys projektiver Maßbestimmung mit nichteuklidischer Geometrie (vgl.
2.5.3). Er arbeitete das Thema 1871 im Austausch mit Otto Stolz näher aus (Ab-
schnitt 2.8.2). Stolz blieb ein langjähriger Partner Kleins, wenn auch kein Duz-
freund. Er referierte Arbeiten von Klein und publizierte 15 Beiträge in den Ma-
thematischen Annalen. Stolz’ Tätigkeit als Gutachter für diese Zeitschrift wurde
durch die Zuwendung eines regelmäßigen Freiexemplars anerkannt.244
Dieses Thema sollte das erste sein, bei dem Klein einen Zusammenhang intuitiv
erfasste, an den andere bisher nicht gedacht hatten. Er hatte sich ausgehend von
Plückers Liniengeometrie mit der projektiven Metrik befasst und wusste von den
Arbeiten des britischen Mathematikers Arthur Cayley, durch dessen projektive
Maßbestimmung (1859) „das eigentliche Messen selbst dem allgemeinen projek-
tiven Begriffe des Doppelverhältnisses eingefügt worden“ war.245
Im Sommer 1869 hatte Klein Cayleys Theorie in Wilhelm Fiedlers Bearbei-
tung der Salmonschen Conics gelesen und in Berlin mit Sophus Lie Arbeiten von
Cayley auszugsweise studiert. Am 10. März 1870 schrieb Klein an Lie: „Als eine
242 KLEIN 1923 GMA I, 51-52.; KLEIN 1926 Vorlesungen I, 133, 151-52; BINDER 1989.
243 Vgl. Noether, M.: „Zur Erinnerung an Karl Christian von Staudt“. Jahresbericht DMV 32
(1923) 97-118, bes. 105, 112-14.
244 Ab Band 17, H.1, vgl. [Innsbruck] Klein an Stolz, Brief v. 28.4.1880.
245 Vgl. Noether, M.: “Arthur Cayley”. Math. Ann. 46 (1895) 462-80, Zitat 468.
2.5 Erweiterung von Horizont und Freundeskreis in Berlin 61
Neuigkeit habe ich Dir zu erzählen, daß Cayley mir seine beiden Arbeiten on cu-
bic Surfaces und on reciprocal Surfaces, die wir damals zusammen im Auszuge in
den Proceedings studirten, zugesandt hat.“246 Cayley hatte nachgewiesen, dass
sich die gewöhnliche (Euklidische) Maßgeometrie als ein Teil der projektiven
Geometrie auffassen lässt.247 Weierstraß, der häufig die Lehre über das Semester-
ende hinaus verlängerte,248 bat Klein noch im März um einen Vortrag darüber:
Leider werde ich nicht so früh von hier weg kommen, wie ich wollte, nämlich erst am Don-
nerstag den 17ten. Freitag Abend traf ich nämlich Weierstrass in einer Gesellschaft und der-
selbe verpflichtete mich dazu, noch am 16ten im Seminar den versprochenen Vortrag über
Cayley’s Verallgemeinerung des Entfernungs-Begriffs zu halten.249
Cayley hatte in seiner Arbeit von 1859 erstmals die allgemeinen Ausdrücke der
Entfernung und des Winkels als Invarianten in Bezug auf den Kugelkreis be-
trachtet. Er schrieb diese Invarianten bezüglich irgendeines Kegelschnitts auf (be-
zeichnet als absoluten Kegelschnitt) und entwickelte damit die nach ihm benannte
allgemeine projektive Maßbestimmung. Klein erkannte den Bezug zur nichteukli-
dischen Geometrie, nachdem ihm Stolz von Lobatschewskis Arbeiten berichtet
hatte. Im damaligen Brief an Lie über den gehaltenen Vortrag ist nichts vom spä-
ter oft benannten Frust über Weierstraß’ Haltung erkennbar:
An dem vorhergehenden Mittwoch Abend [16.3.1870, R.To] habe ich bei Weierstraß den be-
wussten Vortrag über Cayley gehalten. Weierstraß hat sich am folgenden Tage bei meinem
Abschiedsbesuche lange mit mir unterhalten. Kummer war viel kürzer; er hat mir übrigens für
Dich ein Exemplar seiner Strahlensysteme mitgegeben.250
Kleins erste intuitive Idee hatte Weierstraß wohl kaum überzeugen können. Später
deutete dies Klein als eine unterschiedliche Art, neue Resultate zu gewinnen:
[…] hielt ich einen Vortrag im Weierstraßschen Seminar über Cayleys Maßbestimmung, den
ich mit der Frage schloß, ob hier nicht eine Übereinstimmung mit Lobatscheffsky vorläge. Ich
erhielt jedoch als Antwort, das seien wohl doch ganz getrennte Gedankenkreise; für die
Grundlagen der Geometrie komme wohl vor allen Dingen die Eigenschaft der Geraden in
Betracht, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten zu sein.
Durch diese ablehnende Haltung ließ ich mir imponieren und schob die schon gefasste Idee
beiseite. Der Kritik der Logiker gegenüber, die meinem Interesse ferner lag, war ich immer
schüchtern. Erst sehr viel später lernte ich verstehen, daß es sich um eine Verschiedenheit der
Anlagen handle und dass die Psychologie der mathematischen Forschung ihre großen Pro-
bleme berge. Weierstraß war offenbar mehr eine Natur der sorgfältigen schrittweisen For-
schung, die den Weg zum Gipfel bahnt; es lag ihm weniger, noch nicht erreichte Spitzen des
Gebirges aus der Entfernung in ihren Umrissen deutlich zu erkennen, zum mindesten machte
er an dieser Stelle von einem solchen Fernblick keinen Gebrauch.252
Mein Plan, von dem Ministerium einen ausdrücklichen Auftrag zu erhalten, ist mißlungen.
Ich habe mich darauf beschränken müssen einfach eine Eingabe einzureichen, in welcher ich
um diplomatische Empfehlungen nach Paris und London bitte. Solche Empfehlungen sollen
vortheilhaft sein, z.B. um Zutritt zu der Ecole polytechnique zu finden oder um die größeren
Sammlungen einzusehen.257
Kleins Vater hatte empfohlen, einen offiziellen Auftrag vom preußischen Kultus-
ministerium für die Reisen zu erbitten, worauf zunächst die Antwort kam: „Wir
bedürfen keiner französischen oder englischen Mathematik“.258 Eine zweite Ein-
gabe war jedoch erfolgreich. Felix Klein erhielt diplomatische Empfehlungen und
wurde aufgefordert, später darüber zu berichten (vgl. Anhang Nr. 1 zum Buch).
Klein weilte von Dienstag, dem 19. April 1870, bis zum Ausbruch des
Deutsch-Französischen Krieges Mitte Juli 1870 in Paris, Zimmer an Zimmer mit
Sophus Lie wohnend, der ca. einen Monat früher dort angekommen war. Sie
wohnten in einer „Studentenbude“ im l’hôtel Molinié (Rue de l’École de Médi-
cine 32)259, nicht weit entfernt von der Sorbonne in einem der ältesten Pariser
Stadtviertel. Mit der französischen Sprache vertraut, gelang Klein der Zugang zu
den Pariser Institutionen problemlos, während Sophus Lie erst gemeinsam mit
ihm Kontakte zu französischen Mathematikern gewinnen konnte.260
Ostersonntag, am 17. April, hatte Felix Klein noch bei den Eltern in Düssel-
dorf zugebracht und war über Aachen gereist. Hier hatte er nicht nur Verwandte,
sondern auch den Mathematiker Theodor Reye besucht. Reye bekleidete seit 1870
die Professur für Geometrie und Graphische Statik an der neu gegründeten preu-
ßischen Königlich Rheinisch-Westphälischen Polytechnischen Schule. Klein und
Lie waren bei ihren gemeinsamen Forschungen auf Reyes Arbeiten gestoßen (vgl.
2.5.2). Reye hatte noch bei Riemann in Göttingen gehört und war in Zürich durch
Karl Culmann – bekannt durch seine graphische Statik – auf von Staudts Geome-
trie der Lage gewiesen worden. Reyes darauf basierende verständlichere Geome-
trie der Lage (1866, 1868) erlebte mehrere Auflagen und Übersetzungen. 1870
bildete das in Reyes Band 2 (1868) enthaltene Thema Komplexe den wichtigen
Bezugspunkt für Klein und Lie.261
Von Aachen aus war Klein mit dem Nacht-Schnellzug nach Paris gefahren,
wo ihn Lie am Gare du Nord am Morgen des 19. April 1870 empfing.262 Ihre Zeit
verbrachten sie nicht nur mit mathematischer Arbeit. Sie genossen auch etwas das
Pariser Leben. Dies dokumentiert ein Erinnerungsbrief von Lie an Klein, als sie
versuchten, einen Termin für eine erneute gemeinsame Paris-Reise zu finden:
Denkst nicht auch Du auf eine Pariserreise [sic!]. Es würde merkwürdig sein, wenn wir uns
nochmals in Paris treffen. Wir würden nochmals nach Sceaux gehen und unter den Bäumen
Kaffee trinken, nochmals die Hippopotamus in dem zoologischen Garten bewundern, noch-
mals vielleicht uns in Closerie de Lille einen Abend treffen. Denk daran!263
263 Nach STUBHAUG 2003, 297. – Sceaux: Stadt, 10 km südwestlich von Paris; Hippopotamus:
Flusspferde; La Closerie des Lilas: seit 1847 existierendes Café, Paris Montparnasse.
264 Vgl. TOBIES 2016, RICHTER 2015.
265 Jordan hatte Clebsch 1869 in Göttingen besucht, vgl. HARTWICH 2005, 14. – Lie war 1870 bei
Clebsch und fühlte sich damals dessen Schule zugehörig, vgl. STUBHAUG 2003, 141.
266 Vgl. hierzu STUBHAUG 2003, 146.
267 Vgl. KLEIN 1926 Vorlesungen I, 140-46; ROWE 1989.
268 Vgl. GISPERT 1991.
269 Vgl. GISPERT 1987, NEUENSCHWANDER 1984; CROIZAT 2016.
270 [Paris] Klein an Darboux, Brief v. 25.3.1870.
2.6. In Paris mit Sophus Lie 65
Sie freuten sich zudem über „eine hauptsächliche Tendenz des Bulletin’s […], die
in Frankreich seither wenig bekannten modernen Zweige der Geometrie und Al-
gebra mehr einheimisch zu machen“.271
Darboux nahm Ergebnisse von Klein und Lie in sein Bulletin auf. Er führte
sie zudem in französiche Arbeiten ein, in deren Zentrum die Idee des imaginären
Kugelkreises und dessen Anwenden auf metrische Verhältnisse (das Auffinden
von Krümmungskurven auf gegebenen Flächen) standen.272 Sie erfuhren von der
Tendenz, „[…] mit der projectiven Betrachtung der Metrik das Studium jener Dif-
ferentialgleichungen der Flächentheorie zu verbinden, welche von Monge her ein
Lieblingsgegenstand der französischen Analytiker geblieben sind.“273
Klein und Lie fanden daran anknüpfend neue Forschungsansätze, die Klein
als Übertragungsprinzipien bezeichnete. Sophus Lie wurde zu Analogien zwi-
schen Linien- und Kugelgeometrie, Felix Klein zu solchen zwischen Linien- und
metrischer Geometrie geführt. So berichtete Klein an Darboux noch später, dass
er „Analogien zwischen Liniengeometrie und metrischer Geometrie bei 4 Variab-
len“ weiter verfolge.274 Ein maßgeblicher Ausgangspunkt für Kleins Analogie-
schlüsse waren Darboux’ Arbeiten über konfokale Zykliden („allgemeine Flächen
vierter Ordnung, welche den Kugelkreis doppelt enthalten“).275 Die Analogie-
schlüsse führten auch zur Erkenntnis von Bezügen zwischen Haupttangentenkur-
ven und Krümmungskurven (vgl. 2.6.2.2). Die Ansätze flossen in Kleins Erlanger
Programm (Oktober 1872), das mit dem Hinweis auf das Verhältnis von projekti-
vischer Methode, metrischen Eigenschaften (Lage, Größe, Orthogonalität, Paral-
lelität, Teilverhältnis, Doppelverhältnis, Inzidenz) und unendlich fernem Kugel-
kreis startet und auf die Idee der Übertragungsprinzipien verweist.276
1870 war gerade Jordans Traité des substitutions et des équations algébriques
(Gauthier-Villars: Paris 1870) erschienen. In welchem Maße dieses Werk Klein
Jordan entwickelte in seinem Traité nicht nur Galois’ Theorie weiter. Sein er-
wähnter Besuch bei Clebsch (1869) hatte seinen Blick auf Ergebnisse von Hesse,
Clebsch, Kummer und deren entwickelte (geometrische) Gleichungen in Verbin-
dung mit den zugehörigen (Substitutions-)Gruppen erweitert,278 was Klein und
Lie zur ersten Verwendung des Gruppenbegriffs führen sollte (vgl. 2.6.2.1).
Klein äußerte sich uneinheitlich über den Einfluss des Traité. 1892 sprach er
von einem „nur indirekten Anstoß“. 1921 schrieb er, dass dieses Werk ihnen zu-
nächst als „ein Buch mit sieben Siegeln erschien“.279 1924 teilte er Friedrich
Engel dezidiert mit, dass ihnen im Verkehr mit Jordan „die allgemeine Bedeutung
des Gruppenbegriffes nahegelegt wurde“, dass sie Jordans „Sur les groupes de
mouvement“ und Galois’ Arbeit kannten mit dem Kern, dass „jede Gleichung eine
bestimmte Gruppe besitzt, sobald man den Rationalitätsbereich kennt, in dem man
operiert“.280 In Jordans Arbeit zu Bewegungsgruppen (Annali di Matematica pura
ed applicata, ser. 2, vol. 2, No. 3 (1868) 167-215, 322-45), wurden Gruppen von
Transformationen nach moderner Analyse als Halbgruppen definiert.281 Jordan
hatte Galois’ Arbeit bereits in Band 1 der Mathematischen Annalen vorgestellt,282
was Klein und Lie vor der Paris-Reise gelesen hatten.283
Während mit Jordans Traité die Gruppentheorie als unentbehrliches Instru-
ment der Gleichungstheorie galt (mit Kleins Hinweis „Substitution heißt hier
Buchstabenvertauschung“), versuchten Klein und Lie die Bedeutung der Grup-
pentheorie für die verschiedensten Gebiete der Mathematik herauszuarbeiten.284
Natürlich war ihr Gruppenbegriff entfernt von einem modernen Verständnis.285
277 Bericht v. Klein und Lie, v. 7.7.1870, abgedruckt in Tobies 2015, Zitat 31.
278 Zum Beispiel: Livre IV, Chapitre III, § II. – Équations de M. Clebsch. 427.-430. Groupes de
ces équations. – Leurs facteurs de composition (305-308).
279 [Oslo] II (Klein, 1.11.1892) in ROWE 1992, 591. KLEIN 1921 GMA I, 51.
280 Klein an F. Engel, Brief v. 25.10.1924, den er als Kommentar zu Engels Beitrag „Gruppen-
theorie und Grundlagen der Geometrie“ geschrieben hatte, abgedruckt in Mitt. aus d. Math.
Seminar d. Univ. Gießen 35 (1945) 1-22 (Brief Kleins 22-24, Zitat 23).
281 Vgl. HOFMANN 1992.
282 Jordan, C.: « Commentaire sur Galois ». Math. Ann. 1 (1869) 141-60.
283 Vgl. NOETHER 1900, 8.
284 KLEIN 1926, Vorlesungen I, 335.
285 Vgl. HOFMANN 1992; SCHOLZ 1989, 103-109; WUßING 2007.
68 2 Prägende Gruppen
Aber selbstbewusst dachten sie bereits vor der Reise daran, in Paris zu publizie-
ren. So hatte Klein an Lie geschrieben:
An unserem Projecte mit der Pariser Akademie halte ich fest und ich habe noch keinen Au-
genblick, seit ich es überhaupt aufgefaßt habe, an seiner Ausführbarkeit gezweifelt. Dein
Ausspruch, daß unsere Betrachtungen und Arbeiten mindestens einen Werth haben wie die
Mehrzahl der Mittheilungen in den Comptes Rendus, ist auch meine Ueberzeugung […].288
Klein und Lie hatten sich darüber verständigt, Ergebnisse in den Comptes Rendus
hebdomadaires des séances de l’Académie de sciences de Paris (kurz: Comptes
Rendus), dem Organ der Académie des Sciences, zu publizieren. Ausgangspunkt
für ihre Zuversicht war Lies Arbeit zum Reye-Komplex, die Klein für die Göttin-
ger Nachrichten ausgearbeitet hatte. In den Sitzungen der Pariser Académie am 6.
und am 13. Juni 1870 präsentierte Chasles ihre zwei Noten „Sur une certaine fa-
mille de courbes et de surfaces“ [Über eine gewisse Familie von Kurven und
Oberflächen], fünf bzw. vier Seiten lang.289 In Paris war das Publizieren einfacher
als in Berlin:
Die Mittheilungen in den Comptes Rendus haben meist den Zweck einer augenblicklichen
und vorläufigen Bekanntmachung. Man ist mit der Aufnahme der Artikel sehr liberal, viel-
leicht zu liberal. Jedenfalls ist diese Möglichkeit, binnen 8 Tagen eine Arbeit veröffentlichen
zu können, außerordentlich angenehm. Ein derartiges Institut fehlt in Deutschland bis auf die
immer sehr rasch nach der jedesmaligen Akademiesitzung erscheinenden Göttinger Nach-
richten.290
Theorie der logarithmischen Spirale hier subsumirt und dass sich eine analoge Theorie der
Loxodrome ergibt. Für unsere heutige Auffassung erscheint das ja sehr selbstverständlich.
Damals aber überraschte es uns, dass sich unsere projectiven Ueberlegungen auf derartige
transcendente Gebilde der metrischen Geometrie übertragen liessen. […]296
Als Klein seine Arbeiten für die Gesammelten Abhandlungen sortierte, ordnete er
diese Arbeiten über W-Gebilde in die Entstehungszeit des Erlanger Programms.
Das Hauptresultat hierzu gewannen Klein und Lie Anfang Juli 1870 in Paris.
Klein urteilte dazu: „Nicht die Erfassung bestimmter von vornherein bekannter
Fragestellungen ist das Treibende dabei gewesen, sondern die spontane Weiter-
entwicklung subjektiv gegebener Ansätze.“297 Lies Ansatz führte dazu, dass von
Darboux und Moutard bestimmte Krümmungskurven der Zykliden in die Haupt-
tangentenkurven übergingen. Klein basierte auf Liniengeometrie und beschrieb:
Ich war – Anfang Juli 1870 – eines Morgens früh aufgestanden und wollte gerade ausgehen,
als mich Lie, der noch im Bette lag, in sein Zimmer rief und mir den von ihm in der Nacht ge-
fundenen Zusammenhang der Haupttangentenkurven einer Fläche mit denn Krümmungskur-
ven einer anderen Fläche in einer Weise auseinandersetzte, daß ich kein Wort verstand. (Es
handelte sich um die Linienkugeltransformation […].) Jedenfalls versicherte er mir, daß da-
nach die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche algebraische Kurven 16. Ordnung
sein müßten. Am Vormittage kam mir dann, während ich das Conservatoire des Arts et
Métiers besichtigte, der Gedanke, daß es sich um eben jene Kurven 16. Ordnung handeln
müßte, welche schon in […] meiner „Theorie der Linienkomplexe ersten und zweiten Gra-
des“ aufgetreten waren, und es gelang mir rasch, die […] von der Lieschen Transformation
unabhängigen geometrischen Betrachtungen durchzuführen. Als ich am Nachmittage um 4
Uhr nach Hause zurückkam, war Lie ausgegangen, und ich hinterließ ihm eine Zusammen-
stellung meiner Resultate in einem Briefe.298
Klein bestimmte die Singularitäten dieser Kurven und entwickelte, zurück in Düs-
seldorf, „die volle gestaltliche Diskussion für den Fall eines von Doppelpunct zu
Doppelpunct ziehenden Segments“, wobei er auf letzteres Resultat offensichtlich
besonders stolz war und darin „eine Bestätigung für die Leistungsfähigkeit meiner
geometrischen Auffassung erblickte“.299
Klein gelangte durch die Arbeit mit Lie zu einer neuen allgemeinen Auffas-
sung über die Methoden und Aufgaben der Geometrie. D.h., Klein erkannte, dass
es neben der projektiven Betrachtung algebraischer Flächen eine andere gleichbe-
rechtigte Betrachtungsweise gibt, in welcher die Kugeln dieselbe invariante Rolle
spielen wie die Linien bei der projektiven Auffassung. Hierin sah er ebenfalls ei-
nen Anstoß für die später im Erlanger Programm niedergelegten Ideen.300
Aus dem mehrseitigen Bericht vom 7. Juli 1870 über die hiesigen mathematischen
Zustände, geschrieben in Paris mit Kleins Handschrift und unterschrieben von
Klein und Lie,301 ist im Vorstehenden bereits zitiert worden. Dieser durchaus
subjektive, an den akademischen mathematischen Verein der Universität Berlin
gerichtete Erfahrungsbericht wurde von Klein auch an den damaligen preußischen
Kultusminister Heinrich von Mühler gesandt:
Ich habe an den Minister geschrieben, dem ich, wie Du weißt, Referate über französische und
englische Mathematik in Aussicht gestellt hatte. Als Beweis, dass ich in der beabsichtigten
Richtung gearbeitet, habe ich ihm unsere Comptes Rendus und eine Copie unseres Berichtes
an den Berliner Verein zugeschickt.302
Klein und Lie lieferten mit ihrem Bericht eine beeindruckende Übersicht über den
damaligen Stand der mathematischen Studien in Frankreich; über die Art und
Weise des mathematischen Lehrbetriebs an den verschiedenen Institutionen, die
jeweils zugelassenen Studierenden, die Zahl der Hörer, das Mathematik produzie-
rende Publikum, wozu auch Techniker und Ingenieure gehörten, und die mathe-
matische Produktion in den letzten Jahren. Im Unterschied zu deutschen Univer-
sitäten waren die Lehrveranstaltungen in Paris öffentlich (ohne Kosten besuch-
bar). Klein und Lie äußerten sich darüber weniger begeistert, weil sich damit das
Verhältnis Dozent – Student verschlechtere. Zugleich vermissten sie den in
Deutschland entwickelten Seminarbetrieb und ein mathematisches „Lese-Institut“.
Sie waren in Paris auf private Kontakte angewiesen, um neue Literatur einsehen
zu können. Außerdem bedauerten sie die nach ihrer Ansicht gering entwickelten
Beziehungen der Mathematiker untereinander – was sich wohl durch die oben
erwähnte Gründung der Société Mathématique de France bald bessern sollte.
Bei ihren Ausführungen über die Pariser (mathematischen) Zeitschriften ist
ihr deutsch-französischer Vergleich über die Art und Weise des Redigierens von
Arbeiten hervorhebenswert. Sie bevorzugten die französische Art:
Die französische Weise, mathematische Arbeiten zu redigiren, hat vor der deutschen den Vor-
zug unvergleichlich größerer Klarheit, sagen wir lieber, Einfachheit. In Deutschland hat man
vielfach die Methode angenommen, mathematische Auseinandersetzungen möglichst zu-
sammenzudrängen, und sie dabei in solcher Weise zu redigiren, daß nur derjenige sie verste-
hen kann, der gerade in derselben Disciplin arbeitet. Bei der hier üblichen Darstellungsweise
fällt dieser Uebelstand fort, wenn dadurch auch der Raum, den jede Mittheilung einnimmt,
vergrößert wird. Wir zweifeln keinen Augenblick, der französischen Darstellungsweise den
unbedingten Vorzug einzuräumen. Denn der Zweck einer mathematischen Arbeit kann ver-
nünftiger Weise nur der sein, verstanden zu werden, nicht der, Bewunderung für den Autor zu
erregen.303
Der Pariser Aufenthalt sollte nachhaltige Spuren hinterlassen. Dazu gehörte die
Wertschätzung mathematischer Modelle und Apparate, die durch die Sammlun-
gen des Conservatoire des Arts et Métiers vertieft worden war. Dazu gehörte das
Kennenlernen neuer preiswerter Vervielfältigungsverfahren mittels Steindruck
(Lithographie), was in Frankreich (und auch Italien) früher als in Deutschland bei
mathematischen Arbeiten verwendet wurde.304 Insgesamt estimierte Klein die
Leistungen französischer Mathematiker. Er suchte auch später regelmäßig den
wissenschaftlichen Austausch, förderte Studenten aus Frankreich, gewann Auto-
ren für die Mathematischen Annalen und für das ENCYKLOPÄDIE-Projekt. Bei der
Reform des Mathematikunterrichts sollte das französische Beispiel wiederholt als
Argument dienen.305
[…] trafen wir 2 ältere Herren, d.h. Assessoren, aus Bonn, die uns am 19ten August über die
Schlachtfelder […] geleiteten. Beim Fussmarsch kam ich in ausführliche Unterhaltung mit
ihnen durch Habilitationspläne u.a. Wunderbare Verkettung: der eine war derselbe Mann, der
später für mich die grösste Bedeutung erlangen sollte: Althoff […]. (Felix Klein)306
Nichtsdestoweniger mag ich nicht unterlassen, jetzt, wo wieder die Moeglichkeit eines brief-
lichen Verkehrs geboten ist, Ihnen ein Lebenszeichen von mir zu geben […]
(Klein an Darboux, 14.2.1871)307
Wegen des Kriegsausbruchs mussten Klein und Lie ihren Aufenthalt in Paris frü-
her als geplant beenden. Klein reiste zu den Eltern nach Düsseldorf und sandte
bereits zehn Tage später einen Brief an Lie, in dem Kugelkreise, Komplexe und
ähnliche Begriffe vorkamen.308 Daraus entstand die vielfach erzählte Geschichte
von Lies Verdächtigung als deutscher Spion. Lie hatte Kleins Brief in der Tasche,
wurde Anfang August in Fontainebleau, ca. 55 km südöstlich von Paris, aufgegrif-
fen und bis zum 10. September inhaftiert, da er keinen gültigen Reisepass besaß.
Als Lie bei Chasles, Bertrand u.a. um Hilfe bat, reiste Darboux nach Fontaine-
bleau und erreichte die Freisetzung. Lie begab sich danach sofort auf den beab-
sichtigten Weg, durch die Schweiz nach Italien wandernd.309
Im Folgenden wird Kleins Teilnahme als Sanitäter am Deutsch-Französischen
Kriege vom 16. August bis 2. Oktober 1870 beleuchtet, 310 und nach dem Einfluss
des Krieges auf die Karriere und die französischen Kontakte gefragt (vgl. 2.7.1).
Da die mathematischen Gedankengänge nur kurz unterbrochen wurden und
der schon anvisierte Habilitationsplan auch auf dem Schlachtfeld in Kleins Blick
lag, wird das Thema in diesen Abschnitt gefügt (2.7.2).
Der detaillierte Kriegsverlauf ist hier nicht von Interesse. Es sei nur betont, dass
die Kriegserklärung am 19. Juli 1870 von französischer Seite ausging311 und deut-
sche Truppen die von Napoléon III. besiegten. Der preußische König Wilhelm I.
ließ sich am 18. Januar 1871 im Schloss Versailles zum deutschen Kaiser küren.
Am 26. Februar 1871 wurde ebendort ein Vorfriedensvertrag unterzeichnet. Das
Deutsche Reich wurde von oben geeinigt und Otto von Bismarck zum ersten
Reichskanzler ernannt. Für die Wissenschaftspolitik relevant war, dass Elsass-
Lothringen und damit die Université de Strasbourg (gegr. 1621 in der freien
Reichsstadt Straßburg) mit dem Frieden von Frankfurt a.M. vom 10. Mai 1871 an
Deutschland fiel.
Kaum bei den Eltern in Düsseldorf angekommen, schrieb Felix Klein am 29.
Juli 1870 an Sophus Lie nach Paris über weiter entwickelte Ideen zum Haupttan-
gententhema. Er integrierte eine Zeichnung der Aufeinanderfolge der Haupttan-
gentenkurven für den Fall, dass die sechs zugehörigen linearen Komplexe reell
sind (Abb. 10). Es ist dieselbe Abbildung, die in ihre gemeinsame Arbeit einging,
die Kummer in die Sitzungsberichte (Monatsberichte) der Berliner Akademie ein-
bringen312 und die Klein später für ein Ballkleid seiner Braut verwenden sollte
(vgl. 3.6.1). – Anfang 1871 sollte Klein dann der Beweis eines Satzes über die
Beziehungen zwischen Linienkomplexen und den Haupttangentenkurven der
Kummerschen Fläche gelingen, den er analog nach einem Beweis des Theorems
über Krümmungskurven von Charles Dupin führte.313
Im erwähnten Brief vom 29. Juli 1870 hatte Klein auch von seiner Unbrauch-
barkeit für einen militärischen Einsatz berichtet: „Gestern bin ich hinsichtlich
meiner militärischen Brauchbarkeit untersucht worden und als einstweilen un-
tauglich befunden worden. Auf meine Eingabe, in der ich mich dem Kriegsmi-
nisterium zur Verfuegung stellte, habe ich auch gestern, wenn auch erst vorläufige
Antwort erhalten.“ (Vgl. Abb. 10) Die ihm in Aussicht gestellte Position in einer
Intendantur (Verwaltungsbehörde des Heeres) in Münster erhielt er allerdings
nicht.
Nachdem sich Klein acht Tage lang den Komplexen zweiten Grades gewid-
met und schon darüber sinniert hatte, „während der Dauer des Krieges ruhig für
mich hier Mathematik zu treiben“, fuhr er nach Bonn und schloss sich einem Not-
helferverein an. Dieser Verein rüstete junge Leute mit Blechtornister, Mütze und
Roter-Kreuz-Armbinde aus, um sie auf das Schlachtfeld zu senden, „[…] mit der
Bestimmung, die Verwundeten aufzusuchen und denselben Erfrischungen etc. zu
Theil werden zu lassen, insbesondere auch letzte Wünsche entgegen zu nehmen,
die nöthigen Briefe zu schreiben etc.“314
311 Klein datierte die Kriegserklärung auf den 16. Juli (vgl. Anhang Nr. 1).
312 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 29.7.1870; KLEIN 1921 GMA I, 94.
313 [Oslo] Klein an Lie (28.1.; 25.2.1871); KLEIN 1921 GMA I, 98-105; KLEIN 1926, 79.
314 [Oslo] Klein aus Düsseldorf an Lie, Brief v. 8.8.1870.
74 2 Prägende Gruppen
Abb. 10: Auszug aus einem Brief von Felix Klein an Sophus Lie nach Paris, vom 29. Juli 1870
wird durch seine Briefe bestätigt. Noch bevor der erwähnte Vorfriedensvertrag
unterzeichnet war, suchte Klein erneuten Kontakt mit Paris. Sein Brief vom 14.
Februar 1871 an Darboux begann mit den Worten: „Lieber Herr Darboux! Ich
weiss nicht, wo und wie Sie dieser Brief treffen wird, nicht einmal, ob Ihnen der-
selbe, als aus unserem Lande stammend, willkommen sein wird.“322 Der 21-Jäh-
rige beschrieb den Gang der Ereignisse und beeindruckt mit der nach Frieden seh-
nenden Formulierung des abschließenden Satzes:
Als ich damals Paris so plötzlich verlassen musste bin ich als freiwilliger Krankenpfleger bei
einem Huelfs-Corps eingetreten und habe als solcher eine Zeit lang – bis Ende September –
auf dem Kriegsschauplatze zugebracht. Mein Ruecktritt von dieser Thaetigkeit war kein frei-
williger, da ich nicht unbedeutend erkrankt war. Ich habe die ganze Zeit bis Neujahr als Pati-
ent, bez. Reconvalescent verlebt und waehrend derselben zu keiner vernuenftigen Beschaefti-
gung kommen koennen. Eine angenehme Abwechslung war es fuer mich, dass ich einen
mehrtaegigen Besuch von Lie erhielt, der damals auf der Rueckreise nach Christiania begrif-
fen war und sich inzwischen dort habilitirt hat.
Nach Neujahr bin ich zu der mir gewohnteren wissenschaftlichen Thaetigkeit zurueckgekehrt;
ich bin nach Goettingen uebergesiedelt und habe mich daselbst an der Universitaet niederge-
lassen. Die Zahl der Zuhoerer ist natuerlich augenblicklich nur sehr gering; die Zeit ist fuer
die stillen Beschaeftigungen des Friedens nicht guenstig. Moege dem bald und auf recht lange
Dauer anders werden!323
322 [Paris] 42, Klein an Darboux, Brief v. 14.2.1871, abgedruckt in TOBIES 2016, 106.
323 Ebd.
324 Vgl. Abschnitt 5.4.2.1 und TOBIES 2016.
325 Kummers Brief v. 26.11.1870 an Klein und Lie [Oslo] enthielt nationalistische Ausfälle:
„Frankreich hat sich in diesem Kriege als eine sittlich sehr tief gesunkene Nation gezeigt
[…]“. – STUBHAUG 2003, 140, erklärt Kummers Widerwillen gegen die Franzosen mit einem
traumatischen Kindheitserlebnis.
326 Jordans Antwort auf einen Clebsch-Brief sei, „[…] wie man sie von einem ruhig denkenden
Menschen nicht erwarten soll; jede Zeile war patriotische d.h. französische Leidenschaft. Er
hat gleichzeitig seine Mitgliedschaft bei der hiesigen Akademie aufgekündigt, wodurch denn
der Abbruch aller Beziehungen herbeigeführt ist.“ [Oslo] Klein an Lie, 12.7.1871.
2.7 Deutsch-Französischer Krieg und Habilitation 77
2.7.2 Habilitation
Dann bin ich drei Tage in Göttingen gewesen. Es steht jetzt ziemlich fest, daß ich mich dort
habilitieren werde, wie das ja auch nach Deinem Urtheile das Vernünftigste ist.329
Klein hatte seine Karriereschritte mit Lie beraten und mit Clebsch bereits vor der
Paris-Reise abgestimmt. Am 5. Dezember 1870 sandte er von Düsseldorf aus das
folgende Gesuch an die Philosophische Fakultät der Universität Göttingen:
Einer hochlöblichen philosophischen Facultät der Universität zu Göttingen erlaube ich mir
auf Grund der beigefügten Anlagen, nämlich:
1. Eines Doctordiplom’s,
2. Einer vita,
3. Eines Exemplar’s der eigenen, in der vorgenannten vita speciell aufgeführten Schriften,
die Bitte ehrfurchtsvoll vorzutragen, dortselbst als Privatdozent der Mathematik zugelassen
zu werden.
Vorstehendes Gesuch richte ich an die hochlöbliche Facultät von meinem Heimatorte aus, da
ich zur Zeit und voraussichtlich noch bis Neujahr durch die Folgen eines längeren Unwohl-
sein’s zu Hause gehalten werde, andererseits aber als Reconvalescent nicht länger mit einem
Gesuche warten mag, welches ich schon mit Anfang des Semester’s habe stellen wollen.
Damit mir kein weiterer Zeitverlust erwachse, sei mir verstattet, gleichzeitig für die eventuell
zu haltende Probevorlesung die folgenden drei Themata vorzuschlagen:
1. Demonstration eines Modell’s der allgemeinen Plücker’schen Complexfläche,
2. Ueber diejenigen Curven, welche einer linearen Differentialgleichung erster Ordnung ge-
nügen,
3. Ueber die Kummer’sche Fläche vierten Grades mit 16 Knotenpunkten,
so wie die Bitte auszusprechen, den Termin für diese Vorlesung möglichst für die ersten Tage
des neuen Jahres festzulegen.
327 Vgl. [Lindemann] 68; Hilbert schrieb am 2.4.1886, an Klein, dass Jordan sich mit ihnen (Hil-
bert und Study) am meisten Mühe gebe, dass er besonders liebevolle Grüße an Klein ausge-
richtet habe und seine acht Kinder alle Deutsch sprechen würden. (FREI 1985, 4)
328 Vgl. dazu [Lindemann] Lebenserinnerungen, 39.
329 [Oslo] Klein aus Düsseldorf an Lie nach Paris, Brief v. 29.3.1870.
330 [UAG] Phil. Dek. 156, 1870/1871, Bl. 510-12.
78 2 Prägende Gruppen
Bei den in der vita aufgeführten Schriften handelte es sich um seine Dissertation,
den von ihm edierten Band 2 der Plückerschen Liniengeometrie, die vier 1869 in
den Göttinger Nachrichten bzw. Mathematischen Annalen publizierten Beiträge
sowie die in Paris mit Lie veröffentlichten Noten in den Comptes Rendus. Eine
besondere Habilitationsschrift musste Klein nicht einreichen. Das war jedoch für
die damaligen Verhältnisse nicht ungewöhnlich. Auch Clebsch hatte sich in Berlin
ohne eine derartige Schrift habilitiert, wie dies für alle Habilitationsverfahren an
der Universität Berlin bis zum Beginn der 1880er Jahre zutraf.331
Alfred Clebsch formulierte bereits zwei Tage nach Kleins Antrag:
Herr Dr. F. Klein, welcher mir persönlich und schriftstellerisch seit längerer Zeit becannt ist,
erweist durch Talent, Kenntnisse und durch seine bisherigen relativ frühzeitigen Leistungen
die besten Hoffnungen, und ich glaube, die Facultät kann sich nur freuen, dass derselbe hier
in Göttingen seine erste Thätigkeit zu versuchen beabsichtigt. Unter den vorgeschlagenen
Themen zur Probevorlesung würde ich für das erste stimmen.332
Es schien wohl von vorneherein ziemlich gewiss, dass Clebsch für das erste
Thema stimmen würde, denn Klein informierte Sophus Lie früh: „Uebrigens habe
ich mich bereits in Göttingen gemeldet, und als Thema für die Probevorlesung die
Demonstration des Wenker’schen Modelles gewählt.“333 Über dieses von Albert
Wenker gebaute Modell der allgemeinen Plücker’schen Complexfläche hatte
Klein bereits in Berlin vorgetragen (vgl. 2.4.3). Nachdem Klein am 2. Januar 1871
in Göttingen eingetroffen war,334 versandte der Dekan der Philosophischen Fakul-
tät Karl Hoeck335 die Einladung „Zur Probe-Vorlesung und zum colloquium des
Dr. Klein auf nächsten Sonnabend d. 7. Januar 6 Uhr“ und übertrug Clebsch die
Leitung des Colloquiums. Felix Klein berichtete später Wilhelm Lorey darüber:
Das war damals viel einfacher als jetzt. Man ließ die von mir bereits publizierten Arbeiten als
Habilitationsschrift freundlichst gelten. Ich hielt vor der im Hause des Dekans bei Wein und
Kuchen versammelten Honorenfakultät (ca. acht Mitglieder), mit am Tische sitzend, einen
Vortrag über ein von mir konstruiertes Modell der allgemeinsten Plückerschen Komplexflä-
che und antwortete dann noch auf einige Fragen, die Clebsch im Anschluß daran an mich
richtete.336
Neben dem Dekan und Clebsch nahmen teil: der Historiker Georg Waitz, der
Botaniker Friedrich Gottlieb Bartling, der Physiker Wilhelm Weber, der Philo-
soph Hermann Lotze, der Geologe Wolfgang Satorius von Waltershausen337, der
Theologe und Orientalist Ernst Bertheau, der Germanist Wilhelm Müller, sowie
der evangelische Theologe Friedrich Ehrenfeuchter.338 Wilhelm Müller sollte im
331 Vgl. BIERMANN 1888, 363-68; erst seit 1883 wurden in Berlin Habilitationsschriften einge-
führt, beginnend mit Johannes Knoblauch (15.3.1883) und Carl Runge (9.6.1883).
332 Clebsch, handschriftlich, am 7.12.1870, in [UAG] Phil. Dek. 156, 1870/1871, Bl. 516.
333 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 12.12.1870.
334 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 15.1.1871.
335 Hoeck leitete als Althistoriker die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek.
336 Zitiert in LOREY 1916, 191.
337 Satorius von Waltershausen hatte sich an Gauß’ erdmagnetischen Forschungen beteiligt. Mit
ihm befreundet, verfasste er die Schrift: Gauss zum Gedächtniss, Leipzig: Hirzel, 1856.
338 UAG] Phil. Dek. 156, 1870/1871, Bl. 509.
2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen 79
Jahre 1885 Dekan sein, als Kleins Berufung nach Göttingen zur Diskussion stand
(vgl. 5.8.2). Mit Georg Waitz, Wilhelm Weber und Hermann Lotze sollten sich
ebenfalls besondere Berührungspunkte ergeben.
Dekan Hoeck vermerkte am 7. Januar 1871 in Kleins Habilitationsakte: „Den
wissenschaftlichen Forderungen hat er auf ausgezeichnete Weise entsprochen;
selbst sein äußerer Vortrag fand allgemeinen Beifall“. Die Fakultät stellte den
Antrag an das Kgl. Universitäts-Curatorium, „[…] dem Dr. Klein vorläufig die
venia legendi im Fache der Mathematik zu ertheilen.“ Dies geschah am 13. Januar
1871 „vorläufig auf zwei Jahre“.339
Dr. Klein, der jetzt ganz hier ist, hat mir viel von der angenehmen Zeit erzählt, welche er in
Paris erlebt hat. Er ist, wie immer, sehr fleissig […]; ich bin froh hier einen so regsamen und
liebenswürdigen Collegen gewonnen zu haben.340
In den Nachrichten der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-Au-
gusts-Universität (=Göttinger Nachrichten) wurden die Lehrveranstaltungen der
Universität semesterweise angekündigt. Nach Erteilung der venia legendi am 13.
Januar 1871 bot Klein noch für das laufende Semester „Ausgewählte Kapitel der
Geometrie“ mit zwei Wochenstunden an347 und erklärte Sophus Lie: „[…] ich
lebe recht fidel und habe auch schon als sog. privatissimum mathematische
Uebungen begonnen, wobei ich 6 Zuhörer habe.“348 Im folgenden Sommersemes-
ter 1871 formulierte Klein sein mathematisches Lehrangebot ohne exakte Stun-
denzahl und Uhrzeit (Tab. 4); seine Vorlesung über Plückers Complexe, die er
vom 1. April bis 12. Juli 1871 las, wurde von fünf, und die Theoretische Optik
von neun Hörern besucht.349
Um Kleins Lehrtätigkeit als Privatdozent einzuordnen, sollen zunächst das
Kgl. mathematisch-physikalische Seminar sowie seine Kollegen vorgestellt wer-
den. Beides ist von Interesse, weil er Seminar und einige der Kollegen noch vor-
finden sollte, als er 15 Jahre später als Professor nach Göttingen zurückkehrte, um
als ein Direktor in das Seminar einzutreten.
Das Seminar war 1850 durch Moritz Abraham Stern (*1807) nach Vorbild der
Universität Halle initiiert worden und zielte auf einen „zusammenhängenden,
planmässigen Lehrkursus“, der die Studenten „länger an Göttingen fesseln sollte“.
Das Statut verpflichtete die Mitglieder, wöchentlich an zwei Stunden mathemati-
schen sowie zwei bis vier Stunden physikalischen Übungen teilzunehmen.350
351 Göttinger Nachrichten 1871, 63-65, in der originalen Reihefolge der Ankündigungen.
Vgl. auch: https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN654655340_1871_SS (S. 8-10)
82 2 Prägende Gruppen
M. A. Stern war der erste ungetaufte Mathematiker aus jüdischem Elternhaus, der
eine ordentliche Professur an einer deutschen Universität erhalten hatte, allerdings
erst dreißig Jahre nach seinem Doktorexamen, das Gauß 1829 mit Bestnote be-
wertet hatte. Seit 1829 auch bereits Privatdozent, hatte Stern zunächst 19 Jahre
lang bis zu einem Extraordinariat warten müssen. Sein klarer Vortragsstil wurde
allgemein gelobt.352 Nach VOSS (1919) gingen Sterns Vorlesungen aber inhaltlich
kaum über die Zeit von Fourier (†1830) hinaus. Ferdinand Lindemann, der 1870/
71 Algebraische Analysis bei Stern hörte, überlieferte, dass dieser nach seinem ei-
genen Buch las, „im gewissen Sinne modern, da alle Operationen zunächst nur
symbolischen Sinn haben sollten und erst nachher die Anwendung auf das Zah-
lensystem kam“.353 Klein hatte bei Stern bereits 1869 gehört (vgl. 2.4.1) und
pflegte langjährigen guten Kontakt mit ihm und seinem Sohn. Als Klein 1886 die
Professur in Göttingen erhielt, sollte er auf Sterns Lehrstuhl kommen (vgl. 5.8.2).
Im Rahmen des Kgl. Seminars leiteten M. A. Stern und Georg Ulrich (*1798)
die mathematische Abteilung; Wilhelm Weber (*1804) und J. B. Listing (*1808)
die physikalische.354 Ernst Schering (*1833) bot Magnetische Uebungen (vgl.
Tab. 4). Für das Seminar war zudem angekündigt: „Prof. Ulrich mathematische
Uebungen Mittw. 10 Uhr“; „Prof. Stern über einige Eigenschaften der Kettenbrü-
che“, Mittw. 8 Uhr; „Prof. Klinkerfues einmal wöch. Anleitung zu astronomischen
Beobachtungen“; „Prof. Listing physikalische Uebungen“.355
Während Gauß, Dirichlet, Riemann sich nie an diesem Seminar beteiligt hat-
ten, nutzte Clebsch das Seminar ab 1869/70 bewusst, um es nach Königsberger
Vorbild auf neuere Forschungen zu orientieren, wie auch ein gemeinsam mit
Klein abgehaltenes Seminar 1872 dokumentiert.356 Für Klein sollte dieses Semi-
nar ein Vorbild sein, um Derartiges später an anderen Orten einzurichten.
Georg Ulrich (*1798) war bereits neben Gauß seit 1831 o. Professor der Ma-
thematik, inzwischen Hofrat und ständiger Examinator für das Lehramt Mathe-
matik und Physik. Er las über praktische Geometrie, Mechanik, Analysis und an-
dere geometrische Gebiete, beschränkt auf ältere Methoden.357
Der Physiker Wilhelm Eduard Weber (*1804), der einst mit Gauß kooperiert
hatte, habe jetzt meist misslungene Experimente vorgeführt und auffallend stark
gegen Hermann von Helmholtz (*1821) polemisiert.358 Klein sollte dagegen
Helmholtz’ Gesetz über die Erhaltung der Kraft in seine Lehre einbeziehen und
war Webers damaligem Forschungsfeld wenig zugeneigt.359
352 Zum Urteil von Dedekind vgl. LOREY 1916, 81-82; VOSS 1919, 280.
353 [Lindemann] 40. – Stern, M.A.: Lehrbuch der algebraischen Analysis. Leipzig/ Heidelberg:
C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung, 11860.
354 Geschichtliche Zusammenstellung zum Seminar in [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 E: Bl.13-14.
355 Göttinger Nachrichten 1871, 64 und 66; [UAG] Math.Nat. 0012 (Laufende Geschäfte).
356 [UAG] Math.Nat. 0012, Bl. 77; [Protokolle] Bd. 1; für Königsberg vgl. OLESKO 1991.
357 Vgl. hier und im Folgenden die Urteile von VOSS 1919, 280.
358 Ebd., 40-41. Helmholtz, H.: Über die Erhaltung der Kraft (Berlin: Reimer, 1847).
359 KLEIN 1923a, 15. – Zu Differenzen zwischen Weber und Helmholtz und Helmholtz’ Plädoyer
für das Orientieren an Naturgesetzen, geprüft auf empirischer Basis, vgl. dessen Vorrede zum
2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen 83
Johann Benedict Listing (*1808) hatte unter Gauß promoviert (1834), eine
a.o. Professur für Physik (1839) und eine o. Professor für Mathematik (1849) er-
halten. Er prägte Begriffe wie „Geoid“ und „Topologie“ (1847), obgleich letzteres
Gebiet („Lehre von den Gesetzen des Zusammenhang, der gegenseitigen Lage
und der Aufeinanderfolge von Punkten, Linien, Flächen, Körpern und ihren Tei-
len oder Aggregaten im Raume, abgesehen von den Maß- und Größenverhältnis-
sen“) noch lange Zeit danach als Analysis situs bezeichnet wurde. Aurel Voß er-
lebte Listing im Seminar und meinte, dass „das Übermaß seiner geistreichen Ter-
minologie nicht immer geeignet war, wirkliche Einsicht zu fördern“.360 Es war
eine Zeit, in welcher sich die Flächentopologie erst als eine eigenständige Teildis-
ziplin herausbildete, topologische Methoden in das Studium der projektiven Geo-
metrie eindrangen. Felix Klein sollte künftig daran beteiligt sein:
Indem Klein die Idee der Gruppe und die Auffassung des Raumes als Zahlenmannigfaltigkeit
zu Grunde legt, gelangt er zu einer prägnanten Zusammenfassung der Listingschen Definitio-
nen, die man etwa so formulieren kann: die Aufgabe der Analysis Situs besteht in der Auf-
stellung aller derjenigen Eigenschaften räumlicher Gebilde, die sich invariant verhalten ge-
genüber der Gruppe aller stetigen Transformationen des Raumes.361
Alfred Enneper (*1830) basierte ebenfalls auf Studien bei Gauß. Obgleich er seit
1859 habilitiert war, erhielt er erst 1870 eine a.o. Professur. Klein nutzte dessen
Ergebnisse zur Differentialgeometrie und sandte diese auch an Sophus Lie.362
Nach Aurel Voß’ Urteil besaß Enneper gute Kenntnisse der neueren französischen
und italienischen Literatur und bereitete seine Vorlesungen akribisch vor. Den-
noch hatte er nur wenige Hörer. Lindemann berichtete von drei bzw. zwei
Anwesenden. Enneper habe ohne Manuskript ständig mit dem Gesicht zur Tafel
gewandt angeschrieben, wenngleich ohne Fehler und mit guter Systematik.363
Ernst Schering (*1833), seit 1868 o. Professor und Direktor der 2. Abteilung
der Sternwarte für theoretische Astronomie und Geodäsie,364 befasste sich vor-
nehmlich mit der Edition der Gauß-Werke im Auftrage der Kgl. Gesellschaft der
Wissenschaften, was Klein nach dessen Tod fortführte (vgl. 8.3.1). Obgleich
Schering im Jahre 1885 Kleins Ruf nach Göttingen zu verhindern suchte (Anhang
Nr. 4), sollte Klein einen kurzen Nachruf auf ihn verfassen und auch die Edition
von dessen Werken veranlassen.365 Clebsch hatte gleichfalls das Gegenteil von
Freundlichkeit „[…] leider von Hrn Schering im unglaublichsten Masse […] er-
fahren müssen“, nachdem er von Gießen nach Göttingen berufen worden war.366 –
Handbuch der Theoretischen Physik von Thomson und Tait, Bd. 1, T. 2, Braunschweig:
Vieweg, 1874; auch KLEIN 1926 Vorlesungen I, 23-24.
360 VOSS 1919, 280.
361 Dehn/Heegaard (1907): Anaylsis Situs in ENCYKLOPÄDIE Bd. III. 1.1, 153-220, Zitat 154; vgl.
auch SCHOLZ 1980, 142-79.
362 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 1.2.1872.
363 VOSS 1919, 280; [Lindemann] 40; 42.
364 Göttinger Nachrichten 1875, 282.
365 Klein, F.: „Ernst Schering“. Jahresbericht DMV 30 (1897) 25-27. – Brief der Witwe Sche-
rings an Klein, v. 3.2.1899 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 682 Anl.
366 [Deutsches Museum] Nr. 1968-2/2. Clebsch an M. A. Stern, Brief v. 8.8.1868.
84 2 Prägende Gruppen
Der Astronom Ernst Friedrich Wilhelm Klinkerfues (*1827), seit 1867 Extraordi-
narius, soll seine Veranstaltungen damals nicht zustande gebracht haben.367
Der neben Klein als Privatdozent in Göttingen agierende Bernhard Minnige-
rode (*1837) hatte bei Riemann studiert und war seit 1866 habilitiert. Er erhielt
später als Klein eine Professur: 1874 Extraordinariat in Greifswald, ab 1885 dort
Ordinariat. Minnigerode befasste sich in Greifswald (1887) damit, Kristallgruppen
mittels eines geometrischen Gruppenbegriffs zu ordnen. Diesen Ansatz sollte Ar-
thur Schönflies mit seinen Studien der elementaren Raumgruppen noch über-
treffen – angeregt durch Felix Klein (vgl. Abschnitt 6.3.6.1).
Alfred Clebsch beeindruckte die Studierenden nicht nur durch den Inhalt, son-
dern auch durch die rhetorisch formvollendete freie Rede. Im Sommer 1871 hatte
er ca. 20 bis 30 Hörer.368 Im Sommer 1872 las er über Theorie der elliptischen
Funktionen vor mehr als siebzig Hörern, darunter Klein und Lindemann.369
Während Klein künftig die Semesterpausen für eine gründliche Vorbereitung
neuer Vorlesungen nutzen sollte, blieb ihm zunächst wenig Zeit dafür. Er „[…]
präparierte von Stunde zu Stunde, so gut es gehen wollte, wobei mir meine physi-
kalischen Freunde Riecke und Neesen behilflich waren.“370 Dass er viel lieber
mathematisch geforscht und gelehrt hätte, dokumentieren seine damaligen Briefe.
Er musste sich wegen der Hörergelder in den ersten beiden Semestern auf Physik
konzentrieren. Klein schrieb an Darboux: „[…] vielmehr war ich durch eine Vor-
lesung über theoretische Optik sehr an eigener Arbeit gehindert.“371 Lie erfuhr:
Aber man sieht vielleicht auch vorurtheilsloser, wenn man etwas Ueberblick über benach-
barte Gebiete (ich rechne dahin theoretische Physik) besitzt. So ungefähr motivire ich mich,
wenn ich mich jetzt mit Physik etc. beschäftige. Der nächste und einzig zwingende Grund
liegt allerdings an den Verhältnissen an der hiesigen Universität, die mir kaum gestatten, an-
dere Dinge als gerade Physik zu lesen. Ich fühle mich sehr angezogen von der Auffassung der
math.[ematischen] Physik, wie sie W. Thomson vertritt. In ähnlichem Sinne wie er die
math.[ematische] Physik regenerirt, indem er den physikalischen Inhalt in den Vordergrund
setzt, denke ich mir eine Regeneration der Geometrie.372
Die Lehre über physikalische Gebiete war demnach eine Notlösung. Dennoch
kniete sich Klein tief hinein und führte auch Experimente vor, wie Riecke überlie-
ferte (Anhang Nr. 12). Im Winter 1871/72 saßen in Kleins Vorlesung „Ueber die
Wechselwirkung der Naturkräfte und das Gesetz der Erhaltung der Kraft“ (täglich
von montags bis freitags, 9.00 Uhr) elf Hörer. Klein behandelte Wärme- und
Elektrizitätslehre, wobei er sich vor allem auf das Buch von William Thomson
und Peter Guthrie Tait The Treatise on Natural Philosophy (Oxford University
Press, 1867) stützte, auf das ihn sein schottischer Studienfreund William Ro-
bertson Smith verwiesen hatte.373 In einem Brief an Plückers Witwe drückte Klein
noch gewisse Bedenken hinsichtlich seiner Vorlesung aus:
Ich bin von Düsseldorf schon im September hierher zurückgekehrt; vor vierzehn Tagen hat
das Semester mit seinem gefürchteten Colleg begonnen. Ich habe 10 – 12 ständige Zuhörer,
kann also sehr zufrieden sein. Wie denn überhaupt die mathematischen Verhältnisse hier so
schön sind, wie je; es sind noch nie so viele Zuhörer gewesen.374
373 [Oslo] Klein an Lie, 1.10.1871. – Das Buch erschien, wie erwähnt, ab 1871 als Handbuch der
Theoretischen Physik (Braunschweig: Vieweg), übers. durch H. Helmholtz und G. Wertheim.
374 [Canada] Klein an Antonie Plücker geb. Altstätter, Brief v. 10.11.1871.
375 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E, Bl. 1-2. – Vgl. Nachschlagewerk physikalisch-chemischer
Tabellen (Landolt-Börnstein), das Börnstein mit Hans Landolt ab 1883 herausgab.
376 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E, Bl. 5-8. – Lindemann wurde dadurch angeregt, von Staudts
Theorie in seiner Edition von Clebschs Vorlesungen ausführlich zu behandeln und mit eige-
nen Ergebnissen zu bereichern. [Lindemann] Lebenserinnerungen, 45.
377 Göttinger Nachrichten 1872, Nr. 19 (24. Juli), 360.
378 Fuchs stammte aus jüdischem Elternhaus und war aus Karrieregründen gemeinsam mit Leo
Koenigsberger zur evangelischen Religion gewechselt, vgl. KOENIGSBERGER 1919, 32.
86 2 Prägende Gruppen
Der fleißige und liebenswürdige Klein – wie Clebsch ihn sah – arbeitete während
der drei Semester als Privatdozent 16 Manuskripte aus. Vier dieser Arbeiten plat-
zierte Clebsch bei den Göttinger Nachrichten im Jahrgang 1871, drei weitere
konnte Klein als Assessor dort selbst im Jahrgang 1872 einbringen. Neun Arbei-
ten (davon zwei unveränderte Wiederabdrucke aus den Göttinger Nachrichten)
nahm Clebsch in die Mathematischen Annalen auf. Hinzu kamen Prospekte
Kleins zu vier Modellen sowie seine mehrfach erwähnte Erlanger Programm-
schrift (KLEIN 1872), die sich letztlich als Summe der Vorarbeiten ergab.
Erstens. Clebsch befruchtete Arbeiten von Klein und Lie, wozu ihre Arbeit
über W-Kurven gehörte. So berichtete Klein begeistert an Lie, dass Clebsch Zu-
sammenhänge mit Abelschen Funktionen gesehen und erkannt habe, dass die vor-
kommende Differentialgleichung des Complexes integriert werden kann: „Nun
machte Clebsch mich aufmerksam, dass, bei der Natur von φ die Integrale gerade
solche Abel’sche Integrale sind, bei deren Umkehrproblem man Summen von 3
Integralen braucht. Die Theorie der Complexe zweiten Grades ist also eine Illu-
stration der Theorie der Abel’schen Functionen für p = 3. Ebenso ist die Linien-
Geometrie überhaupt eine Illustration der Theorie der Abel’schen Functionen für
p = 4, die Kummer’sche Fläche für p = 2.“380 Klein ergänzte im damaligen Brief
an Lie enthusiastisch: „Ich bin zur Zeit von diesen Ueberlegungen ganz ergriffen;
ich glaube, dass eine Verfolgung derselben, zu deren Beginn ich aber zunächst
Abel’sche Functionen studiren muß, sehr fruchtbar wird.“381
Lies Ansatz, die von Klein ausgeblendeten räumlichen W-Gebilde näher zu
verfolgen, bildete sein maßgebliches Motiv, bereits im Januar 1872 eine Reise zu
Klein für den Sommer anzukündigen. Als Lie dann kam, waren beide inzwischen
von anderen Themen gefesselt. Das W-Thema wurde von anderen fortgesetzt.382
Zweitens. Klein diskutierte alle seine damaligen Arbeiten in Briefen an Lie
und redigierte weiterhin Arbeiten für ihn. Ihr gemeinsames Hauptanliegen bestand
1871 darin, „[…] die Beziehungen zwischen Liniengeometrie und metrischer Ge-
ometrie, die in so überraschender Weise hervorgetreten war, nach allen Seiten klar
379 Vgl. die detaillierte Analyse der Akten bei TOLLMIEN 1997.
380 Kursiv = unterstrichen im Original. p ist eine topologische Invariante (die Maximalzahl der
nichtzerstückelnden Rückkehrschnitte), die Riemann einführte, um Flächen und deren Ab-
bildbarkeit zu betrachten (vgl. Abschnitt 3.1.3.1); vgl. auch DEHN/HEEGAARD 1907, 200.
381 [Oslo] Brief v. 15.1.1871, Klein an Lie.
382 Vgl. Wiman, A. (1935): „Über die W-Kurven im dreidimensionalen Raume“. Acta Mathema-
tica 64, 243-352.
2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen 87
Dies mündete, wie erwähnt, ebenfalls in das Erlanger Programm. Auf dem Wege
dahin reichte Klein im November 1871 die Arbeit „Ueber gewisse in der Linien-
geometrie auftretende Differentialgleichungen“ bei den Mathematischen Annalen
ein. Auch wenn Aurel Voß darin noch eine Ungenauigkeit fand, war sie ein Mus-
terbeispiel dafür, wie Klein einordnete und Verbindungen sah, zu Lies Kugelgeo-
metrie und Darboux’ Arbeiten, zu Kummer, Hermann Schuberts Theorie der Cha-
rakteristiken, zur Habilitationsschrift von Pasch, zu Lüroths Theorie windschiefer
Flächen sowie zur möglichen Definition der Brennfäche einer Congruenz als ei-
nen speziellen Complex. Letztere Idee ist später durch Julius Weingarten auf an-
derem Wege noch einmal abgeleitet worden, wie Eisso Atzema analysierte.385
Während Klein und Lie die Ergebnisse anderer Autoren in der Regel gebüh-
rend erwähnten, ärgerten sie sich darüber, in DARBOUX (1873) ihre relevanten
Arbeiten unberücksichtigt zu finden, aber sie estimierten, dass Darboux ihre Ar-
383 Klein am 1.11.1892, abgedruckt in ROWE 1992, 595, vgl. auch ROWE 1989.
384 [Paris] 49-50, Klein an Darboux, Brief v. 27.9.1871.
385 Math. Ann. 5 (1872) 278, KLEIN 1921 GMA I, 138; ATZEMA 1993; 157-58, 171-81.
88 2 Prägende Gruppen
Es sei noch einmal gesagt: Zum kompliziert formulierten „11. Axiom“ (=5. Postu-
lat) aus Buch I der Elemente des EUKLID existieren äquivalente Aussagen: „Zu
einer gegebenen Geraden und einem Punkt, der nicht auf dieser liegt, gibt es ge-
nau eine parallele Gerade“ (deshalb Parallelenpostulat); oder „Die Winkelsumme
im Dreieck beträgt 180°“. Nach Jahrhunderte langem Bestreben, dieses Postu-
lat/Axiom als Satz zu beweisen, hatten Mathematiker erkannt, dass neue
nichteuklidische Geometrien entstehen, wenn das nicht gilt. Der Nachweis der
Konsistenz der Theorien fehlte jedoch noch. Dies gelang Klein, wie gesagt (vgl.
386 Vgl. Klein an Lie, 28.6.1873 [Oslo]. – Die zweite Auflage von Darboux’ Buch (1896, p. 227)
enthält auch nur einen Verweis auf Kleins erste Arbeit zur nichteuklidischen Geometrie „un
Mémoire important de M. Klein (Mathematische Annalen, t. IV)“ 573.
387 Klein an A. Mayer, Brief v. 8.12.1871, publ. in TOBIES/ROWE 1990, 62-63.
388 Math. Ann. 4 (1871) 346-58.
389 [Oslo] II (Aufzeichnungen Kleins vom 1.11.1892) gedruckt in ROWE 1992, Zitat, 599.
390 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 15.5.1871; 31.5.1871; 1.10.1871.
391 Ebd., Klein an Lie, Brief v. 2.7.1871.
2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen 89
392 SCHOENFLIES 1919, 290 (Vgl. hier detailliert zur Entwicklung der Arbeiten und späteren
Ergänzungen durch Klein und andere.) – Vgl. auch GRAY 1985; 2006.
393 [Paris] Klein an Darboux, Brief v. 21.3.1872.
394 Zu Beltramis Arbeiten vgl. Nicola Arcozzi in COEN 2012, 1-30; SCHOLZ 1980, 101-13, 125-
41. – Betrami hatte eine differentialgeometrische Metrik gefunden, die dasselbe leistete wie
Cayleys Metrik in einer Untermannigfaltigkeit der projektiven Ebene.
395 KILLING 1885, 262.
396 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 29.9.1871. – Im Brief v. 24.1.1872 verglich Klein die gute
Aufnahme des „Nicht-Euklid“ mit dem Desinteresse an den W-Kurven.
397 Zu philosophischen Angriffen vgl. Abschnitt 2.8.2.3.
90 2 Prägende Gruppen
weil ich Dinge zusammenbringe, die gar nichts mit einander zu thun haben“.398
Auch den ungarischen Mathematiker Julius König musste Klein erst überzeugen,
dass seine Theorie nicht verkehrt sei.399 Arthur Cayley, dessen Ergebnisse Klein
benutzte, blieb generell skeptisch400, wenn auch Max Noether später urteilte:
[…] er [Cayley] hat durch seine projective Massbestimmung sogar der Philosophie einen
Dienst geleistet: denn da die Zuordnung der Staudt’schen Würfe zu Doppelverhältnissen, wie
F. Klein betonte, von unserer Metrik unabhängig ist, so ergiebt sich die endgültige Unterord-
nung des Metrischen unter das Projective, die Identität jener Massbestimmung mit der der
allgemeinen hypereuklidischen Geometrie im Raume constanter Krümmung (was schon bei
Beltrami, aber nur implicit, enthalten ist), und somit eine neue anschauliche Versinnlichung
des vom Parallelenaxiom unabhängigen Raumbegriffe.401
Schoenflies bezeichnete es als eines der Hauptverdienste Kleins, dass er die nicht-
euklidische Geometrie von jedem metaphysischen Beiwerk befreite und sie zu
einem der reizvollsten und anwendungsreichsten Wissensgebiete erhob.406 Zu-
gleich sah Schönflies Klein hierbei als einen „durchaus bewußten Vorgänger der
allgemeinen axiomatisch-geometrischen Untersuchungsrichtung […], die unge-
fähr 10 Jahre später in voller Ausdehnung einsetzte; zuerst bei Pasch und dann
später von Hilbert vervollkommnet […]“ wurde.407
Kleins dritte Arbeit zur nichteuklidischen Geometrie enthielt schon maßgeb-
liche Aspekte des späteren Erlanger Programms: das Behandeln von Transfor-
mationsgruppen; den Hinweis darauf, dass die Definition aus der analogen Be-
griffsbildung der Substitutionstheorie genommen wurde; das Beispiel der Bewe-
gungsgruppen, aufgestellt von Jordan; den Begriff der Hauptgruppe408 (mit der Ei-
genschaft der Unveränderlichkeit/Invarianz geometrischer Eigenschaften); die Er-
kenntnis, dass mit einer umfangreicheren Gruppe die Zahl der invarianten Eigen-
schaften geringer wird. Wie Erhard Scholz unterstrich, verallgemeinerte Klein
hier die Art der Eingliederung der metrischen Geometrie in die projektive so, dass
auch andere geometrische Teildisziplinen eingeordnet werden konnten, indem
eine Mannigfaltigkeit vorgegeben wurde und eine Transformationsgruppe auf ihr:
„Entsprechend dem Gewicht, das die projektive Geometrie für Klein besitzt, gibt
er als Grundbestimmung einer Mannigfaltigkeit nichts anderes als eine große Um-
schreibung für den n-dimensionalen projektiven Raum […].“409 Diese Erkennt-
nisse waren gewonnen, bevor Lie Anfang September 1872 nach Göttingen kam.
Fünftens. Im Erlanger Programm (Vergleichende Betrachtungen über neuere
geometrische Forschungen, Oktober 1872) kulminierten somit zahlreiche voran-
gegangene Ansätze. Als Start für das Niederschreiben kann Kleins Vision vom
20. November 1871 gelten,
[…] einen Aufsatz von sehr allgemeinem Inhalte zu schreiben; Ueber die neueren geometri-
schen Methoden, in welchen ich zeigen möchte, wie jede Methode (oder wenigstens fast jede)
sich unter die allgemeine Forderung subsumirt: Die Eigenschaften der geometrischen Dinge
zu entwickeln, welche bei einem gegebenen Transformations-Cyclus erhalten bleiben.410
Dies stimmt mit dem überein, was Klein am 25. Oktober 1924 an Friedrich Engel
schrieb, wobei er zugleich historisch einordnete:
Der Grundgedanke meines Erlanger Programms ist im November 1871 entstanden, als ich
mich mühte, Hamilton und Grassmann unter einen Gesichtspunkt zu bringen. Ich habe aber in
Band III meiner Abhandlungen bereits hervorgehoben, dass die Gesamtarbeit von Moebius
von demselben Gedanken, der nur nicht explizit formuliert wird, getragen ist.411
Klein und Lie sprachen in ihren Arbeiten zunächst von „Systemen“, „Scharen“
oder „Zyklus“ von Transformationen. Im Dezember 1871 tauchte der Gruppen-
406 SCHOENFLIES 1919, 289. Vgl. auch KLEIN 1928a; VOLKERT 2013.
407 SCHOENFLIES 1919, 289. – Vgl. auch SCHREIBER/SCRIBA 2001, 400-403.
408 Modern wird der Begriff Automorphismengruppe benutzt.
409 SCHOLZ 1980, 131.
410 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 20.11.1871.
411 Klein an F. Engel, in Mitt. aus dem Math. Seminar d. Univ. Gießen 35 (1945) 22-24.
92 2 Prägende Gruppen
begriff in der Korrespondenz auf. Klein schrieb am 25. Dezember 1871 erneut
von seiner Aufsatz-Idee mit „einer Uebersicht über die vorhandenen geometri-
schen Methoden“, die er geben will, „indem ich sie in Gruppen fasse, je nach dem
Cyclus von Transformationen, den sie in’s Auge fassen.“412 Dies bestätigt seine
spätere Erklärung, dass er im Dezember 1871 zur Ansicht gelangt sei,
dass es für das Studium einer Mannigfaltigkeit so viele verschiedene Behandlungsweisen
gibt, als man, innerhalb der Mannigfaltigkeit, continuirliche Gruppen irgendwelcher Trans-
formationen construiren kann, und dass die Euklidische und die Nichteuklidischen Maass-
bestimmungen ebenso gewiß in die projective Behandlungsweise eingeschlossen sind, als ihre
„Gruppen“ bei geeigneter Coordinatenwahl in der Gesamtgruppe der projectiven Umformun-
gen enthalten sind.413
Klein sandte am 1. und am 5. Januar 1872 einen Entwurf zum angestrebten allge-
meinen Aufsatz an Sophus Lie. Nach dessen Antwort betonte Klein die Schwie-
rigkeit der Arbeit und ihr Verdienst liege in gewissem Sinne ueberhaupt in der
Darstellung. Er meinte, es bis zum Sommer liegen lassen zu wollen,418 womit dies
dann die Basis für das Erlanger Programm (vgl. 3.1.1) bildete.
Sechstens. Zwischenzeitlich widmete sich Klein einem weiteren Forschungs-
feld: der Klassifikation von Flächen dritter Ordnung. Darin spiegelt sich sein Inte-
resse an konkreten Modellen, die ihn zu neuen Ideen inspirierten (vgl. dazu 2.4.3).
Zugleich orientierte sich Klein an Clebsch, der algebraische Repräsentationen der
Flächen dritter Ordnung mit ihrer Darstellung verband, wobei die nach Clebsch
benannte Diagonalfläche mit 27 reellen Geraden als markantes Beispiel diente.419
Wie erwähnt (vgl. 1.1), wurde ein großes Keramik-Modell dieser Diagonalfläche
anlässlich Kleins 150. Geburtstages 1999 im Innenhof der Universität in Düssel-
dorf aufgestellt. Klein hatte diese Fläche benutzt, um Raumgebilde höherer Ord-
420 KLEIN 1922 GMA II, 56-62. – Kleins Assistent Vermeil erklärte die Ergänzungen in einem
Vortrag auf der DMV-Jahresversammlung 1922 in Leipzig. Jahresbericht DMV 31 (1922)
103-104.
421 Klein, F.: „Ueber Flächen dritter Ordnung“. Math. Ann. 6 (1873) 551-81.
422 Zu entsprechenden Arbeiten von Schläfli vgl. auch Ruth KELLERHALS 2010, 169-70.
423 [UAG] Prom. Phil. Fak. 156: 395-99; Prom.-Datum: 15.11.1871.
424 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 29.7.1871. – KLEIN 1923 GMA III, Anhang 11.
425 Vgl. LOREY 1916, 84.
426 Zitate aus Kleins Briefen in [Paris] und [Oslo]; vgl. auch VOSS 1919, 285.
2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen 95
[…] Ich habe mich in der letzten Zeit mit einer ganz neuen Arbeit beschäftigt, die ich glaube
erledigen zu können. Es gilt die Gestalten der F3 zu entwickeln. Ich komme, je nach der Rea-
lität der Geraden, wie Schläfli, auf 5 Typen; aber ich zeige, daß diese 5 Typen auch durch ih-
ren Zusammenhang im Riemann‘schen Sinne definirt werden können, die Flächen sind bez. 4
fach, 3, 2, 1, 0 fach zusammenhängend. Das wäre also eine Verbindung der Algebra und der
Analysis Situs, die mir sehr viel Vergnügen macht. Besonders freue ich mich auch darüber,
daß ich nachweisen kann, wie hiermit alle gestaltlichen Möglichkeiten der F3 erschöpft sind.
Ich will das ausarbeiten.427
Das Thema war Gegenstand des gemeinsamen Seminars von Clebsch und Klein
über „verschiedene, hauptsächlich geometrische Gegenstände“, das sie dienstags
vom 7. Mai bis Ende Juli 1872 durchführten. 13 Personen hielten zwanzig Vor-
träge über neueste Arbeiten italienischer, französischer, norwegischer, Schweizer
und deutscher Autoren: Abel, Chasles, Clebsch, Cremona, Dedekind, Eckardt,
Frobenius, Hesse, Carl Neumann, Puiseux, Schläfli u.a. Im Zentrum standen die
Flächen dritter Ordnung und neuere Arbeiten zur Algebra.428 Hervorgehoben sei,
dass mit Adolf Weiler und Wilhelm Bretschneider zwei spätere Doktorschüler
Kleins beteiligt waren (vgl. Abschnitt 3.1.2); dass der schon genannte Carl Ro-
denberg teilnahm, der im Winter 1871-72 und im Sommer 1872 Kleins Vorlesun-
gen besuchte und mit einer noch durch Clebsch angeregten Arbeit erst 1874 pro-
movieren sollte; er wurde später durch eine Serie von 26 mathematischen Gips-
Modellen bekannt429; dass Kleins Freund aus Bonner Zeit Friedrich Neesen am
25. Juni 1872 im Seminar „ein von ihm nach Angabe des Dr. Klein verfertigtes
Modell einer Fläche 3ter Ordnung mit 4 Knotenpunkten vor[stellte]“.430
Am 3. August 1872 präsentierten Clebsch und Klein drei aus dem Seminar
hervorgegangene mathematische Modelle in der Kgl. Gesellschaft der Wissen-
schaften: Clebsch zwei von Weiler gebaute, darunter die Diagonalfläche mit 27
reellen Geraden, und Klein das durch Neesen gefertigte Modell. Klein beschrieb
bereits hier die Tragweite seines Verfahrens, mit dem Modell weitere Gestalten
kubischer Flächen durch kontinuierliche Änderungen gewinnen zu können:
Da eine Fläche mit 4 Knoten keine absolute Invariante hat, so lassen sich aus der vorliegen-
den alle anderen mit 4 reellen Knoten durch reelle Collineation ableiten. Hinsichtlich des
Verhaltens im Unendlichen muss man dabei fünf Haupttypen unterscheiden. Deformirt man
eine solche Fläche im Endlichen durch stetige Processe, wobei die in einem Knotenpuncte an
einander stossenden Theile sich entweder vereinigen oder sich vollends trennen können, so
erhält man schematisch die Gestalten anderer Flächen dritten Grades. Man beweist, dass man
alle Flächen dritten Grades auf diese Weise erzeugen kann, so dass man auf diesem Wege
eine vollständige Uebersicht der bei Flächen dritten Grades überhaupt möglichen Gestalten
erhält.431
Da Klein wegen des Rufs auf die Erlanger Professur und aufgrund von Clebschs
frühem Tod andere Prioritäten setzen musste, kam er erst später dazu, diesen Bei-
trag zur Klassifikation der Flächen dritter Ordnung detailliert auszuarbeiten. Am
5. Mai 1873 reichte er eine Kurzfassung (6 Seiten) bei den Sitzungsberichten der
Physikalisch-Medizinischen Sozietät zu Erlangen und am 6. Juni 1873 eine län-
gere Version bei den Mathematischen Annalen ein. Dafür hatte Adolf Weiler auf
Kleins Wunsch ein Gipsmodell und eine Zeichnung für eine Fläche dritter Ord-
nung mit vier reellen Knotenpunkten neu gestaltet (Abb. 12).
Obgleich Klein als Privatdozent ein reiches Feld bestellte, drückte er wieder-
holt Unzufriedenheit mit sich selbst aus, nicht genügend voranzukommen, „au-
genblicklich sitze ich fest; weil ich ziemlich verlernt habe in Detailfragen zu ar-
beiten.“ Er erhoffte neue Anregung durch Lie: „Dein Hierherkommen ist fuer
mich wissenschaftliche Lebensfrage.“432 Sophus Lie kam am 8. September 1872
und blieb zwei Monate. In dieser Zeit wurde nicht nur das Erlanger Programm
fertig, sondern Klein half auch bei der Redaktion von Lies aktueller Arbeit, eine
zweite Note über die partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung.
2.8.3 Diskussionskreise
Klein, der in Berlin ein eher distanziertes Verhältnis zwischen Professor und Stu-
dent erlebt hatte, erfuhr als Privatdozent unter Clebsch in Göttingen eine ganz
andere Art des Eingebundenseins. Neben den Lehrveranstaltungen trafen sie sich
im kleinen Kreis, um Forschungsfragen zu diskutieren. Klein gliederte sich außer-
dem in weitere Gruppen und Vereine: Studentenverein, Kreis der Göttinger Pri-
vatdozenten, überregionale Kontakte. Im Folgenden sollen einige Merkmale von
Kleins Rolle in den verschiedenen Gemeinschaften gezeichnet werden.
Klein verkehrte früh bei Alfred Clebsch zu Hause, der seit 1867 in zweiter Ehe
mit Minna Rays, Tochter eines Landrichters, verheiratet war. Sie diskutierten
Kleins und Sophus Lies Manuskripte, die Clebsch zur Publikation aufnehmen
wollte.433 Anfang April 1871 gaben sie den Treffen einen regulären Vereins-Cha-
rakter mit drei Beteiligten, wie Klein Lie wissen ließ:
Clebsch, ein Physiker Riecke hierselbst und ich, haben neuerdings einen Verein gestiftet, be-
stehend aus uns dreien. Wir kommen wöchentlich einmal zusammen und referiren einander
über Dinge, die gerade dem einzelnen nahe liegen. Das nächste Mal werde ich über Deine
Imaginärtheorie sprechen und im Anschluß daran über unsere gemeinschaftlichen weiteren
Arbeiten.434
In diesem Kreis muss Clebsch zunächst als Oberhaupt betrachtet werden, der ein
gleichberechtigtes Zusammenwirken walten ließ. Klein berichtete im November
1871 an Julius Plückers Witwe begeistert über den regelmäßigen Austausch mit
Clebsch: „Mir geht es hier im allgemeinen sehr gut; namentlich ist mir der stete
Wechselverkehr mit Clebsch sehr wertvoll und mein eigentliches Lebensele-
ment.“435 Clebsch entwickelte während Kleins Privatdozentenzeit seine bereits
erwähnte, „[…] fuer ebene Geometrie fundamentale Arbeit, er untersucht allge-
mein diejenigen Zusammenhaenge, – er nennt sie Connexe –, welche durch eine
Gleichung dargestellt werden, die eine Reihe Punct-Coordinaten wie eine Reihe
Linien-Coordinaten jede homogen enthaelt.“436 Mit dem Begriff Connex wurden
Fortschritte in der Theorie der Differentialgleichungen erreicht.437 Klein sollte den
Begriff im Erlanger Programm verwenden, um die Gruppe der Berührungstrans-
formationen einheitlich zu charakterisieren.438
433 Vgl. [Oslo] Briefe Kleins an Lie v. 4.2.1871; 11.3.1871; 29.5.1872, u.a.
434 [Oslo] Klein am 7.4.1871 an Lie.
435 [Canada] Klein an Antonie Plücker, Brief v. 10.11.1871.
436 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 29.6.1872. – Clebsch, A.: „Ueber ein neues Grundgebilde der
analytischen Geometrie der Ebene“. Göttinger Nachrichten (18.9.1872) Nr. 22, 429-49.
437 Zur detaillierten Einordnung des Begriffs Connex (Konnex) vgl. Müller, E. (1910): „Die ver-
schiedenen Koordinatensysteme“. ENCYKLOPÄDIE Bd. III 1.1, 755-56; CLEBSCH 1874, 50;
KLEIN 1926a, 125; vgl. auch Abschnitt 2.4.1 dieses Buches.
438 KLEIN 1872, 36; KLEIN 1921 GMA I, 486.
98 2 Prägende Gruppen
Dass Eduard Riecke (Abb. 13) ebenso wie Klein mit Clebsch verbunden war
und von diesem profitierte, war bisher kaum bekannt. Klein und Riecke waren
sich in Clebschs Vorlesung bereits 1869 begegnet und schwangen auf gemeinsa-
mer Wellenlänge (vgl. Anhang Nr. 12). Weil Riecke später treibender Motor wer-
den sollte, um Klein als Professor nach Göttingen zurückzuholen (vgl. 5.8.2), wird
er hier näher vorgestellt.
Als Sohn eines Arztes in Stuttgart geboren, hatte Riecke am dortigen Polytechni-
kum und an der Universität Tübingen Mathematik und Physik studiert, 1869 das
Lehramtsexamen absolviert und in Göttingen unter Friedrich Kohlrausch, Wil-
helm Weber und Clebsch fortgesetzt. Am 30. April 1871 reichte Riecke das Pro-
motionsgesuch mit der Dissertation Ueber die magnetische Natur des weichen Ei-
sens439 ein. Kurz darauf fand bereits das Habilitationsverfahren statt, dass Clebsch
wegen Erkrankung Webers leitete. Clebsch schrieb am 18. Juni 1871 in die Akte,
dass „[…] das über das gewöhnliche Maß hinausgehende mathematische Niveau
sich schon bei der Dissertation gezeigt habe.“ Über Rieckes Habilitationsschrift
Über eine Art allgemeiner Kugelfunctionen urteilte er: es handele sich um „[…]
eine Klasse von Functionen, auf welche man bei Untersuchungen aus der Theorie
der electrischen Ströme und des Magnetismus häufig geführt wird […]“.440
Riecke erwarb die venia legendi für Mathematik und Physik, war Assistent
am physikalischen Cabinet und blieb zunächst beim Thema Magnetismus, wozu
1872 drei Arbeiten in den Göttinger Nachrichten erschienen. Darunter befand sich
eine kritische Beleuchtung von Helmholtz’ Gesetz „electrodynamischer Wech-
selwirkungen“, wozu ihn Wilhelm Weber veranlasst hatte.441 Riecke erhielt am
14. März 1873 eine a.o. Professur und 1881 als Webers Nachfolger die o. Profes-
sur für Experimentalphysik442, die er bis zum Tode bekleidete.
Rieckes mathematische Theorie des Magnetismus und der Elektrodynamik
gehörte zum Diskussionsgegenstand des Dreiergremiums. Klein integrierte das
Thema in seine theoretisch-physikalischen Vorlesungen. Riecke las erst ab Som-
mer 1872 selbst darüber,443 als sich Klein auf Geometrie konzentrieren durfte.
Felix Klein hatte dem Göttinger Studentenverein bereits 1869 angehört und den
Zusammenhalt der Mitglieder gefördert. Auch als Privatdozent bereicherte er fast
regelmäßig und oft gemeinsam mit Riecke die wöchentlichen Vereins-Sitzun-
gen.444 Zu den sich im Verein engagierten Studenten, die damals eine zeitlang den
Vorsitz führten (Diekmann, Neesen, Lindemann), ergab sich ein besonders enges
Verhältnis. Der Vorstand unter dem Vorsitz von Joseph Diekmann – der gerade
die von Klein betreute Dissertation eingereicht hatte (vgl. Abschnitt 2.8.2) – ver-
lieh Klein am 16. Juni 1871 den Titel Ehrenmitglied und betonte, dass der Verein
„[…] seine jetzige Blüthe zum sehr großen Theile Ihnen verdankt.“445
Der schon mehrfach erwähnte Friedrich Neesen übernahm nach Diekmann
den Vorsitz. Neesen hatte seit Herbst 1867 noch unter Plücker Mathematik und
Physik studiert, gemeinsam mit Klein den Bonner Studentenverein mit ins Leben
gerufen. Wie Klein hatte er sein Promotionsverfahren bei Rudolf Lipschitz abge-
schlossen. Danach wechselte Neesen zu Klein nach Göttingen, beteiligte sich am
Forschungsseminar von Klein und Clebsch, baute ein Modell für Klein. Klein
hatte Neesen bereits vorm Paris-Aufenthalt mehrfach in Cleve besucht446, wo des-
sen Elternhaus stand und sein Vater eine Gasfabrik besaß. Ausdruck ihrer lebens-
langen Freundschaft ist u.a., dass Neesen und Tochter bei Kleins Silberhochzeit
die einzigen außerfamiliären Gäste sein sollten (vgl. 3.6.3).
Neessen hatte sich in seiner Dissertation Ueber die Abbildung von leuchten-
den Objekten in einem nicht centrirten Linsensystem (verteidigt am 4.12.1871)447
mit optischer Strahlenberechnung befasst. Während sich die Vorgänger (Euler,
Aus den Lebenserinnerungen des Philosophen Carl Stumpf erfahren wir, dass Fe-
lix Klein beim Gremium Eskimo ebenfalls der treibende Motor war:
Klein, in dem der Organisationstrieb schon damals lebendig war, gründete mit mir den „Es-
kimo“, eine Vereinigung junger Naturforscher zu Vorträgen und freundschaftlichem Verkehr,
worin ich die philosophische Seite zu vertreten hatte. Professoren waren ausgeschlossen. Der
Klub besteht meines Wissens unter gemilderten Bestimmungen heute noch.456
Die Beteiligten waren vor allem Privatdozenten. Sie trugen in ihrer Wohnung ab-
wechselnd über ein wissenschaftliches Thema vor und diskutierten anschließend
im Gasthaus (Gebhards Biertunnel) weiter. Neben Klein und Stumpf gehörten
zum engeren Kreis: der Physiker Eduard Riecke, der Anatom Friedrich Siegmund
Merkel, der Chemiker Bernhard Tollens sowie Max Bauer, der für Mineralogie
und Geologie habilitiert war.
Kleins inhaltliches Wirken in diesem Kreis war vor allem mit seinen damali-
gen Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie verbunden. Er konnte Carl Stumpf
für sich einnehmen, der ein Duzfreund wurde. Immanuel Kants Erklärung, dass
dreidimensionale euklidische Geometrie denknotwendig sei, war auch für
Stumpfs Doktorvater in Göttingen, Hermann Lotze, Maxime. Lotze schienen
nichteuklidische Geometrien und ein n-dimensionaler Raum nicht vorstellbar.
Klein überlieferte: „Kein Geringerer als Lotze hatte gerade das Stichwort ausge-
geben, daß alle nichteuklidische Geometrie ein Unsinn sei“ und dass er, Klein,
darüber im Winter 1871/72 mit den jüngeren Kollegen „endlose Unterhaltungen
[…] allabendlich in Gebhards Tunnel“ geführt habe.457 Dahinter steckte, dass die
meisten Philosophen wenig mathematisches Verständnis besaßen, so verstiegen
sich Lotze und Eugen Dühring dazu, nichteuklidische Geometrie „als müssiges
Gedankenspiel oder als mystische Bizarrerie zu bespötteln“.458
Carl Stumpf erwarb 1868 den Doktortitel bei Hermann Lotze und 1870 die
venia legendi für Philosophie mit einer in Latein verfassten Schrift „über die ma-
thematischen Axiome“, worüber er angab: „Die Schrift habe ich aber nicht veröf-
459 STUMPF 1924, 211, vgl. auch EWEN 2008; [UAG] Phil. Dek. 156, 1870/1871, Bl. 498-507.
460 KLEIN 1923a, 15.
461 [Innsbruck] Klein aus Berlin an Otto Stolz, Brief v. 30.3.1872.
462 Ebd., Klein an Stolz, Brief v. 28.7.1872 (Hochzeit am 27.8.1872 mit Selma Wiesinger).
463 Göttinger Nachrichten 1872, Nr. 18, 345.
464 [UBG] Cod. Ms F. Klein 10: 1160B. – Klein an Alfred Stern, 1919 [Deutsches Museum]
Sondersammlung 1968-4/2.
465 Vgl. z.B. Peipers, D.: Untersuchungen des Systems Platos. Bd. 1. Die Erkenntnistheorie, mit
besonderer Rücksicht auf den Theaitetos untersucht, Leipzig 1874.
466 COURANT 1926, 197.
2.8 Privatdozentenzeit in Göttingen 103
Wenn Klein später über sich schreiben sollte, Soziale Wirksamkeit als Ersatz für
das verlorene Genie469, so zeigen die Quellen, dass diese soziale Ader nicht nur
früh in ihm schlummerte, sondern dass er sie früh als eine seiner wichtigen Seiten
empfand. Im konkreten Fall folgte Klein einer Idee von Clebsch, Personen zu-
sammenzuführen, um gegenseitiges Verständnis für verschiedene Herangehens-
weisen in der Mathematik zu fördern.
Die Jahresversammlungen der seit 1822 bestehenden Gesellschaft deutscher
Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) waren meist nur sporadisch besucht worden.
Die Teilnahme hing vom Ort und der örtlichen Tagungsleitung ab. So wie sich
bereits andere Fachgesellschaften abgetrennt hatten,470 trat Clebsch für eine sepa-
rate mathematische Vereinigung ein, vorgeschlagen 1867 auf der Naturforscher-
versammlung in Frankfurt/M. Daraufhin waren ihm Pfingsten 1868 zwanzig Ma-
thematiker zu der genannten Bergstraßen-Wanderung gefolgt, darunter, wie be-
reits erwähnt, Klein als Student. Klein hatte hier nicht nur Clebsch und weitere
Mathematiker kennengelernt, sondern auch Christian Wieners Modell einer Flä-
che dritter Ordnung mit 27 reellen Geraden (unsymmetrisch und basierend auf
empirischer Konstruktion) beeindruckt zur Kenntnis genommen und die Grün-
dungsidee der Mathematischen Annalen erlebt. Diese Anfänge eines Einigungsbe-
strebens waren jedoch durch den Deutsch-Französischen Krieg unterbrochen wor-
den.
Nach dem Krieg setzte Clebsch den Privatdozenten Klein in die Spur. Dieser
gewann den Leipziger Adolph Mayer sowie Max Noether als Mitglieder für ein
Organisationskomitee:
Vielleicht erinnern Sie sich, daß wir vergangene Ostern davon sprachen, wie wünschenswerth
es sei, in nicht zu ferner Zeit eine Mathematikerversammlung zu Stande zu bringen. Seitdem
habe ich mich etwas umgehört und den Eindruck gewonnen, daß eine Versammlung im näch-
sten Frühjahr, etwa zur Pfingstzeit, von vielen Seiten mit Vergnügen begrüßt werden würde.
Clebsch, der übrigens dieser Tage nach Leipzig kommt, ist auch ganz für den Plan einge-
nommen. Ich möchte nun mit gegenwärtigem Briefe an Sie die Anfrage richten: ob Sie geson-
nen wären, ev. die Sache mit in die Hand zu nehmen. Ich habe im gleichen Sinne an Noether
in Heidelberg geschrieben, den ich persönlich genau kenne. Wir drei: Sie, Noether und ich
würden ev. ein Comite ‘behufs Abhaltung einer Mathematikerversammlung’ bilden.471
Als Klein von einer für Berlin geplanten Zusammenkunft hörte, formulierte er den
allgemeinen Grundsatz: keine Zersplitterung eintreten zu lassen.472 Der 22-Jäh-
rige koordinierte das weitere Vorgehen und griff Max Noethers Vorschlag auf,
einen Berliner ins Vorbereitungskomitee aufzunehmen. Sie gewannen Carl Ohrt-
mann, Oberlehrer an einem Berliner Realgymnasium, der mit Felix Müller, Pro-
fessor am Kgl. Luisengymnasium, das erste deutsche mathematische Referate-
Journal Jahrbuchs über die Fortschritte der Mathematik gegründet hatte.
Klein gehörte schon zu den Mitarbeitern am französischen Referatejournal,
dem Bulletin von Darboux, als ihm das erste Heft des Jahrbuchs am 11. März
1871 zugeschickt wurde, mit den Referaten über die Arbeiten des Jahres 1868.
Klein urteilte, dass es „einen guten, objectiven Eindruck“ mache und verglich:
„Darboux’s Bulletin ist gewissermaßen analog, aber viel subjectiver.“473 Vermit-
telt durch Hermann Schubert und Otto Stolz übernahm Klein ab Band 2 des Jahr-
buchs Referate „über Liniengeometrie und etwas Algebra“.474 Mit dem Verteilen
der Referate jedoch unzufrieden, wählte Klein die Art und Weise des Referierens
als einen Programmpunkt für die geplante Versammlung. Wie er das Durchsetzen
seiner Ideen vorbereitete, lässt sich einem Brief an Otto Stolz entnehmen:
Ich möchte bei Gelegenheit der Versammlung das Referatewesen beim Jahresberichte etwas
umgestalten: in dem Sinne, dass jeder Referent über sein specielles Fach auch vollständig re-
ferirt und die Sache nicht so zerstückt wird, wie seither. Ich möchte namentlich auch neue
Kräfte zum Referiren heranziehen, wie z.B. Brill. Genaueres kann ich darüber noch nicht
schreiben, da ich erst in den nächsten Wochen mich näher über die Beziehungen orientiren
will, die dabei zur Sprache kommen, aber ich darf mich wohl im Allgemeinen, wenn Sie zur
osterlichen Versammlung kommen oder sonst die Referenten zur Abstimmung aufgefordert
werden, Ihrer Zustimmung versichert halten?475
Bevor die anvisierte nationale Versammlung vom 16. bis 18. April 1873 in Göt-
tingen stattfand, hatten sich Ostern 1872 in Berlin ca. fünfzig Mathematiker ge-
troffen. Das anwesende Vorbereitungskomitee für die geplante nationale Ver-
sammlung nahm hier zwei weitere Mitglieder auf: den mit Klein befreundeten
476 Lampe war damals Oberlehrer an der Friedrich-Werderschen Gewerbeschule in Berlin, wurde
später Professor an der Technischen Hochschule Berlin und leitete ab 1885 das Jahrbuch
über die Fortschritte der Mathematik.
477 Klein an M. Noether, Dez. 1872 [UBG] Cod. Ms Klein 12: 559, zitiert in TOBIES 1991, 35.
478 Klein an Mayer, 25.1.1873, zitiert in TOBIES/ROWE 1990, 70.
479 Vgl. Liste der Teilnehmer GUTZMER 1904, 23.
480 Rudolf Sturm verfasste später drei Bände Die Gebilde ersten und zweiten Grades der Linien-
geometrie in synthetischer Behandlung (Leipzig: B.G. Teubner, 1893-96), wobei er sich im
Band 3 mehrfach auf Kleins analytische Ergebnisse bezog.
106 2 Prägende Gruppen
dieses Sommers die Sache fertig stellen werde.“481 Die Versammlung war durch
eine Modell-Ausstellung bereichert worden. Klein hatte seine Jahrbuch–Ideen
realisieren und Kontakte festigen können. Er wurde gemeinsam mit Carl Ohrt-
mann und Alfred Enneper in ein Komitee gewählt, das die nächste derartige Ver-
sammlung in Würzburg für das Jahr 1875 vorbereiten sollte.
Dieser Plan für Würzburg blieb jedoch unrealisiert. Die Ursachen dafür wa-
ren vielfältig. Bereits am 24. Oktober 1874 schrieb Felix Klein an Moritz Abra-
ham Stern nach Göttingen über ein Vorbereitungstreffen, welches er mit Adolph
Mayer, Orthmann und Enneper in Leipzig veranstaltet hatte:
Ich gehe eigentlich mit sehr getheilter Empfindung daran, denn einen glänzenden Erfolg ha-
ben wir sicher dieses zweite Mal nicht zu erwarten, und es ist wohl möglich, daß wir ange-
sichts dieses Umstandes nach einem Wege suchen, der uns gestattet, einstweilen die Ver-
sammlung zu verschieben.482
Dies schrieb Klein an Sophus Lie, der wenige Monate vor ihm Professor in Chris-
tiania geworden war. Darboux erfuhr: „Es ist der alte Lehrstuhl v. Staudt’s, und es
macht mir nicht wenig Vergnuegen, dessen Nachfolger im Amte sein zu duerfen,
da ich seine Sachen in letzter Zeit immer wieder studirt habe.“2 Dem Leipziger
Adolph Mayer erklärte Klein: kam die Sache so unverhofft, er hätte sich nicht
lange besonnen, die Vorlesungen früh geschlossen und eine mit seinem schotti-
schen Freund William R. Smith geplante 3-wöchige Bergtour in die Tiroler Alpen
gestartet. Otto Stolz hatte die Route empfohlen: „Wir haben also die von Ihnen
angegebene Tour mit größter Gewissenhaftigkeit aber auch dem größten Vergnü-
gen gemacht, nur nahmen wir statt der Kreuzspitze den Similaun, der auch nicht
so viel schwerer aber höher und wegen des vielen Schnee’s interessanter ist.“3
Klein war in einem Alter berufen worden, in welchem er bei der damaligen ersten
Reichstagswahl noch nicht wählen durfte, wie er gern selbst erzählte.4
Als Klein im Oktober 1872 nach Erlangen kam, gehörte die Stadt, nach wech-
selnden politischen Herrschaften, zu Bayern. Die Einwohnerzahl war mit ca.
12.500 noch geringer als in Göttingen. Die Universität bestand seit 1743 (Fürsten-
tum Brandenburg-Bayreuth). Mit dem Wechsel zu Bayern war die nun Kgl. Bay-
erische Friedrich-Alexander-Universität nur deshalb nicht geschlossen worden,
weil sie die einzige protestantische Fakultät im katholischen Lande besaß. Um
1870 gab es insgesamt weniger als 400 Studenten. Seit 1818 waren das Schloss,
der Schlossgarten und die Orangerie Universitätseigentum. Die Universitätsbiblio-
thek, Hörsäle, Seminarräume und Sammlungen befanden sich im Schloss. Hier
erhielt Felix Klein schließlich auch einen Raum für mathematische Übungen.
Nach dem Ableben Christian von Staudts 1867, Erlangens erster Mathemati-
ker von internationalem Rang, hatten Hermann Hankel (1868-69) und Hans Pfaff
(1869-72) das einzige mathematische Ordinariat bekleidet. Nach Pfaffs Tod am
20. Mai 1872 sandte die philosophische Fakultät der Universität bereits im Juni
1872 eine Zweierliste an das Staats-Ministerium des Innern für Kirchen- und
Schul-Angelegenheiten nach München, mit Klein an erster und Johannes Thomae
107
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R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_3
108 3 Professur an der Universität Erlangen
an zweiter Stelle. Dem Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät Eugen
Lommel, Kleins künftiger Schwager, ist zu entnehmen, dass aus finanziellen
Gründen ein junger Mann gesucht wurden war, der schon ein breites Gebiet ver-
treten kann. Clebsch hatte ein euphorisches Urteil über Klein vermittelt:
Erst 23 Jahre alt, hat Klein es verstanden, durch die Zahl und Gediegenheit seiner Arbeiten
die rückhaltloseste Anerkennung, ja Bewunderung, seiner Fachgenossen sich zu erwerben.
[…] Erst jüngst hat seine Abhandlung „Über die Nicht-Euklidische Geometrie“ in den wei-
testen Kreisen – namentlich auch im Auslande – lebhafte Theilnahme und gerechtes Aufse-
hen erregt. […] Die Mehrzahl seiner Arbeiten bewegt sich auf dem Gebiete der analytischen
Geometrie, einer Disciplin, welcher ihrer Natur nach eine vermittelnde Stellung zwischen den
oben erwähnten Richtungen der heutigen Mathematik einnimmt; zudem ist mir bekannt, dass
er durch Clebsch in der gründlichsten Weise in die moderne Algebra eingeführt worden, und
sonach die von uns gewünschte vielseitige Bildung in hohem Grade besitzt. Klein ist aber
nicht nur als Schriftsteller, sondern nach dem Urtheil gewiegter Fachgenossen, auch als Leh-
rer höchst bedeutend. […] Wenn wir noch hinzufügen, daß ebenso einstimmig, wie seine wis-
senschaftliche und Lehrbefähigung, auch sein gediegener Privatcharakter, seine Frische, Le-
bendigkeit und Liebenswürdigkeit im Umgang, gerühmt wird, so müssen wir in Klein in jeder
Beziehung den Mann erkennen, dem wir vor Allen den vacanten Lehrstuhl anvertraut wissen
möchten.5
5 Schreiben v. 26. Juni 1872 über den Senat an das Staatsministerium, vollständig abgedruckt
in TOBIES 1992a, 766-768, Zitate 767.
6 [UA Erlangen] R. Th. II. Pos. 1, Nr. 15, Personalakte Hans Pfaff (mit Berufungsvorgang F.
Kleins). – Zum Vergleich: Gustav Bauer war 1869 mit einem Jahresgehalt von 1.200 Gulden
zum o. Prof. an der Universität München ernannt worden, VOSS 1907, 61.
7 [UB Erlangen] MS 2565 [8] Mitglieder-Verzeichnis; [10] Protokollbuch, Sitzung. 9.12.1872.
8 Vgl. NOETHER 1908, 81. – Für den Hinweis dankt die Autorin Cordula Tollmien.
3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler 109
seinem Eintreffen als Privatdozenten vorfand. Günther las über Geschichte der
Mathematik und nahm auch an Vorlesungen und Seminaren von Klein teil.9 Ob-
gleich in Erlangen nie mehr als acht Hörer in Kleins Veranstaltungen saßen, ging
daraus ein erstaunlich hoher Prozentsatz kreativer Köpfe hervor. (Abschnitt 3.1)
Sich darüber bewusst, dass die meisten Mathematik-Studenten keine Forscher
werden, aber wichtig für den Mathematikunterricht an den Schulen sein würden,
entwickelte Klein für die Lehre gleichfalls weit ausgreifende Pläne, die er in sei-
ner obligatorischen Antrittsrede10 als Professor formulierte (Abschnitt 3.2).
Klein setzte sein Bestreben fort, andere wissenschaftliche Schulen kennenzu-
lernen. Er führte 1873 die lange geplante Reise nach Großbritannien durch (Ab-
schnitt 3.3) und begab sich 1874 auf seine erste Italien-Reise (Abschnitt 3.4).
Auch wenn Klein Erlangen nach drei Jahren wieder verließ, erreichte er hier
einen bemerkenswerten Ausbau des „mathematischen Instituts“, das zuvor nur
dem Namen nach existiert hatte (Abschnitt 3.5).
In familiärer Hinsicht stellte er in Erlangen Weichen (Abschnitt 3.6).
Aber der Genuss selbstaendiger Production wird immer nur Wenigen zugaenglich bleiben.11
Klein fühlte früh, dass er zu den wenigen gehörte, die kreativ mathematisch tätig
sein können. Er wusste, dass dazu eine eigenartige Disposition gehört, die nicht
Jedem gegeben ist und er verglich dies mit musikalischer Produktivität: „Musica-
lische Productivität ist nur Wenigen gegeben, aber die meisten Menschen haben
ein mehr oder minder ausgebildetes Verstaendnis fuer fertige musikalische Wer-
ke. Die Classe derer, denen aller musikalischer Sinn abgeht, ist wiederum recht
beschraenkt. So gibt es auch, obgleich nicht haeufig, durchaus unmathematische
Koepfe, die bei sonst normaler Begabung, voellig unfaehig sind, dem einfachsten
mathematischen Gedankengange zu folgen.“12 Er erkannte Begabungen schnell.
Während das Wachsen des Erlanger Programms – eine Schrift, die ein frisch
gekürter Erlanger Professor notwendig vorzulegen hatte – bereits in den zurück-
liegenden Abschnitten angedeutet wurde, sei hier auf die damit verbundene Vi-
sion und Wirkung Bezug genommen. Zugleich soll gefragt werden, welchen Spu-
ren Kleins Erlanger Schüler folgten und welche neuen Akzente sich in seinem
Forschungsfeld anbahnten.
Klein meldete am 29. November 1872 an Darboux: „Lie hat mich beinahe zwei
Monate, September und October, besucht. Was wir besprochen haben, werden Sie
der Art nach aus unseren damals entstandenen Publicationen: der Lie’schen Note
in den Göttinger Nachrichten und meinem Antritts-Programm, ersehen haben.“13
Bei der späteren Edition in GMA I erklärte Klein zu diesem Erlanger Programm:
Mein Interesse war schon von meiner Bonner Zeit her darauf gerichtet, im Widerstreite der
sich befehdenden mathematischen Schulen das gegenseitige Verhältnis der nebeneinander
herlaufenden, äußerlich einander unähnlicher und doch ihrem Wesen nach verwandter Ar-
beitsrichtungen zu verstehen und ihre Gegensätze durch eine einheitliche Gesamtauffassung
zu umspannen. Innerhalb der Geometrie gab es in dieser Hinsicht noch viel für mich zu tun.14
13 [Paris] Bl. 64v. – Lie, S.: „Zur Theorie partieller Differentialgleichungen erster Ordnung,
insbesondere über eine Classification derselben.“ Göttinger Nachrichten 1872, 473-89.
14 KLEIN 1921 GMA I, 52.
3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler 111
Dem Erlanger Programm lag eine hohe Vision zugrunde: „Mein Programm, so
glaubten wir, sollte das aeussere Zeichen für eine Neuentwikkelung der Geometrie
werden, gleichwerthig mit derjenigen, die fünfzig Jahre früher durch Poncelet in
die Wege geleitet worden war.“15 Allerdings blieb das erhoffte Echo zunächst
weitgehend aus. Auf eine Frage von Lie antwortete Klein im Juni 1873:
Du fragst, was die Leute von meinem Programm geurteilt haben. Nun, ich habe kaum ein
Urtheil gehört. Ein Franzose, Pasquier, der Ostern in Göttingen war, erzählte mir, Darboux
hat es getadelt, Mansion dagegen sei entzückt gewesen und wünsche es übersetzen zu dürfen.
Nöther, der ja damals auch unsere W-Curven verstand, hat mir anerkennend geschrieben.
Gordan, den ich direct fragte, sagte mir: das gefiele ihm gar nicht; er schien das Ganze als
Styl-Uebung zu betrachten. Dagegen ist der alte Stern, wie man mir von Göttingen schrieb,
sehr zufrieden gewesen. – Das ist nun ungefähr überhaupt Alles, was ich gehört habe; meine
hiesigen Leute haben mir übereinstimmend gesagt, sie hätten es nicht verstanden.16
F. Engel überlieferte, dass für Lie „Kleins Gedanke, dass eine große Anzahl von
Gebieten der bisherigen Mathematik als Invariantentheorie gewisser bekannter
Gruppen aufgefaßt werden kann, […] neu und überraschend gewesen“ sei.20 Klein
erkannte selbst Unvollkommenheiten; die Geometrie von Nullstellengebilden –
auf die er bei der birationalen Geometrie und bei der Analysis Situs hinwies – war
z.B. noch nicht erfasst.21 Paragraph 9 behandelte die Gruppe aller Berührungs-
transformationen, an Arbeiten von Lie und Clebsch anknüpfend. Wie ROWE
(2003: 671) unterstrich, hatte Klein im Vergleich zu Lie Transformationsgruppen
im Auge, die global (nicht lokal) auf eine Mannigfaltigkeit angewandt werden.
Der Unterschied zwischen globalen und lokalen Eigenschaften einer Mannig-
Klein träumte davon, ähnlich wie Clebsch eine wissenschaftliche Schule zu grün-
den. Dafür musste er erst einen Kreis Begabter um sich scharen. Im Vorfeld hatte
er Schwierigkeiten geahnt und geunkt: „In Baiern existirt bis jetzt keine Mathe-
matik und der sueddeutsche Student ist gedankenfaul. Der in mir ziemlich stark
ausgebildete sociale Trieb, wenn ich darunter die Lust verstehe, auf andere Men-
Nach Erhalt der Anstellungsurkunde hatte Klein am 3. September 1872 den Senat
der Universität Erlangen informiert, dass er eine Vorlesung „Ueber elementare
Partieen der Algebra in der Verbindung mit analytischer Geometrie der Ebene“,
jeweils Montag bis Freitag, 11-12 Uhr, sowie „mathematische Uebungen“,
einstündig, zu halten beabsichtige.34 Als er am 5. November 1872 starten wollte,
waren nur zwei Hörer anwesend. Schließlich schrieben sich drei weitere Studen-
ten ein, die mehrere Semester blieben und später in den Schuldienst gingen.
Für die höhere Vorlesung „Ausgewählte Capitel der neueren Geometrie, ver-
bunden mit practischen Uebungen“ hatte sich im Winter 1872-73 zunächst nur
Adolf Weiler eingetragen.35 Deshalb las Klein über Projectivische Massbestim-
mung, wofür der aus dem Clebsch-Kreis kommende Aurel Voß und Siegmund
Günther als Hörer hinzutraten. Weiler promovierte im Feld. Voß wurde zur Habi-
litation und Privatdozentur in Göttingen geführt.36 Günther drang nicht tiefer in
diese Forschungsrichtung ein, sodass Klein später nicht für ihn, sondern für Paul
Gordan ein vom bayerischen Landtag genehmigtes Extraordinariat beantragte
(vgl. 3.5). Daraufhin habilitierte sich Günther zum 17. Juli 1874 an das Polytech-
nikum in München um. Trotz Aussprache blieb ein gespanntes Verhältnis.37
Voß bezeichnete es als Glück, vier Monate lang fast täglich mit Klein verkeh-
ren und an seinem Beispiel lernen zu dürfen. Er überlieferte Kleins „[…] merk-
würdige Fähigkeit, überall in den Untersuchungen anderer gerade den Punkt zu
entdecken, der mit seinen eigenen Gedanken in Verbindung stand“ sowie dessen
„[…] Gabe, jeden seiner Schüler auf das Thema hinzuweisen, das dessen beson-
derer Begabung und Entwicklung entsprach.“38
Nachdem Voß zur Habilitation nach Göttingen gegangen war, saßen fünf Hö-
rer in Kleins höherer Vorlesung über Invariantentheorie, die er im zweiten Se-
mester, neben einer Anfängervorlesung (Differentialrechnung), anbot. Vier von
diesen führte er zum Doktortitel: Wilhelm Braun, Ferdinand Lindemann, Wilhelm
Bretschneider und den erwähnten Adolf Weiler. Mit diesen potentiellen Doktor-
schülern und Privatdozent Siegmund Günther39 startete Klein am 22. April 1873
sein Erlanger Forschungsseminar. Sophus Lie erfuhr zwei Monate später: „Dem-
nächst werden hier 2 Dissertationen fertig: die eine verfolgt meine Eintheilung der
Complexe 2ten Grades, die andere nimmt das Problem einer projectivischen Dy-
namik (Kinematik und Statik) in Angriff […].“40 Weiler war der Erste mit
Examen am 19. Juli 1873. Lindemann folgte planmäßig am 2. August 1873.
Abb. 15: Kleins Kreis in Erlangen 1873. Von rechts: Felix Klein, Ferdinand Lindemann,
Wilhelm Bretschneider, Siegmund Günther, Adolf Weiler, Ludwig Wedekind
Lindemann überlieferte, wie Klein den Erlanger Kreis um sich scharte, zu dem im
Herbst 1873 Axel Harnack hinzutrat. Klein lud seine Studenten einmal wöchent-
lich zu sich ein, wobei einer vorzutragen hatte. Anschließend gingen sie um 20
Uhr zum Abendessen. Mittags speisten sie gemeinsam an der Table d’hôte (Gast-
39 Günther beteiligte sich bis zum 21.1.1874 mehrfach mit Beiträgen aus seinem Habilitations-
thema: Darstellung der Näherungswerthe von Kettenbrüchen in independenter Form. Erlan-
gen: Eduard Besold, 1873 (128 S.); [Protokolle] Bd. 1, 29-30; 44-46; 64-66; 70-71; 80.
40 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 28.6.1873.
116 3 Professur an der Universität Erlangen
Klein hatte die Rollen getauscht; so wie er selbst Plückers Liniengeometrie unter
Clebschs Ägide ediert hatte, arbeitete jetzt der 20-jährige Lindemann unter seiner
Obhut an der Clebsch-Edition. Klein hatte für Lindemanns Übersiedelung nach
Erlangen gesorgt, eine Wohnung für ihn gemietet, ließ ihn im Seminar über
Clebsch-Themen vortragen und beriet regelmäßig mit ihm.45
In intensiver Arbeitsatmosphäre vollendeten weitere ihre Dissertation. Wil-
helm Bretschneider trug am 17. Dezember 1873 und am 25. Februar 1874 in
Kleins Seminar vor und reichte seine Dissertation „Über Kurven 4. Ordnung mit 3
Doppelpunkten“ am 10. März 1874 ein. Dieser Gymnasiallehrer aus Württemberg
hatte ein Stipendium für Zusatzstudien erhalten. Angeregt durch Klein verfolgte
er Ansätze analytisch, die Heinrich Schröter synthetisch behandelt hatte.46
cietaet, reichte dessen Arbeiten für die Sitzungsberichte ein und gewann ihn
gleichfalls als Autor für die Mathematischen Annalen.52
Ende November 1874 trat der Norweger Elling Holst hinzu, der erst im Juli
1874 sein Staatexamen unter Lie abgelegt hatte. Lie hatte ihm geraten, nicht nach
Berlin, sondern zu Klein zu gehen: „Glaube mir, in Berlin ist nichts für Dich zu
holen, es sei denn, Du wärest so glücklich wie ich und träfest einen neuen Klein
dort.“53 Holst besuchte Kleins Vorlesung „Ausgewählte Kapitel der neueren Geo-
metrie“ (1874/75) und referierte dreimal in Kleins Seminar,54 wo außerdem die
frisch gebackenen Doktoren Lindemann, Harnack und Wedekind sowie Paul Gor-
dan vortrugen. Klein sandte günstige Urteile über Holst an Lie und empfahl ihn
für ein norwegisches Stipendium, damit er seine Studien fortsetzen konnte.55 Als
Klein zum Sommersemester 1875 als Professor an das Polytechnikum nach Mün-
chen wechselte, gingen Holst, Lindemann, Harnack und Wedekind mit ihm und
bildeten die Aktivposten im Mathematischen Colloquium des ersten Jahres.
Die Karrieren der Schüler Kleins schritten schnell voran. Holst reichte seine
erste Arbeit im Dezember 1876 bei den Mathematischen Annalen ein, wo auch die
Dissertationen von Lindemann, Weiler, Harnack und Wedekind erschienen. Har-
nack erhielt noch im Jahr seiner Habilitation (Leipzig 1876) eine a.o. Professur an
der TH Darmstadt und ein Jahr später an der TH Dresden. Wedekind habilitierte
sich 1876 an der TH Karlsruhe, wo er zum a.o. Professor (1880) und o. Professor
(1883) aufstieg. Der Schweizer Adolf Weiler habilitierte sich 1875 am Polytech-
nikum in Zürich und wurde 1899 a.o. Professor an der Universität Zürich. Linde-
mann, der angeregt durch Klein 1876 zu Studien im Ausland weilte, habilitierte
sich 1877 in Würzburg, wurde 1878 Extraordinarius und 1879 Ordinarius in Frei-
burg i.Br. Dass er schließlich 1883 als erster Clebsch-Abkömmling an die preußi-
sche Universität Königsberg kam, basierte vornehmlich auf dem gelungenen Be-
weis der Transzendenz von π und besaß auch besonderes Gewicht für Klein:
Ihr Ruf nach Königsberg kommt uns allen zugute, denn es ist ein Sieg unseres Prinzips (näm-
lich des Kampfes gegen die Cliquenwirtschaft). Erinnern Sie sich, dass vor 10 Jahren eine
maassgebende Persönlichkeit sagte, es solle mit seiner Zustimmung niemals ein Schüler von
Clebsch nach Preussen kommen?56
Klein war erfolgreich, weil er im Verkehr mit seinen Schülern „[…] die Goldkör-
ner seines reichen Talentes ausstreute, unbekümmert um den Gebrauch, den sie
später davon machen könnten, denn er war nicht der engherzigen Ansicht solcher,
die in ihren Schülern nur spätere Konkurrenten zu sehen geneigt waren.“57
Wenn ich an Dich denke, habe ich so oft die Empfindung einer langen, ja vielleicht hoff-
nungslosen Trennung von meinem besseren Selbst. Und doch sage ich mir wieder, dass es bei
meinem jüngeren Alter und meiner so sehr andersartigen Begabung so hat kommen müssen.
Wohin meine wissenschaftliche Beschäftigung sich noch wenden wird, wer will es wissen?
Ich möchte wie Du grosse neue Theorien schaffen; ich möchte dann wieder, und den Plan
verfolge ich mit einer gewissen Consequenz, einen möglichst vollständigen Ueberblick über
alle Mathematik gewinnen, um dann der Zersplitterung einmal ein Ende zu machen, die für
uns alle entschieden ein grosses Unglück ist; - oft auch denke ich, dass es mir durch meine
mathematische Schulung gelingen muss, späterhin in Physik etwas Vernünftiges zu leisten.58
Klein vermisste die Kooperation mit Lie und versuchte zunehmend, eigene Wege
zu finden. Anfangs widmete er in Erlangen einen beträchtlicher Teil seiner Zeit
der wissenschaftlichen Clebsch-Biographie, dem Bemühen um eine Clebsch-
Stiftung, um Clebschs Frau und Kinder abzusichern und dem Vorbereiten der Ma-
thematikerversammlung (vgl. Abschnitt 2.8.3.4). Kleins Publikationen umfassten:
Erstens alte Themen wie Flächen dritter Ordnung, Plückers Komplexfläche,
nichteuklidische Geometrie. Dabei kam es wiederholt vor, dass Klein noch Un-
ausgereiftes zur Publikation gab, was später korrigiert werden musste. Als Klein
einen Nachtrag zur Nicht-Euklidischen Geometrie (Math. Ann. 7 (1874) 531-37)
publizierte, schrieb ihm Darboux, dass sein dargelegter Zusatz zu einer Definition
v. Staudts überflüssig sei. Klein publizierte daraufhin eine Korrektur sowie Dar-
boux’ Hinweis; und er kommentierte dazu in einem Brief an Otto Stolz, mit dem
er zum Thema gearbeitet hatte: „Die Sache ist mir natürlich sehr aergerlich, aber
da hilft Nichts, als offen sagen, dass man gefehlt hat.“59
Zweitens einzelne neue Probleme. Klein dehnte den bekannten Pascalschen
Satz über das einem Kegelschnitt eingeschriebene Sechseck auf den Raum aus
(Erlanger Sitzungsberichte, 10.11.1873). Hierbei entwickelte er das schon – mit
Bezug auf Wedekinds Dissertation – angedeutete neue Uebertragungsprincip,
„vermöge dessen die Kugel, welche der Darstellung von x + iy dient, zugleich die
Bedeutung der Fundamentalfläche einer projectivischen Maassbestimmung er-
hält“.60 Klein und seine Schüler verwendeten dieses Prinzip als ein Werkzeug der
Verallgemeinerung; es sollte auch für die Theorie des Ikosaeders fruchtbar wer-
den. Nach Übertragungsprinzipien oder Analogien zu schauen, war, wie gesagt,
bereits bei Hesse ein wichtiges methodisches Hilfsmittel in diesem Gebiet.61
Klein befasste sich im Jahre 1873 außerdem mit einer philosophischen Erörte-
rung des Funktionsbegriffs, um „[…] einzusehen, wie so stetige Functionen ohne
Differentialquotienten sein können.“ Durch Weierstraß war 1872 erstmals ein
Beispiel für eine stetige, nicht differenzierbare Funktion bekannt geworden. Klein
griff das sofort auf, sich auch der Hilfe seines Freundes Otto Stolz bedienend.
Gemäß seinem Arbeitsplan drang Klein in Themen näher ein, die von Clebsch
bearbeitet worden waren. Dies schloss Riemanns Ideen ein, wobei er stärker am
Original anknüpfte, weil ihn Clebschs Resultate nicht vollkommen befriedigten.
Erhard Scholz beschrieb Riemanns Ideen „zum Flächenzusammenhang“ (zur To-
pologie von Flächen) und verglich die Ansätze der beteiligten Forscher, Riemann,
Möbius, Carl Neumann, Jordan, Schläfli, Klein. SCHOLZ hob u.a. hervor, dass sich
Klein bei seiner Definition des Flächenzusammenhangs schon stärker auf Jordan
als auf Riemann stützte.63 Klein gab später eine anschauliche Übersicht über Rie-
manns Ausgangspunkt64 und erklärte in seinen Gesammelten Abhandlungen:
Die Zahl p ist bei Riemann zunächst ein Charakteristikum für den „Zusammenhang“ einer ge-
schlossenen Fläche. Es war für mich ein geradezu quälendes Problem, was diese Auffassung
mit der Gestalt der zugehörigen algebraischen Kurven zu tun haben möchte, und ich war
glücklich, als es mir gelang hierauf durch Konstruktion der „neuen“ Riemannschen Flächen
eine überaus einfache Antwort zu finden.65
Es sei hier hervorgehoben, dass die Theorie der Riemannschen Flächen entstand,
weil die analytische Fortsetzung holomorpher Funktionen nicht eindeutig ist. D.h.
auf verschiedenen Wegen kann man verschiedene Funktionswerte erhalten. Mit-
tels einer mehrblättrigen Fläche (Überlagerungsfläche) als Definitionsbereich
kann Eindeutigkeit der analytischen Fortsetzung erreicht werden (Beispiel: Rie-
mannsche Fläche des komplexen Logarithmus).
Um zu entscheiden, ob zwei (orientierbare) Flächen eineindeutig und stetig
aufeinander abbildbar sind, benutzte Riemann charakteristische Invarianten: p die
maximale Zahl der möglichen, die Fläche nicht zerstückenden und einander nicht
kreuzenden Rückkehrschnitte; und μ die Anzahl der Randkurven.
Bei geschlossenen Flächen, die Klein besonders betrachtete, ist μ = 0 und die
Fläche durch p allein charakterisiert. Wie Klein angab, bezeichnete Clebsch die
62 [Innsbruck] Klein an Stolz, Brief v. 23.11.1873. – Stolz, O.: „B. Bolzano’s Bedeutung in der
Geschichte der Infinitesimalrechnung“. Math. Ann. 18 (1881) 255-79.
63 Vgl. SCHOLZ 1980, 163-79.
64 SCHOLZ 1980, 57-78. – Vgl zu den Begriffen Geschlecht, Zusammenhang, u.a. auch KLEIN
1925 Elementarmathematik II, 114-16.
65 Vgl. KLEIN 1922 GMA II, 5.
3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler 121
Zahl p als das Geschlecht der Fläche bzw. der Gleichung F (ζ, z).66 Klein erläu-
terte später, was für seine weiteren Forschungen wichtig wurde:
Gleichungen F (ζ, z) = 0 lassen sich nur dann eineindeutig und stetig aufeinander beziehen,
wenn sie dasselbe p haben. […] Damit hat Riemann alle algebraischen Gleichungen, die sich
durch eineindeutige oder, wie man vom Standpunkt der Formel sagt, birationale Transforma-
tion auseinander ergeben, durch eine erste Charakteristik gekennzeichnet: sie haben notwen-
dig eine numerische Invariante, nämlich die Zahl p. Die Gebilde desselben p unterscheiden
sich dann weiterhin noch durch die in sie eingehenden wesentlichen Konstanten, die sog.
„Moduln“. Als deren Zahl findet Riemann bei p = 0 Null, bei p = 1 Eins, und für p > 1 den
Wert 3 p – 3.67
Aus heutiger Sicht erscheint das banal. Klein erklärte, dass er für reelle Tangenten
den Berührungspunkt und für imaginäre den einzigen reellen Punkt derselben als
Bild des Kurvenpaares bzw. der Stelle des algebraischen Gebildes auffasste. Wie
Wirtinger später urteilte, verband Klein die von Staudtsche Imaginärtheorie und
den Begriff der Riemannschen Fläche mit dem allgemeinen Begriff der Riemann-
schen Mannigfaltigkeit.72
Im Dialog mit Ludwig Schläfli entwickelte Klein seine Arbeiten weiter, klärte
Grundbegriffe und erweiterte seinen Mannigfaltigkeitsbegriff implizit. Während
Klein im Erlanger Programm nur relative Eigenschaften betrachtet hatte, begann
er nun, zwischen relativen und absoluten Eigenschaften im Sinne der Analysis
Situs (Topologie) zu unterscheiden:
Absolut nenne ich diejenigen Eigenschaften, welche der betr. Mannigfaltigkeit unabhängig
von dem umfassenden Raume zukommen, in welchem gelegen man sie voraussetzen mag.
Relative Eigenschaften hängen von dem umgebenden Raume ab; sie sind invariant bei
Verzerrungen der Mannigfaltigkeit, die innerhalb des betr. Raumes stattfinden, nicht aber bei
beliebigen Verzerrungen.73
Als Beispiel für eine absolute Eigenschaft nannte Klein die (Nicht-)Orientierbar-
keit einer Fläche. Zu den neuen Ansätzen, die Klein im Gebiet der Flächentopolo-
gie gewann, gehörte die Idee, die projektive Ebene als eine „Doppelfläche“ aufzu-
fassen, d.h. modern, sie durch ihre Orientierungsüberlagerung zu ersetzen.74
Kleins Interesse an nicht-orientierbaren Flächen führte ihn zu dem nach ihm be-
nannten Kleinschen Schlauch, wofür er 1881 ein Modell beschrieb (vgl. 5.5.1.2).75
In der zweiten Hälfte der 1870er Jahre gelangte Klein – wie er es selbst
ausdrückte – schließlich zum echten Riemann, d.h. dazu, dass er nicht mehr die
algebraische Gleichung zur Definition der algebraischen Kurve benutzte, sondern
Riemanns Existenztheorem von der Fläche direkt herleitete.76 Er entwickelte seine
Auffassung von der Riemannschen Fläche in Verbindung mit Arbeiten zur
geometrischen Funktionentheorie weiter:
Er gewann von einer differentialgeometrischen Grundlage her eine Charakterisierung der
komplexen Struktur auf einer reell zweidimensionalen Mannigfaltigkeit, die den Begriff der
Riemannschen Fläche von der elementaren, unmittelbaren Vorgabe durch Blätter- und Ver-
zweigungsstruktur über der komplexen Ebene zu lösen gestattete.77
Klein erfasste über Clebsch und eher intuitiv, ausgehend von seiner geometri-
schen Art des Herangehens an Probleme, dass ihn Riemanns Zugang zur Funktio-
nentheorie zunächst weiterbringen könne als der von Weierstraß.
Reinhard Bölling, bester Kenner der Ideen von Weierstraß, führte überzeu-
gend aus, wie durch Weierstraß’ Kritik an Riemann die Nase über diejenigen ge-
73 Klein, F.: „Ueber den Zusammenhang der Flächen“. Math. Ann. 9 (1875), 476-482, Zitat,
478; KLEIN 1922 GMA II, 67. – Es sei angemerkt, dass EPPLE 1999, 164-66, in diesem Kon-
text Kleins „Relativierung des Knotenproblems“ als neuen epistemischen Ansatz beurteilte.
Heute unterscheidet man in der Topologie – die sich damals erst als Disziplin herausbildete –
lokale und globale Eigenschaften von Räumen.
74 „Ich bin nun von Hrn. Schläfli brieflich darauf aufmerksam gemacht worden, dass man, unbe-
schadet der Richtigkeit dieser meiner Betrachtungen und Einwände, doch auch bei projectivi-
scher Anschauung für die unbegränzte Ebene den Zusammenhang Null ansetzen kann, wenn
man dieselbe nämlich als Doppelfläche betrachten will, also etwa als Gränze eines zweischa-
ligen Hyperboloid’s.“ In: Klein, F. (1874): „Bemerkungen über den Zusammenhang der Flä-
chen“. Math. Ann. 7 (1874) 550; KLEIN 1922 GMA II, 64.
75 KLEIN 1923 GMA III, 571. – Vgl. auch DOMBROWSKI 1990.
76 Vgl. KLEIN 1922, GMA II, 5.
77 SCHOLZ 1980, 181.
3.1 Forschungstendenzen und Doktorschüler 123
rümpft wurde, die an ihn anknüpften, wie sich aber letztlich Riemanns Konzept
als weitreichender erwies als das von Weierstraß.78 Kleins Vergleich von Rie-
mann und Weierstraß lautete:
Riemann ist der Mann der glänzenden Intuition. Durch seine umfassende Genialität überragt
er alle Zeitgenossen. Wo sein Interesse geweckt ist, beginnt er neu, ohne sich durch Tradition
beirren zu lassen und ohne einen Zwang der Systematik anzuerkennen.
Weierstraß ist in erster Linie Logiker; er geht langsam, systematisch, schrittweise vor. Wo er
arbeitet, erstrebt er die abschließende Form.79
Getreu seinem Motto, alle Ansätze zu prüfen, integrierte Klein, wie schon ange-
deutet, auch funktionentheoretische Ansätze von Weierstraß in sein Methodenar-
senal (vgl. bes. Abschnitt 5.5.2).
Auf das Thema Riemannsche Flächen kam Klein wiederholt mit neuen Ansät-
zen zurück, hielt Vorlesungen darüber, die ausgearbeitet und neu ediert wurden.80
Sie vermitteln ein Bild vom Verschmelzen verschiedener mathematischer Teilge-
biete, heuristischer Ansätze, dem Einbinden jeweils neuer Ergebnisse.
Es sei hier schon erwähnt: Als Hermann Weyl im Wintersemester 1911/12 im
Rahmen einer Vorlesung das Thema bearbeitete, auf Basis neuester Ergebnisse
der Mengentheorie und Topologie, konnte er sich auf die bereitwillige Unterstüt-
zung und Diskussionen mit Felix Klein stützen, dem er die ersten beiden Auflagen
seines Buches Die Idee der Riemannschen Fläche (11913, 21923) „in Dankbarkeit
und Verehrung“ widmete.81
3.1.3.2 Gleichungstheorie
Dabei betrachtete er speziell die Gleichung 12. Grades, „welche durch die Ecken
des regulären Ikosaeder’s vorgestellt wird, leitete ab, dass die Gruppe dieser Glei-
chung, nach Adjunction der Irrationalität 5 , aus 60 Substitutionen besteht, und
dass man die Lösung der Gleichung zurückführen kann auf die einer Gleichung
fünften Grades mit adjungirtem Differenzenproducte.“84
Klein verfasste drei Arbeiten über die Theorie binärer Formen und die Glei-
chung 12. Grades, die er bei den Erlanger Sitzungsberichten einreichte (am 11.5.
1874, 14.12.1874 und 12.7.1875), für die Mathematischen Annalen weiter ausar-
beitete und in seinen Gesammelten Abhandlungen (Bd. 2) kombinierte. Er zeigte
darin vor allem, dass durch die regulären Polyeder (Tetraeder, Würfel, Oktoaeder,
Ikosaeder, Pentagondodekader; später fügte er ein Dieder85 hinzu) endliche Grup-
pen linearer Substitutionen gewonnen werden können. Er erklärte deren Trans-
formationen, d.h. Drehungen, die Dualitätsbeziehungen der Polyeder, und dass die
Drehungen, welche einen regulären Körper mit sich selbst zur Deckung bringen,
eine Gruppe bilden. Mit dem Hilfsmittel (sein Übertragungsprinzip) der Kugel-
oberfläche (Riemannsche Zahlenkugel) – welche die Ecken der Polyeder enthält –
konnte Klein beweisen, dass es keine weiteren endlichen Gruppen linearer Trans-
formationen gibt als die, die er mittels der Polyeder aufgezählt hatte.
In Kooperation mit Paul Gordan setzte Klein die Arbeit an diesem Thema in
München fort und kam auch in späteren Jahren wiederholt darauf zurück.86
Diese geringe Verbreitung mathematischer Kenntnisse ist wohl nur als ein Symptom eines
schlimmeren und tiefer gehenden Misstandes zu betrachten, als ein Symptom der verhaeng-
nisvollen Zweitheilung, die nur zu sehr in unserer Bildung Platz gegriffen hat und von
manchen Seiten sogar principiell gebilligt wird: ich meine die Zweitheilung in humanistische
und naturwissenschaftliche Bildung. Die Mathematik und was mit ihr zusammenhaengt, wird
dabei der naturwissenschaftlichen Partie zugewiesen, wo sie ihrer Unentbehrlichkeit wegen
allerdings ihren Platz findet, obgleich sie ihrem begrifflichen Inhalte nach weder zu der einen
noch zu der anderen Kategorie gehoert.87
Dies legte Klein im November 1872 schriftlich nieder, als er sich auf seine An-
trittsrede vorbereitete. Er hielt diese Rede am 7. Dezember 1872 vor einem weit-
gehend nichtmathematischem Publikum, darunter der Rektor der Universität,
Rechtswissenschaftler August Bechmann. Der 23-jährige Felix Klein besaß ein
dezidiertes Urteil über das Wesen und die Rolle der Mathematik:
Glauben Sie nicht etwa, dass das Wesen der Mathematik in der Formel ruhe; die Formel soll
nur eine exacte Bezeichnung der gedanklichen Verknuepfung sein. […] die Zeiten sind vo-
rueber, in denen die Formel die Alleinherrscherin war oder doch den eigentlichen Gedanken
zu viel zurueckgedraengt hatte, in dem man einen mathematischen Gegenstand als erledigt
ansah, wenn er der Rechnung zugaenglich gemacht war. Das ist heute anders: wir verlangen
ein inneres Verstaendnis des durch die fortschreitende Formelentwicklung bezeichneten Pro-
cesses; wir glauben erst dann mit einem mathematischen Gegenstand fertig zu sein, wenn uns
Anfang und Ende der Betrachtung als selbstverstaendlich durch einander gesetzt erscheinen.88
Klein philosophierte zugleich über den Platz der Mathematik im System der
Wissenschaften und im gesellschaftlichen Raum. Er betonte sowohl den formalen
Bildungswerth der Mathematik als auch deren Anwendungen, wobei er vor allem
„die theoretischen Dienste, welche die Mathematik bei dem Ausbau anderer Wis-
senschaften leistet“ untersstrich. Er wählte seine Beispiele aus der theoretischen
Physik: Theorie des Lichtes, Moleculartheorie, geometrische Optik, Theorie der
Waermeleitung, Theorie des Potentials, Themen, in die er als Göttinger Privatdo-
zent tiefer eingedrungen war. Er war sich damals bewusst, dass der mathemati-
sche Forscher nicht nach den Anwendungen bewertet wurde, die der akademi-
schen Auffassung ferner stehen, wozu er die Vorausberechnungen der Astrono-
men, die Genauigkeit geodätischer Operationen und die Leistungen der Ingenieur-
kunst nannte.89 Diese akademische Auffassung schaute etwas herablassend auf
technische Anwendungen, was Klein später nachdrücklich verändern helfen sollte.
Um das in Schülerkreisen verbreitete Urteil zu überwinden, „dass es auf Ma-
thematik doch nicht ankomme“90, plädierte Klein für eine anschauliche Unter-
richtsmethode und entsprechende „mathematische Bildung der spaeteren Schul-
amts-Candidaten“. In diesem Sinne prägte er die Losung: Schaffen wir bessere
Lehrer, so wird der Unterricht von selbst besser, dann wird die alte ihm zuge-
wiesene Form sich mit neuem, lebenskraeftigen Inhalte fuellen!91
Klein wollte sowohl die logische Exposition, die Kunst des Trennens des We-
sentlichen vom Unwesentlichen als auch geometrisches Zeichnen und Modellie-
ren üben lassen. Er forderte mathematische Uebungen und die Selbstbeschaefti-
gung der Studirenden in Seminaren. Dabei verglich er mathematische Übungen
mit Praktika naturwissenschaftlicher und technischer Fächer. Er empfahl bereits,
dass Studenten ein Semester an einem Polytechnikum verbringen sollten, die er
selbst aus Berlin und Darmstadt kannte.92 26 Jahre später ließ Klein dies in die
preußische Prüfungsordnung für Lehramtskandidaten einfließen (vgl. 8.1.2).
In Erlangen dauerte es zunächst geraume Zeit, bis Klein einen Übungsraum
erhielt. In einem Schrank, der anfangs nur im Auditorium Platz fand, konnte er
Modelle unterbringen. Erst im April 1874 überließ ihm der Mineraloge Friedrich
Pfaff, Bruder des verstorbenen Mathematikers Hans Pfaff, einen Extraraum „für
practisch-mathematische Uebungen im Zeichnen, Modelliren etc.“ Der Raum be-
fand sich innerhalb der mineralogischen Sammlung im Schloss. Klein sah dies als
Lichtblick, wenn es dort auch erhebliche technische Probleme zu überwinden galt,
wie schlechte Dielung, Heizungs- und Reinigungsprobleme.93
Der jährliche Etat des Erlanger Instituts war mit 50 Gulden äußerst gering;
deshalb stellte Klein jeweils spezielle Anträge, so etwa für ein Polarplanimeter
und für eine mechanische Rechenmaschine. Für Letztere, ein Exemplar der Tho-
mas’schen Rechenmaschine, beantragte er am 2. März 1874 einen außerordentli-
chen Zuschuss von 100 Gulden für den Ankauf und erklärte, „dass eine solche
Maschine nicht nur für den Unterricht aeusserst werthvoll wäre, sondern gleich-
zeitig für alle diejenigen Institute der Universität, für welche gelegentlich grössere
numerische Rechnungen anzustellen sind.“ Diese Rechenmaschine demonstrierte
er nicht nur in seinem Seminar, sondern auch in einer Sitzung der Physikalisch-
Medicinischen Societaet. Klein war der Erste in Deutschland, der eine derartige
Rechenmaschine für ein Universitätsinstitut erwarb (Abb. 16).94 Klein nutzte die
Apparate auch später in der Lehre und ließ die internationalen Entwicklungen im
Gebiet der Rechenapparate durch Rudolf Mehmke und Aurel Voß darstellen.95
93 [UA Erlangen] Ph.Th.I. Pos.20 V Nr. 8 (Eingaben Kleins, 19.12.1872; 16.4., 23.7., 9.11.1874.
94 [UA Erlangen] Ph. Th. I. Pos. 20 V, Nr. 8 (Die math. Apparate), Antrag v. 2.3.1874; Vorträge
Kleins (Thomas’sche Rechenmaschine, 22.4.1874; Amlers Planimeter, 26.1.1875) [Proto-
kolle] Bd. 1, 96, 149; [UB Erlangen] Ms 2565 [10] Protokollbuch der Phys.-med. Societaet,
27, Sitzung v. 11.5.1874. – Die Autorin dankt Rita Meyer-Spasche, München, für den Hin-
weis auf das Exemplar der Rechenmaschine, sowie Herrn Udo Andraschke, Zentralkustodie
der Universität Erlangen-Nürnberg, für das Überlassen der Abbildung.
95 In KLEIN 1925, 11-16 ist die Theorie des Amslerschen Polarplanimeters erklärt. Rechenappa-
rate sind behandelt in ENCYKLOPÄDIE Bd. I.2 (Mehmke, Numerisches Rechnen, 938-1079);
Bd. II.1.1 (Voss, Anhang zu Differential- und Integralrechnung, 128-34).
3.3 Erste Reise nach Großbritannien 1873 127
Ich glaube, jetzt erst am Anfange meiner eigentlichen Ausbildung zu stehen. Lass’ mich nach
England, und vielleicht auch noch Italien und die dortigen Mathematiker sehen; dann trete ich
Dir mit etwas originelleren Anschauungen gegenueber und bin dann vollauf bereit, mich in
Deine Denkweise wieder hinein zu arbeiten.97
Dies schrieb Klein am 23. April 1873 an Sophus Lie. Er verschob seine Norwe-
gen-Reise, weil er meinte, nur mit eigenen kreativen Ideen zu Lie – der mit seinen
Theorien schnell voranschritt – kommen zu können. Er wollte ihm auf Augenhöhe
begegnen, wie wir den Briefen wiederholt entnehmen können.
Um sich auf die Reise zur britischen Insel vorzubereiten, nahm Klein gemein-
sam mit seinem Doktoranden Wedekind Englischunterricht: „Ich habe zur Zeit
viermal wöchentlich englische Stunde, lerne aber doch nicht viel, da der häusliche
Fleiss = 0 und meine ganze Disposition für Sprachen gering ist. Indess freue ich
mich auf die Reise.“98 Seine Bemerkung zur sprachlichen Disposition war gewiss
ein understatement, denn Französisch und die alten Sprachen hatte er schon als
16-Jähriger recht erfolgreich beherrscht (vgl. 2.2.1).
Am 8. August 1873 beschrieb Klein seinen Reiseplan:
Also übermorgen geht’s fort. Ich treffe meinen Freund Smith in Leipzig; mit ihm reise ich
dann über Hamburg nach Leith (Edinburgh). In Schottland will ich einige Wochen bleiben,
um Mitte September in Bradford zur British Association zu sein. Cayley, an den ich mich
wandte, hat mir sehr entgegenkommend geschrieben. Ich freue mich ausserordentlich, den
alten Herren zu sehen. Ich bin sehr neugierig, was die wissenschaftliche Ausbeute meiner
Reise sein wird (obgleich es auf die ja nicht allein ankommt), namentlich auch, ob meine
Richtung eine bestimmtere wird, als sie in letzter Zeit war. Mich reizen eigentlich alle ma-
thematischen Gegenstände; die Darstellung, wie ich sie in den Büchern finde, genügt mir
meistens nicht entfernt oder die Dinge scheinen mir auf der anderen Seite zu selbstverständ-
lich, als dass ich Lust zur Production hätte (wozu ich übrigens die letzten Wochen auch keine
Zeit hatte).99
mich später nach England eingeladen und mir die Verbindung mit den dortigen
gelehrten Kreisen wesentlich erleichtert.“100 W. R. Smith hatte seit 1868 in Bonn,
ab 1869 in Göttingen studiert, wo ihn der Theologe und Orientalist Julius Well-
hausen prägte. Smith hatte durch Verweise auf die Arbeiten schottischer Physiker
Kleins Göttinger Vorlesungen zur theoretischen Physik unterstützt. Sie hatten im
August 1872 die erwähnte Bergtour unternommen. Nun starteten sie am 10. Au-
gust 1873. Klein war erst am 16. Oktober zurück bei den Eltern in Düsseldorf.
Nach fünf Wochen Insel-Aufenthalt berichtete Klein an Sophus Lie aus Kirk-
caldy, einer schottischen Hafenstadt, über die Haltung britischer Wissenschaftler
zu geometrischen Arbeiten. Sein Bericht bestand in der Quintessenz, dass er sich
mit seinen geometrischen Forschungen zwischen allen Stühlen fühlte. D.h., Klein
sah in Großbritannien eine andere übermächtige Richtung, „die mathematische
Forschung nur in dem Masse treibt und hochschätzt als sie unmittelbare Anwen-
dung gestattet“, vertreten durch Peter Gutrie Tait, wobei insbesondere physikali-
sche Anwendung gemeint war. Von den Vertretern dieser Richtung würde Cayley,
den Klein von Deutschland aus als helles Licht gesehen hatte, wenig geachtet. 101
Clebsch und seine Schüler hatten an Cayley angeknüpft.102 Bis zu Kleins Reise
erschienen sieben Beiträge Cayleys in den Mathematischen Annalen; auch danach
folgten weitere. Erstaunt über diesen Gegensatz in Großbritannien verglich Klein
in seinem Brief an Lie mit dem vertrauten Gegensatz in Deutschland (Geometrie –
Funktionentheorie) und schlussfolgerte für sich: zu verbinden. D.h., künftig so-
wohl Anwendungen geometrischer Forschungen in den Blick zu nehmen als sich
auch stärker Funktionentheorie anzueignen.
Als Klein an der 43. Jahresversammlung der British Association for the Ad-
vancement of Science teilnahm, die vom 17. bis 24. September 1873 in Bradford
stattfand, traf er Arthur Cayley in einer durchaus respektablen Position. Cayley
war einer der Vice-Presidents der Section A Mathematics and Physics und erhielt
finanzielle Zuwendungen der Gesellschaft für die Publikation von Mathematical
Tables, die z.B. viermal höher waren als diejenigen für Tait’s (renewed) Thermo-
Electricity.103 Es ist denkbar, dass Kleins durch Tait in Edinburgh gewonnenes
erstes Urteil doch nicht repräsentativ gewesen ist. Nachdem Klein in Bradford
zahlreichen Mathematikern begegnet war, darunter Cayley, James Joseph Sylves-
ter104, Henry John Stephen Smith und William Kingdon Clifford, äußerte er:
Von England soll ich Dir erzählen! Ja, das ist furchtbar schwer. Cayley ist ein ausserordent-
lich liebenswürdiger Mann, der dazu auf Alles eingeht, was man ihm vorträgt. Sylvester ist
ganz anders, wenn ihn einmal etwas beschäftigt, redet er allen Leuten davon und ist ganz da-
von eingenommen. Ich wollte, er arbeitete stetiger; es ist wohl kein Zweifel, dass er genialer
als Cayley ist; man ist allgemein in London derselben Meinung. Einer der feinsten ist übri-
gens Stephen Smith, der Dich ja in Christiania besucht hat; ich wollte, ich hätte mit ihm aus-
führlicher conferiren können. (Nach Oxford bin ich nicht gekommen). Dann endlich ist Clif-
ford da, der ‚göttliche’, wie sie ihn nennen, unter den Jüngeren entschieden der Beste, ein für
mich in höchstem Maasse interessanter Mann, insofern sein Interesse nicht nur fast alle
Zweige der Mathematik, sondern gleichmässig Naturwissenschaft und Philosophie vom ma-
thematischen Standpuncte aus umfasst.105
Im selben Brief empfahl Klein, dass Sophus Lie doch immer seine Resultate auch
an die London Mathematical Society und speziell an William Kingdon Clifford
senden möge (legte die Adressen im Brief bei). Clifford war seit 1871 Professor
am University College London. Er starb bereits 1879 im Alter von 33. Dennoch
hinterließ er ein beeindruckendes mathematisches Werk, wovon hier nur erwähnt
werden soll, dass er durch Riemanns differentialgeometrische Arbeiten beeinflusst
worden war und sich enge Bezüge zu Kleins Arbeiten ergeben sollten.
Cliffords Vortrag in Bradford „On a surface of zero curvature and finite ex-
tent“ regte Klein an, seinen Mannigfaltigkeitsbegriff und seine Auffassung von
Analysis Situs (Topologie) zu erweitern.106 Klein strebte nach Verallgemeinerung.
Nachdem Clifford im elliptischen Raum eine geschlossene zweidimensionale
Mannigfaltigkeit entdeckt hatte, die im Kleinen zur euklidischen Ebene isome-
trisch ist, stellte Klein die Aufgabe (in seinen späteren Vorlesungen zur Theorie
der automorphen Funktionen), alle Mannigfaltigkeiten konstanter Riemannscher
Krümmung zu bestimmen. Wilhelm Killing nannte dies Clifford-Kleinsches
Raumformenproblem. Obgleich Klein „Raumform mit mehrfachem Zusammen-
hang“ vorgeschlagen hatte, bestand Killing darauf: „Das Wesen der neuen Raum-
formen liegt in einem Gedanken, den Sie zuerst vollständig angesprochen haben.“
Und er schlussfolgerte: „Sie sehen, dass ich nur durch wichtige Gründe veranlasst,
den Namen 'Clifford – Kleinsche' eingeführt habe; und ich hoffe, dass derselbe
sich einbürgern wird.“107 Der Name bürgerte sich ein.108
Henry John Stephen Smith, Professor an der University of Oxford, fungierte
bei der Tagung in Bradford als President der Section A Mathematics and Physics.
Klein hatte schon 1871 dessen Report on the Theory of Numbers zu studieren be-
gonnen, der ihm bei seinen späteren zahlentheoretischen Arbeiten eine wichtige
Grundlage bilden sollte (vgl. Abschnitt 4.2.2). In Bradford hielt Smith einen Vor-
trag On Modular equations, ein Gegenstand, der für Felix Klein ein zentrales
Thema werden sollte. In seiner Adresse als President beim Meeting in Bradford
führte Smith nicht nur aus, dass diese Section bereits einige Jahre zuvor ein com-
mittee gebildet hatte to aid the improvement of geometrical teaching in this
country. Euklidische Geometrie, die wie in Deutschland noch immer den Schul-
unterricht dominierte, sollte durch neue geometrische Methoden ergänzt/abgelöst
werden. Smith hob Arthur Cayley und Felix Klein namentlich hervor, hinsichtlich
the triumphs of modern geometry im Vergleich mit euklidischer Geometrie und
erwähnte das „Parallelenpostulat“ (hier ebenfalls als Axiom 11 bezeichnet):
Two of those whose labours have thrown much light on this difficult theory are at present at
this Meeting – Prof. Cayley, and a distinguished German mathematician, Dr. Felix Klein; and
I am sure of their adherence when I say that the sagacity and insight of the old geometer are
only put in a clearer light by the success which has attended the attempt to construct a system
of geometry, consistent with itself, and not contradicted by experience, upon the assumption
of the falsehood of Euclid’s eleventh axiom.109
Smith erwähnte in seiner Adresse auch James Clerk Maxwells gerade herausge-
kommenes Werk Treatise on Electricity und die zugrunde liegende mathemati-
sche Theorie. Dies entging Kleins wachem Auge nicht. Er studierte die Theorie
und gewann später H. A. Lorentz für den einschlägigen ENCYKLOPÄDIE-Beitrag
(vgl. 7.4). Stephen Smith verstarb bereits 1883, sandte aber zuvor noch seinen
Schüler Arthur Buchheim zum Studium zu Klein (vgl. 5.4.2.1).
Auf der Jahresbersammlung 1873 in Bradford bezog sich auch der Ire Robert
Stawell Ball in seinem Vortrag auf Klein. Er sprach in der Section Mechanics and
Physics über Schraubentheorie: „Contributions to the Theory of Screws“. Dabei
nutzte Ball Kleins Theorie der Liniencomplexe des ersten und zweiten Grades mit
einem System von sechs Fundamentalkomplexen.110 Die Schraubentheorie dient
in der Mechanik der starren Körper dazu, um statische und kinematische Systeme
zu beschreiben. Klein brachte Balls Ansatz mit nach Erlangen und veranlasste
Lindemanns zu einem Nachsatz in seiner Dissertation „Ueber unendlich kleine
Bewegungen und ueber Kraftsysteme bei allgemeiner projectivischer Massbe-
stimmung“111. Später griff Klein das Thema noch einmal selbst auf, um das Ge-
biet mittels invariantentheoretischer bzw. gruppentheoretischer Methoden zu sys-
tematisieren, an sein Erlanger Programm anknüpfend.112
Zurückgekehrt aus Großbritannien, stürzte sich Klein in „Untersuchungen
über Functionen“. Er drang ab Dezember 1873 tiefer in hyperelliptische Functio-
nen ein und plante, im Sommer 1874 über Abelsche Functionen zu lesen. Klein
versuchte, geometrische Themen, so „Kummersche Fläche und eingeschriebene
∞ 5 Tetraeder mit hyperelliptischen Functionen“ zu meistern. Mit Blick auf die er-
wünschte Kooperation mit Lie schrieb er: „Wenn ich dann im Herbste zu Dir
komme, kenne ich einige Gebiete mehr als früher und kann dadurch vielleicht
nützlich sein.“113
Beim Meeting in Bradford waren, wie erwähnt, neue mathematische Modelle
und Instrumente präsentiert worden, die Klein unmittelbar in seine Lehre einflie-
ßen ließ (vgl. 3.2). So wie er derartige Instrumente für Universitätsinteressen ins-
gesamt für nützlich hielt, blickte er auch auf den Austausch von Zeitschriften, den
er erstmals mit britischen Organen anbahnte. Der Zoologe Ernst Ehlers infor-
109 Mathematics and Physics. Address by Prof. H.J.S. Smith, in REPORT 1874, 5.
110 REPORT 1874, 27. Ball schrieb: “A group of six coreciprocals is intimately connected with the
group of six fundamental complexes already introduced into geometry by Dr. Felix Klein (see
‘Math. Ann.’ Band ii, 203).”
111 Math. Ann. 7 (1874) 144.
112 Klein, F. (1902): „Zur Schraubentheorie von Sir Robert Ball“. Zeitschr. f. Math. u. Physik 47;
Math. Ann. 62 (1906) 419-48; KLEIN GMA I 1921, 503-32; vgl. auch KLEIN 1991.
113 [Oslo] Brief v. 12.12.1873, Klein an Lie.
3.3 Erste Reise nach Großbritannien 1873 131
3.4 ITALIENREISEN
Inzwischen bereite ich mich jetzt wieder zu einer grösseren Reise vor: jetzt, wo Du Hochzeit
machst und ich also nicht nach Norwegen kann, will ich nach Italien und dort wahrscheinlich
den ganzen Herbst zubringen.120
Obgleich die Reise nach Italien schon länger auf Kleins Agenda stand, war sie im
Sommer 1874 ein Ausweg. Klein wollte mit Sophus Lie arbeiten, endlich die
mehrfach verschobene Norwegen-Reise starten: „[…] dass ich im Herbste nach
Norwegen komme, betrachte ich als vollständig sicher“, schrieb er am 10. Februar
1874 an Lie.121 Klein hatte sich mit der ganzen Lebhaftigkeit, deren ich fähig bin,
auf den norwegischen Reiseplan gefreut. Lies Angebot, ihn doch in Paris während
der Hochzeitsreise zu besuchen, war für Klein keine Option. Klein hatte seine
jüngeren Arbeiten so ausgerichtet, dass er sie in der Zusammenarbeit mit Lie
culminiren lassen wollte. Das scheiterte, und Klein zog unmittelbar den Schluss:
Ich werde nun zunächst selbständiger meinen Weg suchen müssen. Der ist mir durch die nun
begonnene Vorlesung über Abel’sche Functionen zunächst vorgezeichnet. Ich werde suchen –
und meine Mittheilung über Riemann’sche Flächen ist ein erster Schritt dazu – mir von
diesem ganzen Gebiete geometrisch anschaulich Rechenschaft zu geben.122
Klein wollte italienische Mathematiker aufsuchen, sein Wissen erweitern und traf
auf offene Arme. Die politische Einigung des Landes um 1861 hatte auch Mathe-
matiker beflügelt, die z.T. an patriotischen Kämpfen beteiligt waren, im Zuge der
Unabhängigkeit politische Ämter bekleideten und den Kontakt mit ausländischen
Mathematikern förderten.123 Schon Alfred Clebsch gehörte den Akademien von
Mailand und Bologna an. Felix Klein war früh in das Netzwerk eingebunden.
Klein hatte in seiner Dissertation (Abschnitt 2.3.4) ein Ergebnis von Guiseppe
Battaglini verallgemeinert, der Professuren in Neapel (1860) und Rom (1874)
bekleidete und 1863 die Zeitschrift Giornale di matematiche mitbegründet hatte.
Darin waren seit 1867 Battaglinis Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie, aber
auch Jordans Arbeiten zur Gruppentheorie erschienen. Battaglini leitete die Zeit-
schrift bis zu seinem Tode 1894 und publizierte noch 1893 eine von Klein in Chi-
cago gehaltene Rede. Klein organisierte den Zeitschriftenaustausch und stand
auch mit Schülern von Battaglini in gutem Kontakt.
Enrico D’Ovidio, der von Battaglini noch in Neapel zu Forschungen angeregt
worden war, publizierte auch in den Mathematischen Annalen. Er besaß seit 1872
den Lehrstuhl für Algebra und Analytische Geometrie an der Universität Turin,
lehrte dort anknüpfend an Plücker und Klein Liniengeometrie und begründete eine
in Räumen von beliebiger Dimension gültige Metrik. Aus der Schule von
D’Ovidio gingen u.a. Guiseppe Veronese, der 1880-81 bei Klein in Leipzig stu-
dieren sollte, und Corrado Segre hervor. Sie bauten das Thema der Hypergeome-
trie weiter aus.124 Francesco Gerbaldi, zu Beginn der 1880er Jahre Assistent von
D’Ovidio in Turin, studierte zwei Jahre (1882-83) bei Klein in Leipzig. Sein spä-
teres Resultat zu Symmetriegruppen, bezogen auf Klein, Wiman und Valentiner,
wurde auch in den Mathematischen Annalen bekanntgegeben.125
Als Segre 1883 promovierte, sollten sich fruchtbare wechselseitige Anregun-
gen mit Klein und dessen Schülern (Rohn, Hurwitz, G. Ch. Young, u.a.) erge-
ben.126 Segre erhielt bereits 1888 einen neben D’Ovidio frei gewordenen Lehr-
stuhl in Turin. Wir können es als Ausdruck eines besonders engen Verhältnisses
zu den Mathematikern in Turin interpretieren, dass Klein seinen 50. Geburtstag
dort feierte und dafür einen Vortrag „Mathematik in Italien“ vorbereitete.127 Klein
wollte gar 1899 Segres Schüler Gino Fano, der das Erlanger Programm übersetzt
hatte (vgl. 3.1.1), der 1893-94 bei ihm studierte und für die ENCYKLOPÄDIE arbei-
tete, für eine Professur in Göttingen gewinnen.128
Die erwähnte Übersetzung des Erlanger Programms war 1890 in den Annali
di Matematica Pura ed Applicata erschienen, eine Zeitschrift, die durch weitere
bedeutende italienische Mathematiker der älteren Generation geprägt wurde, zu
denen Klein gute Kontakte fand. Als Herausgeber fungierte damals Francesco
Brioschi (Milano); im Board wirkten Luigi Cremona (Roma), Enrico Betti (Pisa),
Eugenio Beltrami (Pavia) und Felice Casorati (Pavia) mit.
Mit Brioschi und Betti wird der Beginn der italienischen algebraischen Geo-
metrie assoziiert. Beide hatten im Jahre 1858 gemeinsam mit Casorati eine Stu-
dienreise nach Frankreich und Deutschland unternommen, u.a. Riemann in Göt-
tingen getroffen und ihn später nach Italien eingeladen. Sie übersetzten dessen
Arbeiten und trugen in Vorlesungen darüber vor. Casoratis Buch zur Theorie
komplexwertiger Funktionen, Teoria delle funzioni di variabili complesse (1868),
Riemanns Funktionentheorie darstellend, hatte Felix Klein bereits im November
1872 für die Erlanger Universitätsbibliothek bestellt (vgl. Anhang Nr. 2).
Als Generalsekretär des Unterrichtsministeriums schuf Brioschi das Po-
lytechnikum in Mailand (1862) und eine damit verbundene Akademie. Er gehörte
der Göttinger „Akademie“ seit 1869 als Korrespondent und seit 1870 als auswär-
tiges Mitglied an. Seine Ergebnisse zur Gleichungstheorie (Göttinger Nachrichten
1869; Math. Ann. 2 (1870), 467-70) sollten Klein auf dem Wege zur Ikosaeder-
theorie beeinflussen (vgl. 4.2.1). Mit Brioschis Doktorschülern Luigi Cremona
und Eugenio Beltrami pflegte Klein gute Kontakte. An Cremona hatte er bereits
am 30. Dezember 1868 ein Exemplar seiner Dissertation gesandt,
124 Zum Anknüpfen D’Ovidios an Kleins Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie vgl. auch
SCHOENFLIES 1919, 294; zu Segre vgl. den Nachruf von TERRACINI 1926, wofür Klein noch
dessen Briefe zur Verfügung gestellt hatte. – Vgl. auch Abschnitt 2.3.4.
125 Gerbaldi: “Sul gruppo semplice di 360 collineazioni piane”. Math. Ann. 50 (1898) 473-76.
126 Vgl. auch Abschnitt 2.3.4 und CASNATI et al. 2016.
127 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22, 10 Blatt Vortragsdisposition. Die Korrespondenz zwischen
Segre und Klein reichte von 1883 bis 1923 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 952-998B.
128 Brief v. 5.2.1899, Klein an Gino Fano, abgedruckt in TERRACINI 1952, 486. – Fano dankte
Klein, meinte, es sei „bloße Phantasie“ und er würde einen Lehrstuhl in Italien bevorzugen
(1899 Messina; 1901 Turin). [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 4A, Brief v. 10.2.1899.
134 3 Professur an der Universität Erlangen
[…] die einen Theil der Theorie der Complexe zweiten Grades zum Gegenstand hat. Mehr als
einmal hat sich der verewigte Pluecker seit seiner Reise nach Oberitalien im vorigen Herbste
dahin ausgesprochen, daß Sie der Einzige seien, welcher ihn ganz verstünde. Es liegt darin für
mich die erhöhte Aufforderung, Ihrem geschätzten Urtheil meine Erstlingsarbeit zu unterwer-
fen, um so mehr, als ich zu einem Resultate gelangte, welches von demjenigen, das Battaglini
seiner Arbeit über Complexe des zweiten Grades zu Grunde legt, abweicht.129
Cremona gehörte seit 1869 der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen
als Correspondent an (1880 auswärtiges Mitglied)130 und publizierte seit 1871/72
in den Mathematischen Annalen. Er förderte vor allem die Theorie der Raumkur-
ven 3. Ordnung, darstellende Geometrie und graphische Statik (vgl. auch 8.2.4).
Klein informierte Cremona über seine Edition von Plückers Liniengeometrie und
erbat dessen Urteil über Clebsch, dem Cremona selbst einen Nachruf widmete.131
Max Noether charakterisierte Clebsch und Cremona mit einem gemeinsamen
Grundzug „[…] ganz entfernt von der Richtung auf Lösung bestimmter Einzelfra-
gen oder auf abstrakte Prinzipienfragen, sondern vielmehr schöpferisch in der
Methodik ihrer Wissenschaft“.132 Wir finden Ähnliches bei Klein.
Als Klein seine erste Italienreise für August/September 1874 vorbereitete,
hatte er am 23. Juli 1874 an Cremona geschrieben, dass er via Schweiz mit einem
jüngeren Freunde – der wohl besser Italienisch beherrschte – nach Rom kommen
will. Klein betonte, dass er besonders gern Cremona, Beltrami und Battaglini per-
sönlich kennenlernen wolle133, und schrieb noch genauer über den Reiseplan:
Genua, 25. August 1874
Hochgeehrter College und Freund!
Wie Sie aus der Ueberschrift sehen, bin ich inzwischen in der That wenn auch nur erst in die
nördlichen Partieen des schönen Italien eingedrungen und ich erlaube mir nun, in Beantwor-
tung Ihres liebenswürdigen Briefes vom 4. August, Ihnen Näheres über meinen Reiseplan
mitzuteilen. Ich werde am Donnerstage dem 27. August von hier aus per Dampfer in Neapel
eintreffen und denke dann 10 – 12 Tage dort und in der Umgebung zu bleiben. Dann gehe ich
zurück nach Rom, für welches ich etwa 3 Wochen angesetzt habe. Wenn Sie also, wie ich
nach Ihrem Briefe glaube, bis Ende August noch in Sorrent sind (wovon ich Sie bitten möchte
mich poste Rastante Neapel kurz benachrichtigen zu wollen), so komme ich mit meinem Rei-
sebegleiter zusammen (Dr. C. Schmidt, einem Privatdocenten an der Universität Erlangen)
Sie dort an einem Tage besuchen, was von Neapel aus ja ein Leichtes sein muß, und bespre-
che mit Ihnen, wo und wie ich Sie in Rom noch wiederholt sprechen darf. Ich mache mir
freilich viele Vorwürfe, daß ich von der italienischen Sprache so fast gar Nichts weiß und daß
ich fürchten muß, Ihnen in der Conversation, die am leichtesten wohl noch in Französisch
gelingt, viele Mühe zu machen. Zum Glück ist es ziemlich leicht, sich über Mathematik zu
verständigen – worin aber auch wohl der Grund liegt, dass ich so wenig Italienisch verstehe,
da ich zufrieden war, wenn ich die mathematischen Arbeiten verstehen konnte. – Ich habe Ih-
nen noch Dank zu sagen für die Auskunft betr. Prof. Battaglini und Beltrami. Einen Brief von
129 [Roma] Klein an Cremona, Brief 2589 v. 30.12.1868; vgl. auch MENGHINI 1992-96; 1993.
130 Göttingen Nachrichten, Geschäftliche Mitteilungen, 1895.
131 [Roma] Briefe Kleins an Cremona, 2590-2593.
132 Noether, Max: “Luigi Cremona”. Math. Ann. 59 (1904) 1-19, Zitat, 19.
133 [Roma] Klein an Cremona, 2596, Brief v. 23.7.1874.
3.4 Italienreisen 135
Letzterem erhielt ich noch nicht, da ich schon ziemlich lange von Erlangen fort bin; es wird
sich ja aber wohl noch arrangiren.
In der Hoffnung also, Sie demnächst persönlich kennen lernen und von Ihnen hören und ler-
nen zu können
Ihr ergebenster
Felix Klein134
Mit Eugenio Beltrami traf Klein in Venedig zusammen.135 Ihre Arbeiten über
nichteuklidische Geometrie boten inhaltliche Bezugspunkte.136 Beltramis Arbeit
„Zur Theorie des Krümmungsmaasses“ war in Band 1 der Mathematischen An-
nalen erschienen, und Klein hatte seit Januar 1873 „Beltrami’s Abhandlung ueber
Differentialparameter studirt“ und in seiner Vorlesung benutzt, wie er an Lie be-
richtete: „Die Sache ist sehr schoen, aber bei unseren durch Clebsch begruendeten
Invarianten resp. Connexbegriffen einer wesentlichen Ausdehnung, deren
Begraenzung dann gerechtfertigt ist, faehig.“137 Klein suchte ein allgemeineres
Verfahren und wollte das Thema mit Beltrami diskutieren. Ernesto Pascal, der
1888-89 bei Klein studierte, schrieb in einem Nachruf auf Beltrami, dass er durch
Gauß’ Arbeiten geprägt worden sei, Riemann in Pisa getroffen und guten Kontakt
zu Clebsch besessen habe. Beltrami erzielte herausragende Ergebnisse im Gebiet
der Differentialgeometrie und empfahl eigene Schüler zum Studium bei Klein.138
Ein Treffen mit Enrico Betti scheiterte 1874. Betti hatte Riemann in Pisa ge-
fördert, bekleidete dort Professuren für höhere Geometrie und Analysis (1859),
theoretische Physik (1864) und Himmelsmechanik (1870). Klein schrieb am 8.
September 1874 von seiner Unterkunft in Neapel, Hôtel Minerva, an Betti:
„Durch Prof. Cremona hörte ich gestern, dass Sie wieder in Pisa eingetroffen sind,
wo ich Sie neulich, als ich, auf der Dampfschifftour von Genua nach Neapel be-
griffen, einen Tag in Livorno Aufenthalt hatte, leider vergebens aufsuchte.“ Er
informierte, dass er vom 24. bis 28. September in Florenz wohnen wolle (Hôtel et
Pension Suisse) und: „An jedem der zwischenliegenden drei Tage bin ich gern
bereit, nach Pisa zu kommen, wenn es mir auch angenehmer sein würde, mit Ih-
nen in Florenz zusammenzutreffen, da ich doch auch wesentlich die Stadt Florenz
kennen lernen möchte […].“ Klein wünschte, mit Betti „über die Fragen betr. den
Zusammenhang höherer Räume zu sprechen, über die ich von Ihnen Viel zu ler-
nen hoffe.“139 Betti hatte sein Kommen nach Florenz für Samstag angekündigt,
aber kurzerhand auf Sonntag verlegt. Klein verbrachte den Samstag im Hotel ver-
geblich wartend und nutzte schließlich den Sonntag für Besichtigungen.140
134 Ebd., 2597; Karl (Carl) Schmidt, Privatdozent der Theologie, vgl. UEBERSICHT 1874, 5.
135 JACOBS 1977, Vorläufiges aus Erlangen, Bl. 2; [Roma] Klein an Cremona, 21.11.1874.
136 Klein benannte später noch einen Fehler Beltramis in dessen erster Arbeit von 1868, vgl.
KLEIN 1926, T. I, 154; zur Einordnung vgl. SCHOENFLIES 1919, 295; vgl. auch Nicola
Arcozzi: „Beltrami’s Models of Non-Euclidean Geometry“, in COEN 2012, 1-30.
137 [Oslo] Brief v. 22.1.1873, Klein an Lie.
138 Pascal, E.: “Eugenio Beltrami”. Math. Ann. 57 (1903) 65-107; vgl. Abschnitt 5.3.2.
139 [Pisa] Brief v. 8.9.1874, Klein aus Neapel an Betti, lettr. 826.
140 [Pisa] Brief v. 2.10.1874, Klein aus München an Betti, lettr. 828.
136 3 Professur an der Universität Erlangen
G.[ordan] und ich, wir ergänzen uns in so guter Weise, das sich dann unsere Erlanger Mathe-
matik neben jeder anderen Universität sehen lassen darf.149
Klein, der besonders kreativ war, wenn er mit anderen Mathematikern koope-
rierte, sah die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Lie dem Ende entgegen gehen
und orientierte sich neu. Er hatte nicht nur den Kontakt zu britischen und italieni-
schen Mathematikern verstärkt, sondern konnte ein Extraordinariat für Mathema-
tik neben sich etablieren. Dies mag erstaunen, denn noch im Sommersemester
1874 gab es in Erlangen nur elf Studenten, die sich für Mathematik und Physik
eingeschrieben hatten, bei einer Gesamtzahl von 442 Studenten an der Universität,
wobei die meisten (166) Theologie studierten.150
Noch vor seiner Italienreise informierte Klein Sophus Lie, dass er „die grösste
Hoffnung“ hege, Paul Gordan für Erlangen zu gewinnen.151 Klein arbeitete mit
Gordan in der Redaktion der Mathematischen Annalen und wollte mit ihm die
Zusammenarbeit von „Geometrie und Algebra in aller fortgeschrittenen Weise“
vertiefen.152 Der von Klein formulierte Antrag betreffend die Besetzung der neu-
gegründeten außerordentlichen Professur der Mathematik, den die philosophische
Fakultät am 20. Juli 1874 an den akademischen Senat gesandt hatte, enthielt die
Namen von drei Clebsch-Schülern: 1) Paul Gordan, 2) Max Noether, 3) Aurel
Voß.153 Der Text unterstrich Gordans bahnbrechende Leistungen, insbesondere
sein erstmals 1868 bewiesenes sog. Endlichkeitstheorem, dass jede binäre Form
ein „endliches Formensystem“ besitzt, d.h., dass jede Kovariante und Invariante
einer gegebenen binären Form eine ganze rationale Funktion einer endlichen An-
zahl solcher Kovarianten und Invarianten ist.154 Zugleich wurde betont, dass Gor-
Die frühe ordentliche Professur erlaubte es Felix Klein, nahezu zeitgleich mit sei-
nen älteren Freunden eine Lebenspartnerin zu wählen. Am 2. Dezember 1874
schrieb er an Sophus Lie, dass er nicht nur von „Gordan absobirt werde“, sondern
ebenso „von Tanz- und Gesellschaftsgeschichten“165
Im Sommer 1872 hatte der sieben Jahre ältere Gaston Darboux die Anzeige seiner
Vermählung an Klein geschickt. Felix Klein gratulierte und schrieb:
Als ich in Paris war, haben wir von wenig mehr als von Wissenschaft gesprochen; es ent-
sprach das unserer urspruenglichen Beziehung, dann aber namentlich auch der Entwicklungs-
periode, in der Lie und ich sich damals befanden. Seitdem habe ich mich in hoeherem Grade
wieder den allgemeinen menschlichen Interessen zugewandt; ich bin, zunaechst auf Kosten
meiner wissenschaftlichen Thaetigkeit, Gesellschafts-Mensch geworden. Ein so freudiges Er-
eignis, wie Sie mir mittheilen, kann ich nicht melden; ich hoffe aber ueber Jahr und Tag in ei-
ner aehnlichen Lage zu sein.166
163 Diese Angaben verdankt die Autorin der gründlichen Recherche von Cordula Tollmien, die
sie für ihre Emmy-Noether-Biographie unternahm; Mitteilung am 5.4.2016: Gordans
Taufdatum 21.7.1855 St. Nikolai, Berlin, nach: Ancestry.com. Deutschland, Geburten und
Taufen 1558-1898 [Datenbank online]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc.,
2014; FHL-Filmnummer 70021, 70022, 70023, 70024.
164 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 429, 430, Gordan an Klein, Briefe v. 18.10.1882, 23.10.1882. –
Z. B. informierte Lindemann Klein am 14.5.1883: „Ihre Bemerkungen über Noether und
Voss habe ich dem betr. Tübinger vorgelesen. Noether soll ausgeschlossen sein, da in Tübin-
gen grundsätzlich kein Jude berufen werde. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 813.
165 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 2.12.1874.
166 [Paris] Klein an Darboux, Brief v. 28.8.1872, Bl. 62.
140 3 Professur an der Universität Erlangen
Sophus Lie verlobte sich, und Klein antwortete darauf am 1. Februar 1873:
Das hatte ich mir wirklich nicht gedacht, dass Du mir darin zuvorkommen wuerdest. Erin-
nerst Du Dich unseres Gespraeches, als wir von Nuernberg nach Fuerth gingen, und beide so
ganz darin einverstanden waren, dass es eine gute Sache sei, in den Hafen einer soliden
Haeuslichkeit eingelaufen zu sein? Dass Du nun den Anfang machst, amuesirt mich um so
mehr, als ich immer frueher, wenn mir einmal ein aehnlicher Gedanke durch die Seele
schwirrte, mir sagte: Nein, dann kannst Du nicht arbeiten und Lie wuerde das nimmer mehr
zugeben.167
Dass Sophus Lie und seine Frau auf ihrer Hochzeitsreise im Oktober 1874 über
Köln reisten, wo sie nicht nur den Dom besichtigten, sondern auch Felix Klein
und Adolph Mayer trafen, gemeinsam in Kleins Heimatort Düsseldorf reisten, wo
Klein Lies erste gruppentheoretische Arbeit „Ueber Gruppen von Transformatio-
nen“ redigierte, deutet auf ihr ungebrochen gutes Verhältnis.168 Kleins An-
teilnahme an den privaten Wegen weiterer Freunde verweist auf enge Bindungen.
„Daß sich Riecke verlobt hat, wird Sie wie mich interessirt haben“, berichtete
Felix Klein am 4. Mai 1874 an Otto Stolz.169 Ludwig Kiepert und Alexander Brill
waren ebenfalls auf Freiersfüßen, wie Klein dem noch unbeweibten Stolz schrieb,
als er ihm für Glückwünsche zur eigenen Verlobung dankte.170
Felix Klein und Anna Hegel (geb. am 24. Mai 1851), älteste Tochter von Karl
Hegel, Professur für Geschichte an der Universität Erlangen, verlobten sich am
Samstag, den 9. Januar 1875 (vgl. Abb. 17). Die Hochzeit folgte am 17. August
1875 in München171, nachdem Klein dorthin als Professor gewechselt und die
„nachgesuchte dienstliche Bewilligung der Verehelichung mit Anna Hegel“ am 2.
Juni 1875 erteilt worden war.172 Wie Felix Klein seiner künftigen Frau in Erlan-
gen begegnet war, überlieferte Ferdinand Lindemann:
Kleins ausbedungene Aufsicht über meine Bearbeitung von Clebsch’s Vorlesungen vollzog
sich in der Weise, dass ich mit meinem Manuskript zu ihm ging und er dasselbe dann mit mir
durchging. Nach einiger Zeit machte er aber den Vorschlag, es wäre doch einfacher, wenn er
zu mir käme, da wir meist nach dem Spaziergange an meiner Wohnung vorbeikämen. Da be-
stellte ich bei Frau Brater173 einen Kaffee, den uns die Tochter Agnes174 mit ihrer Freundin
Fräulein Hegel aufs Zimmer brachte, wodurch eine angenehme Unterbrechung und Ab-
wechslung in die trockene Arbeit hineinkam. Erst später, als sich Klein mit Fräulein Hegel
verlobt hatte, wurde mir klar, weshalb Klein die Durchsicht meines Manuskriptes lieber in
meiner Wohnung vornehmen wollte.175
Lindemann berichtete auch, dass sich Klein seit Herbst 1874 plötzlich mehr dem
Vergnügen gewidmet habe, einen Kostümball arrangiert und dort das Theater-
stück Die Jobsiade (1784) hatte aufführen lassen.176 Dieses satirische Stück des
Bergarztes Carl Arnold Kortum war 1872 gerade durch eine Bildgeschichte Wil-
helm Buschs in das Blickfeld gerückt worden.177 An der Aufführung beteiligten
sich Kollegen und Doktorschüler. Erlanger Professoren traten mit langen Perü-
cken auf; sie hatten den verbummelten Theologie-Studenten Hieronymus Jobs zu
examinieren. Kleins Doktorschüler Axel Harnack verkörperte diese Hauptrolle.178
Mit dem Schritt in eine Ehe verband Klein auch ein besser Weiter-Arbeiten-
Können: „Inzwischen hoffe ich zuversichtlich, dass meine Verlobung und Verhei-
rathung mir zur Arbeit nur förderlich sein sollen. Du glaubst nicht, wie viel mehr
ich in den vergangenen Jahren fertig gebracht haben würde, wenn ich die Ruhe
und Gleichmässigkeit gehabt hätte, die ich vom eigenen Hausstande erwarte.“179
Dass Klein ein Ballkleid seiner Braut mit mathematischen Ornamenten versehen
ließ, können wir als symbolisches Verweben von Ehestand und Mathematik deu-
ten. Aurel Voß überlieferte: „Die zierlichen Arabesken, welche diese Kurven in-
nerhalb der Systeme der parabolischen Kurven der Fläche bilden, wurden von ihm
später als Ornament für ein Ballkleid seiner Braut Anna Hegel […] verwandt.“180
Auf Felix Kleins Silberhochzeitsfoto vom August 1900 ist der Schwiegervater
Karl Hegel im Alter von 86 zu sehen (Abb. 18). Er hatte kurz zuvor, im Zeitraum
von November 1899 bis Juli 1900, seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben,
die mit Blick auf Felix Klein beleuchtet werden sollen.
Karl Hegel beschrieb, wie er mit „Willensdrang und Arbeit immer nur vorwärts
gestrebt“ sei.181 Das ist vergleichbar mit dem Arbeitsethos seines Schwiegersoh-
nes Felix Klein. Als Ältester von zwei Söhnen des großen Philosophen Georg
Wilhelm Friedrich Hegel (vgl. Abschnitt 8.3.2) und seiner 21 Jahre jüngeren Ehe-
frau Marie von Tucher in Nürnberg geboren, hatte Karl Hegel die Orte mit den
Positionen des Vaters gewechselt. Am Collège française in Berlin ausgebildet,
war er primus omnium, Bester des Abiturjahrgangs der Schule, geworden und
hatte durch den Gymnasialprofessor Johann Philipp Grüson gar Liebe zur Mathe-
matik entwickelt.182 Nach dem Abitur im Alter von 17 studierte er zunächst in
Berlin, wo sein Vater 1829/30 Rektor war und 1831 verstarb. Nach weiteren Stu-
dien in Heidelberg, Promotion 1837 in Berlin, absolvierte Karl Hegel 1838 das
Lehramtsexamen (klassische Philologie, Alte und Neue Geschichte, Philosophie,
Deutsch), lernte auf einer Reise Italiens Kunst und Kultur kennen und fand dort
ein eigenes historisches Themenfeld.
Aus dem Ziel, eine Geschichte der florentinischen Staatsverfassung zu schrei-
ben, erwuchs ein Werk zur Geschichte der italienischen Städteverfassung (1847),
welches Karl Hegel die „Genugthuung [brachte], dass man mich nicht nur als den
Sohn meines Vaters wolle gelten lassen.“183 Bereits zuvor hatte er die Schulkar-
riere mit der Universitätskarriere vertauschen können, war zum Herbst 1841 ei-
nem Ruf als a.o. Professor für Geschichte an die Universität Rostock gefolgt.
Vorbereitend darauf hörte Karl Hegel noch einige Vorlesungsstunden bei Leopold
von Ranke, an dem sich sein Schwiegersohn Felix Klein ebenfalls orientieren
sollte (vgl. 7.4; 8.3.1). Der Ranke-Schüler Georg Waitz war ein Freund und
Kollege von Karl Hegel; und Klein war als Privatdozent in Göttingen von Waitz
beeindruckt worden (vgl. 2.8.2.3).
Während der bürgerlichen Revolution 1848 hatte Felix Kleins Vater treu zum
Königshaus gehalten. Auch an Karl Hegel war das Ereignis der Revolution nicht
spurlos vorübergegangen. Er agierte drei Jahre lang politisch zwischen Aristokra-
ten und Demokraten, trat in Rostock für Pressefreiheit und Verfassungsreform ein,
befürwortete jedoch keine tiefer gehenden Volkspetitionen. Hegel gründete die
weitgehend regierungstreue Mecklenburgische Zeitschrift mit der Zusage, auf eine
ordentliche Professur berufen zu werden. Wie er selbst urteilte, brachte ihm dieses
Engagement reiche Erfahrung, aber keine grundlegenden Erfolge.184
Karl Hegel übernahm von 1854-56 das Amt des Rektors der Universität Ro-
stock und folgte zum Herbst 1856 einem Ruf an die Universität Erlangen. Hier
erfreute er sich des Vertrauens des bayerischen Unterrichtsministeriums, das ihn
zum „Prüfungskommissär bei den Gymnasien in Erlangen, Schweinfurt und Hof
ernannte“, später auch in München. Dies war eine bayerische Spezialität, die auch
Felix Klein betreffen sollte, der regelmäßig zu Mathematik-„Absolutarialprüfun-
gen“ (=Abitur) von Erlangen aus nach München reisen „durfte“.185 In Bayern
wurden Universitätsprofessoren, nicht Schulmänner und Rektoren, zu diesen Prü-
fungen abgeordnet und hatten darüber an das Ministerium zu berichten.186
Vorbild für Klein mochte ein weiteres Agieren seines Schwiegervaters sein:
die Tätigkeit in von Akademien geförderten Projekten. Karl Hegel gehörte einer
historischen Kommission an, die durch Ranke initiiert 1858 bei der Kgl. Akade-
mie der Wissenschaften in München angesiedelt worden war, um deutsche
Reichstagsakten, Städtechroniken u.a. herauszugeben, etwas, was mit reichlichen
Mitteln von der Staatsregierung gefördert wurde.187 So bereiste Karl Hegel für
dieses Akademieprojekt zahlreiche Orte, auch Straßburg und Paris (1867). Kleins
spätere Reisen für das ENCYKLOPÄDIE-Projekt, das seit den 1890er Jahren vom
Kartell deutschsprachiger Akademien getragen wurde, sind damit vergleichbar.
Seit 1867 gehörte Karl Hegel der Philologisch-historischen Klasse der Kgl.
Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen als Korrespondent an. Zum aus-
wärtigen Mitglied avancierte er dort 1871 am selben Tag, als Felix Klein Assessor
in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse wurde. Karl Hegel etablierte
in Erlangen Quellen basierte Geschichtswissenschaft und gründete 1872 ein His-
torisches Seminar. Er konnte Felix Klein nicht nur historisch, sondern auch hin-
sichtlich italienischer Kunst und Kultur beraten.
Karl Hegel war seit 28. Mai 1850 mit seiner 13 Jahre jüngeren Cousine Su-
sanne Tucher von Simmelsdorf verheiratet. Noch während der Rostocker Zeit
waren drei Töchter und ein Sohn geboren worden.188 Als seine Frau, die er um 21
Jahre überlebte, in der Neujahrsnacht 1877/78 nach längerer Krankheit in Erlan-
gen verstarb, standen ihm zwei Söhne, vier Töchter und zwei Schwiegersöhne zur
Seite.189 Zwei Jahre vor seinem Tode, 1899, nahm er eine vorläufige Vermögens-
teilung vor, um allen Kindern gleichmäßig gerecht zu werden.190
Der Hochzeitstag von Felix Klein und Anna Maria Caroline Hegel war ein Diens-
tag (17. August 1875). Annas Schwester Louise Friederike Caroline (*3. April
1853) hatte bereits am 6. Juli 1872 den Erlanger Professor für Experimentalphysik
Eugen Lommel geheiratet, der bei Kleins Berufungsvorgang als Dekan der philo-
sophischen Fakultät fungierte. Einen weitere Schwester von Anna, Maria (Marie)
(*1855), betreute den Vater, nachdem die Mutter früh verstorben war. Bruder Ge-
org (*1856) schlug eine bayerische Militärlaufbahn ein, und Bruder Wilhelm
Sigmund (*1863) wurde Jurist und Regierungsrat an einem Patentamt. Die jüngste
Schwester Sophie Louise (*1861) sollte für Felix Klein und seine Frau Anna be-
sonders wichtig werden.
Sophie Hegel hatte einen potentiellen Heiratskandidaten, einen mittellosen
Offizier, nicht wählen dürfen und unterstützte ihre Schwestern. So kam sie z.B. zu
Anna und Felix Klein nach Leipzig und half bei der Kinderbetreuung. Nebenher
wurde ihr eine Gesangsausbildung ermöglicht. Seit 1890 lehrte Sophie Hegel
Deutsch an einem privaten Institut in Malvern, in der Grafschaft Worcestershire in
England. Im Jahre 1910 kehrte sie zurück und wohnte seitdem im Göttinger Haus
bei Anna und Felix Klein. Sie pflegte ihren Schwager, der in den letzten Lebens-
jahren unter einer zunehmenden Lähmung der unteren Gliedmaßen leiden sollte,
und ihre Schwester, die früh schwerhörig geworden war.191
Als Anna und Felix Klein ihre Silberhochzeit im August 1900 feierten, waren
Annas Vater, zwei ihrer Schwestern und ein Bruder; ihre vier Kinder Otto
(*6.8.1876), Luise (*24.11.1879) mit ihrem Verlobten, Sophie (*11.7.1885) und
Elisabeth (*21.5.1888); zwei Geschwister von Felix Klein und dessen langjähriger
Freund Neesen mit Tochter anwesend (Abb. 18).
Alfred Klein schrieb in seiner Familien-Chronik vom Jahre 1918 über die vier
Kinder von Anna und Felix Klein192:
a) Otto, Ingenieur, war nach vollendeten Studien mehrere Jahre in Amerika und heiratete
dort seine Frau Myrthel Cram. Er wohnt als Fabrikdirektor in Hannover193;
b) Luise, heiratete den Ingenieur Fritz Süchting, jetzt Professor in Clausthal194. Sie haben 4
Kinder: Otto, Hildegard, Carla, Peter.
c) Sophie, heiratete den Rechtsanwalt Eberhard Hagemann zu Verden. Kinder: Elisabeth,
Gabriele, Eveline, Rudolf, Rose-Marie.
d) Elisabeth: studierte Mathematik und Musik. Ihr Mann, Robert Staiger, den sie im August
1914 heiratete, fiel am 23. August 1914 in der Schlacht an der Sambre195 bei Charleroi.
Abb. 18: Zur Silberhochzeitsfeier von Anna und Felix Klein aufgenommenes Foto,
am Sonntag, den 19. August 1900
Obere Reihe, stehend von links: Sohn Otto (24 Jahre), Prof. Dr. Friedrich Neesen (Freund von
Felix), Sophie Hegel (Schwester von Anna), Dr. Sigmund Hegel (Bruder von Anna), Tochter
Luise Klein (20 Jahre), Dr.-Ing. Fritz Süchting (Verlobter von Luise), Maria Hegel (Schwester
von Anna), Dr. Alfred Klein (Bruder von Felix), Tochter Elisabeth Klein (12 Jahre),
Untere Reihe, sitzend von links: Hanni Neesen (Tochter von Friedrich Neesen und Freundin von
Luise), Eugenie Klein (Schwester von Felix), Prof. Dr. Karl Hegel (Vater von Anna), Anna
Klein, Felix Klein, Tochter Sophie Klein (15 Jahre).
193 Otto Klein starb als Dipl.-Ing., Dr.-Ing. h.c. am 12.5.1963 in Göttingen (Sterbeurkunde, Stan-
desamt Göttingen: Nr. 699/1963); [Privatnachlass Hillebrand] Klein, Alfred (1910).
194 Im Jahre 1910 war Fritz Süchting als Elektrizitätsdirektor in Bremen aufgeführt.
195 R. Staiger, Vizefeldwebel d. Reserve, fiel in Gozée, 15 km südwestlich der belgischen Stadt
Charleroi. Die Schlacht v. 21.-23.8.1914 an der belgisch-französischen Grenze ist durch grau-
same Kriegsverbrechen berüchtigt.
146 3 Professur an der Universität Erlangen
Von den vier Kindern Anna und Felix Kleins war die jüngste Tochter Elisabeth
die mathematisch Begabteste und besaß auch musikalisches Talent. Sie absol-
vierte nach Studium in Göttingen und einem USA-Aufenthalt (Bryn Mawr) 1910-
11 das Lehramtsexamen in Mathematik, Physik und Englisch. Außerdem schloss
sie ein Musikstudium in Leipzig an, weil sie die Verlobung mit Robert Staiger
hatte durchsetzen können (Heirat am 2. August 1914). Staiger, Sohn eines Ober-
postdirektors aus Leipzig, promovierte 1908 beim bedeutenden Musikwissen-
schaftler Hermann Kretzschmar in Berlin und übernahm zum Wintersemester
1911/12 die seit 1906 bestehende Akademische Orchestervereinigung Göttingen,
wo er insbesondere Barockmusik pflegte. Er war dabei, sich zu habilitieren, als
der Erste Weltkrieg ausbrach.196
Als Witwe erreichte Elisabeth Staiger eine bemerkenswerte Karriere, die bis
zur Oberstudiendirektorin, d.h. Leiterin einer höheren Mädchenschule in Hildes-
heim, führte. 1933 nahm sie die Entlassung ihrer jüdischen Kolleginnen und das
konservative Frauenbild der Nationalsozialisten nicht widerspruchslos hin. Sie
behielt Rückgrat, wurde nach Hamburg-Harburg versetzt und zur Studienrätin
degradiert.197 Elisabeth ragte bereits als Schulkind hervor; ihr musikalisches Ta-
lent wurde vorgeführt.
Den älteren Kindern schien das Lernen schwerer gefallen zu sein.198 Otto
Klein vergnügte sich beim Schauturnen, vermasselte sein Abitur Ostern 1894,
begann als „Eleve“ bei der Eisenbahn und studierte Maschinenbau in Hannover.
Felix Klein hatte sich 1895 von Wilhelm Kohlrausch, Elektrotechniker und
damals Rektor der TH Hannover, beraten lassen, um für seinen Sohn eine geeig-
nete Praktikumsstelle zu wählen.199 Otto Klein fand seinen eigenen Weg, indem er
weit weg in die USA ging. Er berichtete als Konstrukteur einer Fabrik aus Hamil-
ton/Ohio (12. Dezember 1903), als Oberingenieur aus Detroit/Michigan (29. Juni
1906), besuchte Weihnachten 1906 Oskar Bolza und Familie in Chicago200 und
verlobte sich im Jahre 1908 mit einer Amerikanerin. Danach nahm er die Hilfe
seines Vaters an, um im deutschen Werkzeugmaschinenbau unterzukommen.
Klein nutzte Kontakte zu den industriellen Mitgliedern der Göttinger Vereinigung
(vgl. 8.1.1). Versuche Felix Kleins, Sohn Otto zur Annahme einer Professur an
einer Technischen Hochschule zu veranlassen, scheiterten. Alwin Nachtweh,
Professor für Mechanische Technologie an der TH Hannover, informierte Felix
Klein am 31. März 1910, dass eine Professur für Werkzeugmaschinenbau und
Fabrikanlagen frei werde und an seinen Sohn gedacht sei. Felix Klein sandte
umgehend dessen erbetene Adresse und freute sich: „Das ist ja eine ganz wun-
derbare Kombination. Mein Sohn ist seit Neujahr 1909 bei der Görlitzer Maschi-
nenbauaktiengesellschaft tätig, Adresse Dipl.ing. Otto Klein, Görlitz, Reichertstr.
196 Die Ergebnisse seiner Dissertation über Benedict von Watt flossen ein in R. Staiger (1914):
Benedict von Watt: ein Beitrag zur Kenntnis des bürgerlichen Meistergesangs um die Wende
des XVI. Jahrhunderts. Leipzig: Breitkopf & Härtel.
197 Vgl. ausführlich zu Elisabeth Staiger geb. Klein, TOBIES 1993a, 2008; [BBF] Personalblatt.
198 [UBG] Cod. Ms Klein, 10: 201-392, Briefe Anna Kleins an ihren Mann Felix Klein.
199 Ebd. 10: 528, Kohlrausch an Klein, Brief v. 11.2.1895.
200 Ebd. 10: 319, Anna Klein an Felix Klein, Brief v. 4.1.1907.
3.6 Allerlei Geselligkeit – Familiäres 147
30/III. Es ist schon am besten, wenn er Ihnen selbst über seinen Lebensweg be-
richtet.“ Otto Klein gelangte an erste Stelle auf der Berufungsliste,201 lehnte aber
mit der Begründung ab, sich nicht zum akademischen Lehrer zu eignen. Auch ein
weiteres Angebot einer Professur an der TH Danzig schlug er aus. Dafür wech-
selte er 1913 in die Eisengießerei Hannover-Wülfel, die im Ersten Weltkrieg
Kriegsbedarf herstellte und Kriegsgefangene beschäftigte.202
Fritz Süchting, der im Jahre 1900 Luise Klein heiratete, beriet sich mit seinem
Schwiegervater über berufliche Entscheidungen. Vorgeschlagen durch Klein erar-
beitete er mit Robert Fricke eine deutsche Version von John Perry, The calculus
for engineers (London: Arnold, 21897).203 Dabei trug Klein bei, dass Süchting
erstmals mit den Maxwellschen Gleichungen bekannt wurde.204 Süchting leitete
Elektrizitätswerke, ermöglichte Studierenden praktische Kurse in seinem Bremer
Betrieb und übernahm eine o. Professur für Maschinenbau und Elektrotechnik an
der Kgl. Bergakademie Clausthal, nachdem ihm dort im Dezember 1912 alle Be-
dingungen erfüllt worden waren. An der Technischen Universität Clausthal exis-
tiert noch heute ein Fritz-Süchting-Institut für Maschinenwesen.205 Süchting
pflegte ein sehr herzliches Verhältnis zum Schwiegervater, den er mit Lieber
Papa anredete, und dessen Familientradition er auch beim Wandern folgte: „[…]
eine Expedition mit […] Luise und 3 Kindern nach Riefensbeek tief im Sösetal,
mit Rucksack voll unendlicher Mengen von Kuchen und Einkehren in der Dorf-
schenke zum Kaffee, wie früher Kleins auf dem echten Rohns.“206
Sophie Klein brachte während der Schulzeit einen Tadel nach dem anderen
nach Hause und sah sich später von Verehrern umschwärmt. Mutter Anna Klein
berichtete ihrem Mann am 15. August 1903 über die Wundermacht der Liebe, die
sie bei ihrer Tochter Sophie erkannte: „Eine Mutter empfindet ja alles doppelt,
einmal für das Kind u. dann aus eigener Erfahrung. Da ist es eben traurig, wenn
der Mann nicht da ist u. wenn er neuerdings meint, überhaupt nicht mehr zärtlich
sein zu können und zu dürfen.“207 Sophies damaliger Verehrer kam nicht in Frage.
Felix Klein nahm potentielle Ehekandidaten hinsichtlich ihrer finanziellen Ver-
hältnisse genau in Augenschein. Sophie Klein heiratete schließlich 1908 den fünf
Jahre älteren Eberhard Hagemann, der von 1908 bis 1931 in Verden (Stadt an der
Aller, die zur preußischen Provinz Hannover gehörte) als Rechtsanwalt tätig war
und seit 1924 zusätzlich den Vorsitz des Landtags der Provinz Hannover führte.
Von 1931 bis 1933 fungierte er als Landeshauptmann, d.h. Vorsitzender der Lan-
desregierung Hannover. Während der NS-Zeit beschränkte sich Hagemann auf
die Tätigkeit als Rechtsanwalt, wobei er 1936-37 das Mandat des aus jüdischem
Elternhause stammenden evangelischen Göttinger Pastors Bruno Benfey über-
nahm, der aus seinem Amt gedrängt worden war. Es gelang, Benfey die legale
Ausreise nach Holland zu ermöglichen.208 Nach 1945 erhielt Hagemann zahlrei-
che Ehrungen, darunter die Ehrendoktorwürde Dr. jur. h.c. der Universität Göttin-
gen am 15. Februar 1950.209
Anna Kleins liebevolles Verhältnis zu ihrem Mann, ihre Vertrautheit mit sei-
nen Vorhaben, ihr Mitdenken bei Problemen, das Managen der Korrespondenz in
seiner Abwesenheit spiegelt sich in ihren zahlreichen Briefen, die sie ab Januar
1907 mit einer mechanischen Schreibmaschine verfasste: „Dies Geschreibe macht
mir grossen Spass.“210 Anlässlich des 62. Geburtstages ihres Mannes formulierte
sie, und damit blicken wir schon etwas voraus in Felix Kleins Biographie:
Liebster Mann! Es wird bald zur Regel bei uns dass wir die Geburtstage ebenso wie unseren
Hochzeitstag getrennt verleben. Ich füge mich darein in dem tröstlichen Gedanken dass Dir
dies abwechslungsreiche Leben mit seinen energischen Anregungen Freude macht und Dich
so jugendlich erhält wie es wenigen unter Deinen Altersgenossen vergönnt ist. So wünsche
ich Dir und mir zu dem morgigen Geburtstag dass Dir die Freude im Schaffen und die Zuver-
sicht am Gelingen Deiner Arbeiten noch länger treu bleiben möchte. Wenn Du auch nicht
mehr so klettern kannst wie ehedem so haben Deine Kräfte doch noch nie versagt wenn es
Dir darauf ankam etwas zu erreichen was Dir wertvoll erschien. Und ich hatte wohl Recht
Dich in den Jahren der Krankheiten und Hemmnisse immer wieder mit dem Wort zu trösten:
„Lass Dir an meiner Gnade genügen, denn Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Unter
dem vielen was Du angestrebt und unternommen hast war mir das Gelingen der Göttinger
Vereinigung immer das erstaunlichste und erfreulichste. So hoffe ich denn auch jetzt dass die
Verschmelzung zu gemeinsamer Arbeit mit den Berliner Herren die Frucht der jetzigen Ta-
gung sein möchte. […]211
208 Für den Hinweis darauf dankt die Autorin Herrn Oswald Glaser, Stuttgart.
209 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Eberhard_Hagemann
210 [UBG] Cod. Ms Klein 10: 319.
211 [UBG] Cod. Ms Klein 10: 361, Brief v. 24.4.1911. – Anna Klein setzte keine Kommata; sie
war religiös; am Familientisch wurde gebetet. – Die Göttinger Vereinigung tagte am 24. und
25. April 1911 in Essen, eingeladen durch die Friedrich Krupp A.G.; die daran beteiligten
„Berliner Herren“ waren Vertreter der Ludwig Loewe & Co. AG (Deutsche Waffen- und
Munitionsfabriken, Berlin-Reinickendorf). Vgl. zur Göttinger Vereinigung Abschnitt 8.1.1.
4 PROFESSUR AM POLYTECHNIKUM IN MÜNCHEN
Bei der Neuorganisation der Technischen Hochschule durch Bauernfeind hatte dieselbe das
Recht erhalten, ebenso wie die Universität Lehramtskandidaten für Mathematik und Physik
auszubilden. Nur in Rücksicht hierauf konnte sich Klein zur Annahme des Rufes entschlie-
ßen, er war sich aber klar darüber, dass die Ausbildung von Mathematikern an der Hoch-
schule nur durch Schaffung einer weiteren ordentlichen Professur für Mathematik wirklich
durchgeführt werden könnte.1
149
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R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_4
150 4 Professur am Polytechnikum in München
fen, die für Klein wichtig werden sollten, darunter Otto Hesse für Mathematik3,
Carl Linde für Theoretische Maschinenlehre, Johann Bauschinger für Technische
Mechanik und Graphische Statik.
Seit der Reorganisation des Polytechnikums war die Zahl der Studenten auf
mehr als das Dreifache gestiegen, d.h. ebenfalls über tausend.4 Deshalb hatte Otto
Hesse am 31. Mai 1873 eine weitere Professur für Mathematik beantragt, obgleich
neben ihm in der Allgemeinen Abteilung noch Johann Nicolaus Bischof Trigono-
metrie, algebraische Analysis und Geometrie lehrte. Bischof leitete jedoch zu-
gleich die Bibliothek des Polytechnikums. Im Rahmen der Mechanisch-techni-
schen Abteilung bestand noch eine Professur für Darstellende Geometrie und me-
chanische Technologie, die Friedrich August Klingenfeld inne hatte.5 Das Kgl.
Bayerische Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten
hatte Otto Hesses Antrag genehmigt, bevor dieser am 4. August 1874 verstarb.
Somit konnten zwei mathematische Professoren neu berufen werden. Die von
diesen zu haltenden Grundvorlesungen wurden zwischenzeitlich vertreten: Der
Universitätsprofessor Gustav Bauer übernahm Analytische Geometrie; der aus
Erlangen Umhabilitierte Siegmund Günther6 las Differentialrechnung. Analyti-
sche Mechanik wurde dem zweiten Privatdozenten Wilhelm Schüler übertragen.
Dieser war als Repetitor auch für die Übungen zuständig.
Die Berufungsliste für Otto Hesses Nachfolge enthielt nur einen Namen: Felix
Klein, mit Verweis auf dessen „[…] aussergewöhnlichen Ruf, welchen dieser
junge Gelehrte sowohl durch seine Arbeiten auf dem Gebiete der Wissenschaft,
als durch seine Leistungen als Lehrer sich erworben hat.“7 Außerdem wurde damit
argumentiert, Klein auf diese Weise für Bayern erhalten zu wollen. Klein akzep-
tierte bedingungslos und ohne zu zögern am 19. November 1874, mit einem brei-
teren Wirkungsfeld rechnend.8 König Ludwig II. unterzeichnete die Anstellungs-
urkunde am 2. Dezember 1874, sodass Klein als Mitglied des Lehrerraths der
polytechnischen Schule über die noch unbesetzte zweite Mathematikprofessur mit
befinden konnte, wenn er sein Amt auch erst zum 1. April 1875 antrat.9
Klein erzielte im Lehrerrath eine Mehrheit für seine Vorschläge: Alexander
Brill an erster Stelle, Jacob Lüroth an zweiter, beides Clebsch-Schüler, die schon
an polytechnischen Schulen lehrten. Bei der Entscheidung im Lehrerrath führte
der Physiker Wilhelm Beetz als neuer Direktor des Polytechnikums den Vorsitz;
3 In seinem Nachruf auf Hesse unterstrich Klein vor allem, dass dieser gezeigt habe, „dass die
Probleme der neueren Geometrie als algebraische aufgefasst und mit algebraischen Mitteln
durchgeführt werden können“, KLEIN 1875, 46.
4 Vgl. hierzu HASHAGEN 2003, 41.
5 BERICHT 1875, 19-20; die Angabe in STRÖHLEIN 1989, 3, ist falsch.
6 BERICHT 1875, 6, 15. – Als Klein kam, wurde Günther zum April 1875 als Hilfslehrer an die
Studienanstalt in Amberg abgeordnet, BERICHT 1876, 6. Als Gymnasialprofessor in Ansbach
(1876-86) erkannte Günther das Talent von Heinrich Burkhardt, der sich später unter Felix
Klein habilitieren sollte (vgl. Abschnitt 6.3.2).
7 Antrag an das Ministerium v. 1.11.1874, abgedruckt in TOBIES 1992, Zitat 757-58.
8 Klein, Brief v. 19.11.1874 an den Rektor Wilhelm Beetz, in TOBIES 1992, 770-71.
9 Vgl. hier und im Folgenden TOBIES 1992.
4.1. Neues Institut und Neuer Lehrbetrieb 151
Felix Klein und Alexander Brill starteten ihre Tätigkeit nach außen hin gleichwer-
tig. Während Klein jedoch ein Jahresgehalt von 2500 Gulden (ab 1.1.1876: 5100
Mark) bezog, erhielt der sieben Jahre ältere Brill nur 2000 Gulden (ab 1.1.1876:
4200 Mark). Beide empfingen zudem für 1875 eine „Theuerungsrate“ von 350
Gulden und eine Umzugsentschädigung. Zum 1. Oktober 1877 wurde Kleins Ge-
halt auf 5460 Mark erhöht.14 Zusätzlich konnten beide aufgrund der großen Hörer-
zahlen mit Kollegiengeldern rechnen, die für Klein ermittelt wurden: Die Sum-
men reichten von 870 M im WS 1876/77 bis 1500 M im WS 1879/80. Dabei hatte
er zehn bis 14 Wochenstunden Lehre zu absolvieren.15
Noch bevor Brill seinen Ruf erhalten hatte, beantragte Klein ein neues Mathe-
matisches Institut. Er ergriff auch die Initiative, um den mathematischen Lehrbe-
trieb am Polytechnikum neu zu gestalten. Dies betraf vor allem den Vorlesungs-
und Übungsbetrieb für die große Zahl der Ingenieurstudenten. Aber im Rahmen
der Spezialveranstaltungen für Lehramtskandidaten bzw. für spätere Forscher pro-
bierten Klein und Brill ebenfalls neue Formen, wie eine Modellwerkstatt, das
Mathematische Colloquium und ein sog. Vortragsseminar.
Schon sehr geschickt im Stellen von Anträgen, betonte Klein den ersten Punkt als
dringlich, und dass er bei den nächsten Budgetberatungen die anderen Punkte
noch einmal vortragen wolle. Nachdem eine einmalige Summe von 1500 Gulden
für das mathematische Institut sowie nur die bisherige Summe von jährlich 50
Gulden für laufende Kosten gewährt worden waren, stellten Klein und Brill im
Mai 1875 sofort neue Anträge: eine Summe von 300 Gulden für laufende Kosten,
denn eine Sammlung müsse erst aufgebaut werden; gemeinsam mit Bischof erba-
ten sie zudem jährlich 150 Gulden für Seminarprämien.18 (Punkte I und III)
Wie es ihrer Denomination entsprach, lehrten Klein und Brill analytische Geome-
trie, Differentialrechnung und analytische Mechanik. Während im Sommer 1875
in Kleins zweistündiger Vorlesung zur analytischen Mechanik nur 18 Studenten
saßen, besuchten 207 Personen seine 4-stündige Vorlesung zur analytischen Ge-
sätzlich aus eigener Tasche. Nach wiederholten Anträgen erhielten Klein und Brill
schließlich ab Winter 1877-78 je einen Assistenten (wobei Fischer zu Brill wech-
selte und Klein den wissenschaftlich begabten Josef Gierster auswählte). Der Re-
petitor Wilhelm Schüler schied aus, sodass die Assistenten ab 1. April 1878 je-
weils 1000 Mark Jahresgehalt bezogen. Als Gierster 1879 in den Schuldienst
ging, wurde der inzwischen promovierte Walther Dyck Kleins Assistent.32
Neben Spezialvorlesungen über höhere Mathematik erprobten Klein und Brill
weitere neue Lehrformen. In einem sog. Mathematischen Colloquium, ab April
1875, trugen zunächst vor allem Kleins Erlanger Schüler vor. Es lief bis Dezem-
ber 1875,33 entfiel in der ersten Jahreshälfte 1876 (weil die Schüler andere Wege
gingen) und entwickelte sich danach zu einem Mathematischen Seminar, in dem
Kleins Forschungsinteressen im Zentrum standen.34 Von Mai 1876 bis zum Som-
mer 1878 leiteten Klein und Brill ein Vortragsseminar, später als Proseminar be-
zeichnet. Die daran Beteiligten erhielten mit zwei Ausnahmen (Max Planck und
Adolf Hurwitz) keinen Namen in der Wissenschaft. Der spätere Physik-Nobel-
preisträger Planck trug an drei Terminen (1., 8. und 22. Juni 1877) über die „The-
orie der Rotation der Körper nach Poinsot (Journal v. Liouville, Bd. 16)“ vor.35
Hurwitz, aus heutiger Sicht Kleins bester Schüler, wechselte nach einem Semester
mit Planck und Carl Runge nach Berlin (vgl. 4.2.4.2). Zuvor hatte er mit Runge
u.a. im Sommer 1877 noch Zahlentheorie bei Klein gehört.36 Er sollte zu Klein
zurückkehren und ihm auf vielen wissenschaftlichen Wegen folgen.
Ich habe jene Jahre, in welchen die entscheidenden Fortschritte fallen, immer als die glück-
lichste Periode meiner mathematischen Produktion angesehen. Äußerlich waren sie dadurch
charakterisiert, daß ich sehr oft mit Gordan zusammenkam. Als Ort hierfür haben wir zu-
meist, weil in der Mitte von Erlangen und München gelegen, Eichstätt gewählt, wo wir häufig
den Sonntag zusammen zubrachten; Gordan sprach noch in späteren Jahren gern von der
„Mathesis quercupolitana“ […].37
Die von Klein in seiner Münchner Zeit erzielten mathematischen Ergebnisse sind
bereits mehrfach dargestellt worden.38 Hier soll der Blick auf das Wachsen der
Ergebnisse sowie auf seine Methode gerichtet werden. Im Nachruf auf Otto Hesse
drückte Klein aus, worauf er selbst zielte: „Die Mathematik strebt in neuerer Zeit
32 HASHAGEN 2003, 672; LOREY 1916, 152; KLEIN 1923 GMA III, Anhang, 4-5.
33 Vgl. zum Überblick [Protokolle] Bd. 1, 190-91.
34 [Protokolle] Bd. 1; KLEIN 1923 GMA III, Anhang, 4-5
35 [Protokolle] Bd. 1, 311-14, 320; Vorträge von Planck 319-22, 366-67.
36 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E (Zahlentheorie, 4 WoStd, Honorar 10 M.-): 14 Hörer.
37 KLEIN 1922 GMA II, 259. Mathesis quercupolitana = Eichstätter Mathematik. „Querco-
politana“ ist die lat./griech. Übersetzung von Eichstätt: quercus, lat. Eiche; πόλις polis, griech.
Stadt. – Zum Zusammenwirken von Klein und Gordan vgl. Max NOETHER 1914, 21-30.
38 Vgl. TOBIES/ROWE 1990, 46-52; ROWE 2018a; KLEIN 1926 Vorlesungen I, 336-74.
156 4 Professur am Polytechnikum in München
wieder dahin, die verschiedenen Gebiete, welche lange als besondere Disciplinen
behandelt wurden, zu vereinen.“39
Klein führte die in Erlangen begonnenen Arbeiten zu Flächenzusammenhang
und seiner neuen Art Riemannscher Fläche fort, studierte Abelsche Integrale und
lieferte vor allem mit seinen geometrischen Hilfsmitteln Beiträge zur Theorie al-
gebraischer Gleichungen höherer Ordnung. Ansätze aus Gruppentheorie und Inva-
riantentheorie dienten ihm dazu, für die Auflösung derartiger Gleichungen eine
allgemeine Methode zu entwickeln. Gepaart mit Resultaten aus der Zahlentheorie
und das Riemannsche Existenztheorem benutzend, gelang es Klein, die ellipti-
schen Modulfunktionen zu klassifizieren. Begeistert über seinen geometrischen
Ansatz als heuristisches Hilfsmittel, schrieb Klein mitten in einer Arbeit:
Denn die Geometrie veranschaulicht und erleichtert nicht nur, sie hat auch in diesen Untersu-
chungen das Vorrecht der Erfindung.40
Klein wartete nicht, bis er etwas bis ins letzte Detail entwickelt hatte, sondern
publizierte sofort erste Resultate. Das führte, wie schon angedeutet, zwar auch zu
manchem Fehler, aber das jeweils formulierte Programm erlaubte Partnern und
Schülern mitzudenken, sich zu beteiligen und Ergebnisse fortzuführen.
Die Ikosaedergleichung war ins Zentrum der ebenfalls bereits in Erlangen begon-
nenen Richtung gerückt, „vielleicht gehe ich zu den Gleichungen über, die bei
Repräsentation einer complexen Variablen auf der Kugelfläche durch die regulä-
ren Körper gebildet werden“ (vgl. Abschnitt 3.1.3.2). Klein hatte inzwischen erste
Ergebnisse zum Zusammenhang von Gruppentheorie, binären Formen und regulä-
ren Körpern ausgearbeitet und erklärte die Auflösung der Ikosaedergleichung am
20. April 1875 im Colloquium, mit folgenden Worten beginnend:
Als eine solche wurde schlechthin eine Gleichung zwölften Grades bezeichnet, deren vierte
Ueberschiebung mit sich selbst identisch verschwindet. Die algebraische Gruppe einer sol-
chen Gleichung muß aus 120 Substitutionen bestehen, entsprechend den 60 Bewegungen, die
ein Ikosaeder mit sich zur Deckung bringen und den perspectivischen Umlegungen seiner
Eckpuncte durch Projection vom Kegelmittelpuncte. Dem Umstande entsprechend, dass in
dieser Gruppe Untergruppen von 20 und 24 Substitutionen enthalten sind, muß es Resolven-
ten42 vom Grade 6 und 5 geben. Man stellt Beispiele für dieselben folgendermassen elegant
auf. […]43
Klein leitete mittels des Pentagondodekaeders die Resolvente 6. Grades her und
benannte sie als speciellen Fall der bei Transformation fünfter Ordnung der ellip-
tischen Functionen auftretenden Multiplicatorgleichung. Anschließend führte er
aus, wie mittels des Oktaeders eine Gleichung fünften Grades gewonnen werden
kann, zeigte deren Zusammenhang mit der Gleichung 6. Grades und verwies dar-
auf, dass er sein Herangehen mit dem von Brioschi verglichen habe.44
Am 5. Mai 1875 lieferte Klein im Colloquium einen Bericht Ueber Gleichun-
gen fünften Grades, startend mit dem Hinweis auf die Ergebnisse von Ruffini,
Abel und Jerrards Transformation auf die vereinfachte Form x5 – x – k = 0. Den
Überblick über die Literatur, Ergebnisse von Hermite, Jacobi, Kronecker, Brio-
schi, Jordan, hatte er vor allem aus Brioschis älteren Arbeiten gewonnen. Dazu
gehörte, dass Hermite gezeigt hatte, „dass das Abhängigkeitsverhältnis der fünf
Wurzeln x von k unmittelbar durch elliptische Functionen dargestellt werden
kann“; welche Ideen bzw. Beweise Jacobi, Kronecker, Brioschi hinsichtlich der
Lösung für Gleichungen 6. Grades entwickelt hatten, und insbesondere Brioschis
Nachweis, dass die betrachteten Gleichungen 6. Grades immer eine Resolvente 5.
42 Hilfsgröße (Lagrange-Resolvente) in der Theorie der algebraischen Gleichungen, die aus den
Nullstellen (Wurzeln) eines Polynoms und den primitiven Einheitswurzeln gebildet wird.
43 [Protokolle] Bd. 1, 154-57, Zitat 154. – Peter SLODOWY (1993, viii) beschrieb Kleins Resultat
und die Ikosaedergleichung modern wie folgt: „Sei dazu G die Ikosaedergrupppe, d.h. die
Gruppe der Drehsymmetrien eines regulären Ikosaeders. Diese Gruppe operiert auf der dem
Ikosaeder umbeschriebenen Kugel, die wir mit der Riemannschen Zahlenkugel, also der
komplexen projektiven Geraden P1 identifizieren. Der Quotient von P1 nach G identifiziert
wiederum mit P1 und die Quotientenabbildung P1 → P1/G ist eine verzweigte Überlagerung
vom Grad 60, der Ordnung von G. Das Problem, einen Urbildpunkt unter dieser Abbildung
zu berechnen, kann als das der Lösung einer Gleichung vom Grade 60 angesehen werden.
Klein nennt eine solche Gleichung eine Ikosaedergleichung.“
44 Der Begriff „Multiplicator“ erlebte in Kleins Arbeiten einen Entwicklungsprozess, vgl. KLEIN
1923 GMA III, 137.
158 4 Professur am Polytechnikum in München
Grades haben. Darauf aufbauend entwickelte Klein eine andere spezielle Glei-
chung 5. Grades, die durch elliptische Funktionen gelöst werden kann und führte
aus, den Zusammenhang mit dem Ikosaeder in einer Klammerbemerkung hervor-
hebend: „(Es ist dieselbe Gleichung, die beim Ikosaeder auftrat. Bei Brioschi sind
die Coefficienten nicht ganz richtig. Hermite und C. Jordan haben ebenfalls die
unrichtigen Coefficienten, corrigirt hat’s zuerst Joubert, C.R. 1867).“ Und weiter
beschrieb Klein, dass Hermite die Frage stellte, „ob man jede Gl. fünften Grades
auf diese Form durch rationale Substitution transformiren kann“. Abschließend
verwies er auf den differierenden Grundgedanken Kroneckers, der von einer cycli-
schen Function ausging,45 was für Kleins Herangehen wichtig werden sollte.
Klein urteilte später, dass Kronecker im Vergleich mit den anderen „wesent-
lich tiefer in die Theorie eingedrungen (war), ohne aber das Ikosaeder ganz zu
erreichen […]. In der Tat ist das Wesentliche, dass man die Auflösung mit der
Ikosaedergleichung in Verbindung bringt; die Heranziehung der elliptischen
Funktionen steht mit der Heranziehung der Logarithmen beim Wurzelziehen auf
einer Stufe.“46 Dieses hier angedeutete Ergebnis, vor allem das Hinausgehen über
Kronecker, gelang Klein jedoch nicht sofort, sondern erst mehr als ein Jahr später.
Zwischenzeitlich sprach Klein im Colloquium am 27. Juli und 3. August 1875
über Lies neue Art geometrischer Auffassung für die Theorie der partiellen Diffe-
rentialgleichungen.47 Er entwickelte, wie erwähnt, seine Art Riemannscher Flä-
chen weiter, widmete sich den Abelschen Integralen und schuf damit eine Basis
für spätere Erfolge. Zunächst noch unzufrieden mit seiner Kreativität, jubelte
Klein schließlich Anfang Juli 1876: „Die Musen sind wieder da“.48 Und aus ei-
nem Brief an Sophus Lie vom 25. September 1876 können wir Kleins damaliges
Forschungsprogramm erkennen:
Ich stelle natürlich die Analogie mit den algebraischen Gleichungen voran (Galois). Man
kann da zweierlei Untersuchungs-Richtungen unterscheiden:
1) Eine allgemeine. Sie fragt: wenn ich bestimmte (unsymmetrische) Functionen der
Wurzeln kenne, was kann ich dann machen?
2) Eine specielle, mehr zahlentheoretische. Sie sagt: Wenn eine Gleichung vorgelegt ist,
welche Functionen der Wurzeln sind dann bekannt? Entweder direct als rationale Zahlen oder
als rationale Functionen vorgegebener Irrationalitäten. –
So nun bei den Differentialgleichungen.
Du beschäftigst Dich mit dem Probleme: Wenn ich bestimmte Integrale kenne (mögen
sie einen functionentheoretischen Charakter haben, welchen sie wollen), was folgt dann?
Ich dagegen arbeite an der Fragestellung: Wenn eine Differentialgleichung gegeben ist, wann
hat sie
1) rationale Functionen zu Integralen
2) algebraische Functionen
3) Integrale algebraischer Functionen etc.
45 [Protokolle] Bd. 1, 161-64, Zitate 163, 164. – Joubert: « Sur l’équation du sixième degré ».
C.R. Acad. Sci. Paris 64 (1867) 1025-29. Vgl. anknüpfend Reichstein, Zinovy (1999): “On a
Theorem of Hermite and Joubert”. Canad. J. Math. 51 (1) 69-95.
46 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 357.
47 [Protokolle] Bd. 1, 177.
48 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 2.
4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität 159
wobei also der Uebergang von 1) zu 2) zu 3) eine immer weiter gehende Adjunction ist.
– Das Problem der drei Körper ist im Sinne 1) erledigt, dagegen scheint es eine stolze Frage,
dasselbe im Sinne 2) anzugreifen.49
4.2.2 Zahlentheorie
Zahlentheorie ist eine sehr alte mathematische Disziplin; wichtige Sätze über na-
türliche Zahlen, Primzahlen, Verhältnisse von Zahlen, stehen bereits in den Bü-
chern VII bis IX der Elemente des Euklid. Im 19. und 20. Jahrhundert differierte
dieses Gebiet, wie die Mehrzahl der mathematische Gebiete, in unterschiedliche
Zweige, die mit verschiedenen Methoden arbeiteten: analytische, geometrische
54 Klein, F. (1877): „Weitere Untersuchungen über das Ikosaeder“. Math. Ann. 12, 559.
55 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 2.
56 TOBIES/ROWE 1990, 80.
57 Klein, F. (1877): “Sull’ equazione dell’ Icosaedro nella risoluzione delle equazioni del quinto
grado”. Rendiconti del Reale Istituto Lombardo (2) vol. 10; „Weitere Untersuchungen über
das Ikosaeder“. Math. Ann. 12, 503-60.
58 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 2.
59 TOBIES/ROWE 1990, 82-83, 84 (Briefe v. 7.1.1877 und 25.2.1877).
4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität 161
und algebraische Zahlentheorie. Klein benutzte Hilfsmittel aus all diesen Gebie-
ten, bevor die Zweige voll ausgeprägt waren.
Als sich Klein auf seine erste zahlentheoretische Vorlesung vorbereitete, war
sein Wissen im Gebiet begrenzt. So jedenfalls teilte er Otto Stolz am 10. April
1877 mit: „Mit der Zahlentheorie geht es mir so. Da ich gar Nichts in derselben
wusste, habe ich für den Sommer darüber eine 4stündige Vorlesung angezeigt,
und nun etwas Literatur studirt.“60 Klein bereitete die Vorlesung in den Semester-
ferien intensiv vor, reiste acht Tage zu Gordan nach Erlangen und verzichtete auf
die Teilnahme am großen Gauß-Jubiläum (100. Geburtstag) in Göttingen, wo sich
die internationale Elite versammelte (Hermite, Brioschi, die Berliner)61.
Klein nutzte vor allem den Report on the Theory of Numbers von Stephen
Smith, auf den ihn bereits sein schottischer Studienfreund W. R. Smith im Jahre
1871 hingewiesen hatte. Damals hatte Klein nach erstem Lesen in einem Brief an
Lie kommentiert, „[…] den auch unsereiner einigermaßen verstehen kann.“62 Ne-
ben einem tieferen Blick in den Report von Stephen Smith stützte sich Klein auf
dessen Ansatz von1874, eine Idee von Hermite ins Geometrische zu übertragen.63
Außerdem nutzte Klein Arbeiten von Lie und Mayer über den Multiplicator Jaco-
bis einer linearen partiellen Differentialgleichung und eine von Weierstraß 1876
publizierte Methode, analytische Funktionen in „Primfaktoren“ zu zerlegen.64
Kleins Notiz für die Zeit 1877-78, „Ganz stiller Winter. Math. Orientierung
durch Berlin. Selbständigkeit und höhere Einheit“, deutet an, woher ihm neue
Ideen in besonderer Weise zuflossen.65 Adolf Hurwitz in Berlin diente als eine
wichtige Vermittlungsquelle.66
Klein entwickelte eine sog. Stufentheorie, die er nach und nach verfeinerte. Er
gliederte Zahlenmodule in erste, zweite, dritte bis nte-Stufe. Dieses Stufenprinzip
gestaltete er für die elliptischen Modulfunktionen detailliert aus und schuf ein
Einteilungsprinzip für die verschiedenen Arten dieser Funktionen. Er beschrieb
später selbst den historischen Verlauf und gab einen Überblick über seine Stu-
fentheorie, ordnete die besonders von Weierstraß herrührenden Ideen ein und
verwies auf sein Programm, das letztlich zu den automorphen Funktionen führte.67
Damit ist hier der Entwicklung jedoch schon etwas vorausgegriffen.
Im übrigen betone ich hier gerne, wie solcherweise in den folgenden Abhandlungen Gruppen-
theorie, Zahlentheorie, Geometrie und Funktionentheorie, alle getragen von den Grundauffas-
sungen der Invariantentheorie (also des projektiven Denkens), sich zu einem untrennbaren
Ganzen verbinden. Was auf der einen Seite bekannt und mühelos zu finden ist, wird für die
Problemstellung der anderen ausgenutzt. Das hierin liegende Verfahren, welches natürlich ein
vorheriges Studium der eigentümlichen Betrachtungsweisen jedes einzelnen Gebietes voraus-
setzt, darf wohl überhaupt als Grundzug meiner in dem vorliegenden Bande zusammenge-
stellten Arbeiten angesehen werden.68
Kleins erstes Eindringen in die Theorie der elliptischen Funktionen rührte noch
aus der Berliner Studienzeit her, als er mit Ludwig Kiepert zusammenarbeitete.
Aus einer Arbeit von H. A. Schwarz über die hypergeometrische Reihe kannte
Klein die elementare Modulfigur, „welche bei der konformen Abbildung der
Ebene von k2 auf die Halbebene des Periodenverhältnisses ω entsteht“.70 Auf
diesem Vorwissen gestaltete Klein die Ergebnisse mit seinen Schülern aus.
Bei der Naturforscherversammlung im September 1877 kündigte Klein erst-
mals einen Vortrag „Ueber elliptische Functionen“ für die Öffentlichkeit an (Ab-
schnitt 4.3.3). Er brachte im März 1878 erste Ergebnisse in die Erlanger Sitzungs-
berichte, reichte im Mai eine ausführliche Arbeit sowohl bei den Mathematischen
Annalen als auch bei der London Mathematical Society ein. Bei den Annalen ging
es gerade mit dem Druck nicht gut vorwärts. In London wurde sein Beitrag bereits
am 9. Mai 1878 vorgetragen und erschien in den Proceedings, übersetzt durch den
Clebsch-Schüler Olaus Henrici.71
Klein verfolgte sein Ziel weiter, ausgehend von den Ikosaederarbeiten die
Gleichungen fünften und höheren Grades mittels der Theorie elliptischer Funktio-
nen besser zu verstehen und ihre Behandlung zu vereinfachen. Er trug im Collo-
quium des Sommers 1878 mehrfach über Gleichungen 7. Grades und über Modu-
largleichungen vor und wurde durch die Erfolge im Gebiet veranlasst, ein grup-
pentheoretisch-geometrisches Programm der elliptischen Modulfunktionen aufzu-
stellen, d.h. die schon genannte Frage zu beantworten, welche Gleichungen sich
mit der Theorie der elliptischen Modulfunktionen lösen lassen:
Die functionentheoretische Methode, deren ich mich neuerdings bediente, um die Modular-
gleichungen für die niedersten Transformationsgrade für n = 2, 3, 4, 5, 7,13 zu untersuchen,
soll im Folgenden dazu verwandt werden, die Resolventen fünften, siebenten und elften Gra-
des zu definiren, welche man, einem berühmten Satz von Galois zufolge, für n = 5, 7, 11 auf-
stellen kann.72
Klein stützte sich auf breite Literaturkenntnis, Brioschi, Betti, Hermite sowie Lud-
wig Kiepert, der sich dem Thema ebenfalls zugewandt hatte, und benutzte sein
Hilfsmittel, die n-blättrige Riemannsche Fläche. In seiner Arbeit „Ueber die
Transformation siebenter Ordnung der elliptischen Functionen“ (Math. Ann. 14,
S. 428-71) bildete er die zugehörige Galoissche Resolvente vom Grad 168 und
leitete davon die niederen Gleichungen ab. Er gelangte zu einer geschlossenen
168-blättrige Riemannschen Fläche vom Geschlecht p = 3 (vgl. auch Abschnitt
3.1.3.1). Diese Fläche konnte er mittels einer Funktion auf ein Polygon abbilden,
das aus 168 Doppeldreiecken der Modulfigur (Abb. 19) zusammengesetzt war.
Klein wies nach, dass es eine algebraische Funktion vom Grade 168 geben muss,
die Resolvente der zugehörigen Modulargleichung ist.73 Er zeigte, dass es keine
andere Gruppierung der 2 x 168 Dreiecke gibt. Er benutzte die sog. „Hauptfigur“
(Abb. 20), um weitere Sätze zu beweisen. In der Arbeit „Ueber die Auflösung
gewisser Gleichungen von siebenten und achten Grade“ schrieb er:
Die Modulargleichung, welcher der Transformation siebenter Ordnung elliptischer Functio-
nen entspricht, hat eine Galois’sche Gruppe von 168 Substitutionen. Wird es möglich sein,
solche Gleichungen siebenten oder achten oder auch 168ten Grades, welche dieselbe Gruppe
besitzen, durch ausführbare Processe auf die Modulargleichung zurückzuführen? Und wel-
ches sind die einfachsten Mittel, deren man sich zu diesem Zwecke zu bedienen hat?74
Klein erklärte in dieser Arbeit eine allgemeine Methode zur Behandlung höherer
Gleichungen, d.h. nicht nur, wie man das Problem mit 168 Substitutionen bewäl-
tigen kann, sondern auch, „wie man ähnliche Probleme bei beliebigen höheren
Gleichungen zu behandeln, und, was wichtiger ist, wie man sie aufzustellen
hat“.75
Gordan schrieb an Klein: „Ihre Arbeit ist sehr gut. Ich will wieder reine Inva-
rianten treiben“ (31.7.1878); „Gearbeitet habe ich lange nichts, Sie wahrscheinlich
für uns beide zusammen“ (7.9.1878). „Ich beschäftige mich mit der Aufstellung
des Formensystems Ihrer Curven 4ter Ordnung und bin mit meinen bisherigen Re-
sultaten zufrieden z.B. weiß ich nun die Bedingungen, unter denen eine beliebige
Curve 4ter Ordnung in Ihre übergeht.“ (3.12.1878)76
Gordan bezog sich auf Kleins Kurve vierter Ordnung λ3μ + μ3ν + ν3λ = 0, die
ein algebraisches Gebilde mit 168 Transformationen definiert. Klein publizierte
dies in der erwähnten Arbeit „Über die Transformation siebenter Ordnung der
elliptischen Funktionen“, eingereicht Anfang November 1878. Das Thema war
nicht abgeschlossen. Klein setzte es mit Schülern fort, weitere Autoren knüpften
an. Gordan teilte Klein am 24. September 1879 mit:
Lieber Klein! So eben erhalte ich Ihr Paket enthaltend die Gierstersche Arbeit; ich werde sie
durchsehen und Ihnen mit nach München bringen. Da ich jetzt etwas freier bin so hoffe ich
wieder mit Ihnen zu arbeiten; in den Gleichungen 7 ten Grades geht es allerdings nicht weiter;
es ist zu verwickelt die complicirten Funktionen von 7 Größen mit 168 Vertauschungen durch
die einfachen auszudrücken; man muss sich mit Andeutungen begnügen, das müssen Sie mir
machen.77
Wie Klein und Gordan in diesem Gebiet erfolgreich weiter kooperierten, ist bei
Max NOETHER (1914) besonders schön beschrieben. Klein hatte 1878 auf funktio-
nentheoretischem Wege von der Galoischen Resolvente ausgehend für die zuge-
hörige Gruppe G168 von 168 Substitutionen eine isomorphe Gruppe Γ168 von ter-
nären linearen Transformationen konstruiert. Das war eine isomorphe lineare
Gruppe von möglichst wenigen Variablen, die er seit langem prinzipiell gefordert
hatte. Klein erschloss damit für die zugehörige Kurve vierten Grades das
[…] ganze Formensystem ihrer Kovarianten, insbesondere das Kurvenbüschel 42ten Grades
Ψ3 – J – Δ7 = 0, das aus f = 0 die Gruppen von je 168 Punkte ausschneidet. […] Weiterhin
gelang Klein die, schon 1858 von Kronecker vermutete, Zurückführung aller Gleichungen mit
der Gruppe G168 auf die […] Modulargleichungen.78
Gordan gestaltete die algebraische Seite weiter aus, worüber Klein später in sei-
nen eigenen Gesammelten Abhandlungen detailliert berichtete.79 Von dieser
Kurve vierter Ordnung ausgehend, fand Klein 1882 im engen Dialog mit Poincaré
drei Uniformisierungssätze (vgl. dazu Abschnitt 5.5.4):
Am wichtigsten ist aber unsere Kurve wohl dadurch geworden, daß die in einem Orthogo-
nalkreis eingeschriebene Hauptfigur [vgl. Abb. 20, R. To] das erste konkrete Beispiel für die
Uniformisierung der algebraischen Kurven höheren Geschlechtes war und so für mich die
beste Stütze bei der Aufstellung der allgemeinen Uniformisierungssätze […].80
76 [UBG] Cod. Ms. Klein 9: 400, Bl. 3 (Brief v. 31.7.1878); 401A, Bl. 5 (Brief v. 7.9.1879)
77 Ebd., 405, Bl. 9. – Vgl. Gordan, P. (1880): „Ueber das volle Formensystem der ternären bi-
quadratischen Form […]“. Math. Ann. 17, 217-33, worin er erneut die Anregung durch Kleins
Arbeiten betonte.
78 NOETHER 1914, 27-28.
79 Vgl. KLEIN 1922/23 GMA II, 426-38; GMA III, 135.
80 KLEIN 1923 GMA III, 136. – Zu den Uniformisierungssätzen vgl. Abschnitt 5.5.4.
166 4 Professur am Polytechnikum in München
Im Kontext mit Kleins Arbeit von 1878 ergab sich ein Disput mit Camille Jordan
über das Problem, alle möglichen endlichen Gruppen linearer Substitutionen zu
bestimmen. Von einem Prioritätsstreit kann allerdings kaum gesprochen werden,
denn Jordan schrieb am 11. Oktober 1878 an Klein: « Vouz avez parfaitement
raison. »81 Später ordnete der schwedische Mathematiker Anders Wiman ein, dass
die Aufgabe für das binäre Gebiet durch Kleins geometrische Betrachtungen zu-
erst und rein algebraisch durch Gordan erledigt worden sei. Jordan habe die ent-
sprechende Aufgabe für das ternäre Gebiet behandelt (1878, 1880). Wiman
schrieb: „Die Schwierigkeit der Aufgabe bei mehr als zwei homogenen Veränder-
lichen erwies sich schon daraus, dass Jordan in seiner ersteren Arbeit eine Gruppe
von 168 Collineationen der Ebene übersehen hatte, welche inzwischen von Herrn
Klein durch Betrachtung der Transformationen 7. Ordnung der elliptischen Func-
tionen abgeleitet wurde.“82 In einer nächsten Arbeit betonte Wiman, dass mit Jor-
dans wichtigen Resultaten nicht alles erledigt war, sondern Herman Valentiner
(1889) noch eine weitere Gruppe von der Ordnung 360 entdeckte. Wiman konnte
zeigen, dass diese Gruppe „mit der Gruppe der geraden Vertauschungen von 6
Dingen holoedrisch isomorph ist“.83 Wiman verfasste auch den diesbezüglichen
Beitrag für die ENCYKLOPÄDIE.84
Kleins Ergebnisse wurden Ende der 1870er Jahre besonders in Italien und
England schnell aufgenommen. In Italien förderte Brioschi (vgl. 3.4) die Ver-
breitung von Kleins Ergebnissen. Brioschis Arbeiten zu Gleichungen 5. Grades,
zur Transformationstheorie elliptischer Funktionen, zur Theorie der linearen
Differentialgleichungen und der hyperelliptischen Funktionen85 waren für Klein
wichtig. Deshalb hatte er um eine Zusammenfassung dieser Ergebnisse erbeten
und übersetzte sie selbst für die Mathematischen Annalen ins Deutsche.86
Umgekehrt brachte Brioschi, wie schon angedeutet, Briefmitteilungen Kleins
Italienisch heraus bzw. ließ übersetzen.87 Brioschi reichte das äußerst schnell an
die Rendiconti, Organ des Reale Istituto Lombardo di Scienze e Lettere (Milano),
so am 2. Januar 1879 eine Mitteilung Kleins vom 30. Dezember 1878; oder am
17. Juli 1879 Ergebnisse Kleins zu den Gleichungen 11. Grades, die Guiseppe
Jung ins Italienische übersetzt hatte.88 Bereits 1877 hatte Brioschi veranlasst, dass
Klein Mitglied des Reale Istituto Lombardo di Scienze e Lettere geworden war
(vgl. 3.4). Er sandte Resultate Kleins auch an (seinen Schüler) Luigi Cremona, der
81 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: Bl. 21-25 (Jordan an Klein, 11.10.1878; 6.1.1879, Zitat Bl. 21);
vgl. auch BRECHENMACHER 2011.
82 Wiman, A.: „Ueber eine einfache Gruppe von 360 ebenen Collineationen“. Math. Ann. 47
(1896) 531-47, Zitat 531, hier auch die Literaturangaben von Jordans Arbeiten.
83 Wiman, A.: „Endliche Gruppen birationaler Transformationen in der Ebene“. Math. Ann. 48
(1897) 199; vgl. auch KLEIN/FRICKE Bd. 2, 1912, Anhang. – holoedrisch = vollflächig.
84 Wiman, A.: „Endliche Gruppen linearer Substitutionen“. ENCYKLOPÄDIE, Bd. I.1, 522–54.
85 Noether, Max: “Francesco Brioschi”. Math. Ann. 50 (1898) 477-91, bes. 479; 486-90.
86 Brioschi, F. (1878), Math. Ann. 13, 109-60; vgl. TOBIES/ROWE (1990) 87-89.
87 Vgl. KLEIN 1923 GMA III, Anhang, 20.
88 Klein, F. (1879): “Sulle equazioni modulari”. Rendiconti del Reale Istituto Lombardo (2) vol.
12, 21-24; “Sulla trasformazione dell’ 11° ordine delle funzioni ellitiche”, ebd. 629-32.
4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität 167
sie der Accademia dei Lincei vorlegte.89 Diese 1603 in Rom gegründete erste
private Institution zur Förderung der Naturwissenschaften in Europa, der schon
Galileo Galilei angehört hatte, nahm Klein 1883 als Mitglied auf.
In Großbritannien, wo Klein, wie in 3.3 erwähnt, seit 1875 der London Ma-
thematical Society angehörte, übersetzte nicht nur Henrici seine Resultate für de-
ren Proceedings. Auch Arthur Cayley unterstützte Klein in dieser Weise; er
brachte für die Proceedings eine Zusammenfassung von Kleins Arbeiten aus den
Bänden 14 und 15 der Mathematischen Annalen ins Englische.90
Die Bayerische Akademie der Wissenschaften in München nahm Klein am
25. Juni 1879 als (außerordentliches) Mitglied auf (vgl. Anhang Nr. 3). Daraufhin
nutzte Klein deren Sitzung vom 6. Dezember 1879, um eine Zusammenfassung
seiner Ergebnisse zur Theorie der elliptischen Modulfunktionen zu präsentieren.
Er beschrieb darin, dass er durch eine Reihe von Arbeiten „[…] allmählich zu
einer allgemeinen und im Wesentlichen neuen Auffassung der elliptischen Modul-
functionen geführt“ worden sei und erläuterte, dass die verschiedenen Formen der
Modulargleichungen, die bisher in verwirrender Mannigfaltigkeit unvermittelt
neben einander standen, „sich einem einfachen, allgemeinen Principe als sehr spe-
cielle Fälle einordnen.“91 Klein erklärte das allgemeine Prinzip, ausgehend von
drei Klassifikationsprinzipien, ein algebraisches (Untergruppen), ein arithmeti-
sches (Kongruenzgruppen92) und ein funktionentheoretisches (den Begriff Ge-
schlecht einer Untergruppe einführend). Er zeigte das Anwenden der Transforma-
tionstheorie und leitete den folgenden Satz her:
wir haben also schließlich für jeden Transformationsgrad n unendlich viele Gleichungssys-
teme, die sämmtlich als Modulargleichungen bezeichnet werden können.93
Bei der Herausgabe seiner gesammelten Abhandlungen verlieh Klein diesem Auf-
satz den Titel „Zur [Systematik der] Theorie der elliptischen Modulfunktionen“
und beschrieb noch einmal sein grundlegendes Herangehen, die Gruppentheorie
als ordnendes Prinzip zu benutzen und wie er sein Programm hinsichtlich der
selbst gestellten Aufgabe realisieren konnte, diejenigen algebraischen Gleichun-
gen zu finden, die sich mit elliptischen Funktionen lösen lassen.94
89 Klein, F. (1879): “Sulla risolvente di 11° grado del’ equazione modulare di 12° grado”. Atti
della Reale Accademia dei Lincei. Transunti (3) Vol. 3, 177-79.
90 Klein, F. (1880): “On the Transformation of Elliptic Functions”. Proceedings of the London
Mathematical Society 11 (1879/80) 151-55.
91 Sitzungsber. Münchener Akademie v. 6.12.1879; Math. Ann. 17 (1880) 62-70, Zitat 62.
92 Die Konstanten werden Kongruenzforderungen in Bezug auf ein Zahlenmodul unterworfen,
woraus sich die Gliederung in die schon genannten Stufen ergab. KLEIN 1923 GMA III, 3-4.
93 Math. Ann. 17 (1880) 68.
94 KLEIN 1923 GMA III, 3 und 169-78.
168 4 Professur am Polytechnikum in München
Beim Betrachten von Kleins Schülerkreis in München können wir zwei Phasen
unterscheiden. Phase eins bezieht sich auf die ersten beiden Semester, als er noch
seine Erlanger Doktorschüler als Diskussionspartner um sich versammelte und
ihnen auf den weiteren Weg half. Die zweite Phase begann ca. Herbst 1876, als es
ihm allmählich gelang, neue Studenten in seinen Bann zu ziehen.
Über die Zeit der ersten Phase berichtete Lindemann, dass sie die Erlanger Tradi-
tionen zunächst fortsetzten: „Im Sommer trafen Klein, Harnack, Wedekind und
ich uns jeden Tage im Café Hofgarten und machten einen Spaziergang in den
Englischen Garten.“95 Nachdem Klein am 17. August 1875 geheiratet hatte und
die Hochzeitsreise hinter ihm lag, reduzierten sich die täglichen Rituale mit den
Schülern. Immerhin bildeten Besprechungen mit Lindemann zur Clebsch-Edition
und die Zusammenkünfte im Mathematischen Colloquium konstante Größen.
Das Mathematische Colloquium fand im Jahre 1875 vom 13. April bis 10.
August dienstags statt; vom 18. November bis 21. Dezember gab es weitere fünf
Termine an unterschiedlichen Wochentagen. Darin sprachen: Felix Klein an sie-
ben Terminen, Brill 3x, Lindemann 7x, Harnack 4x, Holst 4x, Wedekind 1x sowie
Wilhelm Frahm 2x. Nur Frahm war neu, aber auch dieses Talent förderte Klein.
Frahm hatte im Frühjahr 1873 mit dem Thema „Ueber die Erzeugung der
Curven dritter Classe und vierter Ordnung“ an der Universität Tübingen promo-
viert und sich im Herbst desselben Jahres dort habilitieren können.96 Seine Disser-
tation hatte er Sigmund Gundelfinger gewidmet (einem Schüler von Clebsch und
Gordan). Frahm hatte auch an Arbeiten von Klein angeknüpft, sodass vier seiner
Beiträge 1874 und 1875 bereits in den Mathematischen Annalen publiziert wur-
den. Außerdem setzte Klein durch, dass die Sitzungsberichte der Erlanger Socie-
taet ausnahmsweise eine Arbeit von Frahm (Über die typische Darstellung bili-
nearer Formen) aufnahmen. Frahm starb jedoch tragisch im Sommer 1875.97
Lindemann überlieferte, wie Klein bei der Edition von Clebschs Vorlesungen,
aber auch bei profaneren Dingen half: Klein lieh ihm Geld, damit er Pfingsten
1875 einen Ausflug mit Axel Harnack unternehmen konnte. Klein regte Linde-
mann an, sich um ein bayerisches Stipendium für ein Auslandsstudium zu bewer-
ben; er überließ ihm eine Einladung nach London: „1876. Lindemann mit Stipen-
dium statt meiner nach London, von da nach Paris“.98 Klein sah Lindemann als
einen Boten, der die Kontakte zu den britischen und französischen Kollegen auf-
frischen konnte, dies auch im Interesse der Mathematischen Annalen.99
In England konnte Lindemann auf die Hilfe von Henrici, Cayley, Clifford, H.
St. Smith bauen. In Paris brachte ihm Band 1 der Clebsch-Vorlesungen (Leipzig:
B.G. Teubner, 1876), ein Werk von mehr als 1000 Seiten, besondere Aufmerk-
samkeit. Klein hatte eine Vorrede verfasst und darin betont, dass es als Lehrbuch
angelegt sei und verschiedene Abschnitte erst entworfen werden mussten, wobei
Clebschs Art der Darstellung angestrebt worden sei. Zugleich war es Klein wich-
tig, erneut hervorzuheben: „[…] von ihm [Clebsch] lernten wir Anderen die Ten-
denz, auch fremde Untersuchungen umfassend in Betracht zu ziehen und mit den
eigenen zu verweben […].“100 Bereits 1880-83 kam dieser erste Band in zwei
Teilen übersetzt heraus (Leçons sur la Géométrie, Paris: Gauthier-Villars).101
Lindemann erfuhr 1876 in Paris zahlreiche Gegenbesuche und Einladungen,
nicht nur von Darboux und Jordan. Auch der 90-jährige Chasles bemühte sich die
Treppe zu Lindemanns Wohnung hinauf und lud zum Herrendiner nach Hause
ein. Ähnlich Hermite, der ihm „seine bisher auswärts wenig beachtete Arbeit über
die Transzendenz der Zahl e mit dem Bemerken [brachte], dass er diese für eines
der wichtigsten Ergebnisse seiner Forschung halte.“102
Das Studium von Hermites Arbeit bildete die Basis für Lindemanns Beweis
der Transzendenz von π im Jahre 1882. Daraus sollte sich auch für Klein als Dok-
torvater eine besondere Rolle ergeben. Vor Aufnahme von Lindemanns Arbeit in
die Mathematischen Annalen ließ Klein sie durch Georg Cantor begutachten, der
zusätzliche Anregungen gab. In der Folgezeit lieferten Weierstraß, Adolf Hurwitz,
David Hilbert, Paul Gordan verbesserte Beweise.103 Klein vermittelte als Heraus-
geber der Annalen. Später propagierte er die Ergebnisse in Vorträgen, Vorlesun-
gen und Fortbildungskursen (vgl. Abschnitte 7.3 und 7.5).
105 Vgl. HASHAGEN 2003, 671-72 (Liste der in München promovierten Mathematiker).
106 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 L: 5, Bl. 1 (Liste v. 11.3.1913, in der Klein F. Meyer als Mün-
chener Doktorand aufführt). Vgl. dagegen KLEIN 1923 GMA III, Anhang, 11-13.
107 [Protokolle] Bd. 1, 243.
108 BERICHT 1879, 8.
109 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 1151.
4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität 171
Klein sandte einen „liebenswürdigen Brief“ und empfahl Meyer die Habilitation,
was 1880 in Tübingen geschah. Franz Meyer erhielt dort ein Extraordinariat,
wurde Ordinarius an der Bergakademie Clausthal (1888) und an der Universität
Königsberg (1897). Er berichtete regelmäßig an Klein und entwickelte während
der Clausthaler Zeit einen Plan, der in die ENCYKLOPÄDIE münden sollte (vgl. 7.4).
Karl Rohn, der seit Winter 1875-76 bei Klein studierte, promovierte unter
Bauer und Seidel am 3. August 1878 mit Auszeichnung. Mit seiner Dissertation
führte er Arbeiten zur Kummerschen Fläche und bekannte er sich eindeutig zum
Doktorvater Klein (vgl. auch 4.3.3). Rohn habilitierte sich in Leipzig 1879 und
konnte sich als Professor in Sachsen etablieren (Leipzig, TH Dresden).
Kleins nächster Doktorschüler Walther Dyck brachte seine Dissertation Über
regulär verzweigte Riemannsche Flächen und die durch sie definierten Irrationa-
litäten an der Universität München (Promotion 30.7.1879) nicht ohne Einwand
durch. Ulf Hashagen verweist darauf, dass Seidel durch Kleins „damals jugend-
lich vordringliches Wesen […] unangenehm“ berührt gewesen sei und dessen
Orientieren an Riemanns geometrischen Methoden wenig geschätzt habe. Daraus
folgte auch, dass sich kein Schüler von Klein an der Universität München habili-
tieren konnte.110 Seidel monierte zudem eine gewisse unsaubere mathematische
Ausdruckweise bei Klein. Klein informierte darüber später Adolph Mayer, dass
„[…] Seidel seinerzeit an meinen Arbeiten aussetzte, wo gelegentlich einmal,
‚complexe Ebene’ statt ‚Ebene der complexen Variablen’ gesagt u. desgl.“111
Dennoch sollte Felix Klein im Jahre 1892 die Nachfolge von Ludwig Seidel an
der Universität München angetragen werden (vgl. 6.5.2).
Alexander Brill führte an der Universität München 1878/79 ebenfalls zwei
Kandidaten (Anton von Braunmühl; Wilhelm Heß) zur Promotion. Er beteiligte
sich aber nicht mehr mit eigenen Beiträgen im Mathematischen Colloquium.
Wenn wir Paul Gordan Glauben schenken, so geriet Brill hinsichtlich seines ma-
thematischen Überblicks ins Hintertreffen. Über ein Manuskript von Wilhelm Heß
und dessen Doktorvater Brill lesen wir in Gordans sarkastischem Ton:
[…] die Arbeiten sind nicht schlecht doch haben wir ein Genie dabei, Heß heißt der Bieder-
mann, welcher eine Arbeit über rationale Curven 4ter Ordnung eingereicht hat. Dieselbe ist
unter Brill gefertigt und zeigt, daß Verfasser meine Invariantentheorie besser als Brill ver-
standen hat; auch ich habe Belehrung daraus gezogen; ich bin nun dafür die Arbeit, wie sie
ist, in die Annalen aufzunehmen. Brill will sie erst umarbeiten, wodurch sie wahrscheinlich
schlechter wird, denn die Fehler welche von der Jugend des Verfassers herrühren schaden den
Annalen nicht.112
In den Jahren 1877 bis 1880, als Klein über Zahlentheorie, elliptische Funktionen
und algebraische Gleichungen las und eigene Ergebnisse in Colloquiumsbeiträgen
detaillierter erläuterte, förderte er weitere begabte Studenten. Von diesen hob er
später vier Schüler besonders hervor:
Ich hatte dabei das Glück, unter meinen Zuhörern ausgezeichnete Mitarbeiter zu finden, wel-
che mich nicht nur bei meinen Untersuchungen wesentlich unterstützten, sondern bald auch,
jeder in seiner Richtung, wesentlich weiter gingen. Ich nenne in dieser Hinsicht, der Reihen-
folge ihrer einschlägigen Veröffentlichungen entsprechend, Gierster, Dyck, Bianchi und
Hurwitz.113
Für den schon genannten Walther Dyck erwähnte Klein hier nur, dass er ihm
zweckmäßig gezeichnete Figuren verdanke und dass sich dieser schließlich seinen
allgemeinen gruppentheoretischen Arbeiten zuwandte. Die anderen drei unter-
stützten Klein stärker inhaltlich, promovierten aber nicht in München.
Josef Gierster studierte von 1873 bis 1877 in München, beteiligte sich am
Vortragsseminar 1876-77 mit drei Beiträgen (über Fourierreihen und die Gamma-
funktion), legte sein Staatsexamen ab und half als Kleins Assistent bei numeri-
schen Rechnungen, die zur Aufstellung von Modulargleichungen erforderlich wa-
ren.114 Gierster folgte Kleins Hinwenden zur Zahlentheorie und lieferte wichtige
Beiträge zur Theorie der Klassenzahlrelationen, die Bausteine für Kleins Stufen-
theorie bildeten. Begeistert über Giersters erste Ergebnisse, reichte Klein diese
1879 bei den Göttinger Nachrichten ein und informierte Darboux:
Ein Gegenstand, der mir jetzt am Herzen liegt, wird durch die Relationen für Classenzahlen
quadratischer Formen negativer Determinante geliefert, wie sie Kronecker 1857 zuerst auf-
stellte. [Vermutlich hat Ihnen im vergangenen Sommer Hr. Gierster, mein damaliger Assis-
tent, jetzt in Bamberg, eine darauf bezügliche Note aus den Göttinger Nachrichten zuge-
schickt; er hat seitdem den Gegenstand im Anschlusse an meine Speculationen über die ver-
schiedenen Formen der Modulargleichungen weiter verfolgt und eine grosse Reihe neuer Re-
sultate erhalten.]115
Klein bezog Hurwitz in die Familie ein, sorgte sich um dessen Gesundheit und
hätte ihm das Studium in Berlin gern erst später empfohlen.122 Hurwitz versäumte
in Berlin die Lehre vom Winter 1877/78 wegen seiner Typhus-Erkrankung, hörte
danach Analytische Funktionen bei Weierstraß und entwickelte eine neue geome-
trische Idee, „wie das Chasles’sche Correspondenzprinzip eine geometrische
Übersetzung des Satzes ist, daß eine Gleichung nten Grades n Wurzeln hat
[…],“123 eine Arbeit, die in Diskussion mit Klein erweitert und datiert zum 18.
Dezember 1878 in die Mathematischen Annalen aufgenommen wurde.124
Klein riet Hurwitz zu breiter Orientierung: „Vergessen Sie über der Freude
am Produciren nicht, sich fremde Anschauungen anzueignen!“125 Und: „Sie wer-
den im kommenden Winter vermuthlich Kronecker’s grosses Colleg über Glei-
chungen hören; ich würde Ihnen dankbar sein, wenn Sie mir später […] Heft zu-
kommen lassen könnten. Wenn ich doch einmal bei diesem Capitel bin, so will
ich noch zufügen, dass mir Weierstraßsche Hefte neueren Datums, namentlich
solche über Functionentheorie, ebenfalls sehr willkommen sind.“126 Kroneckers
Vorlesungen wollte Klein vor allem deshalb sehen, um zu prüfen, wie weit dieser
selbst mit seinen Ideen über Gleichungen 5. Grades gekommen war: „[…] ich
möchte ihm durchaus und vollauf Gerechtigkeit widerfahren lassen aber auch
nicht mehr.“127 Kronecker brachte in dieser Vorlesung allerdings nichts über Glei-
chungen 5. Grades; dies soll er in einem Colleg über Zahlentheorie vorgetragen
haben.128 Erst im März 1881 erfuhr Klein, dass Kronecker nie einen Beweis für
seinen Satz gefunden hatte (vgl. Abschnitt 5.5.2.1).
Hurwitz hörte im Winter 1878/79 die „elliptischen Funktionen bei Weier-
straß“129 und kehrte danach zu Klein zurück. Er erwarb mit Klein eine breite Ba-
sis.130 Klein bombardierte ihn mit Aufgaben und mathematischen Fragen, bestellte
ihn auch sonntags zu sich und regte an: „Ich halte es für einen Hauptfehler der
heutigen Mathematiker, dass sie in Literatur zu unwissend sind.“ „Fürchten Sie
sich nicht vor dem Camille Jordan, sondern lesen Sie sich wenigstens so weit hin-
ein, daß Sie wissen, was er mit seinem Buche will.“ 131
Noch vor Beginn des Wintersemesters 1879/80 las Hurwitz die Arbeiten von
Klein, Gordan, Clebsch-Lindemann. Hurwitz sprach im Colloquium über Hamil-
tons Quaternionen-Calcul und Kugelfunktionen132 und führte Beweise für Sätze
von Klein aus.133 Klein anerkannte die studentische Mitarbeit, fügte z.B. in seiner
erwähnten Arbeit „Zur [Systematik der] Theorie der elliptischen Modulfunktio-
nen“ (zuerst am 6.12.1879 in der Akademie der Wissenschaften zu München vor-
gestellt) zwei Fußnoten an: „Hr. Stud. Hurwitz, der mich bei solchen Untersu-
chungen unterstützte, wurde dabei für den 23. und 47. Transformationsgrad zu
solchen eleganten Gleichungen geführt […]“ und „Ich hatte zunächst nur mit den
x0 : x1: x2 : x3 operirt; das Resultat, wie es im Texte mitgetheilt ist, rührt von Herrn
Hurwitz her.“134 Wie Klein sich vorstellte, Adolf Hurwitz zur Promotion zu len-
ken, dürfte von breiterem Interesse sein. Klein meinte, dass Hurwitz in Leipzig
promovieren könne und schlug noch von München aus vor:
125 Brief Kleins an Hurwitz v. 6.10.1878 [UBG] Math. Arch. 77: 11, Bl. 17.
126 Ebd., 13, Bl. 20, 20v, Brief Kleins an Hurwitz v. 22.10.1878.
127 Ebd., 18, Bl. 30, Brief Kleins an Hurwitz v. 19.1.1879.
128 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 884, Bl. 36 (Hurwitz an Klein, Brief v. 24.3.1879).
129 Ebd., 872/2, Bl. 3v. (Brief v. 24.9.1878 ) – Hurwitz unterzeichnete mit: „Ihr, Sie hochschät-
zender ehemaliger und hoffentlich zukünftiger Schüler Adolf Hurwitz“ (Bl. 4).
130 Vgl. auch HILBERT 1921.
131 [UBG] Math. Arch. 77: 16; 27/1 (Briefe Klein an Hurwitz, 17.11.1878; 2.10.1879).
132 [Protokolle] Bd. 1, 89-108; dort 106-108 auch ergänzende Hinweise von Klein.
133 Vgl. z.B. Hurwitz an Klein, Brief v. 27.9.1879 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 887.
134 Zitiert nach dem Wiederabdruck in den Math. Ann. 17 (1880) 62-70, Zitate 69 und 70.
4.2 Entfaltung zur mathematischen Individualität 175
Ich möchte dabei, wenn Sie das gestatten, etwas mehr in persönliche Zucht nehmen, als bis-
her; also etwa so, wie ich es diesen Sommer hindurch mit Bianchi machte. Bislang habe ich
Ihnen nur allgemeine Fragestellungen bezeichnet, die Gebiete benannt, in die Sie eindringen
mußten, und Ihnen nur gesprächsweise Schwierigkeiten, die Sie fanden, aus dem Wege ge-
räumt. Die eigentliche Formulirung und Inangriffnahme des Thema’s blieb Ihnen überlassen.
Jetzt möchte ich das anders machen. Ich möchte Ihnen eine Zeit lang eine specielle Frage
nach der anderen vorlegen, die ich Sie dann bitte jeweil[s] bis zum Abschlusse zu bearbeiten.
Diese Fragen sollen natürlich genau in der Richtung Ihres Thema’s liegen und womöglich aus
unseren Besprechungen, resp. Correspondenz heraus erwachsen. Sie verzichten dabei auf ei-
nen Theil Ihrer Selbständigkeit, um später desto selbständiger dem Stoffe gegenüber zu ste-
hen. In gleichem Sinne werde ich Sie vielleicht in Leipzig bitten, neben meinem Colleg über
Functionentheorie (bei dem ich in ähnlicher Weise auf Ihre Unterstützung rechne, wie ver-
gangenen Winter bei der analytischen Mechanik) möglichst wenig Anderes zu hören.
Wenn ich nun gleich mit einer ersten Frage kommen darf, so wäre es die: Die Theorie
der neuen Multiplicatorgleichungen, wie ich sie Annalen XV, p. 86 entwarf und auf die sich
die neueren Kiepert’schen Arbeiten beziehen, durchzuarbeiten. Weshalb existiren diese Glei-
chungen für Primzahlen >3 ? Wie ist es bei 2 und 3 ? Wie bei zusammengesetzten Zahlen?
Wie insbesondere bei Potenzen von 2 oder 3? – Alles womöglich ohne σ–Functionen, bloß
aus functionentheoretischen Anschauungen über Modulfunctionen heraus, zu machen. Ich
brauche kaum hinzuzufügen, wie stark mein eigenes Interesse an dieser ersten Fragestellung
betheiligt ist. Denn ich sagte Ihnen wohl schon einmal, daß ich für die verschiedenen Behaup-
tungen meiner betr. Note keine mittheilbaren Beweise besitze. Ich war vollständig von der
Richtigkeit dieser Dinge überzeugt; sonst hätte ich die Note nicht geschrieben. Aber ich
konnte wenigstens vergangene Osterferien, wo ich eine Zeit lang daran dachte, selbst diese
Multiplicatorfragen aufzunehmen, die betr. Gründe nicht ohne Weiteres explicite auseinan-
derlegen.135
Hurwitz nahm das Programm dankbar an und gelangte in regem Austausch mit
Klein zum Abschluss seiner Dissertation Grundlagen einer independenten Theo-
rie der elliptischen Modulfunctionen und Theorie der Multiplicator-Gleichungen
erster Stufe (eingereicht am 23. März 1881). Am 6. Dezember 1880 entwickelte er
im (ersten Leipziger) Seminarvortrag „Über die Bildung der Modul-Functionen“
bereits maßgebliche Ergebnisse, anknüpfend an Eisenstein, Cayley, Weierstraß.
Hilbert unterstrich Hurwitz’ Aufgreifen von Kleins Ideen. Hurwitz schuf
[…] auf Anregung von Klein mit Benutzung Eisensteinscher Ansätze eine von der Theorie
der elliptischen Funktionen unabhängige Theorie der elliptischen Modulfunktion […]. Ein
Hauptteil dieser Dissertation handelt von den sogenannten Multiplikatorgleichungen, die
Hurwitz im Anschluß an die Arbeiten von Klein und Kiepert mit der ihm eigenen Gründlich-
keit und Sorgfalt studiert.136
135 [UBG] Math. Archiv 77: 38, Bl. 60, 60v (Klein an Hurwitz, 21.8.1880). – Die mathematische
Frage beantwortete Klein noch selbst, mit Gordan beratend, bevor Hurwitz neu startete.
136 HILBERT 1921, 161-62.
176 4 Professur am Polytechnikum in München
137 [Protokolle] Bd. 1.2, 44-51; 75-78. – Smiths Arbeit „Sur les équations modulaires“ war zuerst
1874 der Pariser Akademie vorgelegt worden, vgl. auch KLEIN 1923 GMA III, 7-9.
138 Ricci, M.M.G.; Levi-Civita, T. (1901): « Méthodes de calcul différentiel absolu et leurs
applications. » Math. Ann. 54, 125-201.
139 KLEIN 1927, Vorlesungen II, 189-95, 205; vgl. auch Abschnitt 9.2.2.
140 [Protokolle] Bd. 1.2, 94-97; Bd. 2, 6-27.
141 KLEIN 1923 GMA III, 179-85, Zitat 183. – Zu „Kleins Prinzip der Stufenteilung“ vgl. auch
FRICKE 1913a, 277-79.
142 Bianchi, L. (1880): „Ueber die Flächen mit constanter negativer Krümmung“. Math. Ann. 16,
577-82; Bianchi, L. (1880): „Ueber die Normalformen dritter und fünfter Stufe des ellipti-
schen Integrals erster Gattung“. Math. Ann. 17, 234-62.
4.3 Gesprächskreise in München 177
meine Scheu, mich dieses Hilfsmittels, wie auch der Thetareihen allgemein zu
bedienen. Er hat so das Beste getan, um die Brücke von meinen Untersuchungen
zu den Entwicklungen der Weierstrassischen Schule, insbesondere zu den gleich-
zeitigen Arbeiten meines Freundes Kiepert zu schlagen […].“143 Ludwig Kieperts
Arbeit war bereits am 29. Juli 1879 im Colloquium durch Julius Amelung bespro-
chen worden.144 Es bedurfte jedoch der Mitarbeit von Bianchi, damit Klein die
Ansätze in sein Methodenarsenal integrieren konnte. Noch im Februar 1924 be-
antragte Klein, Luigi Bianchi zum Korrespondenten der Göttinger Gesellschaft
der Wissenschaften zu wählen.145
Klein war sich bewusst, wie wichtig die Kooperationen für seine Forschungen
waren. Ein handschriftlicher Eintrag in seinem Protokollbuch vom Samstag, den
14. Februar 1880, deutet an, dass er die Arbeit einordnete und lenkte:
Der Unterzeichnete sprach über den gegenwärtigen Stand seiner Untersuchungen über ellipti-
sche Modulfunctionen, mit der besonderen Absicht, die Bedeutung zu kennzeichnen, welche
die Arbeiten der einzelnen Colloquiumsmitglieder für diese Untersuchungen besitzen.
F. Klein146
Klein kooperierte mit den studentischen Mitarbeitern und wie bisher mit weiteren
Kreisen. Dazu gehörten ein Mathematisches Kränzchen mit Technik- und Natur-
wissenschaftlern, ein Mathematischer Studentenverein sowie eine Mathematische
Gesellschaft gemeinsam mit den Mathematikern der Universität München, wor-
über wir unterschiedlich genau unterrichtet sind. Außerdem engagierte er sich
maßgeblich bei der Organisation der 1877 in München stattfindenden Jahresver-
sammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte.
Kleins früh erwachtes Interesse für Technik gewann in München neue Nahrung.
Der bereits genannte Johann Bauschinger hatte 1870 das erste mechanisch-techni-
sche Laboratorium an einem Polytechnikum, gegründet, welches als Keimzelle
staatlicher Materialprüfanstalten gilt.147 Noch wichtiger wurde Carl Linde für
Klein. Linde lehrte in seinen Vorlesungen zur theoretischen Maschinenlehre die
mathematischen Grundlagen dieses Gebietes, benutzte graphische Methoden und
Carl Linde war nach Maschinenbaustudium an der ETH Zürich ohne Abschluss,
Tätigkeit in einem Berliner Zeichenbüro, 1866 in das Technische Büro der Loko-
motivenfabrik Krauß & Co., München, gelangt und 1868 als a.o. Professor für
Theoretische Maschinenlehre an das Polytechnikum berufen worden. Linde hatte
1871 seine erste Kältemaschine entworfen und 1872 eine o. Professur erhalten.
Seine Kältemaschinen (Kühlschränke) fanden vor allem in Brauereien reißenden
Absatz. Klein notierte, dass er mit Linde im Dezember 1875 im Spatenbräu
war,150 damals die größte Brauerei in München, deren Geschichte bis ins 14. Jahr-
hundert zurückreicht. Linde gründete 1879 mit zwei Brauern die „Gesellschaft für
Linde’s Eismaschinen AG“, die erfolgreich am Markt agierte. Sein Lehramt gab
er zunächst auf, hielt später (1892-1910) erneut Vorlesungen. Klein sah, dass Lin-
des Versuchsanstalt Praxis und Theorie gleichermaßen förderte und erstrebte
später ähnliche Großlaboratorien für Göttingen. Er urteilte:
Ein vortreffliches Beispiel für die Leistungsfähigkeit der technischen Physik nach beiden
Seiten hin [Praxis & Theorie; R. To] gibt der ausgezeichnete Luftverflüssigungsapparat, mit
welchem Linde 1895 hervortrat. Man hatte bis dahin die Abweichung, welche zwischen dem
tatsächlichen thermodynamischen Verhalten der atmosphärischen Luft und dem idealen
Schema des Mariotte-Gay Lussacschen Gesetzes besteht, als etwas beiläufiges betrachtet; hier
ist sie mit größtem praktischen Erfolge zum Prinzip der Konstruktion gemacht.151
Klein und Linde verband das Interesse an einem engen Bezug von Mathematik,
Physik und Technik. Aus ihren anfänglichen Zweiertreffen erwuchs zu Beginn
des Jahres 1876 das Mathematische Kränzchen. Neben Klein, Linde und Alexan-
der Brill zählten der Physiker und Meteorologe Wilhelm von Bezold und der In-
genieurwissenschaftler Ferdinand Loewe dazu. Von Bezold hatte noch bei Rie-
mann gehört und gab später eine Nachschrift einer Riemann-Vorlesung (1858/59)
an die Göttinger Universitätsbibliothek, welche die Probleme der (x + iy) – Kugel
behandelte, die für Kleins Übertragungsprinzipien in Verbindung mit dem Ikosae-
derthema wichtig geworden war.152 Bezolds Habilitationsschrift Ueber die physi-
kalische Bedeutung der Potential-Funktion in der Elektricitätslehre (München
1861) fiel ebenfalls in Kleins Interessenspektrum. Loewe widmete sich den
Schienenwegen für Eisenbahnen und dem Straßenbau. Damit bestand ebenfalls
Kontakt zu Georg Krauß, dem Gründer der erwähnten Lokomotivfabriken Krauß
& Co., dessen erste Lokomotive 1867 eine Goldmedaille auf der Weltausstellung
in Paris errungen hatte. Krauß förderte auch Carl Lindes Kältemaschinen. Es ver-
wundert nicht, dass die Münchener Unternehmen Kleins spätere wissenschaftlich-
technische Bestrebungen besonders schnell unterstützen sollten (vgl. 7.8).
Wenn Klein am 2. Dezember 1898 die höchste Auszeichnung Bayerns, den
Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (Abtheilung Wissenschaft) und im
Jahre 1905 den Ehrendoktortitel der TH München erhalten sollte (vgl. Abb. 39),
wenn ihm 1909 der dritte Vorsitz des Deutschen Museums von Meisterwerken der
Naturwissenschaften und Technik in München angetragen wurde, so hatte nicht
nur sein Doktorschüler Walther Dyck daran maßgeblichen Anteil. Es wirkten sich
auch die engen Kontakte zu Vertretern technischer Fächer aus.
Der Studentenverein ist erwähnenswert, weil es Felix Klein war, der die Grün-
dung initiierte.153 Als sich die Zahl seiner mathematisch interessierten Studenten
wieder erhöht hatte, regte er im Jahre 1877 an, dass diese aus ihrem „Mathemati-
schen Zirkel“ einen im Vereinsregister eingetragenen Mathematischen Verein
bilden mögen – so wie er es selbst von Bonn, Göttingen und Berlin kannte. Isaak
Bacharach154, Walther Dyck, Joseph Gierster, Franz Meyer, Max Planck, Karl
Rohn und weitere damals unter Klein und Brill Studierende erarbeiteten
Satzungen, die im Mai 1877 sowohl von der Universität als auch von der Techni-
schen Hochschule bestätigt wurden. Klein hielt den Kontakt zu diesem Verein,
folgte deren Einladungen zu besonderen Anlässen. Als feststand, dass er zum
Herbst 1880 an die Universität Leipzig wechseln wird, gab es am 31. Juli 1880
eine Studentendeputation,155 die das Bedauern über den Weggang ausdrückte.
In einer Mathematische Gesellschaft trafen sich die Münchener Hochschul-
lehrer, Professoren und Dozenten der Mathematik und Physik von Universität und
Polytechnikum. Über den konkreten Inhalt der Treffen ist allerdings kaum etwas
bekannt.156 Die Zusammenkünfte konnten nützlich sein, um den wissenschaftlich
begabten Schülern von Klein und Brill auf den Weg zu helfen. Hier konnten auch
Habilitationen besprochen werden; in diese Zeit fiel die Habilitation von Alfred
Pringsheim im November 1877, die Klein in seinen Aufzeichnungen erwähnte.157
Pringsheims Richtung, orientiert an der Analysis von Weierstraß, entsprach offen-
sichtlich eher den Vorstellungen der Münchener Universitätsprofessoren, die
Kleins geometrisch an Riemann orientierten Schülern die Habilitation verweiger-
ten. Klein führte später mit Pringsheim einen heftigen öffentlichen Disput über die
Art und Weise von Anfänger-Vorlesungen (vgl. Abschnitt 8.3.4.1). Dennoch be-
teiligte sich Pringsheim als Autor an der ENCYKLOPÄDIE.
Die erste Sitzung startete mit Luigi Cremona und Sophus Lie, die Klein per-
sönlich eingeladen hatte. Cremona sprach Ueber Polsechsflache bei Flächen
dritter Ordnung, Lie Ueber Minimalflächen, insonderheit über relle algebraische.
Danach folgten Alexander Brill mit einem Beitrag über das Modelir-Cabinet und
mehrere Modelle sowie Kleins Vortrag Ueber die Gestalten der Kummer’schen
Fläche. Brill und Klein warben mit Hinweisen auf die Modelle vom Verlag Lud-
wig Brill in Darmstadt, die im mathematischen Institut der TH München gestaltet
worden waren. Klein präsentierte vier Arten der allgemeinen Kummerschen Flä-
che und klassifizierte sie, basierend auf älteren und neueren Ergebnissen:
Man hat vier Arten der allgemeinen Kummer’schen Fläche zu unterscheiden, je nachdem von
den 6 linearen Fundamentalcomplexen alle oder nur 4, 2, 0 reell sind. Im ersteren Falle hat
die Fläche 16 reelle Doppelpuncte und Doppelebenen, im zweiten nur 8, im dritten und vier-
ten 4; die beiden letzten Fälle unterscheiden sich dadurch, dass einmal die 4 Doppelebenen zu
je 2 durch die 4 Knotenpuncte hindurchgehen, das andere Mal nicht (wie bei der Fres-
nel’schen Fläche). Diese vier Arten entsprechen einzeln den vier Arten reeller hyperellipti-
scher Integrale (p = 2), die man nach der Realität der Verzweigungspuncte unterscheiden
kann, und deren Verlauf durch die betr. Flächen versinnlicht wird.
Zwischen diese 4 Arten der allgemeinen Fläche reihen sich nun eine grosse Reihe von Ueber-
gangsfällen und Ausartungen. Zu ihnen gehören vor Allem die Plücker’schen Complexflä-
chen. Man kann alle diese Gestalten durch continuirlichen Uebergang aus einander ableiten
und gewinnt so einen vollen Ueberblick über die grosse Reihe der vorhandenen Möglichkei-
ten.164
1878 reichte Kleins Schüler Karl Rohn seine Dissertation Betrachtungen über die
Kummersche Fläche und ihren Zusammenhang mit den hyperelliptischen Funkti-
onen p = 2 (München: Straub) ein, und entwickelte schließlich eine übersichtliche
Methode, um zunächst die Gestalten Kummerscher Flächen zu erfassen, die keine
mehrfachen Geraden enthalten.165
Auf das Zusammentreffen mit Sophus Lie anlässlich der Naturforscherver-
sammlung hatte sich Klein besonders gefreut und alle Hebel in Bewegung gesetzt,
damit dieser für längere Zeit nach München kam. Lie hatte Kleins Angebot, vor
der Tagungszeit bei ihm zu Hause zu wohnen, angenommen. Er berichtete nach
Hause über Kleins „ausgesucht liebenswürdige“ Frau und dessen „hübschen star-
ken Jungen“,166 der am 6. August 1877 gerade ein Jahr alt geworden war. Aller-
dings blieb nicht die erhoffte Zeit, um tatsächlich gemeinsam zu arbeiten.
Lie hatte über sein Vortragsthema bereits im norwegischen Archiv for Mathe-
matik og Naturvidenskab publiziert und wurde während der Tagung auf einen
Fehler hingewiesen. Lebrecht Henneberg, der 1875 bei Hermann Amandus
Schwarz in Zürich über Minimalflächen promoviert hatte, war auf Lies Fehler
gestoßen. Lie war deshalb nach der Tagung nur darauf konzentriert, den Fehler zu
berichtigen. Darüber hinaus ärgerte er sich über H. A. Schwarz, der Lies Fehler
überall ausposaunt habe, sowie über Reaktionen von Alexander Brill. Hinzu traten
betrübliche Nachrichten aus der Heimat, so dass mit Lie nichts anzufangen war.167
Im Tagungsbericht steht zu Lies Vortrag: „Der Verfasser theilt nachträglich
mit, dass er den Fall, in welchem die Minimalfläche eine Doppelfläche wird, nicht
hinreichend berücksichtigte. Tritt dieser Fall ein, so sind die Formeln der Ordnung
und Classe, welche der Verfasser angab, durch 2 zu dividiren.“168 Klein behielt
das Thema im Auge und ließ im Colloquium über Minimalflächen (Arbeiten von
Lie, Schwarz, Weierstraß; Sätze von Henneberg) vortragen.169 Später gewann er
Lebrecht Henneberg, der 1878 a.o und 1879 o. Professor an der TH Darmstadt
wurde, als Autor und Berater für Technische Mechanik bei der ENCYKLOPÄDIE.170
Kleins zweiter Beitrag auf der Naturforscherversammlung bezog sich auf
seine neuen Forschungen zur Theorie der elliptischen Funktionen. Er konnte ihn
allerdings aus Zeitgründen nicht halten. Die Ankündigung lautete:
g23
Man hat folgenden Satz: Bewegt sich die absolute Invariante Δ
einer biquadratischen Func-
3 2
tion R (x) [wo Δ = g 2 - 27 g 3 in der gewöhnlichen Bezeichnung] bei der Darstellung ihrer
Werthe in der complexen Ebene über die positive Halbebene, so durchläuft der Werth des Pe-
riodenverhältnisses K des elliptischen Integral’s dx ein Kreisbogendreieck mit den
K' ∫ R(x)
Winkeln 0°, 60°, 90°: Sechs von diesen Dreiecken in bestimmter Weise nach dem Gesetze
der Symmetrie an einander gereiht bilden ein neues Kreisbogendreieck mit den Winkeln 0, 0,
0, und dieses ist eben dasjenige, über welches sich bekanntermassen K bewegt, wenn der
K'
Modul k2 des elliptischen Integrals seine positive Halbebene durchläuft.171
Sophus Lie kommentierte dieses Ergebnis von Klein positiv, meinte, vielleicht
selbst mal diese Richtung einschlagen zu wollen und führte aus: „Eigentlich ist es
merkwürdig, wie wenige Menschen es gibt, die sich wirklich eine kühne geome-
trische Denkweise angeeignet haben. Wir haben es wohl von Plücker gelernt: Auf
jeden Fall haben wir Grund, Plücker stets dankbar zu sein.“172
Zu den Vortragenden der Sektion gehörten zudem Guiseppe Jung aus Italien,
einige aus Österreich (Oscar Simony173, Simon Spitzer), Paul Gordan, Ferdinand
Lindemann und einige weniger bekannte Wissenschaftler.174 Ohne Vortrag
beteiligten sich: der Mathematikhistoriker Moritz Cantor (Heidelberg), Sigmund
Gundelfinger (Tübingen), Reinhold Hoppe (Berlin), Kleins Freund Ludwig Kie-
pert, damals noch a.o. Professor in Freiburg, Jacob Lüroth (Karlsruhe), Kleins
Freund Friedrich Neesen, jetzt Privatdozent in Berlin, Max Noether aus Erlangen,
167 Vgl. STUBHAUG 2003, 276, 278; Brief v. Lie an Klein [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 655/1.
168 Amtlicher Bericht 1877, 94.
169 [Protokolle] Bd. 1.2, 22-23, 74-75.
170 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 680-682 (Henneberg an Klein, 13.1.1892 – 9.11.1899).
171 Zum abstract vgl. AMTLICHER BERICHT 1877, 104.
172 Zitiert nach STUBHAUG 2003, 279.
173 Simony könnte hier zu seinem „Programm einer Topologie als Erfahrungswissenschaft“ (vgl.
EPPLE 1999, 179) angeregt worden sein.
174 Zu den Vorträgen und Themen vgl. TOBIES/VOLKERT 1998, 241-42.
184 4 Professur am Polytechnikum in München
Theodor Reye von Straßburg, Rudolf Sturm von Darmstadt, Kleins alter Studien-
freund Otto Stolz, seit 1872 Professor an der Universität Innsbruck, Kleins Stu-
dent Walther Dyck.175 Klein hatte damit gute Freunde und Bekannte zum Kom-
men nach München bewegen können. Das breite Spektrum deutscher Mathematik
repräsentierten sie jedoch nicht.
Bereits für November 1876 notierte Felix Klein: „wieder reif für Univ[ersität] in
kleiner Stadt“.176 An die größere Stadt Leipzig dachte er zunächst nicht, als dort
1877 nach einem Ersatz für August Ferdinand Möbius gesucht wurde. Klein
empfahl Max Noether, der noch immer auf eine ordentliche Professur wartete,
und seinen Doktorschüler Ferdinand Lindemann:
Wenn man in Leipzig wirklich einen Geometer sucht, so nenne ich zunächst Nöther; ich
nenne dann zu zweit Lindemann, der sich eben in Würzburg habilitirt. Aber es ist ja noch ver-
früht, darüber ausführlicher zu schreiben?177
Für Kleins Wegsehnen aus München gab es verschiedene Ursachen. Bereits ange-
deutet wurden: Zwistigkeiten mit Technikern wegen der reorganisierten Lehre;
der langwierige Prozess, einen Assistenten zu erhalten; Probleme mit den Mathe-
matikern der Universität bei Promotions- und verhinderten Habilitationsverfahren,
seine späte Wahl zum außerordentlichen, nicht ordentlichen Mitglied der Kgl.
Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Der von Bauer und Seidel formulierte
Wahlvorschlag (vgl. Anhang Nr. 3) enthält manche Spitze und wird Kleins schon
beträchtlicher internationaler Ausstrahlung nicht gerecht.
Außerdem hatte sich das Verhältnis zu Alexander Brill verschlechtert, ob-
gleich Klein mit ihm Lehrtätigkeit und private Reisen (1876 nach Regensburg, ins
Allgäu, zu Gordan; 1877 Pfingsten in die Berge) versucht hatte. Brill neidete
Klein die Position bei den Mathematischen Annalen und die Akademie-Mitglied-
schaft. Der sieben Jahre ältere Brill wurde erst 1882 a.o. und 1885 o. Mitglied in
der Bayerischen Akademie. Mayer schrieb, Klein sei durch Brill’s Neid u.
Eifersucht, Brill’s missgünstiges Wesen irritirt und nervös gemacht worden.178
Darboux erfuhr, dass sich Klein abgebraucht, und im Laufe der Zeit so über-
arbeitet gefühlt habe179, dass ernsthafte gesundheitliche Probleme auftraten. Klein
arbeitete ständig auf Hochtour und zweifelte wiederholt an sich selbst. Bereits für
die Zeit nach dem ersten Münchener Semester hatte er notiert: Semesterabspan-
nung. Skrupel wegen wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit. Und etwas später: Nur
Produktion ist Befriedigung.180
Als ihm der Arzt Gartenarbeit als Therapie verordnete, bezog Klein im Frühjahr
1880 ein Landhaus mit grossem Garten in der Forstenriederstraße 8.185 Er hatte
am 1. März 1880 beim Kgl. Directorium der Technischen Hochschule „Erleichte-
rungen für den Augenblick und das kommende Sommersemester“ beantragt. Auf
seinen Wunsch hin durfte er die Vorlesungen vom Winter 1879-80 eine Woche
früher schließen. Brill übernahm seine Examen der Ingenieure. Für das Sommer-
semester blieben Klein die schon „angekündigte (nicht obligate) Specialvorlesung
über analytische Mechanik, Theil II, nebst dem zuständigen mathematischen Se-
minar“ erlassen.186
Gordan kannte Kleins Rastlosigkeit und schrieb ihm am 24. April 1880: „Viel
Glück zur Gärtnerei und zu Ihrem morgigen Geburtstag; wenn Sie nur wirklich
nicht [mathematisch] arbeiten!“187 Klein beschränkte sich auf das Seminar mit
Dyck und Bianchi, die ihn zu Hause aufsuchten. Hurwitz, ebenfalls erkrankt, blieb
bei den Eltern in Hildesheim. Klein empfahl ihm, sich auszuruhen: „Betrachten
Sie mich als warnendes Exempel.“ Zwar bestellte er ihn im April schon wieder zu
sich (Forstenrieder Str. 8), schrieb aber Hurwitz’ Eltern am 10. Mai 1880, dass ihr
Sohn mit „specifisch-mathematischer Begabung liebenswürdige Charaktereigen-
schaften“ verbinde, aber aufgrund seiner Gesundheit ein Semester ausspannen
solle.188 Die Eltern stimmten zu und Hurwitz grüßte mit:
Zieh hinaus bis an das Haus, wo die Moduln spriessen, wenn Du einen Hauptmodul schaust,
sag’ ich lass ihn grüßen.189
Obgleich Gartenarbeit auch heute noch als probates therapeutisches Mittel gilt,
um nervösen geistigen Erschöpfungen zu begegnen, so schien bei Klein der Ruf
an einen anderen Ort mehr als alles andere seine Aktivität erneut anzuregen.
Adolph Mayer eröffnete ihm am 3. März 1880 im Vertrauen:
Die Facultät also hat sich endlich ermannt, dem Ministerium die Gründung einer o. Professur
für Geometrie vorzuschlagen u. hat in erster Linie Sie dafür genannt. […] Die Aussicht ist
also, wie schon gesagt, noch eine sehr zweifelhafte, aber wir alle hier wirken mit allen unse-
ren Kräften für Sie u. wollen auch namentlich keinen anderen als Sie hierherhaben.190
Der Vorgang gestaltete sich schwieriger als erwartet. Mayer begab sich mehrfach
persönlich zum zuständigen Minister Carl von Gerber nach Dresden, der eine
zeitlang Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Leipzig gewesen
war.191 Mayers Verzicht auf einen Teil seines Gehalts zugunsten von Klein soll
den zögernden Minister überzeugt haben.192
Mayer entstammte einer Bankiersfamilie und war finanziell nicht auf das Ge-
halt angewiesen. Für Klein dagegen bedeutete der Ruf nach Leipzig auch eine
Entschärfung seiner finanziellen Situation. Geldsorgen hatte er bereits für Februar
1876 notiert, deshalb eine Anleihe aufgenommen. Eine 1879 abgeschlossene Le-
bensversicherung brachte ihm weitere finanzielle Beengung, welche die ange-
spannte gesundheitliche Situation verschärft und Klein mit Hilfe seines Vaters zu
klären versucht hatte.193 In der Folge beriet Klein finanzielle Dinge mehrfach mit
Gordan, der wie Mayer aus einer Bankiersfamilie stammte.
Die Rufanfrage vom Sächsischen Kultusministerium kam zum 21. Mai 1880,
und Klein entschied sich binnen einer Woche positiv.194 Bereits im Juni war er
wieder aktiv, informierte Hurwitz, dass er ihn natürlich in Leipzig brauchen
würde. Nebenher kümmerte sich Klein in München um die Nachfolge für den ver-
storbenen Klingenfeld. Klein sorgte dafür, dass dessen Lehrauftrag Darstellende
Geometrie Walter Dyck übertragen wurde, sodass dieser für das spätere entspre-
chende Wirken in Leipzig gut vorbereitet wurde.
188 [UBG] Math.Arch. 77: 30, 32, 34, Klein an Hurwitz, 26.3., 22.4., 10.5.1880.
189 Hurwitz an Klein Brief v. Mai 1880 (gedichtet frei nach Heinrich Heine: Frühlingsbotschaft)
[UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 890, Bl. 46v.
190 TOBIES/ROWE 1990, Mayer an Klein, Brief v. 3.3.1880.
191 Ebd., Mayer an Klein, Briefe v. 7.3., 17.4., 19.4., 24.4.1880.
192 Vgl. WITTING 1910, 41.
193 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München, Bl. 1 und 4.
194 [StA Dresden] 10282/17, Bl. 3-6v.
4.4 „Wieder reif für Universität in kleiner Stadt“ 187
Im Juni 1880 weilte Arthur Cayley für mehrere Tage bei Klein zu Besuch195
und veranlasste, dass dieser einen Überblick über seine jüngsten Arbeiten für die
Proceedings der Royal Society verfasste. Dies brachte Cayley, wie erwähnt (vgl.
4.2.3), selbst ins Englische. Auch der schwedische Mathematiker Gösta Mittag-
Leffler besuchte Klein und Brill Anfang Juli 1880 in München, nachdem er in
Italien und der Schweiz unterwegs gewesen war.196 Klein kannte Mittag-Leffler
somit bereits persönlich, bevor dieser die Zeitschrift Acta Mathematica starten
sollte (vgl. 2.4.2).
Paul Gordan gönnte Klein die neue Position in Leipzig und gab Empfehlun-
gen für die Nachfolge an der TH München:
Lieber Klein!
Die Nachricht von Ihrem Rufe hat mich so herzlich gefreut, als ob ich selbst einen bekommen
hätte. Nach Leipzig gehören Sie hin weg aus dem Münchener Mähren, wo man 3 Jahre nöthig
hatte, um Sie zum außerordentlichen Mitglied der Academie zu machen. Verfahren Sie nur
nicht leichtsinnig in der Besetzung Ihrer jetzigen Stelle. Meine Ansicht ist: primo loco
Lüroth, secundo loco Kiepert, doch das unter uns.
Herzlichen Gruß
Ihr Gordan197
Gemäß Antrag von Klein, Brill und Bischoff erhielt der aus der Clebsch-Schule
stammende Jacob Lüroth, bisher am Polytechnikum Karlsruhe (seit 1885 Techni-
sche Hochschule), Kleins bisherige Professur. An zweiter Stelle auf der Beru-
fungsliste stand nicht der mit Felix Klein befreundete Weierstraß-Schüler Ludwig
Kiepert, sondern Kleins Doktorschüler Axel Harnack.198
Diese Art von Berufungspolitik hatte sich durch den dominanten Einfluss
Berliner Mathematiker ergeben, die Clebsch-Schüler nicht hochkommen lassen
wollten. Die Gegnerschaft wurde von beiden Seiten bewusst empfunden. Wie der
Vorgang in München von Mathematikern zur Kenntnis genommen wurde, die in
Berlin den Doktortitel erworben hatten, verdeutlichen Ludwig Kieperts Worte an
Hermann Amandus Schwarz, dass alle Anhänger der Berliner Richtung eng zu-
sammenhalten müssten und aus der Berufungspolitik der Gegenseite lernen soll-
ten.199 Kiepert war seit 1879 auf einer Professur an der TH Hannover, von wo er
nicht wieder wegkam und einen eingeschränkten wissenschaftlichen Wirkungs-
kreis besaß (keine Lehramtausbildung; Promotionsrecht erst 1899). Allerdings
versagte er die Kooperation mit dem „lieben Felix“ nicht, immer hoffend, den Ort
noch einmal wechseln zu können.200 H. A. Schwarz dagegen sollte, wie gesagt,
durchaus versuchen, Felix Klein zu behindern (vgl. bes. Abschnitt 5.8.2).
Felix Klein kam im Oktober 1880 in die führende deutsche Messestadt, die seit
1165 das Stadtrecht und seit 1409 eine Universität besaß. An dieser einzigen Uni-
versität des Königreichs Sachsen hatten sich zum Wintersemester 1880/81 3.326
Studenten eingeschrieben, mehr als an jeder anderen deutschen Universität.3 Bei
der Volkszählung am 1. Dezember 1880 war Leipzig mit 149.081 Einwohnern die
sechstgrößte deutsche Stadt, nach Berlin, Hamburg, Breslau, München und Dres-
den. Die sächsische Landeshauptstadt Dresden mit 220.818 Einwohnern besaß ein
Königlich-Sächsisches Polytechnikum mit Ingenieur- und Lehramtausbildung4 als
höchste Bildungseinrichtung. Hier erhielten einige Schüler Kleins früh Professu-
ren. In Leipzig befand sich das Zentrum des deutschen Verlagswesens. Mit dem
Verlagshaus B.G. Teubner pflegte Klein langjährige Kontakte.
Leipzig war ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Um 1880 existierten hier sie-
ben Bahnhöfe; für die Innenstadt wurde die Pferde-Eisenbahn (ab 1896 Straßen-
bahntrasse) weiter ausgebaut.5 Als dritte deutsche Stadt nach Berlin und Hamburg
erhielt Leipzig bereits 1701 eine Straßenbeleuchtung (Öllampen). Zu Kleins Zeit
gab es hier inzwischen Gas und elektrisches Licht, worauf in der Kleinstadt Göt-
tingen noch längere Zeit gewartet werden musste. Leipzig besaß einen Namen als
Stadt des Theaters und der Musik, mit dem Thomanerchor seit 1212 und dem
Gewandhausorchester, dessen Wurzeln bis 1479 zurückreichen. Klein selbst war
zwar wenig musikalisch begabt, dafür waren es seine Frau, Schwägerin Sophie
und seine jüngste Tochter Elisabeth (vgl. 3.6.3).
Adolph Mayer hatte Kleins Familie eine Wohnung in der zweiten Etage eines
fünfgeschossigen Hauses in der Sophienstraße 10 (heutige Shakespearestraße)
vermittelt, sowie ein Haus- und ein Kindermädchen für den vierjährigen Sohn
Otto und die elf Monate alte Tochter Luise.6 Die kleine Straße lag günstig in der
Nähe des Bayerischen Bahnhofs und fußnah zur Innenstadt, wo sich die zentralen
189
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R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_5
190 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Gebäude der Universität befanden. Im Mai 1885 wechselten sie in die So-
phienstraße 31/II, weil ein weiteres Kind erwartet wurde.7 Die am 11. Juli 1885
geborene Tochter erhielt – wie Kleins Mutter – den Vornamen Sophie. Wir kön-
nen diesen Namen auch mit dem Straßennamen, mit Sofja Kowalewskaja (Ma-
thematikprofessorin, Stockholm 1884) sowie mit Sophie Hegel, Anna Kleins
jüngster Schwester, assoziieren.
Nach der Auszeit im letzten Münchener Semester startete Klein in Leipzig er-
neut mit Volldampf. Er besaß den Anspruch, „wiss. und organisatorische Arbeit
nebst allseitiger Dozententätigkeit mit gleicher Energie neben einander herzufüh-
ren.“8 Seine Metapher für diese Zeit, „ein Mantel, der mir zu weit ist“,9 deutet
allerdings an, dass das mit Energie geladene Handeln nicht für alle Bereiche
durchzuhalten war. Um die „Weite des Mantels“ zu erhellen, soll auf die Vielzahl
der parallel laufenden Tätigkeiten geblickt werden.
Während Anna Klein die Wohnung in Leipzig einrichtete, hatte sich Felix
Klein Ende September 1880 nach Erlangen begeben. Hier redigierte er eine Arbeit
über Gleichungen 7. Grades für Paul Gordan und besprach mit ihm eigene, an
Bianchi anknüpfende Ideen.10 In Erlangen vollendete Klein sowohl die von Cay-
ley erbetene Arbeit für die London Mathematical Society (datiert 5.10.1880), als
auch seine Antrittsrede für die Professur in Leipzig (datiert 7.10.1880), vgl. 5.1.
Wie in der bayerischen Hauptstadt galt Kleins erste Initiative in Sachsen dem
institutionellen Rahmen für die Mathematiker, deren Lehre bisher im Augusteum,
dem Hauptgebäude der Universität am Augustusplatz, stattfand. Wenn Klein auch
Adolph Mayers Rat befolgt hatte, bei den Berufungsverhandlungen darauf zu ver-
zichten, Institut u. Assistent zu fordern,11 so versuchte er doch kurz nach dem
Amtseid, diese Wünsche durchzusetzen. (Abschnitt 5.2)
Zugleich wollte Klein seiner Vorstellung von einem abgestimmten Lehrpro-
gramm näher kommen. Als er sich jedoch nach den ersten drei Semestern wieder
überanstrengt hatte, griff er zu dem Mittel, das sich in München bewährt hatte: Er
schraubte das Vorlesungsprogramm zurück. (5.3)
Klein dehnte seine soziale Ader, „auf andere zu wirken“, junge Forscher zum
selbstständigen Arbeiten anzuregen, auf einen zunehmenden Personenkreis aus.
Die Erfolge seiner Bestrebungen müssen im Verein mit den zahlreichen Schülern
und Kooperationspartnern aus dem In- und Ausland gesehen werden. (5.4)
Kleins damalige mathematische Arbeiten zeugen vom Fortführen, Vertiefen,
Zusammenfassen bisheriger Ergebnisse. Dafür nutzte er stärker Methoden Berli-
ner Mathematiker. Er wähnte sein altes Münchener Programm in den Händen von
Schülern und plante ein eigenes anwendungsorientiertes Programm. Ein tieferer
Blick in Poincarés Arbeiten inspirierte ihn doch noch im alten Programm zu
7 Vgl. Brief Kleins an Hurwitz v. 20.6.1885 [UBG] Math. Archiv 77: 142.
8 Klein, Persönliches betr. Leipzig, in JACOBS 1979, Bl. 2.
9 Ebd.
10 [UBG] Math. Arch. 77: 40, Brief Kleins an Hurwitz, aus Erlangen v. 29.9.1880.
11 TOBIES/ROWE 1990, 118, Adolf Mayer an Klein, Brief v. 7.3.1880.
5.1 Start mit Antrittsrede 191
In Leipzig lehrten der 54-jährige Wilhelm Scheibner und der 48-jährige Carl Neu-
mann als Ordinarien. Adolph Mayer (41 Jahre) und Karl von der Mühll (39)
hatten Extraordinariate inne. Felix Klein, 31 Jahre alt, kam als dritter o. Professor,
mit Denomination für Geometrie. Bisher besaß keine deutsche Universität eine or-
dentliche Professur, die nur der Geometrie gewidmet war.
Mit Neumann, Mayer und von der Mühll war Klein seit 1873 durch die Re-
daktion der Mathematischen Annalen verbunden (vgl. 2.4.2). Scheibner hatte
Klein bei der Naturforscherversammlung 1877 besonders schätzen gelernt (vgl.
4.3.3). Im Antrag für die neue Professur war sehr geschickt mit der größeren Zahl
von Professuren in Berlin und Göttingen argumentiert worden.12 Eine beigefügte
lange Liste geometrischer Gebiete hatte demonstriert, dass die Mehrzahl davon in
Leipzig ohne zusätzliche Professur nicht hätte gelehrt werden können:
V. Geometrie.
a) Analytische Geometrie der Ebene / N.[eumann] u. M.[ayer]
b) Analytische Geometrie des Raumes / M.[ayer]
c) Theorie der krummen Flächen / Sch.[eibner] u. N.[eumann]
d) Descriptive Geometrie / Vacat
e) Höhere synthetische Geometrie (Möbius u. Steiner) / Vacat
f) Geometrie der Lage (Staudt u. Reye) / Vacat
g) Theorie der Invarianten und Covarianten / Vacat
h) Theorie der binären Formen / Vacat
i) Theorie der höheren algebraischen Curven und Flächen / Vacat
j) Theorie der Abbildung algebraischer Flächen (Cremona u. Clebsch) / Vacat
k) Theorie der Complexe (Plücker) / Vacat
l) Zusammenhang der algebraischen Curven mit der Theorie der elliptischen und
Abel’schen Functionen / Vacat
m) Theorie der Nicht-Euclidischen Geometrie / Vacat
n) Theorie der höheren Mannigfaltigkeiten / Vacat13
Über Felix Klein, der gemeinsam mit zwei seiner Schüler, Axel Harnack und Fer-
dinand Lindemann, vorgeschlagen worden war, war im Antrag formuliert worden:
[…] nennen wir in erster Linie einen der bedeutendsten Schüler des verstorbenen Clebsch,
den Dr. Felix Klein, Professor ord. am Polytechnikum in München, der sich sowohl durch
seine zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, als auch durch die Redaktion der mathemati-
schen Annalen außerordentliche Verdienste erworben hat um die weitere Ausbildung der
neueren Geometrie, der namentlich in letzter Zeit mittelst geometrischer Speculationen zu
wichtigen neuen Resultaten gelangt ist über die Theorie der algebraischen Gleichungen und
der Modulfunctionen, und der sich ausgezeichnet hat durch die Heranbildung tüchtiger
Schüler.14
Das Kgl. Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts in Dresden hatte
den Ruf wunschgemäß zum 1. Oktober 1880 ausgesprochen und Klein die acht
Dienstjahre als o. Professor in Bayern ohne Bedenken angerechnet. Es gewährte
eine jährliche Besoldung von 7.500 Mark und eine Umzugsbeihilfe von 1.800
Mark.15 Daneben waren Hörergelder zu erwarten. Ein Leipziger Student zahlte
pro Semester 15 Mark Honorar für eine vierstündige Vorlesung Felix Kleins (ab
WS 1884/85 16 Mark) sowie 1 M Stuhlgeld plus 0,50 M sog. Auditoriengeld;
Seminare und Übungen kosteten nichts.16
Am 25. Oktober 1880 hielt Klein seine Leipziger Antrittsrede mit dem Titel
„Über die Beziehungen der neueren Mathematik zu den Anwendungen“, die er
erst 15 Jahre später publizieren ließ, als er das darin formulierte Programm for-
ciert in Angriff nehmen sollte. An seine Münchener Erfahrungen anknüpfend,
begann Felix Klein mit den Worten:
Unter allen Wissenschaften ist kaum eine, die in Richtung allseitiger Verwendbarkeit eine
größere Bedeutung beanspruchen könnte, als die Mathematik. Nicht nur die benachbarten
Naturwissenschaften und die feiner entwickelten Teile der Erkenntnislehre bedürfen einer
mathematischen Grundlage; auch das praktische Leben mit seinen vielseitigen Bestrebungen,
vor allem die moderne Technik, können einer mathematischen Vorschule nicht entraten. Das
wird anerkannt und von keiner Seite bestritten. Und doch beobachten wir im Gegensatze dazu
einen merkwürdigen Widerspruch. Von Niemanden wird geleugnet, daß die reine Mathema-
tik seit Anfang des Jahrhunderts nach den verschiedenen Richtungen hin eine mächtige und
tiefgreifende Entwicklung erfahren habe. Aber für die Anwendungen scheint alle diese Ent-
wicklung beinahe nutzlos gewesen zu sein. Der Praktiker ignoriert unsere Fortschritte und ist
höchstens geneigt, einzelne paradoxscheinende Folgerungen aus dem Zusammenhange he-
rauszugreifen und dann einer nicht eben schonenden Kritik zu unterwerfen.17
Gegen die hier gezeichnete Tendenz setzte Klein seine „optimistische Überzeu-
gung“, dass „das, was uns Theoretiker jetzt interessiert, später noch einmal in all-
gemeinerem Sinne verwendbar werden“ wird.18 Dass die Mathematiker dafür
allerdings selbst etwas ändern müssten, war sein Ausgangspunkt für Vorschläge:
Erstens. Die „zu große Spezialisierung des Universitätsunterrichts und die da-
mit zusammenhängende Bildung einseitiger mathematischer Schulen“ müsse auf-
gehoben werden. Clebschs Ansatz, Geometrie und Algebra sowie Geometrie und
Funktionentheorie zu verschmelzen, habe nur unter dessen Schülern und Freunden
„ein bleibendes Andenken hinterlassen“.19 – Klein plädierte für das Verweben
verschiedener Gebiete, für allgemeinbildende und Spezialvorlesungen, für ein
abgestimmtes Lehrprogramm und einen breiten Überblick (in Lehre und For-
schung), den jeder Dozent besitzen müsse.20
Zweitens. Mit Bezug auf die lange Zeit weitgehend unbekannt gebliebenen
Ergebnisse des Leipziger Geometers August Ferdinand Möbius betonte Klein,
dass Geometrie nicht länger vernachlässigt werden dürfe und die Methoden der
verschiedenen geometrischen Richtungen in der Lehre zu berücksichtigen seien. –
Kleins Initiativen, die Lehre zu ordnen und die Edition der Werke von Möbius
und Grassmann zu veranlassen, sind in diesem Kontext zu sehen.
Drittens. Während französische Mathematiker früh genötigt waren, ihr Wis-
sen in Lehrbüchern zu präsentieren, mangelte es daran in Deutschland lange Zeit.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen vor allem übersetzte Werke.
Klein konstatierte diesen Mangel besonders für die Analysis und urteilte, dass
Cauchys Cours d’analyse21 noch immer die Basis für die besseren Bücher bilde.
Es sollte länger dauern, bis die Ergebnisse von Riemann und Weierstraß, Begrün-
der der Theorie komplexwertiger Funktionen, breiter zugänglich wurden. – Kleins
Start mit einem eigenen Buchprogramm war keine Verlegenheitslösung, weil ihm
nichts Neues einfiel. Ihm war bewusst, dass die eigenen Ideen systematisch aus-
gebaut und analog den französischen Lehrbüchern vermittelbar präsentiert werden
müssen, um sie zu verbreiten. (Vgl. 5.5.1.2.; 5.5.6; 5.5.7)
Viertens. Um Mathematik in breitere Kreise zu bringen, lautete Kleins Lo-
sung: „Es ist ihre große Abstraktheit, die wir bekämpfen müssen.“22 Er erklärte
die Rolle von Zeichnungen und geometrischen Modellen, zeigte, dass auch Geo-
däten, Astronomen, Physiker davon profitieren könnten und begründete die Not-
wendigkeit, den Universitätslehrstoff um Gebiete zu erweitern, die er an der
Technischen Hochschule schätzen gelernt hatte: darstellende Geometrie, graphi-
sche Konstruktionen, Maschinen-Kinematik. – Hieraus folgte zwangläufig sein
Bemühen um eine mathematische Institution mit Modellsammlung und entspre-
chender Lehre in Leipzig.
Klein beendete seine Antrittsrede mit den Worten, dass er dieses Programm
nur nach und nach werde umsetzen können. Diese Rede blieb Orientierung über
die Leipziger Zeit hinaus. Obgleich ihm in Leipzig manche Hindernisse in den
Weg gelegt wurden, realisierte er doch schon hier Teile davon.
Mir geht es im Allgemeinen ordentlich und ich bin mit den hiesigen Verhältnissen zumal was
„Entwickelbarkeit“ angeht, recht zufrieden.23
Aus Kleins Brief vom 10. November 1880 an Otto Stolz spricht sein Gestaltungs-
drang. Der Sächsische Minister des Cultus und öffentlichen Unterrichts Carl von
Gerber hatte Klein kurz zuvor zum Mitglied der Prüfungscommission für Candi-
daten des höheren Schulamtes ernannt und ihm beantragte Mittel für geometrische
Modelle und für einen zugehörigen Glasschrank bewilligt. Klein erstrebte jedoch
mehr, gemäß Punkt 4 seiner Antrittsrede. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass
durch eine eigene Institution ein geeigneter Status erreicht werden kann.
Den Universitätsverhältnissen angepasst, beantragte Klein am 5. Dezember
1880 nicht ein Institut (wie an der TH München), sondern ein Mathematisches
Seminar. Somit konnte er argumentieren, dass ein solches für die Lehramtausbil-
dung bereits an zahlreichen Universitäten existiere.24 Er kannte die Seminare von
Bonn, Berlin, Göttingen aus eigenem Erleben, besaß aber inzwischen weiterge-
hende Ansichten über eine derartige Institution.
Klein durfte ein wenig genutztes Gebäude in der Brüderstraße 34, das Czer-
makeion25, umbauen lassen. Er sandte bereits am 7. Dezember 1880 eine Wunsch-
liste an das Universitätsrentamt, die Um- und Ausbau von Hörsaal, Nebenräume
für Seminare und Bibliothek umfasste, mit detaillierten Angaben über Möbel,
Doppel-Tafel, Heizung, Beleuchtung, Waschgelegenheit.26
In personeller Hinsicht kreierte Klein ebenfalls Neues. Er ließ einen Haus-
meister anstellen, wiederbelebte die Position eines Famulus (studentische Hilfs-
kraft) und erhielt zum 15. Oktober 1881 einen etatsmäßigen Assistenten, dies als
Professor der Mathematik erstmals an einer deutschen Universität.27 Als Hauptar-
gument für das Schaffen der Assistenz diente ihm die neu einzurichtende Modell-
sammlung, wie an der Technischen Hochschule in München. Die Leipziger As-
sistenten Walther Dyck und Friedrich Schur übten das Amt als Privatdozenten aus
– dies im Unterschied zu Kleins Assistenten an der TH München und später in
Göttingen. Der Famulus verwaltete Kleins „Belegbogen für die Privat-Vorle-
sung“28 und arbeitete Vorlesungen von Klein aus. Die fünf Leipziger Studenten,
die das Amt des Famulus bekleideten, promovierten auch bei Klein (vgl. Tab. 6).
Klein übernahm am 8. April 1881 die fertig gestellten Räume für das Mathe-
matische Seminar. Er fungierte seitdem als Direktor dieses Seminars, der Modell-
sammlung und des Czermakeions. Letzteres war für alle Fakultäten als Lehrge-
bäude verwendbar und wurde durch Wilhelm Wundt mitgeleitet, der damals das
weltweit erste Institut für Experimentalpsychologie etablierte, das Vorbild für
Göttingen werden sollte. Wundt kooperierte mit Klein bereits im Dezember 1880
bei einem Promotionsverfahren.29
Das Leipziger Mathematische Seminar erhielt auf Kleins Betreiben ebenfalls
Mitdirektoren: die a.o. Professoren Adolph Mayer und Karl von der Mühll. Der
jüngere Klein erhöhte damit den Status der älteren Kollegen und sicherte sich
Verbündete. Sein Bestreben, beide Ko-Direktoren zu ordentlichen Honorarprofes-
soren ernennen zu lassen, war nur für Mayer erfolgreich (noch 1881).30
Um das Mathematische Seminar aufzubauen, stellte Klein weitere Anträge:
Mittel für Seminarprämien, Modelle, Bücher, Möbel. Außerdem träumte er von
Arbeitsräumen für die Studenten, wofür das Czermakeion nicht ausreichte. Das
Beschaffen derartiger Räume war allerdings weitaus schwieriger, als bisherige
Darstellungen vermuten lassen.31 Briefe Kleins an den Rektor der Universität
Friedrich Zarncke sprechen von Gegnern und Hindernissen. Obgleich dieser Ger-
manist, Goetheforscher und Begründer des Literarischen Centralblattes für
Deutschland die entscheidende Senatssitzung mit Klein persönlich vorbereitete,
votierte der Senat gegen die Baupläne und Kostenvoranschläge für neue Arbeits-
räume der Mathematik. Klein reagierte mit einer Eingabe an das Ministerium und
sandte das Concept der Eingabe am 2. August 1882 an Zarncke:
Es liegt mir daran, dass Sie daraus ersehen, wie ich dem Votum des ak.[ademischen] Senat’s
gegenüber durchaus correct verfahre, – es liegt mir aber auch daran, dass Sie Kenntniß von
meinen weiteren Plänen nehmen. Erhalten Sie denselben die Sympathie, welche Sie mir bis-
her zugewandt haben. Ich hoffe immer, dass noch eine Zeit kommt, wo ich gleiche Antheil-
nahme in dem ausgedehnteren Kreise derselben Collegen finden werde, welche zur Zeit mir
Hinderniss über Hinderniss bereiten.32
Das sächsische Ministerium stimmte zwar nicht sofort zu, aber nach Kleins erneu-
tem Antrag vom 12. Oktober 1882 erhielt die Mathematik die gewünschten Ar-
beitsräume in der zweiten Etage der Ritterstraße 14: Kleines Fürsten-Collegium.
Derartige studentische Arbeitsräume besaß bisher keine andere deutsche Univer-
sität.33 Die Gesamteinrichtung hieß seit Winter 1883/84 Mathematisches Institut,
mit Räumlichkeiten in zwei auseinander liegenden Gebäuden: a) Mathematisches
Seminar in der Ritterstraße und b) Modellsammlung (mit Modellierraum), Hörsaal
für elementare und geometrische Vorlesungen im Czermakeion. Es bedurfte noch
des Impulses durch Klein, damit das Kultusministerium die beiden Teile am 2.
März 1886 in Abteilung I und Abteilung II umbenannte.34
29 Klein und Wundt waren Zweitgutachter von Donadt, Alfred (1881): Das mathematische
Raumproblem und die geometrischen Axiome. Leipzig: Johann Ambrosius Barth.
30 Vgl. hierzu TOBIES/ROWE 1990, 25-26.
31 KÖNIG 1982, THIELE 2011 (22018).
32 [UB Leipzig] Nachlass Fr. Zarncke, Briefe Kleins an Zarncke, 8.7.1882; 2.8.1882.
33 Hölder, O.; Rohn, K.: Das math. Institut, 1909 [UA Leipzig] Phil. Fak. B 1/1423 Bd. 1, Bl. 3.
34 König in BECKERT/PURKERT 1981, 67-68.
196 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Otto Hölder kam im April 1884 als junger Doktor erstmals in die Messestadt
und lieferte einen aufschlussreichen Bericht über Kleins Institution. Nach seiner
Promotion (Beiträge zur Potentialtheorie, 1882) bei Paul du Bois-Reymond in
Tübingen hatte Hölder in Berlin studiert und dort keine Beziehungen zu den
gleichaltrigen Fachgenossen gewonnen. In Leipzig fühlte er sich sofort integriert:
Bei Klein habe ich gleich am ersten Tag Besuch gemacht, nachdem ich genau 3 Stunden hier
in Leipzig war. Er gab mir gleich einen Schlüssel für die Räume des mathematischen Semi-
nars und ich habe gestern bereits 6 ½ Stunden darin zugebracht. Dies sind Bibliothekszimmer
und Arbeitszimmer und die hiesigen Mathematiker arbeiten hier eigentlich den ganzen Tag.
[…] Bei Klein wird man gleich mit allen den jungen Mathematikern bekannt. Er schickt einen
einfach hin in’s Seminar, dort stellt man sich jedem vor, und nun sieht man, wie man
zusammen auskommt. [….] Bei solchen Arbeiten, bei denen man Literatur braucht, ist es sehr
geschickt im Seminar zu sein, dort hat man alles und es wird nicht ausgeliehen. […] Die
Seminareinrichtung bringt auch die geselligen Beziehungen der Leute gleich in Gang; gestern
war ich mit den Mathematikern beim Bier. […] Die Arbeitsräume sind jeden Tag, den es gibt
– auch am Sonntag – von 7 Uhr Morgens bis 10 Uhr Nachts geöffnet.35
5.3 LEHRPROGRAMM
So wie in Berlin „die koordinierende Hand Kummers bei der Gestaltung eines
Lehrplans“ fungiert und wie Clebsch in Göttingen agiert hatte, dachte Klein im
Interesse der Studenten aller Semester.36 Im Folgenden wird gezeigt, wie Klein zu
ordnen suchte und wie seine Lehre im Gesamtprogramm stand.
Einige Aspekte seien vorab hervorgehoben: die Konkurrenz mit Carl Neu-
mann im Gebiet der Funktionentheorie; das neue Gebiet darstellende Geometrie;
der Versuch eines Studienplanes; Kleins zeitweiliges Abspecken des Vorlesungs-
programms aus gesundheitlichen und anderen Gründen. Dabei müssen einige fal-
sche Angaben im Anhang von Band III der Gesammelten Abhandlungen Kleins
korrigiert werden (Abschnitt 5.3.1). In Abschnitt 5.3.2 soll die spezifische Rolle
des Forschungsseminars (Colloquium, Übungen) betrachtet werden.
In München hatte Klein mit Alexander Brill die mathematische Lehre organisiert.
In Leipzig musste er mehrere ältere Kollegen vom koordinierten Vorgehen über-
zeugen. Er beschränkte sich zunächst auf einen geordneten geometrischen Unter-
richt der Lehramtskandidaten37 und verständigte sich vorab mit seinem Schüler
Karl Rohn, der hier seit 15. Mai 1879 Privatdozent war. Da dieser im Winter
1880/81 für die niederen Semester sorgte („Theorie der ebenen Curven III. und
sungen an der Universität Leipzig“, datiert auf März 1882, in der Zeitschrift für
mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht.50 Die seit 1870 bei B.G.
Teubner verlegte Zeitschrift war in Lehrerkreisen weit verbreitet. Der Beitrag
listete Lehrgebiete in zwei Abteilungen auf: „A. Die einleitenden oder Anfangs-
Vorlesungen“ und „B. Die höheren mathematischen Vorlesungen“, und beschrieb,
welche Themen aufeinander aufbauen. Den Studierenden wurde empfohlen, eine
„gehörte Vorlesung, nicht nach dem unmittelbaren Wortlaut des Vortrages, son-
dern nach seiner eigenen Überzeugung sorgfältig auszuarbeiten, und bei zweifel-
haften Punkten den Vortragenden selber um nähere Auskunft zu ersuchen.“ Es
wurde nicht erwartet, dass jeder Student in allen Gebieten zu Hause ist: „In der
That wird auch, was z.B. die Ausbildung des künftigen Gymnasiallehrers betrifft,
weniger Gewicht auf besondere Vielseitigkeit, als vielmehr darauf gelegt werden,
daß derselbe neben einer gewissen allgemeinen Orientierung, nach der einen oder
andern Richtung hin solide und gut geordnete Kenntnisse, Vertrautheit mit der
betreffenden Literatur, überhaupt gründliche Studien aufzuweisen hat.“ Neben-
fach-Studenten sollten sich auf Anfänger-Veranstaltungen beschränken können.
Dass dieses Kümmern um die Interessen der Studenten damals eher selten
war, zeigt ein Brief von Ludwig Kiepert, dem Klein den Plan geschickt hatte:
Vorläufig reitet fast jeder Professor, abgesehen von einigen Anfänger-Vorlesungen, die das
meiste Collegiengeld bringen, seine Steckenpferde, und der Studirende kann sehen, wo er
sich seine Kenntnisse herholt.51
Im Sommer 1882 las Klein Teil II der projektiven und darstellenden Geometrie
(70 Hörer), und bahnte mit einem höheren Colleg wieder den Weg zur Funktio-
nentheorie. Zusätzlich hielt er 15 Vorträge über „Eindeutige Funktionen mit linea-
ren Transformationen in sich“, zweistündig für Fortgeschrittene, wofür er kein
Honorar nahm.52 Inhaltlich handelte es sich um diejenigen Gegenstände, die in die
Abschnitte III bis V seiner Arbeit „Neue Beiträge zur Riemannschen Funktio-
nentheorie“ einflossen.53
Ab Winter 1882/83 reduzierte Klein wieder. Wie in München begegnete er
gesundheitlichen Problemen mit Abstrichen am Vorlesungsprogramm. Seine be-
reits angekündigte zweistündige Spezialvorlesung „Ausgewählte Kapitel aus der
Functionentheorie (nur für Fortgeschrittene)“ ließ er ausfallen. Seine „Grundvor-
lesung Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf Geometrie“ (70
Hörer) gab er bis Weihnachten 1882 an Dyck ab. In einem Brief vom 28. Dezem-
ber 1882 an Hurwitz erklärte Klein die Situation:
Ich bin mittlererweile so etwas wie Patient gewesen. Die ganzen Herbstferien durch litt ich,
wie Sie wissen, an Asthma und das Ding steigerte sich mit Beginn des Semester’s so, dass ich
mich Mitte November genöthigt sah, die Weiterführung meiner Vorlesung an Dyck zu über-
tragen und nur noch mein Seminar, das ich dafür besonders energisch betrieb, beizubehalten.
Die Ruhe in Verbindung mit verschiedenen anderen rationellen Maassregeln hat mich inzwi-
schen wieder so in die Höhe gebracht, dass ich nach Neujahr meine Vorlesung wieder über-
nehmen will. Die Sache ist wohl die, dass ich trotz Allem hier in Leipzig zu Vielerlei auf mir
hängen habe; wenigstens fühle ich mich, seit ich mich klar entschlossen habe recht wenig zu
arbeiten, auf einmal viel behaglicher als sonst.54
Nur wenige Tage später sollte Klein hier eines seiner wichtigen Theoreme (Grenz-
kreistheorem) finden (vgl. 5.5.4). Nach den Reibereien wegen der Räume im Au-
gust 1882 war die Krankheit erneut und besonders schwer aufgetreten und – nach
Selbstdiagnose – mit falschen Mitteln (kalte Bäder, Turnen) behandelt worden.56
Dennoch vollendete er bis zum 2. Oktober 1882 das Manuskript zur erwähnten
Abhandlung „Neue Beiträge…“. Das war ihm wichtiger. Er konnte sich zu dieser
Zeit nicht entschließen, Sophus Lie nach Paris zu begleiten.
Auch wenn Klein diese erneute asthmatische Erkrankung später als besonde-
ren Einschnitt markierte, „das Zentrum seines produktiven Denkens sei zerstört
worden“57, so dokumentieren die zeitgenössischen Briefe keine persönliche
„Grundlagenkrise“, auch keine Depression. Vielmehr griff er zum erprobten Mit-
tel, schraubte in den Vorlesungen zurück und konzentrierte sich umso mehr auf
das Forschungsseminar. Analog zu seinem letzten Münchener Semester bestellte
er die vier Seminarteilnehmer im Herbst 1882 in seine Wohnung, lag dabei „auf
dem Krankenstuhl“58 und hielt sechs der Vorträge selbst (vgl. Abschnitt 5.5.2.3).
Das Empfinden des Abhandenkommens „produktiven Denkens“ kann nur an
seinem eigenem Anspruch gemessen werden. Seine Notizen dokumentieren auch
für die Zeit zuvor wiederholt Selbstzweifel: „Scrupel wegen wiss. Leistungsfähig-
Mit der Spezialvorlesung über elliptische Funktionen ab Herbst 1883 dachte Klein
bereits an das nächste Buch (vgl. 5.5.7). Wie sehr ihm daran gelegen war, dieses
Thema im Sommer 1884 mit einer Vorlesung Teil II fortzuführen, bezeugt ein
Brief an Adolph Mayer. Klein diskutierte darin, dass er die nach eigenem
(Studien)Plan vorgesehene „Einleitung in die analytische Geometrie“ an Karl
Rohn übergeben wolle und erklärte: „[…] ich muß anderenfalls meine eigenen
wissenschaftlichen Bestrebungen gar zu sehr vernachlässigen oder meine Arbeits-
kraft nach 2 Seiten zersplittern.“63
Die erkennbar abnehmende Frequenz der Hörerzahlen in den Vorlesungen (39
im WS 1883/84; 29 im SS 1884) war damals eine deutschlandweite Erscheinung,
weil die höheren Schulen mit Lehrpersonen überfüllt waren. Daraufhin reduzierte
Klein seine Spezialvorlesungen erneut. Er beschränkte sich im Winter 1884/85
auf „Höhere algebraische Curven und Flächen“ (33 Hörer) und trug dafür inner-
halb seines Seminars zum Thema „Hyperelliptische Funktionen und Kummersche
Fläche“ in den ersten Monaten (November, Dezember, Januar) selbst vor, woran
16 Personen teilnahmen.64 Im Sommer 1885 las er nur für Anfänger „Einleitung
in die analytische Geometrie der Ebene und des Raumes“ (41 Hörer). Er verzich-
59 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus München (1875, 1879), Bl. 1 und 4.
60 [StA Dresden] 10281/184, Klein an das Sächs. Kultusministerium, Brief v. 9.3.1883.
61 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E.
62 [StA Dresden] 10281/184, Bl. 24, 24v, Klein an das Sächs. Kultusministerium, am 9.12.1883.
63 Klein an Mayer, am 19.11.1883, in TOBIES/ROWE 1990, 146-47. – Ausarbeitungen der Vorle-
sungen vom Winter 1883/84 (von Otto Fischer) und vom Sommer 1884 (von Paul Bieder-
mann) sind im Mathematischen Institut der Universität Leipzig aufbewahrt. Für die Möglich-
keit der Einsicht dankt die Autorin Frau Ina Letzel.
64 [Protokolle] Bd. 6, 155 und 253.
202 5 Professur für Geometrie in Leipzig
tete auf die höhere Vorlesung über Abel’sche Functionen65 und konzentrierte nur
das Seminar auf dieses Thema.
Nach den offiziellen Hörer- und Vorlesungsverzeichnissen übernahm Klein in
seinem letzten Leipziger Semester nur die Einleitung in die Differential- und In-
tegralrechnung (25 Hörer). In Band III seiner Gesammelten Werke gab er an, dass
er „von Ostern 1885 bis Ostern 1886 eine eigene Spezialvorlesung über die nie-
dersten hyperelliptischen Funktionen (p=2) gehalten“ habe, deren Ergebnisse in
eine Annalen-Arbeit vom April 1886 flossen.66 In Briefen an Hurwitz sprach
Klein von „Specialvorträgen“ (vgl. 5.5.8). Er integrierte das Thema auch in das
Seminar, führte noch Doktoranden zum Abschluss und ebnete die Wege für wei-
tere Begabte, bevor er selbst nach Göttingen ging.
65 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E, Bl. 142-43; Math. Archiv 77 (Klein an Hurwitz, Brief v.
19.4.1885).
66 KLEIN 1923 GMA III, 321, Anhang 6.
67 Gemeint ist 18.00 bis 20 Uhr.
68 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse von 1880-86, http://histvv.uni-leipzig.de/vv/index.html.
69 Vgl. Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 1.
70 Herbst 1879: 293 in Berlin, 186 in Leipzig, BECKERT/SCHUMANN 1981, 57.
5.3 Lehrprogramm 203
71 Die Tabelle basiert auf KÖNIG 1982, A8-10; KLEIN 1987, 239f.; [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7
E; [Protokolle] Bd. 2-8; den Mathematischen Annalen; ENCYKLOPÄDIE u.a.
72 Baumgart, Oswald: Über das quadratische Reciprocitätsgesetz: eine vergleichende Darstel-
lung der Beweise des Fundamentaltheorems, Diss. 1885, vgl. TEUBNER 1908 (Engl. Edition,
Birkhäuser 2015; Reprint, Reink 2017). Zu Baumgart vgl. auch HASHAGEN 2003, 126.
73 Höckner promovierte 1891 bei Bruns und Scheibner.
204 5 Professur für Geometrie in Leipzig
74 Karl Wirtz wechselte mit Klein noch für ein Semester nach Göttingen. Er erhielt 1894 eine
Professur für Elektrotechnik an der TH Darmstadt, wo er die Nachrichtentechnik etablierte.
75 Rados, Gusztáv.
76 L. v. Struve, St. Petersburg, entstammte der berühmten Astronomen-Familie.
77 Alexander Witting reichte seine Dissertation 1886 bei Klein in Göttingen ein.
78 [Protokolle] Bd. 3, Inhaltsverzeichnis, 145; und Notiz, 51.
79 HILBERT 1921, 162.
5.3 Lehrprogramm 205
Die beiden folgenden Semester 1881/82 und 1882 betrachtete Klein als seine
Besten in Leipzig.80 Diese markierten ein Extremum, quantitativ und qualitativ.
Im Winter: Vorträge an 29 Terminen (12 Personen); ein zusätzlicher Zyklus von
zehn Vorträgen Kleins (18.1. bis 8.2.1882) plus vier weitere seiner Vorträge
(15.2., 20.2., 27.2., 6.3.). Im Sommer 1882: 17 Vorträge (neun Beteiligte, 3x
sprach er selbst). Hinzu kamen seine bereits erwähnten 15 Spezialvorträge vom
Juni bis bis August 1882. Quantität brachte offensichtlich Qualität: Es war die
Zeit seiner drei „automorphen Fundamentaltheoreme“, die er von Januar bis Ok-
tober 1882 zur Publikation brachte (vgl. Abschnitt 5.5.4).
Im Herbst 1882 begann eine personalbedingte Umbruchsituation. Neben
Gierster, Hurwitz und Otto Staude schlossen Kleins Famuli Ernst Lange und Os-
car Hermann ihre Dissertationen ab und gingen in den Schuldienst. So blieben nur
vier Fortgeschrittene, die im Seminar „Abelsche Funktionen“ vom 6. November
bis 19. Dezember 1882 mitarbeiteten (vgl. 5.5.2.3). Dieses Seminar dokumentiert
Kleins fortgesetzte Produktivität sowie herausragende Ergebnisse der Teilnehmer.
Im Sommer 1883 kommentierte Klein den neuen Personenkreis mit: „Ewiger
Wechsel der Studenten“.81 Und als er am 3. Juni 1884 auf sein Seminar blickte –
er behandelte Fragen der Modulfunctionen – war er noch immer skeptisch, ob mit
den (neuen) Beteiligten etwas herauskommen würde:
Einstweilen habe ich den unbehaglichen Zustand zu registriren, der auch im günstigen Falle
ein mathematisches Durchgangsstadium bildet: viel Eifer, viel Misserfolg, wenig gute Ideen.
Unter den Bestbegabten ist Dr. Engel, der aber im Herbst nach Christiania soll, um Lie an der
Quelle zu studiren.82
Kleins Skepsis sollte sich nicht bestätigen. Er gewann aus diesem und den folgen-
den Seminaren weitere, die promovieren, sich habilitieren und wichtige Mitarbei-
ter für seine Projekte werden sollten. In Kleins elf Leipziger Semestern nahmen
insgesamt 56 Personen an den Seminaren teil. Die Personen, die nur Vorlesungen
besuchten, sind in Tabelle 6 nicht aufgelistet, obgleich auch darunter spätere her-
ausragende Forscher waren. So hörte z.B. Theodor Des Coudres drei Semester
lang bei ihm.83 Er wurde 1895 in Göttingen – dank Klein – der erste a.o. Professur
für angewandte Elektrizitätslehre an einer deutschen Universität.
Von Winter 1880/81 bis Winter 1885/86 erwarben in Leipzig 36 Personen den
Doktorgrad mit einer mathematischen Dissertation. Bei 22 von diesen verfasste
Felix Klein das Erstgutachten. Von diesen betrachtete er nur diejenigen 16 als
seine Doktorschüler, deren Arbeiten aus seinen Forschungsseminaren hervorge-
gangen waren. Weitere reichten z.T. extern als Gymnasiallehrer eine Dissertation
ein. Klein schrieb zudem bei fünf Verfahren die Zweitgutachten.
Was die Zahlen bedeuten, kann nur im Vergleich ermessen werden. Die bei-
den Ordinarien Wilhelm Scheibner und Carl Neumann betätigten sich zur selben
Zeit nur je 5x bzw. 3x als Erstgutachter. Weitere mathematik-orientierte Themen
80 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 2; [Protokolle] Bd. 2 bis 7, bes. 3 und 4.
81 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 3.
82 [UBG] Math.Archiv 77: 115, Klein an Hurwitz, 3.6.1884. – Zu Engel vgl. Abschnitt 5.4.1.
83 WS 1881-82, SS 1882, WS 1882-83, Hörerverzeichnis in [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E.
206 5 Professur für Geometrie in Leipzig
betreuten der Astronom Heinrich Bruns (4) und der Psychologe Wilhelm Wundt
(2). – Noch aufschlussreicher ist der Vergleich mit Berlin, wo sich sich die Ära
von Kummer (*1810), Weierstraß (*1815) und Kronecker (*1832) dem Ende zu-
neigte. 1884 trat Lazarus Fuchs an Kummers Stelle. Von Sommer 1880 bis Som-
mer 1886 promovierten in Berlin nur zwölf Personen mit einer mathematischen
Dissertation.84 Zwei Habilitationsverfahren dort (Johannes Knoblauch und Carl
Runge) standen fünf in Leipzig gegenüber, eins davon für Astronomie.
Die meisten Seminarteilnehmer Kleins stammten aus dem sächsischen Um-
feld und gingen den Weg als Gymnasiallehrer; einige lehrten haupt- oder auch
nebenamtlich an Technischen Hochschulen oder Staatsanstalten in Dresden (Ale-
xander Witting) bzw. Chemnitz (Paul Domsch, Robert Heinrich Hoppe). Erwin
Papperitz erhielt Professuren an der TH Dresden und an der Bergakademie Frei-
berg. Der aus Darmstadt stammende Friedrich Dingeldey avancierte dort an der
TH zum Professor; und der unweit von Braunschweig geborene Robert Fricke
konnte an der dortigen TH eine Professur erreichen (Nachfolge Dedekind). Ernst
Lange, Kleins erster Famulus, brachte es zum Schuldirektor und Vortragenden
Rat im Sächsischen Kultusministerium.85 Einige übernahmen später Beiträge in
Kleins Projekt Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutsch-
land (Adolf Böttger, Heinrich Dreßler, Alexander Witting). Elf der Seminarteil-
nehmer gewann Klein als Autoren für das ENCYKLOPÄDIE-Projekt.
Klein scharte wie an seinen anderen Orten die Schüler eng um sich und bezog sie
in die Familie ein. Otto Hölder sprach 1884 von der „Klein’schen Heerde“, in
welcher er selber zunächst nicht gern aufgehen mochte:
Wir sind im Seminar im Ganzen 17 und alles kennt einander. Darunter sind 5 Doctoren, ich
dem Alter nach der 4te davon. Abgesehen davon, daß man sich immer in den Arbeitsräumen
trifft, ist man auch am Montag Abend zusammen. […] Ein Theil der Mathematiker ißt auch
zusammen, ich bin aber gleich bei der ersten Anspielung ausgewichen, da ich mich nicht
meinen Freunden entziehen wollte. Es ist auch so wohl ganz recht; denn so angenehm es mir
ist, hier mit Fachgenossen mehr verkehren zu können, so wenig möchte ich vollständig in der
Klein’schen Heerde aufgehen.86
Otto Hölder war mit vielen Vorurteilen von Berlin nach Leipzig gekommen. Er
konnte sich letzlich Kleins Art, die im Fordern und Fördern bestand, nicht ver-
schließen. Wenig später erfuhren seine Eltern, dass er Klein schon näher stünde,
ihn zu Hause besucht habe, „Frau Prof. Klein vorgestellt und auf morgen zu einer
Wasserpartie eingeladen“ worden sei, die in einem Café im Rosental endete. Klein
habe ihm Ratschläge für die Habilitation erteilt und ihm gesagt, dass er befähigt
84 Erstgutachter waren Weierstraß (6x), Kronecker (4x), Kummer (2x). Bei L. Fuchs in Berlin
promovierte der Erste am 10.8.1886. Vgl. BIERMANN 1988, 355-56, 365.
85 Vgl. dazu LOREY 1916, 168.
86 Hölder am 6.5.1884 in HILDEBRANDT et al. 2014, 144.
5.4 Die Kleinsche „Heerde“ 207
87 HILDEBRANDT et al. 2014, 146-47, Zitat 147 (Otto Hölder, 20.5.1884). Ein derartiges
Lehrbuch erschien nicht.
88 Ebd., 152-53 (Hölder, 24.6.1884). Zu Tichomandritzky vgl. 5.4.2.5, zu Eneström 5.6.
89 [UBG] Cod. Ms. F. Klein, IB, Bl. 23, Klein an Althoff, 1.10.1885.
90 Vgl. den Nachruf auf F. Schur, von Friedrich Engel (1935), Jahresbericht DMV 45, 1-31.
208 5 Professur für Geometrie in Leipzig
91 [UA Leipzig] PA 967. Das Gutachten (v. 22.11.1880) ist abgedruckt in Engel 1935, 7-8.
92 [StA Dresden] 10281/184, Bl. 23b.
93 [StA Dresden] 10281/276.
94 Klein an Althoff, 25.5.1892 [UBG] Cod. Ms. F. Klein IC: 2, Bl. 44, 44v.
95 [UA Leipzig] PA 425.
96 HASHAGEN 2003, 119; SCHLOTE 2004, 69.
97 Vgl. HASHAGEN 2003, 221.
98 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 456, Bl. 64, Gordan an Klein, Brief v. 22.11.1887.
5.4 Die Kleinsche „Heerde“ 209
105 [UAG] Kur. 6216, Bl. 7-8. Das Ganze dauerte nur 20 Minuten: 12.20 bis 12.40, vgl. Phil.
Fak. 167a, VIII 4c. – Das Thema hatte Schwarz ausgewählt.
106 Ebd., Bl. 9-10. – Hurwitz las im WS 1883/84 Zahlentheorie (4 Wochenstunden) vor 14
Hörern und (unentgeltlich) über Flächen zweiten Grades (1 Wostd) vor 18 Hörern.
107 Schreiben v. 26.1.1884, ebd., Bl. 1-6.
108 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 954, 956, 961, Hurwitz an Klein.
109 Ebd. 999, Brief v. 25.5.1885.
110 Hilbert, D.: „Adolf Hurwitz“. Math. Ann. 83, 161-72, Zitate 162, 163.
111 L. Kiepert schrieb z.B. am 25.1.1884 an Klein, als ihm bei einer Berufungsangelegenheit an
der TH Hannover Max Noether und Adolf Hurwitz empfohlen wurden: „[…] doch wäre es
mir hier nicht gelungen, einen Juden durchzusetzen.“ [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 103. – Als
Klein bei einer Berufungssache in Dresden zu Hurwitz Vortragsweise befragt wurde, ant-
wortete er: „Sein Vortrag ist wie der Styl seiner wissenschaftlichen Arbeiten: besonders
durchdacht, klar und durchsichtig […]“. [StA Dresden] 10210/17, Klein an Rohn, 3.5.1888.
5.4 Die Kleinsche „Heerde“ 211
Otto Staude hatte seit 1876 in Leipzig studiert112 und gelangte erst durch
Klein zu Ergebnissen für eine Dissertation „Ueber lineare Gleichungen zwischen
elliptischen Coordinaten“ (eingereicht am 13.3.1881). Knapp ein Jahr später ent-
wickelte Staude eine Fadenkonstruktion des Ellipsoids, die Klein noch später als
eines der schönsten Ergebnisse bezeichnete, das aus seinem Seminar hervorge-
gangen sei.113 Klein hielt das Ergebnis für so wichtig, dass er es bereits am 6.
März 1882 in einer Sitzung der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig
durch Scheibner präsentieren ließ114 und eine längere Version in die Mathemati-
schen Annalen aufnahm. Darin dankte Staude Klein vor allem für den Hinweis auf
die geometrische Bedeutung der verwendeten Differentialgleichungen.115
Staude nahm an Kleins Vier-Personen-Seminar Ende 1882 teil (Abschnitt
5.5.2.3). Er gelangte hiervon ausgehend zu einer Schrift (Geometrische Deutung
der Additionstheoreme der hyperelliptischen Integrale und Functionen 1. Ordnung
im System der confocalen Flächen 2. Grades), mit der er sich 1883 an der Univer-
sität Breslau habilitieren konnte.116 Er vertraute auf Kleins „freundliche Unterstüt-
zung“, ihm „bei passender Gelegenheit vielleicht auch zu weiterem Fortkommen
behülflich“ zu sein.117 Wenn Kleins Vorschläge auch nicht immer sofort erfolg-
reich waren, so konnte Staude auf ihn zählen. Bereits in einem Brief vom 15. Ja-
nuar 1885 rühmte Klein Otto Staudes außerordentliche Literaturkenntnis, die her-
ausragenden Arbeiten über hyperelliptische Funktionen, seine wertvolle Mitarbeit
bei der Herausgabe der Werke von Möbius (vgl. 5.7.3).118 Staude wurde 1886 a.o.
Professor in Dorpat und 1888 o. Professor in Rostock. Für die ENCYKLOPÄDIE (Bd.
III) schrieb er den Beitrag Flächen 2.°Ordnung und ihre Systeme und Durchdrin-
gungskurven (1904).
Adolf Krazer war nach seiner Promotion (Theorie der zweifach unendlichen
Thetareihen auf Grund der Riemannschen Thetaformel) 1881 bei Friedrich Prym
in Würzburg zunächst nach Berlin (Weierstraß, Kronecker) gegangen. Aber erst in
den anschließenden zwei Semestern bei Felix Klein empfing er entscheidende
weitere Impulse.119 Krazer analysierte im Sommer 1882 in Kleins Seminar Ergeb-
nisse von Paul du Bois-Reymond über Fourier-Integrale120, nahm im November/
Dezember 1882 im Vier-Personen-Seminar (Abschnitt 5.5.2.3) teil und reichte die
Habilitationsschrift (Über Thetafunctionen, deren Charakteristiken aus Dritteln
ganzer Zahlen gebildet sind) 1883 in Würzburg ein. Darin schrieb er: „In der vor-
liegenden Arbeit, die ihre Entstehung den im persönlichen Verkehr mit Herrn
Prof. Klein gewonnenen Anregungen verdankt […].“121
112 Schur, F. (1930): „Nachruf auf Otto Staude“. Jahresbericht DMV 40, 219-22.
113 KLEIN 1923 GMA III, 321; [Protokolle] Bd. 3, 141-42 (Seminarvortrag am 22.2.1882).
114 Klein war zu diesem Zeitpunkt noch nicht Mitglied dieser Akademie.
115 Staude, O. (1882): „Ueber Fadenconstruktionen des Ellipsoids“. Math. Ann. 20, 147-84.
116 Math. Ann. 22 (1883) 1-69 und 145-76.
117 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1124 (Staude an Klein, 28.12.1884).
118 [StA Dresden] 10210/17, Klein an Axel Harnack, 15.1.1885.
119 Vgl. Boehm, K. (1928): „Adolf Krazer“. Jahresbericht DMV 37, 1-33, bes. 14.
120 [Protokolle] Bd. 4, 22-30; 69-82; 133-46; 207-18 (Vorträge Krazers v. 5.6.1882; 14.7.1882).
121 Math. Ann. 22 (1883) 416-49, Zitat 417.
212 5 Professur für Geometrie in Leipzig
122 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 590-91. – Darboux hatte seinen Vortrag zurückgezogen. Dafür
kamen Painlevé, Segre, Greenhill, Wirtinger, denen Klein zu dieser Zeit bereits nahe stand.
123 Bd. II (Analysis) 2. Teil, 604-873, abgeschlossen 5.12.1920; Nachwort von Krazer, 873.
124 [UAG] Philos. Fak. 170 a (1.7.1884-1885), 34n
125 [UAG] Kur. 5970, Bl. 1-3.
126 [UAG] Philos. Fak. 172 a, Nr. 75a, 75c-75e.
127 [UAG] Kur. 5970, Bl. 4-31.
128 HILDEBRANDT et al. 2014, 216 (Hölder am 6.5.1886 an seine Eltern).
5.4 Die Kleinsche „Heerde“ 213
Beitrag Galois’sche Theorie mit Anwendungen (1899), sondern trat auch in die
Akademische Kommission der ENCYKLOPÄDIE ein (vgl. Abschnitt 7.4).
Hermann Wiener war ein Sohn des Mathematikers Christian Wiener, dessen
Modell einer Fläche dritter Ordnung Klein schon als Student begeistert hatte (vgl.
Abschnitt 2.8.3.4). Der Sohn Hermann hatte ab 1879 bereits in München studiert.
Nach seiner Promotion 1881 (Über Involutionen auf ebenen Curven) an der Uni-
versität München setzte Hermann Wiener bei Felix Klein in Leipzig fort. Hier
sprach er in Kleins Seminar über die conforme Abbildung einfach zusammenhän-
gender geschlossener Flächen aufeinander (12.12.1881) sowie über Arbeiten von
Georg Cantor (10.7.1882), der schließlich 1885 in Halle seine Habilitationsschrift
begutachteten sollte: Rein geometrische Theorie der Darstellung binärer Formen
durch Punktgruppen auf der Geraden. Zwischenzeitlich war Wiener in Karlsruhe
tätig, u.a. als Assistent seines Vaters. Nach längerer Privatdozententätigkeit in
Halle erhielt er 1894 eine Professur an der TH Darmstadt. Er erzielte insbesondere
wichtige Beiträge im Gebiet der Grundlagen der Geometrie (Spiegelungsgeome-
trie). Wie Cantor und Klein sollte Hermann Wiener 1890 zu den Gründungsmit-
gliedern der DMV gehören (Abschnitt 6.4.4).
Friedrich Engels Laufbahn wurde dadurch geprägt, dass ihn Felix Klein und
Adolph Mayer mit einem Kregel von Sternbach-Stipendium129 zu Sophus Lie
nach Christiania (Oslo) sandten. Engel hatte seit 1879 in Leipzig studiert und war
bereits durch Adolph Mayer auf die Arbeiten von Sophus Lie verwiesen worden.
Engels Dissertation „Zur Theorie der Berührungstransformationen“130, eingereicht
am 7. Mai 1883, wurde von Felix Klein (Erstgutachter) und Scheibner begutach-
tet, weil der Anreger Mayer als Nichtordinarius dazu nicht berechtigt war. Klein
schickte Engels Dissertation an Sophus Lie und bereitete ihn schon Ende 1883
darauf vor, dass er einen „Gehilfen“ erwarten könne.131
Engel besuchte nach seiner Promotion im Sommer 1884 Kleins Vorlesung
über elliptische Funktionen und sprach im zugehörigen Seminar. Da seine Reise
nach Norwegen zu diesem Zeitpunkt bereits feststand, orientierte ihn Klein auf
passende Literaturanalyse (Jordan, Sylow, Kronecker u.a.). Zugleich geht aus En-
gels Eintrag im Protokollbuch hervor, dass er Kleins Vorlesung unmittelbar ver-
arbeitet hatte. So trug er z.B. am 25. Juli 1884 ein: „Einen sehr eleganten Beweis
für die Abelschen Relationen ohne Benutzung von Reihen und ohne von Functio-
nen zweiter Stufe auszugehen hat Herr Prof. Klein in seinem College über el-
lipt.[ische] Fct. 2. Theil am 24. Juli 1884 gegeben.“132 Klein hatte schon zuvor an
Hurwitz signalisiert, dass Engel ein besonderer Lichtblick sei.
Engel sollte Sophus Lie helfen, dessen „sämmtliche Untersuchungen über
Transformationsgruppen zu einem Werke zu vereinigen“.133 Seit September 1884
129 Karl Friedrich Kregel von Sternbach, letzter männlicher Nachkomme dieser Familie aus dem
„Reichsadelsstand“, stiftete einen großen Teil seines Vermögens der Universität Leipzig.
130 Math. Ann. 23 (1884) 1-44.
131 Vgl. dazu auch STUBHAUG 2003, 314, 320.
132 [Protokolle] Bd. 6, 63-75, 90-100, Zitat 100.
133 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 704 und 706/1 (o.D., Ende 1884), mit Plan zum Buchinhalt.
214 5 Professur für Geometrie in Leipzig
die Mathematischen Annalen akzeptieren und würde ihn als Assistenten wählen.
In beiden Fällen scheiterte er.141
Study war wenig bereit, andern entgegenzukommen. Er wollte dennoch seine
nächsten Karriereschritte nur mit Kleins Unterstützung realisieren. Durch Klein
empfohlen, setzte Study ein Thema fort, dem er sich im Rahmen einer Preisauf-
gabe an der TH München bereits erfolgreich gewidmet hatte: die Anwendung der
Methode des Kalküls der abzählenden Geometrie (Chasles, Halphen, Schubert
u.a.) auf das Problem der Raumkurven vierter Ordnung. Allerdings sollte Study
später Klein wiederholt beschuldigen, ihn nicht hinreichend angeleitet zu haben,
was für eine selbstständig zu erbringende Habilitationsschrift ein sehr merkwürdi-
ges Ansinnen darstellt. Wenn wir aus heutiger Sicht schauen, war das Thema an-
spruchsvoll, mit den damaligen Methoden nicht allgemein lösbar. Wie bereits in
Verbindung mit Hermann Schubert erwähnt (vgl. 2.4.1), formulierte Hilbert hier-
auf fußend das Problem 15. Erst Bartel Leendert van der Waerden sollte eine all-
gemeine Lösung mit neuen toplogischen Methoden gelingen.142
Studys Habilitationsschrift lautete schließlich „Ueber die Geometrie der Ke-
gelschnitte, insbesondere deren Charakteristikenproblem“.143 Klein anerkannte die
fachliche Leistung mit einem drei DIN A 4 – Seiten umfassenden Gutachten vom
6. Juli 1885. Er beschrieb darin eingangs die von Chasles bereits zwanzig Jahre
zuvor gestellte „allgemeine Frage nach der Anzahl der Kegelschnitte, welche fünf
gegebenen Bedingungen genügen“ und dessen Zurückführen der Frage „auf einfa-
che aber unbewiesene Principien“. Daran hatten Schubert, Halphen u.a. ange-
knüpft; und Study „wandte die Sache so […], daß er nach denjenigen Abzählre-
geln fragt, die man zu Grunde legen muß, wenn die Chasles’schen Formeln in
allen Fällen aufrecht erhalten bleiben sollen.“ Und Klein setzte fort:
Liegt schon in dieser Formulirung eine charakteristische Tendenz – die Definitionen der Ma-
thematik so zu wählen, daß allgemeine Sätze gültig werden –, so nicht minder in der Art der
vom Verf.[asser] gewählten Entwicklung. Cand.[idat] schließt sich durchaus den Begriffsbil-
dungen und Bezeichnungen der Invariantentheorie (Gordan) an, die er in der Art mit Grass-
mann’s Ideen durchdringt, dass eine eigenartige und jedenfalls sehr prägnante Darstellung re-
sultirt. Ich lege auf die Form dieser Darstellung als solche weniger Gewicht als auf den Um-
stand, dass sie die Möglichkeit darbietet, die auf Kegelschnitte bezüglichen Untersuchunngen
auf andere einfache geometrische Gebilde, wie Punctetripel oder Punctquadrupel auf einer
Geraden, zu übertragen, wodurch eine weitgehende Perspective gewonnen ist, die der Verf. in
späteren Publicationen verfolgen will. Gleichzeitig ergeben sich bei der Darstellung der be-
kannten Theorien eine Menge interessanter Einzelheiten, worauf ich nur beiläufig verweisen
will. […]144
Nach dem positiven fachlichen Urteil bemängelte Klein noch die unzulängliche
Art der Darstellung, die vorm Druck zu beheben sei, und stimmte „für die Zulas-
sung des Cand.[idaten] zu den weiteren Habilitationsleistungen“. Er konnte sich
aber nicht enthalten, eine subjektive Bemerkung anzuschließen:
Hr. Dr. Study ist eine selbständig angelegte, feinsinnige Natur. Wenn er noch lernt, mehr als
bisher seine subjectiven Impulse den Anforderungen gegebener Bedingungen unterzuordnen,
wenn ferner seine Gesundheit hinreicht, um die Anstrengungen zu überwinden, ohne welche
ein tieferes Eindringen in die wesentlichen Probleme unserer Wissenschaft unmöglich ist, so
hoffe ich von seiner Habilitation eine wesentliche Förderung der mathematischen Studien
unserer Universität.145
Klein half, Studys Habilitationsschrift für den Druck vorzubereiten und empfahl
ihm die Studienreise nach Paris. Hilbert, der mit ihm reiste, erlebte Studys eigen-
sinniges Verhalten, der auch weiterhin aneckte und keinen Streit vermied. Klein
sah sich als Herausgeber der Mathematischen Annalen in Studys Polemiken mit
verschiedenen Kollegen (Halphen, Zeuthen, Cayley) gezogen. Klein versuchte zu
vermitteln und auszugleichen,146 bescheinigte Study schließlich „unentwegte
Rechthaberei“ und „Intoleranz“ gegenüber anderen Ansichten und war es leid, für
dessen prekäre Lage verantwortlich erklärt zu werden. Study wechselte 1888 als
Privatdozent von Leipzig (Sachsen) nach Marburg (Preußen) und versuchte da-
nach sein Glück in den USA. Dort traf ihn Klein 1893 und ebnete ihm den Weg,
indem er überaus günstig an das preußische Kultusministerium nach Berlin be-
richtete:
Ueber Study, den ich seit 3 Wochen täglich sehe, kann ich sehr günstig berichten. Der Con-
greß und das folgende Colloquium haben ihm Gelegenheit gegeben, vielfach persönliche Be-
ziehungen mit Fachgelehrten zu gewinnen und seine eigene wissenschaft.[liche] Ueberlegen-
heit hervortreten zu lassen. Ich habe meinerseits hinzufügen können, dass Study was selbstän-
dige Gestaltungskraft angeht einer unserer besten jungen Leute ist, und gleich hinter Hilbert
u. Minkowski rangirt.147
Study, der das offensichtlich nicht kannte, erhielt in Preußen ein Extraordinariat
(Bonn 1894) und Ordinariate (Greifswald 1897; Bonn 1904). Sein Verhältnis zu
Klein blieb distanziert. Beim Schreiben eines ENCYKLOPÄDIE-Artikels „Theorie
der allgemeinen und höheren komplexen Größen“ (Bd. I, 147-83) provozierte
Study den nächsten Eklat. Er hatte fast zwei Jahre für den relativ kurzen Beitrag
benötigt und tolerierte schwer Änderungswünsche, die der Band-Redakteur Franz
Meyer, Hilbert als Autor am selben Band sowie Klein erbaten. An Selbst-
überschätzung leidend, empörte sich Study darüber, dass Klein eigene Arbeiten zu
zitieren empfohlen habe: „Es ist gar nicht zu glauben, mit welcher Schamlosigkeit
Klein diese Encyklopädie für seine Reclamezwecke ausnützt.“148 Klein hatte
berechtigt Kritik geübt, denn Studys Entwurf ließ wichtige Forscher zum Gebiet
vermissen, wie etwa Hamilton, auf den die Darstellung der komplexen Zahlen als
Paare von reellen Zahlen und die Quaternionen zurückgingen.149
Die zentrale Lage und die Position der Universität Leipzig im deutschsprachigen
Raum sowie Kleins internationale Kontakte führten dazu, dass die Zahl der aus
dem Ausland zu ihm kommenden Studenten und jungen Wissenschaftler wuchs.
So wie Sophus Lie nordischen Mathematikern schon zuvor empfohlen hatte, nicht
in Berlin sondern bei Klein zu studieren, weil sie dort unterstützt werden würden,
empfahlen Kollegen aus Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich-Ungarn,
der Schweiz und den USA ihren Studenten den Weg zu Klein.
Ab 1880/81 studierte der noch unpromovierte Georges Brunel als erster Franzose
zwei Semester lang bei Klein. Der erste Brite Arthur Buchheim, der bei Henry
John Stephen Smith in Oxford ausgebildet worden war, kam ein halbes Jahr später
und blieb ebenfalls zwei Semester.
Buchheim beteiligte sich im Seminar mit drei Vorträgen (9.5., 14.11., 16.11.
1881) an der Literaturanalyse zu Abelschen Integralen; und Klein unterstützte
seine weitere Laufbahn mit einem Gutachten.153 Obgleich Buchheim bereits im
Jahre 1888 verstarb, publizierte er 24 Artikel, die z.T. noch jüngst zitiert wur-
den.154 Study knüpfte an dessen liniengeometrische Arbeiten an.155
Brunel, dessen ungewöhnlich nationalistische Töne in Briefen an Poincaré
sich auf das Verhältnis Klein – Poincaré auswirken sollten (vgl. 5.5.3.2), kam mit
einem Empfehlungsschreiben von Gaston Darboux.156 Klein fühlte sich Darboux
gegenüber verpflichtet, Brunel zu eigenen Resultaten zu führen. Nachdem Brunel
dreimal im Seminar vorgetragen hatte, „Ueber die Bestimmung des Geschlechtes
p“ (am 20.11.1880), „Ueber die Analysis situs“ (31.1.1881) und „Ueber die
Mannigfaltigkeitslehre“ (2.5.1881)157, informierte Klein Darboux:
Ich muss Ihnen doch ein paar Worte über Brunel schreiben. Er ist merkwürdig receptiv, es
gibt kaum etwas, was er nicht gelesen und auch wirklich verstanden hat. Dagegen will es mit
der Productivität nur langsam vorwärts; alle Versuche, ihn zu Arbeiten in grösserem Style zu
veranlassen, (und an denen habe ich es nicht fehlen lassen) sind bisher gescheitert. Erst ganz
neuerdings hat er Untersuchungen über Krümmungsradien begonnen, bei denen ich ihn na-
türlich unterstütze, aus denen hoffentlich etwas publikationsfähiges wird. Diess schliesst na-
türlich nicht aus, dass er mir persönlich sehr werth ist. Er ist im Verkehr liebenswürdig, nur
nicht besonders gewandt, die deutsche Sprache macht ihm trotz aller Uebung noch immer viel
Schwierigkeit. […]158
Kurz darauf meldete Klein Fortschritte: „Brunel hat mir neuerdings ein Manu-
script gebracht, in welchem er Formeln für Krümmungsverhältnisse bei Curven in
n Dimensionen zusammengestellt hat; ich bat ihn, mir dasselbe für die Annalen
auszuarbeiten.“159 Klein hatte das richtige Mittel gefunden und Brunel auf Ca-
mille Jordans « Essai sur la géométrie à n dimensions » (Bulletin de la Société
Mathématiques de France, t. III, 103-73) gelenkt. So vollendete Brunel am 3. Juni
1881 seine erste Arbeit: « Sur les propriétés métriques des courbes dans un espace
linéaire à n dimensions » (Math. Ann. 19 (1882) 37-55). Er erhielt bereits 1884 in
Bordeaux eine Professur. Seine spätere Mitarbeit an der ENCYKLOPÄDIE (Band II,
Bestimmte Integrale, 1899) können wir als Dank an Klein interpretieren.
Irving W. Stringham, zwei Jahre älter als Klein, hatte erst 1880 unter James Jo-
seph Sylvester an der Johns Hopkins University in Baltimore mit dem Thema
„Regular Figures in n-dimensional Space“ promoviert und kam als erster US-
Amerikaner. Enthusiastisch schrieb er von Leipzig aus an seinen Universitätsprä-
sidenten Daniel Coit Gilman über Professor Klein’s wonderful critical faculty,
und über die Internationalität: one Englishman, one Frenchman, one Italian, and
one American (myself).160 Stringham beherrschte sehr gut Deutsch und hielt in
Kleins Seminar drei Vorträge: Vierdimensionale reguläre Körper (29.11.1880),
Gruppen von Bewegungen bei vierdimensionalen Körpern (28.2.1881), Zuord-
nung einer Gruppe auf sich selbst (23.4.1881), wozu er ausführlich in Kleins
Protokollbuch eintrug.161 Stringham referierte über Ergebnisse seiner Dissertation
und präsentierte beim dritten Vortrag bereits neue Ergebnisse, die auf Kleins An-
regung basierten. Er untersuchte analytisch, welche Gruppen von linearen Trans-
formationen in sich es bei vier Veränderlichen gibt und welche davon reguläre
Körper liefern, wobei er hervorhob:
Das Princip, auf welches die Betrachtung des Problems gegründet wird, hat Herr Prof. Klein
in einem Vortrag „Ueber die Bewegungen im Nicht-Euclidischen Raum“ voriges Jahr gege-
ben (Siehe Protocolbuch des Wintersemesters 1880-1, p. 97).162
Noch in Sachsen arbeitete Stringham einen Artikel aus, dessen Ergebnisse in Dis-
kussion mit Klein entstanden. Der Artikel erschien in der ältesten US-amerikani-
schen mathematischen Zeitschrift von längerem Bestand, dem 1878 vom Briten
James Joseph Sylvester gegründeten American Journal of Mathematics.163 Bereits
1882 erhielt Stringham eine Professur an der University of California in Berkeley.
Die nächsten beiden US-Amerikaner studierten ab Sommer 1884 in Leipzig,
nachdem Felix Klein das Angebot abgelehnt hatte, Nachfolger Sylvesters in Bal-
timore zu werden (vgl. Abschnitt 5.8.1). Frank Nelson Cole und Henry Burchard
Fine kamen mit ungenügenden Sprachkenntnissen. So schrieb Otto Hölder am 23.
April 1884: „Da ist ein Italiener, dort ein Amerikaner, der weder deutsch noch
französisch kann.“164 Cole und Fine besuchten zwei Semester lang Vorlesungen
von Klein und nahmen im Sommer 1885 auch am funktionentheoretischen Semi-
nar teil, ohne vorzutragen. Sie gelangten relativ schnell zum Abschluss ihrer Pro-
motion. Fine, von Study unterstützt165, reichte seine Dissertation „On the singu-
larities of curves of double curvature“ am 27. Mai 1885 in Leipzig ein.166 Fine
war Kleins einziger Promovend, der den Doktortitel mit einer fremdsprachigen
Dissertation an einer deutschen Universität erwarb; er lud Klein später (1893;
1896) nach New Jersey (Princeton University) ein (vgl. Abschnitte 7.5.3; 8.1.3).
Der andere, Frank Nelson Cole, promovierte 1886 an der Harvard University
mit der von Klein angeregten Arbeit A Contribution to the Theory of the General
Equation of the Sixth Degree. Diese wurde im selben Band des American Journal
of Mathematics (8 (1886), 265-86) publiziert wie die Dissertation von Fine.
Neben dieser Zeitschrift, inzwischen von Simon Newcomb geleitet167, existierte
damals nur noch eine weitere mathematische Zeitschrift in den USA, was ein
Licht auf den Forschungsstand wirft. Cole, der zunächst an der Harvard Univer-
sity lehrte und seine erste Professur 1888 an der University of Michigan erhielt,
brachte Kleins geometrisches Herangehen an die Funktionentheorie mit in die
USA und reichte dessen inspirierende Begeisterung weiter.168
Gerbaldi erklärte die Methode und den entsprechenden Beweis von Fuchs und
schlussfolgerte, dass Kleins Methode (Bd. XII) einfacher sei. Gerbaldi blieb nur
ein Semester; in den Mathematischen Annalen erschien erst im Band 50 (1898)
eine Arbeit von ihm, die engen Bezug zu Kleins, Valentiners und Wimans Ergeb-
nissen zu Symmetriegruppen besaß.173
Giacinto Morera, der dritte italienische Mathematiker in Kleins Leipziger
Zeit, hatte bei Eugenio Beltrami promoviert und kam mit dessen Empfehlungs-
schreiben im Herbst 1883.174 Moreras erster Seminarvortrag am 14. Juli 1884
175 [Protokolle] Bd. 6, 101-19 (Ueber die Bildungsgesetze einiger Modulformen n-ter Stufe).
176 Morera, G. (1885): „Ueber einige Bildungsgesetze in der Theorie der Theilung und der Trans-
formation der elliptischen Functionen“. Math. Ann. 25, 203-11 (eingereicht 3.8.1884).
177 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 991 (11.2.1885); 1013/2 (6.1.1886), Hurwitz an Klein.
178 1881 Privatdozent in Prag; seit 1886 privat in Italien; bekannt durch Möbius-Kantor Graph.
179 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 442, Bl. 47 (Gordan an Klein, 8.9.1885) .
180 Verzeichnis der Promotionen, Bd. 1: [UA Erlangen] Phil Fak, 923 (F), Akte 923. Die Arbeit
wurde in den Sitzungsberichten der Akademie in Wien (91, 1885) publiziert.
222 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Der aus Prag stammende Waelsch referierte die Arbeit von Alexander Brill und
Max Noether „Über die algebraischen Functionen und ihre Anwendung in der
Geometrie“ (Math. Ann. 7). Der im Randgebiet von Prag geborene Weiß trug über
Max Noethers Schrift „Zur Grundlegung der Theorie der algebraischen Raumkur-
ven“ vor.182 Gordan schrieb am 13. Dezember 1885 an Klein: „Die beiden Oester-
reicher, die Sie uns gesandt haben, machen sich ganz gut; nur arbeitet Weiß zu
viel, ich habe stets Angst, so wird er nicht lange aushalten.“183 Weiß promovierte
in Erlangen im Jahre 1887, Waelsch ein Jahr darauf. Auch später sandte Klein
seinen Erlanger Freunden Doktoranden, so z.B. die US-Amerikaner W.F. Osgood
und H.W. Tyler, die bei ihm in Göttingen seit 1887 studierten und 1889/90 in
Erlangen den Titel erlangten (vgl. auch 6.3.2).184
Der ungarische Mathematiker Gustav Raussnitz (so im Protokollbuch) wurde
später unter dem Namen Gusztáv Rados bekannt. Rados entstammte einer jüdi-
schen Familie aus Pest und kam nach dem Studium in Budapest zu Klein. Basie-
rend auf bereits hervorragenden zahlentheoretischen Vorkenntnissen referierte er
im Sommer 1885 die Abhandlung von Richard Dedekind und Heinrich Weber
„Theorie der algebraischen Functionen einer Veränderlichen“ sowie Inhalt und
Methoden von Kroneckers „Festschrift“ (Über den Zahlbegriff). Rados analysierte
Kroneckers Schrift besonders ausführlich, sprach an drei Terminen darüber, wo-
bei eine forschungsleitende Haltung erkennbar wurde, die der von Klein ent-
sprach. So polemisierte er gegen Kroneckers Beschränkung darauf, nur „die Ent-
wicklung der Eigenschaften der rationalen ganzen Zahlen und Funktionen [zu
betrachten,] ohne dabei dem zu Grunde gelegten Gebiete fremde Hülfsmittel zu-
zuziehen.“ Ganz im Sinne von Klein setzte Rados dagegen, „alle uns zu Gebote
stehenden Hülfsmittel“ im Folgenden zu benutzen. D.h., er präsentierte wesentli-
che Grundbegriffe von Kroneckers Arbeit, lobte die „algebraische Materialisirung
der Kummerschen idealen Zahlen oder des Dedekind-Ideals“, zog aber für die
Darstellung auch andere Methoden (explizit von Julius König) heran.185
Klein und Rados blieben langfristig in Kontakt. Rados erhielt eine Professur
an der Technischen Hochschule in Budapest. Als die Ungarische Akademie der
Wissenschaften im Jahre 1905 einen János-Bolyai-Preis (10000 Kronen) stiftete,
wurden Felix Klein und Gaston Darboux als (einzige) auswärtige Mitglieder in
die Preis-Kommission berufen, neben Julius König und Gusztáv Rados.186
In den Mathematischen Annalen publizierten früh russische Autoren, die ihre Bei-
träge in Französisch einreichten. Dazu gehörte Aleksandr N. Korkin, ein Schüler
von Tschebyschow, der nach seiner Promotion auch in Paris und Berlin studiert
hatte und u.a. herausragende Ergebnisse im Gebiet der geometrischen Zahlentheo-
rie erreichte. Als Korkin 1879 eine erste Arbeit von Andrej A. Markow an die An-
nalen-Redaktion sandte, bezeichnete es Adolph Mayer in einem Brief an Klein als
„[…] politisch, die [in schlechtem Französisch geschriebene] Arbeit aufzuneh-
men“.187 Hier hatte Mayer die Konkurrenz mit dem Crelle-Journal im Auge. Als
mit den Acta Mathematica das Mittag-Lefflersche Organ zusätzlich auf den Plan
trat (vgl. 2.4.2), erweiterte Klein mit Hilfe seiner Seminarteilnehmer das Autoren-
spektrum für die Mathematischen Annalen weiter in osteuropäische Richtung.
Matvej A. Tichomandritzky erfüllte Kleins Wunsch nach einer Übersicht über
Forscher, Institutionen und Hauptarbeitsgebiete in diesem geographischen Raum.
Der fünf Jahre ältere Mathematiker hatte von St. Petersburg aus eine Note „Ueber
das Umkehrproblem der elliptischen Integrale“ (20.6.1883) für die Mathemati-
schen Annalen geschickt, bevor er Klein in Leipzig besuchte. Nachdem er in des-
sen Seminar (21.7.1884) vorgetragen hatte, erschien eine zweite Note, die noch
jüngst zitiert wurde.188 Tichomandritzky, seit 1883 Dozent an der Universität
Charkow, lieferte Klein einen detaillierten Bericht über russische und weitere
osteuropäische (ukrainische, polnische, ungarische, böhmische) periodische Lite-
ratur und zugehörige Personen.189 Sein Bericht umfasste drei Schriften der Kaiser-
lichen Academie der Wissenschaften (St. Petersburg), Memoires, Bulletins, Me-
langes mathématiques et astronomiques, tirés des Bulletins, die nur Deutsch und
Französisch publizierten; außerden in Russisch erscheinende Organe in Moskau,
Charkow, Kazan, Odessa, Kiew, Warschau u.a. Auf dieser Basis entschied Klein
über den Zeitschriftenaustausch, gewann weitere Autoren und Studierende.
Theodor Molien war der Erste, der aus dem Baltikum zu Klein kam, zum
Winter 1883/84 (vgl. Tab. 6). Aus Moliens Seminarvorträgen190 entwickelte sich
die Arbeit Über lineare Transformationen elliptischer Funktionen. Dazu teilte
Molien im Dezember 1885 aus Dorpat (Tartu, Estland) an Klein mit, „[…] dass
meine Promotion zum Magister stattgefunden hat auf Grund der Arbeit, die ich
unter Ihrer Leitung ausführte.“191 Nachdem Kleins Assistent Friedrich Schur 1888
an der Universität Dorpat eine Professur erhalten hatte, promovierte Molien unter
ihm, und Klein nahm die Dissertation in die Mathematischen Annalen auf.192
Diese hier angebahnten Kontakte dehnte Klein in den folgenden Jahren weiter
aus (vgl. 6.3.6.1). Sie führten zu seinen Mitgliedschaften in der Moskauer Ma-
thematischen Gesellschaft (1891), der Akademie der Wissenschaften in St. Pe-
tersburg (1895), u.a. Den Wahlvorschlag als Korrespondent der St. Petersburger
Akademie verfassten A. A. Markow und Nikolaj J. Sonin193, langjährige Autoren
der Mathematischen Annalen. Klein erkannte neue Richtungen schnell und orga-
nisierte später auch die Übersetzung russischer Lehrbücher, wozu Bücher von A.
A. Markow gehörten. Das ist nur eines von zahlreichen Projekten, das Klein im
Verein mit dem Verlag B.G. Teubner seit der Leipziger Zeit verstärkt auf den
Weg bringen sollte (vgl. Abschnitt 5.6).
5.5 FORSCHUNGSFELDER
Für Kleins Leipziger Forschungen sind vor allem die im Wettstreit mit Henri
Poincaré errungenen Ergebnisse viel diskutiert, analysiert und interpretiert wor-
den.194 Diese relativ kurze Phase intensiver Arbeit mit Ergebnissen höchsten Ni-
veaus bedarf der Einordnung. Klein hatte das Forschungsfeld, dem er sich mit
Poincaré zuwenden sollte, in München abgesteckt, an Schüler weitergegeben und
– was bisher kaum bekannt wurde – für sich selbst bereits beiseite gelegt. Seine
Worte an Adolf Hurwitz sprechen eine deutliche Sprache:
Ihre Arbeiten, von denen Sie schreiben, erfüllen mich einigermassen mit Neid. Sie wissen,
dass mir die Zahlentheorie immer wie ein gelobtes Land erscheint, in welches ich allerdings
habe einen Blick werfen dürfen, welche ich aber vielleicht nie betreten soll. Wenn ich an
meine eigenen Arbeiten über elliptische Modulfunctionen zurückdenke, werde ich weh-
müthig: so viele und schöne Perspectiven, die ich alle unausgenutzt lassen soll! Da ist es mir
ein Trost, zu wissen, dass Sie in dieser Richtung weiter arbeiten. Um so mehr will ich Sie er-
muntern, vorwärts zu gehen. Sehen Sie doch, dass Sie die Theorie des Legendre’schen Zei-
chens mit der w-Figur in explicite Verbindung bringen. Ich denke mir die Sache so.[…]
Klein versprühte neue Ideen, in welcher Richtung Hurwitz fündig werden könnte.
Für sich selbst aber meinte er im selben Brief
[…] winkt […] die Mechanik oder die math.[atische] Physik (wie Sie es nennen wollen). Erst
wenn ich die gemeistert habe, dass ich betreffs derselben originelle Ideen besitze, kann wie-
der von einer gedeihlichen mathematischen Production meinerseits die Rede sein. Wird mir
gelingen, dieses Programm durchzuführen?195
Mit diesem Brief Kleins vom 24. Oktober 1881 sollen zwei Aspekte hervorgeho-
ben werden. Erstens sah Klein Hurwitz’ mathematische Kreativität und zweifelte
wiederholt, ob er selbst mathematisch genügen würde. Keineswegs glaubte er von
sich, „the leading German mathematician of his generation and perhaps in the
193 [Archiv St. Petersburg] Fond 2, 1-1895, 73, Bl. 5, 16-17; TOBIES 2018a.
194 Vgl. vor allem ROWE 1992, 2018a, 120-27; GRAY 2013, 207-46.
195 Klein an Hurwitz, Brief v. 24.10.1881 [UBG] Math. Arch. 77: 52, Bl. 77-78.
5.5 Forschungsfelder 225
Der Begriff „physikalische Mathematik“ für Kleins Herangehen stammt von Ar-
nold Sommerfeld.198 Klein, der auch in Briefen an Lie immer mal wieder mit dem
physikalischen Feld geliebäugelt hatte, empfing in Leipzig Impulse durch Carl
Neumann. Dabei erlangte Klein nicht nur in Neumanns ureigensten Gebiet, der
Potentialtheorie, neue Resultate. Klein nutzte den physikalischen Ansatz auch als
heuristisches Prinzip, um Riemanns Funktionentheorie zu beschreiben.
196 Jeremy GRAY (2013, 226) schrieb über Klein für dieselbe Zeit: “He was ambitous, he had
every reason to believe he was the leading German mathematician of his generation and per-
haps in the world, and he was beginning to shape himself as the heir of Riemann.”
197 GAIER 1990, 363-64.
198 SOMMERFELD 1919, 301.
226 5 Professur für Geometrie in Leipzig
In Abschnitt 5.3.1 wurden bei der Lehrabstimmung Differenzen mit Carl Neu-
mann angedeutet. Diese Differenzen korrespondierten mit diesem Forschungsfeld.
In seiner ersten Leipziger Vorlesungsstunde am 26. Oktober 1880 hatte Klein
Carl Neumanns Vorlesungen über Riemann’s Theorie der Abel’schen Integrale
(Leipzig: B.G. Teubner, 1865) als eine grundlegende Literatur hervorgehoben.199
Neumann hatte sich, wie der befreundete Clebsch, als einer der Ersten mit Rie-
manns Arbeiten auseinandergesetzt, im Jahre 1865 gar ein zweites Buch zum
Thema bei Teubner publiziert: Das Dirichlet’sche Princip in seiner Anwendung
auf die Riemann’schen Flächen. Somit sah Klein bei Neumann gute Anknüp-
fungspunkte für seine physikalisch-mathematischen Interessen:
Die erste förderliche Anregung für meine diesbezüglichen Arbeiten empfing ich bei meiner
Übersiedelung nach Leipzig 1880 durch den Verkehr mit Carl Neumann. Von hier aus sind
die beiden Aufsätze über Lamésche Funktionen entstanden, die ich 1881 in den Math. Anna-
len Bd. 18 veröffentlichte. Auch meine Schrift über „Riemanns Theorie der algebraischen
Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale“, die ich 1882 folgen ließ […], läßt
die physikalische Beeinflussung nicht verkennen; sie nimmt ihren Ausgangspunkt geradezu
vom physikalischen Denken.200
erfassen will.“205 Einer der Sätze war das Oscillationstheorem, das Klein erst in
seiner Arbeit „Zur Theorie der Laméschen Functionen“ (1890) so bezeichnete.
Darin vertiefte er die Ansätze von 1881, unterstrich die Rolle dieses Theorems für
die Potentialtheorie und die Theorie der linearen Differentialgleichungen zweiter
Ordnung und führte den Begriff „automorphe Funktionen“ ein:
Hiermit aber ist für den Fall des hyperelliptischen Gebildes f diejenige conforme Abbil-
dung geleistet, deren Möglichkeit und Bestimmtheit ich in Band 19 der mathematischen An-
nalen (Weihnachten 1881) für beliebige algebraische Gebilde behauptet habe. Es war bis
jetzt nicht gelungen, dieses letztere Theorem auf andere als durch Continuitätsbetrachtungen
zu erweisen, die von der in der η-Ebene gelegenen Figur ihren Ausgang nehmen: hier haben
wir, allerdings nur für den einfachen Fall eines hyperelliptischen Gebildes mit sechs reellen
Verzweigungspuncten, eine Construction des betr. η vom gegebenen algebraischen Gebilde
aus.
Es knüpft sich hieran noch eine weitere neue Bemerkung, welche auf die oben gegebene Ein-
führung homogener Variabler zurückgeht. Bekanntlich sind λ und f in dem soeben ge-
fundenen η eindeutig; sie stellen solche eindeutige Functionen von η vor, welche sich bei un-
endlich vielen linearen Substitutionen von η reproduciren (ich möchte vorschlagen, solche
Functionen überhaupt automorphe Functionen von η zu nennen).206
205 [Paris] 75 (Klein an Darboux, 10.6.1881); KLEIN 1922 GMA II, 507; zur Einordnung der
Ergebnisse in die Potentialtheorie vgl. L. Lichtenstein, „Neuere Entwicklungen der Potential-
theorie. Konforme Abbildung“. ENCYKLOPÄDIE Bd. II. 3.1., 177-377, bes. 189-90.
206 Göttinger Nachrichten 1890, Nr. 4, 85-95, Zitat 94 automorph: von griech. αὐτός „selbst“ und
griech. μορφή „Gestalt“, „Form“. (Vgl. Abschnitte 5.5.3.2; 5.5.5).
207 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 275.
208 KLEIN 1922 GMA II, 521.
209 Ebd.
228 5 Professur für Geometrie in Leipzig
5.5.1.2 Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale
Klein fasste mit dieser Schrift erstmals Ergebnisse zusammen, die er seit der
Münchener Zeit gewonnen hatte, mit dem Ziel, sie für die Nachwelt zu erhalten:
Ich selbst habe mittlerweile an einer kleinen Schrift über Riemann’s Theorie gearbeitet, die
ich bei Teubner erscheinen lassen will. Die Sache selbst kennen Sie vom Sommersemester
her; doch machte es mir viel Mühe, dieselbe in geschickte Form zu bringen. […] Sie können
sich denken, wie sehr ich mich zu der immerhin langweiligen Ausarbeitung habe zwingen
müssen. Aber man ist wohl genöthigt, so zu verfahren; andernfalls verlieren sich alle die
Ideen, mit denen man ab und zu sich beschäftigt, im Sande.211
Klein stützte sein physikalisches Herangehen nicht nur auf Riemann, sondern ins-
besondere auf Thomson und Tait sowie Carl Neumann.212 Er setzte bisherige
Arbeiten über Riemanns Theorie als bekannt voraus und betonte Ergebnisse von
H. A. Schwarz, Georg Hettner, Friedrich Schottky. Klein hatte von Schottky er-
fahren, dass dessen ähnliche Untersuchungen ebenfalls von der „Betrachtung der
Strömungen einer inkompressiblen Flüssigkeit“ ausgegangen waren und er nur
auf Weierstraß’ Anraten den physikalischen Ansatz durch die „Bezugnahme auf
Schwarz’ Untersuchungen über konforme Abbildung ersetzt“ hatte.213 Sich der
Vorarbeiten bewusst, reklamierte Klein für sich die Idee, „geschlossene Flächen
im Raume der funktionentheoretischen Betrachtung zugrunde zu legen und damit
die eigentlichen Grundgedanken der Riemannschen Theorie zu fassen“. Dabei
berief er sich auf einen (vermeintlichen) Hinweis von Friedrich Prym – der
Riemann noch selbst gehört hatte – und benutzte beliebig gegebene krumme
Flächen im Raume als Träger komplexer Ortsfunktionen.214 Zwar sind „krumme
Flächen“ keine Riemannschen Flächen, aber das Herangehen ist sinnvoll, wenn
man von der metrischen zur konformen Struktur der Fläche übergeht.215
Arnold Sommerfeld beschrieb die Grundideen wie folgt:
210 SCHULZE 1911, 306-307. – KLEIN 1882; 1923 GMA III, 478 und 499-573.
211 [UBG] Math. Arch. 77: 51, Klein an Hurwitz, Brief v. 20.9.1881 von Borkum.
212 KLEIN 1882; 1923 GMA III, 478 und 499-573; KLEIN 1987.
213 Schottky, F. (1877): „Ueber die conforme Abbildung mehrfach zusammenhängender ebener
Flächen“. Crelle-Journal 83, 300-51; Klein ordnete Schottkys Theoreme als spezielle Fälle
unter seine eigenen gewonnenen Resultate, KLEIN 1923 GMA III, 572-73.
214 Beltrami hatte bereits Flächenstücke behandelt und dabei die Randwertaufgabe gestellt. –
Prym akzeptierte Kleins Herangehen, erklärte aber, dass er selbst das nicht angeregt habe.
Vgl. KLEIN 1923 GMA III, 479; 501-502; Zitat 479; vgl. auch LAUGWITZ 1999, 112-14.
215 Für diesen Hinweis dankt die Autorin Erhard Scholz.
5.5 Forschungsfelder 229
Die Idee der Riemannschen Fläche, die Riemann in seiner Dissertation einführt und durch
eine Andeutung am Schlusse derselben erweitert, bildet Klein zur Vorstellung der geschlos-
senen „Klein-Riemannschen Fläche“ aus. So wie die komplexe Ebene funktionentheoretisch
am besten durch die Kugel ersetzt wird, lässt sich eine verzweigte Riemannsche Ebene von
höherem Geschlecht ersetzen durch eine geschlossene singularitätenfreie räumliche Fläche
von mehrfachem Zusammenhange. Diese Fläche wird gleichmäßig mit leitender Masse belegt
gedacht und bildet einen Konduktor216 für elektrische Strömung. Die auf der Fläche eindeuti-
gen Potentiale bilden die Bausteine für die Theorie der algebraischen Funktionen der Fläche
und ihrer Integrale. Die Unstetigkeitspunkte der Potentiale sind die Quellen und Senken der
Strömung; es sind zugleich Punkte, in denen die Elektroden als Stromzu- und abführung an
den Konduktor gelegt zu denken sind. Indem man unendlich viele Elektroden transversal
längs eines Rückkehrschnittes der Fläche aneinander reiht, erhält man als Potentiale die über-
all endlichen Integrale der Fläche (Integrale der ersten Gattung). Integrale zweiter und dritter
Gattung ergeben sich bei punktförmigen zusammenfallenden oder getrennten Elektroden; die
auf der Fläche eindeutigen Funktionen, die algebraischen Funktionen des Gebildes, werden
als Sonderfall aus den Potentialfunktionen aufgebaut.
Das ist nicht eigentlich mathematische Physik, was hier getrieben wird, sondern physikalische
Mathematik.217
Klein betonte, dass es ihm auf „Überblick über Umfang und Leistung der Me-
thode“ ankomme. Er hatte die Schrift in drei Abschnitte eingeteilt: 1) Einleitende
Betrachtungen; 2) Exposition der Riemannschen Theorie und 3) Folgerungen.
Unter Folgerungen finden wir seine Bemerkung, die später als eine Modell-
vorstellung des nach ihm benannten Kleinschen Schlauches bezeichnet wurde.
Ausgehend von seiner Klassifikation geschlossener Flächen nach dem Geschlecht
p betrachtete Klein in §23 „Berandete Flächen und Doppelflächen“.218 Mit derarti-
gen Flächenklassifikationen hatte er sich bereits in den 1870er Jahren befasst und
war im Dialog mit Ludwig Schläfli zu Ergebnissen im Gebiet der Flächentopolo-
gie gelangt. Beim Studium von nicht-orientierbaren Flächen war der Begriff der
„Doppelfläche“ eingeführt worden (vgl. 3.1.3.1). Klein ordnete diese spezielle
Fläche 1882 mit p=1 zu den „gewissen unberandeten Doppelflächen“:
Man kann sich von denselben ein Bild machen, indem man etwa ein Stück eines Kautschuk-
schlauches umstülpt und nun so sich selbst durchdringen läßt, daß bei Zusammenbiegung der
Enden die Außenseite mit der Innenseite zusammenkommt. – Bezüglich aller dieser Flächen
besagen die früheren Sätze, daß die Abbildbarkeit der einzelnen Fläche auf eine zweite der-
selben Art das Bestehen einer, aber nur einer, Gleichung zwischen den reellen Konstantenn
der Flächen voraussetzt, daß aber die Abbildung, wenn überhaupt, in unendlich vielen Weisen
geschehen kann, indem man ein doppeltes Vorzeichen und eine reelle Konstante zu beliebiger
Verfügung hat.219
KLEIN/ROSEMANN 1928 enthält dazu erstmals eine Abbildung (vgl. Abb. 24).220
Die zitierte erste Beschreibung Kleins stammt aus seiner Schrift Über Riemanns
Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale (B.G. Teubner. Leipzig
1882), die er ursprünglich noch durch Beweise ergänzen wollte. Resultate dazu
flossen in seine Arbeit „Neue Beiträge zur Riemannschen Funktionentheorie“
(Math. Ann. 21), in Vorlesungen sowie in die Monographien KLEIN/FRICKE
(1890/92) und FRICKE/KLEIN (1897/1912). Wesentliche Fortschritte erzielte
schließlich Hermann Weyl, wie kurz erwähnt (vgl. 3.1.3.1). Weyl erklärte in der
aus seiner Vorlesung entstandenen Schrift Die Idee der Riemannschen Fläche
(1913) Riemannsche Flächen (neu) als reell zweidimensionale Mannigfaltigkei-
ten, die eine komplexe Struktur tragen (ausgezeichnet durch „Ortsuniformisie-
rende“). Weyl benutzte Hilberts Beweis des Dirichlet-Prinzips für harmonische
Funktionen mit vorgegebenen Randbedingungen, um komplex analytische Funk-
tionen auf der Fläche einzuführen. Er urteilte:
Diese Auffassung des Begriffs der Riemannschen Fläche, in anschaulicher Form zuerst von
F. Klein in seiner Schrift „Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer
Integrale“ entwickelt, ist allgemeiner als diejenige, deren sich Riemann selbst in seinen
grundlegenden Arbeiten über die Theorie der analytischen Funktionen bedient. Es kann aber
kein Zweifel sein, daß erst bei dieser verallgemeinerten Fassung die Riemannschen Ideen in
ihrer vollen Einfachheit und Kraft hervortreten.221
Klein hatte seine 82 Seiten umfassende Schrift vor einem tieferen Blick in Poinca-
rés Noten am 7. Oktober 1881 auf Borkum vollendet. Auf diese ostfriesische Insel
hatte ihn Prof. Dr. med. Ernst Leberecht Wagner, Leiter der Medizinischen Poli-
klinik der Universität Leipzig, erstmals aus gesundheitlichen Gründen geschickt.
In Leizig hatte Klein bei arger Hitze unter „Asthma in Verbindung mit Heufieber“
gelitten. Er nutzte den Urlaub mit Frau und Sohn Otto nicht nur zum Baden und
zu Treffen mit Kollegen (Aurel Voß; Georg-Elias Müller)222, sondern auch zum
Schreiben. Die ostfriesischen Inseln sollten für Klein wiederholt Ziele sein, wo er
Erholung und „Produktionstrieb“ kombinieren konnte.
221 WEYL 1913, 35; 31955, 29-30. – Für das Urteil über Weyl dankt die Autorin Erhard Scholz.
222 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges aus Leipzig, Bl. 1.
5.5 Forschungsfelder 231
Ich hatte früher, als ich noch ganz im geometrischen Fahrwasser war, wenig Interesse für die
Berliner Mathematik: seit ich etwas mehr umfassende Umschau habe, hat sich das geändert
[…].223
Dies schrieb Felix Klein bereits am 3. März 1879 an Adolf Hurwitz. Im selben
Brief hatte er darum gebeten, ihm doch Fotografien der Berliner Mathematiker zu
besorgen. Wenn wir über Klein und das Verhältnis zu Mathematikern in Berlin
sprechen, dürfen wir keineswegs die oftmals kolportierte Erbfeindschaft gelten
lassen. Klein war offen für deren Methoden, ganz im Sinne des Prüfens neuer An-
sätze und des Verwebens, um zu neuen Ufern zu gelangen.
Noch bevor Leo Koenigsberger verschiedene mathematische Denkstile er-
kannte (vgl. Einführung 1.2), die von Riemann herrührende geometrische Me-
thode einerseits und die analytisch-arithmetische Richtung in Berlin andererseits,
war Klein nach Clebschs Vorbild dabei, das Beste aus den verschiedenen Rich-
tungen zu kombinieren. Dazu suchte er die neuesten Ergebnisse der Berliner – die
vor allem in Vorlesungen präsentiert wurden – aufzunehmen und zu analysieren.
Adolf Hurwitz hatte Ende der 1870er Jahren drei Semester lang die Berliner
Mathematik in sich aufgesaugt und damalige Vorlesungsinhalte der Berliner an
Klein weitergegeben. Hurwitz’ eigene Kombination der Methoden sind in seinen
Arbeiten zu spüren. Davon zeugen gleichfalls seine zwei Vorträge in Kleins Leip-
ziger Seminar vom Winter 1880/81, wo er sowohl Weierstraß’ funktionentheore-
tisches Herangehen (Entwicklung in Potenzreihen) nutzte, um „zahlreiche zah-
lentheoretische Sätze über die Summen der Potenzen der Theiler einer Zahl“ ab-
zuleiten, als auch geometrische Methoden nach Riemann und Klein.224
Im März 1881 unternahm Klein mit seiner Frau eine Reise nach Berlin,225 wo-
hin er kurz zuvor seinen Schüler Walther Dyck delegiert hatte. Klein unterstützte
Dyck, Kontakt mit Kronecker zu gewinnen. Hier begegnete Klein erstmals Her-
mann Amandus Schwarz persönlich und fand inhaltliche Bezugspunkte, die für
Hurwitz nützlich werden sollten. Beim Gespräch mit Kronecker erfuhr Klein –
was ihn schon lange interessiert hatte – dass Kronecker keinen Beweis für seinen
eigenen Satz aus der Theorie der Gleichungen 5. Grades gefunden hatte (vgl.
4.2.1). Klein sollte daraufhin seinen in München gefundenen Beweis noch einmal
als Krönung im Ikosaeder-Buch präsentieren (vgl. 5.5.6). Für Hurwitz’ weitere
Karriere sorgte Klein ebenfalls dadurch, dass er über ihn an Kronecker
223 [UBG] Math.Archiv 77: 20, Bl. 33, Brief Kleins an Hurwitz v. 3.3.1879.
224 [Protokolle] Bd. 2, Hurwitz: Über die Bildung der Modul-Functionen (6.12.1880), 67-70,
Zitat, 70; Über eine Reihe neuer Functionen, welche die absoluten Invarianten gewisser
Gruppen ganzzahliger linearer Transformationen bilden (21.2.1881), 138-46.
225 Klein, Vorläufiges über Leipzig, in JACOBS 1977, Bl. 1.
232 5 Professur für Geometrie in Leipzig
ausführlich Bericht erstattet[e], als ich neulich betreffs des Ihnen bekannten Punktes in der
Theorie der Gleichungen 5. Grades schrieb. Ich denke, er soll Sie auf entgegenkommendste
Weise empfangen. […]226
Dyck und Hurwitz hatten den Auftrag im Gepäck, Kleins Wunsch zu erfüllen,
„für unser Leipziger Seminar wirklich brauchbare Ausarbeitungen der beiden
Collegien von W.[eierstraß] und Kr.[onecker] [zu] bekommen.“227 Hurwitz fand
einen Abschreiber dafür, den Klein bezahlte. Außerdem wurden Carl Runge228
und Kleins Schüler Guido Weichold in die Spur gesetzt. Das Material war Klein
wichtig für seine erwähnte, am 6. Juni 1882 begonnene (von Study ausgearbei-
tete) Spezialvorlesung:
Vorgestern begann ich ein kleines Specialcolleg über eindeutige Functionen mit linearen
Transformationen in sich. Ich hoffe, dass Weichold mir die Copie des Weierstraß’schen Hef-
tes über Abel’sche Functionen besorgen wird.229
Unter dem Dirichlet’schen Princip verstehen wir diejenige Schlussweise auf die Existenz ei-
ner Minimalfunktion, welche Gauss (1839), Thomson (1847), Dirichlet (1856) und andere
Mathematiker zur Lösung sogenannter Randwertaufgaben angewandt haben und deren Unzu-
lässigkeit zuerst von Weierstraß erkannt worden ist. Dass dieses Princip dennoch zur Auffin-
dung von strengen und einfachen Existenzbeweisen dienen kann, habe ich in einem Vortrage
in der Deutschen Mathematiker-Vereinigung hervorgehoben; meine damaligen Andeutungen
sind seitdem von Ch. A. Noble für einfache bestimmte Integrale und von E. R. Hedrick für
gewisse Fälle von Doppelintegralen ausgeführt worden.234
Hilbert hatte mit Problem 20 im Jahre 1900 gefragt, unter welchen Bedingungen
besitzen Randwertprobleme Lösungen, und selbst kurze Zeit danach in der oben
zitierten Arbeit ein dem geometrischen und physikalischen Grundgedanken des
Dirichlet’schen Princips nachgebildetes Verfahren mittels Methoden der Variati-
onsrechnung entwickelt, aus welchem ein Beweis für die Existenz der Minimal-
funktion unter bestimmten einschränkenden Annahmen resultierte. Inzwischen
wurden zahlreiche weitere Arbeiten zum Thema publiziert, und es gilt als gewiss,
dass die Existenz einer Lösung nicht in jedem Fall durch eine Beschränkung der
Randwerte gesichert werden kann.235
Als Klein 1881/82 den Gegenstand ins Zentrum seines Seminars setzte, war er
von Weierstraß’ Kritik an Dirichlets Prinzip geprägt, der ein Gegenbeispiel
konstruiert hatte. Klein ließ vor allem Arbeiten analysieren, die das Prinzip zu
ersetzen versuchten: Carl Neumanns Methode des arithmetischen Mittels und eine
Methode von Hermann Amandus Schwarz, die auf konformen Abbildungen ba-
sierte.236 Diese Analysen spiegeln sich in Kleins Schrift „Neue Beiträge zur Rie-
mannschen Funktionentheorie“, in welcher er in § 6 „Literarisches zum Dirichlet-
schen Prinzip“ diskutierte.237 Gegen Ende des Wintersemesters 1881/82 trug
Klein in seinem Seminar darüber detailliert vor:
Vom 18. Januar bis 8. Februar erläuterte der Unterzeichnete im Ganzen in 10 aufeinander-
folgenden Vorträgen zunächst einige Stellen seiner inzwischen erschienenen Schrift: „Ueber
Riemann’s Theorie der algebraischen Functionen und ihrer Integrale“, sodann im Zusammen-
hange damit die Bedeutung der symmetrischen Riemann’schen Flächen für die Theorie der
reellen algebraischen Curven und der zugehörigen Abel’schen Integrale, endlich das sog. Di-
richlet’sche Princip.238
Zusätzlich notierte Klein für den 15. Februar 1882: „Kritik des Dirichlet’schen
Princip’s durch den Unterzeichneten. F. Klein“239 und begann den Vortrag mit:
Wir haben uns, um die Existenz von Funktionen auf Riemannschen Flächen zu zeigen, un-
strenger physikalischer Methoden bedient. Danach haben wir in einigen Vorträgen [vergl.
Protokollheft] strenge mathem. Methoden [Neumann, Schwarz] für die Existenzbeweise ken-
234 HILBERT 1901, 5; 1904, 161-62. – Hedrick und Noble promovierten 1901 bei Hilbert. – Vgl.
auch LEIS 1990.
235 Vgl. das Urteil von GAIER 1990, 368, über Hilberts und weitere Arbeiten dazu.
236 [Protokolle] Bd. 3, 91-126. Auf diese Literaturanalyse beziehen sich die Beiträge von H.
Hoppe, J. Kollert, H. Dreßler, F. Dingeldey, H. Wiener, G. Weicholdt.
237 Math. Ann. 21 (1883), 141-218, bes. 155-57; KLEIN 1923 GMA III, 643-45.
238 [Protokolle] Bd. 3, 136.
239 Ebd., 138.
234 5 Professur für Geometrie in Leipzig
nengelernt. Riemann benutzte das Dirichlet’sche Princip, das sehr rasch zum Ziele führte.
Dies wollen wir im Folgenden kennen lernen u. auf seine Zuverlässigkeit prüfen.240
Desweiteren führte Klein die Ableitung der Variationsrechnung für das genannte
Resultat vor. Er zeigte Riemanns Erweiterungen zum Dirichlet Prinzip und damit
die Existenz „der allgemeinsten in der Riemannschen Theorie in Betracht kom-
menden Funktionen [mit mehreren Unendlichkeitsstellen u. mehreren Periodici-
tätsmoduln] auf der mehrblättrigen Riemannschen Fläche über der Ebene.“242 Es
folgte die „Übertragung auf krumme Flächen“, woraus Klein schlussfolgerte:
„Das Dirichlet’sche Princip reicht also auch hierfür aus“.243 Unter dem Punkt
„Einwürfe gegen das Dirichlet’sche Princip“ brachte Klein Beispiele für das Ver-
sagen der Gültigkeit des Prinzips und demonstrierte noch einmal die bisherigen
Versuche, die Einwürfe zu beseitigen, auf die zugehörigen Seminarreferate im
Protokollbuch verweisend. Abschließend formulierte Klein die Aufgabe:
240 Die [Protokolle] enthalten diese Referate nicht. Sie sind als Anhang an die Vorlesung Funk-
tionentheorie, Bd. II (o.D.), Zitat, 364, aufbewahrt in Bibliothek Math. Institut U Leipzig.
241 Ebd., 368-69.
242 Zitat ebd., 377.
243 Ebd., 379.
5.5 Forschungsfelder 235
Die Existenz der Potentialfunktion ist auf Neumann – Schwarz’schem Wege zu erhärten,
darnach aber (im Geiste von Weierstraß) zu zeigen, dass sie das Dirichlet’sche Integral zu
einem Minimum macht).244
Dies sei hervorgehoben, weil gern unterschiedliche Sichtweisen von Klein und
Hilbert in Bezug auf Weierstraß vermutet werden.245 Klein estimierte Weierstraß’
Kritik am Dirichlet Prinzip, regte aber an, weiter daran zu arbeiten.246
5.5.2.3 Seminar über die Theorie der Abelschen Funktionen Ende 1882
Das Seminar sollte eine Vorlesung vorbereiten. Die soeben zitierte Eröffnung des
Seminarprogramms schloss Klein mit den Worten: „Die hiermit genannten The-
mata sollen im Folgenden nun nicht etwa in systematischer Reihenfolge, sondern
so, wie sich gerade Zeit und Gelegenheit bietet, behandelt werden.“249
Adolf Krazer sprach an fünf Terminen zum Thema Theta (ϴ)-Funktionen und
erhielt durch das Seminar die wichtigsten Anregungen für seine Habilitations-
schrift (vgl. 5.4.1). Otto Staude (zwei Vorträge) habilitierte sich ebenfalls im Ge-
biet. Guido Weichold behandelte an vier Terminen die Theorie der hyperellipti-
schen Functionen nach Weierstraß, u.a. dessen Vorlesung benutzend;250 er reichte
248 Zu Adolph Göpel vgl. Crelle-Journal 35 (1847) 277-312, Jacobi über Göpel, 313-17.
249 [Protokolle] Bd. 4, 112-16.
250 Ebd., Bl. 167-99.
5.5 Forschungsfelder 237
251 BÉLANGER 2010 zitierte diese Dissertation noch, sich vor allem auf PONT 1974 stützend.
252 Klein an Dyck, 30.3.1883, zitiert nach HASHAGEN 2003, 158.
253 V. MISES 1921, 495.
254 Hölder an die Eltern, am 6.5.1884, in HILDEBRANDT et al. 2014, 143-44.
238 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Hölders Ansicht, nach zwei Wochen Aufenthalt in Leipzig ausgedrückt, war ein-
deutig vorgeprägt und sollte sich bald ändern (vgl. Abschnitt 5.4.1).
D.h., Klein und seine Schüler schätzten und nutzten Berliner Ergebnisse, wäh-
rend von dort Herabschätzung winkte. Sophus Lie brachte auf den Punkt:
Du deinerseits [b]ist gerecht gegen die Berliner, die Du verstehst und würdigst. Die Berliner
Schule dagegen hat im längsten versucht, Deine Thätigkeit wenn nicht eben ignoriren, so
doch möglichst herunterzuziehen. Alle deine glänzenden geometrischen Arbeiten kommen
bei den meisten dieser Herren wenig in Betracht. Deine analytischen Arbeiten haben sie lange
nicht verstanden. Erst Dein Verhältnis – einerseits zu Poincaré, andererseits zu Fuchs –, dem
Du so starke Wahrheiten gesagt hast, hat diesen Herren Deine grosse Macht klar gemacht,
wenn sie Dich lange noch nicht verstehen. Obgleich ich Dich daher als Sieger in diesem
Kampfe mit den Berlinern betrachte, so glaube ich, dass es für Dich gut sein wird für einige
Jahre diese aufreibenden Geschichten zu verlassen, um so mehr da Deine Gesundheit nicht
immer befriedigend ist.255
Lie schrieb dies zu einem Zeitpunkt, als Klein entscheiden musste, ob er einen
Ruf in die USA annimmt (vgl. 5.8.1). Kleins Verhältnis zu den im Zitat erwähnten
Henri Poincaré und Lazarus Fuchs wird nachfolgend betrachtet.
Klein verfolgte regelmäßig die neueste Literatur. Seine mit Henri Poincaré begon-
nene Korrespondenz und das sich daraus ergebene wetteifernde Arbeiten im sel-
ben Forschungsfeld lässt sich nur aus einem umfassenderen Blick erklären.
Klein richtete den Blick nicht nur im Interesse seines Forschungsfeldes nach au-
ßen. Mit den Mitstreitern bei den Mathematischen Annalen versuchte er auch,
ausländische Autoren zu gewinnen. Nach Camille Jordans erstem Aufsatz in Band
1 der Annalen war erst im Band 10, als Klein und Mayer die Edition übernahmen,
der Beitrag eines nächsten französischen Autors erschienen: ein „Lettre de M. Ch.
Hermite à M. P. Gordan“. Math. Ann. 10 (1876) 287-88. Das ist aus zweierlei
Hinsicht hervorhebenswert. Erstens publizierte Hermite, wenn in einer deutschen
Zeitschrift, zunächst im Konkurrenzorgan Journal für die reine und angewandte
Mathematik (Crelle-Journal bzw. damals Borchardts Journal).256 Zweitens besaß
er Einfluss und zahlreiche Schüler. Hermites Urteil über Kleins Arbeiten sollte in
den 1890er Jahren noch wichtig werden (vgl. 7.5.4).
Halphen, der 1878 unter Hermite promovierte, war gemäß Kleins Bitte ab
1879 der nächste französische Autor in den Mathematischen Annalen. Klein hatte
255 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 690/1, Lie an Klein (o.D., Dez. 1883).
256 Vgl. TOBIES/ROWE 1990, 44; zu Hermite & Klein vgl. auch GOLDSTEIN 2011a.
5.5 Forschungsfelder 239
Klein reiste erst 1887 wieder nach Paris (vgl. 6.3.6.1). Darboux setzte ihn 1880
unverzüglich über Émile Picard und Paul Appell ins Bild, die übrigens beide
durch ihre Heirat mit Hermite verwandt wurden. Klein wandte sich schließlich im
Juni 1881 mit Briefen an Picard, Appell und Henri Poincaré. Daraufhin publi-
zierten im Annalen-Band 19 (1882) vier französische Autoren – neben den Ge-
nannten noch Georges Brunel, der bei Klein studierte (vgl. Tab. 6 und 5.4.2.1).259
Arbeiten von Picard ließ Klein bereits in den Seminaren der ersten Leipziger
Semester analysieren: „Ueber einige functionentheoretische Sätze von Picard“ (F.
Büttner, am 7.3.1881); „Bericht über einige Publicationen E. Picard’s, Comptes
Rendus 1879, 1880, 1881“ (A. Hurwitz, 25.7.1881).260 Hurwitz urteilte in seinem
Referat zum Vortrag, dass Picard maßgeblich an Weierstraß’ Auffassung der
Funktionentheorie anknüpfe. Hurwitz konnte Picards Sätze mit Ansätzen aus der
Riemannschen Funktionentheorie verbinden; bereits im Seminarbeitrag verallge-
meinerte er einen Satz von Picard. Dies fortsetzend, sandte Hurwitz Ergebnisse
nicht nur an Klein, sondern auch an Picard. Da Hurwitz jedoch vergeblich auf
Antwort von Picard wartete, schrieb ihm Klein am 24. Oktober 1881:
Picard scheint noch nichts weiter publicirt zu haben. Aergern Sie sich über letzteren nicht; die
Franzosen sind nie so aufrichtig, wie wir es sind, damit muß man von Vorneherein rechnen,
wenn man mit ihnen verkehrt.261
Die Bemerkung basierte erstens auf Erfahrungen von Lie und Klein, dass franzö-
sische Mathematiker ihre Arbeiten zunächst nicht bzw. nicht hinreichend zitiert
hatten. Ihren Ärger darüber dokumentieren ihre Briefe. Zweitens hatte Klein er-
kannt, dass Poincaré – mit dem er inzwischen korrespondierte – seine Methoden
nicht so offenmütig preisgab, wie er es selbst gewohnt war. D.h., wie er es bisher
mit Schülern, mit Lie, mit italienischen, britischen u.a. Kollegen praktizierte.
Damals standen Poincarés Arbeiten Kleins Forschungsfeld am nächsten und
sollten ihn am stärksten beeinflussen. Es ging – wie bereits in Abschnitt 4.2.3 er-
wähnt – um die später sogenannte Theorie der Uniformisierung. Diese befasst
257 [Protokolle] Bd.1, 197; 202. – Vgl. auch TOBIES 2016, 111-12.
258 [Paris] Klein an Darboux, Nr. 70.
259 Zu weiteren französischen Autoren in den Math. Ann. vgl. TOBIES 2016, 111-16.
260 [Protokolle] Bd. 2, 165-68; Bd. 3, 56-60.
261 [UBG] Math. Arch. 77: 52, Bl. 78v.
240 5 Professur für Geometrie in Leipzig
sich, modern gesprochen, mit der Frage, „wie eine mehrdeutige Relation (x, y)
zwischen den Objekten x und y von zwei Mengen Rx und Ry eindeutig dargestellt
(uniformisiert) werden kann.“262 Die Relevanz dieser Frage für die Entwicklung
der Mathematik ermisst sich u.a. darin, dass Hilbert sie im Jahre 1900 als Problem
22 der damals ungelösten Probleme aufnahm: „Wie können analytische Bezie-
hungen mittels automorpher Funktionen uniformisiert werden?“ Am einfachen
Beispiel erläutert, heißt das: „Bei der Uniformierung setzt man sich zum Ziel,
algebraische Kurven in zwei Variablen zu parametrisieren, also die Variablen
durch Funktionen zu ersetzen, die nur noch von einer Veränderlichen abhängen.
So lässt sich beispielsweise der Einheitskreis, der durch x2 + y2 = 1 gegeben ist,
parametrisieren, indem man für x und y jeweils cos α und sin α einsetzt.“263
Zwanzig Jahre zuvor schufen Klein und Poincaré dafür maßgebliche Aus-
gangspunkte.
Klein begann am 12. Juni 1881 die Korrespondenz mit folgenden Worten:
Sehr geehrter Herr! Ihre 3 Noten in den Comptes Rendus „Sur les fonctions fuchsiennes“, die
ich erst gestern, und auch da nur flüchtig kennen lernte, stehen in so engem Zusammenhange
mit den Überlegungen und Bestrebungen, mit denen ich mich in den letzten Jahren beschäf-
tigte, dass ich Ihnen deshalb schreiben muß.264
Klein erläuterte weiter seine bisherigen Arbeiten, nannte Bezüge zu Halphen hin-
sichtlich einer speziellen Funktionenklasse und teilte mit – was Poincaré noch
unbekannt war –, dass bereits Hermann Amandus Schwarz vor Halphen entspre-
chende Ergebnisse entwickelt hatte. Anschließend formulierte Klein seine inzwi-
schen gewonnenen Ansichten zum Forschungsfeld in vier Punkten. Es liest sich
wie ein Forschungsprogramm, welches Klein in Korrespondenz mit dem französi-
schen Mathematiker voranzubringen hoffte:
1. Periodische und doppeltperiodische Funktionen sind nur Beispiele für eindeutige Funktio-
nen mit linearen Transformationen in sich. Es ist Aufgabe der modernen Analysis, all diese
Funktionen zu bestimmen.
2. Die Anzahl dieser Transformationen kann eine endliche sein; dies gibt die Gleichungen des
Ikosaeders, Oktaeders, …, die ich früher betrachtete (Math. Annalen Bd. 9 [1875/76], Bd.
12 [1877]) und von denen ich bei Bildung dieses Ideenkreises ausging.
3. Gruppen von unendlich vielen linearen Transformationen, die zu brauchbaren Funktionen
Anlaß geben, (groupe discontinu nach ihrer Bezeichnung) erhält man zum Beispiel, wenn
262 NEVANLINNA 1953, 1; Henri PAUL DE SAINT-GERVAIS 2016 gibt eine moderne Version, vgl.
die Rezension zum franz. Original von David Rowe (Historia mathematica 2014, 98-102).
263 https://de.wikipedia.org/wiki/Hilbertsche_Probleme#Hilberts_zweiundzwanzigstes_Problem
264 Die Korrespondenz ist publiziert in KLEIN 1923 GMA III, 587-621, Zitat 587; in Acta Math.
39 (1923) 94-132; in Poincaré, H., Oeuvres I, 26-65. – Die drei erwähnten Arbeiten Poincarés
waren am 14. Februar, am 21. Februar und 4. April 1881 erschienen. Zur Analyse vgl. auch
GRAY 2008; 2013, 224-40; ROWE 1992b; VERHULST 2012, 34-43.
5.5 Forschungsfelder 241
man von einem Kreisbogenpolygon ausgeht, dessen Kreise einen festen Kreis rechtwinke-
lig schneiden und dessen Winkel genaue Teile von π sind.
4. Man sollte sich mit allen solchen Funktionen beschäftigen (wie Sie das in der Tat jetzt be-
ginnen), um aber konkrete Ziele zu erreichen, beschränken wir uns auf Kreisbogendreiecke
und insbesondere auf elliptische Modulfunktionen.265
Klein beendete den ersten Brief mit Empfehlungen an Hermite und dem Wunsch,
mit Poincaré eine Korrespondenz zum gemeinsamen Ideenkreis zu führen. Die
Korrespondenz entwickelte sich anfangs in der Tat sehr intensiv. Vom 12. Juni bis
zum 9. Juli 1881 gingen fünf Briefe von Klein an Poincaré, der viermal antwor-
tete. Es war Poincaré, der danach abbrach; er wechselte in dieser Zeit von Caen
nach Paris, wo er als Maître de conférences an der Faculté des Sciences eine per-
manente Position erhielt.266
In diesen ersten Briefen verständigten sie sich über ihre bisherigen Arbeiten.
Poincaré erkannte und gab zu, dass Klein bereits zuvor Ergebnisse im Gebiet er-
zielt hatte und wollte darüber noch genauer Bescheid wissen. D.h., er stellte Fra-
gen, erklärte aber selber seine Methoden nicht. Da Poincaré in Caen die deutsche
Literatur schwer beschaffen konnte, half Klein. Er sandte Poincaré Sonderdrucke
seiner Arbeiten, veranlasste seine Schüler (Dyck, Gierster, Hurwitz), dies eben-
falls zu tun. Klein nannte Poincaré weitere Literatur (Riemann, Brill/Noether;
Schottky), auf welcher er selbst basierte und erläuterte seine eigenen Ansätze.
Zugleich bereitete Klein den bei ihm studierenden Georges Brunel in persön-
lichen Sitzungen vor, damit dieser Poincaré das Verständnis von Kleins Arbeiten
erleichtern sollte. Aus David Rowes Analyse der Briefe von Brunel an Poincaré
ist erkennbar, dass dieser die von Klein übertragende Aufgabe ausführte, jedoch
mit ausgesprochen nationalistischen Tönen begleitete. Brunel kannte bisher Poin-
caré nicht. Orientiert durch Klein schrieb er diesem erstmals am 22. Juni 1881.
Darin meinte Brunel, dass es die Pflicht eines Franzosen sei, die Deutschen mit
allen Mitteln zu bekämpfen. Man müsse deren Erkenntnisse aufnehmen, anerken-
nen, aber selber nicht zu deren Fortschritten beitragen. Klein hätte in der Theorie
der Modulfunktionen spezifische Resultate erzielt, die denen von Poincaré über
fonctions fuchsiennes entsprächen. Man solle ihm aber nicht helfen weiterzu-
kommen.267 Vielleicht erklären sich hieraus Poincarés zurückhaltene Mitteilungen
über die eigenen Methoden. Klein, der davon nichts ahnte, erläuterte dagegen –
uneigennützig – weiterhin seine neuen Erkenntnisse in den Briefen an Poincaré.
Und er realisierte außerdem das Versprechen an Darboux, Brunel zu eigener
publikationsreifer Arbeit zu führen (vgl. Abschnitt 5.4.2.1).
Kleins freigiebige Antworten an Poincaré zeugen von der Art von Selbstlosig-
keit, die er mit seinen Schülern praktizierte, um ein anvisiertes Forschungspro-
gramm zu realisieren. Klein führte aus, wie weit er gekommen war, und er gab
auch die Stellen an, wo er zunächst nicht weiter wusste, so zum Beispiel:
4. Daß sich bei dem Polygon […] die Kreise rückwärts verlängert nicht schneiden dürfen,
wenn eine eindeutige Funktion entstehen soll, ist mir in der Tat wohl bekannt. Gerade auf
diesen Punkt muß man meines Erachtens die Aufmerksamkeit richten, wenn man beweisen
will, daß sich die Koordinaten w, z des Punktes einer beliebigen algebraischen Kurve als ein-
deutige Funktionen mit linearen Transformationen in sich angeben lassen.268
Klein erläuterte, wie vorgegangen werden könnte, indem Arbeiten von Schwarz,
resp. Weierstrass beachtet werden, was unter bestimmten Bedingungen zu errei-
chen sei etc., und Klein deutete an, wo er noch Schwierigkeiten sah:
Findet keinerlei Symmetrie statt, so komme ich wenigstens auf einen analog gestalteten Fun-
damentalraum, dessen Kanten unter Winkeln = Null zusammenstoßen und übrigens paarweise
durch gewisse lineare Substitutionen zusammengehören. Aber ich kann nicht beweisen, daß
dieser Fundamentalraum mit seinen Wiederholungen zusammen nur einen Teil der komple-
xen Ebene überdeckt. […]269
Bis zum 24. Oktober 1881 schien Klein doch von Poincarés August-Note beein-
druckt gewesen zu sein. So erfuhr Hurwitz von ihm: „Poincaré behauptet in einer
Arbeit von Anfang August in der That jede algebraische Irrationalität durch fonc-
tions fuchsiennes auflösen zu können.“271 Nachdem Klein schließlich Poincarés
Arbeiten „im Zusammenhange gelesen hatte“, nahm er am 4. Dezember 1881 die
Korrespondenz wieder auf. Poincaré hatte sich nicht von selbst wieder gemeldet.
Klein gratulierte Poincaré zum Beweis (vom 8. August 1881), « que toute équa-
tion différentielle lináire à coefficients algébriques s’intègre par les fonctiones
zétafuchsiennes » und « que les coordonnées des points d’une courbe algébrique
quelconque s’expriment par des fonctiones fuchsiennes d’une variable auxi-
liare ».272 Klein schlug außerdem vor, dass Poincaré darüber einen Beitrag (von
beliebiger Länge) für die Mathematischen Annalen verfassen möge. Poincaré
stimmte sofort zu, erfüllte jedoch nicht Kleins Wunsch, er möge im versproche-
nen Annalen-Beitrag „[…] namentlich auch über die Methoden Ihrer Beweise die
erforderlichen Angaben machen, also über die Art, wie Sie die in Betracht kom-
menden Funktionen wirklich bilden usw.“273
Klein beharrte nicht darauf und fühlte sich selbst zu weiterer Arbeit angesta-
chelt. Er schrieb an Hurwitz: „Poincaré wird mir einen Brief schicken, den ich in
den Annalen abdrucke und mit Bemerkungen von mir begleite. Spätestens Ostern
müssen meine ‚strengen’ Existenzbeweise in Ordnung sein.“274 Klein gelangte zu
den drei neuen Theoremen im Gebiet, die er alle 1882 publizierte.
Die Korrespondenz zwischen Klein und Poincaré lief bis zum 22. September
1882. Am Ende hatte Klein nicht mehr geantwortet. Poincaré ließ sich von Gösta
Mittag-Leffler als Autor für dessen Zeitschrift Acta Mathematica gewinnen.
272 Klein 1923 GMA III, 602. – Beweis des Satzes, dass jede lineare Differentialgleichung mit
algebraischen Koeffizienten durch Zetafuchs-Funktionen integriert werden kann und dass die
Koordinatenpunkte irgendeiner algebraischen Kurve sich durch Fuchs-Funktionen von einer
Hilfsvariablen ausdrücken lassen.
273 Klein an Poincaré, Brief v. 10.12.1881, in Klein 1923 GMA III, 604.
274 [UBG] Math. Arch. 77: 55, Bl. 82, Klein an Hurwitz, Brief v. 17.12.1881.
275 FRICKE 1919, 276.
244 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Der Begriff Rückkehrschnitt auf Riemannschen Flächen geht auf Riemann zurück
(vgl. 3.1.3.1). Klein hatte im Brief vom 2. Juli 1881 an Poincaré einen möglichen
Satz im Auge (vgl. 5.5.3.2), den er im September während eines Spaziergangs
1881 auf Borkum als beweisbar vor sich sah. Nachdem er dies ausgearbeitet und
datiert auf den 12. Januar 1882 bei den Annalen eingereicht hatte, informierte er:
Daß man jede algebraische Gleichung f(w, z) = 0, sobald man auf der zugehörigen Riemann-
schen Fläche p unabhängige Rückkehrschnitte gezogen hat, in einer und nur einer Weise
durch w = φ (η), z = ψ (η) auflösen kann, wo η eine diskontinuierliche Gruppe von der Art
erfährt, wie Sie sie damals im Anschluß an meinen Brief zur Sprache gebracht haben. Dieser
Satz ist darum so schön, weil diese Gruppe genau 3 p – 3 wesentliche Parameter hat, also
ebensoviele, als die Gleichungen des gegebenen p Moduln besitzen. […]277
Der kursiv gesetzte Satz ist das Rückkehrschnitttheorem. η ist eine Funktion, de-
ren komplexe Werte sich Klein auf einer Kugel gedeutet dachte. Er zeigte, was er
im Juli 1881 noch nicht konnte: Dann überdeckt auf der η – Kugel das Bild unse-
rer zerschnittenen Riemann’schen Fläche einen 2p fach zusammenhängenden,
überall einfach ausgebreiteten Flächentheil. Und außerdem: Die unendlich vielen
analytischen Fortsetzungen unserer Abbildung überdecken also die η Kugel nir-
gend mehrfach. Klein benutzte eine intuitive Beweisführung in seiner Arbeit mit
dem Titel „Über eindeutige Funktionen mit linearen Transformationen in sich“,
die direkt nach Poincarés Arbeit in den Annalen gedruckt wurde.278 Er urteilte
später: „Mein Beweis […] war der, dass ich in der Vorstellung irgendwelchen
Abänderungen der Riemannschen Fläche bzw. ihres Querschnittsystems immer
nachkommen konnte; er hatte also durchaus intuitiven […] Charakter.“279 Klein
bezeichnete dies als eine „Grundlage des Kontinuitätsbeweises“.
Nach eigenem Bekunden fand Klein dieses Theorem ebenfalls auf einer nordfrie-
sischen Insel, auf Norderney, wo er während der Osterferien 1882 weilte. Auf-
grund eines Sturmes hielt er es dort nur acht Tage aus. In einer schlaflosen Nacht
vom 22. zum 23. März kam ihm die Idee zum Theorem, die er in den folgenden
Tagen weiter durchdachte und niederschrieb.
Hurwitz erfuhr als einer der Ersten davon. Auf einer Karte vom 22. März
1882 teilte Klein ihm mit, dass er nach Düsseldorf reise, weil er sich nicht wohl
fühle; und vier Tage später erhielt Hurwitz die Nachricht: „Mir geht es, nament-
lich mathematisch viel besser. Ich habe neue schöne Sätze über eindeutige
F.[unktionen] mit lin.[earen] Subst.[itutionen] in sich gefunden.“ Am 26. März
1882 schrieb ihm Klein ausführlicher:
Ich muß Ihnen doch von einem einfachsten Theoreme schreiben, das ich im Laufe der letzten
Tage fand und schon an Teubner sandte. Sie kennen die Tafel „zur Transf.[ormation] 7. Ord-
nung“ in Annalen 14 wo die reguläre Riemann’sche Fläche p = 3 auf ein Kreisbogen-Vier-
zehneck abgebildet erscheint, dessen Kanten einen Hauptkreis rechtwinkelig schneiden. Ich
will letzteren in die Ebene einer Variablen η legen. Dann ist η auf der Fläche p = 3 durchweg
unverzweigt, und übrigens jede auf der Fläche verlaufende unverzweigte Function eindeutige
Function des sich linear reproducirenden η. Die Sache ist nun die, dass genau in diesem Sinne
auf jeder vorgegebenen Riemann’schen Fläche eine und nur eine η–Function existirt! (also
unabhängig von jeder speciellen Zerschneidung der Fläche).
Sie sehen, die Sache geht vorwärts. Um so mehr möchte ich Sie engagiren, auch ihrerseits da
einzusetzen. Mir allein sind die Probleme zu schwer. Uebrigens hat auch Rausenberger 2
kleine Bemerkungen über das Bildungsgesetz der betr.[effenden] eindeutigen Functionen
geschickt. Arbeiten wir Alle zusammen, so soll bald ein wirklicher Fortschritt in Allem, was
mit den algebraischen Functionen zusammenhängt erreicht sein.280
Kleins Arbeit erschien unter dem Titel „Über eindeutige Funktionen mit linearen
Transformationen in sich (Zweite Mitteilung)“.281 Sein Grenzkreistheorem ent-
sprach – vom Standpunkt der Uniformisierung und der Theorie der automorphen
Funktionen – dem Ergebnis von Poincaré, das dieser ausgehend von Differential-
gleichungen gewonnen hatte, die auf Arbeiten von Lazarus Fuchs basierten.282
Kleins Ausspruch im Brief an Hurwitz, mir allein sind die Probleme zu
schwer, und sein Ruf nach Kooperation waren Ausdruck seiner Arbeitsweise. Er
hatte gesehen, dass mit dem Aufstellen der zwei Theoreme das Gebiet nicht abge-
schlossen, sondern erst eröffnet war. Adolf Hurwitz und Otto Rausenberger,
Gymnasiallehrer in Frankfurt a.M. und Schüler von Leo Koenigsberger, zeigten
sich kooperationswillig. In Band 20 der Mathematischen Annalen, in dem Kleins
Arbeit zum Grenzkreistheorem erschien, publizierten auch Hurwitz und Rausen-
berger zum Thema.
Klein hatte veranlasst, dass Hurwitz seinen Seminarvortrag vom 21. Februar
1881 für einen Artikel ausarbeitete. Auf Kleins Drängen realisierte Hurwitz dies
noch vorm Stellen seines Habilitationsantrags (vgl. 5.4.1). Kleins Schreiben an
Hurwitz vom 16. April 1882 deutet an, wie wichtig es ihm war, erkennen zu las-
sen, wann er mit seinen Schülern die Arbeit an der neuen Funktionenklasse be-
gonnen hatte:
280 Ebd. 64, Klein an Hurwitz, Brief v. 28.3.1882. – Klein meinte seine Arbeit „Ueber die Trans-
formation siebenter Ordnung der elliptischen Functionen“. Math. Ann. 14 (1878) 428-70. –
Vgl. hierzu auch Abb. 20 in Abschnitt 4.2.3 dieses Buches.
281 Math. Ann. 20 (1882) 49-51; KLEIN 1923 GMA III, 627-29.
282 Vgl. hierzu das Urteil und die Beschreibungen von SCHOLZ 1980, 198-200.
246 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Könnten Sie in der Einleitung einen Satz einfliessen lassen, in welchem Sie ohne besondere
Schärfe andeuten wollen, dass Sie sich auf meine Anregung hin vor und unabhängig von
Poincaré mit diesen Dingen beschäftigt haben? Die erste Mittheilung von P.[oincaré] ist vom
14. Febr. 1881. Es liegt mir nur daran, die Continuität hervortreten zu lassen, welche zwi-
schen unseren jetzigen Bestrebungen und denen von 1879 (Sommer) besteht. In demselben
Sinne bezog ich mich in meiner neuesten Note auf die Tafel zur Transf.[ormation] 7. Ord-
nung.283
Hurwitz’ Arbeit in den Annalen trug denselben Titel wie der Seminarvortrag:
„Ueber eine Reihe neuer Functionen, welche die absoluten Invarianten gewisser
Gruppen ganzzahliger linearer Transformationen bilden“. In einer Fußnote zu
Hurwitz’ Annalen-Arbeit ergänzte Klein den Hinweis auf dessen Referat zum
Vortrag. Hurwitz hatte darin an Sätze von Klein und dessen geometrisches Ver-
fahren (Fundamentalpolygon) angeknüpft.284
Rausenberger hatte eine erste noch fehlerbehafteten Arbeit an die Annalen ge-
schickt, in welcher Klein einen nützlichen Grundgedanken für das Gebiet ent-
deckte. Daraufhin hatte er ihm am 4. Januar 1881 detaillierte Hinweise zu Litera-
turstudien gesandt und ihn nach Leipzig eingeladen.285 Das Ergebnis waren drei
Beiträge in Band 20 der Mathematischen Annalen. Im dritten Beitrag „Ueber
eindeutige Functionen mit mehreren, nicht vertauschbaren Perioden I“ (April
1882), hielt sich Rausenberger an Kleins Vision der historisch korrekten
Einordnung: „Ich will bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen, dass mir
Herr Klein bereits vor 1½ Jahren in einem an mich gerichteten Briefe als
wesentliche Aufgabe seiner functionentheoretischen Untersuchungen bezeichnete:
Alle Functionen mit beliebigen linearen Transformationen in sich aufzustellen.“286
Während Klein mit vielen in- und ausländischen Mathematikern gut koope-
riert hatte, wurde das Verhältnis zu Poincaré zunehmend durch Konkurrenz ge-
prägt. Klein hatte ihm zwar Kooperation angeboten und später noch einmal be-
tont: „Für mich ist die lebendige Verbindung mit gleichstrebenden Mathematikern
immer die Vorbedingung zur eigenen mathematischen Produktion gewesen.“287
Klein erklärte im Brief vom 7. Mai 1882 auch, wie er seine Sätze durch Kontinu-
ität bewies und beschrieb sein Herangehen ausführlich. Aber Poincaré antwortete
nur, dass Kleins « second lemme […] il est probable que nous l’éatblissions de la
même manière. » Und dass er selbst auch wie Klein die Kontinuitätsmethode be-
nutzte, sie sich aber wohl in einigen Details unterscheiden würde.288 Kleins Frage,
wie Poincaré die Konvergenz einer entsprechenden Reihe gezeigt hätte, wiegelte
er mit dem Bemerken ab, dass es zu lang wäre, um die zwei Beispiele in einem
Brief zu erklären und er dies demnächst publizieren werde.
283 [UBG] Math. Arch. 77: 69, Postkarte Klein an Hurwitz (vgl. noch einmal Abb. 20).
284 Math. Ann. 20 (1882) 125-34, Kleins Fußnote 125; [Protokolle] Bd. 2, 138-46.
285 Klein an Rausenberger, 4.1.1881 [Nachlass Lorey] Nachtrag, Nr. 424.
286 Math. Ann. 20 (1882) 187-212, Zitat 187-88.
287 Klein an Poincaré, 3.4.1882, in KLEIN 1923 GMA III, 610.
288 « […] j’emploie comme vous la continuité, mais il y a bien de manières de l’employer et il est
possible que nous différions dans quelques détails. » Poincaré an Klein, 12.5.1882 in KLEIN
1923 GMA III, 614.
5.5 Forschungsfelder 247
Dennoch blieb Klein bei seiner Offenheit. Er erläuterte Poincaré noch einmal,
„wie ich die Kontinuität verwende“ und nannte im selben Brief von 14. Mai 1882
weitere Beweisideen: „Einen ganz anderen, doch auch auf Kontinuitätsbetrach-
tungen beruhenden [Beweis], teilte mir Herr Schwarz mit, als ich ihn neulich (am
11. April) in Göttingen besuchte.“ Klein demonstrierte, im Interesse des gemein-
samen Forschungsprogramms, den schönen Schwarzschen Gedankengang.289
Aus Poincarés Brief vom 18. Mai 1882 geht hervor, dass er jetzt tatsächlich
realisiert hatte, dass Kleins Arbeit zum Grenzkreistheorem und seine jüngste Ar-
beit weitgehend identische Ergebnisse brachten. Er zeigte sich nun ebenfalls offe-
ner hinsichtlich der Erklärungen seines Vorgehens, griff Schwarz’ Gedankengang
auf und sandte Klein seine schon länger erbetenen älteren Arbeiten.
Erhard SCHOLZ (1980: 201) analysierte bereits, dass Poincaré Schwarz’ Idee
für einen Beweis eines Uniformisierungssatzes für analytische Kurven nutzte.
Poincaré startete seinen diesbezüglichen Artikel mit dem Hinweis auf ein beau
théorème de M. Schwarz und das Dirichlet-Prinzip, was ihm Klein erklärt hatte.290
Fonctions fuchsiennes kommen darin nicht mehr vor; aber la surface de Riemann,
womit Klein frohlocken konnte.
Klein erläuterte sein neues allgemeines Theorem bereits vor der Publikation im
Brief an Poincaré vom 7. Mai 1882. Am 19. September 1882, sein letzter Brief an
Poincaré, erklärte Klein noch einmal genauer und gab schon an, dass sich die bei-
den anderen Theoreme als spezielle Fälle unterordnen. Nachdem er Poincaré eine
Unkorrektheit in dessen Arbeit angedeutet hatte, schrieb er:
Was meine Arbeit angeht, so beschränke ich mich darauf, die geometrische Auffassung dar-
zulegen, vermöge deren ich im Riemannschen Sinne die neuen Funktionen definiert denke.
Dabei sind, wie es in der Natur der Sache liegt, viele Berührungspunkte auch mit Ihrer geo-
metrischen Auffassung des Gegenstandes. Die allgemeinste Gruppe, welche ich in Betracht
ziehe, erzeuge ich aus einer beliebigen Zahl „isolierter“ Substitutionen und aus einer Anzahl
von Gruppen „mit Hauptkreis“ (der reell oder imaginär sein kann oder auch in einem Punkt
ausartet) durch „Ineinanderschiebung“. Die Theoreme meiner beiden Annalennoten subsu-
mieren sich dann als spezielle Fälle unter den allgemeinen Satz, der etwa so lautet: dass zu
jeder Riemannschen Fläche mit beliebig vorgegebener Verzweigung und Zerschneidung im-
mer eine und nur eine η-Funktion des betreffenden Typus zugehört.291
Klein teilte zudem mit, dass Sophus Lie in Leipzig bei ihm war und nach Paris
kommen wird, und dass er von Mittag-Leffler gehört habe, Poincaré sei mit grö-
ßeren Ausarbeitungen beschäftigt für dessen neue Zeitschrift Acta mathematica.
Als Klein erste Exemplare der publizierten Version „Neue Beiträge zur Rie-
mann’schen Functionentheorie“292 gegen Jahresende versandte, u.a. an Poincaré,
hörte er von ihm jedoch nichts. Dabei hatte Klein ihn besonders gewürdigt:
Man kennt die lange Reihe glänzender Publikationen, durch welche neuerdings Hr. Poincaré
die allgemeine Aufmerksamkeit auf diese Functionen gelenkt hat. Ich meinerseits habe, mit
ähnlichen Ideen bereits seit längerer Zeit beschäftigt, die Poincaré’schen Veröffentlichungen
durch zwei Noten begleitet, in denen ich bestimmte Theoreme, welche für die Anwendungen
der neuen Functionen von hervorragender Wichtigkeit sein dürften, formulirte. Es wird sich
im Folgenden darum handeln, den allgemeinen Ideengang, der mich zu jenen Theoremen
führte, in zusammenhängender und vervollständigter Form darzulegen. Zu diesem Zwecke
betrachte ich im dritten Abschnitt eine verhältnismässig umfassende Classe von eindeutigen
Functionen mit linearen Transformationen in sich. Ich erläutere ausführlich ihre Art zu existi-
ren, und gebe die Mittel an, um die zugehörigen linearen Substitutionen aus independenten
Bestimmungsstücken zu construiren. Sodann formulire ich in Abschnitt IV ein allgemeines
Theorem, welches ich seiner Wichtigkeit halber als Fundamentaltheorem bezeichne, und das
die Resultate meiner beiden vorangenannten Noten als specielle Fälle in sich schliesst.293
In seinem Abschnitt IV ging Klein von der Frage aus, „[…] auf welchen Rie-
mann’schen Flächen des Geschlechtes p mit n vorgegebenen Verzweigungspunk-
ten von bestimmtem Index Normalfunctionen η von einem gewissen Typus existi-
ren mögen“.294 Mit folgenden Erläuterungen kam er zum Fundamentaltheorem:
Der Typus wird festgelegt, indem wir auf unserer Fläche gewisse Paare von Verzweigungs-
punkten durch Einschnitte Q verbinden, dann irgendwelche, die Fläche nicht zerstückende
Rückkehrschnitte R hinzufügen und endlich so viele Schnittsysteme (π, ν) construiren, dass
die zerschnittene Fläche durchaus schlicht auf ein Stück der Ebene übertragen werden kann.
Functionen η, welche linear von einander abhängen, will ich der Kürze halber wieder als
identisch betrachten. Dann besagt unser Fundamentaltheorem:
Dass auf jeder Riemann’schen Fläche (p, n, l, k) immer eine und nur eine Normalfunction
von beliebig vorgegebenem Typus existirt.295
neuen Functionen mit Erfolg in Angriff genommen, auch versucht, bei gegebenen
algebraischen Irrationalitäten zugehörige eindeutige Functionen mit linearen
Transformationen in sich durch convergente Processe wirklich herzustellen.“296
Klein wünschte wie bei seinen sonstigen Arbeiten, dass Jüngere das Thema
aufgreifen und fortsetzen:
Indem ich die Tragweite erörtere, welche unser Fundamentalsatz nach verschiedenen Rich-
tungen hin dürfte beanspruchen können, wünsche ich andere, vielleicht jüngere Mathematiker
anzuregen, auf diesem aussichtsreichen Gebiete ihre Kräfte zu versuchen.297
Da Fricke – kurz nach dem ersten Weltkrieg – nur Paul Koebes strenge Beweise
nannte, sei erwähnt, dass Koebe und Poincaré im Jahre 1907 nahezu gleichzeitig
(analytische) Beweise publizierten, und dass im Folgenden auch der niederländi-
sche Mathematiker Luitzen E. J. Brouwer maßgeblich beteiligt war.300
Als Felix Kleins 60. Geburtstag am 25. April 1909 in Göttingen zelebriert
werden sollte, richtete es Hilbert so ein, dass Poincaré vom 22. bis 28. April zu
einer Vortragsserie (mit Mitteln der Wolfskehlstiftung) eingeladen wurde301, und
zahlreiche weitere Wissenschaftler aus dem In- und Ausland teilnahmen. Bei
Anwesenheit Poincarés betonte Hilbert in der an Klein gerichteten Geburtstags-
rede auch Poincarés Verdienste:
Wenn ich 2.) ein speziell math.[ematisches] Gebiet auswählen soll, nun wenn wir die Namen
Poincaré – Klein zusammen hören, welcher Math.[ematiker] wird da nicht an die automor-
phen Funktionen erinnert, deren Th.[eorie] P.[oincaré] zuerst begründet, deren reiche Aus-
gestaltung aber ihr Verdienst ist. Gerade die tiefste Seite, die sie praesagiente animo vorher-
gesagt und für die sie auch die Beweisideen beigebracht haben. Gerade heute sehen Sie ihrer
Vollendung entgegen.302
302 Vgl. vollständiger Text der Rede Hilberts in Anhang Nr. 8 zu diesem Buch.
303 SCHOLZ 1980, 215.
304 Vorlesungen über hypergeometrische Funktionen und lineare Differentialgleichungen, vom
SS 1890 bis SS 1891, sowie WS 1893-94, SS 1894, SS 1899, beinhalteten den Gegenstand.
305 Referate in [Protokolle] Bd. 23-26.
306 Koebe kam im Vortrag bereits zum Ergebnis: „Hiermit ist nun die Existenz derjenigen Trans-
cendenten bewiesen, deren Kenntnis die Grundlage für die Uniformisierung der Lösung be-
liebiger linearer hom.[ogener] Differentialgleichungen mit rationalen Funktionen als Coeffi-
cienten und lauter reellen Verzweigungspunkten bildet.“ [Protokolle] Bd. 25, 62.
307 Koebe publizierte ab 9.3.1907 vier Arbeiten mit strengen Beweisen für die Uniformisierung
reeller algebraischer Kurven und schließlich für beliebige analytische Kurven im Jahrgang
1907 der Göttingen Nachrichten, Math.-physikal. Klasse (177-90, 191-210, 410-14, 633-69),
vorgelegt abwechselnd durch Hilbert bzw. Klein. – Poincarés entsprechende Abhandlung ist:
„Sur l’uniformisation des fonctions analytiques“. Acta math. 31 (1907) 1-63.
5.5 Forschungsfelder 251
matiker Brouwer308, der seit Band 67 (1909) in den Mathematischen Annalen pu-
blizierte, widmete sich dem Gegenstand. Er präsentierte erste Erebnisse im Sep-
tember 1911 auf der DMV-Jahrestagung in Karlsruhe, wo ein spezielles, von
Klein eingeleitetes Symposium über die Theorie der automorphen Funktionen
stattfand. Zum 21. Mai 1912 wurde Brouwer zu einem Vortrag in die Göttinger
Mathematischen Gesellschaft eingeladen. Im Jahresbericht der DMV wurde dazu
angekündigt, Brouwer wolle vortragen,
wie nach dem Beweis seines Satzes von der Invarianz des Gebietes der Klein-Poincarésche
Kontinuitätsbeweis der Existenz linear-polymopher Funktionen auf Riemannschen Flächen
mittels seiner Methode der Erweiterung der Modulmannigfaltigkeit einwandfrei durchgeführt
werden kann. Neben dem Frickeschen Würfelsatz, der durchweg eine grundlegende Rolle
spielt, werden im Grenzkreisfalle die klassischen Resultate von Klein und Poincaré benutzt,
während für die übrigen Fälle statt der letzteren eine Idee von Koebe herangezogen wird.309
Kleins erste Ideen zu einem möglichen strengen Beweis für die Fundamentaltheo-
reme im wesentlichen bestätigten. Es beschäftigte Klein noch immer, dass seine
erste Beweisidee durch Poincaré kritisiert worden war und dadurch – wie er
meinte – Fortschritte in dieser Richtung lange Zeit (bis 1912) gehemmt worden
seien. Klein betrachtete seine Arbeiten zu diesem Themenfeld als seine wichtig-
sten Ergebnisse, sodass er anlässlich der Feier seines 50-jähigen Doktorjubiläums
Koebe zum Hauptredner erwählte (vgl. dazu auch 9.2.3).313
Hilberts Problem 22 für mehr als zwei Variable ist bis heute nicht vollständig
geklärt.
Weil Poincaré die von ihm entwickelte Funktionenklasse nach Lazarus Fuchs be-
nannt hatte, brach Klein darüber eine heftige Polemik vom Zaune. Das Thema ist
bereits detailliert untersucht worden.314 Der Rahmen muss hier angedeutet wer-
den, weil manche nachfolgenden Vorgänge in Kleins Biographie nur zu verstehen
sind, wenn der Ausgangspunkt für den Zwist mit Fuchs bekannt ist.
Poincaré war auf anderem Wege als Klein zu Ergebnissen über die besagte
Funktionenklasse gelangt. Ihn hatten Differentialgleichungen inspiriert, die Laza-
rus Fuchs betrachtet hatte.315 Poincaré besaß Fuchs’ Einverständnis, um ihn mit
dem Begriff fonctions fuchsiennes zu ehren. Klein beging den Fehler, nicht zu
erkennen bzw. nicht sofort anzuerkennen, dass auch ein rein analytischer Aus-
gangspunkt zu Resultaten führen konnte, die er selbst mittels geometrischer An-
sätze erzielt hatte. Er sah sich offensichtlich eines Forschungsfeldes, aus Rie-
manns geometrischem Ansatz entstanden, beraubt und falsch zugeordnet. So
setzte Klein, um seine eigene Priorität besorgt, den ungeometrischen, mit Fehlern
behafteten Lazarus Fuchs herab. Er schrieb am 19. Juni 1881 an Poincaré:
Die Benennung „fonctions fuchsiennes“ weise ich zurück, so gut ich verstehe, dass Sie durch
Fuchssche Arbeiten zu diesen Ideen mit veranlaßt wurden. Im Grunde basieren alle solche
Untersuchungen auf Riemann. Für meine eigene Entwickelung war die eng verwandte Be-
trachtung von Schwarz […] von maßgebender Bedeutung. Die Arbeit von Herrn Dedekind
über elliptische Modulfunktionen in Borchardts Journal Bd. 83 erschien erst, als ich über die
geometrischen Repräsentation der Modulfunktionen bereits klar war (Herbst 1877). Zu diesen
Arbeiten stehen die von Fuchs vermöge ihrer ungeometrischen Form in bewusstem Gegen-
satze. Ich bestreite nicht die großen Verdienste, welche Herr Fuchs um andere Teile der Lehre
von den Differentialgleichungen hat, aber gerade hier lassen seine Arbeiten um so mehr in
Stich, als das einzige Mal, wo er in einem Briefe an Hermite die elliptischen Modulfunktio-
nen erläuterte (Borchardts Journal Bd. 83 [1876/77]) […] ein fundamentaler Fehler unterlief,
den dann Dedekind nur zu sanft monierte.316
Als Klein Poincaré am 4. Dezember 1881 vorschlug, seine Ergebnisse in den Ma-
thematischen Annalen zu präsentieren, kündigte er ihm gleichzeitig an, eine An-
merkung anfügen zu wollen, „in welcher ich darlegte, wie sich von mir aus die
ganze Sache stellt, und wie gerade das Programm, welches Sie jetzt ausführen, als
hodegetisches Prinzip meinen Arbeiten über Modulfunktionen zugrunde lag.“
Klein ergänzte: „Natürlich würde ich diese Anmerkung Ihnen vor dem Druck zur
Begutachtung zustellen.“317 Poincaré hatte mit Brief vom 8. Dezember zuge-
stimmt. Daraufhin wurde rasch gedruckt. Klein sandte am 13. Januar 1882 die
Korrekturbogen und erläuterte Poincaré, dass er in der genannten Anmerkung
„gegen die beiden Benennungen ‚fuchsiennes’ und ‚kleinéenes’ protestiere, be-
züglich letzterer Schottky zitiere und übrigens Riemann als denjenigen bezeichne,
auf den alle diese Untersuchungen zurückgehen.“318
Poincaré hatte zwar Kleins Anmerkung zugestimmt, wollte jedoch bei den
einmal benutzten Begriffen bleiben. Er sprach in seinem Annalen-Artikel von
Fuchsschen Gruppen: « 2. Je vais chercher d’abord à former tous les groupes dis-
continus formés de substitutions Si où les coëfficients α i, βi , γi , δi sont réels. Je
les appelle groupes Fuchsiennes »; von Kleinschen Gruppen: « Reste à examiner
le cas le plus général, celui où l’on ne fait aucune hypothèse sur les substitutions
Si. Dans ce cas il y a encore des groupes discontinus que j’ai appelés Kleinéens et
dont j’ai démontré l’existence et étudié le monde de génération par des procédés
empruntés à la géométrie non-euclidienne à trois dimensions »; und außerdem von
Fuchsschen und Kleinschen Funktionen bzw. Thetafunktionen: « ϴ (ζ) s’appellera
une fonction théta-fuchsienne ou thétakleinéenne selon que le groupe correspon-
dant sera Fuchsien ou Kleinéen. » Poincaré definierte Eigenschaften dieser Funk-
tionen und formulierte noch: « Nous appellerons fonction Fuchsienne (ou Klei-
néenne) toute fonction jouisant [sic!] de ces deux propriétés. »319
Klein dankte in seiner Anmerkung Poincaré für den Artikel und betonte die
besondere Rolle der „[…] Funktionen, welche geeignet scheinen, in der Lehre von
den algebraischen Irrationalitäten den Abel’schen Functionen erfolgreiche Con-
currenz zu machen, und die überdies einen ganz neuen Einblick in diejenigen Ab-
hängigkeiten gewähren, welche durch lineare Differentialgleichungen mit alge-
braischen Coëfficienten bestimmt sind.“ Danach begründete Klein, warum er die
nach Fuchs und Klein benannten Begriffe als verfrüht betrachtete:
Einmal nämlich bewegen sich alle die Untersuchungen, welche Hr. Schwarz und ich in der
betreffenden Richtung bislang veröffentlicht haben, auf dem Gebiete der „fonctions fuchsien-
nes“, über die Hr. Fuchs selbst nirgends publicirt hat. Andererseits habe ich über die allge-
(1877) 265-92. S. 286-87 erklärte Dedekind einen Irrtum von Fuchs, meinte jedoch, dass dies
nicht wesentlich sei für den Hauptgegenstand von Fuchs’ sehr interessanter Abhandlung.
Heinrich Weber, der eigene Probleme mit Fuchs hatte, hatte dazu in einem Brief an Dedekind
(16.6.1877) kommentiert, dass dieser sehr anständig mit Fuchs umgegangen sei und dass
Kleins Arbeit sehr interessant zu sein scheint. Vgl. SCHEEL 2014, 169.
317 Klein an Poincaré, 4.12.1881, KLEIN 1923 GMA III, 602; hodegetisch [griech.] wegweisend.
318 Klein an Poincaré, 13.1.1882, in KLEIN 1923 GMA III, 605.
319 Poincaré. H. (1882): « Sur les Fonctiones Uniformes que se reproduisent par des Substitutions
Linéaires ». Math. Ann. 19, 553-64, Zitate 554, 557, 558.
254 5 Professur für Geometrie in Leipzig
meineren Functionen, welche Hr. Poincaré mit meinem Namen in Verbindung bringt, von mir
aus bisher nichts drucken lassen; ich habe nur gelegentlich Herrn Poincaré auf die Existenz
dieser Functionen aufmerksam gemacht. […]320
Lazarus Fuchs fühlte sich durch den Satz, dass er nichts zu fonctions fuchsiennes
publiziert habe, angegriffen und reagierte unmittelbar. In einer kurzen Note
„Ueber Functionen, welche durch lineare Substitutionen unverändert bleiben“
wies er Kleins Satz zurück, führte zwei eigene Arbeiten an und betonte, dass
Klein in einer früheren Arbeit seine Ergebnisse genutzt habe.321 Klein, von Fuchs’
Angriff überrascht, informierte Hurwitz: „Fuchs hat in den Göttinger Nachrichten
vom 4. März eine Note gegen mich gerichtet.“322 Umgekehrt teilte Hurwitz mit:
„Prof. Fuchs würde es gewiss sehr unangenehm berührt haben, dass ich ihn in
meiner Dissertation nicht citirt habe. Ich konnte Nichts erwidern, als dass ich da-
mals die Arbeit von Fuchs nicht eingehend studirt habe und dass sie deshalb ohne
Einfluß auf meinen Ideengang geblieben sei.“323 Kurz darauf erklärte Poincaré
noch einmal seine Bezeichnungen, was Klein als Brief (28.3.1882) an die Leser
der Mathematischen Annalen aufnahm.324 Zugleich rückte Klein Fuchs’ Argu-
mente in einem persönlichen Brief an Poincaré zurecht:
Ich habe nur behauptet, daß Fuchs nirgend über „fonctions fuchsiennes“ publiziert habe.
Hiernach ist die zweite der von ihm angezogenen Arbeiten (die ich mir übrigens zwecks nä-
heren Studiums hierher kommen lassen werde) gegenstandslos. Die erste subsumiert sich al-
lerdings unter die „fonctions fuchsiennes“, insofern es sich um Modulfunktionen handelt,
aber gerade den eigentlichen Charakter der letzteren, der in der Natur der singulären Linie
liegt, hat Fuchs, bei seinem Mangel an geometrischer Anschauung, nicht richtig erkannt, wie
bereits Dedekind in Bd. 83 von Borchardts Journal (1877) hervorgehoben hat. Was endlich
die Insinuation gegen Schluß der Note betrifft, als sei ich wesentlich durch Fuchs’ eigene
Untersuchungen zu meinen veranlasst worden, so ist das historisch einfach unrichtig. Meine
Untersuchungen beginnen 1874 mit der Bestimmung aller endlichen Gruppen linearer Trans-
formationen einer Veränderlichen. Im Jahre 1876 zeigte ich sodann, dass damit das von Fuchs
damals aufgeworfene Problem, alle algebraisch integrierbaren linearen Differentialgleichun-
gen zweiter Ordnung zu bestimmen, eo ipso erledigt sei. Die Sache ist also gerade umgekehrt,
wie Fuchs angibt. Nicht seiner Arbeit entnahm ich die Ideen, sondern ich zeigte, daß sein
Thema mit meinen Ideen behandelt werden müsse.325
Außerdem reagierte Klein in seinen Neuen Beiträgen mit einer langen Fußnote. Er
bezeichnete Fuchs’ Entwicklungen als „unbestimmte Ideen“, „weil die Resultate,
die Herr Fuchs allerdings in sehr bestimmter Form ausspricht, als solche unrichtig
sind. Es liegt überall die Verwechselung der unverzweigten und der eindeutigen
Functionen vor.“ Klein schrieb noch detailliert zu Fuchs’ Arbeit in den Göttinger
Nachrichten und merkte an: „So wenig persönliche Discussionen im Allgemeinen
nützlich sind, so glaube ich hier mit einigen Zeilen antworten zu sollen.“326 Diese
Polemik sollte noch bei der Göttinger Berufungsangelegenheit auf den Tisch ge-
bracht werden (vgl. Abschnitt 5.8.2). Beim Wiederabdruck seiner Arbeit Neue
Beiträge in den Gesammelten Abhandlungen (Bd. III) verzichtete Klein allerdings
auf die polemische Fußnote. Seine Vorbemerkungen enthalten gar Positives über
Fuchs’ Arbeit, die Poincaré auf die Modulfunktionen gelenkt hatte.327
Zunächst aber blieben die Differenzen. In Seminaren und Vorlesungen sollte
Klein Arbeiten von Fuchs wiederholt kritisch beleuchten bzw. von Teilnehmern
unter die Lupe nehmen lassen (vgl. zu Gerbaldis Analyse in 5.4.2.3; eine Analyse
von Haskell am 31.7.1886328). Hurwitz schrieb am 6. April 1882 an Klein:
Was Herrn Fuchs angeht, so hat ihn gewiß Ihre Note zu Poincaré’s Arbeit in Harnisch
gesetzt: es macht ihn empfindlich, dass Sie singen: „Fuchs, Du hast die Function gestohlen,
gieb sie wieder her!“ Wir haben das schon auf der Schule gesungen […]
Das Resultat Ihrer letzten Note stellt übrigens Alles Frühere in [den] Schatten.329
Wenige Jahre später sollte Hurwitz Fuchs einen gravierenderen Fehler nachweisen
(vgl. Abschnitt 6.4.3 und Anhang Nr. 5). Sophus Lie, der meinte – wie oben schon
zitiert – Klein habe Fuchs Wahrheiten gesagt, kommentierte noch einmal:
Gelegentlich erzählst Du mir vielleicht ob Fuchs Dir auf Deine letzten Bemerkungen geant-
wortet hat und wo. Ich zweifele nicht dass die Mathematiker Deine so wesentlichen Vorar-
beiten zu Poincarés Entdeckungen nach Verdienste würdigen werden. In allen Deinen Schü-
lern hast Du eine Armee, die eine grosse Macht repräsentirt.330
Mit der Bemerkung zu Kleins Schülern hatte Sophus Lie einen maßgeblichen
Punkt getroffen. Klein lebte resp. arbeitete mit und für seine Schüler. In Beiträge
zur Riemann’schen Functionentheorie hatte er nicht versäumt, Arbeiten von
Dyck, Gierster, Hurwitz hervorzuheben. Hurwitz schrieb aus Göttingen:
Ihre „Beiträge zur Riemann’schen Functionentheorie“, für deren Übermittlung ich Ihnen
herzlich danke, haben in mir eine Art moralischer Verzweiflung hervorgerufen, da ich fühle,
dass ich nicht so mit vorwärts gegangen bin, wie es hätte sein müssen.
Wie sehr ich die anregenden Stunden vermisse, welche ich bei Ihnen verleben durfte, kann
ich gar nicht sagen; das Besessene schätzt man in seinem wahren Werthe doch erst dann,
wenn man es verloren hat.331
Während Klein Adolf Hurwitz zu weiterer Arbeit anspornte, wandte er sich selbst
wieder dem in der Antrittsrede von 1880 anvisierten Lehrbuchprogramm zu.
Hurwitz erfuhr als einer der Ersten davon, als er Ostern 1883 bei Kleins Familie
in Leipzig verbrachte. Nach Semesterbeginn informierte Klein:
Ich lese seit Anfang der Woche über Gleichungen 5. Grades, um am 15. Juni zu schliessen
und wahrscheinlich nach Spiekeroog zu gehen.333
Klein fuhr mit Frau und Sohn Otto auf die genannte ostfriesische Insel; Tochter
Luise blieb bei Tante Sophie Hegel. Anfang August 1883 wechselten sie nach
Grafenberg bei Düsseldorf, wo Klein weiter am Ikosaederbuch schrieb. Er setzte
dies in der Obhut seiner Eltern in Düsseldorf bis Anfang Oktober 1883 fort, wäh-
rend seine Frau mit dem erkrankten Otto (Diphtheritis) nach Leipzig zurück-
kehrte. Die redaktionelle Tätigkeit für das Buch dauerte länger als gedacht. Klein
verkündete Hurwitz am 28. März 1884: „Ich sitze concentrirt über der Redaction
meines Buches und hoffe, in den Ferien glücklich fertig zu werden, kann es aber
nicht versprechen.“334 Am 20. Juni 1884 berichtete Klein schließlich:
Von hier wenig Neues. Mein Buch über Modulfunctionen liegt in weiter Ferne. Dagegen ist
mein Buch über das Ikosaeder bis auf Kleinigkeiten fertig gedruckt; es kommt in ein paar
Wochen heraus. Ich habe bei alle Dem das schlechte Gewissen, als „ginge ich zurück“, was
ich heute Nacht lebhaft geträumt habe.335
Wir sehen, Klein dachte bereits an das nächste Buch, war jedoch unzufrieden
damit, nur Altes zusammenzufassen und nichts Neues zu produzieren. Umso mehr
drängte er Hurwitz zu weiterer Produktion. Dieser meldete aus Königsberg neue
Ergebnisse und auch den Empfang des Ikosaederbuches:
Gerade war ich mit den Vorbereitungen zur Reise beschäftigt als ich Ihr Buch über das Iko-
saeder und meine Arbeit betreffende Empfangsanzeige erhielt. Nehmen Sie meinen herz-
lichsten Dank für Ihr Buch, welches mich auf meinen Reisen begleitet und dessen Studium
mir den größten Genuß bereitet. Hier sind zwei unserer besten Studenten aus Königsberg,
welche ich gleich mit Ihrem Buch bekannt gemacht habe. Der eine von ihnen, Herr Hilbert,
hat gerade seine Dissertation „Über Kugelfunctionen vom Standpuncte der Invariantentheorie
betrachtet“ vollendet; derselbe ist ein ganz wüthender Invarianten-Mensch, er hat die Absicht
nach dem Doctorexamen auf ein Jahr nach Leipzig zu gehen um Ihre Anregung zu genießen;
er ist ein hitziger, speculativer Kopf und wird Ihnen als solcher gewiß gut gefallen.336
Die erwähnten besten Studenten, Hilbert und Minkowski, studierten das Buch.
Hilbert hob Kleins Verweis auf die breite Anwendbarkeit des Problems der regu-
lären Polyeder noch 1900 hervor (HILBERT 1900, 256). Sophus Lie schrieb an
Klein: „Dein Buch über das Ikosaeder habe ich empfangen, wie ich Dir schrieb.
Ich fühle mich sehr geschmeichelt, dass Du mich in so ehrenvoller Weise in der
333 [UBG] Math. Archiv 77: 94, Klein an Hurwitz, Postkarte v. 28.4.1883.
334 Ebd. 101 ( Brief v. 7.8.1883); 119 (28.3.1884).
335 [UBG] Math. Archiv 77: 116, Klein an Hurwitz, Brief v. 20.6.1882.
336 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 968, Hurwitz an Klein, 4.8.1884.
5.5 Forschungsfelder 257
Vorrede genannt hast. Allerdings fühle ich recht gut, dass ich es nur halb verdient
habe.“337 Klein hatte Lie für den gemeinsamen Gedanken gedankt, „solche
geometrische oder analytische Gebilde in Betracht zu ziehen, welche durch
Gruppen von Aenderungen in sich selbst transformirt werden.“338 Lie erklärte
seine eigene Reserviertheit gegenüber Danksagungen wie folgt:
Ich schäm mich, dass ich Dich in meinen letzten Arbeiten nur mit einer gewissen Reservation
citire. Ich habe indess gelernt, dass ich vorsichtig sein muss. Denn wenn ich jemand unbe-
dingt citire, so glaubt man, dass der Andere Alles gemacht hat. Ich verstehe nicht worin es
liegt. Wahrscheinlicherweise darin, dass man ohne weiter[es] voraussetzt[,] dass meine Ideen
mit meiner Redactionsfähigkeit proportional sind.339
Sophus Lie bezeichnete Kleins Ikosaederbuch als „sehr schön geschrieben“, mein-
te, dadurch wieder in Kleins Ideen hineinzukommen. Lie übernahm den von Klein
eingeführten Begriff isomorph, wofür er zunächst gleichzusammengesetzt benutzt
hatte.340 Zugleich fühlte sich Lie durch Kleins Buch angeregt, mit „Engels Hülfe“
Zukunftspläne für eigene Buchprojekte zu schmieden, seine „sämmtlichen Unter-
suchungen über Transformationsgruppen zu einem Werke zu vereinigen“.341
Klein begann seine Vorrede zum Buch Vorlesungen über das Ikosaeder und
die Auflösung der Gleichungen vom fünften Grade wie folgt:
Die Theorie des Ikosaeders hat in den letzten Jahren für fast alle Gebiet der modernen Analy-
sis eine solche Bedeutung gewonnen, dass es nützlich schien, eine zusammenhängende Dar-
stellung derselben zu veröffentlichen. Erweist sich dieselbe als brauchbar, so denke ich in
gleicher Richtung weiter zu gehen und die Lehre von den elliptischen Modulfunctionen sowie
die allgemeinen Untersuchungen über eindeutige Functionen mit linearen Transformationen
in sich, wie sie in neuester Zeit entstanden sind, in ähnlichem Sinne zu bearbeiten. Es würde
auf solche Art ein mehrbändiges Werk entstehen, von welchem ich eine Förderung der Wis-
senschaft jedenfalls insofern erwarte, als es Vielen den Zugang zu aussichtsreichen Gebieten
der neueren Mathematik eröffnen kann.342
337 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 704, Lie an Klein, 1884. (o.D.)
338 KLEIN 1884, Vorrede, IV.
339 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 704, Lie an Klein, 1884. (o.D.)
340 Ebd. – Aus dem Griechischen: von gleicher Gestalt, ίσος = gleich; μορφή = Gestalt.
341 Ebd., 704 und 706/1 (o.D., Ende 1884), mit detailliertem Plan zum Buchinhalt.
342 KLEIN 1884, III (Vorrede, datiert 24. Mai 1884).
258 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Das zitat stammt aus Kleins Aufsatz von 1905 (Über die Auflösung der allgemei-
nen Gleichungen fünften und sechsten Grades). Dort ordnete er seine Resultate in
die nachfolgenden Entwicklungen ein und hob insbesondere einen von Gordan
geführten neuen Beweis (1887) des Satzes von Kronecker sowie Ergebnisse von
Jordan, Wiman und Valentiner hervor. Aus Letzteren, der Valentiner-Wiman-
Gruppe gewann Klein selbst wiederum neue Ergebnisse, indem er sie mit der
Theorie der ebenen Kurven dritter Ordnung verknüpfte.345
Als Klein später auf das Thema zurückkam, betonte er noch einmal, dass Kro-
necker zuerst den Pfad gefunden habe, kritisierte aber dessen prinzipielle Haltung
gegenüber neuen Theorien. Dabei stellte Klein rhetorische Fragen und demon-
strierte seine eigene Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem:
Soll man, wo sich neue Erscheinungen (also hier die Leistungsfähigkeit der akzessorischen Ir-
rationalitäten) darbieten, zugunsten einer einmal gefaßten systematischen Ideenbildung die
Weiterentwicklung abschneiden, oder vielmehr das systematische Denken als zu eng zurück-
schieben und den neuen Problemen unbefangen nachgehen? Soll man Dogmatiker sein oder
wie ein Naturforscher bemüht sein, aus den Dingen selbst immer neu zu lernen?346
Das Thema des Ikosaeders blieb für Klein nicht nur rückwärtsgewandt. So ent-
wickelte Otto Fischer mit seiner Dissertation Konforme Abbildung sphärischer
Dreiecke auf einander mittelst algebraischer Funktionen (24.11.1884) „vielseitige
Methoden, um das Elementardreieck des Ikosaeders auf die anderen von den
Symmetriebögen derselben Konfiguration umgrenzten sphärischen Dreiecke kon-
form abzubilden, was jedes Mal mit Hilfe algebraischer Funktionen gelingen
muß.“347 Fischer löste damit eine von Klein formulierte Aufgabe und korrigierte
einen von Cayley entdeckten Rechenfehler Kleins. Fischers Methoden für die Be-
handlung der zum Ikosaeder gehörigen hypergeometrischen Funktionen bezeich-
nete Klein noch später als von allgemeiner Bedeutung.348
Mit der Übersetzung Lectures on the Ikosahedron and the solution of equati-
ons of the fifth degree (London: Trübner & Co., Ludgate Hill, 1888), die George
Gavin Morrice aus Weymouth (England), Mitglied der London Mathematical
Society, besorgte,349 zeigte sich Klein noch 1891 wenig zufrieden350, wenn auch
Cayley bei technischen Begriffen geholfen und Morrice sich auf ein detailliertes
Review von Frank Nelson Cole (Doktorschüler Kleins) gestützt hatte.351
Im Ikosaeder-Buch sind Begriffe enthalten, die später nach Klein benannt
wurden, wie die Kleinsche Vierergruppe (Kap. I, § 5) oder das Kleinsche For-
menproblem. An Letzteres knüpfte Richard BRAUER 1935 an und zeigte mit Hilfe
der Theorie der hyperkomplexen Größen, dass sich Kleins Formenproblem allge-
mein behandeln lässt. Wenn eine endliche Gruppe G von linearen Transformatio-
nen oder allgemeiner von Kollineationen gegeben ist, so wurde unter einem
Kleinschen Formenproblem zu G die Aufgabe verstanden, die Koordinaten eines
n-dimensionalen Punktes zu berechnen, wenn für ihn die Werte der Invarianten
von G bekannt sind. Die Hauptaufgabe bestand darin zu untersuchen, welche
Gleichungen auf ein Formenproblem zu einer gegebenen Gruppe G zurückgeführt
werden konnten. Bei Klein handelte es sich um die Frage, ob jede Gleichung 5.
Grades auf eine Ikosaedergleichung zurückgeführt werden kann. Die Antwort ist
leicht für eine Gruppe ganzer linearer homogener Transformationen. Der für An-
wendungen interessante Fall einer Gruppe von gebrochen linearen Transformatio-
nen war weniger einfach. Hierbei gelang Klein die Rückführung der Gleichung 5.
Grades auf eine Ikosaedergleichung nur, indem er zum Grundkörper eine Irratio-
nalität hinzufügte, die sich nicht als rationale Funktion der Wurzeln der Gleichung
mit Koeffizienten aus dem Grundkörper darstellen lässt. Vor Brauers neuem He-
rangehen wurden Beweise nur für spezielle Fälle geführt.
Gert-Martin Greuel hob hervor, dass Kleins Arbeiten die Singularitätenfor-
schung wesentlich anregten, da er im Zusammenhang mit seinen Arbeiten zur
Auflösung der Gleichung 5. Grades die Gleichungen einfacher Singularitäten ent-
Das Vorwort zum Ikosaderbuch war noch nicht geschrieben, als Klein im Sommer
1884 schon an das nächste Buch dachte. Er informierte Hurwitz:
Ich habe mir heute eine grosse Disposition für das zu schreibende Buch über Modulfunctio-
nen gemacht. Ob ich das je fertig bekomme? Es fehlt da in theoretischer Hinsicht noch sehr.
Aber auch abgesehen davon ist das Bücherschreiben eine grosse Arbeit, die mir aeusserst un-
angenehm ist. Ich zwinge mich dazu, weil ich es im Augenblicke für das Nützlichste halte,
was ich thun kann.354
Dieses zweite Buch, das mit KLEIN/FRICKE (1890/92) vollendet werden sollte, be-
sitzt eine bemerkenswerte, z.T. unbekannte Vorgeschichte. Hierzu gehört, dass
Kleins in München liegende Ansätze theoretisch ergänzt werden mussten und dass
er einen geeigneten „Redakteur“ suchte, denn er wollte nicht mehr selbst schrei-
ben. Es ist aus dem Endprodukt nicht ersichtlich, dass Klein in Leipzig schon ei-
nen anderen Kandidaten in dieser Position erprobte.
Hurwitz selbst war an der weiteren Kooperation mit seinem Doktorvater inte-
ressiert. Als Privatdozent in Göttingen vermisste er die bisherige anregende Zu-
sammenarbeit. So berichtete er regelmäßig an Klein und folgte bereitwillig dessen
wiederholten Vorschlägen für gemeinsame Treffen: „[…] eine Besprechung mit
Ihnen gehört immer zu meinen liebsten Wünschen“.356 Hurwitz half, die Theorie
zu vervollständigen, fehlende Beweise zu ergänzen. So hatte er z.B. bereits am 14.
September 1883 neue Beweisideen gemeldet und geurteilt: „Sie sehen hieraus,
dass Ihre Theorie der Modularcorrespondenzen durch Einführung der Weierstraß’
schen E-Function nach einer bestimmten Seite nicht unwesentlich vervollständigt
wird.“357 Kleins Antwort drückte noch Skepsis bezüglich des Benutzens der
Weierstraßschen Primfunctionen in allgemeinerem Kontext aus:
Auf Ihren Brief reagire ich sofort, obgleich ich nicht viel zu sagen habe. Die Frage ist offen-
bar, ob nicht bloss in der Theorie der Modulfunctionen sondern überhaupt in der Lehre von
den algebraischen Gebilden ein wirklicher Fortschritt durch Einführung der Primfunctionen
erreicht ist. Ich muss gestehen, dass ich bisher daran gezweifelt habe, dass ich glaubte, die
Primfunction sei nur der Ausdruck für eine gewisse Formulirung der schon früher wohlbe-
kannten Theorie. Ich hielt, wenn ich mich noch schärfer ausdrücken soll, die Aeusserung von
Kr.[onecker]: man müsse jetzt eigentlich die algebraischen F.[unctionen] verlassen und sich
nur mit den Primfunctionen beschäftigen, für eine Phrase. Ich werde mich gern vom Gegen-
theil überzeugen lassen. Bringen Sie mir eine Classenrelation, die sich anderweitig nicht mit
gleicher Leichtigkeit ableiten lässt, so bin ich überzeugt.358
Sie einigten sich mit Kleins Satz: „Das eigentliche Instrument, mit dem man ar-
beiten muss, ist und bleibt das Abel’sche Theorem.“359 Hurwitz bearbeitete das
Themenfeld Modularcorrespondenzen weiter. Klein rechnete fest mit den Ergeb-
nissen für sein geplantes Buch, für welches er vorsah: „Ein planmäßiges Studium
der Moduln n-Stufe müsste den Abschluss meines projectirten Werkes bilden.“360
Klein schlug wiederholt vor, was Hurwitz weiterhin untersuchen könnte, z.B.:
„Was die Moduln nter Stufe angeht, so versuchen Sie doch, sich geeignete Moduln
aus den Theilwerthen der σ-Function zusammenzusetzen […].“ Es folgten längere
Ausführungen zu den Moduln verschiedener Stufen.
Im Ostseeurlaub 1884 redigierte Klein eine eigene kleine Arbeit, in welcher er
„alte Resultate über die n-gliedrigen σ-Producte“ zusammenstellte.361 Er begann,
weitere seiner älteren Arbeiten noch einmal aufgefrischt für die Mathematischen
Annalen vorzubereiten und feilte wiederholt an der Disposition zum Buch. Er-
neute dringende Wünsche, sich mit Hurwitz zu treffen, realisierten sie Mitte Sep-
Hurwitz ordnete Picks Arbeit in Kleins Programm ein: „Die Durchführung Ihres
allgemeinen Programmes – welches sich an die Stufeneintheilung anlehnt – auch
für die complexe Multiplication wird gewiss sehr schöne Resultate zu Tage för-
dern. Herr Pick macht den ersten Schritt.“ Drei Tage später signalisierte Hurwitz,
dass er den Eindruck habe, „dass alles richtig ist; jedoch bin ich zu wenig mit der
Composition der quadratischen Formen vertraut, um die Details seiner Untersu-
chung nachdenken zu können.“370
362 Ebd, Brief 121, 10.9.1884; Cod. Ms. F. Klein 9: 972, Hurwitz an Klein, 12.9.1884.
363 [UBG] Math.Archiv 77: 122, Klein an Hurwitz, 23.9.1884. – Das nächste Treffen fand im
Urlaub, August/Sept. 1885 statt, wo es schon um die hyperelliptischen Funktionen ging.
364 Ebd., und Postkarte v. 25.9.1884 (Nr. 103, falsch eingeordnet im Nachlass).
365 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 974, Brief v. 28.9.1884.
366 Ebd., 975, Brief v. 16.10.1884.
367 [UBG] Math.Archiv 77: 123 (Klein an Hurwitz, Postkarte, 20.10.1884).
368 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 991 (Hurwitz an Klein, Postkarte 11.2.1885)
369 [UBG] Math.Archiv 77: 127, Klein an Hurwitz, Brief v. 29.11.1884.
370 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 981, 1.12.1884; 980, 4.12.1884 (falsche Ordnung im Nachlass).
5.5 Forschungsfelder 263
371 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 985 (Hurwitz an Klein, 3.1.1885); ebd, Math.Arch. 77:130
(Klein zu Kroneckers ‚analytischer Invariante’ Λ zur Auflösung der Pell’ schen Gleichung).
372 [UBG] Math.Archiv 77: 132. – Vgl. [Protokolle] Bd. 6, 155.
373 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 992, Hurwitz an Klein, 27.2.1885; 995, 19.3.1885.
374 Vgl. hierzu Klein an Wilhelm Fiedler, in VOLKERT 2018b.
375 Enthalten in KLEIN 1923 GMA III, 255-82.
376 Math. Ann. 26 (1886) 457; KLEIN 1923 GMA III, 275.
264 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Am Ende des Wintersemesters 1884-85 war Klein soweit, dass er ernsthaft an das
Aufschreiben des Materials in Buchform dachte und für das Forschungsseminar
meinte: „Mein Seminarunterricht wendet sich jetzt von den Modulfunctionen ab,
da wir alle etwas übersättigt sind, auch eine neue Generation von Leuten herauf-
kommt.“377
Bei der Suche nach einem geeigneten „Redacteur“ hatte Klein zunächst an Hur-
witz gedacht, aber selbst geschlussfolgert, dass diesem kreativen Kopf doch lieber
„freie Kräfte für eigene Untersuchungen übrig“ bleiben müssen.378
Robert Fricke, der sich später als der Projektbearbeiter erweisen sollte, stand
noch nicht zur Diskussion, wenngleich Klein in einem Brief vom 29. August 1884
erstmals erwähnte, dass Fricke im Seminar über Moduln 16. Stufe vorgetragen
habe.379 Frickes Dissertation (Ueber Systeme elliptischer Modulfunctionen von
niederer Stufenzahl, eingereicht am 13.9.1885) war jedoch noch nicht vollendet.
Klein konnte im März 1885 Georg Pick für das Amt gewinnen, der bei Leo
Koenigsberger in Wien promoviert und sich unter Ernst Mach in Prag habilitiert
hatte. Pick gehörte seit Herbst 1883-84 zu denjenigen Neuen (vgl. Tab. 6), die am
Programm zum Ausbau der Theorie der elliptischen Modulfunktionen mitarbeite-
ten. 1883-84 referierte Pick in drei Seminarreferaten über Grundbegriffe der The-
orie komplexwertiger Funktionen (Gauß, Cauchy, Riemann, Weierstraß, Prings-
heim, Mittag-Leffler, Jacobi, Schwarz, Cantor, etc.). Er analysierte Poincarés Ar-
beiten aus Band 1 der Acta Mathematica, wobei er in einem langen Nachsatz zu
seinem Referat ausführte, warum ein Beweis Poincarés noch „eine wesentliche
Unvollständigkeit“ enthalten würde, so dass noch nicht mit Sicherheit entschieden
werden könne, ob die von Poincaré „angegebenen Reihen die aufzustellenden
Funktionen wirklich in ihrem gesammten Gebiete darstellen“.380 Klein erprobte
Pick weiter, indem er ihn über die Hauptergebnisse seiner Münchener Vorlesung
über Algebra und Zahlentheorie (1879, nach Giersters Ausarbeitung) sprechen
ließ und lenkte ihn schließlich auf ein eigenes Thema, die complexe Multiplication
der elliptischen Functionen.381 Bevor Pick am 16. Juni 1884 darüber vortrug, war
Klein von dessen Fähigkeiten so begeistert, dass er am 28. Mai 1884 an seinen
alten Studienfreund Otto Stolz nach Innsbruck schrieb:
Lieber Stolz! Ganz gegen meinen gewöhnlichen Grundsatz setze ich mich heute hin und
schreibe, um für gewisse Eventualitäten von mir aus einen Candidaten zu empfehlen. Man
erwartet hier, dass Ihr College Gegenbauer nach Wien gerufen wird, also seine Stellung in
Innsbruck vacant wird. Nun meine ich einen oesterreichischen Mathematiker zu kennen, der
bislang kaum publicirt hat, so dass Sie vielleicht nicht auf ihn aufmerksam geworden sind,
der aber so ausgezeichnete Qualitäten besitzt, dass ich ihm gern vorwärts helfe, und zwar
ausdrücklich von dem allgemeinen Gesichtspuncte aus, dass es in Oesterreich der tüchtigen
Kräfte nicht zu viele gibt und diese immer Gefahr laufen, hinter anderen minder qualificirten
zurückstehen zu müssen. Mein Candidat ist Privatdocent Dr. Pick in Prag. Ursprünglich
Schüler von [Leo] Königsberger habilitirte er sich vor 3 – 4 Jahren und war dann Assistent
bei [Ernst] Mach, bis er Herbst 83 mit Urlaub hierher kam und seitdem Mitglied meines Se-
minars ist. Pick ist in erster Linie functionentheoretisch und namentlich zahlentheoretisch
disponirt. Er hat eine sehr klare und tiefgehende Auffassung, so dass es mir immer ein Ver-
gnügen ist, mit ihm zu sprechen, er hat aber namentlich einen ganz ausgezeichneten pädago-
gisch disponirten Vortrag, wie ich es nur bei wenigen meiner Schüler (bei Dyck u. Harnack)
beobachtet habe. Dass er noch wenig publicirt hat, – nun es ist ihm gegangen wie Vielen, er
hatte früher nicht die nöthige Anregung382, worauf sich in erster Linie Selbstkritik entwickelte
und die Ansätze zur Productivität zurückdrängte. Voraussichtlich kommt er noch vor Schluss
des Semester’s darüber hinaus; ich lasse ihn über complexe Multiplication arbeiten, wo er die
Kronecker’schen Resultate begründen und weiterführen soll – Pick ist, wie sein Name an-
deutet, natürlich Jude; aber er gehört zu den Ausnahmen, die im Verkehr angenehm sind, wie
er denn in meinem Seminare allgemein beliebt ist und den jüngeren Mitgliedern gegenüber
der allgemeine Rathgeber geworden ist.
Doch genug! Brauchen Sie nähere Nachrichten, so schicke ich sie umgehend; im uebrigen
entschuldigen Sie meine Initiative, die, wie ich doch sagen muss, nicht durch Dr. Pick provo-
cirt ist sondern einzig von mir selbst ausgeht.
Mit bestem Gruss
Ihr F. Klein383
Gegenbauer verließ Innsbruck zunächst nicht. Er und Otto Stolz trugen aber bei,
dass Pick an der Deutschen Universität in Prag (damals zu Österreich-Ungarn
gehörend) im Jahre 1888 eine a.o. Professur und 1892 eine o. Professur erhielt.
Bevor Pick diese Positionen erreichte, hatte Klein Ergebnisse von ihm in den
Mathematischen Annalen384 publizieren können, wo insgesamt elf Arbeiten von
ihm erschienen. Ostern 1885 trafen sie sich erstmals, um das Buchprojekt zu be-
raten. Vor diesem Treffen zeigte sich Klein allerdings selbst noch unsicher hin-
sichtlich seiner Ansichten, wie er Hurwitz wissen ließ:
Den Passus über die Tragweite Ihrer Methode habe ich, um gewiss nichts Falsches zu sagen,
gestrichen. Die Sache ist meines Erachtens die: Sie definiren die Modularcorrespondenz
durch die Nullstellen einer Function, nicht durch die Puncte eines Schnittpunctsystem’s, wie
ich mir das früher immer vorstellte: Dieser Unterschied interessirt mich mehr, als Sie viel-
leicht vermuthen, weil ich neuerdings bei anderen Fragen genau auf denselben Zwiespalt ein-
ander entgegenstehender Anschauungen gekommen bin. Die Auffassung, als müsse man
durch Schnittpunctsystem definiren, stammt aus der Geometrie. Die Frage ist, ob wirklich bei
den höheren Problemen die Geometrie zu Gunsten der Functionentheorie abdanken muss, wie
ich es immer mehr glaube. Das wirft mir dann manche Lieblingsanschauung über den Hau-
fen! Ueberhaupt steht es mit einer systematischen Abrundung meiner Ansichten sehr schlimm
und ich fürchte fast, meine Besprechungen mit Pick, die Freitag beginnen sollen, werden re-
sultatlos verlaufen.385
Klein beauftragte Pick, bis September 1885 die ersten fünf Kapitel vom ersten
Buchabschnitt selbstständig zu redigieren, basierend auf seinen Vorlesungen und
neueren Ergebnissen, wofür Hurwitz Zusammenfassungen lieferte. Hurwitz hatte
z.B. bis Mai 1885 selbst die Classenzahlrelationen primzahliger Stufe soweit,
dass er feststellen konnte: „Immerhin ist aber doch nun die Existenz der Relatio-
nen für eine beliebige Stufe gesichert und ihre allgemeine Form erkannt.“386 Im
November konstatierte Klein allerdings, dass „Pick […] die Modulfunctionen
nicht so gefördert [habe], wie ich erwartete“.387 Klein bat ihn dennoch weiterhin
zu Beratungen nach Leipzig, und ab Mai 1886 schließlich nach Göttingen. Am 15.
Mai 1886 erfuhr Hurwitz:
Dann aber habe ich seit 8 Tagen auf Grund der Pick’schen Vorarbeiten begonnen, den ersten
Abschnitt meines Buches über ellipt.[ische] Modulfunctionen zu redigiren! Unterdessen för-
dert Pick den zweiten Abschnitt (Haupttheil), den wir Ende der Osterferien ausführlich
durchgesprochen haben. Möge es zum guten Ende kommen. Ich schwanke zwischen Zuver-
sicht und Misstrauen. Mich reut auch die Zeit, die ich nun noch einmal auf diese alten Ge-
schichten wenden soll. Aber es wird ja wohl vernünftig sein.388
Ca. ein Jahr später war die Kooperation mit Pick beendet. Klein informierte Hur-
witz im September 1887: „Mein Plan, mit Pick zusammen die ell.[iptischen] Mo-
dulfunctionen zu bearbeiten, ist mit beiderseitigem Einverständnisse lange aufge-
geben.“ Klein stellte die rhetorische Frage, ob nicht vielleicht Hurwitz dazu Lust
hätte.389 Sich aus der Schlinge ziehend, antwortete Hurwitz: „Die richtige geistige
Frische und anregende Kraft würde das Buch nur erhalten, wenn Sie selber es
schreiben. Das war stets mein Gedanke […].“390
Die Hauptursache für Picks Scheitern muss in den noch ungenügenden theo-
retischen Grundlagen gesehen werden. Klein selbst, Hurwitz, wie auch schließlich
Robert Fricke sollten noch in den nächsten fünf Jahren daran arbeiten. Als Klein
am 5. August 1888 an Hurwitz über Picks Karrierestufe berichtete, „Pick ist nun
endlich wirklich […] ausserordentlicher Professor geworden“, schrieb er zugleich
zum neuen Mitarbeiter Robert Fricke:
Nun muss ich Ihnen vor allen Dingen erzählen, dass Fricke wirklich an den Modulfunctionen
arbeitet: jedenfalls mit mehr Consequenz und ich hoffe also auch mit mehr Energie als Pick
seiner Zeit. Ich lasse ihn möglichst selbständig machen. Wir haben nur Weihnachten und Os-
tern jedes Mal kurz conferirt, und nun erwarte ich ihn eben wieder für die nächsten Tage.391
Conrad Müller, der sich, abgestimmt mit Klein, für Geschichte der Mathematik
habilitierten sollte (vgl. 8.3.1), ordnete in TEUBNER (1908) das Buchprogramm
Felix Kleins und ihm nahe stehender Autoren wie folgt ein:
Im Jahre 1882 läßt F. Klein ein Buch über Riemanns „Theorie der algebraischen Funktionen
und ihrer Integrale“ erscheinen, das auf anschauungsmäßiger, geometrisch-physikalischer
Grundlage eine Darstellung der Theorie gibt und zugleich eine Vorarbeit bildet zu seinen
sämtlichen weiteren Publikationen über Funktionentheorie. So folgten 1884 die „Vorlesungen
über das Ikosaeder“ der erste Teil einer umfassenden Theorie der automorphen Funktionen
einer Veränderlichen, in dem die algebraischen Fälle dieser Funktionen durch funktionenthe-
oretische Erfassung der geometrischen Theorie der regulären Körper in einfachster Weise zur
Erledigung gelangen. Den ersten wichtigen Spezialfall der transzendenten automorphen
Funktionen behandeln die 1890/92 unter Mitwirkung von Fricke herausgegebenen „Vorle-
sungen über elliptische Modulfunktionen“, während die „Allgemeine Theorie der automor-
phen Funktionen“ in den noch nicht abgeschlossenen Vorlesungen 1897ff. zur Behandlung
gelangen. An die Riemannschen Thetafunktionen und die Charakteristikentheorie knüpfen die
Arbeiten von Prym, Krazer – der den Thetafunktionen 1903 ein eigenes Buch widmet – und
dann weiter von Rost an, während nach anderer Seite diesem Gebiete Schottkys „Theorie der
Abelschen Funktionen“, 1880, und Wirtingers „Untersuchungen über Thetafunktionen“,
1895, angehören, Stahl endlich gibt in seiner „Theorie der Abelschen Funktionen“, 1896, eine
lehrbuchmäßige Bearbeitung dieses Gebietes. […].392
Wenn Berliner Mathematiker schließlich 1913 urteilen sollten, dass Klein „ein
großes bänderreiches Lehrbuch der Analysis […] voll eigenthümlicher geometri-
scher Methoden“ auf den Weg brachte (vgl. Anhang Nr. 11), so zollten sie nach
langem Zögern – und nach dem Tode von Weierstraß, Kronecker, Fuchs – diesem
Denkstil (vgl. Koenigsbergers Urteil in Einführung 1.2) ihren Tribut.
Im übrigen begann ich 1885, mich mit einer Problemstellung eingehender zu beschäftigen,
die ich schon lange vor mir gesehen hatte und die mich nun mehrere Jahre in Anspruch neh-
men sollte, nämlich der Übertragung der neuen Formulierungen, die mir bei den elliptischen
Funktionen geglückt waren, auf hyperelliptische und Abelsche.393
Klein fuhr im August/September 1885 mit Hurwitz auf die Insel Borkum, eine
Nachschrift von Weierstraß’ Vorlesung über hyperelliptische Funktionen im Ge-
päck. Nach weiterer Arbeit dazu teilte Klein am 13. Dezember 1885 neue Ergeb-
nisse mit, betreffend „völlig unabhängige Moduln […], wodurch ein neues Sys-
tem hyperelliptischer ‚Hauptmoduln’ gegeben ist […]“.394 Hurwitz reagierte mit:
Ihre weiteren Sätze über die geometrische Integration der hyperelliptischen Differentialglei-
chungen habe ich mit Interesse gelesen. Hoffentlich kommt nun bald Ihre Configuration-Ab-
handlung heraus, welche ich sehr eifrig studiren werde, da mir Vieles, was ich daraus in Bor-
kum gelernt hatte, wieder verloren gegangen ist.395
392 TEUBNER 1908, XIV-XV. – Georg Rost war, wie Krazer, Schüler von Prym in Würzburg.
393 KLEIN 1922 GMA II, 259.
394 [UBG] Math.Archiv 77: 150, Klein an Hurwitz, 13.12.1885.
395 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1014, Brief v. 11.1.1886.
268 5 Professur für Geometrie in Leipzig
wo f eine rationale Function sei, in ihrem Zusammenhange mit den Thetafunctionen zweier
Variablen.398
Klein erlangte mit den σ-Funktionen eine Übersicht im Gebiet, die Funktionen-
theorie, Algebra und Geometrie verknüpfte: „Diese Sigmafunktionen haben die
Eigenschaft, dass ihre Potenzreihenentwicklungen nach rationalen ganzen Kovari-
396 Klein, F.: „Ueber Configurationen, welche der Kummer’schen Fläche zugleich eingeschrie-
ben und umgeschrieben sind“. Math. Ann. 27 (1886) 106-42; KLEIN 1921 GMA I, 164-99.
397 [UBG] Math. Archiv 77: 152, 8.1.1886. – Jablonowskische Gesellschaft vgl. Abschnitt 5.7.2.
398 Math. Ann. 27 (1886) 471-72. – Der Begriff Thetafunktion für eine spezielle Klasse von
Funktionen mehrerer komplexer Variablen stammt von Jacobi (1829).
399 KLEIN 1923 GMA III, 317.
400 Ebd.
5.6 Felix Klein und Alfred Ackermann-Teubner 269
Hurwitz arbeitete auch während der folgenden Göttinger Zeit an Kleins Ziel mit,
die Theorie der hyperelliptischen und Abelschen Funktionen mit der Formentheo-
rie bzw. Invariantentheorie zu kombinieren.405
Die kleine Studie ACKERMANN/WEIß (2016) zeichnet ein prägnantes Prorträt über
Alfred-Ackermann-Teubner406, der den mathematischen Teil des Verlags von den
1880er Jahren an bis zu seinem Ausscheiden im Jahre 1916 prägte. Darin wird
auch Felix Kleins Beitrag zum Aufschwung angedeutet.407
Klein hatte sich als „F. Klein, stud. math., früherer Assistent bei Plücker“ am
27. Mai 1868 erstmals an den Verlag B.G. Teubner gewandt.408 Damals war Alf-
red Ackermann-Teubner, Enkel des Firmengründers Benedictus Gotthelf Teubner,
erst elf Jahre alt. Nach Lehrjahren im Verlag und Volontariaten in London und
Paris avancierte er gerade 1882 zum Mitinhaber der Firma, als Felix Klein in
Leipzig agierte. A. Ackermann-Teubner hatte nebenher Vorlesungen (Naturwis-
senschaften, Volkswirtschaftslehre) an der Universität Leipzig besucht und ver-
antwortete schließlich das Ressort Mathematik, Naturwissenschaften und Tech-
nik. Dabei profitierte er von Kleins Interessen und personellem Netzwerk.
401 Klein, F.: „Über hyperelliptische Sigmafunktionen“. Math. Ann. 27 (1886); Klein 1923 GMA
III, 323-56.
402 [UBG] Math. Archiv 77: 153, Klein an Hurwitz, Brief v. 29.1.1886.
403 Ebd. 2.2.1886 (mehrere Postkarten auf einem Blatt). – präcisirt: Hurwitz sprach in einem
Brief an Klein v. 5.2.1886 (Nr. 1017) von einer „Verlobungsepidemie“.
404 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1021, Hurwitz an Klein, Brief v. 7.4.1886.
405 Zu den entstandenen Arbeiten vgl. auch KLEIN 1923 GMA III, 317-474.
406 Sein Vater Albin Ackermann, seit 1850 in der Firma B.G. Teubner, hatte Anna Teubner ge-
heiratet und nannte sich fortan Ackermann-Teubner, vgl. ACKERMANN/WEIß 2016, 14-15.
407 REMMERT/SCHNEIDER 2010 entdeckten in ihrer innovativen Studie zum Verhältnis von Ma-
thematik und ihren Verlegern das besondere Verhältnis von Klein und Ackermann-Teubner
nicht. THIELE 2011 wertschätzt das Verhältnis anhand von Jubiläumswürdigungen.
408 Vgl. SCHULZE 1911, 297.
270 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Die Schrift Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihre
Integrale (1882) war die erste kleinere Monographie, die Klein 1881 dem Verlag
angeboten hatte. Der Jubiläumsband des Verlags enthält dazu eine ausführliche
Inhaltsangabe und Kleins Vision von einem Monographien-Programm, die er in
einem Brief vom 24. August 1883 an den Verlag ausgedrückt hatte:
Lassen Sie mich ferner die allgemeine Absicht angeben, von der aus ich diese Bearbeitung
unternehme. Daß es mit den abgerissenen Monographien in den Zeitschriften nicht genug sei,
dass es gelte[,] dieselben, sobald sie ein größeres Gebiet zum Abschluß geführt haben, in zu-
sammenhängender Darstellung zusammenzufassen, ist seit langem mein Grundsatz.409
Die Monographien-Vision ergriff Klein in den folgenden Jahren so, dass er sie
nicht nur mit einem eigenen Buchprogramm verfolgte, sondern als Aufgabe der
Deutschen Mathematiker-Vereinigung (vgl. 6.4.4) etablierte. Die dadurch erar-
beiteten Berichte über mathematische Gebiete und ihre Anwendungen mündeten
in die ENCYKLOPÄDIE und damit wieder beim Teubner-Verlag, wo davon 1898 bis
1935 zahlreiche Einzelbände herauskamen (vgl. 7.4). Ackermann-Teubner ge-
wann mit diesem Projekt hervorragende Autoren für sein Ressort, worauf er seine
spätere Preisstiftung basierte, die Kleins besondere Position für Teubners Buch-
und Zeitschriftenprogramm zum Ausdruck bringt.
Erstens. Klein nutzte in Leipzig die Nähe zum Verlagshaus, um Schüler, Kol-
legen, Autoren der Mathematischen Annalen persönlich dort einzuführen. Ein
Bericht Otto Hölders kann als typisches Beispiel gelten:
Prof. [Aurel] Voß aus Dresden war hier in den Pfingstferien, und Klein forderte mich auf, als
ich eben von Göttingen zurück war, ihn zu besuchen, um Herrn Voß zu treffen. Der mathe-
matische Privatdocent [Friedrich] Schur kam noch hinzu. Wir gingen dann zusammen zu
B.G. Teubner, wo ich mein Manuscript holte. Es war sehr interessant auf diese Art die groß-
artige Druckerei von oben bis unten zu sehen. Allen Chefs des Geschäfts wurden wir als Mit-
arbeiter an den Mathematischen Annalen vorgestellt […]410
verlegt wurden. Erst 1923 sollte Max Born genötigt sein, als Kleins Nachfolger
bei der Gauß-Edition damit zu Springer zu wechseln.411
Viertens. Klein regte an, Bücher aus dem Englischen, Französischen, Italieni-
schen, Russischen in deutscher Übersetzung bei Teubner zu publizieren. Dazu ge-
hörten Differenzenrechnung 1896 und Wahrscheinlichkeitsrechnung 1912 von
A.A. Markow.412 Klein inspirierte seinen Doktorschüler Friedrich Schilling (vgl.
7.1) zum Buch: Über die Nomographie von M. d’Ocagne: Eine Einführung in
dieses Gebiet, 1900, sowie Paul Stäckel zu einer bearbeiteten Übersetzung von
Schul-Lehrbüchern Émile Borels (Die Elemente der Mathematik, ab 1908). Klein
initiierte ebenso die Übersetzungen von Horace Lamb, Treatise on the Mathema-
tical Theory of the Motion of Fluids 31879 (Lehrbuch der Hydrodynamik, 1907),
und von Edward Hough Love, A treatise on the mathematical theory of elasticity,
1892/93 (Lehrbuch der Elastizitätstheorie übersetzt durch Kleins Doktorschüler
A. Timpe, 1907).413 Auf PERRY (1897) verwies Klein wiederholt bei der
Unterrichtsreform; er veranlasste die deutsche Ausgabe (11902), die mehrere
Teubner-Auflagen erlebte (vgl. dazu 3.6.3 und 8.3.4.2). Grace Chisholm-Young
sollte Kleins Anregung aufgreifen, ein Buch zum Anfangsunterricht zu schrei-
ben414, und Klein sorgte für die Übersetzung durch Felix Bernstein (und Frau) Der
kleine Geometer, 1908. Ausgehend von einer Analyse eines Buches des Schotten
Benchara Branford in Kleins Seminar (26.1.1910) entstand die deutsche Version,
Betrachtungen über mathematische Erziehung vom Kindergarten bis zur Univer-
sität (1913), besorgt durch R. Schimmack und H. Weinreich.
Fünftens. Für etliche Teubner-Bücher verfasste Klein selbst ein Vorwort bzw.
eine Einführung, so zum Beispiel für die aus Dissertationen entstandenen Bücher
von Friedrich Pockels (1891) und Maxime Bôcher (1894)415; für Edward John
Routh (1898), Die Dynamik der Systeme starrer Körper (2 Bde.); für Frederigo
Enriques (1903), Vorlesungen über projektive Geometrie; für Jules Tannery
(1909), Elemente der Mathematik. Mit einem geschichtlichen Anhang von Paul
Tannery,416 für Jan A. Schouten (1914), Grundlagen der Vektor- und Affinorana-
lysis. Klein nutzte die Vorworte, um in eigene Forschungen und Projekte einzu-
411 [AdW Göttingen] Scient 105,2: 9; 107,5: 6b. – REICH/ROUSSANOVA 2013, 226-27.
412 Markovs Schüler Theophil Friesendorff übersetzte die Differenzenrechnung, er hatte in Semi-
narvorträgen bei Klein (1.5. und 31.5.1895) das russische Buch benutzt. Das „Rechnen mit
endlichen Differenzen“ (Interpolation, Herstellen numerischer Tafeln, Aufsuchen zufälliger
und Abschätzen unvermeidlicher Fehler) erhielt für viele Anwendungen zunehmend Gewicht.
Rudolf Mehmke schrieb gemäß Kleins Wunsch ein Vorwort und erwähnte dessen weitsich-
tige Initiative. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung übersetzte Heinrich Liebmann (Kleins As-
sistent 1897-98), vgl. TOBIES 2018a. – Vgl. zur Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung
auch KRENGEL 1990; SCHNEIDER 1989.
413 Vgl. Klein 1922 GMA II, 508. – Sie waren Autoren an Bd. IV (Mechanik) der ENCYKLO-
PÄDIE, Love, E.H.: Hydrodynamik (1901); Lamb, H: Schwingungen elastischer Systeme –
insbesondere Akustik (1906), vgl. Abschnitt 7.4.
414 Sie erarbeitete das Buch allein, aber der Name ihres Mannes stand mit auf dem Titelblatt:
Grace (Chisholm) Young; W. H. Young: Beginner’s book of geometry, London 1905.
415 Vgl. hierzu auch Abschnitt 6.3.5 des vorliegenden Buches.
416 Es erschien davon eine 2. Auflage, Leipzig und Berlin: B.G Teubner, 1921.
272 5 Professur für Geometrie in Leipzig
schrift in Folge des Ersten Weltkrieges. Als Richard von Mises die Zeitschrift für
angewandte Mathematik und Mechanik (ZAMM) im Jahre 1921 begründete, be-
grüßte dies Klein als gute Fortsetzung dieser Tradition (vgl. Abschnitt 9.5).
422 Vgl. STUBHAUG 2010, 289; Eneström war nicht Redaktionsmitglied der Acta mathematica.
274 5 Professur für Geometrie in Leipzig
für Studenten gedacht und hierfür das Vorbild der Pariser Nouvelles Annales de
Mathématiques, journal des candidats aux écoles polytechnique et normale im
Auge. Die seit 1896 durch Charles-Ange Laisant edierte Zeitschrift publizierte in
den 1890er Jahren zahlreiche Arbeiten Kleins in Übersetzung. Nach Rückfrage
bei Klein gewann Ackermann-Teubner Franz Meyer sowie die Berliner Emil
Lampe und Eugen Jahnke als Herausgeber für das Archiv der Mathematik und
Physik. Im Unterschied zum französischen Organ erschien das Archiv mit dem
Untertitel „Mit besonderer Rücksicht auf die Befürfnisse der Lehrer an höheren
Unterrichtsanstalten“. Als Anhang wurden die Sitzungsberichte der Berliner Ma-
thematischen Gesellschaft beigefügt. Lampe starb 1918, Jahnke 1921. Mit Band
28 (1920) stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein (vgl. Abschnitt 9.4.1).
Kleins Idee von „Mathematischen Mitteilungen“ (Punkt 5) hatte dauerhaften
Bestand. D.h., die heutigen DMV-Mitteilungen besitzen hier ihren Ursprung.
Nachdem die ersten vier Bände des Jahresberichts der DMV bei Georg Reimers,
Berlin, relativ langsam gedruckt worden waren, hatte die DMV bereits 1896 die
Verlagsgeschäfte an Teubner gegeben. Bei den Plänen zur Reorganisation orien-
tierte sich Klein am Vorbild der von Eduard Riecke und Hermann Theodor Simon
im Jahre 1899 begründeten Physikalischen Zeitschrift (Verlag S. Hirzel, Leipzig).
Klein und Ackermann-Teubner erwirkten, dass die DMV 1901 ein neues Pro-
gramm für monatliche Ausgaben (Mitteilungen) beschloss. August Gutzmer, mit
dem Klein gut kooperierte,423 übernahm die Herausgabe ab Band 11 (1902). Darin
wurden erstmals Hochschulnachrichten, Antrittsvorlesungen, Vorträge, Reden,
Personalnachrichten, Informationen über nationale und internationale Versamm-
lungen, Ereignisse u.ä. publiziert.
Neuntens. Das Verlagsprogramm bei Teubner profitierte von der „Kleinschen
Unterrichtsreform“ (vgl. 8.3.4). Es erschienen nicht nur reformorientierte mathe-
matische Schulbuchreihen neu. Klein ließ Vorträge und Reformvorschläge, Vorle-
sungen zum Mathematikunterricht, sowie das erwähnte 5-bändige Werk Abhand-
lungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland hier publizieren. Er
schrieb dazu Einführungs- und Schlussworte. Klein veranlasste auch, dass das
erste Buch zur Mathematikdidaktik bei Teubner herauskam.424
Zehntens. Als der Verlag B. G. Teubner für den IV. Internationalen Mathema-
tiker-Kongress in Rom 1908 den erwähnten, von Conrad Müller erarbeiteten um-
fangreichen Katalog (TEUBNER 1908) präsentierte, wurden „Bildnisse einiger der
Hauptvertreter meines mathematisch-naturwissenschaftlichen Verlags“ beigefügt.
Zu den abgebildeten Mathematikern gehörten nur Felix Klein, Carl Neumann und
der Mathematikhistoriker Moritz Cantor.425 Als der Teubner-Verlag im Jahre
1911 sein 100-jähriges Jubiläum feierte, stiftete Ackermann-Teubner der Univer-
sität Leipzig ein Kapital von 20.000,00 Mark für einen „Alfred Ackermann-Teub-
Der Stifter legte die Reihenfolge für die Preisvergabe fest und ergänzte, dass im
Verlaufe der Zeit evtl. neu entstehende Gebiete ebenfalls zu bedenken seien:
1. Geschichte, Philosophie, Didaktik, Unterricht, 2. Mathematik (in erster Linie Arithmetik
und Algebra), 3. Mechanik, 4. Mathematische Physik, 5. Mathematik, in erster Linie Analy-
sis, 6. Astronomie, Ausgleichsrechnung und Fehlertheorie, 7. Angewandte Mathematik, in
erster Linie Geometrie und 8. Angewandte Mathematik, soweit sie nicht bereits in den vor-
hergehenden Nummern berücksichtigt ist, insbesondere Geodäsie und Geophysik.426
426 [UA Leipzig] Rep. III/II/I, Nr. 93, Bd. 4, Bl. 20.
427 Der Preis wurde aller zwei Jahre vergeben: 1916 E. Zermelo, 1918 L. Prandtl, 1920 G. Mie,
1922 P. Koebe etc. (Angabe der Preisträger in den Mathematischen Annalen).
428 Vgl. ACKERMANN/WEIß 2016, 31-34.
276 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Felix Klein engagierte sich vor allem in einem Mathematisches Kränzchen, in der
Fürstlich-Jablonowskischen Gesellschaft, der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der
Wissenschaften zu Leipzig sowie in einem sog. „Professorium“.
Das Professorium umfasste die Gesamtheit der Universitäts-Professoren, die
in größeren Abständen und repräsentativen Räumen zu besonderen Anlässen zu-
sammenkamen.429 Dieses Gremium ist erwähnenswert, weil es Klein 1886 für die
Göttinger Universität ins Leben rufen sollte (vgl. 6.4.1). In Leipzig ging die Grün-
dung auf den Physiker und Physiologen Ernst Heinrich Weber zurück, der sich
hier sowohl in der Philosophischen als auch in der Medizinischen Fakultät habili-
tiert und im Jahre 1821 eine Professur für Anatomie erhalten hatte. E. H. Weber
gilt auch als Begründer der polytechnischen Gesellschaft zu Leipzig (1825) sowie
der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften (1846).430
Klein strebte danach, die Kurven vierter Ordnung mittels Abelscher Integrale zu
klassifizieren436 und wollte hier vorwärts kommen. Die Aufgabe war 1877/78
noch einmal gestellt worden; dennoch hatte sich kein Bearbeiter gefunden.437 Um
die Theorie der rationalen Kurven vierter Ordnung zu entwickeln, war das Thema
für 1879/80 neu formuliert, ausführlicher erläutert sowie in derselben Form für
1880/81 in München wiederholt worden:
Unter den ebenen algebraischen Kurven sind die rationalen, deren Koordinaten sich den Wer-
ten eines veränderlichen Parameters eindeutig zuordnen lassen, einer eingehenden Behand-
lung am ehesten zugänglich. Namentlich dürfen die Eigenschaften der bezeichneten Kurven
dritter und vierter Ordnung als festgestellt angesehen werden. Für eine der Verallgemeine-
rung fähige Darstellung dieser Kurven scheint es jedoch zweckmässig, andere als die bisher
benützten Ausgangspunkte zu gewinnen. Es wird nun die Entwickelung einer Theorie der ra-
tionalen Kurven vierter Ordnung gewünscht, welche sich auf die Gleichungen für die Para-
meter der Wendepunkte und Rückkehrpunkte derart gründet, dass alle Beziehungen möglichst
in den Coeffzienten dieser Gleichungen ausgedrückt werden, wobei ein Anschluss an die
Theorie der binären Formen anzustreben ist.438
Von den zwei preiswürdigen Schriften des Jahres 1881 stammte eine von Fried-
rich Dingeldey, der schon bei Klein in München gehört hatte. Er erhielt den hal-
ben Preis439 und promovierte 1885 in Leipzig mit dem Thema „Über die Erzeu-
gung von Kurven 4. Ordnung durch Bewegungsmechanismen“. Bezug zu diesem
Themenfeld besaß ebenso die erwähnte Arbeit von Paul Domsch (vgl. 5.5.2.3).
Kleins Preisaufgaben deuten an, welcher Gegenstand ihm zu einem bestimm-
ten Zeitpunkt besonders wichtig war (vgl. dazu Abschnitte 5.5.8, und 8.3.2).
Felix Klein wurde am 24. Juli 1882 zum ordentlichen Mitglied der mathematisch-
physikalischen Classe der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu
Leipzig440 gewählt. Der 17 Jahre ältere Wilhelm Wundt, seit 1874 Professor in
Leipzig, avancierte erst am selben Tag in diese Position, ebenso Christian Braune,
seit 1872 Ordinarius für Topographische Anatomie an der Universität. Es bestand
keine Extraklasse für medizinische Fächer. Mit beiden Neugewählten kooperierte
Klein. Als er Leipzig wieder verließ, wurde er zum 1. April 1886 auswärtiges or-
dentliches Mitglied dieser Sächsischen Akademie.441
Obgleich die Akten dieser Institution weitgehend Kriegsverlust sind, lässt sich
Kleins außergewöhnliches Engagement erschließen. Klein notierte für das Jahr
1884: „Aufkrämpelung der Leipziger Ges.[ellschaft] d.[er] Wiss.[enschaften].
Moebius’ Ausgabe.“442 Dieses Aufkrempeln im Sinne von Umgestalten umfasste:
Erstens erreichte Klein gemeinsam mit dem Secretar der mathematisch-physi-
kalischen Classe, dem Professor für Physiologie Carl Ludwig, dass am 16. Mai
1884 folgende Nachträge zu den Statuten der Gesellschaft an das Ministerium
nach Dresden geschickt wurden:
a) Die Beschränkung der Zahl der ordentlichen einheimischen Mitglieder auf 40 wird auf-
gehoben.
b) Zur Abstimmung sind nur die in der betreffenden Sitzung anwesenden ordentlichen ein-
heimischen Mitglieder berechtigt.
c) Hinsichtlich der Auswärtigen Mitglieder kann jede Klasse selbst festlegen, ob sie Vor-
träge halten, an Sitzungen der Klasse teilnehmen und Publikationen einreichen dürfen.443
444 Kleins Stimme zählte auch bei Berufungen an der TH Dresden. Am 5.1.1885 schrieb er an
Harnack: „Rohn steht den anderen vier Candidaten, was Selbständigkeit der wissenschaftli-
chen Persönlichkeit betrifft, meines Erachtens voran […]“. Somit lautete die Vorschlagsliste
für die zweite Professur für Mathematik und analytische Mechanik (Nachfolge Aurel Voß)
neben Axel Harnack: 1. Karl Rohn, 2. Otto Staude, 3. Friedrich Schur und Hans v. Mangoldt.
[StA Dresden] 15547 (Geheimakten zu verschiedenen Berufungsvorgängen).
445 [Paris] Nr. 72, Klein an Darboux, Brief v. 3.5.1881.
446 [UBG] Math. Archiv 77: 126, Klein an Hurwitz, Postkarte v. 19.11.1884.
447 Vgl. REGISTER 1889. Hilberts von Klein präsentierte Arbeit war „Über eine allgemeine Gat-
tung irrationaler Invarianten und Covarianten für eine binäre Grundform geraden Grades“ (Jb
math.-phys. Kl. 37, 1885, 427-38).
448 Vgl. hierzu KLEIN 1926 Vorlesungen I, 116-19; PLUMP 2014; DOMBROWSKI 1990, 330.
449 Die 1858 gestellte Preisaufgabe lautete: « Perfectionner en quelque point important la théorie
géométrique des polyèdres ».
450 [Paris] Nr. 72, Klein an Darboux, Brief v. 3.5.1881.
451 Ebd., Nr. 74, Klein an Darboux, Brief v. 28.5.1881.
280 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Baltzer edierte Band I (die mit dem barycentrischen Calcul in Kontext stehen-
den Arbeiten). Klein verantwortete Band II (weitere geometrische Arbeiten) und
Band III (Statik). In den Vorreden zu Band II (Oktober 1885) und III (Februar
1886) bedankte sich Klein für die Mitarbeit beim Privatdozenten Otto Staude, bei
Oberlehrer Dr. C. Reinhardt452 und bei den französischen Kollegen Bertrand und
Darboux. Kurz bevor Klein nach Göttingen wechselte, erfuhr Hurwitz: „Möbius
III kommt noch zum Abschluss und allerlei halbe Beziehungen, unter deren
Unvollständigkeit ich zu leiden hatte, werden noch geklärt.“453 Von Göttingen aus
beteiligte sich Klein noch an Band IV (Astronomie u.a.), den Scheibner leitete.
Carl Ludwig, Secretär der Classe und dreißig Jahre älter als Klein, lud ihn
noch am 8. Oktober 1887 zu einer Sitzung der „Moebius-Commission“ für Sams-
tag, den 22.10., 15.00 Uhr, nach Leipzig ein. Da Klein meinte, verzichtbar zu sein,
folgte zwei Tage später ein Brief mit dem aufschlussreichen Bemerken:
Verehrtester Freund, Sie am 22. October zu entbehren? Das wäre unmöglich. Noch sind man-
cherlei Hindernisse[,] die dem Abschluß von Moebius Werken entgegen stehen[,] zu über-
winden, und da Sie bis dahin die Seele des Unternehmens waren[,] so werden Sie sich auch
für dessen tadellose, vorwurfsfreie Vollendung begeistern.454
Ludwig legte dieser Post an Klein eine neu aufgefundene Abhandlung von Mö-
bius (zu geometrischer Addition und Multiplikation) bei, die Klein noch in Band
IV aufnehmen ließ und in einem zusätzlichen Vorwort erklärte.
Fünftens. Für den Start der Edition der Werke von Hermann Graßmann be-
durfte es ebenfalls des „Blitzschlags“ durch das Auswärtige Mitglied Felix Klein:
Verehrter lieber Herr College, Ihr Blitz hat eingeschlagen. Heute hat auf den Vortrag [Fried-
rich] Engels hin die Classe eine Commission gewählt nach alphabetischer Ordnung und dem
Rechte nach Klein, Lie, Mayer, Scheibner; Engel als Schriftwart. Wir hoffen[,] dass Sie ge-
neigt sind, sich der Bitte unserem Beirath angehören willfahren und uns so oft als wir Ihres
Rathes bedürfen bereitwillig bey stehen.455
452 Curt Reinhardt hatte 1882 bei W. Scheibner und C. Neumann promoviert.
453 [UBG] Math. Archiv 77: 154, Klein an Hurwitz, 2.3.1886.
454 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 883, 884 (Carl Ludwig an Klein, 8.10.1887).
455 Ebd., 887, Carl Ludwig an Klein, Brief v. 5.12.1892.
456 Vgl. hierzu ROWE 1996, wiederholt aufgenommen in ROWE 2018a, 95-103.
457 V. Schlegel reichte die Arbeit Die Elemente der modernen Geometrie und Algebra 1875 am
14.11.1881 ein. Klein war Erstgutachter, C. Neumann Zweitgutachter, KÖNIG 1882, A6-2. –
Auch nach Chicago fuhr Klein mit 2 Beiträgen von Schlegel, vgl. MOORE et al. 1896, 331-40.
5.8 Leipzig den Rücken kehren 281
Für die neue Edition wünschte Klein jedoch Bearbeiter, denen er eine an-
spruchsvolle wissenschaftliche Kommentierung zutraute. Er holte dafür das Ein-
verständnis der Familie Grassmanns458 und, wie erwähnt, Friedrich Engels Zusage
ein. Danach nahm Klein am 17. Oktober 1892 in Leipzig an einer Sitzung der
mathematisch-physikalischen Classe teil, um den Anstoß zu geben. Neben Engel
empfahl Klein weitere geeignete Mitarbeiter, insbesondere Jacob Lüroth, und
entwarf Bedingungen für einen Verlagscontract mit B.G. Teubner.459 Friedrich
Engel, der das Gesamtprojekt betreute, beschrieb im Vorwort zu Band I (1894)
Kleins Initiative und dass er sich nach seinem Anstoß weitgehend zurückgezogen
habe. Die Graßmann-Werke erschienen in drei Bänden mit je zwei Teilbänden im
Zeitraum von 1894 bis 1911 (Nachdruck: New York 1972).
Sechstens nutzte Klein die Kontakte im Rahmen der breit orientierten Classe,
um weitere Schüler spezifisch zu fördern. So brachte er seinen Doktorschüler Otto
Fischer in Kontakt mit dem Anatomen Christian Braune und dem Physiologen
Carl Ludwig. Fischer fühlte sich bereits 1886 wohl in einer „Doppelstellung als
mathematisch-anatomischer Asssitent einerseits und als Probekandidat am Leip-
ziger Relagymnasium andererseits“.460 Er konnte sich 1893 für Physiologische
Physik habilitieren und erhielt 1896 eine a.o. Professur an der Medizinischen Fa-
kultät. Fischer wurde ein anerkannter Vertreter der Biophysik. Die Kgl. Sächsi-
sche Gesellschaft der Wissenschaften wählte ihn 1893 zum a.o. Mitglied und
1905 zum o. Mitglied. Zuvor hatte er den Beitrag Physiologische Mechanik (Be-
wegungsphysiologie) für Band IV (Mechanik) der ENCYKLOPÄDIE vollendet. Wil-
helm Lorey bezeichnete Otto Fischers Weg als „ein ganz besonders treffendes
Beispiel […] wie Klein es mit seiner scharfen Erkenntnis menschlicher Begabung
immer verstanden hat, jeden in die ihm gemäß liegende Richtung zu lenken.“461
Ähnlich wie dem Wechsel Kleins von München nach Leipzig lag dem Weggehen
aus Leipzig ein langes Wiederwegsehnen zugrunde, gepaart mit längeren Ent-
scheidungsprozessen. Das Wegsehnen beruhte vor allem auf seiner Unzufrieden-
heit mit der eigenen mathematischen Produktivität und darauf, dass er zu viele
Nebentätigkeiten zu bewältigen hatte. So schrieb er etwa am 10. März 1885 an
Hurwitz, mit dem er damals die intensivste wissenschaftliche Korrespondenz
pflegte:
Was mich angeht, so gerathe ich immer tiefer in Geschäfte untergeordneter Art hinein, so
dass mir zu selbständigem wissenschaftlichen Denken fast alle Zeit fehlt.462
458 Briefe des Sohnes an F. Klein v. 18.9. und 26.9.1892 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 486, 487.
459 Klein an Ludwig, Antwortentwurf v. 10.12.1892 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: Anlage zu
887; Brief v. Lüroth an Klein, v. 29.11.1892, ebd., 897.
460 Otto Fischer an Klein, 12.5.1886 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 40.
461 LOREY 1926, 141.
462 [UBG] Math. Archiv 77: 136, Klein an Hurwitz, 10.3.1885.
282 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Klein erhoffte durch Ortswechsel wieder mehr Zeit für Wissenschaft zu gewinnen.
Er prüfte Angebote aus Großbritannien, den USA (Abschnitt 5.8.1) und aus Göt-
tingen (5.8.2). Das Angebot, nach Baltimore (USA) zu kommen, ist bei PAR-
SHALL/ROWE (1994) gut beschrieben. Der Weg an die Universität Göttingen ist in
mancher Literatur ungenau bzw. falsch dargestellt.463 Beide Vorgänge sollen an-
hand neuer Quellen und Korrespondenzen beleuchtet werden.
Die damalige Möglichkeit, seinen eigenen Nachfolger bestimmen zu können,
war Klein schon in Erlangen und München gelungen. Hier soll gezeigt werden,
wie Klein den Norweger Sophus Lie für Leipzig gewinnen konnte und welche
Reaktionen dies bei anderen Mathematikern hervorrief. (Abschnitt 5.8.3)
Cayley hatte, eingeladen durch Sylvester, von Januar bis Mai 1882 einen Vorle-
sungskurs an der seit 1876 bestehenden privaten Johns Hopkins University in
Baltimore gehalten und berichtete Klein über die dortigen Verhältnisse. Klein
reizte das Angebot; er informierte Gordan und andere befreundete Kollegen über
die Aussicht auf Sylvesters Nachfolge weitaus früher als das Ministerium in Dres-
den. Gordan gratulierte bereits am 22. Oktober 1883: „Zu Baltimore meine herz-
lichsten Glückwünsche; wie die Sache auch geht, kommt doch etwas Gutes für
Sie heraus.“465 Dies war jedoch ein Trugschluss. Als Klein das offizielle Rufan-
gebot von Präsident Gilman der Johns Hopkins University am 12. Dezember 1883
nach Dresden sandte, begegnete ihm das Ministerium „unhöflich“.466 Minister
Carl von Gerber drückte zwar aus, dass er „die ausgezeichnete Lehrkraft“ für die
Leipziger Universität zu erhalten wünsche, unterbreitete jedoch keinerlei ent-
gegenkommendes Anerbieten. Vielmehr wurde darauf verwiesen, dass Kleins
vielfältige Wünsche immer bereitwillig erfüllt worden seien und jetzt erwartet
werde, dass er „die Berufung an eine aussereuropäische Lehranstalt […] von
selbst und aus freien Stücken ablehnen würde […]“.467
Schon aufgrund dieses Nichtentgegenkommens wäre Klein nun gern gegan-
gen. Er entwickelte einen Wirbel von Gesprächen und Korrespondenzen mit der
Familie, Freunden und Kollegen, um sich zu beraten. Sophus Lie empfahl ihm
einerseits, unbedingt dem Rufe zu folgen, auch um der Rivalität mit den Berlinern
zu entfliehen. Andererseits äußerte er Bedenken, da er ihn selber weniger sehen
könne und die Mathematischen Annalen leiden könnten: „Du bist ja da der Mittel-
punkt“.468 Sei diskutierten bereits die Frage, ob Lie in Leipzig Klein nachfolgen
würde. Lie zeigte sich geneigt, wog die Für und Wider ab und betonte: auch wenn
es jetzt mit dem Ruf nach Leipzig nichts werden sollte, so würde er doch „[…]
Jahre lang auf die Anerkennung leben, die Du mir in Deinem Briefe gezollt hast.
Und ich werde Dir es nie vergessen.“469
Klein formulierte im Dezember 1883 ein langes, sechs DIN A 4–Seiten um-
fassendes Concept für ein Antwortschreiben nach Baltimore, in dem es u.a. hieß:
Lassen Sie mich vorausschicken, dass ich im Prinzip für die Annahme der Berufung bin.
Mich reizt die Neuheit der Aufgabe, die Grossartigkeit der Perspective, welche sich darbietet:
ich bin sogar jung genug, um in dem Wechsel selbst etwas zu finden, was mich anregt. Aber
dem steht die Unsicherheit des Erfolgs, die Schwierigkeit des Unternehmen’s, vor allem aber
der Umstand entgegen, dass ich seit jetzt 3 Jahren hier in Leipzig eine Stellung ersten Ranges
bekleide, welche seitens unserer Universität mit allen Attributen zu einer erfolgreichen Wirk-
samkeit im grossen Style ausgestattet ist. Es steht ihm entgegen, dass ich in einer nun 13-jäh-
rigen Docententhätigkeit mit der jüngeren Generation der deutschen und ich darf sagen, der
europäischen Mathematiker auf das Innigste verwachsen bin, dass Freunde und Verwandte
mich auf das Lebhafteste beschwören, mich nicht von ihnen zu trennen.470
467 Brief v. Gerbers, 21.12.1883, Abschrift in [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 L: Bl. 31, 31v.
468 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 690/1, Brief v. Dez. 1883. – Obgleich Sophus Lie die von
Mittag-Leffler begründeten Acta mathematica mit auf den Weg gebracht hatte, publizierte er
darin nicht; er bezeichnete den Herausgeber als intriganten Politiker.
469 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 691-696, vgl. auch STUBHAUG 2003, 216-17.
470 Kleins Concept v. 18.12.1883 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 L: Bl. 23-25v, Zitat, 23-23v.
284 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Auch wenn Klein den entsprechenden Satz im Concept wieder strich, schien ihm
das Denken daran wichtig. Der deutsche Professor bezog auch bei „länger andau-
ernder Krankheit sein Gehalt ungeschmälert“ und ihm wird „höchstens ein jünge-
rer College als Ersatz an die Seite gestellt […].“ Etwas Derartiges gab es in den
USA nicht. Im Abschlusssatz formulierte Klein dezidiert, dass er „die Unter-
handlungen als abgeschlossen ansehen“ würde, wenn ihm innerhalb von sechs
Wochen, bis Ende Januar 1884, keine Antwort zugegangen sei.
Als Hurwitz anfragte, antwortete Klein: „Das mit Baltimore ist wahr aber
noch nicht klar; ich erwarte täglich Antwort auf vorläufige Fragen, die ich gestellt
habe, und entscheide mich auf alle Fälle langsam.“471 Da Klein seine Bedingun-
gen in Baltimore nicht erfüllt sah, blieb er in Leipzig. Er teilte dies am 1. Februar
1884 dem Sächsischem Kultusministerium mit.472 Als sich wenig später eine an-
dere Möglichkeit bot, Sachsen zu verlassen, war er umso mehr erfreut.
Als Klein andeutete, dass er Leipzig durchaus gern den Rücken kehren würde,
unternahm Riecke alles, um vorhandene Hürden zu überwinden. Schwarz und
Schering wollten unbedingt Georg Hettner durchbringen.477 Über die von ihnen
Nicht Schwarz und Schering obsiegten, sondern Riecke gewann die Mehrheit der
Kommissionsmitglieder. Riecke formulierte handschriftlich den Textentwurf für
den Berufungsvorschlag und die Liste: 1) Klein, 2) Voss, 3) Enneper. Dies unter-
schrieben der Dekan Wilhelm Müller, der Philologe Hermann Sauppe, der theore-
tische Physiker Woldemar Voigt und der Psychologe Georg-Elias Müller. Sche-
ring und Schwarz setzten darunter „Mit Vorbehalt eines Separatvotums“.481 Rie-
cke informierte Klein am 4. Dezember 1884: „In der gestrigen Commissionssit-
zung ist einstimmig beschlossen, Dich und Voss vorzuschlagen; […] gegen die
Stimme von Schwarz […]. Dagegen ist Hettner […] abgelehnt worden.“482
Der Berufungsvorschlag der Fakultät ging jedoch erst am 28. Januar 1885 mit
Separatvoten von Schwarz und Schering an den preußischen Kultusminister.
Schering und Schwarz plädierten, wie gesagt, für Georg Hettner: Schering mit
ungenauen Argumenten, Schwarz mit dem Argument, dass dieser die in Göttingen
fehlende Algebra einbringen könne. Beide hatten getrennte Separatvoten verfasst,
weil sich Schwarz nicht für Alfred Enneper als Ordinarius einsetzen mochte, was
Schering bevorzugte. Schering gab kein Urteil über Klein ab, sondern bemerkte
nur, dass aus seiner Sicht der „projektivischen Geometrie“ eine zu hohe Wert-
schätzung beigemessen würde. Schwarz’ Separatvotum enthielt auch anerken-
nende Worte über Felix Klein: „Wenn die Berufung des Herrn Prof. Klein gelingt,
so wird damit eine hervorragende Lehrkraft und ein bedeutender Gelehrter für
unsere Universität und für unser preußisches Vaterland gewonnen.“ (Vgl. detail-
liert Anhang Nr. 4 des vorliegenden Buches.)
Wenn wir das Agieren von H. A. Schwarz näher beleuchten, so war sein Ver-
halten durchaus zwiespältig. Zwar kam er nicht umhin, offiziell in seinem Sepa-
ratvotum ein lobendes Urteil über Klein zu verlieren, aber er intrigierte versteckt.
Die Fakultätsakten dokumentieren eine Denunziation: Schwarz sei Paul de La-
garde, Orientalist, auf der Straße begegnet und habe ihn auf wissenschaftliche
Differenzen zwischen Felix Klein und Lazarus Fuchs verwiesen (vgl. 5.5.5). La-
garde wurde veranlasst, am 25. Januar 1885 eine Art Denunziationsschreiben vor
die Fakultätsöffentlichkeit zu bringen. Darin verwies er auf die Göttinger Nach-
richten vom 4.3.1882 (Fuchs) und die Mathematischen Annalen (19, S. 564; 20, S.
52; 21, S. 143, 214-16) (Kleins Erwiderung), worin sich die Differenzen spiegeln
würden. Die detaillierten Angaben aus den Zeitschriften stammten keineswegs
von Lagarde selbst. Lagarde schlussfolgerte: „Grund genug, an dem nicht vorbei-
zugehn, was Fuchs gegen Klein gesagt hatte.“483 Den Universitätskurator, damals
der Jurist Adolf von Warnstedt, mag dies beeinflusst haben.
Die Post der Fakultät an das Ministerium musste offiziell über den Kurator
gehen. Dieser nahm sich heraus, den Separatvoten mehr Gewicht zu verleihen als
dem Mehrheitsvorschlag der Fakultät. Er formulierte im Begleitschreiben eine
eigene Reihenfolge: 1) Hettner, 2) Klein, 3) Voß.484 Deshalb fragte das preußische
Kultusministerium, d.h. Ministerialdirektor Friedrich Althoff, zuerst bei Georg
Hettner an, ob er dem Ruf folgen würde. Hettner lehnte jedoch (zum Ärger von
Weierstraß, Schwarz, Schering) mit dem Bemerken ab, „er habe literarisch noch
nicht genug geleistet“, wie Althoff notierte.485 Enneper verstarb im März 1885. Da
Althoff die Ansicht suggeriert worden war, Klein und Voss wollten nur ihre
bisherigen Positionen verbessern und sie wären ohnehin zu teuer, ließ er die
Angelegenheit zunächst ruhen.
Erst als Althoff im Juli 1885 wegen einer astronomischen Berufungssache in
Göttingen weilte, überzeugte ihn Riecke definitiv, dass Klein den Ruf annehmen
würde. Riecke informierte Klein am 23. Juli: „Nun habe ich ganz sichere Nach-
richt, dass man im Ministerium Dich gern berufen würde, wenn nicht die Ansicht
verbreitet worden wäre, dass die Berufung eine ganz aussichtslose sei.“486 Über
Riecke ließ Althoff Kleins Bedingungen erfragen: 9.000.-Mark Gehalt und ein
Lesezimmer für die Studenten. Klein wurde für Anfang August zu Althoff nach
Berlin gebeten. Kleins Mitteilung an das Dresdner Ministerium schien den sächsi-
schen Kultusminister von Gerber nun doch aufgeschreckt zu haben. Er ließ tele-
grafieren: „Excellenz lässt Ihnen für den Fall Ihres Dableibens in Leipzig ein Ge-
halt von jährlich neuntausend Mark anbieten.“487 Klein war auf Weggehen gepolt
und akzeptierte Althoffs Anerbieten von 9040 Mark (8500 M jährliche Besoldung
plus jährlich Wohnungsgeldzuschuss von 540 M). Bisher hatte das Maximum
eines Gehalts für einen o. Professor in Göttingen 7.200 Mark betragen.488
Klein erklärte in seiner Antwort an das sächsische Ministerium, dass ihm „der
Charakter und die Tragweite meiner wissenschaftlichen Thätigkeit“ bestimmt
hätten und fügte an: „Die Parteiverhältnisse innerhalb der Mathematik sind so
unvernünftig entwickelt, dass ich in den nun verflossenen 10 Semestern meiner
Leipziger Thätigkeit unter etwa 100 Theilnehmern meiner höheren Seminare nicht
einen preussischen Candidaten und nur einen norddeutschen (aus Braunschweig)
zählte.“489 Klein war jetzt 36 Jahre alt und ihm schwebte eine noch breitere Wirk-
samkeit vor, d.h. insbesondere Einfluss in Preußen und das Aufheben der Domi-
nanz der Berliner.
Ein Schreiben von Schwarz an Weierstraß lässt erkennen, dass er definitiv
nicht mit Kleins Berufung gerechnet und offensichtlich Angst vor dessen Einfluss
hatte. Nachdem Klein am 13. August 1885 Schwarz mitgeteilt hatte, dass seine
Verhandlungen mit Althoff im positiven Sinne gediehen seien, schrieb Schwarz
an seinen Doktorvater nach Berlin:
Es ist also doch der Fall eingetreten, den ich für so unwahrscheinlich gehalten habe! […] Wer
kann voraussagen, wie sich die nächste Zukunft für meine Lehrtätigkeit gestalten wird? Viel-
leicht wird in Folge Ihres Beschlusses, fortan nicht mehr Vorlesungen zu halten, eine größere
Zahl von strebsamen Studirenden der Mathematik sich nach Göttingen wenden, da sie die ei-
gentliche Functionentheorie in Berlin nicht mehr vertreten finden; ich besorge [sic!] aber,
dass, wenn Ihre Prophezeihung bezüglich der Schwierigkeit des Zusammenwirkens mit Herrn
Klein in Erfüllung gehen sollte, der Wunsch eine „Luftveränderung“ für mich ein sehr drin-
gender werden wird […].490
Beschaulichkeit war Kleins Sache nicht; und er ahnte schon, dass er wieder in Ak-
tivität verfallen würde – wie dies Riecke auch erwartete (vgl. Anhang Nr. 12).
489 [StA Dresden] 10281/184, Bl. 42-43. – Die Zahl 100 ist für die Mitglieder in den Leipziger
Seminaren überhöht angegeben.
490 Schwarz an Weierstraß, Brief aus Dänemark v. 22.8.1885, in CONFALONIERI (o.D.), 279.
491 Klein in JACOBS 1977, Vorläufiges über Leipzig, Bl. 4
492 [UAG] Phil. Fak. 171a, Nr. 19a.
493 [UBG] Math. Archiv 77: 150, Klein an Hurwitz, 13.12.1885; 151/2, 3.1.1886.
494 Ebd., 147, Klein an Hurwitz 24.9.1885.
288 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Klein wünschte Sophus Lie als seinen Nachfolger. Ihm allein traute er zu, „eine
selbständige geometrische Schule zu begründen“. Das war das Hauptargument im
ausführlichen Antrag, den Klein eigenhändig für den Berufungsvorschlag formu-
lierte.495 Klein wusste sich mit Lie freundschaftlich verbunden, erwartete, dass
dieser die neue Leipziger Institution als internationalen Anziehungspunkt fortset-
zen könnte und war sich gewiss, dass er gern kommen würde. Lie hatte dies be-
reits signalisiert, als Baltimore in Aussicht stand, und er hatte – bevor Friedrich
Engel zu ihm geschickt worden war – ausgedrückt: „Wenn ich nächst-mal nach
Deutschland komme bleibe ich längere Zeit dort. Möchte es mir bald möglich
werden! Es ist einsam, schrecklich einsam hier in Chr[istiani]a, wo kein Mensch
meine Arbeiten und Interessen versteht!“496
Kleins erster Antragsentwurf für den Berufungsvorschlag stammte vom 28.
Oktober 1885.497 Aber am 7. November schrieb er entnervt an Adolf Hurwitz:
Es ist lange, dass ich nicht geschrieben habe, weil mir die Berufungsangelegenheit Zeit und
Humur absobirt hat. Ich bin mit [Carl] N.[eumann] ganz aus einander gerathen, und wenn ich
auch in der Facultät einen vollständigen Sieg erstritten habe, so fragt sich noch was das Mi-
nisterium thun wird, dem neben dem Facultätsvotum ein Separatvotum eingereicht werden
soll.498
Die Differenz mit Carl Neumann bestand zunächst darin, dass dieser für Adolph
Mayer ein Ordinariat wünschte. Mayer, Honorarprofessor und finanziell hinrei-
chend abgesichert, ließ jedoch durch Klein in der Fakultätssitzung erklären, dass
er „[…] in der Berufung eines Geometers auf die vacante Stelle keine Zurückset-
zung erblicke.“
Nachdem Klein den Entwurf noch einmal überarbeitet und die Mehrheit der
Fakultät Ende November dafür gestimmt hatte, verfassten Neumann, Scheibner
und der Physiker Wilhelm Hankel dennoch ein Separatvotum. Allerdings wandten
sie sich nicht gegen Sophus Lie. Wie H. A. Schwarz Weierstraß wissen ließ, sei
Lie für Carl Neumann gar eine angenehme Wahl gewesen, „weil er in demselben
keinen Concurrenten auf functionentheoretischem Gebiete erhielt“.499 Das
Separatvotum richtete sich gegen Lindemann, Voss und Harnack, die als weitere
Kandidaten im Berufungsvorschlag standen. Lindemann sei nicht mehr Geometer;
die anderen beiden würden nicht über die in Leipzig schon vorhandenen Dozenten
hinausragen.500
Klein aber hatte das fernere Gedeihen „seiner“ Institute im Blick und im An-
trag formuliert, dass ein Director erforderlich sei, „[…] der durch seine frühere
Thätigkeit Verständnis und Interesse für die hier in Betracht kommenden Aufga-
ben bereits gezeigt hat: Voß und Lindemann genügen beide dieser Anforderung,
und es ist deshalb für den unerwünschten Fall, dass Lie ablehnen sollte, nach An-
sicht der Facultät eine Berufung von Lindemann oder Voss schon im Interesse der
Institute nicht zu umgehen.“501
Nachdem der Fakultätsvorschlag am 12. Dezember 1885 an das Sächsische
Kultusministerium geschickt worden war, ging der Ruf unmittelbar nach Norwe-
gen. Klein konnte Georg Pick und David Hilbert bei der gemeinsamen Silvester-
feier berichten, dass Lie ihm positiv geantwortet habe. Lie schrieb: „Es ist mehr
als merkwürdig, dass Du es durchgesetzt hast. Wenn Du es nur nie bereust!“502
Nach vielen Briefen hin und her sowie Regelungen in Norwegen akzeptierte Lie
den Ruf mit Schreiben vom 16. Januar 1886 an das Ministerium. Im Februar kam
er vorab nach Deutschland; Klein begleitete ihn nach Dresden.
Klein hatte seine Absichten früh breit vermittelt, so z.B. an Gaston Darboux
bereits am 21. November 1885 aus Leipzig berichtet:
Vielleicht haben Sie schon gehört, dass ich im Begriffe stehe, demnächst (d.h. am 1. April
1886) nach Göttingen überzusiedeln. Ich habe hier mehr Arbeit gefunden, als mir zuträglich
ist, und bin doch wieder mit meinen Ideen nicht so durchgedrungen, wie ich es gewünscht
hätte. Es kommen noch einige strict private Beweggründe hinzu: Rücksicht auf meine Familie
etc. Was würden Sie sagen, wenn es bei dieser Gelegenheit gelänge, Lie nach Leipzig zu
bringen? Ich arbeite daran, aber ich bin nicht sicher, ob ich durchdringe.503
Darboux reagierte darauf mit Brief vom 2. Januar 1886, dass er inzwischen vom
Rufangebot an Lie gehört habe, dieser aber wohl noch in Christiania zurück-
gehalten würde, und er ergänzte an Klein gerichtet: „J’espère que nous vous ver-
rons un de ces jours […].“504
In Deutschland gab es Kollegen, die Kleins Information missverstanden. Das
betraf H. A. Schwarz,505 aber auch Schüler von Klein. Sie vermuteten, dass evtl.
nicht Lie, sondern sie selbst gemeint sein könnten. Schwarz berichtete Weierstraß
am 7. Dezember 1885, dass ihm Klein über die Vorschläge der Leipziger Fakultät
geschrieben habe: „1. Lie. 2. Lindemann. 3. Voss. Daneben ein Separatum, wel-
ches nur Lie in Betracht zu ziehen bittet“. Schwarz kommentierte dazu:
Wenn ich nun richtig vermuthe, daß unter 1. Sie und nicht Lie zu lesen [ist], dann würde mir
die Auszeichnung Theil geworden sein, primo loco in Vorschlag gebracht worden zu sein,
und dies ist für mich sehr erfreulich: die Lesung Lie ist bei der nicht sehr leserlichen Schrift
an beiden Stellen möglich, aber der Vorschlag von Sophus Lie scheint mir nicht sehr wahr-
scheinlich, wenn auch möglich; vielleicht wissen Sie Näheres.506
Bis nach Sachsen reichte jedoch der Arm von Weierstraß nicht.
Dass aber nicht nur Schwarz Kleins Schreiben über die Leipziger Rufangele-
genheit missdeutete, sondern auch Lindemann und Hurwitz in Königsberg, war
bisher weniger bekannt. Hurwitz informierte Klein am 14. Dezember 1885:
Lindemann hat Ihren Brief erhalten und mir den Inhalt mitgetheilt. Er wusste aber nicht, ob es
an der einen Stelle heißt, „welches Lie“ oder „welches Sie acceptirt“. Sollte Lindemann den
Ruf erhalten, so bin ich überzeugt, dass er ihn annehmen wird. Ein erschwerendes Moment
für Lie ist jedenfalls die sich heute geltend machende Strömung, welche von deren Gegnern
als „Nationalitätenschwindel“ bezeichnet wird.508
Klein half Lie über vielfältige Anfangsschwierigkeiten hinweg. Auf Kleins Rat
hin stellte sich Lie in Göttingen bei Schwarz vor, wobei er das Gespräch aufgrund
unterschiedlicher mathematischer Denkweisen als schwierig empfand. Lie kon-
statierte im nachfolgenden Brief an Klein: „[…] dass es in Deutschland ausser
Dich [Dir] vielleicht Niemand giebt[,] den ich besser verstehe.“509
Lie benutzte im Sommer 1886 Kleins ausgearbeitete Vorlesung zur projekti-
ven Geometrie und erbat weitere seiner Vorlesungen. Klein hatte für Lie wunsch-
gemäß Abschriften von Weierstraß-Vorlesungen besorgt;510 und Lie versuchte,
nach Kleins Vorbild mit begabten Studenten mathematisch zu arbeiten. Bei seinen
Vorlesungsangeboten folgte er Kleins bisherigem Plan.511 Klein half bei kleineren
Dingen, wie geeignete Themen für Lies Staatsexamenskandidaten zu finden; und
er reiste gemeinsam mit Lie im September 1886 zur Naturforscherversammlung
nach Berlin, sah dessen Vortrag durch (das Problem mit Helmholtz, vgl. dazu
auch Abschnitt 6.3.6) und versuchte weiterhin, ihn zu etablieren.512 Lie stimmte
sich mit Klein ab, wie er Eduard Study und Friedrich Schur fördern könnte und
507 Ebd., 288. – Trifolium = Kleeblatt; société thuriféraire = sich beweihräuchernde Gesellschaft.
508 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1010, Hurwitz an Klein Brief v. 14.12.1885.
509 Ebd. 10: 718, Lie an Klein.
510 Ebd. 10: 694/1, 695, Lie an Klein (Briefe o.D., v. 1884)
511 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 721, Lie an Klein (Anfang Juli 1886); 730 (8.12.1886); 732
(3.3.1887), 733 (o.D, 1887).
512 Ebd. 10: 722, 723, 724, 725
5.8 Leipzig den Rücken kehren 291
513 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 730, Lie an Klein, 8.12.1886.
514 Ebd. 10: 727, Lie an Klein, Brief v. 2.11.1886; 735 (o.D. 1887, nach Ostern); 736 (o.D.
Herbst 1887).
515 Ebd. 10: 741 (o.D., 1888). – Vgl. auch die Analyse in ROWE 1988.
516 Heute besteht dort ein Klinikum Wahrendorff als psychiatrisches und psychotherapeutisches
Fachkrankenhaus.
517 Zu Kleins Anteilnahme an Lies Befinden vgl. TOBIES/ROWE 1990, 178-86.
518 Vgl. Abschnitt 6.3.5.
519 Vgl. CZICHOWSKI/FRITZSCHE 1993, 191-93
292 5 Professur für Geometrie in Leipzig
Am 1. April 1886 startete Felix Klein als Ordinarius in Preußen, dem größten
deutschen Land mit den meisten Universitäten: in Berlin, Bonn, Breslau, Göttin-
gen, Greifswald, Halle, Kiel (preußisch seit 1867), Königsberg, Marburg (seit
1866), Straßburg (von 1871-1918), und mit einer Akademie in Münster1. Dazu
kamen polytechnische Schulen in Aachen, Berlin, Hannover, woraus Technische
Hochschulen erwuchsen, sowie die Bergakademie in Clausthal. Das in Berlin an-
sässige Ministerium war für die Besetzung der Positionen an diesen Einrichtungen
zuständig. Auf den mathematischen Lehrstühlen dominierten in Berlin Ausgebil-
dete. Mit und durch Felix Klein sollte sich das allmählich ändern.
Die ersten sechs Göttinger Jahre waren eine Anlaufphase für Klein. Um insti-
tutionelle Belange musste er sich weniger kümmern. Es existierte das Kgl. mathe-
matisch-physikalische Seminar (vgl. 2.8.1). Klein wurde am 28. April 1886 als
Mitdirektor, neben Riecke, Schering, Schwarz, Voigt, begrüßt und suchte sofort
die Abstimmung über das von ihm verwaltete, mit dem Seminar verbundene stu-
dentische Lesezimmer.2 Die vorhandene Modellsammlung und eine Seminarbib-
liothek unterstanden H. A. Schwarz. Einen Assistenten gab es nicht. Nach eige-
nem Vermelden konzentrierte sich Klein auf mathematische Arbeiten und for-
schungsorientierte Lehre. Dennoch entwickelte er darüber hinausgehende Pläne.
Klein war inzwischen für eine fünfköpfige Familie verantwortlich, die noch
anwachsen sollte. (Abschnitt 6.1)
Er wünschte ein einvernehmliches Zusammenwirken mit den Kollegen, den-
noch empfanden manche sein Auftreten als Dirigat. (6.2)
Er baute alte Forschungsstränge aus, kooperierte mit bisherigen Partnern und
gewann Neue für spezifische Felder. Dazu gehörte eine zunehmende Zahl Studie-
render aus dem In- und Ausland, deren Wege er maßgeblich prägte. (6.3)
Sich für die universitären Ziele insgesamt verantwortlich fühlend, versuchte
Klein wie bisher, bestehende Gremien zu reformieren, neue zu etablieren bzw. für
seine Ziele zu nutzen. Er formulierte erneut seine generelle Absicht, Mathematik
mit anderen Gebieten, insbesondere technischen Gebieten, zu verknüpfen. Der
Erfolg derartiger Bestrebungen blieb in diesen Jahren begrenzt. (6.4)
Erst der Wechsel von Hermann Amandus Schwarz nach Berlin und Kleins
Verzicht auf die Annahme eines Rufes an die Universität München im Jahre 1892
schuf neue Bedingungen und weitgehend freie Bahn für Kleins Göttinger Ziele.
(Abschnitt 6.5)
1 Diese katholische Akademie besaß eine Philosophische Fakultät mit Lehrstühlen und Promo-
tionsrecht, wurde 1902 zur Universität erhoben.
2 Das Lesezimmer hatte Klein neu beantragt, als Einrichtung des Seminars [UAG] Math.Nat.
0012. Im Herbst 1886 trat der Astronom Wilhelm Schur als Direktor des Seminars hinzu.
293
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R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_6
294 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
Für Kleins Wechsel nach Göttingen waren nach seiner Ansicht bestimmend:
„Haus mit Garten. Weniger Geschäfte. Preußen“ oder auch „Konzentriertes wiss.
[enschaftliches] Dasein auf Basis eines vernünftigen Familienlebens“.3 Er bezog
mit der Familie eine Wohnung in der Weender Chaussee 64 und lud im Mai 1886
seine Eltern ein, damit sie „[…] sich persönlich von dem sehr viel behaglicheren
Stande meiner Familie Leipzig gegenüber überzeugen […]“ konnten.5
Als sich bei Anna und Felix Klein das vierte Kind, Tochter Elisabeth (*21.
Mai 1888), ankündigte, entschied die Familie, ein eigenes Haus zu bauen: Wil-
helm-Weber-Straße 3. Sie bezogen es am 22. Mai 18896 (Abb. 27). Es liegt in der
Nähe des Botanischen Garten, den Klein nur zu durchqueren brauchte, um beim
Auditoriengebäude zu sein, wo die Mathematiker lehrten.
Abb. 27: Wohnhaus Felix Kleins, Göttingen, Wilhelm Weber-Str. 3, Aufnahmen vom 31. Mai 2014
Im eigenen Haus fand nicht nur die Familie Platz. Auch Hausangestellte, Annas
jüngste Schwester Sophie sowie Gäste konnten untergebracht werden. Adolf
Hurwitz nahm das Angebot wiederholt an. In dieser ruhigen und zentrumsnah
gelegenen Straße sollten sich später gleichfalls David Hilbert (Wilhelm-Weber-
Str. 29) und Carl Runge (Wilhelm-Weber-Str. 21) niederlassen.
Von hier aus sollten später die berühmten Mathematiker-Spaziergänge don-
nerstags nachmittags starten. Daran beteiligte sich auch Hermann Minkowski, als
er von 1902 bis 1909 unweit in der Planckstraße 15 wohnte.7 Der von Klein kre-
ierte Brauch existierte noch, als Peter Debye 1913 nach Göttingen kam. Debye
berichtete, dass Klein als Erster aus dem Haus trat und sich dann synchron an-
schlossen: Hilbert (mit Hund Pussy), Runge, er selbst mit Carathéodory und
Prandtl (an der Ecke wartend) und schließlich Landau, der in der Herzberger
Straße wohnte. Sie wanderten gemeinsam zum Gasthaus Rohns auf den Hainberg,
„and at the Rohns all the faculty business was decided, independent of all the
other people in the faculty!” Klein hatte dieses abgestimmte Vorgehen aufgrund
seiner Erfahrungen mit anderen Fakultätsmitgliedern eingeführt.8
Es wird beleuchtet, wie Klein versuchte, mit den Kollegen auszukommen, die sein
Kommen nach Göttingen nicht gewünscht hatten; wie er die Privatdozenten zu
gewinnen suchte und welche Ideen zur Reorganisation er entwickelte.
Klein sah hinsichtlich der Abstimmung mit dem sechs Jahre älteren Hermann
Amandus Schwarz zunächst keine Probleme. So schrieb er an Adolf Hurwitz:
Mit Schwarz komme ich über Erwarten gut zurecht: ich habe von dem Verkehr mit ihm wirk-
lichen Gewinn und finde mich auch in praktischen Dingen mit ihm zusammen. Da ist doch
wieder einmal Jemand, der ganz seinem Berufe lebt! Ich bin von L.[eipzig] her so daran ge-
wöhnt, dass man sich für alles Andere zuerst und dann erst für Fortschritt in mathematischer
Erkenntniss und Lehrthätigkeit erwärmt, dass ich Alles, was in dieser Richtung liegt, dankbar
anerkenne.9
8 [Debye] 1962.
9 [UBG] Math. Archiv 77: 156, Klein an Hurwitz, Brief v. 15.5.1886.
296 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
Beim Göttinger Treffen von Lie und H. A. Schwarz war Otto Hölder anwesend,
der von Lie angetan war und sich kritisch über Schwarz’ lästige Wichtigtuerei
äußerte.11 Und in Briefen an Weierstraß lästerte Schwarz hinterrücks über Klein:
Neulich sagte mir Klein, dass Dirichlet langweilig geschrieben habe! Das sind ja schöne Aus-
sichten, die sich da eröffnen. Und dabei diese unendliche Selbstgefälligkeit! Herr F[elix]
K[lein] theilt mir mit, er habe speciell für mich, eine Abhandlung betreffend die hyperellipti-
schen σ-Functionen und die Entwicklung derselben nach den Moduln in der letzten Zeit aus-
gearbeitet.12
10 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 718, Lie an Klein (o.D., ca. März 1886).
11 Otto Hölder, Brief v. 24.3.1886 an die Eltern, HILDEBRANDT/STAUDE-HÖLDER 2014, 215.
12 Schwarz an Weierstraß, Brief v. 3.4.1886, zitiert nach CONFALONIERI (o.D.), 297.
13 Schwarz wurde nicht Mitglied; Weierstraß war seit 12. Mai 1881 Foreign Member.
14 Korrespondenz Schwarz – Weierstraß, in Confalonieri (o.D.), 298-300. – Schwarz publizierte
daraufhin Gesammelte Mathematische Abhandlungen, 2 Bde., Berlin: Julius Springer, 1890.
15 Vgl. HILDEBRANDT et al. 2014, 238 (Brief v. Otto Hölder an die Eltern).
6.2 Umgang mit Kollegen, Lehre und Lehrplanideen 297
Als Klein nach Göttingen kam, fand er zwei Privatdozenten vor, die er zur Zu-
sammenarbeit aufforderte: Otto Hölder und Arthur Schönflies16. Hölders Habilita-
tion, die aufgrund des realgymnasialen Reifezeugnisses nicht in Leipzig hatte
stattfinden können (vgl. Abschnitt 5.4.1), war im Juli 1884 durch Schwarz unter-
stützt worden. Arthur Schönflies entstammte einer jüdischen Familie, hatte in
Berlin bei Kummer und Weierstraß studiert und dort 1877 mit einem Thema aus
der synthetischen Geometrie promoviert.17 Das Gutachten für seine Göttinger Ha-
bilitation im November 1884 verfasste Moritz A. Stern. Schönflies’ Probevorle-
sung „Darstellung der Lehre von der Zusammensetzung der Kräfte und der Bewe-
gung eines festen Körpers im Anschlusse an die bezüglichen Untersuchungen von
Plücker und Ball“18 sowie weitere Arbeiten deuteten an, dass zwischen Schönflies
und Klein schnell eine Affinität entstehen konnte (vgl. auch Abschnitt 6.3.7.2).
Am ersten Sonntag nach Semesterbeginn lud Klein die Göttinger Privatdozen-
ten nach Hause ein, nebst den gerade anwesenden Georg Pick und Eduard Study.
Klein wollte sein Mathematisches Colloquium (Seminar) zu einem Anziehungs-
punkt für die Studenten gestalten, bat Hölder und Schönflies teilzunehmen, spürte
aber überrascht deren „Widerspenstigkeit“. Klein hatte als Privatdozent mit
Clebsch ein Seminar abgehalten und davon profitiert. Bisher war er gewohnt, dass
Privatdozenten gern in seinem Seminar mitarbeiteten. Hölder war jedoch ängstlich
auf Selbstständigkeit bedacht und bewog auch Arthur Schönflies, Kleins Angebot
abzulehnen. Hölder hatte über seinen Doktorvater Paul du Bois-Reymond bei ei-
nem Besuch in Berlin schon im Herbst 1885 vom möglicherweise schwierigen
Verhältnis zwischen Schwarz und Klein gehört:
[Paul] Du Bois[-Reymond] wollte wissen, daß die Mißhelligkeiten zwischen Schwarz und
Klein, die vorauszusehen waren, jetzt schon anfingen, so lange sie noch nicht beieinander
sind. Wenn man ihm glauben darf, so hat sich Klein gleich bei den Verhandlungen über ein
Seminar charakteristisch unbescheiden benommen. Schwarz soll sich deswegen von hier aus
wegsehnen. Wenn ich ihm begegne, faßt er mich unter dem Arm und erklärt in sentimentalem
Ton, daß er noch recht oft diesen Winter mit mir zusammen sein wolle; man wisse nicht, was
im Schoß der Zukunft liege.19
Obwohl sich die Professoren wechselseitig einluden, blieb der Privatdozent vor-
sichtig. Hölder war bei H. A. Schwarz und Frau gemeinsam mit Anna und Felix
Klein eingeladen („Klein im Frack und seine Frau in hochelegantem rothen
Sammtkleid“). Dennoch berichtete Hölder im selben Atemzug von den in Berlin
gehörten Aversionen und dass er ein Abhängigkeitsverhältnis vermeiden wolle:
Ein solches Verhältnis könnte für mich sehr verhängnisvoll werden, wenn sich einmal
Schwarz und Klein überwürfen, was jeden Tag möglich ist. Klein muß eben Alles und Alle
dirigiren und das kann man sich nicht gefallen lassen. Namentlich finde ich die Äußerung
ziemlich schroff, die er that, dass dies Theilnehmen am Colloquium (was schließlich doch ein
Seminar für Studenten ist) die einzige Möglichkeit sei, wie wir mit ihm in engem wissen-
schaftlichen Contact stehen könnten. Er entließ uns wenigstens äußerlich sehr freundlich.20
Klein erklärte zusätzlich, warum Schönflies (37 Jahre alt) das Extraordinariat
erhalten müsse: „Dabei ist er Israelit und also ein Weiterkommen für ihn ohnehin
schwierig.“ Vergeblich versuchte Klein mit dem Satz zu beeindrucken: „Erweist
sich die Beförderung von Dr. Sch.[önflies] als unmöglich, dann ist der Unterricht
der Anfänger, wie ich ihn mir denke und in den vergangenen Jahren mit Hülfe der
Privatdoc.[enten] durchgeführt habe, auf lange hinaus gestört.“26
Es bedurfte erst der Stärkung von Kleins eigener Position in Göttingen, um
dieses und weitere Vorhaben durchsetzen.
Im Vorlesungsverzeichnis zum Sommer 1886, 28. April bis 15. August, standen
zwei Veranstaltungen von Klein: „Ueber die Auflösung der algebraischen Glei-
chungen“ (Mo, Die, Do, Frei, 12.00 Uhr) und „Mathematisches Kolloquium,
Mittwoch 11-1 Uhr“, öffentlich.27 Die Vorlesung (23 Hörer) orientierte sich am
Ikosaederbuch und entsprach H. A. Schwarz’ Wunsch, dass die bisherige Lücke in
Algebra zu füllen sei. Auch das Forschungsseminar „Ueber reguläre Körper und
Dreiecksfunctionen“ widmete Klein diesem Feld.28 Mit Blick auf das seit 1884
geplante Buch kündigte er zusätzlich eine zweistündige Spezialvorlesung über
elliptische Modulfunktionen (9 Hörer) an. Die drei Veranstaltungen sah er so:
„Alles consequente Vorbereitung auf eine große Vorlesung im Sommer [18]87
über eindeutige Functionen mit linearen Transformationen in sich.“29
Neben Klein boten im Vorlesungsverzeichnis30 unter der Rubrik Mathematik
und Astronomie die folgenden Personen Lehre an: Ernst Schering als ältester
Mathematik-Ordinarius (vgl. Abschnitt 2.8.1); Hermann Amandus Schwarz; die
erwähnten Privatdozenten Otto Hölder und Arthur Schönflies; der theoretische
Physiker Woldemar Voigt und der Astronom Wilhelm Schur.
Themen und Uhrzeiten der Veranstaltungen waren allerdings nicht koordiniert
worden. Privatdozent Otto Hölder klagte im Brief an seine Eltern:
Die Ansetzung meiner Vorlesungsstunde fürs nächste Semester hat mir diesmal viel Skrupel
und Mühe gemacht. Es ist sehr unangenehm, daß die Sache nicht vorher gemeinsam bespro-
chen wird. Nun erfährt unser einer meistentheils erst aus dem Correcturbogen des Vorle-
sungsverzeichnisses, wann und was die Andern lesen. Durch Klein ist mir meine seitherige
Stunde weggenommen worden.31
Die Zahl der Hörer war knapp. Hurwitz meldete aus Königsberg, dass Lindemann,
Hilbert und er selbst nur zwei bis vier Hörer hätten. Er sandte dennoch mehrfach
begabte Schüler zu Klein, der ihm antwortete:
Wir stecken jetzt tief in der Semesterarbeit. Freilich ist mein numerischer Erfolg nicht so, wie
er sein könnte: in der Mechanik 17 und im Seminar u. Specialcolleg (höhere Gleich.[ungen])
nur 5. Alles Nicht-Göttinger! Zum Glück sind jetzt 2 Franzosen aufgetaucht, Schüler von Pi-
card, die gut scheinen und nur noch durch Unkenntnis der Sprache behindert sind; das gibt
denn etwas Leben. Im Uebrigen acceptiren wir dankbar jeden älteren math.[ematischen] Stu-
denten, den man uns zuschicken mag; es könnte sonst wirklich dazu kommen, dass ich eines
Tages den höheren Curs ganz aufstecken müsste!32
Die Franzosen Paul Painlevé und Nicolas Cor waren empfohlen durch Darboux
gekommen, beteiligten sich 1886/87 ohne Vortrag am Seminar über Gruppentheo-
rie und algebraische Gleichungen.33 Hölder schrieb wiederholt verblüfft über die
Besuche „von jungen Mathematikern von dies- und jenseits des Oceans“, welche
kämen, um zu Kleins Füßen zu sitzen, die er anregte und nach Hause einlud:
Die Klein’sche Gesellschaft war sehr animirt; es wurde zugleich der Geburtstag von Frau
Professor gefeiert. Schwarz war der einzige, der im Frack erschienen war […] Dann war da
die Crème des Klein’schen Seminars, welche zur Zeit sehr amerikanisch ist. Diesmal haben
diese exotischen Pflanzen auch unsere privatdocentlichen Wenigkeiten besucht, ohne dass wir
übrigens denselben näher getreten wären.34
32 [UBG] Math. Arch. 77: 166 (Klein an Hurwitz, 9.11.1886). – Hurwitz sandte Felix Klitz-
kowski 1887, der im selben Jahr in Königsberg promovierte (Über die Integration der n-ten
Wurzel aus einer rationalen Function), sowie Charles Jaccottet im Herbst 1893, der 1895 bei
Klein den Doktortitel erwarb.
33 [Protokolle] Bd. 8, 264. Painlevé erwähnte später noch die unvergessene Studienzeit bei
Klein, knüpfte mit seinem Schüler Auguste H. L. Boulanger an Kleins Methoden an [UBG]
Cod. Ms. F. Klein 11: 159 (Painlevé an Klein, 19.2.1896). Er verfasste Gewöhnliche Diffe-
rentialgleichungen. Existenz der Lösungen (1900) für Bd. II der ENCYKLOPÄDIE.
34 HILDEBRANDT et al. 2014, 242-43 (Briefe an die Eltern v. 4.5., 23.5.1887).
35 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 82-83.
36 Deren Erfolge und Misserfolge sind detailliert beschrieben in PARSHALL/ROWE 1994.
6.2 Umgang mit Kollegen, Lehre und Lehrplanideen 301
Zweitens. Klein regelte nach Leipziger Vorbild erfolgreich, dass die Anforderun-
gen für die Nebenfach-Studenten herabgesetzt wurden. Er etablierte dafür An-
fangsvorlesungen für Naturwissenschaftler (gelesen von Schönflies). Damit wollte
er das „Dilemma für den math.[ematischen] Dozenten: Zersplitterung“ beheben40
und sich auf die eigene forschungsorientierte Lehre konzentrieren können.
Drittens gelang es Klein wie in Leipzig, Darstellende Geometrie als neue
Lehrdisziplin einzuführen. Er gewann H. A. Schwarz dafür. Klein notierte für das
Jahr 1888: „Darstellende Geometrie, von Schwarz mit Hilfe von Hölder und
Schönflies abzuhalten.“ Klein und Schwarz beantragten im Dezember 1888 er-
folgreich 3000 Mark, um die Sammlung zu erweitern und um Übungen in „Kon-
struktiver Geometrie“ abhalten zu können. Schwarz bot im Sommer 1889 Analy-
tische Geometrie und leitete im Sommer 1890 „Geometrische Constructionsübun-
gen“. Hölder lehrte u.a. „Ueber die Möglichkeit der Constructionen mit Cirkel
und Lineal“, Schönflies „Ueber regelmäßige Theilung des Raumes, nebst Anwen-
dungen besonders auf die Krystallographie“ (vgl. Abschnitt 6.3.7.2).41
Viertens. Klein erarbeitete gemeinsam mit Eduard Riecke „Ratschläge und
Erläuterungen für die Studierenden der Mathematik und Physik“, die den An-
fängern bei der Immatrikulation überreicht wurden. Im Bericht an Althoff regte
37 Vgl. das Projekt Studies and scientific research of Polish mathematicians, physicists and
astronomers at the University of Goettingen von Danuta Ciesielska, Lech Maligranda, Joanna
Zwierzynska. – Die Autorin dankt Danuta Ciesielska, die im Archiv fand, dass Klein 1900 die
Ehrendoktorwürde anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Uniwersytet Jagielloński in
Krakow erhielt. K. Zorawski war dort seit 1898 Professor.
38 HILDEBRANDT et al. 2014, 247. – Schwarz und Schering boten beide eine Einleitung in die
Theorie der analytischen Funktionen an, vgl. Göttinger Nachrichten 1887, 355.
39 [UBG] Cod. Ms. F. Klein, 1C: 2, Bl. 31-32, Klein an Althoff, Briefentwurf v. 28.3.1891. –
Klein erhielt 1889 den Roten Adler-Orden vierter Klasse, vgl. Abschnitt 6.3.6.
40 Klein in JACOBS 1977, 22 L. Personalia, Bl. 1.
41 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 E: Bl. 22 (Antrag von Klein und Schwarz). – Lehrangebot in
Göttinger Nachrichten 1889, Nr. 5 (20.2.), 75; 1890, Nr. 2 (26.2.), 48.
302 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
Klein am 10. Juni 1890 an, dieses Vorhaben mit einem Ministerialerlass zu unter-
stützen. Es dauerte allerdings einige Jahre, bis Althoff ihm daraufhin schrieb:
Ihr Studienplan für die Kandidaten des höheren Lehramts in Mathematik und Physik findet
hier […] lebhaften Anklang, und es ist in Erwägung genommen, ob derselbe nicht für die
Aufstellung der gleichen Studienpläne an andern Universitäten als Muster empfohlen werden
soll.42
42 UBG, Cod. Ms Klein II, A, Bl. 3, Brief Althoffs an Klein vom 15.1.1894.
43 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 507.
44 Klein in JACOBS 1977, 22 L. Personalia, Bl. 1.
45 Vgl. die Edition dieser Vorlesung KLEIN 1991.
46 [Oslo] Klein an Lie, Brief v. 8.3.1887.
47 Weber, Moritz: „Felix Klein“. Zeitschrift des Vereins dt. Ingenieure 69 (1925) 34, 1118.
6.3 Forschungen und Forschungskooperationen 303
6.3.1 Die Lehre von den endlichen Gruppen linearer Substitutionen bzw. die
Theorie der Auflösung von Gleichungen höheren Grades
Hierzu hatte Klein seit der Erlanger Zeit geforscht. Jetzt konnte er dieses Themen-
feld in zwei Richtungen ergänzen.
Erstens. Anknüpfend an seine alten liniengeometrischen Arbeiten widmete
sich Klein der „Theorie der allgemeinen Gleichungen des sechsten und siebenten
Grades“.49 Die Theorie der Gleichungen fünften Grade, wie er sie in seinem Iko-
saeder-Buch dargestellt hatte, erlaubte ihm das Ausdehnen auf (allgemeine) Glei-
chungen höheren Grades. Die entsprechende Arbeit war im Oktober 1886 für die
Annalen fertig, nachdem sein erstes Göttinger Algebra-Seminar gelaufen war.50 In
Fußnoten zu dieser Arbeit verwies Klein auf zugehörige Beiträge seiner Doktor-
Schüler Willibald Reichardt und Frank Nelson Cole (vgl. Abschnitt 5.4.2.2). Bei
der Edition dieses Artikels in den Gesammelten Abhandlungen nannte Klein au-
ßerdem weiterführende Arbeiten von Heinrich Maschke, der gemeinsam mit Os-
kar Bolza seit Herbst 1886 an seinem Algebra-Seminar teilnahm.51
Kleins Präsentation der Ergebnisse von Maschke und Bolza in der Göttinger
Gesellschaft der Wissenschaften lässt sein lenkendes Wirken erkennen. War z.B.
Maschkes Arbeit in der Sitzung vom 2. Juli 1887 noch angegeben als „Über das
Formensystem einer gewissen endlichen Gruppe quaternärer linearer Substitutio-
nen“, so erschien die publizierte Arbeit mit verändertem Titel „Ueber die quater-
näre, endliche, lineare Substitutionsgruppe der Borchardt’schen Moduln“.52 Im
ausführlicheren Annalen-Beitrag erläuterte Maschke dazu:
Die in der Ueberschrift bezeichnete Gruppe ist zunächst gänzlich ausser Zusammenhang mit
den hyperelliptischen Functionen von Herrn Klein aus der Liniengeometrie abgeleitet wor-
den. Später hat Herr Klein gezeigt, dass die sogenannten Borchardt’schen Moduln der hyper-
elliptischen Functionen vom Geschlechte p = 2 sich nach derselben Gruppe linear substitui-
ren, wodurch dann die Gruppe, welche bisher nur den Vorzug hatte, eine der wenigen Grup-
pen linearer Substitutionen von endlicher Ordnungszahl zu sein – und zwar, von einfachsten
Fällen abgesehen, die erste, welche man im quaternären Gebiet kennen lernte – wesentlich an
Interesse gewann. Dieses Interesse wird für viele Mathematiker im Vordergrund stehen, wenn
es sich, wie es auf Anregung von Herrn Professor Klein im folgenden geschehen soll, darum
handelt, das volle System invarianter Formen für diese Gruppe aufzustellen.53
Klein ergänzte, dass er die endgültige Ansicht gewann, „[….] daß man das hier
vorliegende transzendente Problem ohne den Umweg über die Borchardtschen
Moduln direkt mit den hyperelliptischen Funktionen lösen kann“.54 Letzteres
zeigte Heinrich Burkhardt (vgl. 6.3.2).
Zweitens. In das Gebiet der endlichen linearen Gruppen, ebenfalls neue qua-
ternäre Gruppen betreffend, gehört außerdem Kleins Arbeit über die Gleichung
27. Grades, von der die geraden Linien einer Fläche dritter Ordnung abhängen
(vgl. 2.8.2). Klein trug darüber am 13. April 1887 in der Société Mathématique de
France in Paris vor und arbeitete das Thema auf Wunsch von Camille Jordan
schriftlich aus: « Sur la résolution, par les fonctions hyperelliptiques, de
l’équation du vingt-septième degré, de laquelle dépend la détermination des vingt-
sept droites d’une surface cubique ».55 Klein zeigte damit, dass die gruppentheore-
tische Behandlung der kubischen Fläche mit 27 Geraden isomorph ist mit der
Dreiteilung der hyperelliptischen Funktionen vom Geschlecht zwei.56 Die Ergeb-
nisse resultierten aus der kooperativen Arbeit im Algebra-Seminar; Klein verwies
explizit auf Witting und Maschke. Letzterer hatte „Ueber die Gruppe derjenigen
Gleichung, von welcher die 27 Geraden der Fläche dritter Ordnung abhängen“
(3./17.11.1886; 26.2.1887) vorgetragen, im Sommer 1887 fortgesetzt und darüber
publiziert.57 Auch Burkhardt knüpfte an und zeigte, „[…] daß man bei einer Glei-
chung 27. Grades der in Betracht kommenden Gruppe übersichtliche lineare Ver-
bindungen der Wurzeln angeben kann, welche sich ohne weiteres wie die Koordi-
naten aik eines linearen Komplexes substituieren.“58 Später setzte der US-Ameri-
kaner Arthur B. Coble, der eine Zeit lang bei Eduard Study studierte, mit neuem
Ansatz fort. Coble zitierte die entsprechenden Arbeiten von Klein, Witting,
Maschke und Burkhardt, betonte aber: „The presentation follows a line quite dif-
ferent from that suggested by Klein.“59
Klein betrachtete um 1890 dieses Forschungsfeld als weitgehend abgeschlos-
sen, meinte, dass mit seinem Ansatz von 1879 nichts Neues mehr für Gleichungen
achten und höheren Grades zu erreichen sei. Dennoch kamen weitere Forscher
und auch er selbst später darauf zurück.60
Basierend auf Vorarbeiten las Klein von Ostern 1887 bis Ostern 1888 über allge-
meine hyperelliptische Funktionen, reichte Ergebnisse an die Göttinger Nach-
richten und die Arbeit „Über hyperelliptische Sigmafunctionen (Zweite Abhand-
lung)“ an die Mathematischen Annalen.61 Er skizzierte den Extrakt seiner Vorle-
sungen im Überblick und zeigte, wie die Entwicklungen auf hyperelliptische
Funktionen beliebigen Geschlechtes ausgedehnt werden konnten. Hurwitz er-
kannte Kleins grundlegende Idee: „Der merkwürdige Umstand, dass sich der hy-
perelliptische Fall p = 3 durch eine einzige algebraische Bedingung charakterisie-
ren lässt ist ein neuer Beleg für die Richtigkeit Ihrer Anschauung gegenüber der
von Weierstraß. Verstehe ich die Sache recht, so ist das Wesentliche – bei der
algebraischen Formulirung der Frage – der Übergang zu Liniencoordinaten.“62
Klein beschrieb später, dass ihn vor allem vage Analogieschlüsse zu Ergebnissen
geführt hatten.63 Für die detaillierte Ausarbeitung gewann er einen neuen Partner:
Die nothwendige Ergänzung, welche meine Darstellung hiernach im Einzelnen benöthigt, fin-
det sich zum grossen Theile bereits in der hier nachfolgend abgedruckten Arbeit des Hrn.
Burkhardt, auf die ich wiederholt zu verweisen haben werde […]. Ich darf dabei nicht unter-
lassen anzugeben, dass mir der wissenschaftliche Verkehr mit Hrn. Burkhardt auch für dieje-
nigen Ueberlegungen, die ich im Folgenden selbst entwickele, mannigfach förderlich gewe-
sen ist.64
59 Coble, A. B. (1917): “Point Sets and Allied Cremona Groups (Part III)”. Transactions of the
American Mathematical Society 18, 331-72. – Vgl. auch KLEIN 1922 GMA II, 479.
60 Vgl. hierzu Klein 1922 GMA II, 260-61, 481-502; auch Abschnitt 2.5.1.
61 Klein F. (1887): „Zur Theorie der hyperelliptischen Functionen beliebig vieler Argumente.“
Göttinger Nachrichten, 515-21; Math. Ann. 32 (1888) 351-80; Klein 1923 GMA III, 357-87.
62 Cod. Ms. F. Klein 9: 1063, Hurwitz an Klein, Brief v. 21.2.1888.
63 [Protokolle] Bd. 12, Bl. 10.
64 Math. Ann. 32 (1888) 351-80; Klein 1923 GMA III, 357-87, Zitat 351-52; bzw. 357-58.
65 Liebmann, H.: Zur Erinnerung an Heinrich Burkhardt. Jahresbericht DMV 15 (1915) 185-95.
66 Vgl. [Protokolle] Bd. 9, 271.
306 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
ihnen (Haskell mit anderem Thema) promovierten bei Klein67 und Burkhardt
wurde zur Habilitation geführt. Burkhardt begann seine erste Arbeit „Beiträge zur
Theorie der hyperelliptischen Sigmafunktionen“ mit den Worten:
Die nachfolgende Arbeit beabsichtigt, die in der vorstehenden Abhandlung des Herrn F.
Klein für die Behandlung der hyperelliptischen Sigmafunctionen aufgestellten Gesichts-
punkte in’s Einzelne durchzuführen. Zur Präcisirung der Definitionen und zur Entwicklung
der Beweise ist dabei fortwährend von denjenigen functionentheoretischen Schlussweisen
Gebrauch gemacht, welche Herr Weierstrass ausgebildet und in verschiedenen Abhandlungen
sowie in seinen Vorlesungen bekannt gemacht hat; andererseits aber sind auch diejenigen
Vorstellungsweisen, wie mehrblättrige Fläche, Periodenweg, canonisches Querschnittsystem
u.s.w benutzt, auf welchen Riemann seine Theorie entwickelt hat.68
67 Zu den Dissertation siehe KLEIN 1923 GMA III, Anhang 13; auch PARSHALL/ROWE 1994.
68 Math. Ann. 32 (1888) 381-442, Zitat 381.
69 Math. Ann. 35 (1889) 189-296.
70 [UAG] Kur. 6238 (Personalakte Burkhardt). – KLEIN 1923 GMA III, 321.
71 Math. Ann. 36 (1890) 1-83; KLEIN 1923 GMA III, 388-473.
72 [AdW Wien] Wirtinger 1939, 5.
6.3 Forschungen und Forschungskooperationen 307
Ausgehend von Klein gelang Wirtinger ein kontinuierlicher Übergang „in die
epistemische Welt der mathematischen Moderne“, wie Moritz Epple im Rahmen
seiner Habilitationsschrift über die Knotentheorie für Verzweigungen algebrai-
scher Funktionen zweier Variablen analysierte.73
Der intellektuelle Kreis umfasste ebenfalls den früh verstorbenen Eduard
Wiltheiss, den Klein zur Mitarbeit gewonnen hatte und für den Wirtinger einen
Nachruf schrieb.74 Als spätere Professoren beteiligten sich Wirtinger, Burkhardt,
Osgood75 an der ENCYKLOPÄDIE. Haskell übersetzte das Erlanger Programm.76
Henry S. White sollte 1893 das Evanston-Colloquium für Klein organisieren (vgl.
Abschnitt 7.5.2).
Klein urteilte später: „Die Abelschen Funktionen [galten] – in Nachwirkung
der Jacobischen Tradition – als der unbestrittene Gipfel der Mathematik, und jeder
von uns hatte den selbstverständlichen Ehrgeiz, hier weiterzukommen.“ Den eige-
nen Anteil sah er als „gewisse erste Ansätze“ in einer von zwei möglichen Rich-
tungen. Er habe versucht, „von rein algebraischer Grundlage aus die lineare Inva-
riantentheorie bzw. die projektive Geometrie des Rν-1 zu entwickeln bis zum syn-
thetischen Aufbau der Theta-Reihen.“ Trotz offener Fragen schritt die Mathema-
tik in neue Richtungen fort und Klein konstatierte nach zwei Jahrzehnten: „Die
junge Generation kennt die Abelschen Funktionen kaum mehr.“77 Deshalb meinte
er, nur gute Referate über die alten Themen könnten helfen, um vielleicht erneut
anknüpfen und fortsetzen zu können. Damit motivierte er die ENCYKLOPÄDIE.
Um das seit der Münchener Zeit bearbeitete Gebiet für eine Monographie vorzu-
bereiten (vgl. 5.5.7), wünschte Klein vor allem Diskussionsrunden zur Theorie der
höheren Modulfunctionen mit Adolf Hurwitz.78 Mit Hurwitz überlegte Klein, ob
sie bei Dedekind Idealtheorie lernen könnten. Mit Hurwitz dachte Klein über
„aussichtsreiche Problemstellungen“ im Gebiet nach.79 Hurwitz erfuhr vom Stand
der Kooperation mit Pick und vom neuen Mitarbeiter Robert Fricke, der das Un-
ternehmen bis 1892 erfolgreich vollenden sollte. (KLEIN/FRICKE 1890/92).
73 Vgl. EPPLE 1995; 1999 240-58. – Dass Heegards Fragestellung in seiner Dissertation mit der
von Wirtinger koinzidierte, ist allerdings weniger erstaunlich (EPPLE 1999, 252), denn diese
Dissertation beruhte ebenfalls auf Kleins Anregung (vgl. 7.2).
74 KLEIN 1923 GMA III, 322; Math. Ann. 31 (1888) 137. Wirtinger, W.: „Eduard Wiltheiß“.
Jahresbericht DMV 9 (1901) 59-63.
75 W. F. Osgood, 1887/88-1889 bei Klein, vollendete seine Dissertation „Zur Theorie der zum
algebraischen Gebilde ym = R(x) gehörigen Abelschen Functionen“ (1890) bei M. Noether in
Erlangen. Osgoods „Allgemeine Theorie analytischer Funktionen einer und mehrerer kom-
plexer Variabler“ (ENCYKLOPÄDIE II.2, 1901) kam auch als Extrabuch bei Teubner, 31921.
76 Bull. N. Y. Math. Soc 2 (1892–1893) 215–49; vgl. auch JI/PAPADOPOULOS 2015.
77 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 312.
78 Brief Kleins an Hurwitz aus Göttingen v. 3.4.1886 [UBG] Math. Archiv 77: 155.
79 [UBG] Math. Arch. 77: 168, 190 (Klein an Hurwitz, 31.12.1886; 21.9.1887).
308 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
Aus Kleins Korrespondenz mit Fricke geht hervor, dass sie Picks Vorarbeiten
zwar beachteten, aber auf der Basis von Kleins Spezialvorlesung vom Sommer
1886 die Monographie neu disponierten. Klein ließ seine ursprüngliche Absicht
fallen, „[…] meine Priorität den Franzosen gegenüber gut hervortreten zu lassen“.
Er betonte vielmehr: „Das ist selbstverständlich eine untergeordnete Rücksicht.“80
Klein hielt weitere Vorlesungen mit Blick auf das Vorhaben und reichte die Aus-
arbeitungen an Fricke weiter. Trotz regelmäßiger Beratung der von Fricke formu-
lierten Texte drückte Klein im Juni 1889 das Gefühl von einem „noch etwas un-
fertigen Eindruck“ aus, woraus folgende generelle Notiz entstand:
Je mehr ich über denselben [Text, R. To] nachdenke, um so mehr möchte ich ihn dahin zu-
sammenfassen: man soll in der Theorie der elliptischen Functionen auch an Stellen, an denen
es nicht geschehen war, moderne in der Zwischenzeit entwickelte math.[ematische] Discipli-
nen zur Geltung bringen: das klärt frühere Dunkelheiten auf und gestattet sofort neue weiter-
gehende Entwicklungen. Dieses allgemeine Programm wird nun in dreierlei Richtungen zur
Geltung gebracht:
Heranziehen 1) der Riemann’schen Functionentheorie bei der Discussion der Modulfunctio-
nen, 2) der Invariantentheorie, 3) zuletzt, aber auch zumeist, der Gruppentheorie.
Aber ebenso gut hätten andre moderne Disciplinen herangezogen werden können, wenn wir
nämlich dieselben ebenso beherrschten wie 1), 2), 3; ich nenne:
4) Moderne Bildungsgesetze transcendenter Functionen (Weierstraß – Mittag-Leffler …);
5) Moderne Zahlentheorie (Dedekind-Kronecker).
Die Begränzung des von uns behandelten Stoffes ist darum im Wesentlichen eine subjective.
Wir können das nicht ändern, und wir können ja auch damit zufrieden sein. Nur würde ich
darum, wenn wir uns selbst citiren, den Ausdruck „Theorie der Modulfunctionen“ vermeiden;
das ist einerseits zu eng, weil wir uns keineswegs bloss auf Modulfunctionen beschränken,
das ist andererseits zu prätentiös, weil wir von einer systematischen Theorie doch recht weit
entfernt bleiben.81
Seit November 1889 sahen Klein und Fricke bereits die Druckbogen zum Buch
„sorgfältigst“ durch und fügten noch neueste Literatur ein. Am Silvestertag
schrieb Klein: „Unser Buch soll bleiben nicht nur auf ein paar Jahre, sondern auf
die Jahrzehnte hinaus!“82 Erst im Verlaufe des Druckes der weiteren Bögen
schlug Fricke im März 1890 vor, das Material in zwei Bände zu zerlegen. Klein
und der Verlag stimmten zu, denn schon angekündigte Arbeiten von Poincaré, H.
A. Schwarz, Lazarus Fuchs u.a. sollten noch für Band 2 berücksichtigt werden.83
Im September 1890 versandten Klein und Fricke Band 1 an zahlreiche Mathe-
matiker aus dem In- und Ausland. Zwei Jahre später war Band 2 unterwegs. Her-
mites Schwiegersohn Picard hatte Klein bereits am 24. Juni 1892 geschrieben,
dass sie (Picard und Hermite) mit Ungeduld Band 2 der Modulfunktionen erwar-
ten würden. Als Picard am 17. Oktober 1892 den Eingang bestätigte, bedankte er
sich zugleich dafür, dass seine Arbeiten darin so positiv beachtet worden seien. Er
verwies auf weitere neuere Resultate, hob Kleins belle illustration électrique de
principaux problèmes hervor sowie die übereinstimmende Ansicht über Riemanns
Bedeutung. Picard verteidigte zugleich Hermite u.a. (H.A. Schwarz; L. Fuchs) mit
Bezug auf die im Band enthaltenen kritischen Ansichten, vorsichtig schreibend:
„[…] que la polémique dans un cours nous étonne un peu.“84 Hermite, der die
deutsche Sprache selbst nicht hinreichend beherrschte, gewann – trotz gewisser
polemischer Äußerungen Kleins – wachsendes Interesse an dessen Arbeiten.
Am 1. März 1891, noch bevor Band 2 der Vorlesungen über die Theorie der höhe-
ren Modulfunctionen gedruckt vorlag, sandte Klein einen „automorphen Plan“ für
das nächste Buch an Fricke. Klein wünschte „ein wirklich hochwissenschaftliches
Buch, in welches wir die Gesammtheit unserer functionentheoretisch-geometri-
schen Ueberzeugungen hineinlegen“. Dabei sah er seine „Abhandlung in Ann. 21
[Neue Beiträge zur Riemann’schen Functionentheorie, R. To] als eine Art Pro-
gramm […], über welches ich nur in einem Puncte (Nr. V unten) hinausgreife“.85
Klein plante folgende fünf Abschnitte:
I. Die allgemeine Riemann’sche Theorie.
Beliebige geschlossene Flächen, oder auch offene Flächen mit bezogenen Rändern (Fun--
damentalbereiche) … entwickelt bis zur Formentheorie, auch der η-Function inclusive.
II. Automorphe Gruppen.
Construction aller brauchbaren Fundamentalbereiche auf Grund consequenter Nicht-
Euklidischer Maassgeometrie der x+iy-Kugel.
III. Zugehörig-Functionen (automorphe, homomorphe)
Ihre Art, ihre Bildungsgesetze.
IV. Die Fundamentaltheoreme.
„Jede Riemann’sche Fl.[äche] kann durch automorphe F.[unktionen] irgend welchen
vorgegebenen Typus vorgestellt werden.“
V. Einordnung der Fundamentaltheoreme in die allgemeine Lehre von den linearen Diffe--
rentialgleichungen 2ter Ordnung.
Zum Punkt V erklärte Klein noch: „Das sind die Dinge, denen ich jetzt auf der
Spur bin, indem ich die Abbildung der Riemann’schen Flächen durch zugehörige
η-Functionen allgemein studire. Ich finde, dass man eine R. Fl. jedes Mal durch
ein zugehöriges η auf ein Polygon abbilden kann, bei welchem gewisse Bestim-
mungstücke ad libitum vorgeschrieben werden können. Davon sind dann die Fun-
damentaltheoreme specieller Fall, der desshalb besonderes Interesse auf sich zieht,
weil er eben zu automorphen F.[unctionen] führt. (Die Sache wird sehr gut, aber
ich muß noch längere Zeit haben, um sie klar zu entwickeln).“
In diesem Brief ordnete Klein explizit gehaltene und künftige Vorlesungen
den fünf Buchabschnitten zu: für I die Vorlesung über Abel’sche Functionen, für
II die zur Nichteuklidischen Geometrie. Seine damals aktuellen Vorlesungen über
lineare Differentialgleichungen sah er als Voraussetzung für III, IV und V, wobei
sich diese auf Riemannn’sche Flächen p=0 beschränkten. Nachfolgende Vorle-
sungen sollten sich dem Fall p>0 widmen. In diesem Brief veranschlagte er drei
Semester zum Vorbereiten der Monographie. Das sollte nicht ausreichen.
Vor allem Kritik an einigen Aspekten der vorangegangenen Monographie
KLEIN/FRICKE 1890/92 (elliptische Modulfunktionen) veranlasste Klein86, für die
Monographie über automorphe Funktionen einige Gebiete selbst noch tiefer aus-
zuloten. Das betraf Zahlentheorie, denn Dedekind hatte kritisiert, dass diese in
ihrem Buch elementar geblieben sei. Das betraf die Theorie der linearen Differen-
tialgleichungen, wobei Klein Einwände von Ludwig Schlesinger (Schüler und
Schwiegersohn von Lazarus Fuchs) beachtete, dessen Arbeiten er zunehmend
estimierte, insbesondere dessen Handbuch der Theorie der linearen Differential-
gleichungen (Teubner 1895-98). Wenn Klein auch schon im April 1892 an Fricke
signalisierte, nur noch helfen zu wollen, „um später Ihnen und überhaupt der
jungen Generation das Feld zu überlassen“,87 so zog sich das Helfen und Vor-
bereiten mit Vorlesungen und Seminaren noch Jahrzehnte hin (vgl. 8.1.1).
zweiter Ordnung zwei Particularlösungen hat, deren Product erst einem rationalem Polynom
gleich ist. Eben für letzteres Polynom bestimme ich Zahl und Lage der reellen Wurzeln.90
Klein ergänzte: „[…] Hr. Van Vleck, hat die Weiterführung der Betrachtungen
übernommen, welche ich selbst in meinen Vorlesungen nur habe skizzieren kön-
nen. Dabei hat er ganz besonders auch die Fragen weiter untersucht, die Sie in
Annalen 27 (Sur les racines de certaines équations (1886) S. 143-150, S. 177-182)
in Angriff genommen haben.“ Klein betonte dabei, „auf geometrischem Wege
[…] in das Wesen der linearen Differentialgleichungen 2ter Ordnung (d.h. der
durch diese Differentialgleichungen definirten Functionen) noch genauer eindrin-
gen zu können.“91 Edward Burr van Vleck promovierte 1893 bei Klein mit dem
Thema „Zur Kettenbruchentwicklung Laméscher und ähnlicher Integrale“. Klein
lenkte ebenfalls den Schweizer Charles Jaccottet92 sowie die US-Amerikanerin
Mary F. Winston (vgl. Abschnitt 7.6) zu Dissertationen in diesem Gebiet.
Emil Hilb urteilte, dass durch Bôchers Darstellung ein formales Gesetz für die
Bildung der Reihenentwicklung gegeben wurde, aber ein Konvergenzbeweis
fehlte. Dazu lieferte Jaccottet mit seiner Dissertation „Über die allgemeine
Reihenentwicklung nach Laméschen Produkten“ (Göttingen 1895) einen ersten
Ansatz. Hilb sollte es schließlich 1906 gelingen, angeregt durch Klein und auf
Basis der durch Hilbert geschaffenen Integralgleichungstheorie, das von Klein
hierfür ausgesprochene Kontinuitätsprinzip streng zu beweisen.93
Sophus Lie hatte bereits im Jahre 1884 Klein signalisiert, dass jetzt die Zeit ge-
kommen sei, in der das Erlanger Programm besser verstanden würde (vgl. Ab-
schnitt 3.1.1). Es hatte noch des Interesses aus Italien und Frankreich bedurft, das
Programm zur Systematisierung geometrischer Richtungen übersetzen zu dürfen,
damit Klein dies in die Mathematischen Annalen neu aufnahm.94
Klein hielt in Göttingen zwei geometrische Vorlesungszyklen, zur Nicht-Eu-
klidischen Geometrie (1889-90, 1890) sowie zur Höheren Geometrie (1892-93,
1893), alte und neuere Ergebnisse zusammenbringend. Zugleich versuchte und
scheiterte Klein dabei, sich mit Sophus Lie über die früheren gemeinsamen Ar-
beiten zu verständigen. Kleins Annalen-Artikel „Zur Nicht-Euklidischen Geome-
trie“95, Extrakt seiner Vorlesungen, verband die alten Ansätze mit Ideen von Clif-
90 [Archiv St. Petersburg] Klein an Markov, Brief (8), Bl. 12-13, 1.2.1892. – Klein, F.: „Ueber
die Nullstellen der hypergeometrischen Reihe“. Math. Ann. 37 (1890) 573-90; „Ueber den
Hermite’schen Fall der Lamé’schen Differentialgleichung“. Math. Ann. 40 (1892) 125-29.
91 Ebd., Bl. 13 (Klein an Markoff).
92 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1123, Hurwitz an Klein, Brief v. 29.11.1893.
93 Hilb, E. (1906): „Die Reihenentwicklungen der Potentialtheorie“. Math. Ann. 63, 38-53. –
Das Kontinuitätsprinzip besagt hierbei, dass bei stetiger Abänderung irgendwelcher auftre-
tender Parameter kein Eigenwert verloren geht.
94 Math. Ann. 43 (1893) 63-100.
95 Math. Ann. 37 (1890) 544-72; KLEIN 1921 GMA I, 353-83.
312 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
ford (1873), mit daran anknüpfenden Arbeiten von Wilhelm Killing zu „Nicht-
Euklidischen Raumformen“ und enthielt auch Bemerkungen zur Bedeutung der
projektiven Geometrie und von Axiomen bei Helmholtz u.a., die Lie öffentlich
angriff. Lie hatte sich in eine Selbstüberhöhung hineingesteigert und litt zugleich
unter der Angst, seine Ergebnisse würden nicht hinreichend beachtet. Dies trug
bei, dass er sich 1889-90, wie erwähnt (vgl. 5.8.3), zu einem längeren Aufenthalt
in eine psychiatrische Klinik begeben musste. In der Folgezeit gelangte Lie zu
einem unverhältnismäßigen, beleidigenden Verhalten, mit dem er Klein (und an-
dere) herabwürdigte. Wir lesen in der Vorrede zu Band 3 von Sophus Lies Theo-
rie der Transformationsgruppen (1893):
Ein einfaches Bild einer Mannigfaltigkeit mit constantem negativen Riemannschem Krüm-
mungsmasse hat Herr Beltrami gegeben, indem er zeigte, dass für n=3 eine solche Mannig-
faltigkeit auf das Innere einer reellen nichtgeradlinigen Fläche zweiten Grades im R3 abgebil-
det werden kann. In dieser Verbindung erinnere ich überdies noch an die Cayleysche projec-
tive Massbestimmung. Soweit ich es übersehe, liegt das Verdienst der damit zusammenhän-
genden Untersuchungen des Herrn F. Klein über Nichteuklidische Geometrie wesentlich da-
rin, dass in ihnen die Resultate seiner Vorgänger popularisirt werden. Klein verwerthet dabei
die von mir herrührenden Begriffe infinitesimale Transformation und eingliedrige Gruppe.
[…] In den Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie, die von den Herren v.
Helmholtz, de Tilly, F. Klein, Lindemann und Killing angestellt worden sind, finden sich eine
Reihe von groben Fehlern, die im letzten Grunde darauf beruhen, dass die Verfasser dieser
Untersuchungen entweder gar keine oder nur sehr mangelhafte gruppentheoretische Kennt-
nisse besassen.96
Lie behauptete weiter, er habe schon 1870-72 den Begriff der endlichen continu-
irlichen Gruppe entwickelt:
F. Klein, dem ich im Laufe dieser Jahre alle diese meine Ideen mittheilte, wurde dadurch ver-
anlasst, ähnliche Gesichtspunkte für die discontinuirlichen Gruppen zu entwickeln. In seinem
Erlanger Programm, wo er über seine und über meine Ideen berichtet, spricht er überdies
noch von Gruppen, die nach meiner Terminologie weder continuirlich noch discontinuirlich
sind, zum Beispiel spricht er von der Gruppe aller Cremonaschen Transformationen und von
der Gruppe der Verzerrungen. Dass ein Wesensunterschied zwischen diesen Arten von Grup-
pen und den von mir sog. continuirlichen Gruppen besteht, dass sich nämlich meine continu-
irlichen Gruppen durch Differentialgleichungen definiren lassen, während das bei jenen
Gruppen nicht der Fall ist, das war ihm offenbar vollständig entgangen. Auch von dem so
wichtigen Begriffe der Differentialinvariante findet sich in dem Kleinschen Programme fast
keine Spur. Klein hat an diesem Begriffe, auf dem sich erst eine allgemeine Invariantentheo-
rie begründen lässt, keinen Antheil, und er hat erst von mir gelernt, dass jede durch Differen-
tialgleichungen definirte Gruppe Differentialinvarianten bestimmt, die durch Integration von
vollständigen Systemen gefunden werden können.97
Lie meinte, Klein und seine Schüler hätten das Verhältnis ihrer Arbeiten falsch
dargestellt und seine Ausführungen gipfelten in dem Satz: „Ich bin kein Schüler
von Klein, das Umgekehrte ist auch nicht der Fall, wenn es auch vielleicht der
Wahrheit näher käme“. Adolf Hurwitz schrieb Klein daraufhin:
Was Lie betrifft, so ist ja alle Welt darüber einig, dass er an maßloser Selbstüberschätzung
leidet und dass sein unglaubliches Verhalten Ihnen gegenüber darauf zurückzuführen ist. Die-
ses Verhalten könnte Ihnen ja gleichgültig sein, da ja keiner die Lie’schen Äußerungen ernst
nimmt. Indessen kann ich mir denken, dass Sie Lie’s Gehaben wegen der alten Freundschaft,
die Sie mit Lie verband, schmerzlich berührt.98
Klein hatte seine Sicht über das Verhältnis ihrer frühen Arbeiten schriftlich nie-
dergelegt.99 Er reagierte zunächst auf Lies Bemerkung zum Urteil über Helm-
holtz’ Arbeit „über die Tatsachen, welcher der Geometrie zugrunde liegen“.100
Denn Klein hatte Lie 1886 auf den gruppentheoretischen Charakter von Helm-
holtz’ „Monodromieaxiom“ hingewiesen,101 woraufhin Lie auf der Naturforscher-
versammlung 1886 in Berlin gegen Helmholtz polemisiert hatte. Klein kam
Helmholtz während seiner USA-Reise (vgl. 7.5.4) etwas näher und sandte diesem
am 1. Dezember 1893 seine einschlägigen Arbeiten mit Bezug auf Lies Band zu:
Sie werden es erklärlich finden, wenn ich auf die subjectiven Aeusserungen, welche der neue
Band ja in so grosser Zahl enthält, in keiner Weise eingehe. Was aber die sachlichen Ueber-
treibungen und Einseitigkeiten der Lie’schen Darstellung angeht, so möchte ich gegen sie
durch meine Vorlesung bereits vorweg Stellung genommen haben. Ich hoffe, dass in der-
selben trotzdem die grosse Bedeutung, welche die Lie’schen Theorien besitzen und die in
Deutschland viel zu sehr übersehen worden ist, nachdrücklichst hervortritt. Dass Lie 20 Jahre
lang an so manchen Stellen unbeachtet bleiben konnte, das ist das Gegenbild zu der krank-
haften Selbstüberschätzung, unter der er leidet.102
Klein nutzte das Gutachten, um seine Ansichten zum Thema Grundlagen und Axi-
ome der Geometrie dezidiert darzulegen und neu erschienene Literatur hervorzu-
heben (bes. Veronese, Teubner 1894). Zugleich erörterte er den Gegenstand „Ein-
führung der Zahlen in die projektive Geometrie“, was ihm die Gelegenheit bot,
neuere Arbeiten von Hilbert und Minkowski zu nennen. Klein schloss das Gut-
achten mit Bemerkungen über Helmholtz, dessen allgemeine Ideen er als genial
bezeichnete, die sich aber im Detail nicht immer als befriedigend erwiesen hätten.
Als Klein später von Leo Koenigsberger gebeten wurde, zur Helmholtz-Bio-
graphie beizutragen, schrieb er über die gemeinsame Schiffsreise 1893 in die USA
und rückte seine eigenen Arbeiten noch einmal ins Licht:
Ich erinnere mich insbesondere, dass mich Helmholtz eines Tages fragte, wesshalb Lie in den
Comptes rendus den bekannten heftigen Angriff gegen ihn gerichtet habe, ob er dazu durch
Bertrand angestiftet sei. Ich erwiderte, dass Letzteres gewiss nicht zutreffe, sondern dass
Lie’s eigenes, heftiges und an das Pathologische streifende Temperament ausreiche, um den
Ton des Angriffs zu erklären; Lie fühlte sich durch ständige Nichtbeachtung von Berliner
Seite tief gekränkt. Wir sprachen dann u.a. über das Monodromieaxiom der Raumgeometrie,
wobei Helmholtz mit derjenigen Erläuterung besonders zufrieden war, die ich in den Math.
Ann. Bd. 37, S. 565 gegeben habe und deren Stellung zu Lie’s eigenen Entwicklungen ich
kurz vorher in Theil II meiner (inzwischen autographirten) Vorlesungen über höhere Geome-
trie erläutert hatte.105
Die Entwicklung der modernen Axiomatik setzte erst nach dieser Zeit voll ein,
aber es sollte Klein sein, der den italienischen Mathematiker Frederigo Enriques
die Aufgabe übertrug, das Feld für die ENCYKLOPÄDIE darzustellen.106 Klein prä-
sentierte seine Ansicht noch einmal in einem kurzen Überblick in Band 2 (Geo-
metrie) seiner Elementarmathematik.107 (Vgl. auch Abschnitt 8.3.2)
Unter dieser Überschrift soll die Aufmerksamkeit auf weitere Merkmale dieses
Zeitraumes gelenkt werden, die für den Forschungskontext relevant sind und
zugleich generelle Verhaltensweisen Kleins dokumentieren.
Bei der erwähnten Paris-Reise von 1887 frischte Klein nicht nur alte Kontakte
auf (vgl. 6.3.1). Er gewann ein vertrautes Verhältnis zu Charles Hermite, der trotz
seines Alters das Geschehen noch dominierte.108 So sandte Klein zwei Jahre spä-
ter neue Resultate an Hermite, der sie bei der Académie des sciences (21.1. und
11.2.1889) vorlegte und in deren Comptes rendus publizieren ließ: „Formes prin-
cipales sur les surfaces de Riemann“ und „Des fonctions théta sur la surface
générale de Riemann“.109 Die persönlichen Kontakte brachten außerdem einige,
meist in Briefform mitgeteilte Beiträge französischer Autoren (P. Appell; E. Pi-
card; Ch. Hermite) für die Mathematischen Annalen. Klein hatte über die Fort-
schritte in Paris an Hurwitz geschrieben: „Mein Pariser Aufenthalt verlief sehr
interessant. Man hat dort in den letzten Jahren jedenfalls in Functionenth.[eorie]
erstaunlich viel gearbeitet, so dass die Freude über die Resultate fast durch den
Neid aufgewogen wird, den man betreffs der glücklichen Entdecker hegt. Wir
müssen, wenn wir im Herbst zusammen sind, ausführlich darüber sprechen.“110
Eine Reise auf die britische Insel bereitete Klein seit 1888 mit seinem Jugend-
freund W. R. Smith (vgl. 3.3) vor. Smith besaß inzwischen einen „small chair of
Arabic“ am Trinity College in Cambridge und empfahl, im August zu kommen.111
Vorbereitend sandte Klein im April eigene Resultate an die London Mathematical
Society, wo sein Beitrag „Über die konstanten Faktoren der Thetareihen für p=3“
in der Sitzung am 11. April 1889 präsentiert wurde.112 Er reiste im August/Sep-
tember 1889, erneuerte Kontakte, besuchte Cayley in Keswick, interessierte sich
für britische Mechanik und bereitete den Weg für Hilbert. Dieser hatte nicht nur in
Kleins Arbeit „Zur Theorie hyperelliptischer Funktionen beliebig vieler Argu-
mente“ eine Ungenauigkeit entdeckt, sondern auch einen Fehler bei Cayley.113 So
schrieb Klein aus London an Hilbert, wie gut seine Arbeiten dort aufgenommen
worden seien, während Hurwitz erfuhr: „Ich bin durch England durchgeeilt, habe
dann krampfhaft meine Abelschen redigirt und musste dann noch schleunigst
meine Wintervorlesungen disponiren.“114
Klein liebäugelte mit einer Gastprofessur in den USA, die ihm noch vor der
Reise nach Großbritannien angeboten worden war. Stanley Hall, Psychologe und
erster Präsident der 1887 gegründeten Clark University in Worcester (Massachu-
setts, USA), hatte im Februar 1889 angefragt, ob Klein geneigt sei, im folgenden
Wintersemester dort Vorlesungen zu halten. Klein wäre der Gastprofessur gern
gefolgt und hatte dezidiert nach Berlin geschrieben: „Findet sich das Ministerium
in der Lage, bei dem Unternehmen ein öffentliches Interesse zu sehen u. anzuer-
kennen, so bin ich zur Durchführung bereit, andernfalls nicht.“115 Aber wie das
108 Vgl. bes. Brief Hermites v. 11.9.1887 an Klein mit Grüßen von Madame Hermite und Picard
[UBG] Ms. F. Klein 9: 687; auch TOBIES 2016.
109 In: Comptes rendus 108 (1889), 134-36; 277-80.
110 [UBG] Math. Archiv 77: 184, Klein an Hurwitz, Brief v. 24.4.1887.
111 Smith an Klein, 22.5.; 6.10.1888 [UBG] Cod. F. Klein 11: 1035, 1036.
112 KLEIN 1923 GMA III, Anhang 22.
113 Hilbert an Klein, Briefe v. 30.11.1887; 2.2.1889 bis 27.2.1889, in FREI 1985, 21; 46-51.
114 [UBG] Math. Archiv 77: 202, Klein an Hurwitz, Brief v. 31.12.1889.
115 Klein an Althoff, 23.2.1889 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff B, Nr. 92, Bl. 63.
316 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
sächsische Ministerium im Jahre 1883 Kleins Blick nach Übersee nicht estimiert
hatte, so zeigte sich das preußische Kultusministerium 1889 ebenfalls nicht inte-
ressiert. Althoff empfahl vielmehr, „[…] die Berufung abzulehnen, da unsererseits
ein Interesse an der Ausführung der Mission nicht vorliegt“.116 So verzichtete
Klein, woraufhin Althoff im April 1889 erwog, für ihn eine neue Professur an der
Universität Berlin zu kreieren. Klein lehnte ab117 und wurde daraufhin – wie ange-
deutet (vgl. 2.1.1) – gemäß Kaiserlichem Erlass vom 20. Juni 1889 mit dem Roten
Adlerorden IV. Klasse geehrt,118 ein preußischer Verdienstorden, der seit 17. No-
vember 1705 unter der Bezeichnung Ordre de la sincérité (Orden der Aufrichtig-
keit) existierte.
Seit der Leipziger Zeit hatte Klein die Kontakte nach Russland und Osteuropa
insgesamt im Interesse der Mathematischen Annalen verstärkt. Dies setzte er in
Göttingen fort und schrieb 1891 an Adolph Mayer: „[…] ich glaube bis zu einem
gewissen Maasse an die Zukunft der russischen Mathematik und meine, dass es
jetzt zeitgemäss ist, Fühlung mit derselben zu suchen.“119 Mit einigen Autoren,
wie A. A. Markow aus St. Petersburg, korrespondierte Klein inzwischen regelmä-
ßig. Es kamen Vertreter der Moskauer Schule hinzu, die lange Zeit mit der Schule
in Petersburg in Konkurrenz stand.120 Der Moskauer Mathematiker P. S. Nekras-
sow trat Klein im schwelenden wissenschaftlichen Zwist mit Lazarus Fuchs zur
Seite (Anhang Nr. 5). Mit Nekrassow vereinbarte Klein den Zeitschriftenaus-
tausch mit der Moskauer Mathematischen Gesellschaft, die ihn seit Anfang 1891
als Mitglied führte. Nekrassow vermittelte auch weitere Kontakte mit Mathemati-
kern in Kiew.121 Bevor Klein am 28. Mai 1893 zum Ehrenmitglied der Kaiserli-
chen Universität Kazan und im November 1895 zum Korrespondenten der
Petersburger Akademie gewählt wurde (vgl. 5.4.2.5), war er dem Comité-Lobat-
schewsky beigetreten122 und hatte er die Übersetzung eines Buches von Markow
angeregt. Klein hatte selbst über Arbeiten von Tschebyschow, Kopf der Petersbur-
ger Schule, detailliert vorgetragen und die Ergebnisse (betr. Interpolation durch
Polynome) empfohlen.123 Dieses wissenschaftliche Interesse an den russischen
Arbeiten sollte dazu führen, das sich Klein dezidiert für einen Lehrstuhl für
slawische Philologie einsetzte (vgl. 8.3.2) und im Januar 1914 einer Deutschen
Gesellschaft zum Studium Rußlands beitrat (vgl. 9.3.1).
116 UBG, Cod. Ms Klein I, B,4, Brief Althoffs an Klein, Berlin, d. 25.2.1889.
117 Klein bedauerte später noch, dass die ersatzweise erwogene Idee, nur in der Herbstferien
nach Worcester zu gehen, „durch diplomatisches Hinhalten von A.[lthoff] abgeschnitten“
wurde. Klein in JACOBS 1977, 22 L, Personalia, Bl. 3.
118 [UAG] Kur. 5956, Bl. 34.
119 Klein an Mayer, Brief v. 16.1.1891, in TOBIES/ROWE 1990, 188.
120 Zu den konkurrierenden Schulen vgl. DEMIDOV 2015.
121 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 370 (P. Prokowsky an Klein, 2./14.12.1891). Pokrowskys
Spezialgebiet war die Theorie hyperelliptischer Funktionen.
122 In Kazan war A. W. Wassiliew die Kontaktperson, der Klein bereits bei einem kurzen
Aufenthalt in Leipzig kennengelernt hatte und die Übersetzung seiner Arbeiten förderte
[UBG] Cod. Ms. F.. Klein 11: 197-202A (Wassiliew an Klein), bes. 200 (9.6.1895).
123 Vortrag am 21.5.1895 [UBG] Math.Arch. 49: Bl. 133-36.
6.3 Forschungen und Forschungskooperationen 317
Kleins Urteilsvermögen über neue Theorien in der Mathematik und in den Natur-
wissenschaften ließ ihn zu Erkenntnissen gelangen, die seiner Zeit voraus waren.
Dazu gehörte die Kristallographie.
Schönflies hatte „ebene Configurationen und zugehörige Gruppen von
Substitutionen“ untersucht und war dabei auf Arbeiten über Kristallstrukturen
gestoßen.124 Er dankte Felix Klein den Hinweis, die Symmetrien von Kris-
tallstrukturen mittels Gruppentheorie zu erfassen: „Auf die Zweckmäßigkeit, die
Theorie der Bewegungsgruppen durch Hinzunahme des Symmetriebegriffes zu
erweitern, hat mich Herr Klein gelegentlich aufmerksam gemacht.“125 Felix Klein
präsentierte Schönflies’ Arbeiten in der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaf-
ten. In der Arbeit vom 7. Juni 1890 „Ueber das gegenseitige Verhältniß der Theo-
rieen über die Struktur der Krystalle“ lesen wir:
Drei verschiedene Theorieen kommen in Frage, nämlich 1) die Theorie von Bravais und
Wulff, 2) die Theorie von [Christian] Wiener und Sohncke, und 3) diejenige, welche ich
selbst in diesen Nachrichten kürzlich dargestellt habe. Ich bemerke, daß die Nothwendigkeit,
die Theorie so weiterzubilden, wie es dort geschehen ist, mir gegenüber zuerst von Herrn
Klein betont worden ist.126
124 Vgl. hierzu die detaillierte Analyse in Kap. I von SCHOLZ 1989, bes. 110-48.
125 Schönflies, A.: „Ueber Gruppen von Transformationen des Raumes in sich“. Math. Ann. 34
(1889) 172-203, Zitat, 172.
126 Göttinger Nachrichten 1890, Nr. 6 (25.6.), 239-50, Zitat 239. – Vgl. auch Schönflies, A.:
„Beitrag zur Theorie der Krystallstructur“. Göttinger Nachrichten 1888, 483-501.
127 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 344.
128 Vgl. hierzu ebd. 345. – Max Borns ENCYKLOPÄDIE-Betrag „Atomtheorie des festen Zustandes
(Dynamik der Kristallgitter“ (1922) (Bd. V) umfasste die neueren Ergebnisse.
318 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
Hier spätestens ist der Platz, an dem Hilbert näher vorgestellt werden soll. In die-
sen Jahren erkannte Klein deutlich Hilberts Talent, förderte ihn, unterstützte des-
sen invariantentheoretische Ansätze und fasste gar den Gedanken, selbst nach
Königsberg zu reisen, um sich dort mathematische Anregung zu holen.
Klein hatte im August 1884 von Hurwitz erfahren, dass Hilbert seine Disser-
tation „Über invariante Eigenschaften specieller binärer Formen, insbesondere der
Kugelfunctionen“ vollendet habe und demnächst nach Leipzig kommen wolle.129
Lindemann hatte Hilbert in die Clebsch-Gordansche Invariantentheorie einge-
führt. Im November 1885 hatte Hilbert die Resultate seiner Dissertation für die
Annalen zusammengefasst (Bd. 27, 1886). Noch bevor er in Kleins Seminar den
ersten Vortrag halten sollte, war er zu neuen Ergebnisse gelangt, die Klein in der
Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften (am 7.12.1885) präsentierte. Sie
mündeten später in Hilberts Habilitationsschrift (Math. Ann. Bd. 28, 1886).
Gegen Semesterende trug Hilbert in Kleins Seminar über Themen vor, die als
Vorbereitung für die von Klein empfohlene Paris-Reise interpretiert werden kön-
nen. Hilbert sprach über Picards Arbeit „Ueber die Integrale erster Gattung auf
algebraischen Flächen“ (Journal des mathématiques pures et appliquées, 1885)
und analysierte Arbeiten von Riemann, Weierstraß, Poincaré, Picard und Frobe-
nius unter dem Titel „Ueber periodische Funktionen zweier Variabler“.130 Als
Hilbert im März 1886 mit Kleins Empfehlungsschreiben nach Paris reiste, wo sich
Eduard Study schon befand, empfingen beide brieflich noch Ratschläge von
Klein. Dazu gehörten nicht nur Hinweise, wie ihnen die „Kunst“ gelingen könne,
„Jeden, der überhaupt zugänglich ist, bei seinen Interessen zu fassen“, sondern
auch, dass sie künftig Kontakte zu den Mathematikern in Deutschland, besonders
Paul Gordan und Max Noether, ebenfalls intensiver pflegen sollten.131 Klein
subsumierte Hilbert (und Study) in diese, seine Richtung, wenn er Ihnen vom
Göttinger Start schrieb: „Meine Beziehungen zu Schwarz nehmen einen guten
Anfang; ob es wirklich gelingt, zwischen der Berliner Functionentheorie und un-
serer Art, die Dinge zu sehen, eine innige Wechselbeziehung herzustellen?“132
Die seit der Paris-Reise existierende Korrespondenz zwischen Klein und Hil-
bert dokumentiert einen intensiven Austausch. Hilbert wählte für den 13 Jahre
älteren Klein noch bis zum 1. September 1896 einheitlich die Anrede „Hochge-
ehrter Herr Professor“, während Klein schon seit 1892 „Lieber Herr College“
bzw. „Lieber Freund“ benutzte. Hilbert folgte Kleins Angebot, ihm seine neuen
Ergebnisse zu senden. Klein las diese, verwies auf Arbeiten in- und ausländischer
Mathematiker, die einen gewissen Bezug zum Thema haben könnten. Hilbert stu-
dierte sofort das Genannte und erklärte den Kontext. So erschienen in Band 30
(1887) der Mathematischen Annalen drei Arbeiten von Hilbert, in Bd. 31 (1888)
129 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1000, Hurwitz an Klein, Postkarte v. 27.5.1885.
130 [Protokolle] Bd. 7, 218-25; 274-83 (Hilberts Vorträge, Mo. 11.1.1886; 15.2.1886).
131 Klein an Hilbert und Study (April) 1886, in FREI 1985, 7-8.
132 Klein im April 1886, in FREI 1985, 8.
6.3 Forschungen und Forschungskooperationen 319
eine, in 32 (1888) eine, in Bd. 33 (1889) zwei usw., weitere in den Göttinger
Nachrichten, so drei Noten „Zur Theorie der algebraischen Gebilde“.133 Sie betra-
fen das Endlichkeitstheorem, dem sich Paul Gordan bereits verdienstvoll gewid-
met hatte (vgl. Abschnitt 3.5). Hilbert war in Paris durch Hermite auf neue Wege
gelenkt worden, die er in der Folgezeit tiefer auslotete.134 Klein erkannte Hilberts
neuen Ansatz und ermutigte ihn, diesen noch stärker zu verfolgen:
Ich finde, dass Sie die Aufgabe der Invariantentheorie immer noch zu eng fassen, d.h. zu sehr
im Sinne der directen Clebsch-Gordan’schen Tradition, während ich meine, dass sich das
betr. Gebiet doch mittlerweile nach verschiedenen Seiten ausgedehnt, bez. vertieft hat.135
Klein listete dazu Ansätze anderer Autoren in fünf Punkten auf, und Hilbert signa-
lisierte, dass er die Anregungen aufgegriffen und seine Arbeit dadurch gewonnen
habe.136 Paul Gordan galt damals als „König der Invariantentheorie“ und musste
von Hilberts neuem Ansatz „Ueber die Theorie der algebraischen Formen“ (Math.
Ann. 36 (1890) 473-534) erst mühsam überzeugt werden. Für Klein war es „die
wichtigste Arbeit über allgemeine Algebra […], welche die Annalen seither
veröffentlichten“.137
Beim Bremer Treffen im September 1890 (vgl. 6.4.4) konnte Klein weitere
Impulse in zahlentheoretischer Richtung an Hilbert u.a. geben.138 Kleins Hinweise
auf Invarianten in der Zahlentheorie und auf „Kroneckers Modulsysteme“ sind in
Hilberts Arbeit „Ueber die vollen Invariantensysteme“ (Math. Ann. 42 (1893)
313-73) berücksichtigt. Hilbert suchte Kronecker persönlich auf, diskutierte mit
Hurwitz und wandte arithmetische Methoden auf algebraische Probleme an. Hil-
bert vereinigte die algebraische Invariantentheorie mit der Kroneckerschen Theo-
rie der Formen und der Dedekindschen Theorie der Ideale und Moduln und wurde
damit zum eigentlichen Begründer der modernen abstrakten Algebra – woran
später Emmy Noether anknüpfen sollte. 139
Klein war von Hilberts Leistungsfähigkeit überzeugt, sodass er bei der nächst-
besten Gelegenheit (ein freies Ordinariat an der Akademie in Münster) am 23.
Oktober 1890 an Althoff im preußischen Kultusministerium schrieb:
133 Göttinger Nachrichten (1888) Nr. 16 (5.12.) 450-57; (1889) Nr. 2 (30.1.1889) 25-34; Nr. 15
(31.7.1889) 423-30.
134 Vgl. ROWE 2018a, 160-67; auch Hilbert an Klein, 12.12.1888, in FREI 1985, 44-45.
135 Klein an Hilbert, 27.6.1889, FREI 1985, 53.
136 Hilbert an Klein, 30.6.1889, FREI 1985, 54-55.
137 Klein an Hilbert, 18.2.1890, FREI 1985, 62.
138 Klein teilte Hurwitz mit: „Bianchi hat seine Theorie der linearen Substitutionen mit Coef-
ficienten a+bi, a+bρ jetzt für die Annalen bearbeitet, indem er die quadratischen Formen mit
complexen Coefficienten von Dirichlet und Hermite ganz geradeso behandelt, wie ich dies
Hilbert und den Anderen gelegentlich in Bremen auseinandersetzte.“ [UBG] Math. Arch. 77:
214 (10.12.1890). – Bianchi begann seine Arbeit „Geometrische Darstellung der Gruppen li-
nearer Substitutionen mit ganzen complexen Coefficienten nebst Anwendungen auf die Zah-
lentheorie“ (Math. Ann. 38 (1891) 313-33) mit: „Die geometrische Methode, auf welche Herr
Professor Klein die arithmetische Theorie der gewöhnlichen binären quadratischen Formen
gründet, kann mit demselben Erfolge in weiterem Umfange angewandt werden.“
139 Vgl. hierzu B. L. van der Waerden in HILBERT 1933, 401-403.
320 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
Hilbert ist “The rising man“: Ich nenne ihn hier nur desshalb an letzter Stelle, weil er wesent-
lich jünger ist als die anderen. Die Arbeiten, die er in den letzten zwei Jahren veröffentlicht
hat, zeugen in der That von einer ganz ausserordentlichen Kraft des abstrakten Denkens.
Nachdem ich ihn seit 4 Jahren nicht gesehen, traf ich ihn jetzt bei der Naturforscherver-
sammlung und war überrascht, wie er in der Zwischenzeit gewachsen ist, wie er über alle
möglichen mathematischen Fragen nachgedacht und sich überall neue und grosse Probleme
gestellt hat. Ob Hilbert jetzt berücksichtigt werden soll, scheint mir auf die principielle Frage
hinauskommen, ob hervorragende Begabung in allen Fällen das Vorrecht vor älterem Ver-
dienste zu Theil werden soll. Vielleicht ist zu Letzterem der vorliegende Fall weniger geeig-
net, als andere, die eintreten können: ich selbst würde für Münster wohl einen ruhigen Mann,
der dann auch längere Jahre bleibt, vorziehen.140
Als Althoff ein Jahr später die Idee entwickelte, Hilbert solle sich – als Ersatz für
Schönflies – nach Göttingen umhabilitieren, lehnte Klein allerdings kategorisch
ab. Sein Schreiben vom 25. Oktober 1891 hatte sowohl Schönflies’ notwendige
Position in Göttingen, als auch Hilberts Weg langfristig im Blick:
Ich kann auch den Gegenvorschlag mir nicht aneignen, den Sie mir betreffs Umhabilitation
von Hilbert hierher gemacht haben. Das wäre das Todesurteil für Schönflies und dazu kann
ich nicht die Hand bieten. Außerdem ist Hilbert nicht das, was ich hier brauche u. was mir
Schönflies bietet. Hilbert geht seinen selbständigen Weg; er hat durchaus den Rang, daß ich
ihn in Betracht ziehen kann, wenn einmal eine eigne Stelle zu besetzen sein sollte oder neben
mir eine Stelle zu besetzen frei wird. Im vorliegenden Falle aber handelt es sich darum, dass
ich eine Hülfe beim Unterricht der Anfangssemester finde, insofern meine ganze Zeit durch
die mittleren u. höheren Semester in Anspruch genommen ist. […].141
Zu den höheren Semestern gehörte 1891/92 Fabian Franklin, den Klein auf Hil-
berts Arbeit „Ueber die Theorie der algebraischen Formen“ (Math. Ann. 36
(1890)) lenkte. Franklin hatte unter Sylvester an der Johns Hopkins University in
Baltimore studiert und zählte inzwischen zum Lehrkörper dieser ersten US-ameri-
kanischen Universität mit Forschungscharakter. Er hörte in Göttingen Kleins
Vorlesung Algebraische Gleichungen und sollte im Seminar142 über Hilberts Ar-
beit vortragen. Klein bereitete mit Franklin den Vortrag vor und drang auf diese
Weise selbst tiefer in Hilberts Gedankengut ein. Dabei erwog Klein, nach Kö-
nigsberg zu reisen, wie er Hurwitz erläuterte:
Unser Stolz ist natürlich Prof. Franklin, mit dem ich eifrig Hilbert studire. Wenn Hilbert seine
Endlichkeitsbetrachtungen jetzt auf Realitätsfragen ausdehnt143, so scheint mir das schön und
wichtig. Sagen Sie doch Hilbert, dass ich Alles, was er da hat, sobald er es selbst für publica-
tionsfähig hält, wie insbesondere auch die Anwendung der Dirichlet’schen Methoden, von
denen er in Halle berichtete, mit grösster Bereitwilligkeit in den Göttinger Nachrichten publi-
ciren werde, - wie ich ihn andererseits bitte, die ausgeführten Darstellungen den Annalen ja
nicht vorzuenthalten. Ich möchte überhaupt die Verbindungen zwischen Königsberg und hier
140 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff B, Nr. 92, Bl. 76-77, Klein an Althoff, 23.10.1890.
141 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 82-83, Klein an Althoff, 25.10.1891.
142 Klein ließ Franklin (wie Zorawski, Van Vleck und F. Schilling) im Colloquium von Burk-
hardt und Schönflies sprechen, da er sein eigenes Seminar nutzte, um selbst über seinen
Vorlesungsstoff ausführlicher zu sprechen. [Protokolle] Bd. 10, 187.
143 Vgl. hierzu auch Tapp, Ch. (2013): An den Grenzen des Endlichen. Hilbertprogramm im
Kontext von Formalismus und Finitismus. Berlin: Springer.
6.4 Zusammenführen von Personen und Institutionen 321
noch enger gestalten. Ich hoffe in erster Linie natürlich, dass Sie den besprochenen Plan aus-
führen und sich Ostern längere Zeit hierher auf die Verpflegungsstation setzen. Andererseits
denke ich wirklich ernstlich daran, selber für einige Zeit nach Königsberg zu kommen. Denn
ich habe sehr das Bedürfnis, nachdem ich mich in den letzten Jahren viel mit angewandter
Mathematik beschäftigt habe, meine theoretischen Interessen zu beleben und zu heben, und
ich wüsste nicht, wie ich das besser bewerkstelligen sollte als durch ausführliche persönliche
Bezugnahme mit Ihnen und Hilbert.144
Fabian Franklin fuhr zweimal zu Hilbert und Hurwitz nach Königsberg und er-
stellte dort im März 1892 eine kurz Note, die in den Mathematischen Annalen er-
schien.145 Klein realisierte die Reise nicht. Er musste sich auf neue Personalkon-
stellationen konzentrieren (vgl. 6.5). Es verwundert aber nicht, dass er sich 1892
bevorzugt Hilbert, oder Hurwitz, neben sich wünschte.
Das einst von Clebsch intendierte Programm, die Mathematiker zu einen, ver-
folgte Klein weiterhin. Dass er in Göttingen darüber hinaus auch alle Hochschul-
lehrer zu vereinen suchte, war bisher weniger bekannt (vgl. 6.4.1).
An die Gesamtinteressen der Universität und an die Ausbildung der Stu-
dierenden denkend, entwickelte Klein die neuartige Idee, die Universität Göttin-
gen mit der nächst gelegenen preußischen Technischen Hochschule Hannover zu-
sammenzuführen. (6.4.2)
Kaum zum ordentlichen Mitglied der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göt-
tingen gewählt, dachte Klein an deren Reorganisation. (6.4.3)
Als die Deutsche Mathematiker-Vereinigung (DMV), initiiert durch Georg
Cantor, kurz vor ihrer Gründung stand, schaltete sich Felix Klein ein, um – im
Hintergrund – inhaltlich, organisatorisch und personell zu lenken. (6.4.4)
Klein hatte das durch Ernst Heinrich Weber in Leipzig etablierte Professorium
(vgl. 5.7) schätzen gelernt. Aus den Briefen von Otto Hölder geht hervor, dass in
Göttingen bisher kein derartiges Gremium existierte und Klein dies kreierte:
Dieser „Professorenverein“ ist eine große Vereinigung, die von Klein in Scene gesetzt werden
soll und so geplant ist, daß womöglich die ganze Universität sich betheiligt. Es kostet mich
diesen Winter 4 weitere Abende mit Tanz zu allem übrigen hin. Die Sache ist natürlich im
Interesse derjenigen, die sonst wenig Verkehr haben, für unser einen ist es eben eine Mehr-
belastung. Entziehen kann man sich kaum, ich habe meine Mitgliedschaft zugesagt, werde
übrigens mir den Besuch der constituirenden Versammlung heute Abend schenken […].146
144 [UBG] Math. Arch. 77: 222, Klein an Hurwitz, Brief v. 6.11.1891.
145 Hurwitz an Klein, 31.12.1891 [UBG] Math. Arch. 77: 1100; Franklin, F. (1893): „Bemer-
kungen über einen Punkt in Riemann’s ‚Theorie der Abel’schen Functionen’“. Math. Ann. 40.
146 HILDEBRANDT et al. 2014, 227 (Brief v. Otto Hölder an die Eltern, 21.10.1886).
322 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
Otto Hölder war stärker individualistisch veranlagt und trank ein Glas Bier mit
württembergischen Landsleuten anstatt der Gründung des Professoriums beizu-
wohnen. Die Hochschullehrer und ihre Ehefrauen sollten sich bei kultureller
Veranstaltung treffen. Klein hatte sich als junger Professor in Erlangen bewusst
auch kulturell engagiert (vgl. 3.6.1). Hölder fand es dagegen unter seiner Würde
mitzutun: „Ende dieses Monats fängt der Professorenverein an, ich sollte erst mit
Theater spielen, natürlich habe ich diese Zumuthung abgelehnt.“147
Dieses erste Professorium am Dienstag, den 30. November 1886, war Klein
eine Mitteilung an Hurwitz wert: „Wir leben unterdessen bei mangelhaftem Schlaf
in Saus und Braus: vorgestern 1tes Professorium mit 182 Theilnehmern und drei-
erlei Aufführungen!“148 Hölder berichtete detaillierter an die Eltern, woraus die
von Klein organisierte Kultur und zugleich dessen Fürsorge erkennbar ist:
Es war nämlich gestern der erste Abend des lange berathenen und bestrittenen, lange vorbe-
reiteten Professorenvereins. Da war für Aufführungen nur zu gut gesorgt. Erst kam „Echtes
Gold wird klar im Feuer. Dramatisches Sprichwort von Geibel“ ein furchtbar ernstes Stück
voller Liebe und Entsagung, eigentlich für den vorliegenden Zweck nicht das richtige und
von wegen der geringen Handlung und der langen Reden für Liebhaber zu schwer. Dieses
Stück war der „Primadonna“ zu lieb gegeben worden; diese spielte auch sehr gut; weniger der
die andere Hauptrolle eines Prinzen vertretende Privatdocent. Das zweite Bühnenspiel „Ju-
gendliebe von Wil[l]brandt!“ wirkte vorzüglich; es war so recht zum Lachen, mit sehr wohl-
charakterisierten Rollen; besonders gut eine alte Tante, ein sentimentaler Backfisch und ein
verbummelter Student, welch letzteren einer meiner Freunde mit großer Natürlichkeit zu
spielen wusste. Nach Tische kam noch eine dritte dramatische Leistung, ein medicinischer
Scherz […].
Es war Alles ganz nett, nur war es zu viel. – Es war großer Herrenüberschuß; so hatte ich es
erst zu keiner Tischdame gebracht; da kam aber [Felix] Klein zu mir, der noch eine Dame zu
versorgen hatte. So hatte ich die Ehre Frau Professor Benfey zu Tisch zu führen, die Witwe
eines der berühmtesten Orientalisten […] Ich machte […] noch zwei Rundtänze mit und ging
vor Schluß des Ganzen.149
Klein war seit Sommer 1887 Mitglied der Prüfungskommission, dachte über die
„Allgemeinaufgabe des math.[ematischen] Unterrichts“ an der Universität nach
und glaubte jener mit einer Verlegung der nächstgelegenen Hochschule, die seiner
Ansicht nach näher an der Praxis war, eher gerecht werden zu können.151
Nach Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen 1866 war die dor-
tige Polytechnische Schule zu einer Technischen Hochschule (1879) ausgestaltet
worden, geleitet vom Bauingenieur Wilhelm Launhardt. Dieser hatte im Jahre
1885 ein Buch Mathematische Begründung der Volkswirtschaftslehre (Leipzig:
Wilhelm Engelmann) publiziert, was Kleins Aufmerksamkeit erregte. Bereits als
Student in Bonn hatte Klein wahrgenommen, wie neu entstehende Richtungen
durch die Verleihung von Ehrendoktoraten gewürdigt wurden (Abschnitt 2.3.2).
Als im Mai 1887 alle Fakultätsmitglieder in Göttingen aufgefordert wurden, An-
träge für Ehrenpromotionen zu stellen, die anlässlich des 150. Jubiläums der Uni-
versität (Feier am 7. August 1887) vollzogen werden sollten, argumentierte Klein
vehement für Launhardt. Er erreichte, dass zahlreiche Kollegen, darunter H. A.
Schwarz, E. Schering, E. Riecke, W. Schur, W. Voigt, den Antrag mit unterzeich-
neten, dennoch blieb er innerhalb der Gesamtuniversität „in Minorität“.152
Noch bevor der 29-jährige Wilhelm II. am 15. Juni 1888 die Krone als Deut-
scher Kaiser und König von Preußen übernahm und eine Schulreform ankündigte,
hatte Klein die allgemeine Aufgabe der Universität als unzureichend empfunden.
Um praktischen Bedürfnissen besser zu entsprechen, plädierte er dafür, Universi-
tät und Technische Hochschule zu vereinen. Im Herbst 1887 weilte Klein „längere
Zeit in Hannover bei Launhardt, um den dortigen Betrieb und die einschlägige
Literatur kennen zu lernen.“ Am 27. Mai 1888 schrieb er an Friedrich Althoff,
dass er die „Verlegung der t.[echnischen] H.[ochschule] nach Göttingen bean-
tragt.“ Klein erklärte seine damit verbundenen Ziele wie folgt:
1. Allseitigere Ausbildung unserer Studenten.
2. Gesündere Entwickelung unserer Disziplinen
3. Grössere Wirksamkeit unserer Institutionen
4. Allgemeines Kulturinteresse: Wahre moderne Bildung.153
Das Ministerium wünschte dies ausführlicher dargestellt, sodass Klein eine Denk-
schrift ausarbeitete und am 6. Oktober 1888 nach Berlin sandte. Die 18 Blatt um-
fassende Schrift strotzt von einer Reichhaltigkeit Kleinschen Gedankenguts, wel-
ches bereits seinen Blick auf „alle Fragen der modernen Cultur“ und ebenso die
Idee des Doctortitels für den Techniker enthält, verbunden mit dem hauptsächli-
Felix Klein hatte der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen seit 1872
als Correspondent angehört (vgl. 2.8). Er wurde nun als außerordentliches Mit-
glied gelistet. Um zum ordentlichen Akademiemitglied ernannt zu werden, musste
ein Platz frei sein. Der Altphilologe Hermann Sauppe, der sich in der Berufungs-
kommission für Klein engagiert hatte, informierte als beständiger Sekretär der
Gesellschaft am 28. Dezember 1886: „Wir wünschen Sie in unsere Gesellschaft
aufzunehmen, da wir alle wissen, welchen Zuwachs an schaffender Energie die
Wirksamkeit unserer Gemeinschaft dadurch gewinnen würde.“155 Er teilte weiter
mit, dass die Zahl von 24 Mitgliedern für die existierenden drei Klassen seit lan-
gem feststehe und Klein zunächst nicht gewählt werden könne, denn Moritz A.
Stern sei die weitere ordentliche Mitgliedschaft zugesichert worden. Sauppe bot
aber an, dass sich Klein sofort an der Arbeit beteiligen könne. Er würde Einladun-
gen zu den wissenschaftlichen Sitzungen erhalten und könne die Nachrichten für
die Publikation nutzen. Allerdings war ihm die Teilnahme an den geschäftlichen
Beratungen und Beschlüssen noch verwehrt.156
154 [UAG] Kuratorialakten, 4 I, Nr. 88a, Bl. 2-10, Zitate Bl. 4, 5, zum Doctortitel Bl. 11.
155 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 656.
156 [AdW Göttingen] Chron 4, 6: 41 (Außerordentliche Sitzung, 18.12.1886).
6.4 Zusammenführen von Personen und Institutionen 325
157 [UBG] Math. Arch. 77: 168, Klein an Hurwitz, Brief v. 31.12.1886.
158 Hurwitz, A. (1887): „Über diejenigen algebraischen Gebilde, welche eindeutige Transforma-
tionen in sich zulassen.“ Göttinger Nachrichten, Nr. 6, 85-107.
159 Bolza, O.: „Darstellung der rationalen ganzen Invarianten der Binärform sechsten Grades
durch die Nullwerte der zugehörigen δ-Functionen“; Maschke, H.: „Ueber die quaternäre,
endliche, lineare Substitutionsgruppe der Borchardt’schen Moduln“; Voß, A.: Ueber bilineare
Formen“. Göttinger Nachrichten Nr. 14, 418-21; 421-24, 424-33.
160 [AdW Göttingen] Chron 4, 6: 51. – Am selben Tage wurden jeweils einstimmig Wilhelm
Weber Ehrenmitglied und Ludwig Boltzmann auswärtiges Mitglied dieser Klasse.
161 Gutachten v. 25.1.1887, in LAGARDE 1894, 162-77.
162 Klein in JACOBS 1977, 22L: Personalia, Bl. 2. – P. de Lagarde galt als aggressiver Antisemit,
Gegner der Frauenemanzipation und Vertreter einer expansionistischen Grenzkolonisation.
326 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
Erst aufgrund eines Rufes nach München 1892 konnte Klein bei der Göttinger
Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften Statuten mit einigen Neuerungen auf den
Weg bringen (vgl. Abschnitt 6.5.2). Auch das 1890 abgelehnte Projekt, die Edi-
tion von Nachträgen zu Riemanns Werken, sollte Klein später noch durch Max
Noether und Wilhelm Wirtinger realisieren lassen (B.G. Teubner, 1902).
Als Georg Cantor170 im Jahre 1889 die Initiative ergriff, die deutschen Mathemati-
ker zu einen, verhielt sich Klein zunächst vorsichtig zurückhaltend. Als Leo Koe-
nigsberger auf der Naturforscherversammlung 1889 in Heidelberg Cantors Satz
vortrug, „Es ist wünschenswert, daß eine engere Vereinigung als bisher zwischen
den deutschen Mathematikern gegründet werde,“ befand sich Felix Klein auf der
britischen Insel und dachte an die versäumte Gastprofessur in den USA. Nach der
Rückkehr berichtete ihm sein Schüler Walther Dyck über das Heidelberger Tref-
fen, welches ein Jahr später in Bremen zur Gründung der Deutschen Mathemati-
ker-Vereinigung (DMV) führen sollte. Diese Geschichte ist detailliert untersucht
worden.171 Kleins Anteil lässt sich in fünf Punkten beschreiben.
Erstens. Klein vermied, nach außen führend in Erscheinung zu treten. Ihm
war bewusst, dass seine Person für eine Gruppe stand und damit manch potentiell
Interessierter abgehalten werden könnte teilzunehmen. Klein brachte seine Ideen
über Dyck ein und schrieb selbst an Georg Cantor.
Zweitens. Kleins inhaltliche Idee für die neue Vereinigung bestand vor allem
darin, dass sie „Referate über die Entwicklung verschiedener Zweige unserer Wis-
senschaft“ veranlassen solle, wie Walther Dyck bereits am 12. Oktober 1889
Cantor informierte. Diese Idee floss in die Statuten der DMV ein. Klein kümmerte
sich von Beginn an persönlich darum, dass Referenten für die einzelnen Gebiete
der „reinen“ und auch „angewandten“ Mathematik gewonnen wurden.172 Die z.T.
sehr umfangreichen Referate wurden zunächst in Verbindung mit dem Jahresbe-
richts der DMV publiziert und mündeten in die ENCYKLOPÄDIE.
Drittens. Die am meisten diskutierte organisatorische Frage war, ob die neu
zu gründende Vereinigung weiterhin mit den Jahresversammlungen der Gesell-
schaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) tagen solle oder nicht. Georg
Cantor plädierte für eine separate Vereinigung nach Vorbild der Société Mathé-
matique de France. Klein dagegen schrieb am 14. Mai 1890 an Cantor: „Ich für
meinen Theil kann nicht einsehen, daß eine Ablösung nöthig wäre; sie kann später
immer erfolgen, wenn eine geschlossene Majorität dafür ist und die Centralleitung
der Naturforscherversammlung eine zu einseitige Tyrannei sollte aufrichten wol-
len.“173 Cantor ließ sich erst von dieser Ansicht überzeugen, nachdem Weierstraß
in einem Brief vom 6. September 1890 ähnlich argumentiert hatte. Somit tagte die
DMV bis 1913 gemeinsam mit der GDNÄ am selben Ort und zur selben Zeit. Erst
nach dem Ersten Weltkrieg, als sich die Naturforscher nur noch alle zwei Jahre
versammelten, trafen sich die mathematischen und physikalischen Gesellschaften
auch in den Zwischenjahren losgelöst davon.174
Klein schrieb dies nicht nur an Cantor, sondern warb weitere für die Teilnahme in
Bremen. So fuhren die langjährigen Annalen-Mitstreiter Paul Gordan und Adolph
Mayer sowie Schüler und Kooperationspartner von Klein (Heinrich Burkhardt,
Walther Dyck, Franz Meyer, Erwin Papperitz, Hermann Wiener, Eduard Wilt-
heiss) dorthin. Den weiten Weg von Königsberg unternahmen Hilbert und Min-
kowski. Hurwitz zog Erholungsaufenthalt vor. Auch Lindemann fehlte.
Hilberts Worte vom 24. Juli 1890 an Klein waren gut geeignet, den jungen
Gleichgesinnten mit ähnlich weitem Horizont noch vertrauter wahrzunehmen:
Wie mir Professor Hurwitz bereits erzählt hat und wie ich nunmehr auch aus dem Programm
ersehe, werden Sie jedenfalls im Herbst nach Bremen gehen, worüber ich mich auch sehr
freue. Denn ich bin ebenfalls zu dieser Reise fest entschlossen und hoffe auch insbesondere,
dass die anderen Mathematiker jung und alte, recht zahlreich dort vertreten sind.
Ich glaube in der That, dass ein persönliches Nähertreten der Mathematiker für unsere Wis-
senschaft sehr wünschenswert wäre und auch die in dem Heidelberger Protokoll enthaltenen
Anregungen im Allgemeinen sehr zeitgemäß sind. Die Mathematiker verstehen sich, wie mir
scheint, heute gar zu wenig, sie interessieren sich für einander nicht rege genug und sie ken-
nen auch – soweit ich dies beurteilen kann – zu wenig unsere Klassiker; viele ausserdem ar-
beiten mühevoll auf todten Strängen.176
Die Bremer Beschlüsse zur Gründung der DMV am 18. September 1890 wurden
von 33 Personen unterzeichnet. Auf Abb. 26 (S. 292) fehlen Friedrich Simon Ar-
175 Klein an Georg Cantor, Brief v. 12.6.1890, zitiert in TOBIES 1998, 142-43.
176 Publiziert in FREI 1985, 68.
6.4 Zusammenführen von Personen und Institutionen 329
chenhold, Mitarbeiter an der Berliner Sternwarte unter Wilhelm Förster, und Edu-
ard Study, damals Privatdozent in Marburg. Von den Gründungsmitgliedern177
waren sechs beim Aufruf in Heidelberg 1889 beteiligt gewesen: G. Cantor, Dyck,
Heffter, Papperitz, E. Schröder, H. Weber. Neun hatten schon 1873 die Mathema-
tiker-Versammlung in Göttingen besucht: P. Gordan, R. Hoppe, L. Kiepert, F.
Klein, E. Lampe, A. Mayer, E. Schröder, H. Schubert, R. Sturm (vgl. 2.8.3.4).
Der erste gewählte Vorstand entsprach Kleins Vorstellungen: Georg Cantor
als Vorsitzender, Walther Dyck als Schriftführer, Hermann Schubert (Hamburg)
und Emil Lampe (TH Berlin) sowie Theodor Reye (Straßburg), der zwar in Bre-
men abwesend, aber in Heidelberg dabei gewesen war. Klein formulierte seinen
Eindruck in einem Brief vom 19. Oktober 1890 an Hurwitz:
Ich sehe die Bremer Beschlüsse […] als durchaus günstig und glückverheissend an. Cantor
weiß (nach neueren Nachrichten) die Sache so zu wenden, dass ihr Weierstrass, Kronecker
und jetzt auch [Carl] Neumann gleichförmig sympathisch gegenüber stehen! Es wird jetzt
darauf ankommen, die Tage in Halle möglichst vielseitig auszugestalten. Da bin ich dann
auch wieder auf dem Platze, während ich mich sonst gerade im Interesse des Unternehmens –
damit dasselbe ja nicht irgendwelchen Parteiencharakter erhält – zurückhalte.178
Bis Juni 1891 meldeten sich 205 Mitglieder an; der DMV-Jahresbeitrag betrug
zwei Mark. Cantor erreichte, dass Leopold Kronecker für die Jahresversammlung
1891 in Halle den Eröffnungsvortrag zusagte. Obgleich er wegen des Todes seiner
Frau doch absagen musste, nahm er im September 1891 noch die Wahl in den
Vorstand an. Somit war nun vorgesehen, dass der DMV-Vorstand ab 1. Januar
1892 aus Georg Cantor (Vorsitz), W. Dyck, P. Gordan, L. Kronecker, E. Lampe
und H. Schubert besteht.179 Kronecker starb jedoch am 29. Dezember 1891.
Fünftens. Die Entwicklung in den folgenden Jahren lässt erkennen, dass Felix
Klein inhaltlich, organisatorisch und personell die Fäden zunehmend in die Hand
nahm. Dyck konsultierte Klein bei seinen zahlreichen Aufgaben als Schriftführer:
Vorbereiten der Statuten, Gewinnen weiterer Mitglieder, Verteilen von Referaten
u.a. Wie intensiv Klein bereits als Nicht-Vorstandsmitglied agierte, deutet eine
Randbemerkung an, die er auf einem Brief Dycks vom 30. März 1891 notierte:
Verständigung mit [Heinrich] Hertz.
Hilbert. Referat über algebr.[aische] Functionen? Wer sonst?
Schriftliche Anträge von Dyck.
Eröffnungsvortrag? – Zuletzt doch Cantor. (Cantors eigene Ideen: Leipzig)
Werbung noch ausstehender Persönlichkeiten.
(Bruns, Lipschitz, Wirtinger. Die math. Physiker.)180
Als Georg Cantor nach drei Jahren den Vorsitz aufgab, rückten Repräsentanten
der Clebsch-Schule bzw. mit Klein befreundete Mathematiker in führende Positi-
onen. Kleins Absicht 1893, mit Frobenius dort wieder einen Ordinarius der Berli-
177 Namen der Unterzeichner in: Jahresbericht der DMV 1 (1890/91) Chronik, 7.
178 Klein an Hurwitz [UBG] Math.Archiv 77: 210. – Klein sprach im September 1891 in Halle
„Über neuere englische Arbeiten zur Mechanik“. KLEIN 1922 GMA II, 601-602.
179 Jahresbericht der DMV 1 (1890/91) Chronik, 4, 7, 11, 15-20.
180 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 8: 702 (Brief Dycks v. 30.3.1891 mit Randbemerkung Kleins).
330 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
181 Hilbert unterstützte Kleins Vorschlag (Frobenius), vgl. FREI 1985, 94, 96.
182 HASHAGEN 2003, 436; TOEPELL 1991, 352.
183 Vgl. Jahresberichte der DMV, Geschäftsberichte. – Das Geschäftsjahr begann zunächst am 1.
Januar eines Jahres und wurde nach Satzungsänderung auf den 1. Oktober festgelegt.
184 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 120. – Neben Max Noether gehörten 1899 dem Vorstand an: W.
Dyck, G. Hauck, K. Hensel, D. Hilbert, A. Voß; A. Gutzmer als Schrift- und Kassenführer.
185 Vgl. Jahresbericht DMV 27 (1918) Abt. 2, 59-60.
186 Jahresbericht DMV 33 (1925) 4; Todesanzeige in ebd., 34 (1926) 89.
6.5 Einschnitt 1892 331
Hinsichtlich Berlin und Breslau wandte sich Althoff noch am Sonntag, den 3. Ja-
nuar 1892, an Klein: „Unter diesen Umständen würde ich Ihnen sehr dankbar sein,
wenn Sie die Freundlichkeit haben wollten, mir Ihre Ansicht über die Lage und
das was zu geschehen haben wird, ausführlich mitzutheilen.“188 Althoff sandte
derartige Briefe an verschiedene Personen. Kleins Antworten schienen ihn zu
überzeugen, da er eine handhabbare Klassifikation mathematischer Denkstile als
Orientierungshilfe entwickelte. Bereits am 6. Januar 1892 schickte Klein den er-
Lazarus Fuchs, den Klein hier abwertete, hatte 1858 unter Kummer promoviert
und war seit 1884 Professor in Berlin. Kleins schwelendes polemisches Verhältnis
mit Fuchs sollte die Berliner Berufungssache beeinflussen (vgl. Anhang Nr. 5).
Damals waren drei ordentliche Mathematik-Professuren wie in Berlin die
höchste Zahl derartiger Positionen an einer deutschen Universität. Klein empfahl:
[…] als die normale Vertretung der Mathematik an einer grossen Universität eine Dreizahl
von Ordinarien […] die nicht sowohl nach dem Spezialgebiet, über welches sie arbeiten, als
nach der inneren Verschiedenartigkeit ihres mathematischen Denkens ausgesucht sein sollten.
Bei der Mannigfaltigkeit der Individualitäten kann man ja nicht schematisieren, aber im gros-
sen und ganzen sollten folgende Typen vertreten sein:
1) Der Philosoph, der von dem Begriff aus construiert,
2) Der Analytiker, der wesentlich mit der Formel operiert,
3) Der Geometer, der von der Anschauung ausgeht.190
Klein ordnete den Denkstilen Mathematiker zu: Weierstraß (Typ 1), Kronecker
(zwischen 1 und 2), Kummer (2-3), Gustav Robert Kirchhoff (2), Helmholtz (3),
L. Fuchs (1), Georg Cantor (1), H. Weber (2-3), Frobenius (2), H. A. Schwarz (3),
Lindemann (3), Sophus Lie (3), Jacob Rosanes (2), und sich selbst (3).
Somit riet Klein, in Berlin neben Fuchs (Typ 1) zu berufen: als Typ 2 Hein-
rich Weber (damals Professor in Marburg) bzw. Georg Frobenius (damals Profes-
sor in Zürich); und als Typ 3 Hermann Amandus Schwarz bzw. Ferdinand Lin-
demann. Klein hatte allerdings Schwarz mit einem gewissen Seitenhieb versehen:
Schwarz wäre nach der Klarheit seiner Vorträge u. seinem Lehreifer zweifellos in erster Linie
in Betracht zu ziehen, wenn seine Persönlichkeit nicht so überaus prosaisch u. ungelenk
wäre.191
Für Breslau, wo Jacob Rosanes (Typ 2) seit 1877 neben Heinrich Schröter einen
Lehrstuhl besaß, schlug Klein vor: Hurwitz, Schottky, Lüroth, Dyck. Klein be-
tonte Hurwitz’ außerordentliche Kreativität und dass er es wegen seiner Herkunft
aus einer jüdischen Familie schwer habe, in der Karriere voran zu kommen.192
Lüroth und Dyck bezeichnete Klein als weniger produktiv.193 Althoff beorderte
jedoch 1892 Rudolf Sturm von Münster nach Breslau und etablierte in Münster
Killing neben v. Lilienthal, damit Kleins Klassifikation von 1890 aufgreifend.194
Es ist eine viel diskutierte Frage, ob Klein nach Berlin (neben Fuchs) gegan-
gen wäre. Einige Aussagen deuten an, dass er zumindest ein Rufangebot erwartet
hatte. So lesen wir in seinem Bericht an Althoff auch:
Dass ich in den letzten Tagen verschiedentlich darüber nachgedacht habe, wie ich mich einer
an mich ergehenden Berufung nach Berlin gegenüber zu verhalten haben würde, liegt nach
den früheren Verhandlungen so auf der Hand, dass es keinen Zweck hat daraus ein Geheimnis
zu machen. […] Mein Resultat ist, dass ich zu einer Berliner Wirksamkeit im Sinne von 3) in
einigen Richtungen wohlbegabt bin, dass mir aber auf der anderen Seite eine wesentliche Ei-
genschaft abgeht: die Zähigkeit des Grosstädter’s […]
Denke ich also nun an meine eigene Zufriedenheit, so ist mir kein Zweifel, dass ich an Ort
und Stelle bleiben muss. Aber ich könnte verstehen, dass man im Kreise meiner Freunde eine
Art Pflicht für mich construierte, die centrale Stellung, wenn sie mir angeboten wird, auf alle
Fälle anzunehmen. Dann bitte ich, der Sache eine solche Wendung zu geben, dass ich per-
sönlich mehr dirigiere als ausführe. Ich bitte zugleich schon heute, mich nicht für unthätig zu
halten, wenn ich nach aussen nur wenig hervortrete. Möge hierüber ein gütiges Schicksal
walten! F. Klein195
Die genannte Pflicht hatte Robert Fricke betont – dem in Berlin die Habilitation
verwehrt worden war. Klein aber antwortete ihm am 12. Januar 1892:
Sie construiren für mich eine Pflicht, eine etwa an mich ergehende Berufung anzunehmen.
Meine Ideen bewegen sich viel mehr in der Richtung, die neu geschaffene Lage zu benutzen,
um der math.[ematischen] Schule in Göttingen neuen Aufschwung und allgemeine Bedeutung
zu geben. Wissen Sie, ob ich an einem grösseren Platz nicht in kurzer Zeit so sehr gesund-
heitlich reducirt sein würde wie 1882 in Leipzig? Und wie hoch taxiren Sie das Minimum von
Zeit, welches ich doch noch eigenen wissenschaftlichen Ueberlegungen würde widmen kön-
nen? Die Frage ist zweischneidig, wie keine und will gegebenenfalls mit Bedachtsamkeit und
ohne Leidenschaft entschieden sein.196
gen. Sie wissen, daß die Berufung von Protestanten hierher nicht immer glatt verlaufen ist;
einen jüdischen Candidaten würde das Ministerium einfach ignoriren.“ [UBG] Cod. Ms. F.
Klein 11: 1281 (Sturm an Klein, 13.8.1890).
193 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 8v.
194 Klein an Althoff, 23.10.1890: Kortum sei unproduktiv, Killing deckt sich in wiss. Hinsicht zu
sehr mit Sturm, sonst begabt […]; v. Lilienthal hätte wiss. noch wenig geleistet […]. Hurwitz,
auch Wiltheiss u. Hölder seien ebenfalls geeignet. [StA Berlin] Rep. 92 Althoff B, Nr. 92, Bl.
76-77. – Aber: Reinhold von Lilienthal hatte die Professur in Münster 1891 erhalten.
195 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 9v.
196 [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 12.1.1892.
197 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1101 (Hurwitz an Klein, 14.1.1892).
334 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
Auf eine Anfrage des Astronomen Wilhelm Förster, Mitglied der Berliner Beru-
fungskommission, antwortete Klein am 15. Januar 1892, dass er Weber und Fro-
benius für die Kronecker-Stelle, Schwarz und Lindemann als Geometer vorge-
schlagen habe und äußerte sich ausführlich über seine Konflikte mit Lazarus
Fuchs (Anhang Nr. 5). Der Kommission in Berlin gehörten neben Förster an:
Fuchs, Weierstraß, die Physiker H. v. Helmholtz und August Kundt sowie der
zweite Astronom Friedrich Tietjen. Da ihnen bewusst war, dass das Ministerium
Klein hoch schätzte, verunglimpften sie ihn in ihrer Sitzung vom 22. Januar 1892:
Weierstraß wünschte einen guten Analytiker und äußerte: „Da kommen nach
dem großen Publikum höchstens Klein und Schwarz in Betracht. Und nur dann
muß man davon absehen, wenn sie absolut nicht zu haben sind.“ Er ergänzte,
woraus hervorgeht, dass er Schwarz bevorzugte: „Schwarz bleibt bei der Stange.
Guter Vortrag. Klein nascht mehr. Blender.“ Fuchs schlug in dieselbe Kerbe: „Ich
muß mit ihm auskommen. Schwarz hat wirklich wertvolles geleistet, Klein dage-
gen (Ikosaeder ist Compilation von Schwarz und Fuchs im Feuilletonstil).“ Kundt
aber betonte: „Klein ist ein fascinirender Lehrer.“ Förster, der Kleins Ansicht ein-
geholt hatte, summierte: „Die allgemeine Meinung ist nicht so sehr für Klein. Wir
müssen Klein dem Minist.[erium] gegenüber nennen, aber hervorheben, sein Zu-
sammenarbeiten hier sei unmöglich.“ Helmholtz meldete: „Kronecker sprach sehr
ab über Klein. Er betrachtete ihn als Faiseur.“ Fuchs fühlte sich noch genötigt
hinzuzufügen: „Ich erkläre, daß ich nichts gegen Kleins persön[liche] Eigen-
sch[aften] vorzubringen habe, sondern [gegen] sein verderbliches Vorgehen auf
wiss[enschaftlichem] Gebiete. Er arbeitet nicht um der Sache willen, sondern er
schreibt Lehrbücher aus anderer Arbeit.“ 198
Die Berliner Kommission kam zu denselben Vorschlägen für die zu besetzen-
den Stellen wie Klein: Schwarz und Frobenius. Im Antrag an den Kultusminister
wurde wie folgt formuliert, um Klein nicht auf die Liste setzen zu müssen:
Vor allen Dingen aber mußte darauf Bedacht genommen werden, daß die zu Berufenden ge-
eignet sein würden, die seit Generationen an unserer Universität geübte Anleitung der Studi-
renden zu ernster und selbstloser Vertiefung in die mathematischen Probleme fortzusetzen.
Aus diesem Grunde mußte von Persönlichkeiten wie Professor Felix Klein in Göttingen (geb.
1849) abgesehen werden, über dessen wissenschaftliche Leistungen die Urtheile der Gelehr-
ten sehr getheilt sind, dessen ganze Wirksamkeit aber in Schrift und Lehre mit der eben ge-
kennzeichneten Tradition unserer Universität in Widerspruch steht.199
Althoff fuhr Ende Februar 1892 nach Göttingen, um Klein sein Nichtberufen mit
Rücksicht auf seine allgemein schwache Gesundheit sowie aufgrund der ableh-
nenden Haltung der Berliner Fakultät zu erklären.200 Klein ließ Althoff am 10.
April 1892 noch wissen: „Meine Nichtberufung nach Berlin, die ich ja persönlich
als eine glückliche Wendung begrüßte, hat ohnehin in weiten Kreisen in dieser
198 Das Protokoll ist abgedruckt bei BIERMANN 1988, 305-307. – Faiseur (Franz.), Macher,
Anstifter, Initiator, was nicht notwendig negativ zu interpretieren ist.
199 Zitiert in BIERMANN 1988, 307-308.
200 Klein an Fricke, 26.2.1892 [UA Braunschweig].
6.5 Einschnitt 1892 335
Hinsicht deprimirend gewirkt.“201 Gordan schrieb ihm dazu: „Daß Sie nicht nach
Berlin gekommen sind[,] thut mir leid, bei Ihrem umfassenden Geist hätten Sie
Ordnung in die mathematischen Verhältnisse Deutschlands gebracht.“202 Wenn
Klein auch nicht nach Berlin gegangen wäre, hatte er doch mindestens mit einem
Ruf gerechnet. Die konkurrierenden Zeitschriften, Mathematische Annalen (Zen-
trum in Göttingen) und Crelle-Journal (Zentrum in Berlin), hätten Klein aller-
dings bei einer Rufannahme vor ein schwer lösbares Problem gestellt, wie er ein
Jahr später seinen US-amerikanischen Schüler Henry S. White wissen ließ.203
Nachdem im März 1892 Schwarz’ Ruf nach Berlin zum 1. April 1892 feststand,
knüpfte Klein für Göttingen an sein Klassifikationssystem an:
Soll die Göttinger math.[ematische] Schule auf gesunder Basis weiter wachsen, so brauche
ich eine Ergänzung in der Richtung Kronecker – Weierstraß (die ich immer hochgehalten
habe, so wenig ich ihre alleinige Prävalenz gutheissen konnte). In dieser Hinsicht habe ich
früher, wie ich verschiedentlich ausgesprochen habe, immer nur an Frobenius, Hurwitz,
Schottky gedacht; erst in neuerer Zeit sind Hilbert und Minkowski als jüngerer Nachwuchs
hinzugekommen.204
Kleins bevorzugter Wunsch war der inzwischen 30-jährige Hilbert (vgl. Anhang
6.1). Klein sah kein Problem darin, dass Hilbert erst Privatdozent war. Er selbst
war einst als 23-jähriger Privatdozent ohne Zwischenstufe gleich auf eine o. Pro-
fessur gelangt. Da die Göttinger Kommission jedoch einen Privatdozenten ent-
schieden ablehnte, kämpfte Klein erfolgreich für Hurwitz (Anhang 6.2). Dieser
stand so im Berufungsvorschlag, dass Klein von dessen sicherer Berufung ausging
und mit Hurwitz schon Pläne schmiedete.205 Da der Kurator das Nennen einer
dritten Person für notwendig erklärt hatte, war noch Heinrich Weber auf die Liste
gekommen, eingebracht von Kleins „Gegenseite“ (Schwarz, Schering).206
Trotz allen Insistierens missachtete Althoff Kleins Wunsch. Althoff ließ erst
noch Georg Frobenius überlegen, ob er Göttingen oder Berlin wählen möchte.
201 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 33v-34 (Klein an Althoff, 10.4.1892). – Klein
meinte dies in Kombination mit dem Nichtberufen von Hurwitz nach Göttingen und des
bisher fehlenden Extraordinariats für Schönflies.
202 Gordan an Klein, Brief. v. 16.4.1892 [UBG] Cod. Ms. F. Klein, 9: 464, Bl. 75.
203 Vgl. hierzu SIEGMUND-SCHULTZE 1996, 18.
204 [StA Berlin] Rep. 92 Althoff A I Nr. 84, Bl. 27 (Klein an Althoff, 21.3.1892).
205 [UBG] Math. Arch. 77: 229 (Klein an Hurwitz, 17.3.1892): „Hilbert habe ich leider gar nicht
auf die Liste bringen können, da sich das Göttinger Selbstbewusstsein dagegen wehrte, dass
ein Privatdocent als Ordinarius sollte berufen werden können. Glücklicherweise würde ihm ja
wohl Ihre Beförderung indirect zu gute kommen. […]Wenn Ihnen sonst bei Ihrer Einrichtung
meine Frau ein wenig behülflich sein kann, die ja auch an Migräne etc. bei mir einige Praxis
hat, so werden Sie Das ja freundlich gestatten. Selbstverständlich müssten Sie die erste Zeit,
dass Sie in Göttingen sind, wieder bei uns wohnen […].“ Klein stimmte mit Hurwitz schon
die Lehre ab und gab die Losung aus: „Getrennt marschiren und vereint schlagen.“
206 Klein nannte die Namen im erwähnten Schreiben an Althoff v. 21.3.1892.
336 6 Start als Professor in Göttingen, 1886 – 1892
Hurwitz erfuhr mit Karte vom 2. April 1892: „Frobenius hat abgelehnt, aber nun
will Althoff noch erst mit Weber verhandeln!“ Und mit Brief vom 7. April 1892
teilte Klein Hurwitz mit, dass Heinrich Weber zum Herbst angenommen habe:
Ich befinde mich zunächst darüber in solcher Aufregung, dass ich meine Gedanken nicht
recht zu ordnen weiß. […] Aber daß wir Beide mit einander in täglichem Verkehr unsere ge-
meinsamen Ziele wetteifernd sollten fördern können, das ist offenbar ein Gedanke gewesen,
für den die Welt noch nicht reif ist, und den wir begraben müssen, weil er zu schön ist. Neh-
men Sie herzliche Grüsse, auch von meine Frau (die sich viel lebhafter aeussern würde, als
ich es hier gethan habe) und empfehlen Sie uns unbekannterweise Ihrer Frl Braut. Mögen Sie
Beide die Verstimmung, die Sie erklärlicher Weise empfinden werden, glücklich überwinden!
In alter Freundschaft Ihr F. Klein.207
Klein konnte im Gespräch mit Frobenius den Weg für Hurwitz nach Zürich eb-
nen, der ihm schließlich die telegraphische Nachricht aus Zürich vom 3. Juni 1892
meldete, „[…] dass ich vom Schweizer Schulrath zum Nachfolger von Frobenius
gewählt worden bin“, an das dortige Eidgenössische Polytechnikum.208
Klein ließ Althoff noch wissen, dass das Berufen des Kandidaten der Gegen-
seite (H. Weber) in der Fakultät als eine ihm zugefügte „Desavouierung“ [Ernied-
rigung] betrachtet würde.209 Paul Gordan – wie Hurwitz aus jüdischem Eltern-
hause, aber getauft – beruhigte Klein am 16. April 1892:
Daß Sie Hurwitz in Göttingen vorgeschlagen haben, ist recht gewesen; Hurwitz verdient diese
Auszeichnung, aber daß dieser Vorschlag nicht durchgegangen ist, das ist ein Glück für Sie,
für welches Sie Gott nicht genug danken können. Was hätten Sie von Hurwitz in Göttingen?
Sie hätten die ganze Verantwortung für diesen Juden übernommen; jeder merkliche oder
scheinbare Fehler von Hurwitz wäre auf ihre Kappe gekommen und alle Aeußerungen von
Hurwitz in Fakultät und Senat hätten als von Ihnen beeinflusst gegolten. Hurwitz hätte nur als
ein Appendix von Klein gegolten; den wissenschaftlichen Verkehr können Sie ebenso gut
schriftlich führen.210
Gordan empfahl noch bezüglich Heinrich Weber: „[…] er kann Ihnen Ihre Lehr-
thätigkeit wesentlich erleichtern; die Amerikaner und andern Ausländer wird er
Ihnen nicht abnehmen, da sind Sie ihm viel zu sehr über. Sie können sich sehr gut
zu ihm stellen; allerdings wird es gut sein, wenn Sie keinen wissenschaftlichen
Verkehr mit ihm haben.“211 Dieser Rat erstaunt, denn Weber stammte aus der Tra-
dition der Universität Königsberg, wo er – wie Clebsch – Riemanns geometrische
Anschauungsweise durch Richelot kennengelernt hatte.212
Klein fuhr bereits im April 1892 nach Cassel (heute: Kassel), um Heinrich
Weber zu treffen.213 Dieser stimmte Kleins Ideen vorbehaltlos zu. Gemeinsam
konnten sie ab 1892 wichtige Vorhaben realisieren (vgl. Abschnitt 7).
Klein erhielt im Juli 1892 einen Ruf „an erster und alleiniger Stelle“ als Nachfol-
ger auf den Lehrstuhl von Ludwig Seidel an die Universität München, mit einem
Gehaltsangebot von 12.000 Mark, der Zusicherung eines Assistenten mit einer
Dotierung von 1.500 Mark sowie entsprechender Ausstattung für ein mathemati-
sches Seminar. Der Chemiker Adolf Baeyer informierte Klein zudem mit Schrei-
ben vom 11. Juli 1892, dass das bayerische Ministerium gedenke, ihm „eine Stel-
lung einzuräumen, wodurch Sie von maßgebendem Einfluß für die Gestaltung des
mathematischen Unterrichts in ganz Bayern sein würden.“214 Der theoretische
Physiker Ludwig Boltzmann wünschte Klein neben sich und beschrieb dessen
„Allseitigkeit“ und wissenschaftliche Produktivität mit glänzenden Worten.215
Das Münchener Angebot war so großartig, dass sich Althoff aufgeschreckt
fühlte und alles daran setzte, Klein für Göttingen (Preußen) zu erhalten. Klein
hatte Althoff am 9. Juli 1892 informiert, woraufhin dieser sofort mit Schreiben
vom 11. Juli reagierte, von einem „Schreckschuß“ sprach und sein Kommen nach
Göttingen ankündigte.216
Bereits am 15. Juli unterzeichneten Althoff, Klein und der Universitätskurator
Ernst von Meier einen (Bleibe-)Vertrag217:
Göttingen, 15. Juli 1892
Herr Professor Dr. Felix Klein wird den an ihn ergangenen Ruf nach München […] ablehnen,
wogegen demselben folgendes zugesichert wird, nachdem die Frage wegen Neugestaltung der
Gesellschaft der Wissenschaften, worauf Hr. Klein den größten Werth legt, bereits gestern in
einer längeren Konferenz in die Wege geleitet ist.218
1. Es wird mit allem Nachdrucke und größter Entschiedenheit dahin gewirkt werden, daß Hr.
Klein vom 1. Oktober d.J. ab eine Gehaltserhöhung von 2000 (zweitausend) Mark erhält. So
lange dies nicht erreicht ist, wird Hr. Klein eine jährliche Remuneration von gleichem Be-
trage bekommen.
2. Für das Lesezimmer des mathematischen-physikalischen Seminars wird in diesem und im
nächsten Rechnungsjahr ein Zuschuß von im ganzen 3000 M. (je 1500 oder jetzt 1000 und
1893/94 2000 M.) gewährt werden.
3. Die Universitäts-Bibliothek wird 6000 M. in etwa 10 Jahresraten (die erste in diesem Rech-
nungsjahre) bekommen, um damit Lücken in den mathematischen (inclus. Physik & Astrono-
mie) Beständen nach den Anträgen des Hr. Klein auszufüllen.219
In den Verhandlungen überzeugte sich Althoff davon, das Kleins Wünsche bevor-
zugt dem allgemeinen Interesse der Einrichtungen in Göttingen galten. Kleins
Bleiben in Göttingen wurde noch mit einem Orden honoriert, diesmal der Rote
Adlerorden III. Klasse mit Schleife (14. November 1892).221
Für die Universität München empfahl Klein seinen Schüler Ferdinand Linde-
mann, der ihm schon massiv gedroht hatte, die Freundschaft zu kündigen, weil er
ihn nicht neben sich nach Göttingen gewünscht hatte.222 Die Position in München
war in den Briefen von Klein und Lindemann – der unbedingt aus Königsberg
weg wollte – schon länger virulent. Klein deutete an, dass es in München möglich
sein könnte. Lindemann zweifelte daran, weil ihm aus Freiburg i.Br. (Baden) mit-
geteilt worden war, dass er dort nur deshalb nicht in Frage gekommen sei, weil
Klein ihn empfohlen habe.223 Aber in Bayern zählte Kleins Wort: Lindemann
wurde berufen. Auch wenn Lindemann in der Folgezeit manche Fehlleistung (z.B.
Beweisversuch des Großen Fermatschen Satzes, 1908) erbringen sollte, so führte
er doch noch einige gute Mathematiker zur Promotion, darunter Emil Hilb (1903)
und Arthur Rosenthal (1909), die auch an Projekten von Felix Klein mitarbeiten
sollten.
Auf diesen „Felix Klein-Fonds in Höhe von jährlich 800 – 1000 M“ verwies der Direktor der
Göttinger Universitätsbibliothek Richard Fick noch am 15.7.1927 in einer „Denkschrift btr.
Lückenergänzung auf dem Gebiete der Mathematik und Naturwissenschaften“ und beantragte
einen neuen derartigen Fonds. [UAG] Math.Nat. 0047, Nr. 32.
220 [franz.] ancienneté, Altersstufe. – Dieser Punkt wurde nicht realisiert, vgl. JACOBS 1977
(Personalia, Klein 22, Bl. 5). Die älteren Professoren H. Weber und J. Wellhausen (Theologe)
bezogen ein geringeres Gehalt.
221 [UAG] Kur. 5956, Bl. 52.
222 Lindemann schrieb sich selbst überschätzend am 29.2.1892: „[…] dass ich doch etwas ge-
wichtigere Leistungen aufzuweisen habe als Hurwitz. Wenn Sie gerade Hurwitz […] nehmen,
ohne mich zu berücksichtigen, so stellen Sie mich in der ganzen Welt blos[s]; Sie fügen mir
eine Beleidigung zu, die ich nicht verdient habe […].“ [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1C: 2, Bl.
7v-8.
223 Ebd., Bl. 16v; Lindemann an Klein, 12.3.1892.
7 WEICHENSTELLUNGEN, 1892/93 – 1895
Felix Klein markierte die Jahre seit 1892/93 als neue Periode, „[…] die durch das
Überwiegen der organisatorischen Arbeiten gekennzeichnet ist.“1 Nachdem Alt-
hoff über Schwarz’ Ruf nach Berlin informiert hatte, erbat der Göttinger Universi-
tätskurator Ernst von Meier Kleins Vorschläge für das mathematische Institut.
Klein begründete daraufhin am 29. Februar 1892, dass die bisher getrennten Ein-
richtungen (Lesezimmer, Seminarbibliothek, Modellsammlung) zu vereinen sowie
ein bezahlter Assistent und ein mathematisches Extraordinariat notwendig seien
(vgl. Anhang Nr. 7). Er hatte Mathematik in ihrem ganzen Umfange im Auge und
ließ erkennen, dass er die Pläne mit einem jüngeren Kollegen realisieren wolle.
Klein stellte zugleich Weichen für die eigene Position. Er sicherte sich Schwarz’
bisheriges Amt, indem er „die Übertragung des Directoriums der Sammlung ma-
thematischer Instrumente und Modelle an mich selbst in Anregung“ brachte.2 Das
Ministerium bestätigte dies mit Schreiben vom 13. April 1892.3
Klein erhielt zwar nicht den gewünschten jüngeren Kollegen, sondern zum
Oktober 1892 den sieben Jahre älteren Heinrich Weber neben sich (und Schering).
Aber bereits im Mai schrieb Klein jubelnd an Robert Fricke: „Ich freunde mich
unterdessen mit Weber immer mehr an. Dann wollen wir im Winter ein neues
Leben beginnen, das unter dem Zeichen der frohen Zuversicht stehen soll!“4 Klein
informierte ebenso Althoff, dass Weber die wichtigsten Vorhaben unterstützen
werde, die Schwarz zuvor behindert hatte: das Extraordinariat für Schönflies; die
Umhabilitation Frickes von Kiel nach Göttingen; den abgestimmten Betrieb.
Fortan regelte eine „Conferenz der Seminardirectoren“ den Lehrbetrieb. Da
Weber mehr auf Zahlentheorie in der Lehre steuere, lenkte Klein Burkhardt und
Fricke auf Funktionentheorie. Schönflies verantwortete die Anfangssemester und
Darstellende Geometrie mit Übungen. Schering übernahm die von Schwarz für
1886 angekündigte Lehre.5 Als eigenes weites Programm forschungsorientierter
Lehre plante Klein, sich zunächst der Geometrie zu widmen und dann zu werfen,
[…] sobald ich erst wieder neue Bahn vor mir sehe, erneut auf die linearen Diffglch. und
bringe auch die, soweit es angeht, zu zusammenhängender Publication! Dann endlich kann
ich an Zahlentheorie, an Wahrscheinlichkeitsrechnung, an Mechanik heran und damit zu einer
wirklich weit ausgreifenden mathematischen Thätigkeit!6
339
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R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_7
340 7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895
Bei diesem Programm konnte sich Klein nun auch in Göttingen erstmals auf einen
Assistenten stützen (Abschnitt 7.1).
Weber erwies sich bei weiteren Projekten als guter Partner. Er wurde am 26.
November 1892 o. Mitglied der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, nach-
dem dies geänderte Statuten leichter ermöglichten.7 Klein zog Weber in den Kreis
der Mathematischen Annalen, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. Weber war
viel eher als die dienstälteren Redaktionsmitglieder bereit, Hilbert zu integrieren
und damit die Annalen „möglichst Schritt halten zu lassen mit den modernen
Fortschritten der Mathematik“.8 Im Herbst 1892 gründeten Klein und Weber die
Göttinger Mathematische Gesellschaft (Abschnitt 7.2). Weber unterstützte den
Kontakt zu den Lehrerkreisen (7.3). Er engagierte sich für die DMV (Abschnitt
6.4.4) und war an der Gründungsidee des Mathematischen Wörterbuches (ENCY-
KLOPÄDIE) beteiligt (Abschnitt 7.4). Obwohl Klein meinte, Weber habe damals
den Zenit seiner Leistungsfähigkeit bereits überschritten, schätzte er ihn und ur-
teilte später, dass dieser wohl der vielseitigste Vertreter seiner Generation gewe-
sen sei, die „1. Invariantentheorie, 2. Gleichungstheorie, 3. Funktionentheorie, 4.
Geometrie und 5. Zahlentheorie mehr oder weniger in Kontakt gehalten“ hatte.9
Klein besaß einen ungebrochenen Arbeitseifer. Als er sich Ende April 1893
einer Operation unterzog, die der Direktor der chirurgischen Universitäts-Polikli-
nik Friedrich Julius Rosenbach erfolgreich durchführte, setzte er nur kurz mit der
Lehre aus. Hurwitz erfuhr, dass es sich um einen alten Brustschaden, von 1857
her handelte, der in der letzten Zeit störte. Klein lag vier und eine halbe Woche
auf dem Krankenlager, hielt aber bereits im Mai von dort aus 15 Vorträge über
Zahlentheorie (vgl. 8.2.2).10 Seine Vorlesung Höhere Geometrie (II) und das Se-
minar über Wahrscheinlichkeitsrechnung begann er im Juni 1893.
Zur selben Zeit bereitete Klein seine erste, nun auch ministeriell geförderte
Reise in die USA vor, die ihm nicht nur weitere internationale Aufmerksamkeit
(7.5), sondern auch neue Ideen für Göttingen bescheren sollte. Diese betrafen das
mathematische Frauenstudium (7.6), das Etablieren von Versicherungsmathema-
tik (7.7), sowie das Einwerben finanzieller Mittel aus der Industrie (7.8).
Bei der Dekanatswahl der Philosophischen Fakultät am 4. Mai 1894 fielen 18
von 31 Stimmen auf Klein, 13 auf den Mineralogen Theodor Liebisch.11 Klein
nahm an und nutzte das einjährige Amt als Dekan für den Ausbau von Mathema-
tik und Naturwissenschaften. Er sicherte das längere Bleiben des späteren Nobel-
preisträgers Walther Nernst und auch den Ruf von David Hilbert. (7.9)
In einem Brief an Hurwitz, seit 1892 Professor am Polytechnikum in Zürich,
spielte Klein die Vielfalt seiner Aktivitäten als allerlei Allotria12 herab:
7 Zeitgleich wurden Auswärtige Mitglieder: Sophus Lie (Korr. seit 1872), einstimmig; Henri
Poincaré (Korr. seit 1884), 3 Gegenstimmen; Korres.: Heinrich Bruns, Max Noether u.a. ein-
stimmig; Adolf Hurwitz, 4 Gegentimmen. [AdW Göttingen] Chro 4,6: 119-21.
8 Klein an Hilbert, 4.10.1894 in FREI 1985, 93.
9 KLEIN 1926, I, 327; Voß, A.: „Heinrich Weber“. Jahresbericht DMV 23 (1914) 431-44.
10 Klein an Hurwitz, 4.6.1893 [UBG] Cod. Ms. Klein 9: 248; KLEIN 1923 GMA III, Anhang 8.
11 [UAG] Phil. Fak. Protokollbuch (1889-1905), Bl. 102. – Liebisch erhielt das Amt 1896-97.
12 altgriechisch: allótria, „fremdartige, nicht zur Sache gehörige Dinge“
7.1 Kleins Assistenten und seine Auswahlprinzipien 341
Ich bin ein schlechter Correspondent geworden. Das hat wohl einen Grund darin, dass ich ne-
ben meiner laufenden wissenschaftlichen Beschäftigung allerlei Allotria in Angriff genom-
men habe. Ich habe einmal mehr versucht (wahrscheinlich vergeblich) etwas mehr Beziehung
zwischen Hochschule und Technik herzustellen, wozu ja Ihre Züricher Anstalt ein leuchten-
des Vorbild ist. Dann habe ich viel Zeit darauf verwandt, den Gymnasiallehrern näher zu
kommen: ich war u.A. Pfingsten in Wiesbaden bei der Versammlung der Herren und habe je-
denfalls das erzielt, dass zum nächstjährigen Versammlungsort Göttingen gewählt ist. Um das
Maass voll zu machen, habe ich letzthin auch noch das Dekanat der Facultät für das Jahr vom
1. Juli ab übernehmen müssen. Ich werde froh sein müssen, wenn es mir gelingt, meine Auto-
graphien in der bisherigen Weise weiterzuführen und übrigens durch junge Leute die Unter-
suchungen, die mir am Herzen liegen, fördern zu lassen.13
Klein war sich bewusst, dass die eigene kreative Arbeit unter den sonstigen Akti-
vitäten leiden musste. Das allerlei Allotria erwies sich allerdings als eine notwen-
dige Bedingung für das Entstehen eines internationalen Zentrums der Mathematik,
Naturwissenschaften und Technik in Göttingen (vgl. Kapitel 8.1).
Klein hatte 1877 an der TH München für seinen Assistenten 1000 M Jahresgehalt
erkämpft (vgl. 4.1.2). An der Universität Leipzig hatte er mit Beginn des dritten
Semesters einen etatsmäßigen Assistenten erhalten (vgl. 5.2). In Göttingen konnte
er, ebenfalls als erster Mathematiker dort, gemäß Erlass Nr. 999 vom 19. April
1892 einen Assistenten anstellen. Klein beantragte am 22. April 1892 beim Ku-
rator, Hrn. Cand. math. Fritz Schilling mit dem Amt zu betrauen. Das Ministe-
rium verfügte die Stelle rückwirkend zum 1. April 1892, mit „[…] einer jährlichen
Remuneration von 600 M und unter dem Vorbehalt einer jederzeitigen sechswö-
chigen Kündigung mit der die Verpflichtung angenommen werde, neben der ihm
in dieser Eigenschaft zu übertragenden dienstlichen Obliegenheiten auch die Be-
aufsichtigung des Lesezimmers zu übernehmen.“ Lebenslauf und Zeugnisse des
Kandidaten waren jeweils an das Ministerium zu senden.14 Als ihm die Bayeri-
sche Staatsregierung im Juli 1892 1500 M für einen Assistenten an der Universität
München anbot, konnte Klein bei den Bleibeverhandlungen wenigstens 1200 M
für die Assistenz in Göttingen sichern (vgl. 6.5.2).
Schilling arbeitete zunächst (unbezahlt bzw. gering bezahlt) Kleins Vorlesun-
gen zur Nicht-Euklidischen Geometrie aus und setzte mit Höherer Geometrie der
Semester 1892/93 und 1893 fort. Schilling blieb Assistent bis zum 30. September
1893, absolvierte sein Gymnasialprobejahr und promovierte danach bei Klein.15
Er kehrte 1899 als Extraordinarius noch einmal nach Göttingen zurück. Es war
Schönflies’ bisherige Stelle, aus der 1904 das Ordinariat für Carl Runge erwuchs.
Obgleich Klein im Brief an Althoff der Sache noch eine allgemeine Wendung
gab, wie er es ausdrückte, blieb der Antrag ohne Erfolg. Klein argumentierte ei-
nerseits, dass es auch im Interesse der Gymnasien sei, jüngere Leute länger bei
der Wissenschaft zu halten und dass andererseits das arme Göttingen kaum mit
Berlin concurrenzfähig bleiben könne. In Berlin gäbe es zahlreiche Institute, die
Physikalisch-Technische Reichsanstalt u.a., wo Abgänger der Universität eine
wissenschaftliche Karrieremöglichkeit hätten. Dies fehle in Göttingen.
Beim Antrag für Ritters Assistenz unterstrich Klein, „[…] dass ich an ihm
eine Kraft zu gewinnen hoffe, die vielleicht geeignet ist, später in unseren Lehr-
körper einzutreten.“19 Ritter arbeitete diejenigen Vorlesungen aus, die Klein im
Winter 1893-94 (Hypergeometrische Funktionen) und im Sommer 1894 (Lineare
Differentialgleichungen 2. Ordnung) hielt.20 Nebenher vollendete er im Sommer
1894 seine Habilitation und erhielt zum Oktober 1894 ein Privatdozentenstipen-
16 Manchen Assistenten (z.B. Ritter) überließ Klein aus Zeitgründen die volle Verantwortung.
17 Vgl. KLEIN 1923a Autobiographie, 23.
18 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1C: 2, Bl. 71, Briefentwurf an Althoff.
19 [UAG] Kur. 7554, Bl. 10.
20 Vgl. Kleins Selbstreferate zu diesen Vorlesungen, die er in den Math. Ann. publizierte, KLEIN
1922 GMA II, 578-97; und KLEIN 1923 GMA III, 741.
7.1 Kleins Assistenten und seine Auswahlprinzipien 343
dium. Ritter hatte seit seiner Dissertation (Die eindeutigen automorphen Formen
vom Geschlechte Null, eine Revision und Erweiterung der Poincaré’schen Sätze“.
Math. Ann. 41 (1893) 1-82) an Kleins Programm zum Ausbau der Theorie der
automorphen Funktionen mitgearbeitet.21 Klein bezog Ritter – wie Burkhardt und
Schilling – in weitere konzeptionelle Beratungen mit Fricke ein.22 So schrieb
Fricke denn auch in der Vorrede zu Band I der Monographie über automorphe
Funktionen, dass die Gründlichkeit und Schärfe Ernst Ritters wertvolle Vorarbeit
leistete, um für den nächsten Band den Stoff logisch zu gliedern.23 1895 folgte
Ritter einem Ruf an die Cornell University in Ithaca, USA, wohin Klein den Weg
geebnet hatte (Abschnitt 7.5.3). Er verstarb jedoch kurz nach der Überfahrt in ei-
nem New Yorker Krankenhaus an Typhus, was Klein besonders schmerzlich traf.
Ritter gehörte zu den wenigen Personen, für die Klein einen Nachruf verfasste.24
Zum 1. Oktober 1894 übernahm der schon in den Fußstapfen stehende Arnold
Sommerfeld das Assistenten-Amt. Dieser war nach Promotion 1891 bei Linde-
mann in Königsberg über private Kontakte als Assistent zum Göttinger Mineralo-
gen Theodor Liebisch gelangt. Sich mehr für Mathematik interessierend, studierte
Sommerfeld nebenher Kleins Vorlesungen im Lesezimmer, insbesondere diejeni-
gen über partielle Differentialgleichungen der Physik. Klein hatte Sommerfeld
zuvor erprobt, indem er ihn bereits am 5. Dezember 1893 über sein Dissertati-
onsthema „Die willkürlichen Functionen in der mathematischen Physik“ in der
Mathematischen Gesellschaft vortragen ließ und mit weiteren Aufgaben betraute:
Nächstens soll ich wieder vortragen, über neuere französische Arbeiten. Klein organisiert al-
les um sich herum, er hat nicht die Zeit diese Dinge alle zu lesen und will sich darüber vortra-
gen lassen. Er hat sich für mich ein bestimmtes Arbeitsgebiet sehr geschickt ausgedacht. Über
meinen vorigen Vortrag soll ich eine kurze Abhandlung für die Mathematischen Annalen
baldigst schreiben.25
Während Sommerfeld die Zeit bei Liebisch bald als vertan ansah, zog ihn Klein
an, geistreich, kenntnisreich, offen und ehrlich, wie er seine Eltern wissen ließ.26
Er fand noch vor der Assistentenzeit in Diskussion mit Klein ein Habilitations-
thema, stellte Anfang August 1894 Ergebnisse in der Mathematischen Gesell-
schaft vor, wovon Klein Teile (die Integration der partiellen Differentialgleichung
Δu + k2u = 0 auf einer Riemannschen Fläche betreffend), in der Göttinger Gesell-
schaft der Wissenschaften präsentierte.27 Sommerfeld habilitierte sich in Mathe-
21 KLEIN 1923 GMA III, 745; Ritter, E.: „Die multiplicativen Formen auf algebraischen Gebil-
den beliebigen Geschlechtes mit Anwendung auf die Theorie der automorphen Formen“.
Math. Ann. 44 (1894) 261-374; ders.: „Die Stetigkeit der automorphen Functionen bei stetiger
Abänderung des Fundamentalbereiches“. Math. Ann. 45 (1894) 473-544; 46 (1895) 200-48.
22 [UA Braunschweig] Klein an Fricke, 9.3.1892; 13.9.1894; vgl. Abschnitte 6.3.4 und 8.1.3.
23 FRICKE/KLEIN 1897, Vorrede, VIII; und FRICKE/KLEIN 1912, Vorrede, VII.
24 Klein, F.: „Ernst Ritter†“. Jahresbericht der DMV 4 (1897) 52-54 (datiert 25.9.1895).
25 Sommerfeld an seine Mutter, 5.1.1894, zitiert nach ECKERT 2013, 80. – Sommerfeld, A.
(1894): „Zur analytischen Theorie der Wärmeleitung“. Math. Ann. 45, 263-77.
26 Sommerfeld an die Eltern, 27.6.1894, zitiert nach ECKERT 2013, 72.
27 Sommerfeld, A. (1895): „Zur mathematischen Theorie der Beugungserscheinungen“. Göttin-
ger Nachrichten, Math.-physikal. Klasse aus dem Jahre 1894, Nr. 4, 338-42.
344 7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895
matik (11.3.1895), während sich Klein in Montreux (Schweiz) erholte. Klein ver-
traute ihm und verließ sich darauf, dass Sommerfeld auch das Renovieren des
Lesezimmers gut managte, das sich damals im zweiten Stock des Auditorienge-
bäudes befand. Klein hatte vorausschauend die wachsende Zahl männlicher und
weiblicher Lesesaal-Benutzer (Sommer 1895: 35; Sommer 1905: 245) bedacht.
Bei Sommerfeld wich Klein vom „[…] Grundsatze, einen Assistenten immer
nur für ein Jahr zu behalten“, ab.28 Er blieb zwei Jahre, arbeitete Kleins Vorlesun-
gen zur Theorie des Kreisels und zur Zahlentheorie29 aus und berichtete begeis-
tert: „Sorgfältigst präpariert, eindringlichst vorgetragen, jede Stunde ein kleines,
auch stilistisch abgerundetes Meisterwerk; alle 10 Minuten ein zusammenfassen-
des Diktat in prägnanter Form.“30 Sommerfeld sprach zwar auch von Kleins
„Hetzpeitsche“, opferte aber weiterhin viel Freizeit für dessen Projekte. Zum
Kreisel-Projekt (vgl. 8.1.3) traten die ENCYKLOPÄDIE und ein Register für die
ersten fünfzig Bände der Mathematischen Annalen. Für Letzteres konnte Sommer-
feld seine Ehefrau Johanna, Tochter des zum 1. April 1894 neu ins Amt getre-
tenen Universitätskurators Ernst Höpfner, einspannen. Sie prägte den aussage-
kräftigen Begriff „Felix-Dienst“.31 Unter Mitarbeit an Kleins Projekten wurde
Sommerfeld vom Mathematiker zum Physiker: 1897 Mathematik-Professur an der
Bergakademie Clausthal; Mechanik-Professur an der TH Aachen (1900); 1906
Professur für theoretische Physik (1906) an der Universität München.
Der griechische Mathematiker Constantin Carathéodory, der 1913 Kleins
Nachfolger werden sollte, urteilte:
Von den Assistenten Kleins, die im Prinzip jedes Jahr wechselten, sind die meisten angese-
hene und bedeutende Forscher geworden. Bewunderungswürdig war die Sicherheit, mit der
Klein unter seinen Zuhörern die Auswahl zu diesem Vertrauensposten traf; merkwürdiger
aber noch die Kunst, mit der er von jedem dieser jungen Männer, je nach der Art ihrer Bega-
bung, die höchsten Leistungen erzielen konnte, und dies auf eine Weise, welche die Ent-
wicklung der Persönlichkeit des Betreffenden nicht beeinträchtigte, sondern förderte. Diese
höchste Lebensweisheit, die in keinem der mir bekannten Fälle versagt hat, ist der Schlüssel
für das Verständnis, des einzigartigen Einflusses, den Klein auf den Unterricht, die Pflege
und die Fortentwicklung der Mathematik in Deutschland ausgeübt hat.32
Carathéodorys Urteil stimmt bis auf kleinere Abweichungen. Unter den weiteren
19 Assistenten, die Klein für die Zeit vom 1. Oktober 1896 bis zum 30. September
1921 auswählte,33 befanden sich einige, die er ebenfalls länger als ein Jahr mit
dem Amt betraute: C. H. Müller, R. Schimmack, A. Timpe, Ludwig Föppl34, E.
Hellinger und weitere seit dem Ersten Weltkrieg, als Personalmangel herrschte.
Der Mangel an geeignetem Personen bedingte wohl auch den einzigen Irrtum:
Assistent Walther Graefe (vgl. 9.2, Tab. 10). Generell lautete Kleins Ansicht:
[…] ich greife auf denjenigen Candidaten, der den Pflichten des Assistenten am eifrigsten
und geschicktesten genügen möchte. Eine mathematische Promotion ist nur mit ausschliessli-
cher Concentration auf ein einzelnes Thema zu erreichen. Dem steht die Assistentenpflicht
(die ich dann auch immer auf kurze Zeit, meistens ein Jahr, beschränke) gegensätzlich gegen-
über: sie hindert, sowie jetzt bei unserem Betriebe die Verhältnisse liegen, den Candidaten
geradezu, auf die Promotion hinzuarbeiten; sie fördert die Entwickelung seiner allgemeinen
Persönlichkeit, aber nicht seine wissenschaftliche Qualification in einer Spezialfrage.35
Klein unterstützte die Karrieren seiner Assistenten, verfasste jedoch keine Eulo-
gien, wie das Urteil über Moritz Weber dokumentiert. Weber äußerte sich postum
euphorisch über Klein (vgl. 6.2.3). Klein sah dessen mathematische Fähigkeiten
jedoch kritisch und entwickelte eine generelle Idee für die Berufungspolitik, als es
1901 um eine Mechanik-Professur für Weber ging. Dieser hatte an der TH Han-
nover als Regierungsbaumeister abgeschlossen, war 1896/97 als Kleins Assistent
und danach beim ersten Projekt der Elektrifizierung der Berliner Stadtbahn und
der Wasserversorgung des Bahnhofs Charlottenburg tätig. Klein schrieb:
Moritz Weber ist ein sehr liebenswürdiger und zuverlässiger Mann, dem ich gewiß förderlich
sein möchte, wo es angeht. Ich muß aber sagen, dass ich ihn für schwach begabt halte (trotz-
dem er, oder vielleicht gerade weil er seiner Zeit die Hannoverschen Examina mit ausge-
zeichnetem Erfolg bestanden hat). Er hatte als mein Assistent die Elementarvorlesungen, wel-
che ich damals für 2tes und 3tes Semester hielt: Integralrechnung und Differentialgleichungen
(Winter 96/97, Sommer 97) für das Lesezimmer auszuarbeiten und hat dies mit einem ganz
unglaublichem Fleisse getan (4 – 5 Stunden täglich!), ohne doch dahin kommen zu können,
das Wesentliche einfacher mathematischer Ueberlegungen klar und präcis zu bezeichnen.
Moritz Weber erreichte dennoch Professuren für Mechanik (TH Hannover 1904,
TH Berlin-Charlottenburg 1913). Aber auch Klein hatte Erfolg mit seiner spe-
ziellen Berufungsrichtlinie. Beispiele nach der einen Seite sind die Wege seiner
Assistenten Arnold Sommerfeld und Karl Wieghardt (vgl. 8.2.4), nach der ande-
ren Seite Ludwig Prandtls Ruf an die Universität Göttingen (8.1.2).
Die Assistentenstelle bei Klein blieb lange die einzige für einen Mathematik-
Professor in Göttingen. Hilbert hatte zunächst nur Privatassistenten, wie z.B. Max
Born.37 Erst 1904 erhielten er und Minkowski einen gemeinsamen, bezahlten
Assistenten. Der Erste, Ernst Hellinger, bezog 600 M und wenig später 900 M.
Carl Runge (Ordinarius für angewandte Mathematik ab 1904, vgl. 8.1.2) musste
sich anfangs wie der erwähnte Extraordinarius Fritz Schilling mit einem Hilfsas-
sistenten (300 M, später 600 M) begnügen, ab 1912 ein Assistent mit 1500 M.38
Die Göttinger Mathematische Gesellschaft vereinte seit Herbst 1892 die Professo-
ren der Mathematik, Privatdozenten, Assistenten und Doktoranden einmal wö-
chentlich zu Vorträgen mit Diskussion. Klein erreichte damit etwas, was er zuvor
vergeblich angestrebt hatte. Dieses Gremium ohne Statuten wurde zugleich ein
Organ für Klein, mit dem er gemeinsame Aufgaben und Projekte managte.
Tabelle 7: Vorträge in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft, 1892/93
Prof. Heinrich Weber:
1) Über die Theorie der Abel’schen Functionen vom Geschlechte p=3.
2) Notizen über elliptische Modulargleichungen und über Invarianten der binären biquadrati-
schen Formen.
3) Zahlentheoretische Untersuchungen aus dem Gebiete der elliptischen Functionen.
Prof. Felix Klein:
1) Über zahlentheoretisch-geometrische Entwicklungen (insbesondere im Anschluss an Her-
mite und Selling) und über die Gittertheorie.
2) Über Lie’s Kugelgeometrie und über die auf der Transformation höherer Raumelemente
basierenden geometrischen Entwicklungen.
Prof. Arthur Schönflies:
1) Geometrische Theorie der geradlinigen Dreiecke.
2) Referat über Hilbert’s invariantentheoretische Arbeiten.
Prof. Franz Meyer (Bergakademie Clausthal):
Über die Discriminanten von Singularitätengleichungen.
Dr. Heinrich Burkhardt:
1) Beitrag zur Theorie der Vectorfunctionen.
2) Referat über Schottky’s Buch „Die Abel’schen Functionen vom Geschlechte 3“.
Dr. Robert Fricke:
1) Über arithmetisch-gruppentheoretische Entwicklungen in der Theorie der automorphen
Functionen.
2) Über formentheoretische Methoden in der Theorie der Modulargleichungen.39
39 Quellen: [UBG] Math. Archiv 19I, Bl. 171-86; [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22H, 22L, 21B,
21G: (Math. Gesellschaft, 1907-1911, Notizen Kleins). – Seit 1901 erschienen Berichte über
die gehaltenen Vorträge im Jahresbericht der DMV (Rubrik Mitteilungen und Nachrichten).
40 Diestel wurde Bibliothekar in Göttingen bzw. Hannover, vgl. TOEPELL 1991, 84.
41 [BBF] Personalblätter.
7.2 Mathematische Gesellschaft zu Göttingen 347
Drittens. Klein leitete die Sitzungen ein, lieferte zu Semesterbeginn einen Ferien-
bericht über wissenschaftliche Aktivitäten, benannte Veränderungen im Lehrkör-
per und verwies auf neue Literatur, die er aufgrund der bei den Bleibeverhand-
lungen 1892 erkämpften Mittel weiterhin anschaffen lassen konnte. In der Sitzung
vom 7. Juli 1908 lenkte er die Aufmerksamkeit z.B. auf die Dissertation von Frl.
Nöther (Erlangen, publiziert im Crelle-Journal).48 Klein erfragte zu Beginn der
Semester mögliche Diskussionsthemen (Welche Themen liegen bereit?) und regte
selbst Debatten über zentrale Gegenstände an, so 1905 über Poincarés Arbeiten
(vgl. 10.1); 1908 über das Flugproblem; 1911 das Relativitätsprinzip (vgl. 8.2.4 );
1918 über Einsteins Theorie (vgl. 9.2.2). Dass die Vortragenden mit kritischem
Blick zu rechnen hatten, überlieferte nicht nur Max BORN (1975: 191-93).
Viertens. Die Gesellschaft erwies sich als geeignetes Gremium, um Gäste zu
begrüßen und vortragen zu lassen. Als erster Gast reiste dazu Kleins „Schüler“
Franz Meyer (vgl. 4.2.4.2) aus dem ca. 60 km entfernten Clausthal 1892-93 an.
Dessen unterbreitete Buch-Idee über Fortschritte in der neueren Geometrie, mit
dem Titel-Vorschlag „Der Geist der modernen Geometrie, von F. Klein und F.
Meyer“,49 münzten Klein und Heinrich Weber in die ENCYKLOPÄDIE um (vgl. 7.4).
Wenn ausländische Gäste zeitweilig in Göttingen weilten, hieß Klein diese am
Beginn der entsprechenden Sitzung willkommen, so z.B. den Amerikaner David
Eugene Smith (7.7.1908) oder die russische Mathematikerin Nadjeschda von Ger-
net, die 1901 bei Hilbert promoviert worden war und auch bei Klein gehört hatte.
Als Dozentin in St. Petersburg besuchte sie Göttingen regelmäßig in den Som-
mern vorm Ersten Weltkrieg. Klein begrüßte sie in den Sitzungen (21.7.1908;
9.8.1909; 26.7.1910) und gewann sie als Kontaktperson zu anderen russischen
Mathematikern, als er ab 1908 die IMUK-Arbeiten managte (vgl. 8.3.4).
Für besondere Gäste organisierte Klein Festsitzungen in der Mathematischen
Gesellschaft, erstmals am 10. Juni 1895 für Henri Poincaré.50 Dabei sprach neben
Poincaré (Über den Existenzbeweis des räumlichen regulären Potentials, wenn die
Werte des Potentials auf einer Fläche S vorgeschrieben sind) auch Hilbert (Die
Grundzüge der Diskriminante des Galois’schen Zahlkörpers), der im April 1895
seine Professur in Göttingen angetreten hatte (vgl. 7.9). Klein leitete diese Sitzung
mit Bemerkungen über die gerade erfolgreich absolvierte Versammlung des Leh-
rer-Fördervereins (vgl. 7.3) ein. Später inszenierte er weitere Festsitzungen (und
eigene Rede-Dispositionen) für herausragende Forscher. Dazu gehörte H. A. Lo-
rentz, der im Oktober 1910 Vorträge hielt, die aus den Zinsen der Wolfskehl-
Stiftung finanziert werden konnten. Als der Nobelpreisträger Albert Abraham
Michelson im Rahmen des deutsch-amerikanischen Austauschprogramms ein
Semester lang als Gastprofessor in Göttingen weilte, legte Klein legte eine Fest-
sitzung der Mathematischen Gesellschaft auf den 2. Mai 1911 und bat zu weiteren
Treffen: „Heute abend: Michelson auf dem Rohns“ (1.8.1911). Auch Albert Ein-
stein (vgl. 9.2.2) und weitere Forscher fanden in der Mathematischen Gesellschaft
ein Podium.
Fünftens. Die von Klein initiierte Organisationsform setzte Heinrich Weber
ab Herbst 1895 an der Universität Straßburg fort. Weber bildete dort mit Adolf
Krazer eine Mathematische Gesellschaft „nach Göttinger Muster“, wie er Klein
informierte.51 Diese Tradition lebt noch heute an mathematischen Fachbereichen.
Wie aus Hilberts oben zitierten Worten hervorgeht, agierte Klein in der Göt-
tinger Mathematischen Gesellschaft noch als Emeritus als anerkanntes „Haupt“.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts empfanden ihn manche Studenten als unnahbar
großen Gelehrten und betitelten ihn mit Felix Augustus.52
Im September 1890 trafen sich in Jena Lehrer der Mathematik und Naturwissen-
schaften höherer Lehranstalten und beschlossen, einen Verein zur Förderung des
mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts (kurz: Förderverein) zu
gründen.53 Die Vereinsmitglieder erstrebten eine gleichberechtigte Position neben
den Kollegen der philologisch-historischen Fächer und einen lebensnahen Unter-
richt. Klein unterstützte die Ziele des Vereins, besuchte dessen Tagung 1894 in
Wiesbaden und veranlasste, dass die Jahrestagung 1895 nach Göttingen gelegt
wurde. Er kooperierte mit dem Verein in der folgenden Unterrichtsreform (vgl.
8.3.4) und avancierte am 25. April 1917 zum Ehrenmitglied.54
Kleins Interesse an der Lehramtausbildung besaß inhaltliche Gründe, die er
früh benannt hatte (vgl. 3.2). Da die Hörerzahl in den 1890er Jahren einen Tief-
punkt erreicht hatte, trat ein pekuniärer Aspekt als Motiv hinzu. Klein erhielt in
Göttingen für eine vierstündige Vorlesung 20 Mark Hörergeld pro Student, für
eine zweistündige 10 Mark. Die jährliche Summe betrug bis etwa zum Jahre 1893
zwischen 310 und 500 Mark. Mit der wachsenden Zahl von Studierenden stieg
sein Hörergeld seit ca. 1900 weit über 1000 Mark.55
Bereits vor der Kontaktaufnahme mit dem Förderverein hatte Klein das Po-
tential von Fortbildungskursen für bereits in der Praxis stehende Lehrer erkannt.
Für naturwissenschaftliche Fortbildung bestanden Kurse seit 1890 in Berlin und in
Frankfurt/Main. Klein etablierte derartige Kurse erstmals für Mathematik. Nach-
dem im Oktober 1892 der erste Kurs mit dem Schwerpunkt „Modelle und Kreisel-
theorie“ in Göttingen gelaufen war, wollte Klein die Interessen der Gymnasial-
51 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 12: 210 (H. Weber an Klein, 13.6.1895).
52 Vgl. LIETZMANN 1925, 257.
53 Kongressbericht in: ZmnU 21 (1890) 611-32. – In England gab es bereits seit 1871 die Asso-
ciation for the Improvement of Geometrical Teaching (seit 1894 Mathematical Association);
es folgten Mathesis 1901 in Italien; Vereinigung der Mathematiklehrer in der Schweiz 1902;
Association of Mathematical Teachers in New York 1903 u.a., vgl. hierzu TOBIES 1984a.
54 Vgl. hier und im Folgenden detailliert TOBIES 2000a.
55 Vgl. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E.
7.3 Hinwendung zu den Lehrerkreisen 351
lehrer noch näher ergründen. Er besuchte im März 1893 Höhere Schulen in Han-
nover und hospitierte dort auch kurze Zeit später. Er gewann dabei die Erkenntnis,
dass nur solche Dinge vorgetragen werden dürfen, „welche directe Bedeutung für
den Gymnasiallehrer haben (ohne darum in den Bereich des Schulunterrichts zu
fallen)“. Er erklärte Robert Fricke: Kreiselbewegung (vor zwei Jahren), jetzt
Transcendenz von π, später Grundbegriffe der Geometrie, besonders Parallelen-
theorie u. die Sammlung von Modellen und betonte:
Ein Colleg über Axiome der Geometrie hat für den späteren Lehrer directeren Bildungswerth
als eines über algebraische Curven, ein Colleg über Wahrscheinlichkeitsrechnung mehr als
eines über Determinanten.56
Im (zweiten) Göttinger Ferienkurs Ostern 1894 trug Klein über Ausgewählte Fra-
gen der Elementargeometrie vor, d.h. über die drei klassischen geometrischen
Probleme, die nicht mit Zirkel und Lineal zu lösen sind: Verdoppelung des Wür-
fels; Dreiteilung des Winkels; Quadratur des Kreises (= Verwandlung eines Krei-
ses in ein flächengleiches Quadrat, aufgrund der Transzendenz von π nicht mög-
lich). Klein setzte das im Sommer 1894 mit einer 2-stündigen Vorlesung fort und
spannte Hörer ein, Mitschriften zu verfassen. Diese sandte er nach Ems zum
Oberlehrer Friedrich Tägert57, der den Kurs Ostern 1894 besucht hatte und den
Text ausarbeitete. Daraus wurde ein bei Teubner gedrucktes Büchlein (66 Seiten),
das Klein zur Festschrift für den vom 3. bis 6. Juni 1895 in Göttingen tagenden
Förderverein deklarierte. Zwar entdeckte Hurwitz in der Schrift noch Unvollstän-
digkeiten beim Beweis der Transzendenz von π,58 aber das Thema traf in hohem
Maße die Interessen der Gymnasiallehrer, nicht nur in Deutschland. Diese Fest-
schrift wurde in Italien (1896), Frankreich (1896), in den USA (1897) und Japan
(1897)59 schnell übersetzt. Klein schrieb im Vorwort:
Die schärferen Begriffsbestimmungen und Beweismethoden, welche die moderne Mathema-
tik entwickelt hat, gelten in den Kreisen der Gymnasiallehrer vielfach als abstrus und über-
trieben abstract und werden dementsprechend gern so angesehen, als seien sie nur für den en-
geren Kreis der Spezialisten von Bedeutung. Demgegenüber hat es mir Vergnügen gemacht,
im vergangenen Sommer vor einer grösseren Zahl von Zuhörern in einer zweistündigen Vor-
lesung darzulegen, was die neuere Wissenschaft über die Möglichkeit der elementargeometri-
schen Constructionen zu sagen weiss.60
Die erwähnte grössere Zahl von Zuhörern seiner Vorlesung war zwar leicht über-
trieben. Aber die 14 Personen, darunter zahlreiche aus dem Ausland und zwei
Frauen,61 begriffen den wichtigen Bezug zu den Schulproblemen: Wilhelm Lorey
sollte Kleins Reform in Deutschland unterstützen. Gino Fano propagierte bereits
1894 Kleins pädagogische Ideen in Italien.62 Poul Heegaard arbeitete ebenfalls
engagiert im Rahmen der internationalen Unterrichtsreform. Kleins Doktorschüle-
rin Grace Chisholm verinnerlichte schon hier, dass Bücher für den Anfangsunter-
richt wichtig sind (vgl. hierzu auch 5.6).
Jean Griess, Absolvent der École Normale Supérieure in Paris und Professor
an einem Lycée in Algier, hatte Klein um die Übersetzungserlaubnis seiner Fest-
schrift gebeten, weil er vom „Inhalt und der Klarheit so entzückt“ war.63 Abge-
stimmt mit Klein änderte Griess für französische Leser einige Teile, worauf sich
auch die US-amerikanische Version stützte. Letztere wurde von Wooster W. Be-
man und David Eugene Smith besorgt.64 In Italien war Gino Loria der Anreger für
die Übersetzung.
Klein hatte dem Förderverein 1894 in Wiesbaden über die Göttinger Ferien-
kurse berichtet und, wie gesagt, für 1895 nach Göttingen eingeladen. Als Mitglied
des Göttinger Ortsausschusses bereitete er mit Lehrern des Gymnasiums (Beh-
rendsen, Götting u.a.) und weiteren Professoren der Universität, Hermann Wagner
(Geograph) und Albert Peter (Botaniker), das Programm für Juni 1895 vor. Klein
präsentierte die genannte Festschrift und hielt das Hauptreferat „Über den mathe-
matischen Unterricht an der Göttinger Universität im besonderen Hinblicke auf
die Bedürfnisse der Lehramtskandidaten“. Er lobte die Göttinger Arbeitsbedin-
gungen, den Studienplan, die Breite des Angebots, das Prinzip des engen Zusam-
menwirkens und betonte als Ziele für die Lehramtsausbildung: „1) Eine gleich-
förmige Grundlegung in den elementaren Dingen[…]; 2) Eine wissenschaftliche
Konzentration nach irgend einer Seite hin […], 3) Einen Überblick über die Be-
deutung der höheren Mathematik für den Schulunterricht.“65 Klein verwies auf
das seit 25 Jahren von Süddeutschland ausgehende Bestreben, den Unterricht an-
schaulicher zu gestalten und sandte diese Rede gemeinsam mit seiner Leipziger
Antrittsrede von 1880 (vgl. 5.1) an Kultusminister Bosse nach Berlin.66
Der Förderverein wählte gemäß Kleins Vorschlag das Thema Die Beziehung
des mathematischen Unterrichts zur Ingenieur-Vorbildung für die nächste Jahres-
versammlung 1896, ein damals virulenter Gegenstand (vgl. 7.8. und 8.2).
61 Noble, C.A.; Snyder; Lorey, W.; Fano, G.; Wiger, J.; Jaccottet, C., Heegaard, P.; Metzler, G.
F.; Ehlers, J.; Schütz, L.; Frl. Chisholm; Frl. Winston; Campbell, G.A.; Siedentopf, H. [UBG]
Cod. Ms. F. Klein 7 E.
62 Vgl. COEN 2012, 210-45, bes. 214, vgl. auch GIACARDI 2013.
63 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 499D-E (Griess an Klein, 30.7.1895).
64 Beman nahm 1893 in Chicago teil (MOORE et al. 1896, ix ; KLEIN 1894, vii; vgl. Abschnitt
7.5). – Smith sollte die IMUK 1908 in Rom initiieren (vgl. Abschnitt 8.3.4).
65 Abgedruckt in Zeitschrift f. d. math. u. naturw. Unterricht 26 (1895) H. 5, 3-8, Zitat, 7.
66 [UAG] Kur. 5956, Bl. 77-90.
7.4 Das Encyklopädie-Projekt 353
Wenn unserer aller Namen verschollen sind, vielleicht noch der eine oder andere historisches
Interesse haben wird, werden Ihnen die spätesten Geschlechter dankbar bleiben für das gross-
artige Werk der Encyk.[lopädie], dessen Hervorbringung gerade eines Mannes wie Sie be-
durfte, der soviel Entsagung und Aufopferung wie Sie besass.68
Diese Aussage traf David Hilbert in seiner Rede anlässlich Kleins 60. Geburtstag
(Anhang Nr. 8). Hilbert war Autor am Band I der ENCYKLOPÄDIE.69 Er sah Klein
als Kopf des noch nicht abgeschlossenen Unternehmens, das er schätzte. Natürlich
wissen wir heute, dass eine Enzyklopädie schnell an Grenzen gelangt oder dass
sie mit Abschluss bereits von neuem Wissen überholt sein kann. Dennoch besit-
zen derartige Unternehmen nicht nur historischen Wert, brachte doch das An-
knüpfen an alte Ergebnisse wiederholt Neues hervor. Klein wollte mit der ENCY-
KLOPÄDIE ein Hilfsmittel schaffen, Vorwissen schneller zu erfassen:
In der Mathematik, wie in anderen Wissenschaften, können immer wieder dieselben Vorgän-
ge beobachtet werden. Einmal treten neue Fragestellungen aus inneren oder äußeren Gründen
auf, welche die jüngeren Forscher reizen und von den alten Fragen ablenken. Dann aber er-
fordern die alten Fragen, eben weil sie vielfach bearbeitet worden sind, zu ihrer Beherrschung
nachgerade ein immer umfangreicheres Studium. Das ist unbequem, und man wendet sich
schon gerne Problemen zu, welche noch weniger ausgebildet sind und darum weniger Vor-
kenntnisse erfordern, mag es sich nun um formale Axiomatik oder Mengenlehre oder sonst
etwas handeln!
Es bleibt also nichts übrig, als die alten Gebiete in guten Referaten – in den Jahresberichten,
der Enzyklopädie usw. – oder in Monographien so zusammenzufassen, daß die spätere Ent-
wicklung, wenn es das Schicksal so fügt, hier wieder anknüpfen kann.70
Zugleich sollte das Werk dazu dienen, einer „immer weitergreifenden Zersplitte-
rung der Wissenschaft Einhalt“ zu gebieten.71 Im einleitenden Bericht von Band I
(erschienen 1898-1904) betonte der als Vorsitzender der Kommission für die Her-
ausgabe der ENCYKLOPÄDIE in die Spur gesetzte Walther Dyck denn auch, dass es
um ein Gesamtbild der Position geht, welche die „Mathematik innerhalb der heu-
tigen Cultur einnimmt“, ein Vorhaben, das Klein weiter verfolgte (vgl. 8.3).
Nach Franz Meyers Buchidee (vgl. 7.2) fuhren Felix Klein und Heinrich We-
ber in der ersten Septemberhälfte 1894 drei Tage zu ihm nach Clausthal.72 Beim
Wandern im Harz verwandelten sie die Idee in ein mathematisches Lexikon. Dies
wurde von der anschließend in Wien (mit den Naturforschern) tagenden DMV
begrüßt. Meyer erhielt den offiziellen Auftrag, einen Entwurf auszuarbeiten.
Zugleich hieß es im Protokoll, dass die „materielle Durchführung als eine geeig-
nete Aufgabe für das im Jahre 1893 ins Leben gerufene Akademien-Cartell er-
67 Vgl. TOBIES 1994a; HASHAGEN 2003, 439-70; GISPERT 1999; GISPERT/VERLEY 2000.
68 [UBG] Cod. Ms Hilbert 575, Bl. 1 (enthalten in Anhang Nr. 8).
69 Hilbert, D. (1900): Theorie der algebraischen Zahlkörper, Theorie des Kreiskörpers. ENCY-
KLOPÄDIE Bd. 1.2, 675-732.
70 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 312.
71 [AdW Göttingen] Scient 305, 1 Nr. 2a.
72 Klein an Fricke, 13.9.1894 [UA Braunschweig].
354 7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895
schien.“73 Dies beruhte auf Kleins Idee, kannte er doch derartiges Fördern von
Großprojekten schon von seinem Schwiegervater (vgl. 3.6.2). Als sich später
Differenzen mit Meyers Konzept ergeben sollten, erklärte Klein: „[…] nicht
F.[ranz] M.[eyer], sondern ich selbst habe die Idee eines von Gesellschaften zu
subventionierenden Lexikons erfunden, […] mit Weber 1894 in Clausthal […].“74
Die in Wien anwesenden Vertreter der zum Kartell deutschsprachiger Akade-
mien gehörenden gelehrten Gesellschaften (Wien, München, Göttingen, Leipzig)
übernahmen die Aufgabe, ihre örtlichen Institutionen für das Unternehmen zu
gewinnen. Die Österreicher Gustav von Escherich (1894 in den DMV-Vorstand
kooptiert) und Ludwig Boltzmann75 erreichten die Zusage der Wiener Akademie.
Dyck war in München erfolgreich, Klein in Göttingen. So bildeten Dyck (Vor-
sitz), Klein, v. Escherich, Boltzmann (als Beirath für wissenschaftliche Fragen)
und Heinrich Weber (als DMV-Vertreter) die erste ENCYKLOPÄDIE-Kommission.
In Leipzig verhinderte Sophus Lie die Mitarbeit. Es war kurz nach Lies herab-
würdigenden Äußerungen in Band 3 seiner Transformationsgruppen (vgl. 6.3.6).
Ein Brief von Lie an Mayer bezüglich der ENCYKLOPÄDIE gipfelte in der Aussage:
Klein vergleiche ich mit einer Schauspielerin, die in der Jugend durch glänzendes Äußere be-
zaubert, die aber nach und nach immer verwerflichere Mittel braucht, um auf Bühnen dritten
Ranges Erfolg zu erreichen.76
Klein überzeugte die Kollegen, das Projekt auch ohne die Leipziger Gesellschaft
zu starten. So unterzeichneten die Akademien von Wien, München und Göttingen
im Mai/Juni 1896 mit dem Verlag B.G. Teubner den Vertrag über eine Encyklo-
pädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen.77
Die Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften förderte das Projekt schließ-
lich ab 1904, nachdem Lies Nachfolger Otto Hölder bereits einen Artikel (Ga-
lois’sche Theorie mit Anwendungen, 1899) für Band I geschrieben hatte. Hölder
kam für die Leipziger in die ENCYKLOPÄDIE-Kommission. Als im Jahre 1909 in
Heidelberg eine neue Akademie der Wissenschaften entstand, die sich 1911 dem
Kartell deutschsprachiger Akademien anschloss, ergab sich eine zusätzliche Un-
terstützung für die ENCYKLOPÄDIE. Paul Stäckel repräsentierte die Heidelberger in
der Kommission und förderte weitere Projekte Kleins.
Die Berliner Akademie trat dem Akademien-Kartell erst 1906 bei.78 Klein
vermied jedoch einen Antrag bezüglich der ENCYKLOPÄDIE dorthin, weil er Frobe-
Im Jahre 1913 erfüllte sich für Klein etwas, was ihm als junger Professor prophe-
zeit worden war: „Sie werden Mitglied von allen namhaften Akademien der Erde
werden, und zuletzt von der Berliner!“83 Frobenius, Schottky, H. A. Schwarz und
Planck schlugen Klein für die Wahl zum Korrespondenten der Berliner Akademie
vor. Darin erwähnten sie auch: „Es ist sein Verdienst, […] daß das große Werk
der mathematischen Encyklopädie begonnen und energisch fortgeführt wurde.“
(Anhang Nr. 11) Als die Berliner Akademie Klein zum 50-jährigen Doktorjubi-
läum 1918 erneut würdigte, nutzte dieser sein langes Antwortschreiben, um sie
nun zur Teilnahme am ENCYKLOPÄDIE-Projekt einzuladen.84 Als die Akademien
1921 mit dem Teubner-Verlag einen V. Nachtrag zum ENCYKLOPÄDIE-VERTRAG
unterzeichneten, gehörten die Berliner dazu. An der dortigen Universität waren
inzwischen auch Mathematiker berufen worden, die bereits als Autoren das „ein-
heitliche Verarbeiten“ des Stoffes unterstützt hatten: Richard von Mises (Dynami-
sche Probleme der Maschinenlehre, 1911); Ludwig Bieberbach (Neuere Untersu-
chungen über Funktionen von komplexen Variablen, 1920).
Die ENCYKLOPÄDIE entsprach von Beginn an einem Bedarf. Bereits im zwei-
ten Jahre waren mehr als 900 Exemplare der auf 1000 bemessenen ersten Auflage
fest abonniert worden. Der Teubner-Verlag dachte an eine höhere Auflage und an
Übersetzungen. In Frankreich signalisierte Darboux Zustimmung. Somit ermäch-
tigten die Akademien den Verlag im III. Nachtrag vom Juni/Juli 1900, eine „fran-
zösische bez. englische Ausgabe in Gemeinschaft mit einer anderen Verlagsbuch-
handlung“ herauszubringen. Dieser Nachtrag räumte den Akademien, der ENCY-
KLOPÄDIE-Kommission und den Artikel-Autoren das Recht ein, die Leiter für aus-
79 Vortrag in der Berliner Mathematischen Gesellschaft 1900, vgl. HASHAGEN 2003, 469; 457.
80 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 19 B: Bl. 32v.
81 Ranke, L. v.: Weltgeschichte. 16 Bde. Leipzig: Duncker & Humblot, 1881-88 (Bd.1,Vorrede).
82 Klein, F.: Über die moderne Entwicklung des mathematischen Unterrichts, Vorlesung, WS
1910/11, 272. Ausgearbeitet von Erich Hecke [Nachlass Hecke].
83 Diese Prophezeiung überlieferte Wilhelm Ahrens (Rostock) [UBG] Cod. Ms F. Klein 117.
84 [BBA] III b 137: 129 (Schreiben Kleins v. 28.12.1918 an die Akademie).
356 7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895
85 Der Plan wurde 1901 mit dem Ehepaar Young beraten; Klein dachte für die angewandten
Teile auch an die Mitarbeit von Edward Hough Love.
86 Nach den im [AdW Wien] aufbewahrten Akten, vgl. TOBIES 1994a, 24-25.
87 Zitiert bei HASHAGEN 2003, 467.
88 Ehrenfest, P.; Ehrenfest, T. (1909-11): Begriffliche Grundlagen der statistischen Auffassung
der Mechanik. ENCYKLOPÄDIE Bd. IV.4.
7.4 Das Encyklopädie-Projekt 357
und Wilhelm Blaschke, einen Teil 4 für den Geometrie-Band. Zwar erschien die-
ser so nicht, aber die geplanten acht Artikel deuten auf die Absichten:
Band III (Geometrie), Teil 4
Art. 1: Entwicklungen über den Kugelkreis: Meyer.
Art. 2: Tetraedergeometrie: Meyer – Zacharias.
Art. 3: Analysis situs: Tietze.
Art. 4: Allgemeine Gestaltenlehre: Hjelmslev.
Art. 5: Gestaltenlehre über algebraische Kurven und Flächen: Mohrmann.
Art. 6: Geometrie im Komplexen: Dyck.
Art. 7:Invariantentheorie best.[immter] geometrischer Gruppen: Weitzenböck
Art. 8: Räume von unendlich vielen Dimensionen: Kowalewski.89
89 [Nachlass Blaschke] Klein an Blaschke 1915/16 (für das Zusenden der Briefe dankt die
Autorin Alexander Kreuzer, Hamburg); ENCYKLOPÄDIE-Sonderkonferenz in Göttingen, 13./
14.12.1916 (Konzept für T. 4); davon flossen noch Teile in Band III: Weitzenböck, R. (1921):
Neuere Arbeiten der algebraischen Invariantentheorie. Differentialinvarianten; Tietze, H.;
Vietoris, L. (1929): Beziehungen zwischen den verschiedenen Zweigen der Topologie;
Berzolari, L.; Rohn, K. (1926): Algebraische Raumkurven und abwickelbare Flächen.
90 Der Lindemann-Promovend A. Rosenthal hielt im SS 1911 zwei Vorträge in Kleins Seminar
und bearbeitete (noch in München) die unter Émile Borel entstandenen Beiträge Recherches
contemporaines de la théorie des fonctions für die deutsche Version, in ENCYKLOPÄDIE Bd. II
3.2. (1923) 851-1187.
91 Klein an Dyck, 13.6.1896, in TOBIES 1994a, 22. – Mit dem Briten A. G. Greenhill (Royal
Artillery Institution Woolwich) entwickelte sich seit dessen erstem Brief (25.1.1886) ein gu-
ter Kontakt, ausgehend von Applications of Elliptic Functions [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9:
490-99. Die Arbeiten von Joseph Boussinesq (Grundgleichungen für turbulente Flüssigkeits-
bewegung) ließ Klein in seinen Seminaren analysieren (vgl. Abschnitt 8.2.4).
358 7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895
Diese Aussage diente erfolgreich als Argument, um von den Akademien und vom
preußischen Kultusministerium Geld für zahlreiche Reisen (Niederlande, Däne-
mark, Großbritannien, Frankreich, Italien, Österreich u.a.) zu erhalten, um Auto-
ren zu gewinnen. Ein Brief Kleins an Hendrik A. Lorentz vom 5. September 1898,
vor dem Start in die Niederlande geschrieben, erhellt das Herangehen:
[…] ich selbst habe nun übernommen, zunächst die erforderlichen persönlichen Verbindun-
gen im Ausland zu suchen. In dieser Hinsicht kommt natürlich, was mathematische Physik
angeht, ganz besonders Holland in Betracht. […] Mein Wunsch wäre, vor allen Dingen mit
Ihnen selbst den ganzen mathematisch-physikalischen Abschnitt durchzusprechen und übri-
gens durch ihre Vermittlung die holländischen mathematisch-physikalischen Kreise näher
kennen zu lernen […]92
Klein und sein Reisebegleiter Arnold Sommerfeld, der die Redaktion von Band V
(Physik) zugesagt hatte93, diskutierten 1898 mit Lorentz – der im Jahre 1902 mit
dem Nobelpreis geehrt werden sollte – nicht nur die Disposition dieses Bandes.
Lorentz übernahm selbst drei Beiträge.94 In Amsterdam trafen sie Johannes Dide-
rik van der Waals (Nobelpreis 1910), über dessen Zustandsgleichung Heike Ka-
merlingh Onnes (Nobelpreis 1913) und dessen Schüler Willem Hendrik Keesom
für die ENCYKLOPÄDIE schrieben (1911). Im Oktober 1898 reiste Klein noch allein
nach Paris weiter, um potentielle Autoren zu treffen.95 Erfolgreicher waren sie in
Großbritannien, wohin Klein 1899 erneut mit Sommerfeld fuhr.
In Cambridge berieten sie mit Joseph John Thomson und Joseph Larmor, mit
Edward Routh und dem 80jährigen Sir George Gabriel Stokes. Lord Rayleigh lud
sie auf sein Landgut in Essex ein. Die erste Auflage von Rouths Dynamik der
starren Systeme war gerade mit Kleins Vorwort (vom 11. Oktober 1897) beim
Teubner-Verlag erschienen (vgl. Abschnitt 5.6). Wenn diese Größen auch nicht
selbst ENCYKLOPÄDIE-Autoren wurden, so halfen sie, den Gesichtskreis zu weiten
und jüngere Autoren zu gewinnen. Dazu gehörte der Experte für mathematische
Aspekte von Sport und Spiel Gilbert Walker.96 Zur Mitarbeit am Mechanik-Band
waren auch Augustus Edward Hough Love (1901) und Horace Lamb (1906) be-
reit, deren Lehrbücher (Hydrodynamik bzw. Elastizitätstheorie) Klein ebenfalls
zur Übersetzung ins Deutsche empfahl (vgl. 5.6).
Als Klein und Sommerfeld George Hartley Bryan im walisischen Ort Bangor
besuchten (Abb. 30), besaßen sie bereits gute Anknüpfungspunkte zu dessen Ar-
beiten. Bryan hatte mit Joseph Larmor einen Bericht über den Stand der Thermo-
dynamik und statistischen Mechanik verfasst (1891, 1894) und auch schon mit
Boltzmann publiziert. Bryan konnte somit überzeugt werden, den ENCYKLOPÄDIE-
Beitrag Allgemeine Grundlagen der Thermodynamik (1910) zu übernehmen.97
Korrespondierend bemühte sich Klein weiter um Autoren, wozu der Professor für
Mathematik, Mechanik und Astronomie Diederik Korteweg gehörte, dem sie
1898 in Amsterdam begegnet waren. Korteweg hatte 1895 mit seinem Doktoran-
den Gustav de Vries eine nichtlineare partielle Differentialgleichung dritter Ord-
nung entwickelt (Korteweg-de-Vries-Gleichung), womit Flachwasserwellen in
engen Kanälen bzw. Solitonen beschrieben werden können. Dies hätte Klein gern
von den Experten selbst dargestellt gesehen. Kortewegs Versuch, einen Schüler zu
beauftragen, scheiterte zwar. Er selbst kooperierte jedoch noch im Rahmen des
internationalen Katalog-Projekts (vgl. 8.4) mit Klein.98
Viertens. Klein disponierte bereits 1896 auch einen Schlussband für die ENCY-
KLOPÄDIE, über Geschichte, Philosophie, Psychologie und Didaktik der Mathe-
matik. Das konkrete Ausarbeiten dieses Bandes scheiterte zwar am Ausbruch des
Ersten Weltkrieges, der die angestrebte Internationalität vereitelte.99 Dennoch
bildete die Disposition dieses Schlussbandes eine programmatische Vorgabe für
Arbeiten, die großenteils in andere Kleinsche Buchprojekte flossen (vgl. 8.3).
98 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 536-38 (Korteweg an Klein und Antwortnotizen von Klein,
14.10.1899 – 4.5.1900).
99 Zu Realisierungsversuchen und zum Scheitern vgl. TOBIES 1994a, 56-69.
360 7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895
Bereits vor seiner Reise hatte Klein mit seinem Doktorschüler Henry Seely White
das Halten zusätzlicher Vorträge vereinbart, die als Lectures on Mathematics. The
Evanston Colloquium in die Mathematikgeschichte eingegangen sind.115 White –
bei dem Klein auch während dieser Zeit wohnte116 – hatte von 1887/88 bis 1889/
90 bei Klein studiert, danach seine Dissertation „Abelsche Integrale auf singulari-
tätenfreien, einfach überdeckten, vollständigen Schnittkurven eines beliebig aus-
117 Oliver war bereits 60 Jahre alt und Professor an der Cornell University, als er WS 1889/90
und SS 1890 bei Klein Vorlesungen hörte.
118 Tyler studierte WS 1887/88 und SS 1888 bei Klein und vollendete die Promotion in Erlangen.
119 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E.
120 Hilbert, D.: „Ueber die reellen Züge algebraischer Curven“. Math. Ann. 38 (1891) 115-38;
KLEIN 1894, 28.
121 KLEIN 1922 GMA II, 225-31. – Vgl. dazu auch Abschnitt 8.3.1 dieses Buches.
364 7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895
schnitt 8.1.2) ins Licht zu rücken. Auch mit Vortrag (9) zur Lösung höherer alge-
braischer Gleichungen, Vortrag (10) zu Anwendungen hyperelliptischer und
Abelscher Funktionen, und Vortrag (11) zur Nichteuklidischen Geometrie griff
Klein eigene Felder auf. In Letzterem betrachtete er Ergebnisse aus den zurück-
liegenden Jahren, und es war diese Vorlesung, in welcher er Sophus Lies neueste
Arbeiten (in Bezug auf Helmholtz) breit diskutierte, über seine eigenen Vorlesun-
gen 1889-90 sowie seine Annalen-Arbeit von 1890 hinausgehend – ohne dass er
bereits Lies Band 3 seiner Transformationsgruppen gesehen hatte (vgl. Abschnitt
6.3.6). Im abschließenden Vortrag (12) zum Studium der Mathematik in Göttingen
erklärte Klein das System der Göttinger Lehre. Er gab an, dass seine eigenen
Vorlesungen oft “an encyclopedic character, conformable to the general tendency
of my programme” haben, und dass er seine Studenten nicht nur als Hörer oder
Schüler sah, sondern als “collaborators”. Somit wünschte er Studierende aus den
USA mit hinreichender Vorbildung, damit sie aktive Mitarbeiter sein könnten.
Drittens. William F. Osgood, der Kleins Evanston Vorträge nicht gehört hatte,
hielt sie noch ca. 17 Jahre später für wertvoll, um junge Leute einzuführen. Er
veranlasste eine Neuauflage und fragte im Vorwort (am 31. Dezember 1910):
“What is important in the development of mathematics?” Er gab die Antwort mit
dem Verweis auf Kleins Instinkt “[…] for that which is vital in mathematics”.
Osgood betonte: “[…] and the light with which his treatment illumines the prob-
lems here considered may well serve as a guide for youth who is approaching the
study of the problems of a later day.”122 Osgood beherrschte die deutsche Sprache
sehr gut. Er hatte deshalb nicht nur von Klein zum Promovieren nach Erlangen
geschickt werden können, sondern auch seinen Beitrag „Allgemeine Theorie ana-
lytischer Funktionen einer und mehrerer komplexer Variabler“ (1901) für Bd. II
der ENCYKLOPÄDIE selbst verfasst. Das daraus resultierende Lehrbuch der Funk-
tionentheorie (Leipzig: B.G. Teubner, 11906, 21912) enthält ein Kapitel 8 über
Riemannsche Flächen, das bewusst an Klein anknüpfte.123
Klein blieben nach seinen Vorträgen in Evanston ca. vier Wochen bis zur Abreise.
Ihn interessierten weniger Sehenswürdigkeiten oder Landschaften. Er wollte Uni-
versitäten, deren Institutionen und Personen kennenlernen. Seine ehemaligen
Schüler und Kollegen brachten ihn zu den bedeutendsten Privatuniversitäten.124
Klein sah als Erstes die 1868 gegründete Cornell University in Ithaca (New
York), wohin ihn James E. Oliver eingeladen hatte. Oliver war zwanzig Jahre äl-
ter alt Klein, hatte als Professor 1889-90 zwei Semester lang in Kleins Vorlesun-
gen zur Nicht-euklidischen Geometrie gesessen und anschließend eigene Schüler
zu Klein nach Göttingen geschickt.125 Daraus ergab sich auch der erwähnte Ruf
Ernst Ritters nach Ithaca (vgl. 7.1). Klein wurde in Ithaca jedoch besonders vom
Sibley College of Mechanical Engineering and of Mechanic Arts beeindruckt, wo
seit 1889 das erste Elektroingenieur-Department existierte.126
Begleitet durch seinen Schüler Edward Burr Van Vleck, der gerade 1893 den
Doktortitel in Göttingen erworben hatte, führte Kleins Weg weiter zur Clark Uni-
versity in Worcester – auf deren Angebot einer Gastprofessur er 1889 hatte ver-
zichten müssen. Es folgte der Blick auf die Harvard University in Cambridge
(Massachusetts), auf die gewaltig angelegten astronomischen Forschungen am
Harvard College Observatory unter Edward Charles Pickering127 und auf das Mas-
sachusetts Institute of Technology (MIT). Im Bundesstaat Connecticut besuchte
Klein die Yale University in New Haven, wo er den Physiker Willard Gibbs traf,
sowie die Wesleyan University in Middletown, wo der Vater seines Begleiters
John Monroe Van Vleck als Astronomie-Professur wirkte.
In New York City berichteten Zeitungen euphorisch über Klein. Die New
York Mathematical Society veranstaltete unter dem Vorsitz des Versicherungs-
mathematikers Emory McClintock ein Meeting zu Kleins Ehren am Columbia
College. Simon Newcomb arrangierte noch ein Treffen mit dem Präsidenten Gil-
man der Johns Hopkins University in Baltimore, der Klein zehn Jahre zuvor die
Nachfolge Sylvesters angeboten und ihm eine Bronzekopie der für Sylvester ge-
stifteten Goldmedaille verehrt hatte.128 Den Schlusspunkt bildete The College of
New Jersey (ab 1896 Princeton University), wo Klein von seinem Leipziger
Doktorschüler Henry Burchard Fine, inzwischen Professor, und Henry Dallas
Thompson – der 1892 bei Klein promoviert hatte – empfangen wurde.129 Bereits
bei diesem Treffen vereinbarten sie, dass Klein im Jahre 1896, anlässlich des 150-
jährigen Jubiläums dieser Institution erneut kommen und Vorträge halten solle.130
7.5.4 Nachwirkungen
Vom 7. bis 17. Oktober 1893 fuhr Klein mit einem Schiff des Norddeutschen
Loyd von New York nach Bremerhafen zurück. Seine USA-Reise führte zu Wir-
kungen verschiedener Art.
Erstens wurde Kleins Position im internationalen wissenschaftlichen Raum
beeinflusst. Es sei zunächst hervorgehoben, dass er selbst schon zufrieden zurück-
blickte, nachdem Congress und Evanston Colloquium absolviert waren. Klein
schrieb am 12. September 1893 an Althoff im preußischen Kultusministerium:
125 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 E: Virgil Snyder u.a.; COCHELL 1998, 145.
126 Vgl. hierzu SIEGMUND-SCHULTZE 1997b, 36.
127 Die dafür bereit gestellten privaten Mittel nannte Klein später als Vorbild für die Göttinger
Vereinigung (vgl. Abschnitt 8.1.1).
128 Vgl. hierzu auch HASHAGEN 2003, 182.
129 Thompson: „Hyperelliptische Schnittsysteme und Zusammenordnung der algebraischen und
transzendenten Thetacharakteristiken“ (Dissertation, Göttingen 1892).
130 Vgl. PARSHALL/ROWE 1994, 357; vgl. Abschnitt 8.2.3; KLEIN 1897.
366 7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895
[…] dass ich selbst hier bislang Alles erreicht habe, was ich hoffen durfte erreichen zu kön-
nen. Der mathematische Congreß unter deutscher Flagge hat einen vorzüglichen Verlauf ge-
habt; ich lege ein Exemplar des Programms bei. Dann habe ich hier in Evanston noch 14 Tage
lang das geplante Colloquium gehalten; unter sehr guter Betheiligung von Fachgelehrten aus
allen Theilen des Landes. Indem ich täglich über 2 Stunden sprach, hatte ich Gelegenheit ein
ganzes Programm meiner wiss.[enschaftlichen] Auffassung zu entwickeln, wie ich das mir
seit langen Jahren gewünscht hatte. Diese Vorträge sollen gedruckt werden und ich hoffe bald
nach meiner Rückkehr fertige Exemplare vorlegen zu können.131
Die Nachrichten über den Congress verbreiteten sich schnell in der Welt. Hurwitz
signalisierte aus Zürich am 29. November 1893: „Das Heft der New-Yorker So-
ciety […] habe ich erhalten, und aus demselben zu meiner Freude gesehen, dass
Sie der geistige Mittelpunkt des Congresses gewesen sind und dass man Sie in
entsprechender Weise gefeiert hat. Sie können wirklich mit Befriedigung auf Ihre
amerikanische Reise zurückblicken.“132
Die sich in Paris abzeichnende Wirkung war besonders eindruckvoll. Hermite,
der mit einem Beitrag « Sur quelques propositions fontamentales de la théorie des
fonctions elliptiques » in den Congress Papers (105-15) vertreten war, nahm
Kleins Evanston-Vorträge zur Kenntnis und veranlasste zunächst, Vortrag (7)
über die Transzendenz von e und π zu übersetzen. Davon begeistert, ließ er alle
Evanston-Vorträge und weitere Arbeiten Kleins ins Französische bringen.133 Der
Übersetzer Léonce Laugel führte im Namen von Hermite die Korrespondenz mit
Klein, holte die Publikationserlaubnis ein und berichtete über Hermites
Reaktionen. Die meisten der übersetzten Beiträge erschienen in den Nouvelles
Annales de Mathématiques, journal des candidats aux écoles polytechnique et
normale, nachdem sie Hermite begutachtet hatte. Beim Lesen von Kleins Wiener
Vortrag „Riemann und seine Bedeutung für die Entwicklung der modernen
Mathematik“ äußerte Hermite z.B., er habe eine Stunde wie im (siebten) Himmel
verbracht.134 Hermite ließ weitere euphorische Urteile vermelden (vgl. auch
Abschnitt 8.2.2) und schlug bei der nächstbesten Gelegenheit Kleins Wahl zum
Korrespondenten der Académie des Sciences in Paris vor. Klein wurde am 17.
Mai 1897 gewählt. Er nahm den Platz des verstorbenen J. J. Sylvester ein. Weitere
Mitgliedschaften in anderen Akademien folgten.135
131 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1B: 2, Bl. 80, Briefentwurf Kleins an Althoff, Chicago, 12.9.1893.
132 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1123.
133 Vgl. hier und im Folgenden TOBIES 2016, 116-23.
134 « Monsieur et très honoré Professor, Je prends la liberté de solliciter votre autorisation, néces-
saire à la publication dans les Nouvelles Annales de Mathématiques d’une traduction de
‘Transcendance des nombres e et π’, Evanston Colloquium. C’est M. Hermite pour l’usage
personnel duquel j’ai traduit tout le Colloquium et pour qui je traduis en ce moment avec le
plus grand plaisir et intérêt. Riemannsche Flächen et Hypergeometrische function qui m’a
suggéré cette idée, dans le vif désir de porter les études sur ces admirables productions, trop
peu étudiées en France. Je lui ai traduit aussi le discours ‘Ueber Riemann und seine Bedeu-
tung’ dont il m’a écrit qu’en le lisant ‘il avait passé une heure comme dans le ciel’. En autori-
seriez vous aussi la publication. » [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 627.
135 Vgl. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 114. – Von insgesamt 51 Mitgliedschaften in Akademien und
wissenschaftlichen Gesellschaften starteten 15 im Zeitraum von 1894 bis 1900.
7.5 Reise(n) in die USA 367
Ihre werthe Zuschrift vom 10.d.M. hat mich außerordentlich interessiert. Ich kann aber heute
nur ganz kurz darauf antworten […]. Was Sie über das Frauenstudium schreiben, ist ganz
meine Ansicht. In Betreff der Lehramtskandidaten werde ich mit den Herren von unserer
Gymnasial-Abtheilung sprechen. Die Ausführungen über die Beziehungen zur Technik
leuchten mir prima facie ein und Göttingen scheint mir auch zu einem Versuch in der von Ih-
nen befürworteten Richtung ganz geeignet. Aber das alles bedarf, wie Sie auch selbst sagen,
noch eingehender Erwägung und läßt sich zudem nur ausführen, wenn die finanziellen Ver-
hältnisse es gestatten. Personenfragen werden damit besser nicht in Verbindung gebracht. Im
übrigen behalte ich mir vor, auf die Sache gelegentlich mündlich zurückzukommen.
In vorzüglicher Hochachtung
Ihr ganz ergebenster
Althoff.141
Allerdings kam Althoff nicht von selbst darauf zurück. Klein musste aktiv wer-
den. Um grünes Licht für sein individuelles Engagement zu erhalten, setzte er
Althoff regelmäßig über Frauenstudium, Bezugnahme zur Technik, u.a. ins Bild.
Der Adressat dieses Briefes Sophus Lie integrierte keinen Hinweis auf Kowa-
lewskaja – er wollte zeigen, dass seine Ergebnisse früher entstanden waren144 –,
aber wir können hier ein Zeichen von Kleins Offenheit gegenüber jeder wissen-
schaftlichen Leistung erkennen.
In Göttingen hatte es zwischenzeitlich nicht an gewissen Initiativen gefehlt,
Frauen zu fördern. So gedachte gar H. A. Schwarz zu Beginn der 1880er Jahre,
gemäß seinem Vorbild Weierstraß eine Amerikanerin privat weiterzubilden:
Hier in Göttingen passirt nicht viel Neues. Das Interessanteste in mathematischer Beziehung
ist wohl, dass wir seit Kurzem eine Collegin hier haben, welche sich bei Prof. Schwarz weiter
ausbilden lassen will. Sie ist Amerikanerin, heißt Miss. Williams, gestern Abend lernte ich sie
bei Prof. Schwarz kennen und wunderte mich sehr eine junge Dame von 22 – 26 Jahren zu
finden, die einen nichts weniger als emancipirten Eindruck macht. Sodann war ich innerlich
sehr beschämt, als ich hörte, dass Frl. Williams mit Behaglichkeit lateinische Abhandlungen
liest, welche mir doch immerhin einige Unbequemlichkeit machen.145
Während sich Frauen in den USA bereits Zugang zu einigen Universitäten er-
kämpft hatten146, durften sie damals in Preußen keine Universität besuchen. Als
Felix Klein im Juli 1891 eine Anfrage der US-Amerikanerin Ruth Gentry erhielt,
ob sie bei ihm studieren dürfe, musste er bedauernd absagen. Auch die von Syl-
vester in Baltimore geförderte Christine Ladd-Franklin erhielt keine Erlaubnis, bei
Klein hören zu dürfen. Sie war im Herbst 1891 mit ihrem Mann Fabian Franklin
nach Göttingen gekommen (Vgl. 6.3.7.3). Der konservative Universitätskurator,
Rechtswissenschaftler und Geh. Reg.-Rat Dr. Ernst von Meier, hatte den Stu-
dienwunsch mit dem folgenden Spruch an Klein brüsk zurückgewiesen: „Das ist
schlimmer als die Sozialdemokratie, die nur den Unterschied des Besitzes ab-
schaffen will. Sie wollen den Unterschied der Geschlechter abschaffen!“147
Als Heinrich Maschke am 8. April 1893 aus Chicago schrieb, ob Klein nicht
in Göttingen erreichen könne, dass eine begabte Studentin zugelassen werde,
wandte sich Klein direkt an das Kultusministerium mit der Bitte, seine geplante
USA-Reise dafür nutzen zu dürfen, das mathematische Frauenstudium generell zu
prüfen. Das Ministerium reagierte schnell, denn 1891 war das Thema aufgrund
der erstarkten Frauenbewegung erstmals im Reichstag diskutiert worden. Althoff
hatte am 20. Mai 1892 eine neue Akte mit dem Titel „Die von Personen des weib-
lichen Geschlechts nachgesuchte Zulassung zur Immatrikulation und zu den Vor-
lesungen bei den Königlichen Landesuniversitäten“ angelegt. Friedrich Schmidt(-
Ott) teilte Klein noch vor seiner USA-Reise am 30. Juli 1893 mit:
Wegen des Frauenstudiums liegt die Sache, vertraulich gesagt, wie ich von Herrn G[e-
heim]R[at]. Althoff weiß, eigentlich jetzt schon so, daß wenn derartige Fragen hier nicht an-
geregt werden, von hier nicht hindernd eingegriffen wird. Bezüglich der Theilnahme an Vor-
lesungen wird sich dieser Usus auch eher befestigen, als eingeschränkt werden, und wenn
Amerikanerinnen zu Studienzwecken herüberkommen, werden denselben umso weniger
Schwierigkeiten gemacht werden können. Hr. GR. Althoff ist hierauf der Ansicht, daß Sie
Ihre zahlreichen Verehrerinnen in Amerika nur, ohne zu fragen, herüberkommen lassen
möchten.148
Die von Maschke empfohlene Mary Frances Winston, A.B. honory fellow of
mathematics, University of Chicago, nahm am International Congress149, und
auch am Evanston Colloquium teil. Als Klein in Chicago erfuhr, dass ihr Studium
Klein war noch unterwegs, als drei Frauen in Göttingen eintrafen, um Mathematik
(Mary F. Winston; Grace E. Chisholm152) bzw. Physik (Margaret E. Maltby153) zu
studieren. Felix Kleins Frau Anna kümmerte sich um sie, integrierte sie in die
Familie, führte sie durch die Stadt und in die Universität, wo sie Kleins damaliger
Assistent Ernst Ritter übernahm. Aus den USA zurückgekehrt, veranlasste Felix
Klein die offiziellen Bewerbungsschreiben für die Frauen. Obgleich Kurator Ernst
von Meier das Weiterleiten nach Berlin am 21. Oktober 1893 mit dem Satz be-
gleitete, er hielte es „[…] für sehr bedenklich, die bestehenden Bestimmungen zu
Gunsten von drei Ausländerinnen […] zu durchbrechen“, entschied das Ministe-
rium binnen fünf Tagen positiv.154 Dies war nur eine von mehreren Angelegenhei-
ten, bei denen sich der Göttinger Universitätskurator übergangen fühlte. Er legte
im Februar 1894 sein Amt nieder, weil er „[…] das Regiment der von Althoff be-
günstigten ‚Nebenkuratoren’ Lexis und Klein leid war.“155 Mit dem schon er-
wähnten Nachfolger Ernst Höpfner konnte Klein einvernehmlich agieren.
Die Mitarbeit der Frauen in Kleins Seminaren, ihre wachsende Zahl aus ver-
schiedenen Ländern, USA, Großbritannien, Russland u.a., die Wege der studie-
renden Frauen, Kleins Anregungen zu weiterführenden Arbeiten, ist inzwischen
gut untersucht.156 Hier sei Kleins generelles Verhalten hervorgehoben.
Erstens. Die in Kleins Veranstaltungen sitzenden Frauen besaßen zunächst
den Status der Hörerin (bzw. Hospitantin). Das bedeutete, jede Frau musste jeden
Professor einzeln um Erlaubnis fragen und die Zulassung beim Ministerium be-
antragen. Klein half mehrfach persönlich, die Anträge zu formulieren. Noch wäh-
rend seiner Amtszeit als Dekan 1894/95 nahm die Zahl studierwilliger Frauen
jedoch derart zu, dass das Ministerium den Zulassungsbescheid den Universitäten
überließ und nur noch Listen der Zugelassenen erbat. Während Klein noch 1893
150 Geld von Christine Ladd-Franklin und ihrer eigenen Familie, PARSHALL/ROWE 1994, 243.
151 Klein an Althoff, Briefentwurf v. 12.9.1893 [UBG] Cod. Ms F. Klein 1 C2: 70, Bl. 80R.
152 Chisholm kam auf Empfehlung von Andrew R. Forsyth aus Cambridge, der früh Kleins
Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie geschätzt hatte (vgl. Abschnitt 2.8.2).
153 Malty promovierte mit einem von Walther Nernst angeregten Thema Methode zur Bestim-
mung grosser elektrolytischer Widerstände (Göttingen 1895).
154 Vgl. TOBIES 1991/92, 154-55.
155 BROCKE 1980, 70.
156 Vgl. TOBIES 1991/92, 1999, 2019b.
7.5 Reise(n) in die USA 371
das englische System (extra Colleges für Frauen innerhalb der Universität) befür-
wortete, trat er schließlich für die Immatrikulation von Frauen und deren gleichbe-
rechtigte Teilnahme an den regulären Universitätsveranstaltungen ein. Denn in
seinen Veranstaltungen beteiligten sich die Frauen inzwischen genauso wie die
Männer. Preußen als größtes deutsches Land mit dem meisten Universitäten ver-
fügte am 18. August 1908 einen Erlass, der die volle Immatrikulation der Frauen
erlaubte. Die Bundesstaaten Baden (1900), Bayern (1903), Württemberg (1904),
Sachsen (1906), die sächsisch-ernestinischen Staaten (1907), Hessen (29.5.1908)
waren bereits vorausgegangen. Es folgte nur noch Mecklenburg (1909).157
Zweitens. Klein betrachtete mathematische Leistung unabhängig vom Ge-
schlecht, während es deutschlandweit noch zahlreiche Gegner des Frauenstudiums
gab, wenn auch kaum unter Mathematikern. Das Buch Die akademische Frau
(1897) enthält Aussagen von Repräsentanten aller Disziplinen, mit Befürwortern,
Gegnern und Personen, die für Ausnahmeregelung plädierten . Zu Letzteren ge-
hörte Max Planck, der den schon häufiger zitierten Spruch formulierte: „Amazo-
nen sind auch auf geistigem Gebiet naturwidrig“. D.h. für ihn war es wider die
Natur von Frauen, sich mit Wissenschaft zu befassen oder Waffen zu tragen (wie
die Amazonen in der griechischen Mythologie). Felix Klein antwortete dagegen
eindeutig positiv auf die Frage, was er vom akademischen Frauenstudium halte:
Ich antworte um so lieber auf die Frage, als die in Deutschland noch immer herrschende An-
sicht, daß jedenfalls die mathematischen Studien der Damen so gut wie unzugänglich sein
müssen, ein wesentliches Hemmnis aller auf Entwicklung des höheren weiblichen Unterrichts
gerichteten Bestrebungen sein dürfte. Dabei beziehe ich mich nicht auf außerordentliche
Fälle, die als solche nicht viel beweisen, sondern auf den Durchschnitt unserer Göttinger Er-
fahrungen. Ich will auch hier nicht weit ausholen, sondern nur anführen, daß beispielsweise in
diesem Semester nicht weniger als sechs Damen an unseren höheren mathematischen Kursen
und Übungen teilnahmen und sich dabei fortgesetzt ihren männlichen Konkurrenten in jeder
Hinsicht als gleichwertig erwiesen. Der Natur der Sache sind dies einstweilen noch aus-
schließlich Ausländerinnen: zwei Amerikanerinnen, eine Engländerin, drei Russinnen; – daß
aber die fremden Nationen von Hause aus eine spezifische Begabung haben sollen, die uns
abgeht, daß also unsere deutschen Damen bei geeigneter Vorbereitung nicht sollten dasselbe
leisten können, wird wohl kaum jemand behaupten wollen.158
Jungfrau Grace Emily Chisholm aus London, welche durch die von ihr herausgegebene Dis-
sertation ‚Gruppen theoretisch-algebraische Untersuchungen über sphärische Trigonometrie’
und durch die bestandene Prüfung ihre Kenntnisse in der Mathematik, Physik und Astrono-
mie mit Auszeichnung nachgewiesen hat, am 22. Juni 1895 zum Doctor der Philosophie und
Meister der freien Künste ernannt und das zur Urkunde dieses Diplom mit dem Siegel der
philosophischen Facultät ausfertigen lassen.“ Der Erfolg des Studiums der Dame, der hier-
durch bekundet wird, ist auch sonst von den Universitätslehrern bezeugt worden. In diesem
Sommersemester studiren hier 14 Damen gegen fünf im vorigen Winter.159
Viertens. Klein war beispielgebend für Kollegen und Schüler. Hilbert trat in diese
Fußstapfen, führte insgesamt 69 Personen zur Doktorwürde, darunter sechs
Frauen.160 Auch Adolf Hurwitz und Heinrich Burkhardt in Zürich, Wilhelm Wir-
tinger und Philipp Furtwängler in Wien, Georg Pick in Prag, Virgil Snyder an der
Cornell University in den USA, und Max Winkelmann an der Universität in Jena
promovierten an ihren Institutionen die ersten Frauen.161 Kleins Doktorschüler Jo-
hannes Schröder förderte als Hamburger Gymnasialprofessor unvoreingenommen
Mädchen im Mathematikunterricht und betonte:
Früher bestand lange Zeit das Vorurteil, dass Frauen die Beanlagung für mathematisches
Denken gänzlich fehle, ihre weibliche Eigenart ziehe sie mehr zu einer Beschäftigung mit li-
terarischen, sprachlichen, historischen und ethischen Fragen als zur streng logischen Denk-
betätigung, wie sie nun einmal die Mathematik von jeher erfordert. Treffend hat u.a. [Felix]
Klein darauf aufmerksam gemacht, wie unberechtigt und haltlos die Ansicht ist, dass Frauen
die Mathematik nicht liege.162
Fünftens. Die Zulassung zum Studium und zur Promotion war für Frauen nicht
die einzige zu nehmende Hürde. Sogar das Lehramtsstaatsexamen für höhere
Schulen war ihnen zunächst verwehrt. Als Klein seinen ehemaligen Studenten
Wilhelm Lorey beauftragte, einen Artikel zum Thema „Die mathematischen Wis-
senschaften und die Frauen“ zu verfassen, gab er den Rat, dass er die Frauen er-
wähnen solle, die inzwischen „den Oberlehrer in Mathematik abgelegt haben“.
Klein schrieb explizit, dass Thekla Freytag „als erste die ganzen Schwierigkeiten
(in Berlin) durchgekämpft hat“. Es hatte mehrere Anträge erfordert, bevor die
Genehmigung zur Prüfung 1905 erteilt worden war.163
Dass die Habilitation, Voraussetzung für eine Professur an einer deutschen
Universität, nicht mehr an das männliche Geschlecht gebunden war, wurde erst
159 Göttinger Zeitung, 2.8.1895, zitiert nach Elisabeth MÜHLHAUSEN 1993, 196.
160 Vgl. TOBIES 1999b.
161 Zu Georg Picks Wirken vgl. Martina BEČVÁŘOVÁ 2015; 2016; zu Max Winkelmann TOBIES/
VOGT 2014 und BISCHOF 2014.
162 Schröder, J. (1913): Die neuzeitliche Entwicklung des mathematischen Unterrichts an den
höheren Mädchenschulen Deutschlands (Abhandlungen des Mathematischen Unterrichts in
Deutschland, veranlasst durch die IMUK, hg. v. F. Klein), Bd. I, H. 5. Leipzig/Berlin: B. G.
Teubner. – Schröder hatte 1890 zum Thema „Über den Zusammenhang der hyperelliptischen
σ und δ Funktionen“ bei Klein promoviert (vgl. Abschnitt 6.3.2).
163 Karte Kleins an Lorey, zitiert in TOBIES 2008c, 25; Lorey, W. (1909): „Die mathematischen
Wissenschaften und die Frauen. Bemerkungen zur Reform der höheren Mädchenschule“.
Frauenbildung 8, 161-78. Zu Thekla Freytag vgl. TOBIES 2017b.
7.7 Studienfach Versicherungsmathematik 373
mit einer gesetzlichen Regelung vom 21. Februar 1920 aufgehoben.164 Der Ver-
such Göttinger Mathematiker, für Emmy Noether eine Ausnahme zu erreichen,
war 1915 und 1917 gescheitert. Es bedurfte eines dritten Anlaufes, den Klein
maßgeblich in Gang brachte (vgl. Abschnitt 9.2.2), sodass sich Emmy Noether
noch 1919, vor der offiziellen Regelung, als erste Mathematikerin in Deutschland
habilitieren konnte.165
Wilhelm Lorey überlieferte, dass Klein vom Betrieb der seit 1843 in New York
gegründeten Mutual Life Insurance Company und von Emory McClintock’s Ar-
beiten beeindruckt gewesen sei.167 Diese Versicherungsgesellschaft besaß seit
1886 auch Agenturen in Europa (Berlin, Hamburg, London); und McClintock
gehörte dieser Gesellschaft in New York von 1889 bis 1911 an. Als Felix Klein
1893 durch die New York Mathematical Society empfangen worden war (Ab-
schnitt 7.5.3), war McClintock deren Präsident.
Zurückgekehrt aus den USA, fand Klein das Thema Versicherungsmathema-
tik virulent. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich interessierten sich
staatliche Behörden und die gewachsene Zahl von Versicherungsgesellschaften
dafür, die Ausbildung von Versicherungssachverständigen zu regeln. In Wien be-
auftragte das Unterrichtsministerium 1893 den Mathematiker Leopold Gegen-
bauer mit einem Gutachten dazu. Gegenbauer veranlasste Ludwig Kiepert – der
neben seiner Professur an der TH Hannover als Direktor einer Versicherungs-
gesellschaft fungierte – auf der Wiener DMV-Versammlung 1894 einen Vortrag
„Über die mathematische Ausbildung von Versicherungstechnikern“ zu halten.168
Kiepert begründete, warum eine universitäre Ausbildung dafür notwendig sei.
Klein initiierte noch in Wien über seinen Hallenser Kollegen Albert Wange-
rin, dass der Nationalökonom Robert Friedberg, Abgeordneter der Nationallibe-
ralen Partei, das Thema ins preußische Parlament brachte. Daraufhin wurden au-
ßerordentlich schnell Gelder bereitgestellt, sodass Althoff, Klein, Kiepert und der
Kurator Ernst Höpfner bereits am 5. September 1895 in Göttingen ein Seminar
Versicherungstechnik besiegelten. Es trat am 1. Oktober 1895 unter Leitung von
Wilhelm Lexis ins Leben, der neben seiner Professur für Volkswirtschaftslehre in
Göttingen (seit 1887) im Jahre 1893 zugleich als Althoffs Mitarbeiter im Kultus-
ministerium verpflichtet worden war. Lexis wurde vor allem durch seine Disper-
sionstheorie über die Varianz statistischer Quoten bei zeitlichen Schwankungen
164 [StA Berlin] Rep. 76 Va Sekt. 1, Tit. VIII Nr. 8, Adh. III, Bl. 162.
165 Vgl. hierzu TOLLMIEN 1990; zu Noethers Arbeiten und ihrer Schule auch KOREUBER 2015.
166 Vgl. detailliert TOBIES 1990b; 1992b..
167 Vgl. McClintock, E. (1892): On the effects of selection: An actuarial essay. University of
Michigan. – Lorey, W. (1950): „Die Bedeutung von Pierre Simon Laplace und Felix Klein für
die Versicherungsmathematik“. Blätter Dt. Ges. Vers.-Math., Würzburg, 1, 39-50, bes. 45.
168 Jahresbericht der DMV 4 (1897) 116-21. – Zu Kiepert und Klein vgl. Abschnitt 2.5.2.
374 7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895
bekannt.169 Klein, der einen Nachruf auf Lexis schrieb, bezeichnete diesen auf-
grund seines mathematischen Herangehens als „Neubegründer der mathemati-
schen Statistik“.170 Das deutschlandweit zweite derartige Seminar entstand 1896
in Sachsen, an der TH Dresden.171
Das Göttinger Seminar umfasste eine mathematische und eine administrative
Klasse. Es sollten Mathematiker und höhere Verwaltungsbeamte für das öffentli-
che und private Versicherungswesen ausgebildet werden.172 Die Kandidaten hat-
ten Prüfungen in „Versicherungsrechnung, Versicherungs-Oekonomik und –Sta-
tistik, theoretischer und praktischer Nationalökonomie“ abzulegen, wobei die Ab-
solventen der mathematischen Klasse zusätzlich in Mathematik, die der administ-
rativen Klasse zusätzlich in Versicherungsrecht geprüft wurden. Klein bewog den
Privatdozenten Georg Bohlmann, Versicherungsmathematik zu lehren, und über-
nahm selbst ab 29. Februar 1896 die Examen in „reiner Mathematik“.173
Der durch Klein geförderte Bohlmann hatte in Berlin studiert, aber die dort
verpönte Liesche Gruppentheorie für seine Dissertation herangezogen. Deshalb
hatte er die Arbeit 1892 in Halle eingereicht und war 1894 Kleins Angebot ge-
folgt, sich in Göttingen zu habilitieren. Da der Zulauf zu Bohlmanns versiche-
rungsmathematischen Veranstaltungen zunächst gering war, lenkte Klein seinen
eigenen Studenten Wilhelm Lorey erfolgreich in diese Richtung.174 Klein gewann
Bohlmann als Autor für die ENCYKLOPÄDIE (Bd. I, Lebensversicherungs-Mathe-
matik, 1901), integrierte ihn in einen Ferienkurs für Oberlehrer (Ostern 1900) und
sorgte auch dafür, dass er ein Stipendium sowie den Professorentitel erhielt.
Als der oben erwähnten Berliner Filiale der Mutual Life Insurance Company
der Entzug der Konzession drohte, erbat der preußische Innenminister ein Gut-
achten von Klein. Klein sagte mit Schreiben vom 27. Juni 1897 zu und erwirkte
die Mitarbeit von Lexis und Bohlmann.175 Das Gutachten führte zum Fortbestehen
der Filiale. Klein erhielt am 21. November 1899 „in Anerkennung seiner ver-
dienstvollen Thätigkeit bei der Abgabe versicherungstechnischer Gutachten den
Königlichen Kronenorden zweiter Klasse“.176 Bohlmann wechselte 1903 zu dieser
Versicherungsgesellschaft, da er noch immer keine aus dem Staatshaushalt finan-
zierte Professur erhalten hatte.
Dank Kleins Initiativen erwuchs aus dem Lehrgebiet Versicherungsmathema-
tik schließlich doch noch eine verbeamtete Professur.177 Zunächst lehrte der Ast-
169 Dargestellt in Bd. 1.2 der ENCYKLOPÄDIE durch Lexis’ Schüler Laudislaus von Bortkiewicz
„Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Statistik“ (1901).
170 KLEIN 1914a, 315.
171 Vgl. VOSS 2003.
172 Statuten des Seminars, [UBG] Cod. Ms. F. Klein I C2: Bl. 108., abgedruckt in TOBIES 1990b.
173 [UBG] Cod. Ms. F. Klein A 1: 10, Nr. 867; Klein in JACOBS 1977, Personalia 22L, Bl. 7.
174 Vgl. Tobies 1990b; SCHNEIDER 1989, S. 355; Krengel, U. (2011): “On the contributions of
Georg Bohlmann to Probability Theorie”. Electronic Journal for the History of Probability
and Statistics 7, N. 1, 1-13.
175 Zur Arbeitsteilung und zu Berichten dazu vgl. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7K.
176 [UAG] Kur. 5956 (Personalakte Klein), Bl. 143.
177 Vgl. hier und im Folgenden TOBIES 1992b.
7.8 Kontaktaufnahme mit Ingenieuren und Industriellen 375
ronom Martin Brendel das Gebiet. Im Oktober 1907 veranlasste Klein, dass sich
Felix Bernstein von Halle nach Göttingen umhabilitierte und dem Gebiet erfolg-
reich widmete. Aus dessen Lehrauftrag wurde 1909 ein Extraordinariat für Versi-
cherungsmathematik, mathematische Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Im Jahre 1911 erreichten Klein und Lexis, dass Versicherungsmathematik als
Wahlfach für angewandte Mathematik in die Prüfungsordnung für Lehramts-
kandidaten aufgenommen wurde. Um das Forschungsfeld zu unterstützen, veran-
staltete Klein mit Bernstein im Sommer 1911 ein Seminar „Versicherungs-Mathe-
matik“ mit einem breiten Programm.178
Obgleich Felix Bernstein im Folgenden einige eigenwillige Wege beschritt,
entstand 1918 in Göttingen ein eigenes Institut für mathematische Statistik. Als er
am 7. Juni 1919 seine Ernennung zum Ordinarius selbst beantragte, lehnte dies die
mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät
zwar ab. Felix Klein und David Hilbert verwendeten sich jedoch in persönlichen
Schreiben für Bernstein, ebenso unterstützten Richard Courant und Carl Runge
das Anliegen, sodass der Ruf unter den neuen politischen Bedingungen der Wei-
marer Republik zum 13. Oktober 1921 verfügt wurde. Das Argument, dass „den
Studierenden der Mathematik gerade unter jetzigen Zeitumständen alle Wege zum
Ergreifen für sie geeigneter freier Berufe offen zu halten (oder auch neu zu eröff-
nen)“ seien,179 hatte Klein schon seit Beginn der 1890er Jahre benutzt.
Klein hatte in Reden und Denkschriften wiederholt den Bezug zur Technik ange-
mahnt. In den USA war ihm vor Augen geführt worden, wie an Universitäten ein
Ingenieurstudium funktionieren konnte und wie dies durch private Mittel geför-
dert wurde. So wollte er auch in Göttingen physikalische Forschung durch Pro-
bleme der technischen Praxis beleben und umgekehrt das praktische „Maschi-
nenwesen mit dem mathematisch-physikalischen Geiste des geschulten Theoreti-
kers“ durchdringen lassen.180 Als Nahziel formulierte er ein Institut für technische
Physik, was er bereits im Gespräch mit Helmholtz auf der Schiffsreise angedeutet
hatte. Klein hatte dies im Reisebericht an Althoff näher begründet, der allerdings
auf die fehlenden Finanzen verwies. Eine Verzahnung mit Technik gab es damals
an keiner deutschen Universität. Auch an den Technischen Hochschulen wurden
erst in der Folgezeit größere Laboratorien für technische Physik etabliert.181
178 [Protokolle] Bd. 28. Sieben Teilnehmer, darunter der noch unpromovierte polnische Mathe-
matiker Stefan Masurkiewicz (Vortrag zur Weiterentwicklung der Dispersionstheorie) und
Arthur Rosenthal (Vortrag zur Biometrik). – Zur „Prüfungsordnung“ vgl. Abschnitt 8.1.2
179 Klein an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, am 18.8.1919, abge-
druckt in TOBIES 1992b, 23-24.
180 KLEIN 1923a Autobiographie, 26-27.
181 Carl Linde betonte, dass an der TH München ein neues Labor für technische Physik, das
Theorie und Experiment bewusst kombinierte, durch Kleins initiierte Bewegung entstand, die
sein Schüler Walther Dyck dort förderte. LINDE 1984, 126; auch HASHAGEN 2003, 301-16.
376 7 Weichenstellungen, 1892/93 – 1895
Obgleich Klein später Friedrich Althoff eine maßgebliche Rolle beim Aufbau
des Zentrums von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik in Göttingen
zuschrieb,182 dokumentieren die Quellen, dass Klein selbst zu einem Motor in
dieser Zeit des Strukturwandels im deutschen Hochschulwesen wurde. Angesichts
der beschränkten Staatsfinanzen, verbunden mit niedrigen Steuern und hohen
Rüstungsausgaben, sowie gewachsener Kosten für die apparative Ausstattung
naturwissenschaftlich-technischer Einrichtungen sahen sich staatliche Instanzen
außer Stande, überall gleichmäßig zu entwickeln.183 Bei einem Spaziergang
Kleins am Neujahrstage 1894 mit seinem Bruder Alfred184, der als Rechtsanwalt
Kontakt mit dem Funktionär der Schwerindustrie Emil Schrödter besaß, entstand
die Idee zu einem Comité, wovon Althoff mit Brief vom 24. März 1894 erfuhr:
Ich bin ein paar Tage in meiner Heimath gewesen und habe da der Sache eine Wendung ge-
geben, über die ich umgehend berichten muß. Von der Ueberzeugung ausgehend, daß die In-
dustrie selbst an der Sache das grösste Interesse haben muß, bin ich mit hervorragenden
Fachmännern in Verbindung getreten, und es ist mir gelungen, ein Comité zusammenzubrin-
gen, welches sich den Zweck stellt, uns materiell zu unterstützen.185
Das Geld floss jedoch nicht sofort. Erbeten durch Althoff erarbeitete Klein 1894
weitere Denkschriften für ein zu gründendes Universitätsinstitut für technische
Physik. Althoff unterstützte Zusammenkünfte mit Industriellen in Berlin, verhielt
sich jedoch vorsichtig abwartend. Er sandte Kleins Denkschriften an Kollegen im
Ministerium und an Technikwissenschaftler, bei denen die Pläne auf heftigen Wi-
derstand stießen. Kleins Wortwahl, er wolle an der Universität „Generalstabsoffi-
ziere der Technik“ ausbilden, was das Ausbilden des Fußvolkes von Ingenieuren
(„Frontoffiziere“ – wie er es nannte) an den Technischen Hochschulen intendierte,
sahen Hochschulingenieure als Erniedrigung und die Göttinger Pläne als Konkur-
renz. Die heftigen Auseinandersetzungen sind von MANEGOLD (1970) und
HENSEL (1989) analysiert worden. An der Universität gewann Klein zwar seinen
Freund Eduard Riecke schnell als Befürworter; andere brauchten länger, um ihren
Carl Linde antwortete sofort zustimmend. Er gehörte 1895-96 dem Vorstand des
Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) an und empfahl Klein den Kontakt dorthin.
So wurde Klein Mitglied des VDI und fand bei dessen Aachener Jahresversamm-
lung im August 1895 weitere Förderer seiner Pläne (vgl. 8.2). Linde half, einen
sog. „Aachener Frieden“ mit Klein herbeizuführen. Das verpflichtete Klein je-
doch, auf eine Ingenieurausbildung zu verzichten und sein Bestreben darauf zu
beschränken, „[…] künftigen Lehrern der Mathematik und Physik an höheren
Schulen Einblick in die Anwendung dieser Disziplinen auf technischem Gebiete
zu geben und den Chemikern, Juristen und Landwirten eine Grundlage für das
Verständnis der Aufgaben zu bieten, welche für diese Berufe aus der heutigen
Bedeutung der Industrie erwachsen“.187 Am 6. Dezember 1895 erklärte Klein
seine Ideen auch mit einem Vortrag im Hannoverschen Bezirksverein des VDI.188
Neben Linde erwies sich der in England aufgewachsene kaufmännische Leiter
der Elberfelder Farbenfabriken Henry Theodor Böttinger als wichtiger Mäzen.
Böttinger half 1894, einen an Walther Nernst ergangenen Ruf nach München ab-
zuwenden. Nernst war seit 1891 Extraordinarius für physikalische Chemie und
Elektrochemie in Göttingen, hatte schon herausragende Ergebnisse (Nernst-Glei-
chung; Nernstsches Verteilungsgesetz) in der theoretischen Chemie erzielt und
schrieb gerade mit Arthur Schönflies – angeregt durch Klein – ein Lehrbuch Ein-
führung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften189. Böttinger
war an einer Reform der Chemikerausbildung interessiert und hatte Nernst schon
1894 als Gründungsmitglied der Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft er-
lebt. Klein fuhr als damaliger Dekan zu Althoff nach Berlin, um Nernsts Bedeu-
tung für Göttingen zu unterstreichen. Abgestimmt mit Althoff stellte Böttinger
schließlich persönlich Gelder bereit, damit für Walther Nernst sofort ein Ordina-
riat und ein Institut für physikalische Chemie geschaffen werden konnten. Josef-
Wilhelm KNOKE (2016) erhellte in seiner quellenbasierten Dissertation, dass Böt-
tinger nicht ganz uneigennützig handelte: Er sicherte sich die Verwertungsrechte
über künftige Erfindungen des späteren Nobelpreisträgers Nernst.190
Althoff und Linde trugen bei, dass sich Böttinger weiterhin für die Kleinschen
Ideen engagierte.191 Bevor die Allianz von Wissenschaft, Industrie und Staat unter
Böttingers Vorsitz noch enger geschmiedet sein sollte (vgl. 8.1.1), stifteten Böt-
tinger (10.000 M), Linde (5.000 M) und der Münchener Lokomotivfabrikant Ge-
org Krauß (5.000 M) Mittel, um erstmals ein Universitäts-Institut für technische
Physik auf den Weg zu bringen. Den Stiftern Böttinger und Linde wurde im Juni
1896 mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen ge-
dankt.192 Für das neue Institut hatte Klein zunächst Carl Linde als Institutsdirektor
gewünscht. Linde versprach zwar zu unterstützen, begründete jedoch ausführlich,
dass er wegen seiner Versuchsstation mit unbegrenzten Mitteln, seiner ungebro-
chenen „Erfinderlust“ und aus familiären Gründen an München gebunden sei.193
Als erster Direktor für das Göttinger Institut für technische Physik wurde Ende
1896 der Münchener Privatdozent Richard Mollier berufen. Er erhielt eine a.o.
Professor für (landwirtschaftliche) Maschinenlehre, begann zu lehren und das In-
stitut einzurichten. Allerdings folgte er bereits ein Jahr später einem Ruf an die
TH Dresden (Nachfolge Gustav Zeuner). Auch Eugen Meyer, der nun das Göttin-
ger Extraordinariat erhielt, widerstand dem verlockenden Angebot einer Professur
an der TH Berlin nicht. Um eine gute langfristige Besetzung der Position zu er-
halten, bedurfte es in Göttingen weiterer finanzieller Mittel sowie Kleins Perso-
nalpolitik, für die neuen angewandten Gebiete ordentliche Professuren zu errei-
chen (vgl. Abschnitt 8.1)
Hilbert hatte 1892 als Hurwitz’ Nachfolger das Extraordinariat und 1893 als Lin-
demanns Nachfolger das Ordinariat an der Universität Königsberg erhalten. Klein
signalisierte Althoff seine Genugtuung darüber und hielt Hilbert weiterhin für den
aufstrebenden Mathematiker, der ihm seine neuen Resultate zur Publikation in
den Mathematischen Annalen oder in den Göttinger Nachrichten sandte. Hilbert
studierte auch die ihm zugeschickten Vorlesungen Kleins über Höhere Geometrie,
benutzte sie in eigenen Lehrveranstaltungen und schickte etliche Korrekturen dazu
an Klein, den er immer noch mit „Hochgeehrter Herr Professor“ anredete.194
In Göttingen wurde der Weg für David Hilbert frei, als Heinrich Weber zum
Sommersemester 1895 einen Ruf als Nachfolger von Elwin Bruno Christoffel an
der Universität Straßburg annahm. Klein, Dekan der Philosophischen Fakultät in
Göttingen, hatte Hilbert schon am 6. Dezember 1894 darüber informiert:
Sie wissen vielleicht noch nicht, dass Weber nach Strassburg geht. Heute Abend noch treten
wir desshalb in der Facultät zusammen, und so wenig ich dem Resultate der Berathung der zu
ernennenden Comission vorgreifen kann, so will ich Ihnen doch mitheilen, dass ich mir alle
Mühe geben werde, in erster Linie Niemanden anders als Sie herzubringen. Sie sind der
Mann, den ich als wissenschaftliche Ergänzung brauche: vermöge der Richtung Ihrer Arbei-
ten und der Kraft Ihres mathematischen Denkens, und insofern Sie noch mitten in Ihrer pro-
ductiven Periode stehen. Ich rechne, dass Sie der hiesigen mathematischen Schule, die sich ja
aeusserlich fortschreitend entwickelt hat und, wie es scheint, noch sehr viel weiter wachsen
wird, einen neuen inneren Gehalt bieten und vielleicht auf mich selbst eine verjüngende Wir-
kung ausüben werden. […] ich kann ja nicht wissen, ob ich in der Facultät durchdringe und
noch weniger, ob schliesslich von Berlin die Berufung erfolgt, wie wir sie beantragen. Aber
das Eine müssen Sie mir schon heute versprechen, dass Sie den Ruf, wenn er an Sie kommt
nicht abschlagen!195
Hilbert versprach, ohne Besinnen und mit grosser Freude zu kommen.196 Der
Berufungskommission gehörten an: Felix Klein, Heinrich Weber, Ernst Schering;
die Physiker Woldemar Voigt und Eduard Riecke; der Astronom Wilhelm Schur;
und der Theologe Rudolf Smend als Vertreter der philologisch-historischen
Sparte.197 Sie verabschiedeten am 13. Dezember 1894 einstimmig eine Zweierliste
mit Hilbert und Hermann Minkowski. Althoff regelte die Angelegenheit schnell.
Klein erfuhr am 19. Dezember 1894 von Hilbert, dass er Althoffs Angebot, 4600
Mark Gehalt, Wohnungsgeldzuschuss und Umzugskosten, umgehend angenom-
men habe.198 Das war weniger als die Hälfte des Jahresgehalts, das Klein damals
bezog. Minkowski erhielt Hilberts Königsberger Ordinariat, wechselte aber be-
reits ein Jahr später nach Zürich. Die wiederum freie Stelle in Königsberg über-
nahm Franz Meyer (Clausthal), sodass dessen Mathematik-Professur an der Berg-
akademie das Sprungbrett für Arnold Sommerfeld werden konnte.
Klein hatte Hilbert bevorzugt, weil er in ihm die aus seiner Sicht kreativste
Figur im damaligen deutschsprachigen Raum sah. Klein hatte früh, noch vorm
Schreiben an Hilbert, versucht, dies seinem Schüler Hurwitz zu erklären, der ihm
daraufhin am 4. Dezember 1894 aus Zürich geantwortet hatte:
Was Ihre Berufungsangelegenheit betrifft, so habe ich mir gleich gedacht, dass Sie auf Hilbert
reflektiren würden. Ich gönne Hilbert den Ruf auch von Herzen und zweifle nicht, daß Sie
eine gute Wahl getroffen haben. Nur macht mich die Äußerung in Ihrem Briefe stutzig, dass
meine Berufung von vorn herein als aussichtslos bezeichnet worden ist.199
Wie wir Kleins Antwort an Hurwitz entnehmen, hatte er offensichtlich die Aus-
einandersetzungen um den Antisemitismus in der Fakultät gescheut, sah Hurwitz
zu dicht an der eigenen Denkrichtung und ihn zudem in Zürich mit Familie gut
aufgehoben.200 Klein erwartete durch Hilbert eine stärkere eigene wissenschaftli-
che Anregung, wenn ihm auch unterschiedliche Ansichten bewusst waren. Nach-
dem Hilbert Anfang Januar 1895 ein paar Tage in Göttingen gewesen war, ließ
Klein Hurwitz darüber wissen:
Wir sind ja in mancher Hinsicht verschiedener Auffassung: ich liebe die Anwendungen, die
ihm gleichgültig sind, und stelle an die gewöhnlichen Lehramtscandidaten in mathematischer
Hinsicht niedere Anforderungen, während er womöglich im ersten Semester mit schärfsten
Definitionen beginnen will. Ich bin begierig, wie wir uns da zusammenfinden. Desto zuver-
sichtlicher sehe ich dem wissenschaftlichen Ineinanderarbeiten entgegen.201
Bei der Lehr-Abstimmung sollte sich Hilbert als kongenialer Partner erweisen.202
Klein startete mit ihm am 1. Mai 1895 das erste gemeinsame Forschungssemi-
nar.203 Klein sorgte dafür, dass Hilbert bereits am 22. Juni 1895 zum o. Mitglied
in der mathematisch-physikalischen Klasse der Kgl. Gesellschaft der Wissen-
schaften (ohne Gegenstimme) gewählt wurde.204 Damit war eine Weiche für einen
neuen mathematischen Prinzen gestellt, der Göttingen und Klein treu blieb, trotz
verlockender Rufe nach Leipzig, München, Berlin (2x), Heidelberg und Bern. Als
1904 der Ruf Hilberts nach Heidelberg anstand, schrieb Anna Klein an ihren
Mann Felix kurz nach dem III. Internationalen Mathematiker-Kongress205:
Soeben kam Dein Brief u. bin ich ganz angethan von der abermaligen Berufung Hilberts. Er
ist doch ein ehrlicher, zuverlässiger Mensch, daß er auch dieser starken Lockung widerstan-
den hat, sicher nur in der Meinung, daß er den Glanz Göttingens nicht schmälern dürfe […].
Nun wird er uns wohl sicher sein.206
Hilbert führte erst 1898 seinen ersten Doktorschüler zur Promotion. Dieser, Otto
Blumenthal, verglich: Hilbert, „[…] dieser mittelgroße, bewegliche, ganz unpro-
fessoral aussehende, unscheinbar gekleidete Mann mit dem breiten rötlichen Bart
[…], der so seltsam abstach gegen Heinrich Webers ehrwürdige, gebeugte Gestalt
und Kleins gebietende Erscheinung mit dem strahlenden Blick.“207
Klein verfolgte mit hohem persönlichen Einsatz und durch gezieltes Aufgreifen
staatlicher und industrieller Potentiale sein Ziel, in Göttingen die einst von Gauß
vertretenen Gebiete Mathematik, Naturwissenschaft, Technik auf höherer Ebene
einzurichten (vgl. 8.1). Er rang darum, noch als kreativer Mathematiker wahrge-
nommen zu werden und formulierte offene Probleme für Anwendungen der Ma-
thematik (8.2). Er widmete sich zunehmend dem Programm Geschichte, Philoso-
phie, Psychologie und Unterricht, welches er für einen Abschlussband der ENCY-
KLOPÄDIE entwarf und welche in eine „Kleinsche Unterrichtsreform“ mündete –
wie es schon zu seiner Lebenszeit hieß. (8.3) Klein beteiligte sich an weiteren
internationalen Projekten und wandte sich bewusst gegen nationalistische
Tendenzen. (8.4) Er verplante jede Minute. Als die Zahl der Verpflichtungen auch
die Semesterpausen blockierte, ließ er sich vorzeitig emeritieren. (8.5)
„Seine Majestät der Kaiser und König“ Wilhelm II. unterzeichnete am 16.
April 1896 ein Patent, womit dem 47-jährigen Klein der „Charakter als Geheimer
Regierungs-Rath“ erteilt wurde.3 Vom Ministerium in seinen Bestrebungen unter-
stützt, fühlte sich Klein allerdings erst ein halbes Jahr später, nachdem er einen an
ihn ergangenen Ruf neben Willard Gibbs4 an die Yale University abgelehnt hatte:
1 FRICKE/KLEIN 1912, V.
2 [UA Braunschweig] Klein (aus Hahnenklee) an Fricke, 4.12.1911.
3 [UAG] 5956, Bl. 104-107 (Antrag Philos. Fak., Dekan Wilamowitz-Moellendorff, 13.1.
1896). WIENER (1962, 87) verglich den Titel Geheimrat mit der Ritterwürde in England.
4 Bekannt durch die Gibbsche Phasenregel (1876). Gibbs trug bei, den Lagrange-Formalismus
mit begrifflichem Inhalt der physikalischen Chemie zu füllen; lieferte Beiträge zur Theorie
der Fourier-Reihen; verhalf der Vektoranalysis zum Durchbruch, indem er Graßmanns Aus-
dehnungslehre mit Ansätzen von Hamilton verband. (Vgl. hierzu auch KLEIN 1926 Vorlesun-
gen I, 242; 1927 II, 38, 45-47).
381
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R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_8
382 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Daß ich diesen Vorschlag ohne nähere Verhandlungen ablehnte, da ich mich durch die Unter-
nehmungen und Pläne gebunden glaubte, für die ich mich in Göttingen eingesetzt hatte, das
endlich riß Althoff aus seiner bisherigen Reserve heraus und veranlaßte ihn zu tätiger Mit-
hilfe.5
Die Entwicklung unserer culturellen Verhältnisse drängt immer mehr darauf hin, daß eine
gewisse Zahl von Persönlichkeiten gebraucht wird, welche die mathematisch-physikalische
Universitätsbildung in technischer Richtung zur Geltung zu bringen haben. […]
Sie wissen Alle, dass Siemens bei seinen grossen Unternehmungen nicht zu seinem Schaden
fortgesetzt theoretische Physiker mit beschäftigt hat. Ein anderes besonders interessantes
Beispiel in dieser Hinsicht gibt Zeiß’ optisches Institut in Jena, dessen immer neue und
überraschende Leistungen die Bewunderung des Auslandes bilden. Dieser Erfolg ist nur da-
durch erreicht worden, daß ein so hervorragender Mathematiker und Physiker wie Prof. Abbe
sein ganzes theoretisches Können dem besonderen Zwecke des Instituts dienstbar gemacht
hat.6
Klein setzte sein Bemühen um das Verbinden von Technik mit Theorie fort, trotz
der Schranken, in die ihn die Aachener Beschlüsse (vgl. 7.8) verwiesen hatten. Er
kannte Ernst Abbes Erfolge, der basierend auf der Firma Carl Zeiss und dem
Glaswerk Schott 1889 eine Carl-Zeiss-Stiftung gegründet hatte und damit die
(staatliche) Universität und die Stadt Jena unterstützte.7 Klein kannte technische
Institute von Privatuniversitäten der USA und fand für die staatliche Universität
Göttingen einen geeigneten Sonderweg, indem er Wissenschaftler und Industrielle
in einer „Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Ma-
thematik“ (kurz: Göttinger Vereinigung) zusammenführte. (Abschnitt 8.1.1)8
In Kooperation mit dem Kultusministerium konnte Klein erstmals ange-
wandte Mathematik als spezielle Lehrbefähigung in die Prüfungsordnung für
Lehramtskandidaten integrieren. Neue Lehraufträge, Professuren, Institute waren
die Folge. (8.1.2)
Klein erkannte und förderte das Potential neuer Forschungsfelder für Anwen-
dungen der Mathematik. Das betraf in besonderem Maße die Luftfahrtforschung,
die er in Göttingen verankerte, indem er neue Geldquellen nutzte, Ludwig Prandtl
in die Spur setzte und dauerhaft in Göttingen halten konnte. (8.1.3)
Seit Gauß und Weber ist es eine Göttinger Tradition, daß Mathematik und Physik nicht
nebeneinander, sondern miteinander fortschreiten. Klein hat diese Tradition besonders ener-
gisch gehütet und durch Einbeziehung der technischen Wissenschaften ausgebaut.9
Max Born verglich hier Klein mit Hilbert. Er wusste, dass technische Wissen-
schaften notwendig teurer sind und estimierte (wie Hilbert) Kleins Einwerben von
Drittmitteln bei Industriellen (vgl. auch 9.4.2), die sich ihrerseits Gewinn von
neuen Ergebnissen und verbesserter Allgemeinbildung versprachen.
Die Industrieproduktion in Deutschland war durch die Reichseinigung be-
günstigt worden. Zudem waren nach dem Deutsch-Französischen Krieg fünf Mil-
liarden Goldfrancs Kriegskontributionen geflossen. Es hatten sich zahlreiche wis-
senschaftlich-technisch fundierte Unternehmen gebildet: 928 neue Aktiengesell-
schaften (AG) in der Hochkonjunktur der „Gründerjahre“ 1871-73; weitere 1860
in der Zeit von 1874 bis 1889.10 Repräsentanten dieser Unternehmen beteiligten
sich an der Gründung chemischer und elektrotechnischer Vereine und ließen sich
auch für Kleins Göttinger Ziele gewinnen.11
Die am 28. Februar 1898 gegründete „Göttinger Vereinigung zur Förderung
der angewandten Physik“ wurde am 17. Dezember 1900 auf angewandte Mathe-
matik erweitert. Der „Erweiterungssitzung“ wohnten bei: der Vorsitzende der
Göttinger Vereinigung Henry Theodor Böttinger (Vorstandsmitglied der AG Far-
benfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.); Felix Klein (Stellvertreter, Protokollfüh-
rer); Tonio Bödiker (Vorstandsvorsitzender der Siemens & Halske AG)12, Anton
Rieppel (seit 1898 Leiter der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg AG; M.A.N.),
sowie die Göttinger Professoren Theodor Des Coudres (angewandte Elektrizitäts-
lehre), Hans Lorenz (technische Physik), Eduard Riecke (Experimentalphysik),
Woldemar Voigt (theoretische Physik), Otto Wallach13 (organische Chemie), Wil-
helm Lexis (Nationalökonomie); der Universitätskurator Dr. Ernst Höpfner. Als
entschuldigt gelistet waren Dr. Ehrensberger, Vertreter der Krupp-Gußstahlfabrik
Essen (AG ab 1903), und der erst im Mai 1900 beigetretene Theodor von Guil-
leaume, Generaldirektor und Aufsichtsratsvorsitzender der Carlswerk AG (Draht-,
Kabelfertigung), eines der damals reichsten Unternehmen in Köln.14
Böttinger, Klein und Rieppel stellten in der Sitzung vom 17. Dezember 1900
gemeinsam den Antrag, angewandte Mathematik einzubeziehen. Sie argumen-
tierten damit, dass sich angewandte Physik und Mathematik gegenseitig stützen
9 Born, Max: „Hilbert und die Physik“. Die Naturwissenschaften 10 (1922) 88-93, Zitat 93.
10 Meyers Neues Lexikon, Bd. 5, Leipzig: Bibliographisches Institut, 1973, 701.
11 Vgl. auch MANEGOLD 1968; 1970.
12 Bödiker, studierter Jurist, Präsident des Reichsversicherungsamtes (1884-97, Geh. Oberregie-
rungsrat); 1897-1903 Vorstandsvors. der Siemens & Halske AG. – Mit Forcierung der Luft-
fahrtforschung 1909 traten der G. V. persönlich als Mitglieder bei: Werner von Siemens,
Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Graf von Zeppelin. [UBG] Math.Arch. 5022: 10.
13 Wallach wurde 1910 mit dem Nobelpreis geehrt.
14 [StA Berlin] Nachlass Althoff, AI, Nr. 138, Bl. 179. – Liste der 50 industriellen Mitglieder
und ihrer finanziellen Zuwendungen in TOBIES 1986a, Anhang 16-18; 1986b, 130-32.
384 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
würden und der finanzielle Aufwand für angewandte Mathematik ohnehin erheb-
lich niedriger sei als für Elektrotechnik und technische Physik.15 Die a.o. Pro-
fessoren Friedrich Schilling (darstellende Geometrie und graphische Statik) und
Emil Wiechert (Geodäsie) wurden als universitäre Mitglieder kooptiert.
Abb. 31: Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik,
Karte zur Feier des 10-jährigen Bestehens am 22.2.1908
Vorsitz: Der Chemieindustrielle Henry Theodor Böttinger („gekrönter Mond“)
Stellvertreter: Felix Klein (als „Sonne“ dargestellt)
Ehrenmitglied: Der preußische Ministerialdirektor Friedrich Althoff
(„segnende Hände von Zeus“, oberster olympische Gott)
Kleins Rolle zeichnete sich dadurch aus, dass er industrielle und staatliche Res-
sourcen für die Wissenschaftsentwicklung zu nutzen und zu managen verstand.
Erstens. Klein und Böttinger prägten eine personenbezogene Forschungsorga-
nisation, wie sie später für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) typisch
wurde. Die Göttinger Vereinigung funktionierte jedoch ohne Statut.16 Böttinger
verwaltete die Finanzen, stiftete persönlich die höchste Summe (128.000 Gold-
mark) und brachte von den Farbenfabriken 900.000 Goldmark ein. Als erfolgrei-
cher Unternehmer erkannte er den Wert von Innovationen. Als Mitglied von Wirt-
schaftsverbänden gewann er weitere Industrielle. Insgesamt traten nach und nach
17 Liste der universitären Mitglieder in TOBIES 1991, 107-108. – Zur Teilnahme von Hilbert und
Minkowski in Essen (Mai 1904), Edmund Landau in Friedrichshafen (Mai 1913) vgl. KNOKE
2016, 155-56. Landaus Mitgliedschaft ist aufgrund seiner überlieferten „berüchtigten“ Be-
merkungen über angewandte bzw. numerische Mathematik als Schmieröl bemerkenswert, vgl.
hierzu OSTROWSKI 1966, 105; ECKERT 2013, 170.
18 [UBG] Math.Archiv 5028.
19 Vortrag am 19.9.1898, abgedruckt in Jahresbericht DMV 7 (1899) 39-50.
20 Dr.-Ing. an THs in Preußen seit 1899, Sachsen (TH Dresden) seit 1900; Bayern (TH Mün-
chen) Dr. techn. ab 1901, zu Walther Dycks Engagement vgl. HASHAGEN 2003, 324-30.
386 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Als Klein ein Gutachten für die preußische Schulkonferenz vorbereitete, kannte
und begrüßte Rieppel seine neuen Vorschläge zum Mathematikunterricht:
Hinter der Idee einer Facultas für angewandte Mathematik steckte nicht nur die
Reaktion auf die Ingenieurbewegung, sondern zugleich der Gedanke, „[…] das
Ministerium werde dann nicht mehr umhin können, an allen Universitäten geeig-
nete Lehraufträge zu erteilen und so für die erforderliche Entwicklung freie Bahn
zu schaffen.“31 Klein formulierte „auf der Rückseite“ des Briefes an Althoff:
Anforderungen für die Lehrbefähigung in der angewandten Mathematik:
1. Unterstufe. Elemente der analytischen Geometrie, sowie der Differential- und Integralrech-
nung. Die gewöhnlichen Projectionsmethoden der darstellenden Geometrie und die elementa-
ren Teile der technischen Mechanik, Niedere Geodäsie.
2. Oberstufe. Beherrschung der Differential- und Integralrechnung nach Seiten der geometri-
schen Anwendungen.
Projective Geometrie. Analytische Mechanik.
Höhere Geodäsie und Wahrscheinlichkeitsrechnung.32
28 Rieppel an Klein, Brief v. 16.5.1900 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 F: Bl. 40.
29 [UBG] Math.Archiv 5019(Zitat); 5022, Bl. 5-8.
30 [STA Berlin] Rep. 92 Nachlass Althoff B, Nr. 92, Bl. 182v-183.
31 KLEIN 1914a (Nachruf auf Wilhelm Lexis), 317.
32 [STA Berlin] Rep. 92 Nachlass Althoff B, Nr. 92, Bl. 185v.
388 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Am 27. Juni 1898 insistierte Klein, dass es nun an der Zeit sei, die Neuordnung zu
verfügen, um die Intentionen der Göttinger Vereinigung zu unterstützen.33 Diese
„Ordnung der Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen in Preußen“ wurde in
Folge dessen am 12. September 1898 erlassen und trat zum 1. April 1899 in Kraft.
Klein war sich gewiss: „Wenn wir in allen diesen Gebieten den Unterricht organi-
siert haben, so sind damit der Tradition der Universität entsprechend, überall auch
neue Herde wissenschaftlicher Forschung entstanden.“34
Bis zum Jahre 1910 erwarben in Preußen 178 Personen die neue Lehrbefähi-
gung.35 An den meisten Universitäten gab es zunächst nur einen Lehrauftrag für
darstellende Geometrie, aber 1908 erbat das Kultusministerium Kleins Urteil be-
züglich neuer Extraordinariate für angewandte Mathematik. In Bayern war Wal-
ther Dyck als Mitglied des Obersten Schulrats der Spur gefolgt.36 In den Säch-
sisch-Ernestinischen Staaten (Universität Jena) hatte August Gutzmer erreicht,
dass die preußische Prüfungsordnung am 17. Januar 1900 übernommen wurde.
Gutzmer übte seit 1894 das Amt des Schriftführers der DMV aus und kooperierte
eng mit Klein, der ihm über seine Vision für die angewandten Gebiete schrieb:
Ich möchte in der That dass die Vertreter der angew.[andten] Fächer volle Professoren wer-
den. Dann aber werden wir für angew.[andte] Mathematik und angewandte Physik verschie-
dene Vertreter brauchen, mindestens 2, - in Göttingen haben wir ja, auch wenn ich Brendel
und Bohlmann bei Seite lasse, immer noch 4 (einerseits Sch.[illing] u. W.[iechert], anderer-
seits L.[orenz] und S.[imon]).37
Klein benötigte fünf Jahre zum Realisieren der Vision. Es gelang mit der Idee sog.
persönlicher o. Professuren.38 Im Jahre 1902 überzeugte Klein die Kollegen der
Fakultät, „[…] angewandte Mathematik und angewandte Physik in die Liste der-
jenigen Fächer aufzunehmen, welche beim Doctorexamen Gegenstand selbständi-
ger Prüfung sein können.“39 Zugleich veranlasste er die Integration von Wiechert
und Schilling als „Examinatoren für das Fach der angewandten Mathematik“.
Emil Wiechert hatte schon 1897 in Königsberg die Masse des Elektrons rela-
tiv genau bestimmt40, förderte als Göttinger Extraordinarius Vermessungswesen,
Markscheidekunst, Photogrammetrie und erwarb sich mit seismologischen For-
schungen (Wiechert-Seismograph, Wiechertsche Erdbebenwarte; Gründer der As-
sociation Internationale de Séismologie 1903) einen Namen. Es hatte Kleins be-
sonderen Einsatz erfordert, dass Emil Wiechert schließlich zum 5. September
1904 ein persönliches Ordinariat für Geophysik erhielt.41 Damit wurde eines der
Der von Klein im Brief an Gutzmer erwähnte S., Hermann Theodor Simon, war in
Göttingen 1901 Nachfolger von Des Coudres auf dem Extraordinariat für ange-
wandte Elektrizitätslehre (Elektrotechnik) geworden. Er wurde durch die Erfin-
dung einer sog. singenden Bogenlampe bekannt, eine Art radiophonisches Instru-
ment und initiierte eine Versuchsanstalt für drahtlose Telegraphie. 1907 avan-
cierte er zum persönlichen Ordinarius und bedankte sich bei Felix Klein dafür.44
Klein hatte ein derartiges Ordinariat auch für Hans Lorenz vorgesehen. Dieser
leitete seit 1900 das Institut für technische Physik, was seine Vorgänger Richard
Mollier (1896-97) und Eugen Meyer (1898-1900) als Sprungbrett an eine TH be-
nutzt hatten (vgl. 7.8). Lorenz erwies sich jedoch als wenig kooperativ. Er lehnte
Kleins Anerbieten gemeinsamer Seminare ab – wie einst Otto Hölder (vgl. 6.2.2).
Lorenz mangelte es an Verständnis für theoretische Probleme, wie seine persönli-
che Aufzeichnungen erhellen. Eine Kritik R. v. Mises’ bestätigt dies.45 Lorenz’
zunehmend eigenmächtiges Verhalten führte dazu, dass Klein und Böttinger ihn
an die TH Danzig weglobten.46 Nach Göttingen kam der auch mathematisch be-
42 [UBG] Cod. Ms F. Klein: 11: 646 (Runge an Klein, 6.4.1894). Vgl. COLLATZ 1990, 274;
RICHENHAGEN 1985; HENTSCHEL/TOBIES 2003, 32-41.
43 Klein 1908 [UBG] Math. Archiv 5029, Bl. 25. – Vgl. auch Thesen zur Angewandten Mathe-
matik in Jahresbericht der DMV 16 (1907), 518; und TOBIES 2010, 309.
44 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1003 (Simon an Klein, 13.1.1907).
45 Lorenz’ Erinnerungen [Deutsches Museum] HS 1993-001. – Zur Kritik durch R. v. Mises
vgl. SIEGMUND-SCHULTZE 2018, 483-85.
46 Klein über Lorenz’ an Gutzmer, 6.2.1902, in TOBIES 1988b, 44-45; Böttinger an Kultusminis-
ter von Studt, 5.2.1904, in TOBIES 1988a, 265. – Klein und Böttinger nahmen, eingeladen
durch das Kultusministerium, an der Eröffnungsfeier der TH Danzig im Oktober 1904 teil.
390 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
gabte Ludwig Prandtl.47 Als auch dessen Wegberufung an die TH Stuttgart drohte,
erhielt er am 22. Juni 1907 ein persönliches Ordinariat in Göttingen. Die Göttin-
ger Vereinigung zahlte Prandtl erhebliche Zuschüsse, u.a. eine Kolleggeldgarantie
von 6.000 Mark.48
Von 1898 bis 1908 wuchs in Göttingen die Zahl der ordentlichen Professuren für
Physik und Mathematik von fünf auf zehn.49 Klein führte mit der Mehrzahl der
neu Berufenen gemeinsame Seminare zur angewandten Mathematik durch (vgl.
Abschnitt 8.2.4) und ebnete den Weg zu neuen Instituten für die jungen Kollegen.
In Göttingen entstanden ein Institut für technische Physik (vollendet 1897),
angewandte Elektrizitätslehre (1897), Geophysik (1898, Neubau 1901), ein Er-
weiterungsbau für das Institut für physikalische Chemie (1898-1900), landwirt-
schaftliche Bakteriologie (1901)50, anorganische Chemie (1903), angewandte Ma-
thematik und Mechanik (1905), ein Neubau für die physikalischen Institute und
für die Abteilung angewandte Elektrizität (1905), eine Versuchsstation für syste-
matische Luftwiderstandsmessungen (Luftschiff-Modellversuchsanstalt, 1907/08),
eine Versuchsanstalt für drahtlose Telegraphie (1909).
Nur Kleins Traum von einem neuen Mathematischen Institut erfüllte sich erst
nach seinem Tode (vgl. auch 9.4.2). Kleins Engagement sei im Folgenden am
Beispiel der Institutionen für Luftfahrtforschung demonstriert.
8.1.3 Luftfahrtforschung
Seit den 1890er Jahren wurde kaum mehr daran gezweifelt, dass ein lenkbares
Luftschiff bald konstruiert werden kann.51 Dank Kleins Initiative begannen seit
1900 in Göttingen Grundlagenforschungen (Studien zur Luftelektrizität), wobei
der von ihm veranlasste Förderantrag bei der gerade gegründeten International
Association of Academies (IAA) erfolgreich war. Zusätzlich kamen 4.400 Mark
aus dem Staatshaushalt; Riecke und Wiechert übernahmen die Leitung.52
Internationale Fortschritte im Gebiet53 führten dazu, dass Wilhelm II. im
Herbst 1905 eine Motorluftschiff-Studiengesellschaft mbH mit einem Kapital von
einer Million Mark proklamierte. Diese vereinte Wissenschaftler, Luftfahrtpio-
niere, Vertreter von Firmen und auch von militärischen Dienststellen. Klein
wurde, veranlasst durch Althoff, zur konstituierenden Sitzung eingeladen, die am
28. Oktober 1906 in Berlin mit folgender Tagesordnung stattfand:
1. Konstituierung eines technischen Ausschusses
2. Vorschlag der Bildung von Gruppen,
3. Bericht des Geschäftsführers über den Stand der Motorballonfrage und über die Förde-
rungswürdigkeit des Zeppelin’schen Luftschiffes.54
Mit seiner Professur an der TH Aachen, vermittelt über Klein und Sommerfeld,
war Blumenthal näher an Anwendungen gerückt und sprach schließlich eupho-
risch über Klein „mit dem vorurteilslosen, weiten Blick […]“ anlässlich der Ein-
weihung einer Gedenktafel an dessen Geburtshaus.66 Hermann Minkowski schrieb
bereits als Professor an der ETH Zürich wohlwollend über Kleins angewandtes
Programm. Wenn er auch etwas überheblich auf die Kreiseltheorie (vgl. 8.2.3)
blickte und meinte, viel Besseres leisten zu können, betonte Minkowski doch,
Klein beispringen zu wollen und ließ Hilbert wissen:
Sonst beschäftige ich mich noch viel mit Anwendungen. Von der Thermodynamik bin ich auf
Chemie gekommen. Ich denke immer, eines Tages Klein gegen seine vielen Angreifer in der
Weise beizuspringen, dass ich zeige, dass die Mathematiker auch wirklich etwas für die Pra-
xis leisten können, und zwar besseres als die Bewegungen des Kreisels festzustellen.67
Indem David Hilbert im Jahre 1902 einen Ruf an die Universität Berlin (Nach-
folge Lazarus Fuchs) ablehnte, konnte er das Göttinger mathematisch-naturwis-
senschaftliche Zentrum mit Hermann Minkowski (zum 1. Oktober 1902) stär-
ken.68
64 [StA Berlin] Rep. 92, Nachlass Schmidt-Ott, B 43, Bl. 14-19.– Horst von Sanden war ein
Schüler Carl Runges. Joukowsky war seit 1893 Mitglied der DMV (vgl. auch 8.2.3).
65 Blumenthal an Karl Schwarzschild, 15.8.1898, publiziert in ROWE 2018b, 89.
66 BLUMENTHAL 1928, 3 (Rede am 12.10.1927, als DMV-Ausschuss-Mitglied).
67 Minkowski an Hilbert, 11.2.1899, in MINKOWSKI 1973, 113.
68 Das dritte Mathematik-Ordinariat kam schnell zustande, weil auf Lexis’ Vorschlag ein „noch
immer freies Ordinariat für anorganische Chemie“ verwendet wurde, vgl. TOBIES 1991c, 104.
394 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Dass Du wieder an den Automorphen angefasst hast, freut mich natürlich sehr, auch aus all-
gemeinen Gründen: wir können nur dadurch für unsere organisatorischen Pläne durchgreifend
wirken, dass wir uns gleichzeitig im Kreise unserer Fachgenossen das wissenschaftliche An-
sehen erwerben!69
„Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu thun.“70 Auch wenn Klein die
Kärrnerarbeit des Aufschreibens delegiert hatte, betrachtete er das unvollendete
Projekt automorphe Funktionen noch als sein ureigenstes (Abschnitt 8.2.1).
Veranlasst durch dieses Monographie-Projekt befasste sich Klein mit Zahlen-
theorie und leitete Ergebnisse geometrisch her. Darüber begeisterte sich Charles
Hermite; aber Klein nahm seine Begrenztheit auf geometrische Methoden bewusst
wahr, als er mit Hilbert ein Zahlentheorie-Seminar veranstaltete. (8.2.2)
Arnold Sommerfeld ließ als weiterer Kärrner ein mehrbändiges Werk aus
Kleins Vorlesungen zur Kreiseltheorie entstehen (8.2.3).
Klein entwickelte neue Forschungsprogramme für Anwendungen der Mathe-
matik. Er regte jüngere Kollegen an, brachte hierzu noch eigene kleinere Resultate
sowie einige Doktorschüler hervor. (8.2.4)
Einige Aspekte hierzu wurden bereits in Abschnitt 5.5.4. thematisiert. Der Gegen-
stand befand sich weiter im Fluss; Kleins erste Disposition zur Monographie (vgl.
6.3.4) wurde stetig verfeinert.71 Klein anerkannte Frickes Kärrner-Arbeit und
schlug ihm mit Brief vom 13. September 1894 vor, die Autorennamen alphabe-
tisch anzuordnen: FRICKE/KLEIN. Als Fricke jedoch kurz darauf einen höheren
finanziellen Anteil einforderte, reklamierte Klein das Unternehmen für sich. Er
habe Pockels und Bôcher das Honorar allein überlassen, aber Fricke sei jetzt in
fester Position (Professur TH Braunschweig). Klein schrieb dezidiert:
Lieber Robert!
[…] Es ist, dass es sich bei dem Unternehmen um meinen eigenen Plan, um ein Stück meiner
wissenschaftlichen Lebensaufgabe handelt, deren Durchführung ich seit nun 5 Jahren durch
meine Vorlesungen und die Arbeiten, welche ich anrege, auf alle Weise vorbereite. Und ich
habe damit nicht etwa in letzter Zeit aufgehört. Vielmehr schrieb ich Dir noch im Sommer,
dass meine gegenwärtige Vorlesung über Zahlentheorie direct dem geplanten ersten Bande zu
gute kommen soll (in dem sie den Stoff von einer anderen Seite ordnet und abklärt) und dass
ich beabsichtige, im nächsten Jahre eine grosse Vorlesung über den Hauptgegenstand der au-
tomorphen Functionen zu halten.72
Klein erklärte hierauf seinem angeheiratetem Neffen, sich „in Frieden zu trennen“
und sich nur auf seine Autographien konzentrieren zu wollen. Dies veranlasste
Fricke zum Einlenken, und drei Jahre später erschien schließlich Band I mit dem
Untertitel „Die gruppentheoretischen Grundlagen“. Fricke erwähnte in der Vor-
rede explizit wertvolle Vorarbeiten von H. A. Schwarz (hypergeometrische Reihe)
und L. Fuchs (lineare Differentialgleichungen); nannte Klein und Poincaré „ei-
gentliche Begründer der Theorie der automorphen Functionen“ und listete Kleins
und seine eigenen Vorlesungen auf, auf denen die Monographie basierte.
Nachdem Kleins Zeit doch zunehmend in andere Projekte geflossen war, offe-
rierte er nunmehr am 9. Dezember 1900, bei Band II das Honorar 2 : 1 zugunsten
von Fricke teilen zu wollen.73 Mit wachem Blick verfolgte und förderte Klein
weiter jeden neuen Ansatz. Er schrieb z.B. am 4. September 1901 an Fricke:
Du berührst genau die centrale Schwierigkeit, die sich subjectiv dem Bande II der Automor-
phen entgegen stellt: die Existenz-Methoden, auf die wir uns stützen müssen, sind wesentlich
erst in den letzten 15 Jahren von der neu-französischen Schule (Picard, Poincaré) geschaffen
worden; wir beide sind da zunächst nicht mitgegangen und sollen nun Bericht erstatten!
Die Sache stellt sich noch ungünstiger, wenn ich hinzufüge, dass die Methoden in den letzten
2 Jahren von Hilbert wesentlich vereinfacht und verallgemeinert sein dürften, seine Beiträge
aber nur teilweise in ausgearbeiteter Form zugänglich sind.
Auf der anderen Seite steht die objective Erwägung, dass es keine schöneren und fruchtbrin-
genderen Belege für die neuen Methoden (incl. die sämmtlichen Ideen der Mengenlehre) gibt,
als eben die Theorie der Automorphen sie bietet.74
An diesem acceptabel machen beteiligte sich Klein weiterhin, wozu das erwähnte
viersemestrige Seminar mit Hilbert und Minkowski gehörte, aus dem letztlich die
Beweise seiner drei Fundamentaltheoreme mit Kontinuitäts-Ansatz hervorgingen
(vgl. 5.5.4.4). Einen der Seminar-Teilnehmer, Wilhelm Ihlenburg, führte Klein
noch mit der Dissertation „Über die geometrischen Eigenschaften der Kreisbo-
genvierecke“ (1909) zum Doktortitel.
Als Poincaré im April 1909 zu Vorträgen in Göttingen weilte, fiel nicht nur
Kleins 60. Geburtstag in den Zeitraum, sondern es wurde auch ein Vortrag Kleins
über neuere Entwicklungen im Gebiet der automorphen Funktionen in das Wo-
chenprogramm gepackt (vgl. auch Anhang Nr. 8). Als auf der DMV-Jahrestagung
In der That bin ich, was meine wissenschaftliche Leistung angeht, vielfach pessimistisch ge-
stimmt. Ich habe zu viel allgemeine Sorgen und gar keine Zeit mehr mich auf Einzelnes zu
concentriren. So fürchte ich sehr, Sie werden von meiner Zahlentheorie enttäuscht sein. Viel-
leicht, dass der nähere Verkehr mit H.[ilbert] mich regenerirt!78
Klein las vierstündig über Zahlentheorie, als er dies an Hurwitz schrieb. Begeis-
tert hatte er den geometrischen Ansatz bei Gauß entdeckt, dass man „jede positive
binäre quadratische Form (ax2+bxy+cy2) geometrisch durch ein parallelogramma-
tisches Gitter interpretieren“ kann. Er hatte darüber in der Göttinger Mathemati-
schen Gesellschaft vorgetragen (vgl. 7.2), Ergebnisse „Über die Komposition der
binären quadratische Formen“ in den Göttingen Nachrichten (Jan. 1893) publi-
ziert und betont, dass sein Herangehen über Gauß hinaus bei geeigneter Wahl von
Komponenten „die Sätze von der Komposition der Formen unmittelbar geome-
trisch“ ergeben würde.79 Im Mai 1893 hatte Klein 15 Vorträge über Zahlentheorie
gehalten und den Gegenstand in Vortrag (8) des Evanston Colloquiums integriert.
Nachdem Klein in der zahlentheoretischen Vorlesung „Lagranges Theorie der
Kettenbruchentwicklung quadratischer Irrationalitäten mit Zugrundelegung der
Gittervorstellung glücklich zu Ende gebracht“ hatte, zeigte er sich am 6. Dezem-
ber 1894 noch immer unsicher über den wissenschaftlichen Extrakt.80
Hilbert weilte Anfang 1895 in Göttingen, um seinen Umzug vorzubereiten.
Hierbei suchte Klein das Gespräch über seinen geometrischen Ansatz für die The-
orie der Kettenbrüche und schickte noch einen Brief hinterher: „Schreiben Sie mir
doch ja, was Minkowski zu meiner Auffassung betr. Kettenbrüche sagt; ich werde
ev. die Sache in diesen Tagen näher verfolgen.“81 Hilbert antwortete:
Ueber Ihre geometrische Interpretation des gewöhnlichen Kettenbruchs für quadratische Irra-
tionalitäten habe ich mit Minkowski eingehend gesprochen. Er hält dieselbe, ebenso wie ich,
für neu, und macht nur aufmerksam auf die beiden Poincaréschen Noten Journal de l’École
polytechnique 1880 und Comptes rendus 1884, wo ebenfalls eine geometrische aber durchaus
nicht so einfache und verwendungsfähige Versinnlichung der Kettenbrüche vorliegt.82
In Minkowskis Geometrie der Zahlen (1910, 162) lesen wir, dass Poincarés „geo-
metrische Versinnlichung der normalen Kettenbrüche“ (1880; 1884) „das wahre
Wesen der Näherungsbrüche weniger trifft“. Klein, von Hilberts Brief ermutigt,
wählte das Thema „Zur Theorie der gewöhnlichen Kettenbrüche“ für seinen Vor-
trag im September 1895 bei der DMV-Tagung in Lübeck. Darin erwähnte er u.a.,
dass sich neue Aspekte für höhere Formen aus dem Ansatz ergeben, woran sein
Doktorand Philipp Furtwängler arbeite, und dass der Gegenstand insgesamt in die
Monographie über automorphe Funktionen einfließen soll.83 Den Extrakt des Lü-
becker Vortrags präsentierte Klein am 19. Oktober 1895 noch einmal in der Göt-
tinger Gesellschaft der Wissenschaft, „Über eine geometrische Auffassung der
gewöhnlichen Kettenbruchentwickelung“ (Göttinger Nachrichten 1895, 357-59).
Dies ließ Hermite in Paris sofort übersetzen.84 Hermite sah, dass Klein damit ein
Problem angegriffen hatte, an dem er sich selbst vergeblich versucht hatte.85
Hilbert und Minkowski befanden sich damals ebenfalls im zahlentheoreti-
schen Fahrwasser. Sie waren einer Bitte Kleins gefolgt, einen DMV-Zahlbericht
zu erarbeiten und präsentierten ihre Disposition bereits in Lübeck 1895. Daraus
floss Hilberts Zahlbericht86 und Minkowskis erste Lieferung (1896, 1-240) zur
Geometrie der Zahlen (B.G. Teubner, 1910). Als Hilbert nach Göttingen kam,
veranstaltete Klein mit ihm gemeinsame Seminare. Beim Zahlentheorie-Seminar
im Winter 1895/96 überließ er Hilbert die führende Rolle, wie Hurwitz erfuhr:
Wir haben in dem Seminar, das ich mit Hilbert zusammen abhalte, unter Hilbert’scher Lei-
tung die Idealtheorie des quadratischen Körpers behandelt und ich will auch dazu im Sommer
Stellung nehmen. Zuvörderst ist mir die Hilbert’sche Darstellung zu abstract. Ich verstehe
natürlich alle Details, aber das Ganze interessirt mich in dieser Form nicht. So glaube ich
kaum, dass ich mit meinen zahlentheoretischen Studien noch weiter gehen werde. Mein gan-
zes Ziel ist, von der Theorie der binären quadratischen Formen eine möglichst abgeklärte ge-
ometrische Darstellung zu geben, wobei ich von meiner neuen Darstellung der Kettenbruch-
entwickelung (im Gitter) sowie von Ihrer Arbeit in Ann. 45 etc. etc. ausgiebigen Gebrauch
mache; das soll dann wieder autographirt werden.87
Klein blieb wie Hurwitz88 bei geometrischen bzw. nicht abstrakten Methoden. Die
erwähnten Autographien über die zahlentheoretischen Vorlesungen vom Winter
1895/96 und Sommer 1896 dokumentieren, dass Klein die „Theorie der singulä-
ren elliptischen Gebilde“ und „die Lehre von den zugehörigen singulären Werten
der Ikosaederirrationalität“ darstellte. Er betonte, dass die entwickelten geometri-
schen Methoden gewiss auch für höhere Gebiete der Zahlentheorie nützlich sein
können und verwies auf die von „Minkowski in den bisher erschienenen Bogen
seines vielversprechenden Werkes (Geometrie der Zahlen) gegebenen Ansätze“.89
Klein nutzte sein Punktgitterverfahren in Band I der Vorlesungen zur Elemen-
tarmathematik90, um eine Irrationalzahl als Schnitt im Gebiete ganzzahliger
Punkte darzustellen (auf Dedekinds Definition der Irrationalzahl verweisend) und
um damit die Kettenbruchentwicklung anschaulich zu erklären. Klein urteilte
selbst über seinen Ansatz im Vergleich mit Minkowskis Theorie der Raumgitter:
„Ich selbst habe mich seinerzeit darauf beschränkt, gewisse schon bekannte
Grundlagen geometrisch klarzustellen, während Minkowski Neues zu finden un-
ternahm. Diese Untersuchungen zeigen deutlich, daß Geometrie und Zahlentheo-
rie keineswegs einander ausschließen, sofern man sich in der Geometrie nur ent-
schließt, diskontinuierliche Objekte zu betrachten.“91
Philipp Furtwängler griff später das Thema noch einmal auf und dehnte es auf
beliebig viele Dimensionen aus. Dabei ordnete er Kleins Ansatz ein:
Eine besonders anschauliche Darstellung der Idealtheorie erhält man, wenn man die zum Kör-
per gehörigen zerlegbaren Formen betrachtet und diese durch räumliche Punktgitter interpre-
tiert. Es erscheinen dann die zum gegebenen Körper zwecks Herstellung der eindeutigen
Zerlegbarkeit in Primfaktoren zu adjungierenden Größen direkt als ganze algebraische Zahlen
eines höheren Zahlkörpers, die überdies durch die Punktgitter eine ebenso einfache wie an-
schauliche Darstellung finden. Dieser Gedanke ist zuerst von Herrn F. Klein ausgeführt wor-
den; es ist der Zweck des folgenden Aufsatzes, die Kleinsche Gitterfigur für beliebige alge-
braische Zahlkörper zu entwickeln.92
Im selben Brief vom 29. Januar 1896, in dem Klein an Hurwitz mitgeteilt hatte,
dass er kein Interesse an Hilberts abstrakter Zahlentheorie besitze, schrieb er be-
geistert über sein parallel laufendes Projekt der Kreiseltheorie:
Um so mehr freut mich mein Colleg über Kreiselbewegung. Curioser Weise habe ich da einen
guten Fortschritt über Hermite hinaus gemacht, indem ich die Drehungen durch
αZ + β
ζ = darstelle und α , β ,γ , δ als Function von T [gemeint ist die Zeit, R. To] be-
γZ + δ
stimmte;
es werden dies nämlich einfache Θ -quotienten (mit nur einem Θ im Zähler und Nenner).
Dieses nur beiläufig; der eigentliche Zweck ist meinen Zuhörern am Beispiel des Kreisels ein
vollständiges Verständnis von der Art der stattfindenden Bewegungen und deren Darstellung
durch die Formeln zu vermitteln, so dass Ingenieure und Physiker davon einen wirklichen
Nutzen haben sollen. Trotz aller Rivalität der Technischen Hochschulen hoffe ich der Sache
nützen zu können, wenn ich in dieser Richtung noch weiter gehe.101
Beim Paris-Aufenthalt im April 1887 war Kleins Aufmerksamkeit auf den Cours
de Méchnique von Théodore Despeyroux (Paris 1884, ediert von Gaston Dar-
boux) gelenkt worden. Klein hatte dieses Buch in seinem ersten Seminar über
Aspekte der Kreiseltheorie (Sommer 1887) benutzt102 und kam nun darauf zurück,
als er mit Blick auf seine Ingenieur- und Lehrer-Kontakte ein praktisches Thema
näher auszuführen gedachte. Wie er mitteilte, war diese Idee durch Gustav Holz-
müller, Direktor der Kgl. Provinzial-Gewerbeschule in Hagen, beflügelt worden,
den er im Anschluss an den Aachener Frieden (vgl. 7.8) besucht hatte.103
In seiner Vorlesung vom Winter 1895/96 behandelte Klein die Rotationsauf-
gabe ausgehend von der Funktionentheorie komplexer Variabler und von im Iko-
saederbuch niedergelegten Ergebnissen. Die Koeffizienten α, β, γ, δ (vgl. oben im
Zitat) waren dabei als geeignete Funktionen der Zeit (T) darzustellen. Er unter-
strich in der am 11. Januar 1896 für die Göttinger Nachrichten eingereichten kur-
zen Note, „[…] daß α, β, γ, δ [nach Hermites Ausdrucksweise] solche elliptischen
Funktionen zweiter Art werden, welche im Zähler und Nenner nur eine einzelne
Thetafunktion enthalten.“104 Hermite reagierte bereits am 27. Januar 1896 positiv
darauf,105 hatte Klein doch die Bewegungsgleichungen des Kreisels mit den Her-
mite-Laméschen Differentialgleichungen zu erfassen gesucht.
Sommerfeld baute das Thema in vielen Stunden „Felix-Dienst“ weiter aus
(vgl. 7.1) und schrieb das Buch KLEIN/SOMMERFELD Theorie des Kreisels in vier
Heften (1897, 1898, 1903 und 1910) mit fortlaufend nummerierten 966 Seiten.
Die den Anwendungen gewidmeten Hefte III und IV gingen über das hinaus, was
Klein selbst vorgetragen hatte. Die theoretischen Grundlagen der ersten Hefte
hatte Klein mit Vorlesungen und Vorträgen vorbereitet. So sprach er auf der
DMV-Tagung im September 1896 in Frankfurt a.M. „Über die analytische Dar-
stellung der Rotationen bei Problemen der Mechanik“.106 Beim Jubiläum der Prin-
ceton University präsentierte er vier Vorträge über The mathematical theory of the
top (12.-15.10.1896)107 sowie einen über Stability of the sleeping top (17.10.1896)
bei der American Mathematical Society, der auch in Paris übersetzt wurde.108
Noch vor diesen Vorträgen wählte die New York Academy of Sciences am 5.
Oktober 1896 Felix Klein zum Honory Member. Zwei Jahre später avancierte er
zum Foreign Member der National Academy of Sciences in Washington.
Bei Lecture III der Princeton-Jubiläums-Vorträge „Concerning the mutiplica-
tive elliptic curves“ versäumte es Klein nicht, auf die Dissertation seiner US-ame-
rikanischen Schülerin Mary F. Winston „Über den Hermiteschen Fall der Lamé-
schen Differentialgleichung“ zu verweisen. Auch Hermann Liebmann, Kleins
Assistent 1897-98, arbeitete am Thema mit. Er vereinfachte Ansätze des Italieners
Tullio Levi-Civita, der Lies Theorie der Transformationsgruppen zur Behandlung
der Differentialgleichungen der Kreiselbewegung benutzt hatte, um integrable
Fälle aufzusuchen.109 Ergebnisse der Dissertation „Zur Theorie des Maxwell’
schen Kreisels“ (1904) von Kleins Doktorschüler Max Winkelmann betrafen die
Bewegungen eines nahezu symmetrischen Kreisels und fanden ebenfalls noch
Eingang in die Monographie.110
In Heft II von KLEIN/SOMMERFELD, Abschnitt „Über die Bewegung des
schweren unsymmetrischen Kreisels“, ist der „Kowalevski’sche Fall der Kreisel-
Bewegung“ (376-77) erwähnt. Sofja Kowalewskaja hatte im Jahre 1888 den drit-
ten integrablen Spezialfall der klassischen Mechanik starrer Körper (durch Theta-
Funktionen lösbaren Fall) entdeckt, den nach ihr benannten Kowalewskaja-Krei-
sel. Der russische Mathematiker und Ingenieur, einer der Gründungsväter der
Aerodynamik Nikolai J. Joukowsky (vgl. 8.1.3) ließ in Moskau Modelle für Krei-
selbewegungen konstruieren, darunter auch für diesen Fall. Nachdem er auf den
DMV-Versammlungen 1892 in München und 1895 in Lübeck darüber vorgetra-
gen hatte,111 bestellte und erhielt Klein sofort dessen Modelle.112 Als Fritz Kötter
die Darlegungen zum Kowalewskaja-Kreisel in KLEIN/SOMMERFELD in einer Re-
zension als unzureichend kritisierte, reagierten Klein und Sommerfeld im ab-
schließenden Teil der Monographie mit dem Bemerken, dass die „vollständige
Behandlung des Falles aber würde zu lange analytische Ausführungen erfordert
haben.“113 Die Darstellung der Kreiselbewegung durch elliptische Funktionen
hatten Klein und Sommerfeld knapp gefasst und auf das Buch von Kleins Mitar-
beiter Heinrich Burkhardt, Einführung in die Theorie der analytischen Funktionen
(Leipzig: B.G. Teubner, 1897) verwiesen.
Founding of the College of New Jersey and of the Ceremonies Inaugurating Princeton
University, Trustees of Princeton University. New York: Charles Scribner’s Sons, 1898.
108 Klein, F.: « Sur la stabilité d’une toupie qui dort (Sleeping) ». Nouvelles annales des mathé-
matiques (3) 16 (1897) 323-28.
109 Liebmann, H. (1898): „Classification der Kreiselprobleme nach der Art der zugehörigen
Parametergruppe“. Math. Ann. 50, 51-67; KLEIN/SOMMERFELD 1897-1910, Heft I, 161.
110 Vgl. KLEIN/SOMMERFELD 1910, 952.
111 Jahresbericht DMV 3 (1893) 62-70; 4 (1897), 8.
112 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 19, 19A (Joukowsky an Klein, 8.12.1895; 24.10.1896).
113 KLEIN/SOMMERFELD 1910, 950. – Kowalevski, S. v.: « Sur le problème de la rotation d’un
corps solide autour d’un point fixe ». Acta Mathematica 12 (1889) 177-232. (Arbeit vom
24.12.1888, wofür sie mit dem Prix Bordin der Académie française geehrt wurde.)
402 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Wenn ich jetzt sehe, dass sich Hilbert der Physik zuwendet, dass Prandtl und seine Schüler
die grössten Fortschritte in der Hydrodynamik machen, so könnte ich glauben, dass für die
math.[ematische] Physik ein neuer Tag im Anzuge ist.114
Im Oktober 1881 hatte Klein vermutet, nur im Feld der Mechanik und mathemati-
schen Physik noch originelle Ideen gewinnen zu können (vgl. Abschnitt 5.5). Er
hatte diese Arbeiten für die Uniformisierungstheorie unterbrochen, um sich da-
nach wieder stärker darauf zu konzentrieren.115 Seit Ende der 1890er Jahre steckte
Klein vor allem das große Feld der Anwendungen ab, für die ENCYKLOPÄDIE so-
wie für die Fakultas für angewandte Mathematik. Vielleicht ist es nicht zu hoch
gegriffen, wenn wir Kleins Formulieren offener Probleme in Anwendungsgebie-
ten als ein gewisses Pendant zu den Hilbertschen Problemen von 1900 auffassen.
Am 9. Februar 1904 berichtete Klein in der Göttinger Mathematischen Gesell-
schaft über seine Seminare zur angewandten Mathematik: „1899-1900 über
Schiffsbewegung, dann darstellende Geometrie, Geodäsie, verschiedene Zweige
der Mechanik (auch astronomische Mechanik), nun Hydrodynamik, demnächst
Wahrscheinlichkeitsrechnung).“ Er setzte fort und erklärte:
Eine volle Einsicht kann man jeweils nur durch Mitheranziehen der praktischen Bethätigung,
bzw. des Experimentes erreichen; es ist mehr eine Vorarbeit, die in den Seminaren geleistet
wird, in dem wir die Originalliteratur heranziehen und unter mathematischen Gesichtspunkten
ordnen. Ich hoffe hiermit den Anwendungen und der mathematischen Wissenschaft gleich-
mässig einen Dienst zu erweisen. Finde ich ferner, wie bisher, Unterstützung von jüngerer
Seite, so denke ich immer wieder neue Gebiete heranzuholen, z.B. bei Gelegenheit auch ein-
mal Elektrotechnik.116
Die Unterstützung von jüngerer Seite blieb nicht aus. Klein organisierte Koopera-
tion, indem er die neu berufenen Professoren in seine Forschungsseminare zur
„angewandten Mathematik“ integrierte. Er hielt zunächst mit dem Astronomen K.
Schwarzschild (berufen 1901) Seminare zu Astronomie (1902), Prinzipien der
Mechanik (1902/03), graphischen Statik/Festigkeitslehre (1903)117, Hydrodyna-
mik (1903/04). Beim Seminar Wahrscheinlichkeitsrechnung (1904) bezog Klein
zusätzlich M. Brendel und C. Carathéodory118 ein. Nachdem Runge und Prandtl
berufen worden waren, stützte sich Klein bevorzugt auf sie, und bezog noch wei-
tere Experten ein: „Ausgewählte Kapitel der Elasticitätstheorie“ (1904/05, neben
Klein, Runge, Prandtl plus der theoretische Physiker W. Voigt), Elektrotechnik
der Wände abhängig. Man kann fragen, ob dieselbe in sehr weiten Röhren den ganzen Quer-
schnitt des Rohres erfüllen würde. Die Erfahrungen, die man bei Ballonfahrten bez. der Tur-
bulenz der Luftbewegung macht, scheinen nicht dafür zu sprechen. Die Frage, wie man das
Eintreten der Turbulenz theoretisch erklären soll, scheint noch ungeklärt; wir werden über die
bisherigen Ansätze in den Vorträgen von Schwarzschild, Herglotz und Hahn bald Näheres
hören.124
Zur dritten Kategorie rechne ich das Strömen in natürlichen Flüssen und die Grundwas-
serbewegung (die beide ebenfalls noch in weiteren Vorträgen behandelt werden sollen). Der
Lauf der Flüsse ist schon darum theoretisch kaum anzupacken, weil der Fluss sich sein Bett
selbst bildet und im einzelnen fortwährend modificiert. Ein natürliches Bett zeigt immer
Krümmungen.
Das Experiment ergibt ferner, dass die Geschwindigkeiten im Querschnitt sehr ungleich
vertheilt sind, dass das Maximum der Geschwindigkeit unterhalb der Oberfläche liegt etc. etc.
Neuerdings geht man immer mehr mit der Errichtung eigener Flussbaulaboratorien vor (En-
gels in Dresden, künstliche Elbe), wo u.a. der Einfluß von Bahnen und sonstigen Einbauten
auf dem Untergrund ausführlich studiert wird. […]125
Klein hatte dieses Programm aufgestellt, bevor er Prandtl nach Göttingen holte.
Das Klassifizieren derartiger Probleme auch unter mathematischen Gesichts-
punkten setzte Klein beim Hydrodynamik-Seminar 1907/08 mit Prandtl fort. Die
Analyse von ECKERT (2018) bestätigt Kleins Verdienst, maßgebliche Forschungs-
fragen für das Gebiet formuliert zu haben. Klein erkannte ebenfalls Talente wie
Theodore von Kármán, der hinter einem umströmten Körper sich ausbildende
gegenläufige Wirbel berechnete, was Klein bzw. Runge 1911 bei der Göttinger
Gesellschaft der Wissenschaften zur Publikation einreichten. Kármán, auch ENCY-
KLOPÄDIE-Autor, überlieferte posthum Kleins Aussage: „Ich garantiere Ihnen, dass
Sie den nächsten Lehrstuhl in Ihrer Richtung bekommen, sobald er frei wird.“127
Bereits im Jahre 1912 erhielt Kármán einen Ruf an der TH Aachen.
124 [Protokolle] Bd. 20. K. Schwarzschild, G. Herglotz, Hans Hahn analysierten vor allem turbu-
lente Flüssigkeitsbewegungen, ausgehend von den Grundgleichungen von Boussinesq. Vgl.
ECKERT 2018. – Der Ungar Győző Zemplén sprach 1904/05 (Seminar Elasticitätstheorie)
ebenfalls über die Gleichungen von Boussinesq; ihm gelang eine neue mathematische
Behandlung der Theorie der Stoßwellen, sodass ihn Klein als Autor für die ENCYKLOPÄDIE
(Besondere Ausführungen über unstetige Bewegungen in Flüssigkeiten, 1906) engagierte.
125 [Protokolle] Bd. 20, 134-36. – Hubert Engels, Professor für Wasserbau an der TH Dresden,
errichtete ab 1897 die erste Flussbau-Versuchsanstalt.
126 [Protokolle] Bd. 20, 140-41.
127 KÁRMÁN 1968, 90. – Aus ungarisch-jüdischer Familie stammend, konnte Kármán seine
Karriere als herausragender Pionier der Luftfahrt- und Raketenforschung in den USA
fortsetzen.
8.2 Wissenschaftliches Ansehen bewahren 405
Klein erläuterte graphische Verfahren, z.B. an der Aufgabe, „für eine empirisch
gegebene Curve den umschlossenen Flächeninhalt, die statischen Momente u. die
Trägheitsmomente zu finden, also die numerischen Werte der Integrale:
128 SCHOLZ 1989 analysierte bereits die wichtigsten der im 19. Jahrhundert entwickelten (theo-
retischen und praktischen) Forschungsprogramme im Gebiet der Baustatik. Zur Geschichte
der Baustatik vgl. auch KURRER 2016.
129 Castigliano, Carlo Aberto: Théorie de l’équilibre des systèmes élastiques et ses applications.
Nero, Turin 1879. – Darüber sprach Klein am 17.2.1909 selbst. [Protokolle] Bd. 27, 277-79.
130 Damit verwies Klein auf Anton von Rieppels Leistung, der den Bau (1894-97) der höchsten
Eisenbahnbrücke Deutschlands geleitet hatte: bis 1918 Kaiser-Wilhelm-Brücke genannt.
131 [Protokolle] Bd. 19, 101-102.
132 Ebd., 103.
406 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Mai 1909 über ebene Fachwerke, welche Projektion einseitiger räumlicher Poly-
eder sind, wobei er durch Einführung von Doppelpolyedern die sich dabei zu-
nächst ergebenden Widersprüche bei Bestimmung der Selbstspannungen des
Fachwerks beseitigte. Hierzu publizierte Klein noch einen Annalen-Beitrag.140
Stephen P. Timoshenko entwickelte eine Balkentheorie, welche die klassische
Euler-Bernoulli-Theorie als Spezialfall enthält. Für die Inspiration zum mathema-
tischen Herangehen dankte Timoshenko Felix Klein. Er hatte u.a. dessen Mecha-
nik-Vorlesung 1909 gehört und im Seminar vorgetragen.141 Kleins anregende
Wirkung ist noch in der Dissertation „Die Maximalmomentenfläche eines Gerber-
schen Balkens“ seiner wissenschaftlichen Enkelin Dorothea Starke spürbar. Sie
promovierte bei Max Winkelmann in Jena und wurde Assistentin an dessen Insti-
tut für angewandte Mathematik, finanziert aus Mitteln der Carl-Zeiss-Stiftung.142
Drittens: Spezielle Relativitätstheorie. Minkowski hatte seine Kollegen beim
Spaziergang (vgl. 6.1) in Einsteins Theorie eingeführt und selbst seinen berühm-
ten Beitrag „Raum und Zeit“ erstmals am 5. November 1907 in der Göttinger
Mathematischen Gesellschaft präsentiert. Klein berichtete begeistert auf der Leip-
ziger Jahresversammlung der Göttinger Vereinigung im Oktober 1908:
Aber auch die reine Mathematik tritt dieses Mal mit einem Resultat hervor, das der Beach-
tung seitens der Mitglieder der Göttinger Vereinigung nicht unwerth scheint. Die ungeheure
Bedeutung, welche die Elektronenlehre nach physikalischer und chemischer Seite bean-
sprucht, braucht hier nicht dargelegt zu werden. Nur war Herr A. Lorentz (der grosse hollän-
dische Physiker) bei seinen einschlägigen Untersuchungen schon vor Jahren zu sehr merk-
würdigen Annahmen gekommen, dass ein jedes Elektron, welches den Raum durchstreicht,
sich in Richtung seiner Bewegung ein wenig zusammenzieht, um so mehr, je mehr sich seine
Geschwindigkeit der Geschwindigkeit des Lichtes nähert. Es ist nun Herrn Minkowski gelun-
gen, das Gemeinsame dieser Annahmen auf einen einfachsten mathematischen Ausdruck zu
bringen, dem zu folge die Grundgesetze der Elektrodynamik allgemein bei solchen linearen
Substitutionen der Raumkoordinaten X Y Z und des Zeitparameters T unverändert bleiben,
wenn die quadratische Form x2 + y2 + z2 – c2t2 unverändert lassen (c ist die Lichtgeschwindig-
keit). Es kann hier nur angedeutet werden, dass auf Grund dieser Bemerkung die bisher noch
nicht völlig aufgeklärten Gesetze der Bewegung der Elektricität in bewegten Leitern eine
völlig übersichtliche Form anzunehmen scheinen. Die reinen Mathematiker erleben dabei den
Triumph, dass Untersuchungen über quadratische Formen, die sie vor Dezennien anstellten
und welche damals wohl von vielen Seiten als übertrieben angesehen wurden, jetzt für die
mathematische Physik und damit zusammenhängend für unsere naturwissenschaftlichen Auf-
fassungen von Raum und Zeit weitgehendste Bedeutung erlangen dürften.143
Als Minkowski unerwartet verstarb, sahen sich Klein, Hilbert u.a. in der Pflicht,
damit fortzusetzen. Klein las 1909-10 über projektive Geometrie vor 109 Hö-
rer/innen, was er noch mit Minkowski verabredet hatte. Klein wollte zeigen, wie
140 Vgl. [Protokolle] Bd. 27, 236-52, 288-90; Zitat zum Vortrag in Jahresbericht DMV 18 (1909)
Abt. 2, 79; und Publikation in Math. Ann. 67 (1909) 433-44; GMA II, 692-703.
141 Vgl. Soderberg, C. R. (1982): „Stephen P. Timoshenko“. In: Biographical Memoirs, vol. 53.
Washington: National Academy Press, 323-49, bes. 325-27. [Protokolle] Bd. 27, 338-46.
142 Vgl. BISCHOF 2014. Der Begriff Gerber-Balken bzw. Gerber-Träger geht auf Heinrich Gerber
zurück, der mit Anton Rieppel die „Gustavsburger Schule“ des Stahlbrückenbaus begründete.
143 [UBG] Math.Arch. 5021: 14-15 (Generalversammlung, 16. u. 17.10.1908 in Leipzig).
408 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
sich „die Theorie der Lorentzgruppe oder, was dasselbe ist, das moderne Relati-
vitätsprinzip der Physiker in die allgemeine Lehre von der projektiven Maßbe-
stimmung einordnet“.144 Im Anschluss an seine Vorlesung sprach er am 10. Mai
1910 „Über die geometrischen Grundlagen der Lorentzgruppe“ in der Göttinger
Mathematischen Gesellschaft. Er lieferte einen detaillierten historischen Über-
blick ausgehend von Cayleys Invariantentheorie, betonte die Rolle von projektiver
Geometrie, die ihm in der aktuellen Lehre vernachlässigt schien, und verglich:
Was die modernen Physiker Relativitätstheorie nennen, ist die Invariantentheorie des vierdi-
mensionalen Raum-Zeit-Gebietes, x, y, z, t (der Minkowskischen „Welt“) gegenüber einer be-
stimmten Gruppe von Kollineationen, eben der „Lorentzgruppe“; - oder allgemeiner, und
nach der anderen Seite gewandt: Man könnte, wenn man Wert darauf legen will, den Namen
„Invariantentheorie relativ zu einer Gruppe von Transformationen“ sehr wohl durch das Wort
„Relativitätstheorie bezüglich einer Gruppe“ ersetzen.“145
Im Mai 1911 initiierte Klein eine Debatte über das Relativitätsprinzip in der
Göttinger Mathematischen Gesellschaft, woran sich vor allem Hilbert, Runge und
Max Born beteiligten.147 Auf der Naturforscherversammlung im September 1911
in Karlsruhe gab es eine spezielle Sitzung zur „Mechanik“. Die Beiträge von Karl
Heun „Ansätze zur Erweiterung der klassischen Mechanik“, des serbischen Ma-
thematikers Vladimir Varićak „Über die nichteuklidische Interpretation der Rela-
tivitätstheorie“, von Lothar Heffter „Zur Einführung der vierdimensionalen Welt
Minkowskis“ entsprachen Kleins Inspiration.148 Der Göttinger Experimentalphy-
siker Eduard Riecke beschrieb 1911 die Situation mit den Worten: „Die Mathe-
matiker sind von der Eleganz der Rechnungsregeln hypnotisiert, die Physiker kri-
tisch.“149 An der Suche nach den Gleichungen, die den Raum beschreiben, betei-
ligten sich im Folgenden weitere Mathematiker. Nachdem die Feldgleichungen
für die allgemeine Relativitätstheorie aufgestellt waren, sollte sich auch Klein
noch einmal in das Forschungsfeld einschalten (vgl. Abschnitt 9.2.2).
Als im Mai 1896 der Vertrag zur ENCYKLOPÄDIE unterzeichnet wurde (vgl. 7.4),
lag bereits ein von Klein erarbeitetes Konzept für einen Schlussband (VII) vor:
Schlussband.
A. Geschichte, Philosophie, Didaktik.
1. Geschichte, d.h. ein Überblick über die Fortschritte, welche Kenntnis und Verständnis ver-
gangener Entwicklungsperioden während des Jahrhunderts gemacht haben.
2. Logik und Erkenntnistheorie:
a) Kritik der mathematischen Grundbegriffe und der mathematischen Beweismethoden. (Vgl.
IA 1.3; II A1; III A1; III B1)150
b) Anwendbarkeit der Mathematik auf physische und psychische Grössen.
3. Psychologie:
a) Psychologie der Zahl-, Zeit- und Raumvorstellungen;
b) Psychologie des mathematischen Denkens: specifische Verschiedenheit der Individuen und
aus ihr sich ergebende Consequenzen für didaktische Fragen.
4. Logikcalcül (Symbolik der logischen Operationen und Anwendung dieser Symbolik auf die
Mathematik).
5. Didaktik der Mathematik an Unterrichtsanstalten aller Stufen und Zwecke, im In- und
Ausland.
B. Gesammtübersicht über die Entwicklung der mathematischen Wissenschaften im neun-
zehnten Jahrhundert.151
Dieser Band sollte Geschichte, Philosophie, Psychologie und Didaktik eng ver-
knüpfen. Klein erwog Mitarbeiter und Band-Redakteure, von denen Gustaf Ene-
ström (Schweden) und Jules Tannery (Frankreich) hervorgehoben seien.152 Um
den philosophischen Teil vorzubereiten, fuhr Klein 1906 selbst noch einmal nach
Paris.153 Er initiierte Vorarbeiten, setzte Studierende, Kollegen, Schüler in die
Spur, nutzte Preisstiftungen, Tagungen, Kommissionen, begann mit eigenen Stu-
dien und Lehrveranstaltungen. Teilergebnisse flossen in neu entstehende Buch-
projekte, wie aus dem Protokoll über die Sitzung der Akademischen Kommission
der ENCYKLOPÄDIE vom April 1910 in München hervorgeht:
Zu Band VII nimmt die Kommission die Mitteilung des Herrn F. Klein entgegen, daß einer-
seits die Arbeiten der „Internationalen Mathematischen Unterrichtskommission“ für den pä-
dagogischen Teil des Bandes, andererseits die für die „Kultur der Gegenwart“ in Aussicht
stehenden Aufsätze über die psychologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen, sowie
die Geschichte der Mathematik als Vorbereitungen für den Band VII seinerzeit werden die-
nen können.154
Der Historiker Paul Hinneberg – ein Vertreter des von Leopold von Ranke ge-
prägten Historizismus – hatte ein auf 62 Bände angelegtes Projekt Kultur der Ge-
genwart (Bd. 1, 1906) initiiert. Klein sorgte für die Integration von Mathematik,
150 Diese Fragestellungen flossen in die Bände I bis III der ENCYKLOPÄDIE ein.
151 [AdW Wien] I 170 (Math. Enzyklopädie).
152 Vgl. detailliert TOBIES 1994a, 56-69.
153 Er berichtete am 1.5.1906 darüber, vgl. Jahresbericht DMV (1906) Abt. 2, 331.
154 [AdW Wien] I. 170, Protokoll der Sitzung v. 15. und 16.4.1910 in München, Bl. 2.
410 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Naturwissenschaften und Technik unter das Dach „Kultur“, gegenläufig zur Ten-
denz, die einheitliche philosophische Fakultät deutscher Universitäten zu trennen
(vgl. 8.3.2). Er leitete den Band Die mathematischen Wissenschaften, gewann
bedeutende Physiker und Chemiker sowie Walther Dyck für die Mitarbeit am Ge-
samtprojekt.155 Allerdings war Klein unzufrieden mit der Klassifikation:
Man muß es als einen Mißgriff bezeichnen, wenn bei zahlreichen Klassifikationen der Wis-
senschaften, so z.B. auch in dem neuen enzyklopädischen Werke „Kultur der Gegenwart“ die
Mathematik prinzipiell mit den Naturwissenschaften zusammengeworfen wird. […] An den
höheren Schulen sind ja Mathematik und Naturwissenschaften gegenüber den sonstigen Fä-
chern natürliche Bundesgenossen. Freilich hat die mathematische Wissenschaft auch unab-
hängig von jedem anderen Gebiet der menschlichen Erkenntnis ihre gute Bedeutung; sie hat
nach den verschiedensten Seiten Beziehungen und ist rein philosophisch betrachtet durchaus
nicht an irgend eine der Naturwissenschaften gebunden: die Mathematik ist an sich eine reine
Geisteswissenschaft.156
Klein trug bei, die kulturellen Werte und den Bildungswert von Mathematik ins
allgemeine Bewusstsein zu heben.
Abb. 32: Plan Kleins für den Band „Die Mathematischen Wissenschaften“
im Projekt Kultur der Gegenwart, 1912 (Anzeige des Verlags B.G. Teubner)
H. G. Zeuthens Beitrag wurde die Erste Lieferung (1912) und fußte auf seinem
Buch zum Thema (Kopenhagen: Hoest, 1893, dt. 1896). Paul Stäckel vollendete
seinen Beitrag nicht. Als Zweite Lieferung folgten: Voss, A. (1914): „Die Bezie-
hungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur“ (1-49); und Timerding, H. E.
(1914): „Die Verbreitung mathematischen Wissens und mathematischer Auffas-
sung“ (50-161). Als Dritte Lieferung erschien Voss, A. (1914): „Über die mathe-
matische Erkenntnis“ (1-148). Aus Punkt 5 mit dem Autor N.N. resultierten
Kleins Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert
(vgl. 8.3.1; 9.2), wobei er noch im Juni 1912 an Extrabände für „reine“ bzw. „an-
gewandte“ Mathematik gedacht hatte.157
155 KLEIN (1912-14). Vgl die Analyse in TOBIES 2008b (Es wurden 25 Bände realisiert); zu
Dycks Teilnahme siehe auch HASHAGEN 2003, 343-45.
156 KLEIN 1907b, 136-37. Zu Kleins Zuordnung von Mathematik siehe Abschnitt 8.3.2, Fünftens.
157 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7M: Bl. 14 (geplante Bogenverteilung für den Band v. 9.6.1912).
8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht 411
Meine Art, Historie zu treiben: Voranstellung bestimmter Fragen, - und nun Vergleich der
Quellen.159
Klein war vom erwähnten Historizismus Leopold von Rankes beeinflusst. Diese
Art von Geschichtswissenschaft arbeitete quellenbasiert, suchte nach Ursachen für
den Verlauf der Geschichte und wollte möglichst objektiv darlegen, wie es gewe-
sen ist. Klein hatte dies bereits als Privatdozent in Göttingen zu schätzen gelernt
(vgl. 2.8.3.3). Als er 1871 Alfred Clebsch half, den Nachruf auf Julius Plücker
vorzubereiten, zielten sie bewusst auf ein Stück Wissenschaftsgeschichte, um die
Leistungen einzuordnen. In einem Brief an Plückers Witwe hatte Klein erläutert:
Es würde darauf ankommen, nicht sowohl eine detaillirte Lebensgeschichte zu geben, als
vielmehr in allgemeinen Zügen darzustellen, wie Pluecker in den Entwicklungsgang der Wis-
senschaft eingegriffen hat; es würde also ein Stück Geschichte der Wissenschaft sein, mit
Pluecker als Hauptfigur im Vordergrunde.160
Kleins Wertschätzung der Quellen spiegelte sich in seiner Tätigkeit für die Werke
von Plücker, Clebsch, Möbius, Grassmann, Gauß. Für Plückers Werke initiierte
Klein 1894 eine Akademie-Commission und betraute F. Pockels und A. Schön-
flies mit der Edition: PLÜCKER 1895/96. Schering starb am 2. November 1897.
158 Vgl. hierzu auch PIEPER/TOBIES 1988; DAUBEN/SCRIBA 2002; TOBIES 2002b.
159 [UGB] Cod. Ms. F. Klein 20H.
160 Klein an Antonie Plücker, Brief v. 10.11.1871 [Canada].
161 CLEBSCH 1872, Zitate, 6 bzw. 2. – Dass anschauliches Denken für den Forschungsprozess
nicht obsolet ist, belegen nicht nur Aussagen von Roger Penrose, vgl. STAPF 2016.
412 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Bereits am 22. November 1897 unterbreitete Klein sein erstes Programm für die
Gauß-Edition: die „sofortige Herausgabe der auf die Nichteuklidische Geometrie
bezüglichen Stücke“ durch P. Stäckel und F. Engel und das Anbinden an den
Teubner-Verlag.162 Klein integrierte weitere Experten und bereitete mit Martin
Brendel eine wissenschaftliche Gauß-Biographie vor. Noch 1919 engagierte er
Abraham Fraenkel, für den Teil Zahlbegriff und Algebra bei Gauß.163 Kleins
Edition von Gauß’ wissenschaftlichem Tagebuch galt als Beginn einer „Wende in
der Gaußforschung, indem nun auf gesicherter Grundlage die Problematik der
Genesis der Gaußschen Entdeckungen untersucht werden konnte.“164
Unter Kleins Vorsitz beschloss die DMV 1908, die von Ferdinand Rudio initi-
ierte Euler-Edition in Basel zu unterstützen und ein Mathematiker-Archiv in Göt-
tingen einzurichten.165 Kleins historischem Interesse sind ebenfalls die „Gedächt-
nistafeln“ für Clebsch, Dirichlet, Tobias Mayer und Riemann an deren ehemaligen
Göttinger Wohnhäusern zu danken sowie das Gauß-Weber-Denkmal, wofür früh
international Geld gesammelt wurde (enthüllt am 17.6. 1899).166
Um die mathematische Allgemeinbildung zu heben, empfahl Klein den (Lehr-
amt-)Studierenden das Studium alter Quellen (Euklid, Archimedes, Apollonius
usw.).167 Er sorgte für mathematikhistorische Literatur (Moritz Cantor; Zeuthen,
u.a.) im Lesezimmer, förderte Gustaf Eneströms Bibliotheca Mathematica beim
Teubner-Verlag (vgl. 5.6), wenn er auch dessen Disposition für den historischen
Teil von Band VII der ENCYKLOPÄDIE nicht akzeptierte.168
Mit Conrad Müller, der Mathematik, Naturwissenschaften und indische Phi-
lologie studiert hatte, versuchte Klein, seine neue Art von Historiographie
umzusetzen. Müller promovierte bei ihm mit dem Thema Studien zur Geschichte
der Mathematik insbesondere des mathematischen Unterrichts an der Universität
Göttingen im 18. Jahrhundert (1903). Er zielte auf „[…] das Studium des Ein-
flusses und der Anregungen, die die reine Mathematik von der angewandten er-
halten hat […].“169 Er blickte auf die Rolle der Mathematik für die Kultur
verschiedener Perioden und analysierte die Organisation wissenschaftlicher Ar-
beit. Drei Jahre später plante Klein mit ihm die Habilitation für das Gebiet,170 was
zur ersten venia legendi für „Mathematik, namentlich Geschichte der Mathema-
tik“ (28.10.1908) führte. Müllers Beiträge für die ENCYKLOPÄDIE (mit Timpe bzw.
162 [AdW Göttingen] Chro 4,6: 1894; Scient 105,2; 105,3; 107,5; REICH/ROUSSANOVA 2013.
163 FRAENKEL 1967, 152.
164 Biermann, K.-R.; Wußing, H.; Neumann, O. (Hg.) (1979), Mathematisches Tagebuch 1796-
1814 von C. F. Gauß (Ostwalds Klassiker 256). Leipzig: Akad. Verlagsgesell., 10. – Erste
Edition von Klein mit Anmerkungen als Festschrift 1901 und in Math. Ann. 57 (1903) 1-34.
165 Jahresbericht der DMV 17 (1908) Abt. 2, 133; GRENZEBACH/HABERMANN 2016.
166 Klein an Univ.-Kurator u. Oberbürgermeister Dr. Merkel, Dez. 1889, Jan. 1890 [UBG] Cod.
Ms. F. Klein 1B: 5, Bl. 145-46. – Greenhill wünschte Klein am 4. Juli 1892 “success of the
combined Gauss-Weber Memorial“ und spendete dafür. Ebd. 9: 498.
167 Vgl. z.B. Notizen für die Vorlesung des SS 1903 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 19C.
168 Eneström an Klein, v. 13.9., 28.9. und 29.10.1899 [StB Berlin] Sammlung Darmstaedter.
169 Publ. in Heft 18 der Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften mit
Einschluß ihrer Anwendungen. Leipzig: B. G. Teubner, 1904, 50-143, Zitat 59.
170 Notizen Kleins v. 10.6.1906.
8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht 413
Krylow) und der Katalog für Rom TEUBNER (1908) zählten als Leistungen.171 Als
Privatdozent las er: Aus der Geschichte der Mechanik seit Lagrange (1909/10);
Die Mathematik bei Archimedes (1910).172 C. H. Müllers angekündigte Vorlesung
Die Geschichte der Entdeckung der Infinitesimalrechnung (1910/11) entfiel, da er
eine Professur an der TH Hannover (Nachfolge Carathéodory) erhielt. Dort setzte
er Mathematikgeschichte und ENCYKLOPÄDIE-Arbeit für/mit Klein fort.
Mit Start der Arbeiten am Mathematik-Band für die Kultur der Gegenwart
hatte Klein selbst seine konzeptionellen Überlegungen und Literaturstudien zur
Geschichte der Mathematik forciert. Im Sommerurlaub 1908 las er u.a. das
Chapter „On the Development of Mathematical Thought during the Nineteenth
Century“ aus Band II des vierbändigen Werkes des Briten John Theodore MERZ
(1904-12). Klein notierte dazu z.B.: „Der praktische Stimulus“ im Kontext mit
Geometrie; oder „Zahlentheorie. Auch hier wieder praktische und theoretische
Interessen“. Dies deutet auf seine Suche nach Ursachen. Hermann Weyl unter-
stützte Klein mit Analysen zu neueren Gebieten wie Mengenlehre, Differentialge-
ometrie, Analysis u.a.173 Den Extraband zur Geschichte angewandter Mathematik,
angedacht mit Carl Runge (Numerik, Graphik, Darstellende Geometrie, Wahr-
scheinlichkeitsrechnung, etc.) und Heinrich Weber (Mechanik, Astronomie, ma-
thematische Physik), ließ Klein schließlich fallen und entschied,
[…] dass ich die Math.[ematik] der Neuzeit doch auch ungetrennt lasse, i.a. Alles, was über
Angewandte Math.[ematik] zu sagen ist, an geeigneter Stelle in die historische Darstellung
der reinen Math.[ematik] mit einfüge. Es empfiehlt sich das, weil bei vielen Fragen die
Trennlinie kaum zu ziehen ist.[…]174
Klein hatte bereits für 1910/11 sowie für 1912/13 das Thema Entwicklung der
Mathematik im 19. Jahrhundert als Vorlesung angekündigt175, aus Überlastungs-
gründen aber nicht gehalten. Im Sommer 1914 startete er schließlich ein Kollo-
quium über Mathematikgeschichte, in welches er u.a. Carathéodory, Courant und
Debye einzubeziehen vermochte.176 Weitere Vorträge in den folgenden Semestern
mündeten in die Vorlesungen (KLEIN 1926/1927), die nach seinem Tod aus dem
Nachlass ediert werden sollten (vgl. auch Abschnitt 9.2).
Wilhelm LOREY (1916) baute am mathematikhistorischen Feld unter Kleins
Ägide mit. Klein unterstützte dessen Quellenfindung, forderte zuverlässige Daten
ein, las die Texte kritisch und empfahl weitere Quellen und u.a. auch, verletzende
Äußerungen wegzulassen.177 Wir können Klein mit SCHUBRING (1986b) als einen
Begründer von Sozialgeschichte der Mathematik bezeichnen.
171 [UAG] Kur. 6289 (Hab. Conrad Müller). – Als nächster habilitierte sich erst Otto Neugebauer
in Göttingen für Geschichte der Mathematik (1927). [UAG] Math.Nat. 0047, Bl. 32.
172 Bereits zuvor hatte Klein F. Bernstein zu historischen Vorlesungen animiert: Einleitung in die
Geschichte der Mathematik (1908); Geschichte der neueren Mathematik (1908/09)
173 [UGB] Cod. Ms. F. Klein 7M: Bl. 16-42; MERZ 1904-12, Chapter XIII in Vol. II. – Zu Weyls
Notizen und Briefen an Klein (v. 9.6.1912, 16.8.1912) ebd., 7M: Bl. 16-29.
174 Klein an H. Weber, Briefentwurf v. 2.8.1912, [UGB] Cod. Ms. F. Klein 7M, Bl. 15.
175 Vgl. Verzeichnis der Vorlesungen WS 1910/11, WS 1912/13, Göttingen 1910 bzw.1912, 15.
176 [UGB] Cod. Ms. F. Klein 22C: Bl. 63.
177 Vgl. Kleins Briefe an Lorey [UBG] Cod. Ms. Philos. 182: F. Klein.
414 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Klein plädierte dafür, „a.[n] d.[er] Universität dem einzelnen Philosophen die freieste Wirk-
samkeit, niemals aber Herrschaft über Andere zu gestatten.“179
Diese Aussage Kleins – aus einem Brief, mit dem er den kritischen, politisch der
Sozialdemokratie nahestehenden und mathematisch begabten Leonard Nelson
unterstützte – war auf den großen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel
gemünzt, denn Klein hatte angemerkt „Cf. Hegel“.180 Dieser Großvater von Anna
Klein hatte einst veranlasst, dass der Privatdozent Friedrich Eduard Beneke wegen
angeblichen Materialismus’ von der Universität Berlin verwiesen worden war.
Beneke hatte daraufhin in Göttingen lehren können und nach Hegels Tod eine a.o.
Professur in Berlin erhalten. Dies alles ist erwähnenswert, weil der Konsistorialrat
und Prediger Carl Gustav Beneke im Gedenken an seinen Bruder eine Preis-
Stiftung zur Förderung des Studiums der Philosophie verfügte, deren Mühe-
waltung Berlin ausgeschlagen, aber die Philosophische Fakultät der Universität
Göttingen übernommen hatte. Aufgrund der noch einheitlichen Philosophischen
Fakultät ermöglichte diese Beneke-Preisstiftung auch rein mathematische Preis-
Aufgaben, was schon Clebsch (im April 1872) und Klein (1892) genutzt hatten.
Jetzt formulierte Klein bevorzugt mathematisch-philosophische Aufgaben mit
Blick auf den philosophischen Teil des ENCYKLOPÄDIE-Bandes VII.181
Klein bewegte in erster Linie das Verhältnis von exakt (präzise) und approxi-
mativ in Verbindung mit Raum-Anschauung182 und Anwendungen. Einen Vortrag
„Grenzfragen der Mathematik und Philosophie“, gehalten am 15. Oktober 1905 in
der Philosophischen Gesellschaft an der Universität Wien, leitete er wie folgt ein:
Wiewohl ich diese Aufforderung erst vor drei Tagen empfing, komme ich ihr doch um so lie-
ber nach, als ich zu den Mathematikern gehöre, die nähere Beziehungen zu philosophischen
Kreisen wünschen; denn ich bin von der Überzeugung durchdrungen, daß eine Menge von
Fragen die Philosophen und uns Mathematiker gemeinsam beschäftigen sollte. Neues habe
ich den heute anwesenden Mathematikern freilich nicht zu sagen. Denn die Aufforderung
lautete dahin, ich möge namentlich einiges von den Ideen, die ich über die Ungenauigkeit un-
serer Raumvorstellungen schon anderweitig auseinandergesetzt habe, neuerdings ent-
wickeln.183
Bereits in seiner Arbeit „Über den allgemeinen Funktionsbegriff und dessen Dar-
stellung durch eine willkürliche Kurve“ (1873) hatte Klein von der beschränkten
Genauigkeit der Anschauung gesprochen (vgl. auch 3.1.3). Diese Arbeit aus den
Sitzungsberichten der physikalisch-medizinischen Sozietät zu Erlangen (8.12.
1873) ließ er noch einmal abdrucken (Math. Ann. 22 (1883) 249-59), nachdem
Moritz Pasch seinen Ansatz estimiert hatte.184 Klein behandelte das ihm wichtige
Thema 1893 im Evanston-Vortrag (6); am 2. November 1895 in seiner Rede
„Über Arithmetisierung der Mathematik“, gehalten in der öffentlichen Sitzung der
Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen;185 sowie in der Vorlesung
„Prinzipien der Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf Geome-
trie“ (1901), aus welcher Band III der Elementarmathematik vom höheren Stand-
punkte aus erwuchs.186 Seine Position sei im Folgenden zusammengefasst.
Erstens. In der Arbeit von 1873 erklärte Klein,
[…] dass man überhaupt nicht die Fähigkeit habe, sich auch einfachere Beispiele der Funktio-
nentheorie und Infinitesimalrechnung genau und zugleich anschaulich zu denken, daß die
Raumanschauung sogar schon versagt, wenn es sich um die genauen Einzelheiten derjenigen
Kurven handelt, welche durch ganze Funktionen dargestellt werden.187
Dennoch betonte er wiederholt den heuristischen Wert der Anschauung für mathe-
matische Erkenntnis. Er meinte, dass in der Mehrzahl der Fälle instinktiv eine
ausreichende Genauigkeit erreicht werde und dass ihn sein eigenes anschaulich-
geometrisches Herangehen „vielfach zu richtigen Theoremen der Präzisionsma-
thematik“ sowie zur „Auffindung der Relationen und ihrer wesentlichen Beweis-
gründe geführt“ habe. Klein sah in der Raumanschauung eine mögliche Quelle für
neue analytische Begriffsbildungen:
Wir glauben im Raume die unendliche Zahl der Punkte und der aus ihnen zusammengesetzten
Gebilde unmittelbar vor uns zu sehen. Von hier aus sind die grundlegenden Untersuchungen
über Mengen und transfinite Zahlen erwachsen, mit denen Georg Cantor der arithmetischen
Wissenschaft ganz neue Ideenkreise erschlossen hat.188
Dies lesen wir in Kleins Rede „Über Arithmetisierung der Mathematik“, in wel-
cher er die „Weierstraßsche Strenge“, „Kroneckers Tendenz, die Irrationalzahlen
zu verbannen“ und Peanos Arbeiten in die Arithmetisierungsrichtung ordnete,
aber – das mag überraschen – eigentlich Hilbert meinte. Klein suchte hier zu be-
gründen, dass die „arithmetisierte Wissenschaft“ mit ihrer logischen Deduktion
den „eigentlichen Inhalt der Mathematik“ […] nicht erschöpfe, „[…] daß vielmehr
neben der letzteren die Anschauung auch heute ihre volle spezifische Bedeutung
behält.“189 Später allerdings, als er im Jahre 1908 das benannte Chapter von MERZ
studierte, notierte er in seinem Skript:
184 Vgl. SCHLIMM 2013. – Pasch’ streng logisches Herangehen an Geometrie beeinflusste die
Axiomatik von Peano und Hilbert.
185 Rede gedruckt in Göttinger Nachrichten, Geschäftl. Mitt. 1895, H. 2, 81-91; Zeitschr. math.
u. naturw. Unterricht 27 (1896) 143-49; Klein 1922 GMA II, 232-40. Engl. Übers. v. Isabel
Maddison “The arithmetizing of mathematics.” Bull. Amer. Math. Soc. 2 (1896) 241-49; Ital.
Übers. v. Salvatore Pincherle, “Sullo spirito aritmetico nella matematica”. Rendiconti. del
Circolo matematico di Palermo 10 (1896) 107–17; Franz. Übers. v. L. Laugel & A. W. Was-
siljef, Sur «l’arithmétization» des mathématiques. Nouvelles annales de mathématiques, Sér.
3, 16 (1897) 114-28. – Vgl. auch die Analyse von FRIED/JAHNKE 2015.
186 KLEIN 1928 (11902), Vorlesung des SS 1901, ausgearbeitet durch C. H. Müller.
187 KLEIN 1922 GMA II, 248. – Aufsatz von 1873: KLEIN 1922 GMA II, 214-24.
188 KLEIN 1922 GMA II, 235.
189 Ebd., 233-34.
416 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Bei Merz erscheint die Arithmetisierung noch als ein Abschluss, während wir jetzt wissen,
dass sie nur ein Anfang war. (Subjektive Veranlassung, dass ich den Aufsatz schrieb. Raum
für angewandte! Orientierung gegen Hilbert).190
Klein lehnte die Ansicht ab, dass die Axiome lediglich willkürliche Sätze seien,
welche aufgrund von Konventionen vereinbart werden:
[…] so sind wir in den letzten Jahren im Anschluß an die moderne Axiomatik vielfach gera-
dezu wieder in diejenige Richtung der Philosophie hineingeraten, die man von alters her No-
minalismus nennt. Hier geht das Interesse an den Dingen selbst und ihren Eigenschaften ganz
verloren; nur wie man sie nennt und nach welchem logischen Schema man mit den Namen
operiert, davon wird noch geredet.192
190 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 M: Bl. 4. – Vgl. MERZ 1904-12, Vol. II, Chapter XIII.
191 KLEIN 1922 GMA II, 235.
192 KLEIN 1925 Elementarmathematik II, 202.
193 Vgl. Poincaré, Henri (1908): Science et méthode. Paris: Flammarion.
194 Vgl. auch die Analyse in Kleins Seminar [Protokolle] Bd. 29, 25-27.
8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht 417
Klein hatte früh gesehen, dass sowohl bei Gauß als auch „unter den reinen
Analytikern in Russland keine snobistische Haltung gegenüber der numerischen
Mathematik“ bestand, während „im Westen leider der Graben zwischen der reinen
Mathematik und ihren Anwendungen, namentlich auf technische Probleme, im-
mer wieder aufgerissen wurde, wie es später A. M. OSTROWSKI (1966: 102) aus-
drückte, der an der Edition von KLEIN GMA I mitwirkte (vgl. 9.2).
Eine von Klein, Hilbert und G.-E. Müller für 1901 formulierte Beneke-Preis-
aufgabe (angenommen am 24.2.1898) war damit verknüpft und fragte nach der
mathematischen Behandlung von Naturerscheinungen auf der Basis des Princips
der Stetigkeit. Kleins Duzfreund Carl Stumpf reagierte darauf mit:
Die kleine „Beneke“-Abhandlung habe ich mit grösstem Interesse gelesen. Hier liegt ohne
Zweifel ein Cardinalpunct der ganzen Naturphilosophie (ich habe auch einmal, in der Rede
über den Entwicklungsgedanken, auf die Schwierigkeiten des Stetigkeitsprincips hingewie-
sen). Aber wer soll die Aufgabe lösen? Da wirst Du Dich schon selber daran machen müs-
sen.199
Frage eher als unbequem beiseite schieben, aber „die moderne Entwicklung der
Mathematik nach der kritischen Seite hin“ erfordere, sich darüber klar zu werden,
so Klein. Daraufhin erklärte er in drei Punkten:
1. An der Tendenz der Arithmetisierung als Basis für die neueren Entwicklungen sei
festzuhalten.
2. Wenn aber die Außenwelt quantitativ untersucht werden soll, muss gefragt werden,
welche Erleichterungen gestattet sind, wenn von den Resultaten wieder nur eine begrenzte
Genauigkeit verlangt werden kann.
3. Die Lösung sah Klein darin, dass sich „Mathematiker und Empiriker auf einem Zwi-
schengebiete die Hand reichen.“ Die Mathematiker hätten die Aufgabe zu bewältigen, „[…]
auf Grund der arithmetisierten Wissenschaft eine umfassende Lehre von den Näherungsme-
thoden zu entwickeln, als eine besondere Disziplin dasjenige zu pflegen, was Hr. Heun neu-
erdings treffend als Approximationsmathematik bezeichnet hat.“ Der Empiriker (Anwender)
habe die Aufgabe, „den Genauigkeitsgrad festzulegen, innerhalb dessen die (äußeren oder in-
neren) Beobachtungen, von denen er ausgeht, richtig sind, oder innerhalb deren er zuverläs-
sige Resultate zu haben wünscht.“201
Klein betonte, dass sein bezeichnetes Programm nicht eigentlich neu sei. Er ver-
wies wiederholt auf Gauß, Tschebyschow und betonte den Satz von Weierstraß,
„[…] dass man jede in einem Intervall gegebene stetige Function durch eine ratio-
nale Function endlichen Grades mit beliebiger Genauigkeit gleichmäßig approxi-
mieren kann.“ Neu sei nur die Forderung, die bezeichnete Fragestellung in den
Mittelpunkt aller angewandten Mathematik zu rücken und „einzusehen, daß die
approximative Auffassung der Größenbeziehungen sehr viel mehr, als man früher
wusste, unser ganzes Denken durchzieht.“202
Um die präzise Approximationsmathematik voranzubringen, ließ Klein Ar-
beiten von Tschebyschow zur Interpolation und Approximation von Funktionen
einer Variablen analysieren. Er veranlasste, wie erwähnt, dass Lehrbücher der St.
Petersburger Schule (Differenzenrechnung; Wahrscheinlichkeitsrechnung, vgl.
5.6) übersetzt werden. Er erkannte die Bedeutung von d’Ocagne’s Nomographie
und unterstützte Carl Runges moderne numerische Mathematik, u.a. Dies war im
Vergleich zur abstrakten, axiomatisch orientierten „modernen“ Mathematik eine
andere Art von Moderne, die sich auf Basis des Instruments Computer später zu
den Gebieten Wirtschafts- und Technomathematik entfalten sollte.203
Viertens. Universalismus. Klein versuchte, die Einheit der Philosophischen
Fakultät zu sichern, wenn auch wiederholt Differenzen zwischen der geistes- und
der naturwissenschaftlichen Sparte aufgetreten waren. Er bezeichnete dies selbst
als „Universalismus“. In einer Rede vom 27. Januar 1904 argumentierte er mit
dem Programm „Unification and mutual relations of the sciences“ des Congress
of Arts and Science in Saint-Louis (19.9. – 25.9.1904), dessen Klassifikation von
201 Ebd., 244-45. – Zum Begriff Approximationsmathematik vgl. Heun, Karl: „Die kinetischen
Probleme der wissenschaftlichen Technik“. Jahresbericht DMV 9 (1901) H. 2, 1-123.
202 KLEIN 1922 GMA II, 245.
203 Das Orientieren an Anschauung und Anwendung möchte ich im Unterschied zu Herbert
MEHRTENS (1990) viel diskutierter Klassifizierung nicht als „gegenmodern“ bezeichnen. –
Vgl. NEUNZERT/PRÄTZEL-WOLTERS 2015.
8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht 419
Klein konnte die Spaltung der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen
hinausschieben, aber nicht verhindern. Am 16. Juni 1910 beschloss die Fakultät,
eine mathematisch-naturwissenschaftliche und eine historisch-philologische Ab-
teilung zu bilden.207 Dass am 29. Januar 1921 die „Kommission für die Trennung
der Fakultät in zwei Fakultäten […] in der Wohnung des Kollegen Klein“ tagte208,
war ein Ausdruck seines fortdauernden Mitwirkens (vgl. Kapitel 9). Seit 1922
existierten zwei getrennte Fakultäten.
Es sei noch erwähnt, dass sich Klein zu verschiedenen Philosophen kritisch,
zustimmend bzw. fördernd verhielt. So schloss er sich der Rezension des österrei-
chischen Philosophen Benno Kerry an, der verwaschene Ansichten von Paul du
Bois-Reymond zum Funktionsbegriff (Allgemeine Funktionentheorie, Tübingen
1882) kritisch besprochen hatte.209 So kritisierte Klein Arthur Schopenhauer, der
glaubte, die mathematische Wahrheit direkt der Anschauung entnehmen zu
können. Denn wenn Klein auch Anschauung als heuristisches Prinzip noch so sehr
204 Rogers, H. J. ed. (1905): Congress of Arts and Science. Universal Exposition, St. Louis 1904.
Vol. I. Boston/New York: Houghton, Mifflin & Co.; zur Klassifikation p. 13.
205 Rede vom 27.1.1904 (Kaiser-Geburtstag), Klein, F.: „Über die Aufgaben und die Zukunft der
philosophischen Fakultät“. Jahresbericht DMV 13 (1904) 267-76. – Klein kam später auf die
Forderungen zu Fremdsprachen und Auslandsstudien noch einmal zurück (vgl. 9.3.1).
206 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 8: 8 Anlage (Klein, Briefentwurf an Althoff, 19.2.1906).
207 [UAG] Phil. Fak. III, Bd. 5, Bl. 80-81.
208 Ebd., Bl. 251.
209 KLEIN (31928) Elementarmathematik III, 15; vgl. auch Kerry, B. (1885): Review of „Paul du
Bois-Reymond Allgemeine Functionentheorie. Erster Theil Tübingen 1882“. Vierteljahrs-
schrift für wissenschaftliche Philosophie 9, 245-55; FISHER 1981.
420 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
schätzte, forderte er „doch als letzte allein entscheidende Instanz immer wieder
den von den Voraussetzungen ausgehenden logischen Beweis“.210
Hinsichtlich Immanuel Kant lesen wir bei Klein einerseits, dass er ihn „[…]
weder verurteilen noch anerkennen“ mochte, da er sich an unterschiedlichen Stel-
len verschieden geäußert habe. Andererseits lehnte Klein Philosophen ab, die an
Kants orthodoxer Raumauffassung anknüpften, dass der dreidimensionale Raum a
priori denknotwendig sei.211 Ludwig Boltzmann betonte in der Diskussion zu
Kleins Wiener Vortrag: „Ich stimme mit Geheimrat Klein ganz überein in dem
Gegensatze zur Kantschen Lehre. Ich begreife gar nicht, wie man vom Beweisen
aus Anschauung reden kann; wenn ich den Kant lese, begreife ich gar nicht, wie
ein vernünftiger Mensch das schreiben kann.“212
Empfohlen durch seinen Freund Carl Stumpf aus der Privatdozentenzeit ge-
lang es Klein, den in Mathematik promovierten 42-jährigen Edmund Husserl auf
ein 1901 neu etabliertes philosophisches Extraordinariat in Göttingen zu brin-
gen,213 woraus 1906 ein persönliches Ordinariat wurde.
Klein wandte sich – ähnlich wie Max Planck und Carl Runge – gegen den
Physiker Gustav Robert Kirchhoff, der Naturerscheinungen nur beschreiben, aber
nicht zu erklären suchte, und kommentierte dazu: „Ich kann nicht verhehlen, daß
mir diese Auffassung der Naturwissenschaft äußerst antipathisch ist, weil sie die
Freude des Lernens und den Trieb zur Weiterforschung unterbindet.“ In diesem
Kontext kritisierte Klein „positivistisch gerichtete Philosophen, z.B. Ernst
Mach“.214 Zuvor jedoch hatte er gemeinsam mit Hilbert, Einstein, Mach, G.-E.
Müller und weiteren 29 Wissenschaftlern (kein weiterer Mathematiker) im Jahre
1913 einen Aufruf zur Gründung einer Gesellschaft für positivistische Philosophie
unterzeichnet. Diese verfolgte das Ziel, „[…] eine umfassende Weltanschauung
auf Grund des Tatsachenstoffes vorzubereiten, den die Einzelwissenschaften auf-
gehäuft haben […].“215 Auch wenn Hermann Weyl später urteilte: „[…] hier blieb
er [Klein] den Dogmen seiner Zeit, dem Empirismus und einer Psychologie eng
verhaftet, für welche Mach der extreme Repräsentant ist und uns heute, gerade
auch von einem vorurteilslosen empiristischen Standpunkt aus, immer fragwürdi-
ger zu werden beginnt,“216 sah Klein doch Mach nicht kritiklos. Wer und was
Klein in psychologischer Hinsicht besonders prägte, sei in 8.3.3 erörtert.
210 KLEIN 31925, Elementarmathematik II, 257. – Schopenhauer, A. (1819): Die Welt als Wille
und Vorstellung. Leipzig: Brockhaus.
211 KLEIN 11909, Elementarmathematik II, 367-68.
212 Klein, F.; Höfler, A. (1906): Zwei Besprechungen über „Grenzfragen der Mathematik und
Philosophie“ und „Geometrische Nicht-Anschauung und Gestalt-Anschauung“. Leipzig:
Barth, 8-9.
213 Stumpf an Klein, 4.6.1901 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1251. – Husserl promovierte 1883 in
Wien bei Leo Koenigsberger (Beiträge zur Theorie der Variationsrechnung) und konvertierte
gemäß dessen Beispiel 1886 zum Christentum; 1887 Habilitation (Über den Begriff der Zahl)
beim Philosophen Carl Stumpf in Halle.
214 KLEIN 1926 Vorlesungen I, 220; 219; vgl. auch HENTSCHEL/TOBIES 2003, 22-24.
215 „Aufruf!“ Zeitschrift für Mathematik und Physik 61 (1913) 203; Archiv für Geschichte der
Philosophie 25 (1912) 502.
216 WEYL 1930, 5.
8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht 421
Wenn wir hier psychologische Aspekte getrennt betrachten, so sei noch einmal
betont, dass Klein philosophische, psychologische und pädagogische Komponen-
ten in der Regel zusammendachte. Das belegt auch sein Seminar „Über die psy-
chologischen Grundlagen der Mathematik“, welches er im Winter 1909/10 mit
Felix Bernstein und Leonard Nelson durchführte. Kleins einleitend formulierte
Themen verweisen auf die Gesamtdisposition vom ENCYKLOPÄDIE-Band VII:
- die Arbeitsweise des schaffenden Mathematikers,
- wie entstehen mathematische Grundanschauungen (Raum- und Zahlanschauung),
- Entstehen und erkenntnistheoretischer Wert von Axiomen,
- verschiedene Arten von Irrtümern in der Mathematik,
- Schlussfolgerungen für den Unterricht, vom Kindergarten bis zur Hochschule,
- Stellung der Mathematik im System der Wissenschaft.217
Einige dieser Aspekte haben wir bereits beleuchtet; die Schlussfolgerungen für
den Unterricht verlegen wir in Abschnitt 8.3.4. Hier sei die erste Frage diskutiert,
die Arbeitsweise des schaffenden Mathematikers. Klein suchte nach den Momen-
ten, die Herangehen, Kreativität und Produktivität in der Mathematik bestimmen.
Kooperierend mit zahlreichen Mathematikern hatte er unterschiedliche For-
schungsstile erkannt. Daraus resultierte bereits die Klassifikation, die er bei der
Berliner Berufungssache 1892 unterbreitet hatte (vgl. 6.5.1.1). Kleins Vortrag (6)
On the mathematical character of space-intuition and the relation of pure mathe-
matics to the applied sciences vom Evanston-Kolloquium (1893) enthält außer der
Einteilung in Philosophen, Intuitionisten und Algorithmiker eine national und eine
konfessionell bedingte Komponente. Nach Bemerkungen über Forschungsstile bei
Euklid, Newton, Georg Cantor, Moritz Pasch, Guiseppe Peano mutmaßte Klein:
Finally, it must be said that the degree of exactness of intuition of space may be different in
different individuals, perhaps even in different races. It would seem as if a strong naïve space-
intuition were an attribute pre-eminently of the Teutonic race, while the critical, purely logi-
cal sense is more fully developed in the Latin and Hebrew races.218
Analysen offenbaren, dass Klein mit derartiger Zuordnung keine Richtung bzw.
„Rasse“ herabwürdigen wollte.219 Er schrieb differierenden Wegen, zu mathemati-
schen Erkenntnissen zu kommen, gleiche Wertigkeit zu. Dennoch war eine derar-
tige Aussage noch nach seinem Tode geeignet, politisch für antifranzösische oder
217 [Protokolle] Bd. 12, 1-72, Kleins Eröffnung, 1-5. – Klein protokollierte alle Vorträge dieses
Seminars selbst mit eigener Hand, im Unterschied zum sonstigen Vorgehen. – Am Seminar
beteiligten sich auch die Privatdozenten Otto Toeplitz und Ernst Zermelo. Letzterer hielt
parallel die Vorlesung „Über die logischen Grundlagen der Mathematik“ (1909/10), die Klein
in das Programm des ENCYKLOPÄDIE-Schlussbandes ordnete. Es trugen zudem vor: Hermann
Weyl, Erwin Freundlich, der spätere belgische Mathematik-Professor Afred Errera und der
belgische Philosoph Paul Decoster, der spätere Reformpädagoge Bernhard Uffrecht, Kleins
Doktorschüler Wilhelm Behrens sowie ein bisher nicht identifizierter Herr Steckel.
218 KLEIN 1922 GMA II, 228.
219 Vgl. schon ROWE 1986 – Im 18. Jh. klassifizierte Carl von Linné den Menschen erstmals in
die Primatenreihe und beschrieb vier Klassen mit verschiedenen Charaktereigenschaften.
422 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
220 Vgl. hierzu MEHRTENS 1987; 2004. – Vgl. auch Anhang Nr. 9.
221 [Protokolle] Bd. 12, Bl. 10.
222 Ebd. Bl. 59-60, Zitat 59.
223 Vgl. hierzu ABELE/NEUNZERT/TOBIES 2004, 32; TOBIES 2018b.
224 Vgl. Beiträge von L. Giacardi und G. Lolli in COEN 2012, bes. 224.
8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht 423
ihm vorzubereiten. Aurel Voss’ Beitrag „Über die mathematische Erkenntnis“ für
die Kultur der Gegenwart (vgl. Abb. 32) beginnt mit psychologischen und logi-
schen Aspekten. In die IMUK-Abhandlungen band Klein einen Beitrag Psycholo-
gie und Mathematikunterricht des Göttinger Privatdozenten David Katz ein. Katz
basierte nicht nur auf Georg-Elias Müller, der in Göttingen 1887 das weltweit
zweite Institut für Psychologie errichtet (nach Wilhelm Wundt in Leipzig) und
1904 eine Gesellschaft für experimentelle Psychologie initiiert hatte. Klein hatte
Katz auch nach Leipzig (Institut für experimentelle Psychologie) und Jena
(Übungsschule des Reformpädagogen Wilhelm Rein) geschickt, um dortige Er-
fahrungen in das IMUK-Referat einbinden zu lassen.225
Im Großen und Ganzen stehen wir alle unter dem Einfluß der Bewegung, welche von Herrn
Prof. Klein inauguriert und von der deutschen Commission weiter gefördert wurde.226
Der Ungar Emanuel Beke sprach dies auf dem IV. Internationalen Mathematiker-
Kongress in Rom aus. Beke hatte 1893-94 bei Klein studiert und schon damals
dessen Hinwenden zu Lehrerkreisen begeistert aufgenommen.227 Er leitete nun die
Reform in Budapest. Klein war 1899 in das Comité de Patronage der ersten inter-
nationalen Zeitschrift für Mathematikunterricht L’Enseignement mathématique
gebeten worden (Abb. 33).228 Als Präsident der DMV (vgl. 6.4.4) hatte er für Rom
alles vorbereitet, fuhr aber aus Zeitgründen nicht selbst. Er übertrug Dyck den
zugesagten Vortrag über die ENCYKLOPÄDIE bereits am 11. Februar 1908 und
sandte Gutzmer mit Vollmachten für Unterrichtsfragen.229 Somit konnte David
Eugene Smith, Übersetzer von Kleins Elementargeometrie (vgl. 7.3), vorschlagen:
Überzeugt von der Wichtigkeit einer vergleichenden Untersuchung der Methoden und Lehr-
pläne des mathematischen Unterrichts in den höheren Schulen der verschiedenen Länder be-
auftragt der Kongreß die Herren Klein, Greenhill und Fehr mit der Bildung einer internatio-
nalen Kommission, die diese Fragen studieren und dem nächsten Kongreß einen Gesamtbe-
richt vorlegen soll.230
225 Katz, D. (1913): „Psychologie und mathematischer Unterricht“. Abhandlungen über den
math. Unterricht in Deutschland. Bd. 3, H. 8, IV. Leipzig: B. G. Teubner. – TOBIES 2018b.
226 Beke, E.: „Über den jetzigen Stand des mathematischen Unterrichts und die Reformbestre-
bungen in Ungarn.“ Atti del IV congresso internazionale dei matematici Roma, 6-11 Aprile
1908. Vol. III. Roma 1909, 531.
227 [Protokolle] Bd. 11 (3 Vorträge im Januar 1894), 2 Arbeiten in Math. Ann. 45 (1894) 278-
300. – Briefe von Beke an Klein, 8.3., 21.8.1895 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 8: 76A, 76B/1.
228 Vgl. zur Geschichte dieser Zeitschrift CORAY et al. 2003.
229 Klein entschuldigte die Nichtteilnahme mit seiner Wahl ins Herrenhaus, Jahresbericht DMV
17 (1908) Abt. 2, 130. Zur Übergabe seines Plenarvortrags an Dyck vgl. [UBG] Cod. Ms. F.
Klein 22H. Zu Gutzmers Vortrag in Rom vgl. Atti del IV congresso internazionale dei
matematici Roma, 6-11 Aprile 1908. Vol. III. Roma 1909, 445.
230 FEHR 1909, 1. – Zur IMUK vgl. TOBIES 1979a, 1984; HOWSON 1984, MENGHINI et al. 2008.
424 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
231 Royal Comm. on Techn. Instruction LXXXVIII. Report on a visit to Germany, with a view of
ascertaining the Recent Progress of Technical Education in that Country. London 1896, 412.
232 Klein, F.: „Bericht an die Breslauer Naturforscherversammlung über den Stand des math. und
physikalischen Unterrichts an den höheren Schulen“ (1904). In: KLEIN 1907b, 203.
233 Weinreich, H. (1914): „Der mathematisch-physikalische Ferienkursus an der Universität Göt-
tingen Ostern 1914“. ZmnU 45, 487-510, hier Zitat aus Kleins Vortrag, 493.
234 Die unter der Ägide von Wilhelm II. stehende Konferenz zielte vornehmlich gegen ein
“staatsgefährdetes Proletariat Gebildeter“. Als Mathematiker war nur der Gewerbeschul-Di-
rektor Gustav Holzmüller beteiligt, der die (nicht realisierte) Idee des Kaisers vom lateinlosen
426 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
der 1890 gegründeten DMV wurden seit 1893 Unterrichtsfragen diskutiert. Die
Gymnasiallehrer der Mathematik und Naturwissenschaften schlossen sich 1890 in
einem Förderverein zusammen, den Klein 1894 für sich einnahm (vgl. 7.3). Auf
die GDNÄ wirkte das ausländische Beispiel:
Bei den anderen großen naturwissenschaftlichen Vereinigungen in England (British Associa-
tion for the Advancement of Science) und in Frankreich (Association française pour l’advan-
cement des sciences) werden unterrichtliche Fragen bedeutend mehr berücksichtigt, als dies
in Deutschland der Fall zu sein pflegt.235
Als Vorstandsmitglied der GDNÄ engagierte sich Klein bewusst für das Ineinan-
dergreifen der Sectionen auf den Jahresversammlungen.236 Er konnte den Lehrer-
Verein (Förderverein) 1898 als Träger der mathematisch-naturwissenschaftlichen
Unterrichtssektion der GDNÄ installieren und selbst ein Podium für seine Art und
Weise der Hochschullehre finden (Abschnitt 8.3.4.1).
Auf der preußischen Schulkonferenz, 6.-8. Juni 1900, unterbreitete Klein seine
Reformvorschläge (vgl. 8.3.4.2) und avancierte zu einer Instanz, der auch andere
Fachvertreter ihre Wünsche sandten. Die Interessen zu bündeln und abzugleichen,
entwickelte sich sichtbar zu einem inneren Bedürfnis für Klein:
Die Sache scheint mir so wesentlich, dass ich laut meine Stimme erheben möchte, um Dicus-
sion darüber auf der ganzen Linie der Interessenten und Sachverständigen hervorzurufen.
Schulwesen unterstützte und sich bei späteren Lehrplan-Diskussionen gegen moderne Forde-
rungen (analytische Geometrie, Analysis) wandte (vgl. SCHUBRING 2000).
235 [StA Berlin] Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Nr. 8, Bd. VI, Bl. 243.
236 Vgl. Klein an Hilbert, 4.10.1894 in FREI 1985, 111.
8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht 427
Dies formulierte Klein, als er sich schriftlich auf eine Beratung am 11. Dezember
1901 mit Hochschul- und Gymnasiallehrern in Göttingen vorbereitete, um die
verschiedenen Wünsche abzustimmen (Inhalte bis hin zur Anzahl der Wochen-
stunden der einzelnen Fächer an den höheren Schulen).237 Unmittelbarer Anlass
für dieses Treffen war ein Brief von Karl Kraepelin, der ihm Thesen der Biologen
(Naturforscherversammlung 1901) gesandt hatte, die Platz für ihr aus dem höhe-
ren Schulunterricht verbanntes Gebiet (vgl. 4.3.3) einforderten.238
Daraufhin schlug Klein auf der Naturforscherversammlung 1903 in Kassel
vor, eine Unterrichtskommission zu bilden, die auf der folgenden Versammlung
1904 in Breslau zusammentrat. Die aus zwölf Personen bestehende „Breslauer
Unterrichtskommission“ erarbeitete Reformvorschläge, die nachfolgend in Meran
1905, in Stuttgart 1906 und Dresden 1907 präsentiert wurden.239 Klein agierte als
DMV-Vertreter und gewann August Gutzmer für den Vorsitz, Karl Kraepelin als
Vertreter für Biologie, Carl Duisberg240 für Chemie/chemische Industrie, zwei
Mediziner, einen VDI-Vertreter, Lehrer höherer Schulen.
Zudem gelang es mit der Breslauer Unterrichtskommission, die Interessen
von Frauenvereinen zu berücksichtigen (vgl. 8.3.4.2). Klein überzeugte ebenso die
Philologen und Schulmänner, indem er auf deren Jahrestagungen (Hamburg 1905,
Basel 1907) selbst vortrug. Mit nachweislich diplomatischem Geschick erreichte
er gemeinsame Vortragsreihen und abgestimmtes Vorgehen bei der Reform.241
Im September 1907 wurde auf der Naturforscherversammlung in Dresden ein
Deutscher Ausschuss für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unter-
richt (DAMNU) beschlossen, um die Reformvorschläge umzusetzen. 21 wissen-
schaftliche Gesellschaften traten bei. Klein und Stäckel fungierten als DMV-Ver-
treter. Klein leitete zudem den Unterausschuss für Lehrerbildung des DAMNU.242
Für das Umsetzen der Vorschläge ergab sich ein zusätzliches Aktionsfeld, als
Klein am 14. Dezember 1907 von der Universität Göttingen als Repräsentant für
die Erste Kammer des preußischen Landtags (Herrenhaus) gewählt wurde, in der
Nachfolge des verstorbenen Richard Wilhelm Dove (vgl. 2.7.1). Der Kaiser
Wilhelm II. verfügte am 17. Februar 1908 die Mitgliedschaft auf Lebenszeit,243
was letztlich mit dem Kaiserreich endete. Klein initiierte auch im Herrenhaus eine
Unterrichtskommission, die für jede Session neu gewählt wurde. Ab Session
1908-09 trat er wiederholt als Redner im Namen dieser Kommission auf.244
237 Notizen Kleins (12 Seiten) [UBG] Cod. Ms. F. Klein 31, Bl. 30-35v, Zitat Bl. 34v.
238 Kraepelin an Klein, 23.11.1901 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 31. – Das Wiedereinführen des
Biologieunterrichts in den oberen Klassen wurde schließlich mit dem preußischen Erlass v.
19.3.1908 verfügt. [StA Berlin] Rep. 76 Vb Sekt. 1, Tit. 5, Abt. V, Nr. 12, Vol. I, Bl. 33.
239 Sie sind publiziert in GUTZMER 1908, bereits diskutiert in TOBIES 1979a.
240 Duisberg begann als Chemiker bei den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. und war
dort seit 1900 Vorstandsmitglied, wie H. Th. Böttinger; vgl. auch KÜHLEM 2012. – Zu den
Namen der weiteren Kommissionsmitglieder vgl. TOBIES 2000, 31.
241 Vgl. hierzu detailliert TOBIES 2000, 35-37.
242 Vgl. GUTZMER 1908, 1914. – Die Arbeit des DAMNU endete mit Gutzmers Tod 1924.
243 Stenogr. Berichte über die Verhandlungen im Herrenhaus, Session 1907/08, 5. Sitzung, 46.
244 Vgl. KLEIN 1923a Autobiographie, 33.
428 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
teilgenommen hatte, als eine Art Sekretär für die IMUK-Arbeiten. Klein wählte
die Mitglieder des deutschen IMUK-Unterausschusses in Köln 1908 selbst aus.
Damit blieben Reform-Unwillige, wie der Vorsitzende des Fördervereins Fried-
rich Pietzker (gehörte zur Breslauer Kommission), ausgeschlossen. Als Delegierte
für die IMUK fungierten Klein, Paul Stäckel und Peter Treutlein; als Nationalen
Beirat konnte Klein die Zeitschriften-Herausgeber August Gutzmer (Jahresbe-
richt der DMV), Heinrich Schotten (ZmnU), Friedrich Poske (Zeitschrift für phy-
sikalischen und chemischen Unterricht) und Albrecht Thaer (Unterrichtsblätter
für Mathematik und Naturwissenschaften) etablieren.246
Klein gewann auch, wie Lietzmann überlieferte, die Delegierten anderer Län-
der für die IMUK weitgehend selbst: „Hier war nun immer wieder die fabelhafte
Fähigkeit Kleins zu bewundern, in all den Ländern den geeigneten Mann heraus-
zusuchen.“247 Zu ihnen gehörten N. J. Sonin für Russland, Emanuel Beke für Un-
garn, Gaston Darboux für Frankreich sowie zahlreiche weitere, mit denen Klein
verbunden war, wobei seine Mitgliedschaft in inzwischen 39 Akademien und wis-
senschaftlichen Gesellschaften die Kontakte erleichterte. Es sollten insgesamt 18
Länder in der IMUK vertreten sein.248
Klein leitete für den Schulunterricht ein Credo der Mitte ab, das sich in den Re-
formlehrplänen spiegelt. Seine Polemik allerdings, dass die Arithmetisierungs-
tendenz eine „verkehrte Pädagogik“ sei, „eine schiefe Gesamtauffassung der Wis-
senschaft“ und „zwei Kategorien mathematischer Vorlesungen notwendig von der
Anschauung ihren Ausgangspunkt nehmen sollten“, d.h. Elementarvorlesungen
für Anfänger sowie für Naturforscher und Ingenieure, fand auch Gegner.
246 Gutzmer, Schotten, Poske gehörten bereits zur Breslauer Kommission. – Stäckel, Treutlein
und Thaer gewann Klein auch als Autoren für die IMUK-Abhandlungen.
247 LIETZMANN 1960, 45.
248 Argentinien, Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Ita-
lien, Japan, Österreich, Niederlande, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, Spanien, Un-
garn, USA. Vgl. FEHR 1920; TOBIES 1979a, 26. – Kleins letzter Brief an Darboux, 23.3.1914,
bezog sich auf den letzten IMUK-Kongress vorm Krieg in Paris, abgedruckt in TOBIES 2016.
249 Vgl. hier und im Folgenden KLEIN 1922 GMA II, 239-40, Zitat 239.
430 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
250 KLEIN 31924, 31925, 31928. Zum internationalen Einfluss und zu Übersetzungen der ersten
beiden Bände von Kleins Elementarmathematik ins Spanische (1927, 1928), Englische (1932,
1939), Japanische (1959/60, 1961), Russische (1987), Portugiesische (2009-14); aller drei
Bände ins Chinesische (1989, Reprint 1996) vgl. G. Schubring in KAISER 2017, 330-33, und
KLEIN 2016. Die Aufnahme in Brasilien bereits vor dem Ersten Weltkrieg durch den
Schweizer Missionar José Sachs analysierten Circe Mary Silva da Silva und Diogo Franco
Rios (Vortrag auf dem 13th International Congress on Mathematical Education, Hamburg
2016). – Zum kritischen Vergleich von Elementarvorlesungen (insbes. Klein, H. Weber, M.
Simon) und historisch-didaktischer Einordnung vgl. ALLMENDINGER 2014; JAHNKE 2018 .
251 Pringsheim, A.: „Über den Zahl- und Grenzbegriff im Unterricht“. Jahresbericht DMV 6
(1899) 73-83, Zitat 82.
252 Klein, F.: „Über Aufgabe und Methode des mathematischen Unterrichts an den Universitä-
ten“. Jahresbericht DMV 7 (1899) 126-38, Zitat 137.
253 KLEIN 1922 GMA II, 239-40. – Zum vergleichbaren Urteil Hermites vgl. GOLDSTEIN 2011b.
254 Pringsheim, A.: „Zur Frage der Universitäts-Vorlesungen über Infinitesimalrechnung“. Jah-
resbericht DMV 7 (1899) 138-45, Zitat 142.
255 Klein, F.: „Über Aufgabe und Methode des mathematischen Unterrichts an den Universitä-
ten“. Jahresbericht DMV 7 (1899) 132-33.
8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht 431
Klein – Pringsheim sind übrigens längst nicht mehr die aeussersten Pole des Gegensatzes.
Links von mir steht z.B. Runge mit seinen praktischen Übungen und rechts von Pringsheim
der jugendliche Schwarm der Mengentheoretiker, die es nicht über sich bringen, nicht auch
die jüngsten Semester mit ihren weitestgehenden Abstraktionen zu regalieren.256
Die Polemik wurde noch in den 1930er Jahren benutzt, um Klein einseitig unter
dem Aspekt der Anschauung als besonderen „deutschen“ Mathematiker zu apo-
strophieren und Pringsheim als „jüdischen“ Mathematiker zu diffamieren.257
Otto Toeplitz (aus jüdischem Elternhaus) orientierte sich an Kleins Vorlesung
Differentialrechnung (1911) und entwickelte eine didaktisch gewendete indirekte
genetische Methode für einführende Vorlesungen. Dabei konstatierte Toeplitz
1927, dass sich an der bezeichneten Polarität der Standpunkte nichts geändert
habe: Auf der einen Seite die exakte Richtung, die das seit Weierstraß bestehende
exakte Maß von Strenge gleich von Beginn an statuiert und damit nur fünf Pro-
zent der Hörer mitnimmt. Auf der anderen Seite die anschauliche Richtung nach
Klein, die auf einen breiten Kreis Studierender zielen will.258
8.3.4.2 Reformvorschläge
Die Schulkonferenz 1900 betraf die Fächer und die Struktur der höheren Knaben-
schulen. Kultusminister Konrad von Studt und acht Regierungskommissare, dar-
unter Althoff, hatten 34 Experten berufen, auch Felix Klein und Henry Th. Böt-
tinger. Im Vorfeld waren Gutachten zu zehn Fragen eingeholt und abgedruckt
worden, u.a. Gutachten zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht
von Bernhard Schwalbe (Förderverein, Gymnasialdirektor); Adolf Slaby (Elektro-
technik, TH Berlin); Wilhelm Lexis (Nationalökonomie), Emil Lampe (Math., TH
Berlin); Guido Hauck (Math., TH Berlin),259 aber nicht von Felix Klein. Ein Brief
Anna Kleins vom 4. April 1900 erhellt den Zusammenhang:
Ich glaube nur, Du wirst in Berlin viel zu thun finden, denn Althoff scheint Deine Ideen jetzt
heranziehen zu wollen. Es mag damit zusammenhängen, daß vorige Woche Slaby bei Be-
rathung des Kultusetats die hiesigen Einrichtungen u. Deinen Namen als Urheber erwähnte u.
abfällig, ja als schädlich verurtheilte. Es war das alte Lied von Übergriffen in fremdes Gebiet
u. d.[en] Generalstabsoffizieren.[….] Reinke (Kiel) u.[nd] Schmoller (Berlin) haben Deine
Bestrebungen vertheidigt. Nun kam heute eine v.[on] Althoff an Reinke gerichtete Aufforde-
rung, ihm Deine darauf bezüglichen Reden […] zu schicken.260
256 [UBG] Ms. Philos. 182: Nr. 4 (F. Klein an Wilhelm Lorey, 7.4.1913). – regalieren = jeman-
den mit etwas erfreuen, versorgen.
257 Jaensch, Erich R.; Althoff, Fritz (1939): „Mathematisches Denken und Seelenform“. Zeit-
schrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde, Beiheft 81. Leipzig: J. Ambrosius
Barth. – Vgl. generell zu dem Thema BERGMANN/EPPLE 2009.
258 Toeplitz, O.: „Das Problem der Universitätsvorlesungen über Infinitesimalrechnung und ihrer
Abgrenzung gegenüber der Infinitesimalrechnung an den höheren Schulen“. Jahresbericht
DMV 36 (1927) 88-100. – Vgl. hierzu auch FRIED/JAHNKE 2015.
259 https://archive.org/details/verhandlungenbe00volkgo og; VERHANDLUNGEN 21902, 366-393.
260 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 259 (Anna an Felix Klein, 4.4.1900); vgl. TOBIES 1989a, 5-6.
432 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
Klein hatte sofort (datiert 11. April 1900) seine auf Kooperation zielenden Reden
und eine Entgegnung auf Slaby bei Teubner drucken lassen (KLEIN 1900). Da-
raufhin war er zusätzlich um Gutachten zu den Konferenz-Fragen und noch relativ
kurzfristig zur Teilnahme an der Schulkonferenz gebeten worden.261 Kleins Vor-
schläge sollten sich als innovativ und die Reform bestimmend erweisen.
Erstens. Klein plädierte für die Gleichberechtigung der Abschlüsse der drei
Arten höherer Knabenschulen und entsprach damit internationalen Tendenzen.
Minister Studts Eingangsreferat ließ die Analyse der Reform in anderen Ländern,
besonders in Frankreich erkennen, wo höhere Schulen „ohne tote Sprachen“ in-
zwischen anerkannt waren.262 Studt formulierte die Alternative, entweder eine
Einheitsschule mit verstärkten Anteil der Realien auf Kosten der alten Sprachen
oder gleichberechtigte Abschlüsse der bestehenden Anstalten. In der heftigen De-
batte unterstrich Klein, dass für die Mathematik bereits bisher gleichberechtigte
Zulassung bestehe und die unterschiedliche Vorbildung der Kandidaten durchaus
beachtet werden könne.263 Adolf Harnack264 formulierte den Antrag für gleichbe-
rechtigte Abschlüsse, der schließlich mit drei Gegenstimmen angenommen wurde.
Am 26. November 1900 folgte der Allerhöchste Erlaß des Kaisers, der die Reife-
zeugnisse von Realgymnasium und Oberrealschule mit dem des humanistischen
Gymnasiums hinsichtlich ihrer Studienberechtigungen in Preußen gleichstellte.265
Zweitens. Beim Thema „Hebung des Unterrichts in den verschiedenen Lehr-
gegenständen“ forderte Klein vor allem höhere mathematische Allgemeinbildung,
unterstützte aber auch Böttingers Wünsche: für das Chemie-Studium das Abitur
vorauszusetzen; Englisch-Unterricht (fakultativ) auch an den humanistischen
Gymnasien einzuführen, wegen der „großen Bedeutung für den Weltverkehr“.266
Hinsichtlich der mathematischen Allgemeinbildung lautete Kleins Vorschlag, ei-
nen „Theil der Mathematik an die Vorbereitungsschule“ zu verlegen, wie er im
Gutachten vom 22. Mai 1900 formuliert hatte. In seiner Rede erläuterte er:
Jeder Sachverständige wird bestätigen, daß man selbst die Grundlinien der wissenschaftlichen
Naturerklärung nur verstehen kann, wenn man wenigstens die Anfangsgründe der Differen-
tial- und Integralrechnung sowie der analytischen Geometrie – also den sogenannten niederen
Teil der höheren Mathematik – kennt. Es hat denn auch immer Lehrer, selbst an humanisti-
schen Gymnasien, gegeben, welche ihre Schüler in einem gewissen Maße in diese Anfangs-
gründe einführten. Die Frage müßte sein, ob man hierfür nicht im allgemeinen Lehrplan we-
nigstens der Realanstalten ausreichenden Raum vorbehalten könnte.267
261 Vgl. SCHUBRING 1989; 2000, mit dem Abdruck der Gutachten Kleins.
262 [StA Berlin] Rep. 76, Sekt. 1, Gen. Z, Nr. 165, Bl. 8, 40-43, 53.
263 Rede Kleins zur Berechtigungsfrage VERHANDLUNGEN 21902, 29-31; Klein publizierte seine
Reden mit eigenen Kommentaren noch einmal im Jahresbericht DMV 11 (1902) 128-41.
264 Adolf Harnack (Theologe), Zwillingsbruder von Kleins Doktorschüler Axel H.; Klein koope-
rierte ab 1905 im Philologenverband mit Adolf H. (1911-30: Präsident der KWG).
265 Einige Bundesstaaten besaßen noch Sonderregelungen für Theologie- und Jurastudium.
266 Böttinger war in England aufgewachsen. – Bisher konnte Chemie als einziges Fach an den
Universitäten und TH ohne Abitur studiert werden. VERHANDLUNGEN 21902, 188; 198.
267 Gutachten in SCHUBRING 2000, 73-74; VERHANDLUNGEN 21902, 154.
8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht 433
Slaby, Hauck, Lexis unterstützten Kleins Idee, und die Konferenzteilnehmer em-
pfahlen sie einstimmig der Regierung. Dennoch realisierten die neuen Lehrpläne
von 1901 dies nicht.268 Somit wurde Klein nicht müde, weiterhin für „eine prakti-
sche Differential- und Integralrechnung, welche sich auf die einfachsten Bezie-
hungen beschränkt und diese an der Hand der dem Schüler bereits geläufigen
Naturvorgänge fortgesetzt veranschaulicht,“ einzutreten.269 Dabei verwies er auf
die Lehrbücher NERNST/SCHÖNFLIES (1895), PERRY (1897; 1899) und wiederholt
auf Frankreich, wo 1902 an allen höheren Schulen Differential- und Integralrech-
nung verbindlich eingeführt und der Funktionsbegriff grundlegend geworden
war.270 Der Meraner Reform-Lehrplan von 1905 stellte den Funktionsbegriff ins
Zentrum, umfasste graphische Methoden, analytische Geometrie und eine Kom-
promissfassung „bis zur Schwelle der Infinitesimalrechnung“ zu unterrichten.
D.h., es sollte damit unentschieden bleiben, ob dies exklusive oder inklusive ver-
standen werden soll, wie Klein noch im April 1914 bei einem Göttinger Ferien-
kurs erläuterte. Für die IMUK-Zusammenkünfte hatte er für Brüssel 1910 und
Paris 1914 den Erfahrungsaustausch zu diesem Thema organisiert.271
Die Kompromiss-Formulierung beruhte auf dem hartnäckigen Widerstand
von Friedrich Pietzker, langjähriger Vorsitzender des Fördervereins, der auf ei-
nem überholten Stand von Allgemeinbildung beharrte. Er polemisierte als Abge-
ordneter der fortschrittlichen Volkspartei noch in einer Rede vom 4. Mai 1914
gegen Klein und gegen die Einführung von Infinitesimalanalysis in den Schulun-
terricht.272 Das Ministerium hatte deshalb empfohlen, die Sache von unten ent-
wickeln zu lassen, an Reformschulen zu erproben. Berichte zeugen davon, dass
Lehrpersonen zunehmend Kleins Ideen folgten.273 Die bayerischen Lehrpläne der
drei Arten höherer Schulen enthielten die Anfänge des Gebiets bereits 1914.
Preußen musste mit der obligatorischen Aufnahme bis 1925 warten.274
Drittens. Felix Klein erhob die Mathematik-Didaktik zu einer selbstständigen
Disziplin. Im Vergleich zu stoffdidaktischen Ansätzen bzw. eng am Fachwissen-
schaftlichen orientierten Büchern richtete Klein seine Vorlesungen über Elemen-
tarmathematik vom höheren Stadtpunkte aus stärker auf eine „methodologische
Ausbildung der Mathematiklehrer“.275 Er betonte besonders den methodischen
Aspekt der Fusion von Gebieten, von Arithmetik und Geometrie, von Planimetrie
und Stereometrie, womit er „eine einseitige Ausbildung in der Planimetrie unter
268 Lehrpläne und Lehraufgaben für die höheren Schulen in Preußen. Halle: Waisenhaus, 1901.
269 Jahresbericht DMV 11 (1902) 137.
270 Klein, F.: „Zur Besprechung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts auf der
nächsten Naturforscherversammlung in Breslau“. Jahresbericht DMV 13 (1904) 198; Ma-
rotte, F.: « Les récentes réformes de l’enseignement des mathématiques dans l’enseignement
secondaire francais ». Ebd., 450-56; KLEIN 1907b, 41-42.
271 Vgl. Bericht vom Ferienkurs, ZmnU 45 (1914) 493-96; TOBIES 1979b, 23-25.
272 Vgl. detailliert TOBIES 2000, 30-32.
273 Zu zeitgenössischen Berichten vgl. TOBIES 2010, 51-52; auch Lietzmann 1960, 47-53.
274 Vgl. KLEIN 1914, 424; Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens, hg. v.
Ministerialrat Richert. Berlin: Weidmann, 1925. – Vgl. hierzu auch Abschnitt 9.3.2.
275 Vgl. hierzu SCHUBRING 2016, 7.
434 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
283 [UBG] Cod. Ms. W. Lietzmann I: Bl. 202 (3.12.1912); 212 (2.2.1913). – Lietzmann war seit
1.4.1914 Direktor der Oberrealschule in Jena.
284 Notizen Kleins für W. Lorey [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 L Personalia, Bl. 19.
285 [UBG] Cod Ms F. Klein 2G: Bl. 18-19, 23, 65. – Lietzmann verlor nach 1945 aufgrund NS-
politischer Anpassung sein Amt als Schulleiter in Göttingen. Erst sein Nachfolger Friedrich
Seyfarth bewirkte, dass diese Schule am 30.4.1948 den Namen Felix Kleins erhielt.
286 Vgl. TOEPELL 1991, 89, 431; zu Drenckhahns Didaktik auch SCHUBRING 2016, 10, 13-14.
287 Schmidkunz, H.: Einleitung in die akademische Pädagogik. Halle: Waisenhaus, 1907; Klein
in Vorlesung 1910/11, 318-20 [Nachlass Hecke].
288 Brief v. 17.12.1905 an Gutzmer, der die Korrespondenz der Kommission führte und die
Original-Briefe an Klein sandte. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 35, Bl. 165, 165v.
436 8 Früchte der Bestrebungen, 1895 – 1913
289 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 322 (Anna an Felix Klein, 17.9.1907).
290 Vgl. die Analyse der Stenographischen Berichte des Herrenhauses in TOBIES 1989a.
291 Vgl. hierzu TOBIES 2010, 62.
292 Zitiert in TOBIES 1989a, 7.
293 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7D: Harnack an Klein, 6.1.1909, Antwortentwurf Kleins, 8.1.1909.
294 Iris Runge lehrte als Studentin an den Göttinger Arbeiterkursen vgl. TOBIES 2010, 83-84.
8.3 Programm: Geschichte, Philosophie, Psychologie, Unterricht 437
zur Verfügung zu stellen. Ich möchte doch an die Unterrichtsverwaltung die Bitte richten, in
dieser Hinsicht nicht zu vorsichtig zu sein, da die Summen, um die es sich hier handelt, ver-
schwindend klein sind gegenüber den 160 Millionen, welche das Volksschulwesen an sich
jetzt schon in Anspruch nimmt. Es kommt mir so vor, als wenn ein Maschinenfabrikant es
unterlassen wollte, die richtigen Werkzeugmaschinen anzuschaffen, die ihm billigeres und
besseres Fabrikat ermöglichen. Das würde kein Praktiker tun.295
Klein erklärte seinen Einsatz für die Volksschule auch vor einem Kreis von Leh-
rern höherer Schulen mit einer zunächst kaum vermuteten „[…] sozialen Ver-
pflichtung, dass wir Fachvertreter gegenüber den ungeheuren Gegensätzen, die
unser Volk zerspalten, nicht gleichgültig gegen die Bildungsfragen bleiben dür-
fen, die schließlich 94% unserer Bevölkerung betreffen.“299
Klein ließ die Debatten vom Parlament in seine (unpublizierte) Vorlesung von
1910/11 unmittelbar einfließen und urteilte, dass durch den Einfluss der erstar-
kenden Sozialdemokratie bisherige „Hemmungen“ bei anderen Parteien wegge-
fallen seien, etwas für Volks- und Fortbildungsschulen zu tun.300
Bernhard vom Brocke beschrieb die von den Ideen der Friedenssicherung und
Völkerverständigung getragene Wissenschaftspolitik des preußischen Kultusmi-
nisteriums als „fast vergessene Alternative staatlicher Weltfriedenspolitik am Vor-
abend des Ersten Weltkrieges“.301 In diese durch Friedrich Althoff geprägte Poli-
tik ordnete sich Kleins internationales Engagement ein. Das durch Bismarcks Au-
ßenpolitik kunstvoll errungene internationale Gleichgewichtssystem wurde bis
1907 derart destabilisiert, dass Frankreich (das geraubte Elsass-Lothringen nicht
vergessend) sich an Russland und England annäherte und Deutschland nur Öster-
reich-Ungarn und Italien als schwache Verbündete blieben. Hieraus resultierte u.a.
eine verstärkte Orientierung der deutschen Kulturpolitik nach Übersee. Der laut-
starke Nationalismus gerierte sich trotz international verflochtener, auf einer Glo-
balisierungswelle schwimmender Großunternehmen, trotz wissenschaftlich-tech-
nischer Innovationen und Gemeinschaften.302 Felix Klein reflektierte mahnend
den in der Nach-Bismarck-Ära aufkommenden Nationalismus:
Gerade in unserem Zeitalter, wo der nationale Chauvinismus seine grössten Orgien feiert,
muss es allen wahrhaft Gebildeten am Herzen liegen, einer Bewegung entgegenzuarbeiten,
die auch die Besten der Nationen immermehr einander zu entfremden bemüht ist. Es ist als
schwände mit dem einst mit Recht so sehr gefeierten Humanismus auch aller humane Geist
aus der modernen Gesellschaft. […] Der geistige Austausch der modernen Kulturvölker be-
zweckt also nicht, die nationalen Unterschiede aufzuheben, sondern sie in ihrem wahren Cha-
rakter und Werte schärfer zu erfassen und durch diese höhere Erkenntnis ein freundschaftli-
ches Verhältnis der Nationen zu einander anzubahnen.303
Dies hatte Klein am 11. März 1908 in einem Entwurf für ein Göttinger Institut für
Ausländer formuliert, den er an das Kultusministerium nach Berlin sandte. Althoff
half noch kurz vor seinem Tode, die Idee umzusetzen. Er bewog H. Th. Böttinger
zu einem finanziellen Zuschuss von 100.000 Mark. Klein hielt am 28. November
1908 die Eröffnungsrede des „Böttinger-Studienhauses“, das eine Akademische
Auskunftsstelle für ausländische Studierende, Sprachkurse, Vorträge, Ferienkurse
und Exkursionen bot. Als deutsche Chauvinisten die Institution kritisierten, ver-
wies dessen Direktor auf das Ziel freundschaftlicher Beziehungen und auf analoge
Ziele der Alliance Française, der in England organisierten Sprachkurse, des Ame-
rika-Instituts und auch des deutsch-amerikanischen Professorenaustausches.304
Letzteren hatte Klein mit seinen Reisen 1893 und 1896 geistig vorbereiten helfen,
war aber nun nicht mehr selbst zu einem längeren Auslandsaufenthalt bereit.305
1904 in St. Louis (vgl. 8.3.2) hatten Darboux, Picard, Poincaré, aber kein deut-
scher Mathematiker teilgenommen. Eine zwischenzeitlich dadurch bedingte Ver-
301 BROCKE 1991, 185-242, Zitat 185; vgl. auch BROCKE 1981.
302 Vgl. zur Außenpolitik OSTERHAMMEL 2009; zu Technik als Aspekt für die europäische Inte-
gration die von SCHOT/SCRANTON 2013-17 edierte Buchreihe.
303 [UBG] Cod. Ms. Math. Arch. 5021, Bl. 54-57v, Zitat Bl. 56 und 56v (Klein, 11.3.1908).
304 [UBG] Cod. Ms. 7F: 6-9, 35v. – TOBIES 1990a, 39; BROCKE 1991, 224-25.
305 Anstelle von Klein fuhr Carl Runge (1909/10) als (mathematischer) Austauschprofessor, vgl.
hierzu HENTSCHEL/TOBIES 2003, 173-79.
8.4 Internationale Wissenschaftskooperation 439
Bereits für das Sommersemester 1910 beantragte Klein, ihn von der Verpflichtung
zu entbinden, Vorlesungen zu halten,
[…] weil er sich seit längerer Zeit überanstrengt fühle und der Rest der Ferien für mich (ganz
abgesehen von den möglicherweise bald wieder beginnenden Herrenhaussitzungen) durch
eine Reihe von Konferenzen besetzt ist, denen ich mich nicht entziehen kann. Dazu kommt
aber, was vielleicht noch wichtiger ist, dass ich in den letzten Jahren trotz angestrengster Tä-
tigkeit mit meinen wissenschaftlichen Arbeiten immer mehr in Rückstand geraten bin und
teils nur äusserlich erledigt, teils unvollendet habe liegen lassen. Auf die Dauer gibt das einen
unerträglichen und eines Gelehrten unwürdigen Zustand. Wenn ich im Sommer von den
Vorlesungen entlastet sein werde, habe ich die Hoffnung, den Misstand in der Hauptsache zu
überwinden, während er sich sonst nur noch weiter verschärfen wird.313
Paul Koebe übernahm nach Vorschlag Kleins die bereits angekündigte 4-stündige
Vorlesung (Anwendung der DIR auf Geometrie). Das von Klein und Zermelo
angezeigte Seminar „Vorträge aus dem Grenzgebiet von Mathematik und Philo-
sophie“ (2 WoStd) entfiel ersatzlos, da Zermelo einem Ruf nach Zürich folgte.
Die Semesterpause im Sommer war erneut mit Tagungen angefüllt. Klein fuhr u.a.
zur Weltausstellung nach Brüssel, wo er am 9. und 10. August die IMUK-Tagung
leitete, ab 15. August am IV. Internationalen Kongress für das höhere Schulwesen
teilnahm und gemeinsam mit Treutlein die deutsche Modell-Ausstellung demon-
strierte. So bat Klein für das Wintersemester 1910/11 erneut um Erleichterungen:
Die Veranlassung liegt darin, dass die pädagogischen Arbeiten, deren Durchführung ich als
Mitglied des Deutschen Ausschusses und der Internationalen Mathematischen Unterrichts-
kommission oder auch des Herrenhauses in die Hand genommen habe, bei ihrer durch die
Verhältnisse geforderten Dringlichkeit notwendigerweise jetzt den grössten Teil meiner Ar-
beitskraft absorbieren.314
Seine Absicht, vierstündig über „Die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahr-
hundert“ zu lesen, reduzierte Klein auf „Die Entwicklung des mathematischen
Unterrichts“ (2 WoStd). Hierzu hatte er bereits vorgetragen, brachte aber jetzt
ganz aktuelle Reformdiskussionen über alle Schularten, mit Blick über Deutsch-
land hinaus, ein.315 Das Seminarthema passte er geeignet an: „Einführung in die
neuere pädagogisch-mathematische Literatur“.
Im folgenden Sommersemester 1911 kulminierte die Tätigkeit erneut: Lehre,
Zusammenkünfte der Göttinger Vereinigung, Reden im Herrenhaus, Tätigkeit für
die IMUK, Management der Buchprojekte IMUK-Abhandlungen, ENCYKLOPÄDIE,
Kultur der Gegenwart. Fast jeden Tag war er mit einem anderen Kollegen verab-
redet: mit dem Assistenten Erich Hecke, der seine Vorlesung zum mathemati-
schen Unterricht ausarbeitete, mit Paul Koebe zu den automorphen Funktionen,
mit Conrad Müller zur ENCYKLOPÄDIE, mit Schimmack betreffend Didaktik u.a.
313 [UAG] Kur. 5956, Bl. 156, Schreiben Kleins v. 4.4.1910 an den Kultusminister, der mit
Schreiben v. 16.4.1910 zustimmte, Bl. 157.
314 Ebd., Bl. 160.
315 Vorlesung 1904/05 vgl. KLEIN 1907b; Vorlesung 1910/11 [Nachlass Hecke].
8.5 Vorzeitige Emeritierung und Ehrungen 441
So teilte Klein Lietzmann am Freitag, dem 4. August 1911, mit: „Von Diens-
tag früh beginnend ist meine Adresse Hahnenklee, Dr. Claus.“ Auf dem Briefkopf
des Arztes stand: „Dr. Klaus, Nervenarzt, Sanatorium Hahnenklee für Nerven-
und Innere – Kranke, Erholungsbedürftige und Genesende“.316
Klein blieb zunächst einen Monat. Den Briefen, die er an seine Frau, an Tochter
Elisabeth, an zahlreiche Mathematiker und andere Kollegen schrieb, ist zu ent-
nehmen, dass er die Fäden für die laufenden Projekte weiterhin in der Hand be-
hielt, Kollegen zu Besprechungen nach Hahnenklee beorderte, auch Kollegen in
317 Es ist denkbar, dass Klein hierbei den Weg für den Ruf Fritz Süchtings (sein Schwiegersohn)
als Professor für Maschinenbau und Elektrotechnik (1912) ebnen half.
318 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 372. – Dies betraf einen möglichen Ruf für Felix Bernstein, mit
dem Klein im SS 1911 gerade ein Seminar zur Versicherungsmathematik abgehalten hatte.
319 LIETZMANN 1960, 259-60.
320 [AdW Göttingen] Scient 255 (Deutsches Museum): Bl. 26.
321 Oskar Miller leitete das Museum; W. Dyck und Carl Linde gehörten zum Vorstand. Sie hat-
ten Klein nachdrücklich gebeten, den Festvortrag (vgl. KLEIN 1908b) auf der Hauptversamm-
lung 1908 vor den „Spitzen der Behörden des ganzen Reiches, Repräsentanten von Wissen-
schaft, Technik und Industrie“ zu halten. Am 12.6.1909 hatte Klein zugestimmt, den (Ehren)
Vorsitz des Deutschen Museum zu übernehmen und wurde am 10.1.1912 lebenslänglich in
den Ausschuss gewählt. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 7 D; 114, Nr. 43.
322 [UBG] Ms. W. Lietzmann I: 137/2 (Klein an Lietzmann, 22.11.1911).
323 [UBG] Cod. Ms F. Klein 10: 378, Anna Klein an Felix Klein, Brief v. 4.12.1911.
8.5 Vorzeitige Emeritierung und Ehrungen 443
halten. Dies wurde genehmigt, womit ihm – wie erwähnt (vgl. 7.1) – noch immer
der zugehörige Assistent unterstand. Erst am 2. Mai 1922 wurde Klein gemäß
seines eigenen Antrags durch den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst
und Volksbildung von den „Direktionsgeschäften der Sammlung mathematischer
Instrumente und Modelle und des mathematischen Lesezimmers“ entbunden.329
Das Gemälde wurde Felix Klein am 25. Mai 1913 feierlich in Göttingen über-
reicht. Im Auftrage des engeren Komitees versandte Walther Dyck am 1. Juni
1913 die Grußadresse mit einer Reproduktion davon, den Namen der Unterzeich-
ner (Stifter), Eduard Rieckes Ansprache bei der Übergabe des Bildes an Klein und
dessen Erwiderung darauf in alle Welt. (Vgl. Anhang Nr. 12)
Die Kenntnis, dass die Reproduktion des Gemäldes nicht von allen gleichmä-
ßig freudig aufgenommen wurde, verdanken wir einem Brief von Anna Klein an
Walther Dyck. Sie entwarf darin zugleich ein eindrucksvolles Bild ihres Mannes:
trauter geworden, obwohl ich ja ganz froh bin dass mein Gatte nicht immer so imposant und
energisch dreinschaut. Es ist ein Herrscher in seinem Reich der da sitzt und man glaubt es
ihm gern da ein Leben voll Arbeit hinter ihm liegt, voll energischen Willens und consequen-
ten Handelns. Dabei hat das Bild so gar keine Pose, es ist vielmehr ausserordentlich einfach
gehalten, grau in grau, ohne jeden Farbeneffekt. Und doch tritt es bei längerem Zusehen fast
körperlich aus dem Rahmen heraus und ist, besonders in Kopfhaltung, in der Lage der Hände
und im Blick sprechend ähnlich. Kurz ich bin sehr zufrieden und es tut mir leid dass Sie, der
sich so viel Mühe um diese Sache gegeben hat nun so wenig Freude daran haben sollen. Es ist
aber sehr möglich dass auf der Reproduktion die Details störend hervortreten. Das Bild ist in
der modernen Art gemalt, stark aufgetragen und nicht für nahe Besichtigung bestimmt. Auch
ist es ja möglich dass die Übertragung ganz etwas anderes daraus gemacht hat. Es wäre frei-
lich ein Jammer wenn all die Stifter nun einen falschen und ungünstigen Eindruck von dem
Bilde bekämen und auch im Interesse Liebermann’s sehr zu bedauern.
Zu meiner grössten Freude kann ich Ihnen mitteilen dass es meinem Mann stetig besser
geht, besonders in der letzten Zeit ist er, nachdem eine hässliche Influenza glücklich über-
wunden wurde, recht frisch und vergnügt. Er sieht sehr gut aus, ist stärker geworden und hält
sich so stramm wie in seiner besten Zeit. Leider kann man von seiner Leistungsfähigkeit we-
niger gutes berichten. Er ermüdet immer noch rasch, kann wenig Menschen sehen und ver-
trägt es garnicht wenn etwas unvorhergesehenes an ihn herantritt oder mehrere Dinge
zugleich sein Interesse verlangen. Wenn man auch hoffen darf dass die Kräfte sich mehr und
mehr beleben werden, so ist doch nicht anzunehmen dass mein Mann im Sommer wird lesen
können. Und da er nicht noch einmal Urlaub nehmen will, bleibt keine andere Wahl als der
dauernde Dispens von der Pflicht Vorlesungen zu halten. Mein Mann hat sich ja schon seit
Beginn seiner Erkrankung mit diesem Gedanken vertraut gemacht. Trotzdem ist es ein schwe-
rer Entschluß gewesen und ich gewöhne mich nur sehr langsam an den Gedanken dass seine
Stelle anderweit besetzt werden muss. Ich habe mich freilich immer voll Bangen gefragt was
daraus werden sollte wenn sein Leben in demselben raschen Tempo weiter ginge wie es be-
gonnen hat. Und so muss man es schliesslich als gnädige Lösung dieser Frage ansehen wenn
nur der Lebensberuf und nicht das Leben selbst ein zu frühes Ende findet.
An Arbeit und interessanter Tätigkeit wird es meinem Mann ja trotzdem nicht fehlen,
wenn er nur erst wieder so weit ist dass er reisen und an Conferenzen teilnehmen kann. Heut
zu Tage geht es ja nicht ab ohne Versammlungen und versammeln kann er sich eben noch
nicht. Er hat es vorher ja auch viel zu viel getan.
Nun aber endlich Schluss, lieber Herr Professor. Hoffentlich sind Sie, Ihre Frau und die
Töchter, welche ich leider gar nicht kenne, recht wohl und vergnügt. Unsere Jüngste steht
jetzt gerade vor dem Staatsexamen, möchte es gut ablaufen! Der Hauptwert ihres Studiums
besteht für mich bis jetzt darin dass sie ihrem Papa mancherlei helfen kann und seine Interes-
sen so teilt wie ich es mir immer für sie gewünscht und gedacht habe.
Mit besten Grüssen von meinem Mann und mir für Sie und Ihre Frau
bleibe ich
Ihre freundschaftlich ergebene
Anna Klein333
Begründung: „Herr Professor Liebermann legt grossen Wert darauf, gerade mit
diesem Bilde, das er für eines seiner besten Werke hält, vertreten zu sein.“334
William Henry Young, der Ehemann von Kleins Doktorschülerin, rundete
Kleins äußeres Bild ab, als er über ihn für die Royal Society of London schrieb –
Klein war hier auswärtiges Mitglied seit 1885 und Ehrenmitglied seit 1902:
Klein was very tall, erect and slim, with rich brown wavy hair and characteristically sparkling
light blue eyes, with a genial glance which has not been completely caught in the photograph
here produced.335
Edmund Landau erklärte Klein in einem Brief vom 2. Januar 1913, er halte es für
zweckmäßig und erfreulich, „dass Sie vorläufig die Leitung der Sammlung und
des Lesezimmers mitbehalten“. Er wünschte Klein volle Gesundheit, „damit dann
wir fünf, Sie, Hilbert, Runge, X und ich gemeinsam mit vollen Kräften an der
Aufrechterhaltung der mathematischen Grösse Göttingens arbeiten können.“336
Landau informierte zudem, dass sich alle Mathematiker über den an erste Stelle zu
setzenden X einig seien: Constantin Carathéodory, den Klein schon bei dessen
Habilitation als „geschickten Geometer“ bezeichnet hatte.337 Nur über die weite-
ren Kandidaten gab es noch Differenzen. Die Akten der Dekanatssitzungen erhel-
len, dass Klein selbst zur Kommission gehörte (neben Hilbert, Landau, Mügge,
Prandtl, Runge, Voigt, Wallach, Wiechert, einem Vertreter der anderen Abteilung,
sowie dem aktuellen Dekan). Sie setzten in der Sitzung am 28. Februar 1913 ein-
stimmig Weyl und Brouwer ex aequo (gleichberechtigt) an zweite Stelle.
Außerdem wurde eine Erklärung zu den Akten gelegt, warum Paul Koebe
nicht vorgeschlagen wird.338 Dies beruhte auf dessen Charakter (vgl. 5.5.4.4). Rie-
cke überlieferte bereits 1910 Kleins Ansicht, dass Koebe in wissenschaftlicher
Beziehung hoch stehe, aber ansonsten ein krasser Egoist sei, der für sich immer
etwas besonderes und besseres haben wolle, als andere erhielten.339 Klein be-
schrieb Koebe später noch als „nach persönlicher Seite etwas schwierig, weil er
nicht immer taktvoll u.[nd] wiss.[enschaftlich] agnostisch ist“.340 Auch mag Klein
Koebes mangelnde Literaturkenntnis augenfällig geworden sein, als er den Ent-
wurf der Dissertation von Ludwig Bieberbach studierte (vgl. Anhang Nr. 9).
Carathédory kam wie gewünscht zum 1. April 1913. Klein erlebte allerdings
noch zwei Nachfolger auf diesem Lehrstuhl, wobei er den Berufungskommissio-
nen jeweils angehörte. Carathéodory fühlte sich dem Göttinger Zentrum nicht
derart verpflichtet wie Klein, Hilbert, Runge und Landau; er lehnte den Ruf an die
Universität Berlin nicht ab (Nachfolge Frobenius).
Am 13. Dezember 1917 lautete die neue Liste: 1) Erich Hecke (Basel), 2)
Brouwer (Amsterdam) und Weyl (Zürich) ex aequo, und 3) Wilhelm Blaschke
(Königsberg).341 Hecke hatte nach Promotion bei Hilbert (1910) als Assistent bei
Klein (1910-11) und anschließend noch bei Hilbert in dieser Position gedient.
Nach der Habilitation in Göttingen (1912) hatte Hecke mitten im Krieg eine Pro-
fessur in Basel annehmen können. Auch er blieb nur kurz in Göttingen und wech-
selte zum 1. Oktober 1919 an die neu gegründete Universität nach Hamburg.
Nun gab es am 30. Oktober 1919 eine (kaum bekannte) neue Vorschlagsliste:
1) Brouwer (Amsterdam), 2) Herglotz (Leipzig), 3) Weyl (Zürich).342 Allerdings
wurde keiner von diesen, sondern schließlich Richard Courant berufen. Dieser
hatte seit 1908 in Göttingen studiert, auch bei Klein zwei Vorlesungen gehört,
Hilbert als Privatassistent gedient und bei ihm mit der Dissertation „Über die An-
wendung des Dirichlet’schen Prinzipes auf die Probleme der konformen Abbil-
dung“ 1910 promoviert, sich 1912 bereits habilitiert und in das abgestimmte
Lehrangebot integriert, bevor er Kriegsdienst leisten musste. Die Dekanatsakten
dokumentieren die Information vom 20. Februar 1920, dass Courant eine o. Pro-
fessor in Münster erhielt, dass die Göttinger am 14. Juli 1920 neue Vorschläge für
die Hecke-Nachfolge an das Ministerium sandten, zusammen mit „Sondergut-
achten von Hilbert-Klein und Landau“, und Courant gemäß Ministerialerlass vom
9. September 1920 zum 1. Oktober 1920 in Göttingen ernannt wurde.343 Courant
überlieferte, dass dieses Arrangement Klein zu danken war.344
In der von Courant begründeten gelben Springer-Buchreihe sollten noch etli-
che Vorlesungen Kleins ediert werden (vgl. 9.2). Courant entfaltete eine intensive
erfolgreiche Tätigkeit, wenngleich er auch veranlasste, dass das durch seinen
Schwiegervater Carl Runge (und Klein) vorangebrachte Gebiet der angewandten
Mathematik mit numerischen, graphischen und instrumentellen Methoden 1927 in
Göttingen nicht mit einem eigenen Lehrstuhl fortgeführt wurde.345 – Nach dem
durch die NS-Diktatur bedingten erzwungenen Ausscheiden 1933 konnte Courant
in New York ein noch heute nach ihm benanntes Institut aufbauen.
In dem Augenblicke, wo wir glauben konnten, die Durchführung so gut wie gesichert zu ha-
ben, hat der ungeheure Krieg, in den sich Deutschland verwickelt sieht, alles in Frage gestellt.
Aber gerade, weil die Zukunft unbestimmter ist als je, will ich mit dem Grundgedanken nicht
zurückhalten. […] Die Voraussetzungen für alle Hoffnungen, die wir hegen, ist freilich, dass
wir kulturell durch die kommenden Ereignisse nicht völlig zurückgeworfen werden. […]1
Dies schrieb Felix Klein kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einem
„Bericht über den heutigen Zustand des mathematischen Unterrichts an der Uni-
versität Göttingen“ für den Jahresbericht der DMV. Bei „so gut wie gesichert“
dachte er zuvörderst an sein neues (1929 vollendetes) Mathematisches Institut. Er
blickte auf die in Gefahr geratenen IMUK-Arbeiten, betonte, dass die große Zahl
ausländischer Studierender immer ein besonderer Stolz in Göttingen gewesen sei
und: „[…] zu dem Fortschritte der allumfassenden Wissenschaft, die über die
Verschiedenheit der Völker gleichmäßig ihren hohen Bogen wölbt, in erkennbarer
Weise beizutragen, das war dabei das Ideal.“ Klein hoffte, dass die Mathematik
hinter den nach vorn drängenden „sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fra-
gen“ eine zentrale Stellung behalten möge. Aber wenig später kam er nicht umhin,
seine loyale Haltung zum Staat im Kriege bezeugen zu müssen (vgl. 9.1).
Nach seiner Auszeit im Sanatorium hatte Klein als Emeritus das Heft wieder
in die Hand genommen: die Buch-Projekte (ENCYKLOPÄDIE; Gauß-Edition; IMUK
-Abhandlungen), Lehrtätigkeit, Engagement für Universität, Göttinger Vereini-
gung, im Herrenhaus und im DAMNU. Er blieb die geschätzte Eminenz bei Beru-
fungs-, Bildungs-, Forschungsentscheidungs- und Finanzierungsfragen. Seit 1916
diskutierte er notwendige Maßnahmen für die Zeit nach dem Krieg.2 Kleins No-
tizen für ein Gespräch mit Carl Heinrich Becker, der seit 1916 parteiloser Referent
im preußischen Kultusministerium war und auch nach der Novemberrevolution
dort ein Kontinuitätsfaktor blieb, deuten die Weite des Spektrums an:
Die treibenden Mächte:
Die Demokratisierung (Volksschullehrer)
Militärische Anforderungen, Wirtschaftliches.
Die staatlichen Notwendigkeiten, „wie ich sie verstehe“.3
Klein listete bei den ihn vor allem bewegenden „staatlichen Notwendigkeiten“
auf: Die Einheit von reiner und zweckgebundener Forschung, das Etablieren
neuer Gebiete wie Mathematische Statistik, Photochemie, Radiologie, Geschichte
der Mathematik, Didaktik der exakten Disziplinen, Pädagogik-Lehrstühle; Ange-
449
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R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_9
450 9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
Klein widmete sich der Geschichte von Mathematik, der Relativitätstheorie, der
Edition seiner Arbeiten und gelangte noch zu neuen Ergebnissen. (9.2)
Er griff in neue bildungspolitische Strömungen ein. (9.3)
Klein bemerkte durch Krieg und Inflation bedingte finanzielle Schwierigkei-
ten von Projekten und fand Lösungen dank der Notgemeinschaft der deutschen
Wissenschaft. Er konnte nicht vermeiden, dass die Göttinger Vereinigung in der
Helmholtzgesellschaft zur Förderung physikalisch-technischer Forschung aufging,
überführte aber einen Teil der Gelder noch in eine universitätsnahe Stiftung. (9.4)
Sein 75. Geburtstag am 25. April 1924 brachte ihm noch zahlreiche Ehrun-
gen. Im Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzend, blieb Klein seinem Arbeitsethos
verpflichtet, bis er am 22. Juni 1925 für immer die Augen schloss. (9.5)
4 In Göttingen lehrten Geschichte der Mathematik: Edmund Hoppe, Gymn.-Prof. i.R. (1919-
28) und Otto Neugebauer ab SS 1928. Die erste persönliche o. Professur für Pädagogik gab es
1912 an der Universität Jena, dort 1920 planmäßiges Ordinariat, vgl. TOBIES 2018b, 504-05.
5 Ausdruck von Abraham A. FRAENKEL 1967, 152, der Klein 1919 persönlich erlebte.
6 [UAG] Kur. 10750 Bd. 1 (PA Landau), Bl. 59-60v. – Erich Wende war seit 1917 Beamter im
preußischen Kultusministerium. Nach vier Tagen wurde dem Antrag stattgegeben.
9.1 Bekenntnisse deutscher Professoren zum Militarismus 451
Felix Klein hatte sich im Jahre 1908 dezidiert gegen nationalen Chauvinismus
ausgesprochen (vgl. Abschnitt 8.4). Als junger Mann hatte er beim Deutsch-Fran-
zösischen Krieg zwar als Sohn eines preußischen Staatsbeamten versucht, seiner
Militärpflicht zu genügen, war aber nur für den Sanitätsdienst in Frage gekom-
men. Sein Verhältnis zu französischen Mathematikern war durch diesen Krieg
unbeeinflusst geblieben. Vielmehr hatte er sich, gemeinsam mit Clebsch, bestürzt
über nationalistische Auswüchse von Camille Jordan u.a. gezeigt (vgl. 2.7.1).
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfügte Klein über ein umfangreiches
internationales Netzwerk, konnte sich aber – wie zahlreiche ältere Gelehrte – nicht
der Kampagne zur Mobilisierung der Moral an der Heimatfront entziehen.7 Die im
August 1914 landesweit geschürte euphorische Kriegsbegeisterung hatte viele
junge Deutsche freiwillig in den Krieg getrieben. Klein berichtete am 3. August
1914 an Wilhlem Lorey, mit dem er den Abschlus der IMUK-Abhandlungen for-
cierte: „Nun habe ich einen ersten Sturm der Aufregung hinter mir, weil mein
Sohn gestern zum Abschiednehmen kam und gleichzeitig meine jüngste Tochter
in aller Eile getraut wurde.“8 Kleins Sohn überlebte den Krieg; der Schwiegersohn
Robert Staiger fiel nach wenigen Wochen (vgl. 3.6.3). Am 14. Oktober 1914 sa-
hen sich mehr als 3000 deutsche Hochschullehrer genötigt, ihre loyale Haltung
zum Staat zu bekennen, in dem sie eine „Erklärung der Hochschullehrer des Deut-
schen Reiches“ unterzeichneten, die der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-
Moellendorff formuliert hatte. Sie begann mit den Worten:
Wir Lehrer an Deutschlands Universitäten und Hochschulen dienen der Wissenschaft und
treiben ein Werk des Friedens. Aber es erfüllt uns mit Entrüstung, dass die Feinde Deutsch-
lands, England an der Spitze, angeblich einen Gegensatz machen zwischen Geist der deut-
schen Wissenschaft und dem, was sie preußischen Militarismus nennen. In dem deutschen
Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehö-
ren auch dazu.
Obgleich sie Internationalität gepflegt hatten, lieferten damit auch als liberal gel-
tende Professoren, unter ihnen Klein, Hilbert und Runge, ein Bekenntnis, mit ih-
ren Mitteln Kriegseinsatz zu leisten. Hilbert und Carathéodory oblag es, eine
Denkschrift über die mögliche Verwendung von Mathematik-Studierenden zu
verfassen: Berechnung ballistischer Tabellen; Photogrammetrie; Vermittlung von
Methoden zur Ortsbestimmung von Flugzeugen; Festigkeitsprobleme.10
Der Aufruf negierte damit von Deutschen begangene Gräuel-Taten. Die Académie
des Sciences in Paris annullierte daraufhin die Mitgliedschaft der Unterzeichner.14
Es ehrt Felix Klein und Max Planck, dass sie dafür sorgten, dass in Göttingen und
Berlin nicht Gleiches mit Gleichem vergolten wurde.15 Émile Picard, seit 1884
Korrespondent der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, erklärte 1916/17
seinen Austritt. Dagegen wurde der am 23. Februar 1917 verstorbene Gaston Dar-
boux (1883 Korrespondent, 1901 auswärtiges Mitglied) in Göttingen besonders
geehrt.16 In Großbritannien wurden Ausschlüsse ebenfalls vermieden. Nach dem
Krieg sollte der Aufruf an die Kulturwelt als ein Haupt-Argument dienen, um
deutsche Wissenschaftler aus internationalen Gemeinschaften auszugrenzen.
Es mag widersprüchlich scheinen, aber der parteilose Klein blieb politisch
staatstreu und wissenschaftlich international orientiert. Grace Chisholm Young
urteilte über ihren Doktorvater: The aim of his life was to knit together in unity of
Wenn wir Kleins Haltung verstehen wollen, müssen wir uns vor Augen führen,
dass er bis 1918 im Herrenhaus saß und noch immer die Göttinger Vereinigung
dirigierte. Um den Platz von Mathematik und Naturwissenschaften zu sichern,
suchte Klein gutes Einvernehmen sowohl mit den staatlichen Behörden (unabhän-
gig von der politischen Couleur), als auch mit den Industriellen der Göttinger
Vereinigung (die durchaus in ihrer Mehrzahl am Krieg verdienten).
So managte Klein im Verbund mit Staat und Industrie die Neubesetzung von
Lehrstühlen in Göttingen und regte neue Forschungsfelder an. So hatte er die
1916 publizierten IMUK-Abhandlungen (KLEIN 1909-16) mit Vor- bzw. Nach-
worten versehen, welche Mathematik und mathematischen Unterricht auch im
Kontext militärischer Erfordernisse artikulierten. An das Kultusministerium ge-
sandt, erhielt er daraufhin grünes Licht, um die internationalen IMUK-Arbeiten
(über die Schweiz mit Henri Fehr) fortsetzen zu dürfen und gedachte, dem (für
Stockholm geplanten19) VI. Internationalen Mathematiker-Kongress einen Ab-
schlussbericht vorzulegen. So erwähnte Klein in einer Rede vor den Mitgliedern
der Göttinger Vereinigung Kriegstätigkeit der Institute, warnte aber: „Die Gefahr
der Isolierung der theoretischen Spekulation muß ebenso vermieden werden, wie
die Verflachung der auf Anwendungen abzielenden Tätigkeit.“20 Er hatte sich
selber gerade der Relativitätstheorie zugewandt und schaute durchaus über den
Tellerrand. So schlug er z.B. am 4. November 1918 konkret für Göttingen vor –
mit Blick auf Marie Curies Einsatz mit Röntgenwagen –, dass „die Frontseite des
jetzt Kruppschen Grundstückes später ein radiologisches Institut tragen soll, als
Verbindungsstück unserer Einrichtungen für Chemie und Physik“.21
Bereits kurz nach der Novemberrevolution, am 15. Dezember 1918, wandte
sich Klein an den neuen SPD-Minister Konrad Haenisch, um ihm seine Pläne zu
unterbreiten (vgl. Abschnitt 9.3.2). D.h., Klein wollte einerseits mit öffentlichen
politischen Äußerungen im eigenen Land bei den Entscheidungsträgern nicht
anecken. Er wusste andererseits, dass hervorragende wissenschaftliche Arbeit nur
international funktioniert.
Als der Boykott gegenüber deutschen Wissenschaftlern im Ausland konkrete
Formen angenommen hatte, formulierte Klein das Motto Schweigen und Arbeiten
im Brief vom 15. Juli 1919 an Grace Chisholm Young:
Allgemein verbietet mir der Sinn für Objektivität mich über Dinge zu aeussern, die ich, wenn
überhaupt, nur aus den subjektiven und einander widersprechenden Aeusserungen irgend
welcher Zeitungen kenne. Also bleibt für mich, was ich die ganze Kriegszeit über getan habe:
Schweigen und Arbeiten. Für die wenigen Jahre, die ich noch vor mir habe, werde ich damit
auskommen.
Die Welt aber wird ihren Lauf nehmen und die Völker werden sich eines Tages wieder zu-
sammen finden. Vorläufig ist eingetreten, was einst beim Turmbau von Babel der Fall war,
sie verstehen einander nicht mehr.22
Eine derartige Erklärung kam nicht zustande.24 Klein musste sich damit abfinden,
aus Dingen ausgeschlossen zu sein, die er einst selbst auf den Weg gebracht hatte,
Mathematiker-Kongresse und die Assoziation Internationaler Akademien. Émile
Picard, der 1912 zu den Stiftern des Liebermann-Gemäldes für Klein gehört hatte
(vgl. Anhang Nr. 12), verantwortete als Präsident des 1919 gegründeten Conseil
International des Recherches die Ausgrenzung der Deutschen und Verbündeter.25
Als 1920 ein Mathematiker-Kongress nicht in Stockholm, sondern in Stras-
bourg stattfand, trug Henri Fehr den IMUK-Bericht (FEHR 1920) vor. Auf dem
Internationalen Mathematiker-Kongress in Bologna 1928 wurden die IMUK-Ar-
beiten unter dem Präsidenten David Eugene Smith neu belebt. In Bologna nahmen
auch Deutsche erstmals wieder teil26, während sie 1924 in Toronto noch ausge-
schlossen blieben. Klein hatte lebhaft das internationale Geschehen verfolgt und
die Brief-Kontakte nach Übersee (vgl. Anhang Nr. 13), Russland u.a. erneuert.
Für das von Klein geförderte Grenzgebiet Mathematik, Physik und Technik
konnten nationalistische Hemmnisse etwas früher beiseite geschoben werden.
Initiiert durch Theodor Kármán tagte 1924 in Delft der erste International Con-
gress for Applied Mechanics mit guter internationaler Beteiligung, einschließlich
Richard von Mises und Hans Reißner, die 1922 die Gesellschaft für angewandte
Mathematik und Mechanik (GAMM) mit Ludwig Prandtl begründet hatten.27
Klein urteilte im erwähnten Bericht vom August 1914 im Jahresbericht der DMV:
Vor zwei Jahrzehnten noch stand die Theorie der algebraischen Funktionen und derjenigen
Transzendenten, die sich aus ihnen unmittelbar ableiten lassen, im Mittelpunkte des allgemei-
nen Interesses. Algebraische Kurven und Flächen, elliptische Funktionen und Thetafunktio-
nen, lineare Differentialgleichungen im komplexen Gebiet – vielleicht auch algebraische
Zahlen – bildeten die Rüstkammer, innerhalb deren der Mathematiker seine Probleme suchte.
Heute stehen ganz andere Gebiete im Vordergrund. Da ist zunächst die Entwicklung der Ma-
thematik nach abstrakter Seite, wie sie in der modernen Axiomatik, der Mengenlehre, der
neuen Funktionentheorie reeller und komplexer Variablen und der verfeinerten Analysis situs
hervortreten. Dann weiter, in scheinbarem Widerspruch dazu, in Wirklichkeit aber damit ver-
knüpft, die Wiederaufnahme lange vergessener praktischer Fragestellungen: Variationsrech-
nung und Wahrscheinlichkeitsrechnung finden wieder eifrige Pflege; die Integralgleichungen
geben das Mittel, wichtige alte Aufgaben der mathematischen Physik endlich glatt zu erledi-
gen. Und dazu der Notschrei der modernen Physik, die in ihrer stürmischen, ja revolutionären
Entwicklung nach der Hilfe der Mathematiker ruft und einen großen Teil unserer Arbeits-
energie zu verschlingen droht!28
Er überschaute damit auch die modernen Tendenzen, trug aber, seinem Programm
folgend, zunächst über die Entwicklungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor
(vgl. Tab. 10). Dies blieb unvollendet, als ihn die Relativitätstheorie zu fesseln
begann. Auch hierzu schloss er die Vorträge nicht ab. Er wandte sich der Edition
seiner Gesammelten Mathematischen Abhandlungen zu, nachdem Freunde und
Kollegen anlässlich seines Goldenem Doktorjubiläum am 12. Dezember 1918
Geld gestiftet hatten, damit er das Projekt in Angriff nehmen konnte.
Das Geld – von Robert Fricke auf einem Separatkonto beim Bankverein in
Göttingen verwaltet – reichte zwar infolge der Inflation nach dem Kriege nicht
aus, aber durch die Göttinger Vereinigung und die Notgemeinschaft der Deut-
schen Wissenschaft (vgl. 9.4) sollten weitere Gelder auf dieses Konto fließen.
Klein konnte damit die beteiligten Hilfskräfte (Vermeil, Bessel-Hagen) bezahlen.
Als sich die Arbeit an den Gesammelten Abhandlungen dem Ende zuneigte,
notierte Klein am 9. Juni 1922: „Was unternehmen, wenn Bd. 3 abgeschlossen
ist? Werde ich dann noch Hülfskräfte zur Verfügung haben, ohne die es doch
nicht geht?“29 Courant fand eine neue Aufgabe für Klein: die Herausgabe von
dessen älteren autographierten Vorlesungen in der gelben Springer-Reihe in
Buchform. Auch Hilfskräfte konnten gewonnen werden. Passend zu dem Vorha-
ben ließ Klein im Vorlesungsverzeichnis der Universität eine 4-stündige Vorle-
sung anzeigen: für Winter 1924/25 „Elementare projektive Geometrie mit nicht
euklidischer Geometrie“ und für Sommer 1925 „Liniengeometrie“ (Mo, Die, Do,
Frei 8-9 Uhr)30. Sein Todestag, der 22. Juni 1925, sollte ein Arbeits-Montag sein.
35 A. M. Ostrowski aus Kiew edierte (mit R. Fricke) KLEIN 1921 GMA I (erschienen Febr.
1921). Er promovierte mit selbst gewähltem Thema „Über Dirichletsche Reihen und algebrai-
sche Differentialgleichungen“ (Rig. 24.3.1920); Referenten: F. Klein; E. Landau (vgl. TOBIES
2006, 250). – Ostrowski wurde bei der Edition durch Kleins Erlanger Programm angeregt,
neue allgemeine Fragestellungen in der algebraischen Invariantentheorie anzugreifen. Vgl.
Jahresbericht DMV 33 (1925) 174-84, bes. 175; KLEIN 1921 GMA I, 465-66.
36 H. Vermeil hatte 1913 bei O. Hölder in Leipzig promoviert, wurde im Krieg schwerbeschä-
digt; er leistete die maßgebliche Arbeit bei den Bänden II und III von Kleins GMA. Erich
Bessel-Hagen hatte 1920 in Berlin promoviert, vgl. TOBIES 2006, 55.
37 Antonie Stern promovierte 1925 bei Richard Courant, emigrierte 1938/39 nach Palästina.
458 9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
Die „Seminarvorträge zur Geschichte der Mathematik des 19. Jahrhunderts“, wie
die von seiner verwitweten Tochter Elisabeth Staiger (WS 1914/15; SS 1915) so-
wie von Käthe Heinemann und der Schweizer Mathematikerin Helene Stähelin38
(WS 1915/16) ausgearbeiteten Schreibmaschinen-Texte überschrieben waren (vgl.
Tab. 10), bildeten die Basis für KLEIN 1926 (Vorlesungen Teil I). Bei der Edition
wurde die Arbeit der Frauen allerdings an keiner Stelle erwähnt.39 Das aus dem
Nachlass publizierte Werk wurde euphorisch aufgenommen,40 obgleich Klein es
nicht als abgeschlossen betrachtete. Ursprünglich geplante Kapitel fehlen. Im
Nachlass befinden sich weitere Konzepte, bis hin zum Mathematiker-Kongress
1900 in Paris, zu den Hilbertschen Problemen (vgl. dazu 10.1) und zur Mengen-
lehre.41
Bezüglich der Mengenlehre sei hier noch einmal hervorgehoben, dass Georg
Cantors erste Arbeiten in den Mathematischen Annalen erschienen (vgl. 2.4.2),
dass Klein sowohl Schönflies’ erste deutschsprachige zusammenfassende Dar-
stellungen zur Mengenlehre (vgl. 6.3.7.2) als auch die erste englischsprachige
Darstellung vom Ehepaar Grace Chisholm Young und William H. Young The
theory of sets of points (1906) angeregt hatte. Klein akzeptierte Mengenlehre als
wichtiges Grundlagenfach für die Mathematik. Er hielt es jedoch nicht für sinn-
voll, den mathematischen Schulunterricht darauf zu gründen. In seine Elementar-
mathematik I (1924) nahm er einen längeren Abschnitt zur Mengenlehre auf; in
Elementarmathematik III (11902, 31928) zeigte Klein bewusst, „dass man, auf
begriffliche Definition unserer Punktmenge sich stützend, über sie tatsächlich et-
was aussagen kann.“42 Sein „Hilfsarbeiter“ Friedrich Seyfarth ergänzte in der drit-
ten Auflage von III noch Fußnoten zu den damals neuesten Ergebnissen der men-
gentheoretischen Topologie und Dimensionstheorie.43
Den Text KLEIN 1926 (Vorlesungen I) bereiteten Richard Courant und Otto
Neugebauer für den Druck in der gelben Springer-Reihe vor. Sie konnten sich auf
die Mithilfe von Constantin Caratheódory, Dirk Struik, Conrad Heinrich Müller
und Erich Bessel-Hagen stützen.
Aus den von 1916 bis 1918 gehaltenen Vorlesungen entstand KLEIN 1927 (Vorle-
sungen II). Die Herausgeber Richard Courant und Stephan Cohn-Vossen, der die
Hauptarbeit leistete, versahen den Band mit dem Untertitel „Die Grundbegriffe
der Invariantentheorie und ihr Eindringen in die mathematische Physik“. Zugleich
unterstützten wiederum Dirk Struik, Otto Neugebauer u.a.
Für 1918 lesen wir in Tabelle 10: 3 Publikationen zu Einstein und Hilbert.
Einstein war im Juni/Juli 1915 einer Vortragseinladung nach Göttingen gefolgt.44
Daraufhin publizierten Hilbert und Einstein im November 1915 nahezu gleichzei-
tig Feldgleichungen für die Gravitation. Es existiert dazu und zu einem vermute-
ten Prioritätsstreit eine Flut von Literatur.45 Klein schaltete sich erst in das Thema
ein, nachdem er selbst tiefer eingedrungen war. In seinem Nachlass befinden sich
handschriftliche Aufzeichnungen mit folgenden Titeln „Notizen aus Hilberts Vor-
lesung über die Grundlagen der Physik“ (v. 26.8.1916), „Die neuen Arbeiten von
Einstein 1911 bis 1915“ (24.9.1916), „Weiterbildung der Theorie bei Hilbert
1915“, „Notizen zu Mie: Grundlagen einer Theorie der Materie“. Über Einstein
notierte Klein:
Leistung von Einstein. – Nicht das Heranbringen bel.[iebiger] krummliniger Koordinaten –
sondern neuer physikalischer Gedanke. Allgemeiner Zug zur Vereinheitlichung in der
Theor.[etischen] Physik. Innere Verbindung von Gravitation und Trägheit. Die Gμν fern, in
grossem räumlichen Abstande, von der Materie wie früher. Nicht mehr Rn=0 sondern allge-
meiner. Welt = Gravitationsfeld, wobei nach Feld ausserhalb der Materie – innerhalb der
Materie unterschieden werden muß. Materie wird als welterfüllend gedacht: Phänomenologi-
scher Standpunkt.46
44 Einstein hielt am Dienstag, 29.6.1915, einen Vortrag „Über Gravitation“ in der Göttinger
Mathematischen Gesellschaft, Jahresbericht DMV 24 (1915) 68; und weitere sechs Vorträge,
finanziert aus den Zinsen der Wolfskehl-Stiftung, vgl. EINSTEIN 1997, Vol. 6, 586-91.
45 Eine prägnante Analyse lieferte bereits SAUER 1999.
46 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22B.
47 Ausführliche Referate zu den Vorträgen in Jahresbericht DMV 27 (1918) 28, 42-47.
48 Briefe in EINSTEIN 1998; TOBIES 1994b; 2005; RÖHLE 2002; ROWE 1999; 2018a, Part IV.
460 9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
Zweitens. Klein war durch Emmy Noether unterstützt worden: „Sie wissen, dass
mich Frl. Nöther bei meinen Arbeiten fortgesetzt berät und dass ich nur durch sie
in die vorliegende Materie eingedrungen bin.“ Dies hatte Klein in der oben ge-
nannten, an Hilbert gerichteten Arbeit geschrieben.50 Ebenso hatte Klein in seiner
Arbeit „Über die Differentialgesetze für Erhaltung von Impuls und Energie in der
Einsteinschen Gravitationstheorie“ (19. Juli 1918) Frl. Nöther „für fördernde
Teilnahme bedankt“ und auf deren Arbeit „Invariante Variationsprobleme“ hin-
gewiesen, die er selbst am 26. Juli 1918 bei der Göttinger Gesellschaft der Wis-
senschaften präsentierte.51 Diese Arbeit hatte Emmy Noether bis September 1918
noch etwas überarbeitet und „F. Klein zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum“ ge-
widmet. Sie äußerte darin, dass ihre und Kleins Arbeit „gegenseitig durch einan-
der beeinflusst“ seien. In dieser Arbeit begründete sie auch die beiden nach ihr
benannten Noether-Theoreme, die noch heute die moderne Physik prägen, weil sie
drei große Prinzipien – Symmetrien, Erhaltungssätze und Extremalprinzipien –
miteinander verbinden.52
Als Klein seine Arbeit vom 19. Juli 1918 für Band I (1921) seiner Abhandlun-
gen vorbereitete, half Emmy Noether bei der Edition. In einer ergänzenden An-
merkung stellte Klein nun klar, dass sein in § 2 aufgestellter „Hauptsatz“ nur „ein
besonderer Fall des […] von Frl. Nöther […] bewiesenen weitreichenden Theo-
rems“ ist, und dass Emmy Noether in ihrer Arbeit außerdem einen Satz von Hil-
bert verallgemeinert und bewiesen habe. Klein zitierte hier wörtlich die beiden
Noether-Theoreme.53 Diese Sätze waren weder in das ENCYKLOPÄDIE-Referat von
Wolfgang Pauli, noch in das von Friedrich Kottler eingeflossen,54 sodass vermutet
werden kann, dass Klein die volle (physikalische) Tragweite dieser mathematisch
abstrakt formulierten Noether-Theoreme erst jetzt bei der Edition seiner Arbeit
erfasste.55 Von diesen Theoremen nun derart begeistert, schrieb Klein noch am 13.
April 1925 an Max Planck:
Ganz klar ist das Sachverhältnis bei Fräulein Noether in den Göttinger Nachrichten von 1918
auseinandergesetzt [...] da steht unter Angabe klarer mathematischer Gründe, warum in der
speziellen Relativitätstheorie eigentliche Energiesätze gelten, in der allgemeinen Relativi-
tätstheorie aber nicht.56
Einstein hatte dazu bereits am 27. Dezember 1918 in einem Brief an Klein erklärt:
„Beim Empfang der neuen Arbeit von Frl. Noether empfand ich es wieder als
grosse Ungerechtigkeit, dass man ihr die venia legendi vorenthält. Ich wäre sehr
dafür, dass wir beim Ministerium einen energischen Schritt unternähmen.“57 So
wandte sich Klein am 5. Januar 1919 an Ministerialdirektor Otto Naumann, der
schon zu Althoffs Zeit Oberregierungsrat im Kultusministerium gewesen war:
Ew. Exzellenz
erinnern sich ja sicher des s.Z. bei der hiesigen Fakultät eingereichten Gesuches der Frl.
Noether, sich für Mathematik habilitieren zu dürfen. Von den Vertretern der Math.[ematik]
lebhaft befürwortet, wurde dieses Gesuch s.Z. aus allgemeinen Gründen abgewiesen, aber ein
Modus vivendi gestattet, durch den Frl. Noether immerhin eine gewisse Wirksamkeit ermög-
licht ist. Ich verstand damals die so umschriebene Entscheidung des Ministeriums natürlich
sehr wohl, aber möchte fragen, ob diese auch fernerhin auf alle Fälle aufrecht erhalten werden
soll. Wenn nicht, so möchte ich die hiesige Fakultät veranlassen, sich erneut mit der Angele-
genheit zu beschäftigen.
Bei den heutigen Zeitumständen kann es in der Tat nicht fehlen, dass die jetzige Stellung
von Frl. Noether von vielen Seiten als eine unbillige Einengung empfunden wird, zumal die
wiss.[enschaftliche] Leistung von Frl. Noether alle von uns gehegte Voraussicht weit über-
steigt. Sie hat im letzten Jahre eine Reihe theoretischer Untersuchungen abgeschlossen, die
oberhalb aller im Zeitraum von Anderen hierorts realisierten Leistungen liegen (die Arbeiten
der Ordinarien mit eingeschlossen), sie hat auch auf die Zusammenarbeiten der gleichstre-
benden Mathematiker durch Besprechungen und Vorträge in der math.[ematischen] Ges.[ell-
schaft] den günstigsten Einfluß geübt. Die Voraussetzungen für eine Ausnahmebehandlung
des Falles sind also in vollstem Maasse gegeben. Aber vielleicht ist es nach der inzwischen
eingetretenen Zulassung von Frauen zu den verschiedensten Staatsämtern überhaupt jetzt
nicht mehr nötig, auf Ausnahmeleistung zu argumentieren.
Eine ganz kurze Antwort ist Alles, was ich hier erbitte.
Ew. Exzellenz
ganz erbenster
Kln58
Klein war mit seinem Vorstoß erfolgreich. Emmy Noether konnte sich im Mai
1919 (endlich im dritten Anlauf) habilitieren und erreichte 1922 eine nichtbeam-
tete außerordentliche Professur. Das konservative Establishment ermöglichte da-
mals keiner Frau in Preußen eine ordentliche Professur (vgl. auch Abschnitt 7.6).
Drittens. Klein konnte aufgrund seiner Kenntnisse der projektiven und nicht-
euklidischen Geometrie, der Invarianten- und Gruppentheorie die Einsteinsche
Theorie in sein Erlanger Programm einbetten und trug substantiell bei. Hier un-
terschied er sich von Mathematikern, die die verwendete Mathematik durch in-
adäquate Methoden zu ersetzen suchten (Eduard Study)59, von theoretischen
Physikern, die die Relativitätstheorie völlig ablehnten (Max Abraham), von Expe-
rimentalphysikern mit Nobelpreis (Philipp Lenard; Johannes Stark), die sie nicht
verstanden und sich drastisch antisemitisch gebärdeten. – Um die Beziehungen
zwischen seinen Arbeiten zur Relativitätstheorie und seinem Erlanger Programm
„klar hervortreten zu lassen“, fügte Klein bei der Edition in GMA I elf Punkte an,
die hier nicht detailliert besprochen werden können; er endete mit dem Hinweis:
Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß ebenso auch die Weiterbildung der Einstein-
schen Theorie, wie sie Weyl gegeben hat, mit dem Schema des Erlanger Programms in Zu-
sammenhang gebracht werden kann.60
Bei den Diskussionen um das kosmologische Weltmodell konnte Klein das vom
niederländischen Astronomen Willem de Sitter beschriebene Modell eines sich
ausdehnenden Universums (de-Sitter-Raum) mathematisch bekräftigen.61 Klein
musste davon Weyl und Einstein – der sich in eine Kontroverse mit de Sitter be-
geben hatte – erst überzeugen.62 Das Modell von de Sitter erlebte auch noch viel
später eine Renaissance in der sog. inflationären Kosmologie.63
Klein sah bei dem 30 Jahre jüngeren Einstein eine Arbeitsweise, die seiner
ähnlich war – immer alles Neue aufzunehmen und produktiv zu verarbeiten:
Hoffentlich gelingt es mir […], eine geschlossene Darstellung gerade auch Ihrer Theorien
(von meinem mathematisch-formalen Standpunkte aus) zu geben. Dabei fühle ich mich von
vornherein, was die Tragweite der einzelnen Ansätze angeht, mit Ihnen in Übereinstimmung:
Im Gegensatz zu der Mehrzahl Ihrer Anhänger, welche die jeweils letzte Form Ihrer Theorien
als endgültig und verpflichtend ansehen, haben Sie sich die Freiheit gewahrt, nach immer fei-
neren Formulierungen der allgemeinen Grundlagen und zugleich, je nach den in Betracht
kommenden Einzelproblemen, nach besonderen Ansätzen zu suchen, welche die jeweiligen
Umstände genügend approximieren. Indem ich Ihnen hierin nach meiner ganzen Denkweise
herzlich beipflichte, begrüsse ich insbesondere auch Ihre neuen Spekulationen […]64
Ich freue mich mit Ihrer neuen Arbeit wie ein Kind, das von seiner Mutter ein Stück Schoko-
lade bekommt. Bei Ihnen wird gerade auf die Beine gestellt, was bei mir krumm und lahm
durcheinander purzelt. Nun sende ich Ihnen die Korrektur einer neuen Arbeit, die wieder
mehr auf physikalischer als mathematischer Stütze ruht.[…] Eine kurze Meinungsäußerung
wäre mir sehr interessant.66
Viertens. Die Mathematiker, Klein an der Spitze, erwiesen sich als Verbündete
Einsteins, als sich dieser starken Anfeindungen von physikalischen und philoso-
phischen Seiten her zu erwehren hatte.67 Klein gewann Einstein 1918 als DMV-
Mitglied und engagierte ihn für die Math. Ann. ab Band 81 (1920) als vierten He-
rausgeber (neben Klein, Hilbert, Blumenthal) (vgl. 2.4.3). Klein erklärte:
Die heutige physikalische Produktion, wie sie sich zum Beispiel in der Physikalischen Zeit-
schrift darstellt, leidet an einer Unrast, welche mit der für math. Arbeiten notwendigen Ver-
tiefung schwer verträglich ist. Ich würde Ihnen besonders dankbar sein, wenn Sie sich dem-
gegenüber für das Zustandekommen für die Annalen geeigneter Arbeiten einsetzen.68
Es sei erwähnt, dass ab Band 81 (1920) weitere theoretische Physiker in den Kreis
der „Mitwirkenden“ bei den Annalen traten. Dazu gehörte Max Born, der wusste,
dass Klein neuen Theorien gegenüber aufgeschlossen war. Born schrieb ihm,
[…] daß die überlieferte mathematische Physik mit ihrem Kontinuum als Grundvorstellung
für Raum, Zeit und Körperwelt gründlich auf dem Holzwege ist. Die Methode der partiellen
Differentialgleichungen entspricht nicht dem Wesen der zu beschreibenden Prozesse, je mehr
Physik und Chemie sich nähern und verschmelzen, je tiefer das Atom als Baustein aller Kör-
per verstanden wird, um so deutlicher tritt hervor, daß wir adäquate mathematische Prozesse
und Methoden nicht besitzen, oder wenigstens, wenn sie irgendwo im großen Reiche der
Mathematik ein verstecktes Dasein fristen sollten, dass wir sie nicht in ihrer Tragweite erken-
nen.“69
66 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 B, Einstein an Klein, 14.4.1919; EINSTEIN 1998, Vol. 8.
67 Vgl. hierzu HENTSCHEL 1990.
68 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 B, Klein an Einstein, 28.4.1920 (in EINSTEIN 1998). – Einstein
blieb bis Band 100 (1928). Hilbert, weniger diplomatisch als Klein, war ab 101 (1929) alleini-
ger Herausgeber, nebst Otto Blumenthal und Erich Hecke als Mitwirkende. – Blumenthal
fungierte von 1925-33 zugleich als einer der Herausgeber des Jahresberichts der DMV.
69 [UBG] ebd. 5 C: Bl. 69v (Born an Klein, 15.7.1920). Born blieb bis Bd. 92 (1924) im Board.
70 Fricke an Klein, 28.9.1920 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9. – Vgl. den prägnanten Überblick über
die diskutierten Fragen und Streitpunkte bei Weyl, H. (1922): „Die Relativitätstheorie auf der
Naturforscherversammlung in Bad Nauheim“. Jahresbericht DMV 31, 51-63.
464 9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
Das Hauptresultat der Veranstaltungen vom Donnerstag, den 12. Dezember 1918,
die Stiftung für die Herausgabe seiner Gesammelten Mathematischen Abhandlun-
gen, wurde bereits erwähnt. Die Feierlichkeiten selbst sind aus zwei Gründen
beachtenswert: Erstens weil Klein den Ablauf und seine jeweiligen Antworten
exakt vorausplante; zweitens weil ein zeitgenössischer Bericht von Heinrich
Behnke bestätigt, dass Klein diplomatisch71 das rechte Maß fand.
Klein notierte auf vier Blättern das Programm für die Feiern und ein Konzept
für seine Antworten.72 Wir erfahren daraus, dass ab 12.00 Uhr Deputationen vom
Rektor, vier Dekanen, von den zwei Klassensekretären der Gesellschaft der Wis-
senschaften und vom Kurator erwartet wurden. In seiner Antwort wollte Klein
erwähnen: die „Bonner Zeit“, den Anfang in Göttingen mit „Clebsch. Verkehr mit
Gleichstrebenden. Voß, Noether, Riecke. Das Waitz’sche Seminar“, seine „Erste
Mitteilung an die Ges. d. Wiss. 4. Januar 69“, und seine Wahl zum Assessor; die
„Erste Bekanntschaft mit Althoff“. Für die anschließende Gratulationen der Göt-
tinger Mathematischen Gesellschaft (Hilbert, vgl. 7.2), der DMV und der Stiftung
der Freunde (R. Fricke) notierte er vorbereitend: „Antwort Klein: Freude am Zu-
sammenarbeiten. Aufgabe und Ziel des Wiederabdrucks der math.[ematischen]
Abhandlungen (Ostrowski). Persönlicher Dank an Fricke für 35 Jahre Arbeit.“
Nach einer Mittagspause lud Klein um 16.30 Uhr „Die math.[ematischen]
Fachgenossen zum Thee“ und gedachte, über seine Elementarschule mit „Kopf-
rechnen“, „naturwiss.[enschaftliche] Anregung“ bei einem durchgefallenen Refe-
rendar zu erzählen. Danach folgte um 18.00 Uhr die Festsitzung der Mathemati-
schen Gesellschaft mit Paul Koebe als Vortragender über Kleins Arbeiten. Von
Behnke erfahren wir, dass Koebe eine Lobrede auf sich selbst gehalten habe:
Die Veranstalter und viele Gäste mit ihnen waren peinlich berührt. Doch Klein verteilte als
das natürlichste in der Welt in seiner Dankrede die Gewichte wieder richtig, und alles war
erleichtert.73
71 Im Vergleich dazu war Hilbert „zu impulsiv“, sodass Klein bei heiklen Sachen vorgeschickt
wurde, vgl. z.B. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 G: Bl. 50-51 (24.7.1918, Beratung zu Nelson).
72 Vgl. hier und im Folgenden [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1. 22.
73 BEHNKE 1978, 35. – Zu Behnke vgl. HARTMANN 2009.
74 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1. 22.
9.3 Intellektuelle Bildung sichern 465
Felix Klein verwendete wiederholt das Wort „allseitig“. Wir können das auf seine
Studien von Werken klassischer bürgerlicher Pädagogen wie Pestalozzi, Fröbel,
Diesterweg u.a. zurückführen, die forderten: „Allen alles lehren!“ Hier ordnet sich
Kleins fortgesetztes Bemühen ein, nicht nur mathematisch-naturwissenschaftliche
Bildung zu fördern, sondern ebenso Fremdsprachenkenntnisse. Dass er hierzu
mitten im Krieg noch einmal eine besondere Initiative ergriff, bedarf einer nähe-
ren Erklärung (9.3.1). Als in Verlautbarungen zu Schulfragen ethische Kompo-
nenten intellektuelle Bildung zu verdrängen drohten, legte er wiederholt sein Ge-
wicht in die Waagschale. (9.3.2)
Der erwähnte Carl Heinrich Becker verfasste kurz nach seinem Eintritt als Refe-
rent ins Kultusministerium 1916 eine Denkschrift über den künftigen Ausbau der
Auslandsstudien an den preußischen Universitäten. Becker, Orientalist, setzte sich
damit mitten im Ersten Weltkrieg für eine bessere Kenntnis der Kultur anderer
Länder ein, mit der Begründung, künftige Konflikte vermeiden zu können. Diese
Denkschrift wurde in beiden Kammern des preußischen Landtags diskutiert. Ver-
anlasst durch den Philologen Alfred Hillebrandt (vgl. Tab. 9) widmete sich Klein
dem Thema. Er erarbeitete eine zwölf Seiten umfassende Schrift „Bemerkungen
über die Aufgaben der Universitäten nach dem Kriege, insbesondere in der Rich-
tung auf ein verbessertes Studium der Verhältnisse des Auslandes“, die er der
akademischen Vereinigung des Herrenhauses überreichte. Zuvor hatte er den Text
mit Mathematikern beraten (Gutzmer, Carathéodory, Landau und Runge). Darin
wurden auch nationalistische Töne bemüht:
In der grossen Probe [des Krieges] hat sich die Gesinnung, so auch das Können der an den
Hochschulen herangebildeten Kreise glänzend bewährt. Es bleibt übrig, wo etwa doch Män-
gel hervorgetreten sind, sie zu beheben und in dem zu erwartenden verschärften Wettbewerb
der Völker nach dem Friedensschluss der deutschen Bildung und damit dem deutschen Volke
die Ueberlegenheit zu wahren.
Diese Töne entsprangen der Angst, das Ministerium könnte die Mittel für Wissen-
schaft und Bildung kürzen. Klein argumentierte auch mit historischem Beispiel:
[…] hat Preussen inmitten seiner tiefsten Erniedrigung 1809/10 den Mut und die Grösse ge-
funden, die Universität in Berlin zu gründen, so wird es nach dem hoffentlich siegreichen Ab-
schluss der furchtbaren Kämpfe um die deutsche Grossmachtstellung Einsicht und Kraft ge-
nug besitzen, um das Erbe der Vergangenheit würdig weiter zu verwalten.75
75 [UBG] Cod. Ms. F. Klein AI,5: Bl. 1-58. Text (abgezeichnet durch Carathéodory und
Landau) auch in [StB Berlin] Nachlass Runge – Dubois-Reymond, 604. – Zitate 2; 3.
466 9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
- Neben Französisch und Englisch sollten weitere Fremdsprachen gelehrt werden, insbeson-
dere Russisch, Polnisch und Italienisch; aber auch ungarische, skandinavische, niederländi-
sche, orientalische Philologie sei an den Universitäten zu etablieren.
- Die Ausbildung in modernen Sprachen sollte nicht nur fakultativ, sondern obligatorisch
sein.
- Für Sprachstudien sollten Reisestipendien zur Verfügung gestellt werden.
- Die Universitäten sind für entsprechende Studien auszubauen.76
Klein vergaß andererseits auch in diesem Kontext nicht seine besonderen Interes-
senfelder, die „in Göttingen und Jena durch die Regierungen mit Hülfe privater
Gönner der Wissenschaft errichteten Anstalten für angewandte Mathematik und
Physik“, und betonte: „Auf dieser Bahn sollte mit Entschiedenheit vorgeschritten
werden.“77 Insgesamt begründete er dezidiert die Aufgabe der Universität für all-
seitige Bildung und erklärte neue Institute und Professuren, Geld für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs, für die Bibliotheken, für Reisen, für unabdingbar.
Klein und Hillebrandt meinten, jetzt im Kriege mehr Gehör für etwas zu fin-
den, was sie bereits zuvor gewünscht hatten. Kleins Auftreten für Sprachstudien
erklärt sich aus seinem ständigen Bemühen um internationale Beziehungen.
Der Slawist Erich Berneker hatte am 12. April 1913 dem Sprachwissenschaft-
ler Herman Lommel mitgeteilt, dass Felix Klein schon 1901 die treibende Kraft
gewesen sei, um in Göttingen ein Extraordinariat für slawische Philologie ein-
richten zu lassen,78 und dass er nun gewiss für eine „Deutsche Gesellschaft zum
Studium Rußlands“ gewonnen werden könne. Diese Gesellschaft wurde am 16.
Oktober 1913 gegründet und zielte darauf, „unter Wahrung eines durchaus unpo-
litischen Charakters die Kenntnis Russlands in Deutschland zu fördern.“79
Herman Lommel, Sohn des Physikers Eugen Lommel, hatte seinem Onkel Fe-
lix Klein am 30. Mai 1913 darüber geschrieben. Daraufhin entwarf Klein sofort
einen Plan für Studien in Russland. Seine Vorschläge lauteten: „50 disponible
Lehramtskandidaten für ein Semester nach Russland zu senden“, um diese dann je
zehn im auswärtigen Dienst, an der Handelskammer, an Gymnasien, Bibliotheken
und Hochschulen einzusetzen. In einem Brief vom 10. Januar 1914 an Otto
Hoetzsch, Schriftführer der neuen Gesellschaft und seit 1913 a.o. Professor für
Osteuropäische Geschichte, erklärte Klein seinen Beitritt zur Gesellschaft und
brachte zugleich Zusatzideen für das von Hoetzsch entwickelte Programm ein:
1) Die Bedeutung der wissenschaftlichen Literatur Russlands auf den Gebieten der exakten
Wissenschaften zu beachten,
2) Das Studium des Russischen solle an eine „Berechtigung“ geknüpft werde, d.h. in die Prü-
fungsordnung für Lehramtskandidaten sollte eine Fakultas für Russisch eingeführt werden,
so wie es das bereits für Dänisch, Polnisch u.a. gab.80
Die Entwicklung nach dem Kriege, als Friedrich Schmidt-Ott nicht nur die Notge-
meinschaft, sondern auch den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft zum Studium
Rußlands übernahm, folgte der außenpolitischen Orientierung.81 Deutschland
suchte eine stärkere Bezugsnahme zu Sowjetrussland. Vertreter von Staat, Wirt-
schaft, Wissenschaft, Luftfahrtexperten, Ingenieure, Pädagogen, auch Mathemati-
ker/innen reisten in den 1920er Jahren aus den unterschiedlichsten Gründen dort-
hin. Klein erneuerte die Briefkontakte.82 Jüngere russische Mathematiker kamen,
wie erwähnt, zu ihm mit Empfehlungsschreiben und mit der Bitte, in die Göttinger
Mathematische Gesellschaft aufgenommen zu werden.83 Die Leningrader Physi-
kalisch-Mathematische Gesellschaft listete Klein und Hilbert im Bericht von 1922
bis 1927 als einzige ausländische Korrespondierende Mitglieder auf.84
Ich stelle mir das Ziel jedes Schulbetriebes gern als Produkt zweier Faktoren, α • β, vor, wo-
bei sich α auf die ethische Gesinnung, die Willensbildung, meinetwegen auch auf die körper-
liche Ertüchtigung beziehen soll, β aber auf die intellektuelle Entwicklung, allgemein das
Können. Es mag sein, daß unsere höheren Schulen eine Zeitlang den Faktor α zu wenig be-
rücksichtigt haben […]. Demgegenüber scheint neuerdings die Gefahr vorzuliegen, daß man
die Bedeutung des Faktors β unterschätzt. Und doch hängt der Wiederaufbau unseres Landes
durchaus davon ab, daß eine hinreichende Zahl von Persönlichkeiten vorhanden ist, die über
einen bedeutenden β-Betrag verfügen. Solche Persönlichkeiten planmäßig heranzubilden, er-
scheint mir als die eigentliche Aufgabe unserer höheren Schulen. […] Um hier zu bessern,
bin ich seit Jahren für die Reformbewegung im mathematischen Unterricht eingetreten, wel-
che auf eine unmittelbare Beziehung des Unterrichtsstoffes zu den Aufgaben des praktischen
Lebens hinarbeitet […]85
Am 15. Dezember 1918 wandte sich Klein an den inzwischen etablierten SPD-
Kultusminister Konrad Haenisch, dankte ihm für telegraphische Glückwünsche zu
seinem Goldenen Doktor-Jubiläum und bot an, „[…] wie ich bei den bevorstehen-
den Unterrichtsreformen bescheidene Beihülfe möchte leisten können.“89 Klein
sandte die Publikationen des DAMNU, die jüngsten Hefte der Abhandlungen über
den mathematischen Unterricht, verwies auf die genannte Entschließung der Göt-
tinger Vereinigung und betonte diplomatisch sein dauerhaftes Bemühen um die
Interessen des Gesamtunterrichtswesens.
Kaum hatte das Jahr 1919 begonnen, hielt Klein am 7. Januar einen Vortrag
„Mathematischer Unterricht an den verschiedenen Schularten“ in der Göttinger
Mathematischen Gesellschaft. Als Ziele gab er an, erstens retrospektiv einen
Überblick seiner derartigen Arbeiten zu bieten, und zweitens prospektiv pädagogi-
sche Fragen mit Blick auf die Schulreform aufzuwerfen.90 Prospektiv formulierte
er Thesen, die seit langem seinen Vorstellungen entsprachen und die zugleich
Bezug zu der damals aktuell diskutierten „Einheitsschule“ nahmen:
a) Das gesammte Schulwesen sollte ideelle Einheit bilden, so dass seine Einzelstufen richtig
in einander greifen. […]
b) Alle diese Dinge müssen, wenn sie nicht verkümmern sollen, an der Universität verankert
werden. […]. Noch vielseitigere Ausbildung der staatswirtschaftlichen Disziplinen. Cf.
Philosophie. Psychologie. Neue Lehrstühle für Allgemeine Pädagogik. Aber auch für
Didaktik der einzelnen Unterrichtsfächer.
c) Aenderungen im Lehrkörper zu erwägen? […] Nur wenige höchste Mathematik, andere
eine mehr breite Grundlage. (Forscher und Lehrer getrennt). […]91
d) Alles anstrengen, um der Mathematik (oder allgemeiner den exakten Fächern) noch mehr
Geltung an den Schulen und im öffentlichen Leben Deutschlands zu erringen.
Georg Hamel – der in Göttingen promoviert und Klein 1901-02 als Assistent
gedient hatte97 – war seit 1919 Professor an der TH Berlin und hatte die Idee eines
Reichsverbandes deutscher mathematischer Gesellschaften und Vereine (kurz:
Mathematischer Reichsverband) auf der Naturforscherversammlung im Septem-
ber 1920 in Bad Nauheim unterbreitet. Es bedurfte allerdings noch der Initiative
von Klein und weiterer Mathematiker, um die Idee zu realisieren. Adolf Krazer,
Vorstandsmitglied der DMV, informierte Klein am 11. Oktober 1920:
Ich bin seit den letzten Tagen beschäftigt, die Beschlüsse der Bad Nauheimer Versammlung
auszuführen. Was den von Hamel angeregten Reichsverband angeht, so glaube ich die Sache
zu einem guten Ende führen zu können. Nachdem in Bad Nauheim einstimmig die Ansicht
ausgesprochen wurde, dass der Verband weder ein eher mathematischer Verein sein, noch die
bestehenden in ihrer selbständigen Arbeit stören solle, so dürfte als Vorbild der im Jahre 1916
gegründete „deutsche Verband technisch-wissenschaftlicher Vereine“ dienen können, der 13
große Vereine […] umfasst und wohl ähnliche Zwecke verfolgt wie sie Hamel vorgeschwebt
haben. Ich werde in diesem Sinne einen Entwurf für die Organisation ausarbeiten und bald in
Umlauf bringen.98
Dirigiert durch Klein publizierte Lietzmann über den Stand der Reform und for-
derte das Mitwirken der Hochschullehrer, wie in Frankreich, Italien und den USA.
Er schloss mit den Worten: „Es steht zu hoffen, dass die Gründung des Reichs-
verbandes mathematischer Gesellschaften darin eine Wendung herbeiführt.“99 Das
neue Gremium wurde am 6./7. Januar 1921 bei Klein in Göttingen, auf einer
außerordentlichen Tagung der DMV beschlossen. Hamel übernahm den Vorsitz.
Der Mathematische Reichsverband, der DAMNU und der Förderverein sandten
daraufhin dem Kultusministerium in Berlin am 20. Januar 1921 eine schon in Bad
Nauheim verabschiedete Resolution, die Kleins Vorstellungen folgte,
- dass Mathematik im Schulunterricht ungemindert erhalten bleiben soll;
- dass für den Mathematikunterricht die Grundgedanken der Meraner Reform noch immer
maßgeblich sein sollten, wobei ein noch stärkerer Akzent auf Anwendungen in Technik
und Wirtschaft geboten sei;
- dass die Lehraufträge für Didaktik begrüßt werden, aber an allen Universitäten und Techni-
schen Hochschulen einzurichten seien.100
Obgleich Klein kaum noch das Haus verlassen konnte, blieb er engagiert da-
bei. Er sah, dass die Gefahr des Reduzierens nicht gebannt war. Als eine unter
Kultusminister Otto Boelitz (Deutsche Volkspartei, DVP103) erarbeitete Denk-
schrift über „Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens“ im März
1924 präsentiert wurde, schrieb Klein an den Göttinger Universitätskurator Theo-
dor Valentiner:
Ich bespreche mit Ihnen gerne insbesondere die Reformen des höheren Schulwesens, welche
das Ministerium Boelitz in Aussicht genommen hat und über die eben morgen eine vielleicht
entscheidende Konferenz in Berlin stattfindet.104
103 Boelitz war vom 7.11.1921 bis 6.1.1925 im Amt. Die nationalliberale Partei DVP war 1918
unter Vorsitz von Gustav Stresemann entstanden, koalierte zeitweise mit der SPD.
104 [UAG] Kuratorial-Akten, 4 Vb/216 (Personalakte F. Klein), Brief v. 20.5.1924.
105 Vgl. KLEIN 31924, 299.
106 [UAG] Math.-Nat. generalia: Nr. 25; 21.
107 Das höhere Schulwesen. Stimmen gegen die Neuordnung des preußischen höheren Schulwe-
sens, hg. v. Deutschen Verband Technisch-Wissenschaftlicher Vereine. Berlin: VDI-Verlag,
1924. – Hans Richert, Ministerialrat im preußischen Kultusministerium seit 1923.
108 [UAG] Math.-Nat. Fak. 25, Valentiner, Bericht v. 19.7.1924; Zeitungsnachrichten-Bureau,
Berlin: Eichsfelder Tageblatt, 2.8.1925.
472 9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
9.4 FORSCHUNGSFÖRDERUNG
Nach dem verlorenen Krieg prägte die rhetorische Floskel „Wissenschaft als
Machtersatz“ die Entwicklung von Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsorga-
nisation in Deutschland. Mit Diskursen über Schwachstellen in anderen Gebieten
wurde die Ressource Wissenschaft mobilisiert, die selbst durch den Krieg und die
nachfolgende Inflation „in Not“ geraten war. Industrie, Staat und Wissenschaftler
waren, durchaus mit unterschiedlichen Zielen, an neuen Organisationen der For-
schungsförderung interessiert. Felix Klein steckte noch mitten im Geschehen und
lenkte das Finanzieren mathematischer Projekte.
Am 30. Oktober 1920 wurde in Berlin die Notgemeinschaft der Deutschen Wis-
senschaft gegründet (seit 1929 Deutsche Forschungsgemeinschaft). Friedrich
Schmidt-Ott, langjähriger Beamter im preußischen Kultusministerium und von
August 1917 bis zur November-Revolution 1918 noch Kultusminister, übernahm
den Vorsitz dieses „Dachverbandes in Selbstverwaltung“, um geistes-, naturwis-
senschaftliche, technische und medizinische Forschung zu fördern und zu regulie-
ren.109 Sein 1. Vizepräsident wurde der Mathematiker Walther Dyck110, 2. Vize-
präsident der Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber. Es waren sämtliche
dem Verband Deutscher Hochschulen (gegr. 1919) angeschlossene Universitäten
und Hochschulen, die Akademien, die KWG, die GDNÄ mit den Fachgesell-
schaften und der Verband technisch-wissenschaftlicher Vereine (gegr. 1916) in-
volviert. Die Mittel kamen hauptsächlich aus dem Reichshaushalt und in gerin-
gerem Maße von einem (industriellen) Stifterverband der Notgemeinschaft. Ein
Hauptausschuss der Notgemeinschaft, dem Adolf von Harnack vorstand, bearbei-
tete Anträge von Fachausschüssen und leitete sie an Sonderausschüsse (Verlags-
ausschuss, Vergabe von Forschungsstipendien, Apparate- und Materialausschuss,
Unterstützung für Forschungsreisen u.a.).
Das Präsidium und der Hauptausschuss der Notgemeinschaft beschlossen am
23. November 1920, die Fachausschüsse vorläufig für ein Jahr durch die Akade-
mien der Wissenschaften und den Hochschulverband bestimmen zu lassen.
Schmidt-Ott informierte Felix Klein am 10. Januar 1921:
Die Zusammensetzung des Fachausschusses für Mathematik, Astronomie und Geodäsie
wurde der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen übertragen. Diese hat Sie zum Vor-
sitzenden dieses Fachausschusses gewählt. Dem Ausschuss sollen ausser Ihnen Herr Gehei-
mer Rat Professor A. Krazer – Karlsruhe, Professor I. Schur – Berlin, Herr Geheimer Regie-
rungsrat Professor Dr. Louis Krüger – Potsdam und Professor Dr. Bauschinger – Leipzig an-
gehören.
109 Zur Notgemeinschaft und zum Begriff „Dachverband…“, der nicht Demokratisierung, son-
dern Zusammenschluss bzw. Wissenschafts-Lobby gegenüber der SPD-Regierung aus Angst
vorm „Gespenst des Bolschewismus“ bedeutet habe, vgl. KIRCHHOFF 2007, 77-78.
110 Zu Walther Dycks Tätigkeit in der Notgemeinschaft vgl. HASHAGEN 2003, 619-51.
9.4 Forschungsförderung 473
Schmidt-Ott drückte die Hoffnung aus, „dass Sie im Gesamtinteresse der Deut-
schen Wissenschaft das Ihnen übertragene Amt anzunehmen bereit sind“. Klein
antwortete, dass er nicht nur das Amt angenommen, sondern die erste Ausschuss-
sitzung mit sämtlichen Mitgliedern (in Göttingen) bereits durchgeführt habe. Für
in Berlin stattfindende Sitzungen bat Klein darum, dass Issai Schur eingeladen
werde.111 Fritz Haber schrieb daraufhin am 5. Januar 1921 an Klein, dass er ihm
gern zugestehe, dass er sich geeignet vertreten lasse und schloss zugleich ein Plä-
doyer auf ihn an: „Das Gewicht Ihrer Persönlichkeit bleibt und die Summe von
Urteil, Erfahrung und persönlichem Zusammenhange, die in Ihrer Person verkör-
pert ist, wirkt unter Ihrem Vorsitz zum höchsten Nutzen der Sache.“112
Die Korrespondenz Kleins mit Krazer dokumentiert die vorausgegangene Ab-
stimmung. So hatte Klein bereits am 9. November 1920 an Krazer geschrieben:
Immer noch unklar, welche Machtvollkommenheit der Einzelausschuss der Notgemein-
schaft und speziell der Ertrag dieses Ausschusses hat. Trotzdem setze ich die vorläufige Be-
zugnahme mit Ihnen gerne fort. […].
Ich habe absichtlich alle Einzelzeitschriften, also auch Crelle oder gar das Archiv, wel-
ches [Eugen] Jahnke in unverantwortlicher Weise in den Vordergrund gebracht hat, ausge-
schlossen. Wir erleben sonst ein Konkurrenzrennen nicht nur der Red.[aktionen], sondern der
Verleger u. verzetteln die Mittel oder halten am Leben, was absterben muß (Die bisherige
Zeitschriftenzahl muß unter heutigen Umständen reduziert werden). – Ausnahme Jahresbe-
richt, wenn es gelingt, ihm den Charakter des allgemeingültigen aktuellen Nachrichtenblattes
zu geben. Verleger und Form des Verlags halte ich dabei offen. Ich habe an sich gewiß nichts
gegen Teubner. Aber ohne Unternehmensgewinn. […] Vorschläge mit grosser Vorsicht.
Damit komme ich auf die Reorganisation der Math.[ematischen] Ver.[einigung] u.[nd]
Reichsverband. […]113
Wie die Korrespondenz erhellt, waren sich Klein und Krazer früh darüber einig,
dass die ENCYKLOPÄDIE, die Herausgabe der Werke von Gauß, die Referatezeit-
schrift Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik und der Jahresbericht der
Deutschen Mathematiker-Vereinigung unterstützt werden müssen.114 Diese Pro-
jekte wurden als primär bestätigt, als der Fachausschuss 5 (für Mathematik, Astro-
nomie, Geodäsie) unter Kleins Vorsitz am 7. und 8. Januar 1921 (Freitag und
Samstag) in Göttingen tagte. Zu der Zusammenkunft waren auch Carl Runge als
Vorsitzender des Fachausschusses 6 (für Physik, Astrophysik, Geophysik und
Meteorologie) und Richard Courant als Schriftführer gebeten worden.
Wenn die Mittel zunächst auch zögerlich kamen, war Kleins wiederholtes In-
sistieren erfolgreich. Die meisten Zuwendungen für Mathematik kamen über den
Verlagsausschuß. Bis zum 31. März 1922 erhielt der Fachausschuß Mathematik
793.755 M Druckunterstützung und 174.800 M für Einzeluntersuchungen. Das
war der siebente Platz bei zwanzig Fachausschüssen (nach Physik, Theologie,
Chemie, Biologie, Mineralogie und alter Philologie).115 Klein dachte über die
Fachgrenze hinaus, organisierte u.a. mit Otto Blumenthal und abgestimmt mit
holländischen Wissenschaftlern, wie der Bibliotheksausschuss der Notgemein-
schaft die ausländische Fachliteratur geeignet beschaffen könnte.
Zugleich profitierte Klein für seine eigenen Projekte. Die ENZYKLOPÄDIE er-
hielt nicht nur über den Fachausschuss, sondern auch über das Präsidium Mittel,
wofür Walther Dyck mit sorgte. Über den Hauptausschuss, beantragt durch das
Präsidium, flossen 50.000.-M für die Edition von Band II der Werke Kleins.116
Für Band III kamen aufgrund der weiteren Geldentwertung am 11. November
1922 100.000.- M und Ende Januar 1923 noch einmal 300.000.- M hinzu.117
Wie sehr die Erfolge in der ersten Amtsperiode (bis 1. April 1922) Kleins per-
sönlichem Einsatz und diplomatischem Geschick zu danken waren, ist gleichfalls
belegt. So bat z.B. Julius Bauschinger Klein dringend, als Vorsitzender ausharren
zu wollen. Es ist Niemand da, der Sie auch nur einigermaßen ersetzen könnte.118
Als die Gremien im März 1922 für die nachfolgenden vier Jahre gewählt werden
sollten, wollte sich Klein zurückziehen. Issai Schur, der Kärrnerarbeit übernom-
men hatte, schrieb ihm am 16. September 1921:
Jedenfalls ist dieser Erfolg ein neuer Beweis dafür, wie außerordentlich schwer Sie als Vorsit-
zender des Fachausschusses zu ersetzen wären. Ich gebe immer noch die Hoffnung nicht auf,
von Herrn Courant zu erfahren, daß Sie von Ihren Rücktrittsabsichten abgekommen sind und
eine Wiederwahl nicht ablehnen würden.119
116 [UGB] Cod. Ms. F. Klein 4, Bl. 96, Schreiben Schmidt-Ott an Klein, 20.3.1922.
117 Ebd., Bl. 315, 323, Schreiben v. Schmidt-Ott an Klein, 11.11.1922, 26.1.1923. – Zur
Förderung weiterer mathematischer Werke und Projekte vgl. TOBIES 1981b.
118 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4A: Bl. 214, Bauschinger (Leipzig) an Klein, Brief v. 4.9.1921.
119 Ebd., Bl. 219-219v, Issai Schur an F. Klein, 16.9.1921.
120 Ebd, 5 E: Bl. 5 (Klein an Schmidt-Ott, 20.1.1921).
121 Ebd., 4 A: Bl. 225, 257 (Klein an Schmidt-Ott, Briefentwürfe, 23.9., 7.11.1921).
122 Stimmen bei der DMV-Wahl für den Fachausschuss: Krazer und Issai Schur je 44,
Bieberbach 38, Courant 11, Mises 4, Rothe 1; Wahl für den Vorsitz: Schur 38, Bieberbach 7,
Krazer 2. Jahresbericht DMV 30 (1921) 104. – Issai Schur schrieb Klein am 14.11.1921,
dass er mit Bieberbach bei Schmidt-Ott war und sie dort festlegten, dass Bieberbach die
Berliner Vertretung im Fachausschuss übernimmt. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 A: 254.
9.4 Forschungsförderung 475
Schmidt-Ott erbat jedoch noch am 19. Juli 1922 Kleins (objektiven) Rat, um
die Vergabe der Mittel stärker „auf die Erforschung grosser Probleme und zu-
sammenfassende Durcharbeitung grösserer Gebiete zu konzentrieren“. Kleins
Antwort vom 27. Juli 1922 lautete, dass ihm das Fördern „der allgemeinen Unter-
nehmungen“ (ENCYKLOPÄDIE, Gaußausgabe, und das referierende Organ Fort-
schritte der Mathematik, geleitet durch Leon Lichtenstein in Leipzig) nach wie
vor am wichtigsten scheine, wie er in seinem Bericht vom Januar schon betont
habe. Sonstige neue wissenschaftliche Pläne sah er durch „die fortschreitende
Verschlechterung der allgemeinen Verhältnisse gehemmt“.123
Klein managte inzwischen alles von zu Hause aus. Von hier aus sorgte er
auch noch dafür, dass seine 1898 gegründete Göttinger Vereinigung geordnet
überführt wurde, wenn er auch nicht mehr alle Wünsche durchsetzen konnte.
Durch den Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 waren der deutschen chemischen
Industrie alle Verfahrenspatente entzogen worden. Chemieindustrielle entwickel-
ten deshalb ein besonderes Interesse an Innovationen und statteten neue Förderge-
sellschaften an Hochschulen sowie spezifische Fachgesellschaften mit Mitteln
aus: Emil-Fischer-Gesellschaft zur Förderung der chemischen Forschung e.V.
(gegr. 15.6.1920); Adolf-Baeyer-Gesellschaft zur Förderung der chemischen Lite-
ratur e.V. (gegr. 16.6.1920); Justus-Liebig-Gesellschaft zur Förderung des chemi-
schen Unterrichts e.V. (gegr. 1920).124 Felix Klein nahm dies zur Kenntnis, trat
der 1919 neu gegründeten Gesellschaft für technische Physik bei, gab Hinweise
zur Gestaltung deren Satzungen125 und versuchte, für mathematisch-physikalisch-
technische Forschungen in Göttingen weiterhin finanzielle Mittel zu erhalten.
Als der persönlich stark für Göttingen engagierte Böttinger am 9. Juni 1920
verstarb, informierte Klein die Mitglieder der Göttinger Vereinigung am 21. Juni,
schrieb am 22. Juni an den Krupp-Manager Emil Ehrensberger, um die Gelder für
den Bau des anvisierten Mathematischen Instituts zu sichern. Und er schloss den
Brief mit der Sentenz: Nicht verzweifeln, sondern neue Initiative entwickeln.126
Böttinger hatte noch Carl Duisberg als Ersatz für den Vorstand der Göttinger
Vereinigung vorgeschlagen. Dieser, seit 1912 Generaldirektor und Vorstandsvor-
sitzender der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., leitete jedoch außerdem
die Liebig-Gesellschaft, managte das Zustandekommen und die Satzungen des
Stifterverbandes der Notgemeinschaft (gegr. 14.12.1920), entfaltete zahlreiche
weitere Initiativen, sodass er sich für Göttingen nur als „Liquidator“ sah.127 Das
123 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 A: Bl. 308-09, 309v (Schmidt-Ott an Klein, 19.7.1922; Kleins
Antwortentwurf, 27.7.1922).
124 Vgl. hierzu bereits die Studie von REISHAUS-ETZOLD 1972.
125 Korrespondenz mit Georg Gehlhoff, 1919 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5B: 57, 64-71, 124-28.
126 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5C: Bl. 42-43v (Klein, Briefe v. 21.6. und 6.7.1920).
127 Duisberg an Klein, 13.11.1920, ebd. 5D: Bl. 36-39.
476 9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
Agieren der Göttinger Vereinigung „auf dem freien Zusammenwirken ihrer Mit-
glieder“ ohne feste Satzung wirkte sich jetzt ungünstig aus. Die industriellen Mit-
glieder zeigten sich weniger spendenfreudig. Personalverschiebungen in Göttin-
gen bedingten, dass Stellen in Mathematik und Physik längere Zeit unbesetzt blie-
ben. Duisberg schickte sich somit an, die Vereinigung in eine neue, größere Ge-
sellschaft zur Förderung von physikalisch-technischer Forschung zu überführen,
welche nicht nur Göttingen, sondern deutschlandweit unterstützen sollte. Als Vor-
sitzenden für diese neue Helmholtz-Gesellschaft zur Förderung der physikalisch-
technischen Forschung e.V. (gegr. 28.10.1920)128 installierte Duisberg Dr.-Ing.
Albert Vögler, Generaldirektor der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und
Hütten A.G., Dortmund. Vögler, konservativ und nationalistisch, hatte im Ersten
Weltkrieg eine aggressive Annexionspolitik betrieben und sollte schließlich die
NSDAP mit auf den Weg bringen (vgl. KOHL 2002).
Klein notierte: „Allerlei Skrupel betr. die neue Gesellschaft“. Er vermisste
eine hinreichende Zahl hervorragender Gelehrter und insbesondere norddeutsche
Gelehrte im ersten Verwaltungsrat; er vermisste die Organisation der Forschungs-
tätigkeit; er qualifizierte die neue Gesellschaft als „Sammelbüchse“ von Kapital
ab.129 Es sollten nur die Zinsen verwendet werden dürfen, während die Göttinger
Vereinigung von den Eintritts- und Jahresbeiträgen (5000 plus 500 als Minimum)
gelebt hatte. Klein war auch mit der Benennung nach Helmholtz unzufrieden, da
dieser 1893 gegen Universitätsinstitute für technische Physik plädiert hatte. Sei-
nen eigenen Vorschlag, Gauß-Weber-Gesellschaft, um das enge Band von Ma-
thematik und Physik zu unterstreichen, hatte Duisberg mit dem Bemerken abge-
lehnt, dass der Name Helmholtz breiteren Kreisen bekannt sei. Die neue Gesell-
schaft nahm ihren Sitz in München, obgleich Duisberg Klein noch am 20. Juli
1920 entgegenkommend geschrieben hatte, dass der bisherige Sitz der Göttinger
Vereinigung auch für die größere Gesellschaft gewiss beibehalten würde. Mathe-
matik kam im neuen Namen nicht mehr vor, obwohl Duisberg auch noch von
Mathematik gesprochen hatte.130 Ebenso entfiel Unterricht als Förderfeld.131
Klein erreichte noch, dass neu berufene Professoren der Physik (Max Reich
für den verstorbenen H. Th. Simon; Max Born für Peter Debye; James Franck für
den verstorbenen Woldemar Voigt) sich gern in die Vereinigung integrierten, dort
aufgenommen und gefördert wurden. So schrieb Born am 15. Juli 1920 an Klein:
128 Vgl. Niederschrift über die Gründung am 28.10.1920 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 B: Bl. 1-3.
129 Duisberg informierte Klein am 22.1.1921, dass die Industrie lieber Geld für konkrete Zwecke
gebe. Für die Helmholtz-Gesellschaft seien inzwischen 35 Mill. Mark eingegangen, bis zu 50
Mill. würden erwartet, während die industriellen Spenden für die Notgemeinschaft („die Wis-
senschaft im allgemeinen“) sehr gering seien. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4 B: Bl. 5. – Klein
vermisste das von Prandtl vertretene Gebiet, wollte ihm 1 Mill. Mark aus den Mitteln der
Vereinigung zusagen (um ihn in Göttingen zu halten). Duisberg lehnte das ab. (Ebd., Bl. 7).
130 Ebd. 5C und D, Korrespondenz Duisberg – Klein, Briefentwürfe Kleins an Duisberg, Vögler.
131 Der Göttinger Oberbürgermeister schrieb am 17.2.1922 an Klein, er möge die Bitte an die
Helmholtz-Gesellschaft leiten, dass die Göttinger Mechanikerschule (einst von der Göttinger
Vereinigung initiiert) unterstützt wird. Die H.-G. lehnte mit der Begründung ab, dass sie nur
Forschungszwecken diene. [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 E: Bl. 117-18, 131 (27.4.1922).
9.4 Forschungsförderung 477
Ich freue mich sehr, daß die Göttinger Fakultät Prof. Franck dem Ministerium vorschlagen
will. Es ist ja eine beträchtliche Verantwortung, die ich auf mich nehme, indem ich in so be-
stimmter Weise eine Person als richtige für die Göttinger Physik bezeichne; aber ich glaube,
meiner Sache ganz sicher zu sein, weil Franck in der Tat geeignet ist, Schule im großen Stil
zu machen. […] Franck ist sicherlich über die Göttinger Vereinigung gut im Bilde […] Er
wird sicherlich, ebenso wie ich, mit allen Kräften Ihnen behilflich sein, Ihr großes Ziel zu er-
reichen, durch die Wissenschaft die Industrie zu befruchten und dadurch umgekehrt die In-
dustrie am Gedeihen der Wissenschaft zu interessieren. Ihre neue Gründung, die Gauß-We-
ber-Gesellschaft ist in der Tat eine Sache größter Wichtigkeit; wie Sie das zustande gebracht
haben trotz der Schwierigkeiten, die Ihre schwache Gesundheit in den Weg legt, ist bewun-
dernswert. Denn ich habe selbst angefangen, in ähnlicher Weise zu werben. Meine Idee ist
seit Jahren ein „Recheninstitut für theoretische und technische Physik“. […] Wenn Sie mich
für die Ziele Ihres Unternehmens brauchen können, stehe ich Ihnen mit Leib und Seele zur
Verfügung.132
Klein konnte noch bei Duisberg erwirken, dass über die Göttinger Vereinigung
und von den Farbenfabriken Leverkusen Mittel von 15.000 M für den Druck von
Band I seiner Gesammelten Mathematischen Abhandlungen gestiftet wurden:
Indem ich meiner ganz besonders grossen Freude darüber Ausdruck gebe, dass es uns so
möglich ist, Ihnen als dem Begründer und spiritus rector der Göttinger Vereinigung einen
kleinen Teil der Dankesschuld abzustatten, verbleibe ich mit dem Wunsche, dass es Ihnen in
dem begonnenen Jahr, wie uns allen im niedergetretenen deutschen Vaterlande besser gehen
möge wie im abgelaufenen, in Verehrung Ihr sehr ergebener C. Duisberg.133
Klein fand schließlich für das Überführen der Göttinger Vereinigung einen zwei-
gleisigen Weg, den er dem Physiker Wilhelm Westpfahl, nebenamtlich Referent
im Kultusministerium, wie folgt erklärte:
Die G.[öttinger] V.[ereinigung] als solche ist in der Tat vom 1. Okt.[ober] 1921 beginnend in
die Helmholtzgesellschaft aufgegangen, wobei ein kleiner Teil der von den Industriellen für
die H.[elmholtz] G.[esellschaft] gezeichneten Summe – es mögen 450.000 M sein – aus-
drücklich für die von der G.[öttinger] V.[ereinigung] geschaffenen Institute reserviert wurde.
Prof. Prandtl wurde Vorstandsmitglied der H.G., während ich zum Ehrenmitglied ernannt bin.
Andererseits haben wir aus dem Geldern, welche die G. V. für das zu erbauende Math.[ema-
tische] Institut gesammelt hatte und die sich auf etwa 350.000 M belaufen, sowie einer
Summe von 700.000 M, die der Stifterverband der N.[ot] G.[emeinschaft] ausdrücklich für
die Institute der G. V. überwiesen hat, eine besondere „Stiftung für Math.[ematik] u. Physik,
insbesondere den Anwendungen“ beim hiesigen Universitätsbund begründet. Die Stiftung
untersteht innerhalb des U.[niversitäts]B.[undes] einem besonderem Kuratorium, dem von
industrieller Seite Duisberg […] angehören, von Universitätsseite aber Courant, Runge und
ich. Courant hat die Geschäftsführung übernommen. Wie bei der H.G. sollen im allgemeinen
nur die Zinsen des aufgesammelten Kapitals zur Verwendung kommen; die Zukunft steht also
unter dem Druck der fortschreitenden Markentwertung. Die jüngeren Kollegen werden sich
also Mühe geben müssen, für die neue Stiftung je nach Gelegenheit eine breite Grundlage und
allseitige Beziehungen zu schaffen. Ich selbst fühle mich nachgerade zu alt, um mich auf die
neuen Verhältnisse einzustellen.134
132 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5C: Bl. 68-69 (Born an Klein, 15.7.1920).
133 [UGB] Cod. Ms. F. Klein 8: 533/A und A/1, Bl. 91 und 92, Duisberg an Klein, 6.1.1921; und
ebd, 5 D: Bl. 105 (Duisberg an die Mitglieder der Göttinger Vereinigung, 4.1.1921).
134 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5E: Bl. 144 (Klein an Westpfahl, Briefentwurf, 8.6.1922).
478 9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
Die Idee einer Stiftung beim Universitätsbund hatte Klein bereits am 3. August
1920 in einem Schreiben an Schmidt-Ott dargelegt. Daraus geht hervor, dass er
auch die einst vom Finanzministerium bewilligten 300.000 M für das Mathemati-
sche Institut retten wollte.135 Am 3. Juli 1922 verschickten Klein (als vormaliger
2. Vorsitzender der Göttinger Vereinigung) und Courant (als Geschäftsführer der
Stiftung) ein Schlussprotokoll der Göttinger Vereinigung sowie die Satzungen der
„Stiftung für Mathematik, Physik und ihre Anwendungen (vorm. Göttinger Verei-
nigung)“ an die Mitglieder. Sie informierten, dass „die bisher von der Göttinger
Vereinigung verfolgten Zwecke unter Berücksichtigung der sich weiter ent-
wickelnden Verhältnisse und gegebenenfalls auch der Sonderwünsche zukünftiger
Stifter“ weitergeführt werden sollen. Zu den industriellen Mitgliedern des Stif-
tungskuratoriums gehörten neben Duisberg: Dr. ing. Carl Still, Recklinghausen
(seit 1922 auch DMV-Mitglied); Dr. ing. Max Walter, Direktor des Norddeut-
schen Lloyd, Bremen136. Das Stiftungsvermögen wurde vom Göttinger Universi-
tätsbund verwaltet.137 Hiervon ausgehend (und mit Mitteln der Rockefeller Foun-
dation) konnte Courant dafür sorgen, dass im Jahre 1929 das Mathematische In-
stitut in der Bunsenstraße seine Einweihungsfeier erlebte.138
9.5 LEBENSENDE
Dies deutet nicht nur an, wie inflationär Klein programmatisch plante. Dies lässt
auch erahnen, dass Kleins Krankheit schon fortgeschritten war. An Schmidt-Ott
berichtete er später von „Muskelschwund, den die Aerzte nicht aufhalten können“,
sodass er „nur noch mit Mühe am Stock im Zimmer“ umhergehen könne.140 Som-
merfeld erfuhr etwas von „allseitigem Muskelrheumatismus“.141 Bereits am 6.
Dezember 1919 hatte Klein nach Adolf Hurwitz Tod an den Historiker Alfred
Stern in Zürich, einem seiner wenigen Duzfreunde und Sohn des Mathematikers
Moritz Abraham Stern, geschrieben:
135 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 D: Bl. 127 (Klein an Schmidt-Ott, Briefentwurf, 3.8.1920)
136 Vgl. NEUBAUR 1907, 612-13
137 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 D: Bl. 2-6.
138 Zur Rockefeller-Stiftung vgl. SIEGMUND-SCHULTZE 2001.
139 BEHNKE 1978, 35.
140 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 5 E: Bl. 5v (Klein an Schmidt-Ott, 20.1.1921).
141 Klein an Sommerfeld, Karte v. 12.12.1922 [UBG] Cod. Ms. Teubner 49.
9.5 Lebensende 479
Lieber Freund! Diese Karte lag adressiert aber noch unausgefüllt schon mehrere Tage auf
meinem Schreibtisch, es war gar zu viel zu tun. Vielen Dank für deine Nachricht vom Tode
von Hurwitz und für die anderen Mitteilungen! Wenn man das Elend unserer Zustände über-
denkt, möchte man diejenigen, die vorher dahingegangen sind, beneiden. So müssen wir uns
wohl oder übel weiter durchschlagen. Meine Frau und ich selbst gehören nachgerade zu den-
jenigen, deren körperliche Leistungsfähigkeit stark gelitten hat. Ich empfinde am meisten,
dass ich nicht mehr richtig gehen kann, bemerke etwa auch sonst, dass ich viel langsamer ar-
beite […] als früher. Dabei bin ich doch noch immer in allgemeinen Universitätsangelegen-
heiten und wissenschaftlich tätig, - letzteres z.B. mit der Absicht, einen Abdruck meiner alten
Arbeiten […] vorzubereiten. Ob sich aber ein Verleger dafür findet, ist unter den jetzigen
Zeitumständen zweifelhaft.
Herzliche Grüsse Deines alten
F. Klein142
Wir wissen inzwischen, dass sich ein Verleger fand und Klein bis zum letzten
Atemzug tätig war. – Das Ministerium für Volksbildung in Thüringen, Verwalter
der Carl-Zeiß-Stiftung, ließ 1921 während der Jahrestagung der Mathematiker und
Physiker in Jena mitteilen, dass der Nominalbetrag von 100.000 Mark in Kriegs-
anleihe als Fonds zur Verfügung gestellt wird, um ab 1924 aller zwei Jahre einen
Ernst-Abbe-Gedächtnis-Preis für hervorragende Leistungen in Mathematik, Phy-
sik und deren Anwendungsgebieten zu vergeben. Felix Klein erhielt 1924 den
ersten Preis für sein mathematisches Werk, auf Vorschlag der dafür eingesetzten
Fachkommission (Fricke, Koebe und Weyl).143 Allerdings ging es Klein inzwi-
schen gesundheitlich so schlecht, dass er keinerlei Feier oder Empfang zum 75.
Geburtstag wünschte, wie Ludwig Prandtl Richard von Mises mitteilte.144
Von Mises veranlasste, dass Klein 1924 Ehrenmitglied der GAMM wurde und
die Universität Berlin ihm die Ehrendoktorwürde (Dr. rer. pol. h.c.) verlieh.145
Zugleich brachte von Mises einen biographischen Aufsatz über Klein in die Zeit-
schrift für angewandte Mathemattik und Mechanik (ZAMM) sowie in die Deut-
sche allgemeine Zeitung (Nr. 193/194), dessen vielseitige Tätigkeit einordnend
und die „außerordentliche Arbeitskraft und Pflichttreue“ bewundernd.146 Auf
Wunsch des VDI-Verlags hatte Klein der 1921 durch v. Mises begründeten
ZAMM ein Geleitwort mit auf den Weg gegeben, in dem er „Genugtuung und eine
besondere Freude [ausdrückte], dass sich die Ingenieure und die Mathematiker
zusammengefunden haben.“ 147 Der erwähnte erste International Congress for Ap-
plied Mechanics 1924 in Delft fand gerade während Felix Kleins Geburtstag statt.
Das Executive Committee des Kongresses verfasste folgendes Telegramm:
Der internationale Kongress für technische Mechanik[,] der vom 22–28 April zu Delft tagt,
und Mitglieder zählt aus Aegypten, Amerika, Australien, Belgien, Bulgarien, Deutschland,
Auf dem Rückweg von Delft überbrachte Richard von Mises Klein die Urkunde
der GAMM und die Urkunde zur Berliner Ehrendoktorwürde. Er berichtete:
Auf dem Rückweg von Delft war ich ein paar Stunden in Göttingen, um Klein aufzusuchen.
Er sitzt trotz seiner 75 Jahre und schwerer Krankheit, die ihn ganz unbeweglich macht, auf-
recht und peinlich angezogen am Schreibtisch und arbeitet. Alles, was er braucht, befindet
sich in Greifnähe und im Zimmer nebenan wohnt nicht eine Pflegerin, sondern sein Assistent,
dem er Briefe und Manuskripte diktiert usf. Ein solches Willensphänomen war noch nicht
da.149
Norbert Wiener beschrieb die Situation wenige Monate vor Kleins Tod. Er sah ihn
[…] in seinem großen Arbeitszimmer, einem freundlichen, hohen, luftigen Raum mit Bücher-
regalen an den Wänden und einem großen Tisch in der Mitte, auf dem in geordneter Unord-
nung Bücher und offene Zeitschriften lagen. Der große Mann saß in einem Armsessel hinter
dem Tisch, eine dicke Wolldecke über den Knien. Er trug einen Bart, hatte scharf geschnit-
tene Züge und es umschwebte ihn eine Aura von Altersweisheit.150
Walther Lietzmann, der häufiger dort war, schilderte die Räume genauer:
Die Bilder an der Wand (Stiche nach Raffael), der Ofen, vor dem Heizkörper der Arbeitstisch,
der runde Konferenztisch vor dem Sofa, die Bücherregale hier und auch im Nebenzimmer
und im Schlafzimmer, die Stellen, wo die Neuerscheinungen lagen usf. Als Klein das Bett
nicht mehr verlassen konnte, fand auch dieses im Arbeitszimmer seinen Platz.151
David Hilbert formulierte am 23. Juni 1925 kurze Gedenkworte (Anhang Nr. 14),
nachdem Klein am Abend zuvor verstorben war. Klein hatte als seinen letzten
Willen mit allem Nachdruck hinterlassen, von offiziellen Kranzspenden und An-
sprachen abzusehen.152 Die Beerdigung fand am Donnerstag, den 26. Juni, um
15.30 Uhr, von der Kapelle des Göttinger Zentralfriedhofs aus, statt,153 wo neben
dem Geistlichen Carl Runge sprach. Die Göttinger Mathematische Gesellschaft
und die Direktion des Mathematischen Instituts veranstalteten am 31. Juli 1925,
um 11.00 Uhr, eine öffentliche Gedächtnisfeier in der Aula der Universität am
Wilhelmsplatz. Hilbert unterzeichnete die Einladung. Richard Courant hielt die
Gedächtnisrede.154 Kleins programmatische Planung reichte über den Tod hinaus.
Seine umfangreiche Bibliothek konnte die in Gründung befindliche Universität in
Jerusalem erwerben. Dies hatte er gemeinsam mit seinen Angehörigen sowie Ri-
148 Biezeno, C.B.; Burgers, J. M. (eds.), Proceedings of the First International Congress for
Applied Mechanics in Delft 1924. Delft: J. Waltman JR, 1925, Preface, XV.
149 [Harvard Archives] R.v. Mises an seine Mutter, Brief v. 7.5.1924.
150 WIENER 1962, 87.
151 LIETZMANN 1960, 54.
152 Prandtl an R. v. Mises, 25.6.1925 [MPI Archiv] 1078, Bl. 33.
153 [Archiv TU München] Carl Runge am 24.6.1924 an W. Dyck; [UAG] Kur. 5956, Bl. 208.
154 Courant, R.: „Felix Klein“. Die Naturwissenschaften 13 (1925) H. 37, 765-72, und in Jahres-
bericht DMV 34 (1926) 197-213.
9.5 Lebensende 481
chard Courant und Edmund Landau schon 1921 entschieden.155 Für seinen Grab-
stein hatte Klein selbst die Worte sincere et constanter (lat. ehrlich und beständig)
bestimmt156 und damit die Sentenz des Roten Adlerordens ausgewählt.
Kleins Hinterbliebene gaben pflichtgemäß am 25. Juli 1925 die Orden an den
preußischen Staat zurück: Roter Adlerorden II. Klasse mit Eichenlaub (verliehen
zum 150-jährigen Jubiläum der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften); den
Kronen-Orden II. Klasse, die Sterne zu beiden Orden. Auch der 1898 verliehene
Bayerische Maximilians-Orden (vgl. 4.3.1) musste wieder abgegeben werden.
Sohn Otto Klein, damals in Hannover-Wülfel, kümmerte sich um die Angele-
genheiten für die Mutter: dass sie die zustehende Summe (einmalig 1400 Mark)
aus der Professoren-Witwen- und Waisen-Versorgungsanstalt der Universität er-
hielt. Das Prozedere zog sich bis 1926 hin, ein bürokratischer Vorgang, bei dem
Angaben über die familiären Vermögensverhältnisse eingefordert und über das
Anrechnen der außerpreußischen Dienstzeiten (13 Jahre 182 Tage) verhandelt
wurde. Die Grundvermögenswerte von Anna Klein wurden mit 45.000 Mark ge-
schätzt. Felix Klein hatte zuletzt ein Grundgehalt von insgesamt 13.690,00 Mark
(11550 M; 1140 M Ortszuschlag; 1000 M ruhegehaltsfähige Nebenbezüge) bezo-
gen.157 Für Anna Klein wurde ein Witwengeld von jährlich 6571,80 Mark errech-
net, ausgezahlt monatlich: 547,65 M.158
Anna Klein folgte ihrem Mann am 18. Oktober 1927. Ihre Schwester Sophie
Hegel, die sie bis zum Schluss gepflegt hatte, schrieb am 27. November 1927 von
Göttingen aus an Walther von Dyck nach München:
Sie hat sich sehr nach dem Ende gesehnt. Dieser Gedanke ist mir auch immer wieder ein
Trost wenn es mir gar einsam werden will in dem alten, trauten Räumen, wo ich so viele,
schöne Jahre mit den beiden lieben Menschen verlebt habe. Ich habe ihnen viel zu danken
und meine gute Schwester hat nun auch noch bestimmt, daß ich im Haus bleiben u. zwei
Zimmer im 1. Stock haben soll; dazu wollen „die Kinder“ das einstige Studierzimmer ihres
Vaters für sich behalten, um noch immer ein Abstiegsquartier im Elternhaus zu haben; das ist
auch mir ein sehr lieber Gedanke u. so steht den alten Freunden das Haus Klein auch künftig
immer offen.159
Der Rest der Familie blieb verbunden. Sophie Hegel verbrachte mit ihrer Nichte
Elisabeth Staiger, Felix Kleins jüngster Tochter, damals Studienrätin in Kiel, das
Weihnachtsfest 1927 beim Neffen Otto Klein in Magdeburg.160 Beim Einweihen
der Gedenktafel an Felix Kleins Geburtshaus in Düsseldorf am 12. Oktober 1927
waren der Bruder Alfred Klein und Tochter Elisabeth dabei. Die Göttinger Zei-
tung berichtete am 13. März 1928, dass die bisherige Lindenstraße in Felix-Klein-
Straße umbenannt wurde. In Düsseldorf und in Erlangen, Kleins erstem Wir-
kungsort als Professor, wurden ebenfalls Felix-Klein-Straßen eingerichtet.
155 Klein an Koebe (der sie von der Carl-Zeiss-Stiftung ankaufen lassen wollte), 9.12.1923
[UBG] Cod. Ms. F. Klein 10: 509B. – http://www.ma.huji.ac.il/~landau/landuniv.html
156 Prange, Georg: „Felix Klein zum Gedächtnis“. Hannoverscher Kurier, 2.8.1925.
157 [UAG] Kur. 9038, Bl. 7, 9-25.
158 Ebd., Bl. 17.
159 [BStBibl] Dyckiania, Sophie Hegel an Dyck, 27.11.1927.
160 Ebd., Elisabeth Staiger an W. Dyck, 28.12.1927; [BBF] Personalblatt; TOBIES 2008a.
482 9 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
Felix Klein dehnte Georg Cantors Maxime, die sich nur auf Mathematik bezog,2
auf die Wissenschaft insgesamt aus. Kleins Verantwortungsgefühl für die Mathe-
matik und ihre breiten Anwendungen mag wohl auch beigetragen haben, dass er
am 7. Juni 1923 in den Orden Pour Le Mérite für Wissenschaften und Künste auf-
genommen wurde, gleichzeitig mit Albert Einstein, dem Dichter Gerhart Haupt-
mann, dem Bildhauer Hugo Lederer und dem Maler Max Liebermann.3 Mit der
Weimarer Reichsverfassung vom Sommer 1919 war die Kriegsklasse dieses preu-
ßischen Ordens verboten worden. Die durch Alexander von Humboldt angeregte,
1842 eingeführte Friedensklasse avancierte in den 1920er Jahren zu einer sich
selbst ergänzenden „freien Vereinigung von hervorragenden Gelehrten und Künst-
lern“, die heute noch besteht. Vor Klein waren folgende Mathematiker Mitglied
der Friedensklasse geworden: C. F. Gauß (1842), C. G. J. Jacobi (1842), A. L.
Cauchy (1849), J. V. Poncelet (1863), K. Weierstraß (1875), Ch. Hermite (1878),
G. G. Stokes (1879), C. Neumann (1897), L. Cremona (1902), L. Sylow (1904).
Wenn es auch hervorragender Gelehrte bedurfte, um die Mathematik voranzu-
bringen, so agieren diese doch nicht isoliert, sondern immer in einem bestimmten
Rahmen mit gegebenen Bedingungen. Dass es notwendig ist, diese Bedingungen,
Umstände, mit zu erfassen, um einordnen und urteilen zu können, drückten bereits
Clebsch und Klein in ihren Statements über Wissenschaftsgeschichte aus, als sie
den Nachruf auf Plücker verfassten (vgl. Abschnitt 8.3.1).
Im Folgenden sollen zunächst die in der Einleitung (Abschnitt 1.2) formulier-
ten forschungsleitenden Aspekte noch einmal aufgegriffen werden (vgl. 10.1).
Außerdem wird zusammenfassend betrachtet, inwiefern wir Felix Klein als einen
Vorreiter bezeichnen können (10.2).
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R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2_10
484 10 Schlussbetrachtungen
Für den ersten forschungsleitenden Aspekt, wie Klein zu einem international an-
erkannten Mathematiker werden konnte, sei betont: Klein zeigte sich bereits als
23-Jähriger als Weltbürger. Er bekundete, dass Mathematik durchaus eine inter-
nationale Wissenschaft ist, und der eigene Fortschritt des producirenden Mathe-
matiker’s ohne allseitige Fühlung mit den gleichzeitigen Betrachtungen Anderer
wesentlich gehemmt ist (Anhang Nr. 2). Dabei folgte er Alfred Clebsch’ Pro-
gramm, Vereinigung von Gebieten und Personen (vgl. 2.4.1) und unterschied sich
von einseitig agierenden Mathematikern (vgl. 5.5.2.4). Klein verknüpfte die ver-
schiedensten, im internationalen Raum entwickelten mathematischen Gebiete
(Geometrie, Algebra, Funktionentheorie, Zahlentheorie) einschließlich ihrer Rän-
der (Anwendungen, Philosophie, Geschichte, Psychologie, Unterricht). Er ver-
band Personen zu Diskussionen und Projekten. Dabei formulierte er immer wieder
offene Probleme und neue Forschungsprogramme, in die er zahlreiche Mathema-
tiker/innen aus dem In- und Ausland einbezog. Er erreichte, dass sie seinen Visio-
nen folgten, oder – wie es CARATHÉODORY (1925, 2) ausdrückte – dass die Direk-
tiven, die er gegeben hatte, wirklich eingehalten wurden.
Hinsichtlich Aspekt zwei, die wichtigsten Kooperationspartner, sei zunächst
gesagt, dass Klein aufgrund seiner Arbeitsweise möglichst alle Kollegen und
Schüler auf Kooperationsfähigkeit testete. Wer in den einzelnen Phasen seines
Berufswegs bevorzugter Partner bzw. Partnerin (Emmy Noether) wurde, hing
vom konkreten Forschungsfeld, von Buch- und Editionsprojekten bzw. sonstigem
Aktionsfeld ab. Die Partner und Mitarbeiter sind in den vorangegangenen Kapi-
teln genannt worden. Die Wichtigsten davon waren Sophus Lie, Paul Gordan und
Adolf Hurwitz. Einige Merkmale, die die kooperative Arbeitsweise bedingten,
beförderten bzw. auszeichneten, seien im Folgenden unterstrichen.
Ein erstes Merkmal war Kleins offene Haltung gegenüber ausländischen Kol-
legen und deren Ergebnissen. Hierbei folgte er Plücker und Clebsch, die bereits
versucht hatten, ihren geometrischen Denkstil im Verein mit Kollegen aus ande-
ren Ländern und gegen eine in Deutschland dominierende „Berliner Schule“
durchzusetzen. Klein hob sich ab von nationalistisch orientierten deutschen Ge-
lehrten und kritisierte derartiges Auftreten (vgl. 2.5.2, 5.5.2.4). Als 20-Jähriger
fand er mit dem Norweger Sophus Lie seinen wichtigsten mathematischen Part-
ner. Dank Klein (und A. Mayer) wurde Lie in Norwegen durch einen deutschen
Mathematiker (Friedrich Engel) beim Aufschreiben seiner Ideen unterstützt. Im
Jahre 1886 erreichte Klein, dass Lie ihn auf dem Geometrie-Lehrstuhl der einzi-
gen sächsischen Universität (Leipzig) nachfolgen konnte, dies unter Protest von in
Preußen (Berlin) einflussreichen Mathematikern (vgl. 5.8.3). Kleins gelebte inter-
nationale Kooperation äußerte sich ebenfalls im Erfolg, Studierende aus Skandi-
navien, Italien, Frankreich, Großbritannien, den USA, Russland, Österreich, der
Schweiz, u.a. zu eigenen neuen Resultaten zu führen. Er selbst sprach von einer
Lust am sozialen Trieb, auf andere zu wirken (vgl. 2.8.3.4; 3.1.2; 4.2.4.2).
Zweitens waren Kleins Kooperationsbeziehungen durch ein umgängliches, di-
plomatisches, nicht nachtragendes Verhalten geprägt – ganz im Unterschied zum
10.1 Komprimierte Antworten Auf die Forschungsfragen 485
„impulsiven“ Hilbert. Beispielhaft sei erwähnt, dass Klein Hilbert aufforderte, zur
Akademie-Sitzung zu kommen. Hilbert blieb aber fern, solange dort der „reaktio-
näre“ Germanist Edward Schröder agierte4 und überließ ihm das Feld. Auch die
interdisziplinäre Redaktion der Mathematischen Annalen vermochte Hilbert nach
Kleins Tod nicht zusammenzuhalten. Klein blieb diplomatisch, auch wenn Ko-
operationspartner unangemessen (vgl. 6.3.6 z.B. zu Lie) bzw. rückwärts gewandt
agierten. Letzteres betraf Paul Gordan, den Klein neben sich nach Erlangen geholt
hatte. Klein profitierte von Gordans algebraischem Wissen (3.5; 4.2) und war mit
ihm (wie mit Lie) eine Art Symbiose eingegangen. Klein redigierte lange Zeit
deren Arbeiten. Max Noether überlieferte, dass auch Gordan schwerfällig in der
Handhabung der Feder war (3.5). Als Gordan jedoch gegen Hilberts moderne
Invariantentheorie auftrat, ermunterte Klein diesen, sich von der alten Clebsch-
Gordan-Richtung zu lösen (vgl. 6.3.7.3). Als sich Gordan 1894 (er fungierte ge-
rade als DMV-Vorsitzender) gegen die Aufnahme von Hilbert in die Redaktion
der Mathematischen Annalen wandte, wartete Klein ab und setzte es später durch.
Von einem Treffen 1894 in Wien berichtete Klein an Walther Dyck, den er für das
redaktionelle Hauptgeschäft der Annalen gewonnen hatte (vgl. 2.4.2 und 5.4.1):
G.[ordan] ist ein merkwürdiger Mann. Hat er doch mit [Max] N.[oether] allen Ernstes die
Frage diskutiert, ob man nicht dadurch eine Kürzung des Annaleninhalts herbeiführen könne,
daß man a priori gewisse Gebiete, z.B. Zahlentheorie, ausschließe! Und dabei ist Zahlentheo-
rie gerade das Feld, auf welchem nach meiner Ueberzeugung die Fortschritte der nächsten
Zeit liegen werden! Er hat wahrscheinlich eine Zeit lang sich in den Gedanken eingelebt, es
sei zweckmäßig und er sei stark genug, die Annalen auf dem Standpunct der Clebsch’schen
Schule vom Anfang der [18]70er Jahre zurückzuschrauben! So wie ich dann mit ihm in Wien
sprach und derartige Tendenzen als reactionär bezeichnete, zog er zurück.5
Klein unterließ es dennoch in der Folgezeit nicht, Sophus Lie ebenso wie Paul
Gordan besondere wissenschaftliche Anerkennung zu zollen.6
Wir können hieran eine weiteres Merkmal erkennen. Hatte Klein einen neuen
mathematischen Ansatz als richtig erkannt, so setzte er ihn durch, auch gegen
Kooperationspartner, wobei es ihm in der Regel gelang, die Freundschaft auf-
rechtzuerhalten. Dies zeichnete sein Verhältnis zu Adolf Hurwitz in besonderem
Maße aus (vgl. 4.2.4.2; 5.4.1; 6.3.3). Hurwitz war entscheidender kreativer Kopf
beim Erarbeiten der theoretischen Grundlagen für die elliptischen und die auto-
morphen Funktionen. Diesen kreativen Kopf wollte Klein bewusst nicht für die
Kärrner-Arbeit des Aufschreibens verschleißen (vgl. 5.5.7.2). Noch 1918 ver-
traute Klein auf Hurwitz’ Urteil, wenn er ihm nach Zürich schrieb:
Durch die Stiftung meiner Freunde soll es ja nun wirklich zu einem Wiederabdruck meiner
alten Arbeiten kommen. Ich bin schon einige Zeit mit der Vorbereitung beschäftigt, indem ich
die Hilfskraft, die ich gewonnen habe, Hrn Alex.[ander] Ostrowski aus Kiew, in die Materie
einführe. Wir werden den Wiederabdruck mit mehr oder minder ausführlichen Erläuterungen
4 Vgl. FREI 1985, 144 (Hilbert an Klein, 7.3.1918). – Schröder gehörte einer deutschnationalen,
antisemitisch und antifeministisch gesinnten Bewegung an; hatte schon 1909 die Promotionen
von zwei jüdischen Hilbert-Schülerinnen zu verhindern gesucht, vgl. TOBIES 1999, 2010, 92.
5 [BStBibl] Klein an Dyck, 12.8.1894.
6 Vgl. hierzu insbes. KLEIN 1921 GMA I, 384-401;1922 GMA II, 255-61, 380-84, 426-38.
486 10 Schlussbetrachtungen
begleiten. Ich will Sie schon hier bitten, dass ich Ihnen von den Abhandlungen, die Ihr Ar-
beitsgebiet berühren, Fahnen zusenden darf mit der Bitte, die Erläuterungen auf Richtigkeit
und Vollständigkeit zu prüfen.
Herzliche Grüsse von Haus zu Haus Ihr K.7
Hurwitz starb vor seinem Doktorvater und konnte nicht mehr beitragen. Beide
hatten ein gutes Einvernehmen bewahrt, obgleich Klein Hurwitz relativ schnell
hintangestellt hatte, als der impulsive rotbärtige Hilbert diesen wissenschaftlich zu
überflügeln begann (vgl. 6.3.7.3, 7.9 und Anhang Nr. 6). Kleins Handeln ent-
sprach dem Konzept, jede Ressource für die Entwicklung der Mathematik in Göt-
tingen geeignet zu nutzen (vgl. 1.2). Walther Lietzmann gewann als Kleins mehr-
jähriger Mitarbeiter bei Unterrichtsthemen den Eindruck:
Er verstand, in dem Bilde, das er sich von einem Menschen machte, das Wesentliche von dem
Äußerlichen oder für die Arbeitseignung nicht in Betracht kommenden zu trennen; er konnte
dabei über Dinge, die die Meisten je nachdem blenden oder ärgern, wie Eitelkeit, Prahlsucht,
ja Opportunismus, erst recht über politische, nationale, rassenkundliche, religiöse Verschie-
denheiten hinwegsehen. Das Geheimnis seines Erfolges lag, wie Hilbert in seinem Gedenk-
wort in der Göttinger mathematischen Gesellschaft am Tage nach Kleins Hinscheiden sagte,
in seiner unbestechlichen Sachlichkeit.8
Wenn Henri Poincaré kein Kooperationspartner wurde (anders als z.B. zahlreiche
italienische Mathematiker), sondern Konkurrent, so lag das nicht an Klein, son-
dern an von französischer Seite geschürten nationalistischen Animositäten (vgl.
5.5.3.2). Es hinderte Klein nicht, Poincarés Leistungen als herausragend zu beur-
teilen, ihn u.a. als „das französische Genie“, als „singuläre Erscheinung“ und
„modernen Cauchy“ zu bezeichnen.9 Abgestimmt mit Darboux schlug Klein Poin-
caré als ersten Preisträger für den János-Bolyai-Preis vor (vgl. 5.4.2.4); verbunden
damit konzentrierte Klein 1905/06 die Vorträge der Göttinger Mathematischen
Gesellschaft auf Poincarés Arbeiten.10 Als im Jahre 1910 in Frankreich die Idee
aufkam, Poincaré für den Nobelpreis zu nominieren, hielt sich Klein zurück, sagte
aber noch im März 1914 zu, „dem Komité beizutreten, das eine dauernde Ehrung
von Poincaré vorbereiten soll“.11
Wenn der jüngere David Hilbert (zweiter Preisträger dieses Bolyai-Preises,
ebenfalls vereinbart zwischen Klein und Darboux) nicht der Kooperationspartner
wurde, von dem sich Klein verjüngende Wirkung erhofft hatte (vgl. Abschnitt
7.9), so lag das nicht an Hilbert. Hilbert stand bis zum Schluss zu Klein, koope-
rierte mit ihm in Seminaren und bei anderen akademischen Angelegenheiten. Es
lag an Klein, der geraume Zeit gebraucht hatte, um die Wende zur neuen begriffli-
chen Mathematik mit abstrakten Methoden zu akzeptieren (vgl. 8.2.2; 8.3.2).
Klein erklärte seine Mathematik mit reichlichem Wortschatz. Orientiert am
(damaligen) französischen Beispiel (vgl. 2.6.3) wollte er, dass die dargestellten
Ergebnisse von jedem verstanden werden – nicht nur von Spezialisten. So sah er
etwa in der „Verbannung der gew.[öhnlichen] Sprache“ durch die symbolische
Logik, im „Streit um die endliche Anzahl von Worten“ (bei Russell und White-
head), eine „grosse Vereinseitigung“, die den „Gesammtzweck der Math.[ematik]
aus dem Auge verloren hat.“12 Dennoch versuchte Klein, in alle neuen Gebiete
einzudringen und auch diejenigen Richtungen zu fördern, die ihm selbst nicht
lagen (vgl. besonders Kleins Verhältnis zu Edmund Landau in 8.2.2 und 9).
Wie er Hilbert geeignet würdigen könne, fragte sich Klein beim Erarbeiten
seines Überblicks über die Mathematik im 19. Jahrhundert. Dafür studierte er An-
fang 1916 noch einmal HILBERT (1900), Zukunftsprobleme der Mathematik, vom
Pariser Kongress und notierte: Wie werde ich dieser „Probleme“ in meinem Be-
richt gedenken? Etwa als Abschluss (des Jahrhunderts)? Zum Beweis, dass die
Math.[ematik] nicht todt ist.13 Klein schrieb die Überschriften der Probleme in
abgekürzter Version auf, mit eigener Variation und kleineren Randbemerkungen:
Spiel zwischen Denken und Erfahrung. Strenge ist Einfachheit.
Jeweils klare Axiomatisierung!
1. Mächtigkeit des Kontinuums14
2. Widersprüchlichkeit der Arithmetik.
Nur postuliert. Math.[ematisch] existiert, was widerspruchslos ist.
3. Volumengleichheit zweier Tetraeder.
4. Gerade als kürzeste Verbindungslinie. Minkowskis Geometrie.
5. Liesche Gruppen ohne Differenzierbarkeit. Ueberhaupt Funktionalgleichungen.
6. Axiome der Physik. Wahrscheinlichkeitsrechnung. Mechanik.
7. Irrationalität etc. bestimmter Zahlen.15
8. Primzahlprobleme.
9. allgemeinste Reziprozitätsgesetze
10. Lösbarkeit Diophantischer Gleichungen
11. Quadrat.[ische] Formen mit alg.[ebraischen] Zahlenkoeffizienten.
12. Kroneckers Satz über Abelsche Körper beliebig ausgedehnt.
Das ist, was ich zunächst brauche! Geleistet für Wurzelfunktionen.
F.[unktionen]Th.[eoretische] Analogieen.
Das hat nun keiner von den zahlreichen Schülern begriffen. Vergl. Fueter […].16
13. Gleichungen 7. Grades nicht nomografisch zu lösen.
14. Endlichkeit von Formensystemen.
15. Schubert’s Abzählungskalkul.
16. Topologie von Kurven u. Flächen.
17. Definite Formen u. Quadrate.
18. Aufbau des Raumes aus Fundamentalbereichen.
[p. 286 Analytische Funktionen, nicht andere Funktionsklassen].17
12 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 A: Bl. 74a (Notizen Kleins von 1915, o.D.). Russell, B.; White-
head, A. N. (1910-13): Principia Mathematica, 3 vol. Cambridge: The University Press.
13 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22A: Bl. 83, 83v (Notizen Kleins v. 4.2.1916).
14 Bei den Problemen 1 bis 6 setzte Klein die Klammer: „Grundlagen“.
15 Hier setzte Klein die Bemerkung „Ausbau“ darüber.
16 Rudolf Fueter befasste sich damit in seiner Dissertation „Der Klassenkörper der quadrati-
schen Körper und die komplexe Multiplikation“ (1903, bei Hilbert) und weiteren Arbeiten.
17 Kleins Seitenzahl (p. 286) bezog sich auf die Publikation in den Göttinger Nachrichten
(HILBERT 1900). Bei Problem 18 hatte Hilbert u.a. FRICKE/KLEIN 1897 hervorgehoben.
488 10 Schlussbetrachtungen
Mit Schülern/Kollegen aus Übersee, Italien, Russland u.a. trug Klein bei, das
Band nach dem Kriege wieder zu festigen. Dazu nutzte er Briefkontakte und ini-
tiierte die Wahl zu Korrespondenten der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaf-
ten, so u.a. 1922 W. F. Osgood und David George Birkhoff; 1923 Guido Castel-
nuovo, 1924 Luigi Bianchi (vgl. 4.2.4.2; 9.3.1; Anhang Nr. 13).20
Für Klein war Maßstab, was der Mathematik, ihren Anwendungen, dem
Mathematikunterricht dient. Wenn Klein die Position von Mathematik in Gefahr
sah, führte er alle denkmöglichen Argumente (historische wie militärische) ins
Feld. Er bündelte und mobilisierte Kräfte, um ein Zurückdrängen mathematisch-
naturwissenschaftlichen Unterrichts zu verhindern, dies noch 1924, ein Jahr vor
seinem Tode (vgl. 8.3.4, 9.3.2). D.h., er passte sich nicht um jeden Preis an.
18 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 22 A: Bl. 83, 83v (Aufzeichnungen Kleins, Anfang 1916).
19 KLEIN 1923a, 15.
20 Birkhoffs Wahl managte Klein auf Vorschlag von Osgood [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 152-
153 (Osgood an Klein, 31.12.1921; 5.2 und 17.6.1922); Wahlvorschläge mit Kleins Hand-
schrift [AdW Göttingen] Pers. 20: 1088 (Castelnuovo), Pers. 20: 1105 (Bianchi).
10.2 Ein Vorreiter 489
Als im Jahre 1913 geurteilt wurde, Klein sei einer der wenigen Mathematiker, die
jetzt noch imstande sind, das ganze der Mathematik zu übersehen (vgl. Anhang
Nr. 11), so waren unter den Urteilenden nicht nur die ihm wohl gesonnenen Fried-
rich Schottky und Max Planck, sondern auch Hermann Amandus Schwarz und
Georg Frobenius, mit denen Klein zuvor manchen Streit hatte austragen müssen
(vgl. 5.8.2; 6.2.1; 6.2.2; 7.4; Anhang Nr. 4). Aus heutiger Sicht können wir wohl
Klein, Hilbert und Poincaré als die letzten Generalisten unter den Mathematikern
bezeichnen. Klein hatte die neue Generation auf den Weg bringen helfen, die in
Deutschland vor allem mit Hilbert Bahn brach. Vor dem damit verbundenen Um-
bruch in eine moderne, begrifflich axiomatische Richtung der Mathematik hatte
Klein Dinge in die Wege geleitet, die ihn in vielerlei Hinsicht als einen Vorreiter
für die Mathematik und deren Betrieb erscheinen lassen.
Kleins offener Blick auf neue mathematische Ansätze führte nahezu zwangs-
läufig dazu, dass er viele Dinge als Erster aufnahm, angriff, umsetzte. Manches
davon halten wir heute für selbstverständlich. Oftmals ist der Ursprung vergessen.
Zu den einzelnen mathematischen Begriffen, die Kleins Namen tragen, sei auf die
Einführung 1.1 verwiesen. Meist tragen die Begriffe zurecht seinen Namen. Nur
als Poincaré begann, des groupes Kleinéens et des fonctions Kleinéennes zu be-
nennen, legte Klein sein Veto ein (vgl. 5.5.5.5). Darüber hinaus sei eine nette
Kleinigkeit angemerkt: auf Klein geht der Begriff isomorph zurück, wie einem
Brief von Lie an Klein zu entnehmen ist (vgl. Abschnitt 5.5.6).
Klein erhielt deutschlandweit als Erster eine Universitätsprofessur, die nur
der Geometrie gewidmet war: 1880 an der Universität Leipzig.21 Bis zu diesem
Zeitpunkt hatte er, ausgehend von Clebsch, bereits maßgeblich begonnen, Rie-
manns geometrisches Programm ins Zentrum zu rücken. Hilbert hatte Klein 1909
zugerufen: Riemann war der Name, der auf Ihrer Fahne stand und unter diesem
Zeichen haben Sie auf der ganzen Linie gesiegt – gesiegt über die Gegner wegen
der Richtigkeit Ihrer Ideen (vgl. Anhang Nr. 8), oder wie es Courant ausdrückte:
Klein war der leidenschaftlichste und erfolgreichste Apostel des Riemannschen
Geistes.22 Klein verhalf dem von Riemann ausgehenden geometrisch-physikali-
schen Denkstil zum Durchbruch (vgl. Koenigsbergers Aussage in Abschnitt 1.2).
Zuvor hatte Klein mit einem (anschaulichen) Gruppenbegriff (vgl. 2.6.1;
2.8.2) ein Werkzeug zum Ordnen gefunden. Er systematisierte mit dem Gruppen-
begriff nicht nur geometrische Richtungen, sondern klassifizierte und verwob
damit weitere mathematische Gebiete (vgl. 4.2) sowie Mechanik und Relativi-
tätstheorie (vgl. 9.2.2). Kleins Erlanger Programm (vgl. 3.1.1), in dem geometri-
sche Richtungen als Invariantentheorie gegenüber einer vorgegebenen Gruppe
matik hinaus) als auch neue Lehrformen zu benennen. So richtete Klein 1892
erstmals mathematische Fortbildungskurse (Ferienkurse) für bereits in der Praxis
stehende Gymnasiallehrer ein (vgl. 7.3). Diese wurden im zweijährigen Rhythmus
veranstaltet. Darüber hinaus ist es ihm ebenfalls zu danken, dass der erste derar-
tige Fortbildungskurs für Oberlehrerinnen durchgeführt wurde, im Jahre 1909 in
Göttingen (vgl. 8.3.4.2). Dies beruhte auf der Mädchenschulreform (preußischer
Erlass vom 18.8.1908), die Klein maßgeblich in Gang gebracht hatte. Damit war
erstmals wissenschaftlicher Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften in
die Lehrpläne der öffentlichen höheren Mädchenschulen gelangt.
Wir wussten seit längerer Zeit, dass das erstmalige Erteilen einer venia le-
gendi für Didaktik der mathematischen Wissenschaften (1912) auf Kleins Enga-
gement beruhte (vgl. 8.3.4.2). Bereits zuvor hatte Klein veranlasst, dass das erste
Lehrbuch zur Didaktik der Mathematik bei B.G. Teubner im Jahre 1910 publiziert
wurde, wie er überhaupt das dortige Verlagsprogramm in Mathematik und ihren
Anwendungen, einschließlich Unterricht, lange Zeit maßgeblich prägte. Zu Kleins
Beraterposition bei Teubner gehörte, dass er um 1900 ein gewisses System in das
dort verlegte mathematische Zeitschriften-Programm brachte – wobei er Mathe-
matik, Anwendungen, Geschichte, Lehrerinteressen beachtete; auch die heutigen
Mitteilungen der DMV gehen darauf zurück (vgl. Abschnitt 5.6 mit Abb. 25).
Unbekannt war bisher, dass Klein seit 1906 darauf zielte und 1908 erreichte,
dass die venia legendi für Mathematik, namentlich Geschichte der Mathematik
erstmals in Göttingen vergeben wurde. Das erhellte der Blick in die Habilitations-
akte des betreffenden Kandidaten (Conrad Heinrich Müller), dessen Habilitati-
onsleistung eng mit dem Teubner-Programm verknüpft war (vgl. 8.3.1).29
Höchst überraschend ergaben die Akten auch, dass es Klein bereits als sinn-
voll erachtete, spezifische mathematische Lehrveranstaltungen für Lehramtstudie-
rende bzw. angehende Forscher/innen durchzuführen (vgl. 9.3.2). Zudem schlug
er am Beginn der Weimarer Republik vor, Professuren für Didaktik aller exakten
Fächer, für allgemeine Pädagogik und für Hochschulpädagogik zu etablieren.
Schon zuvor hatte er mit Blick auf internationale Kontakte dezidiert empfohlen,
an den Universitäten Lehrstühle für neuere Sprachen einzurichten. Außerdem trat
er offensichtlich als einziger Mathematiker der 1913 gegründeten Deutschen Ge-
sellschaft zum Studium Rußlands als Mitglied bei (vgl. 9.3.1).
Klein sorgte als einer der ersten Mathematik-Professoren im Interesse der Stu-
dierenden für kollegiale Abstimmung im Lehrangebot, erarbeitete Ratschläge für
die Studierenden (vgl. 5.7.1; 6.2.3). Er führte mit anderen Lehrenden (Privatdo-
zenten bzw. Professoren) gemeinsame Forschungsseminare durch, wozu er die
meisten jüngeren Kollegen (mit wenigen Ausnahmen) gewinnen konnte.30 Das
Mathematische Kolloquium als Diskussionsforum über neue Ergebnisse an den
mathematischen Instituten/Fachbereichen können wir ebenfalls auf Klein zurück-
29 Dies erfahren wir nicht aus dem Standardwerk DAUBEN/SCRIBA 2002, 493.
30 Zu den Ausnahmen (Otto Hölder, Hans Lorenz) vgl. 6.2.2; 8.1.2. – Zu Seminaren mit Hilbert
und Minkowski u.a. vgl. 5.5.4.4; zu interdisziplinären Seminaren in angewandter Mathematik
8.2.4.
10.2 Ein Vorreiter 493
Nr. 1) Brief Felix Kleins an den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medici-
nal-Angelegenheiten, Herrn Heinrich von Muehler.1
Duesseldorf, 19.12.1870
Ew. Excellenz,
hatte ich mir erlaubt in einem Gesuche vom 7ten Maerz dieses Jahres um di-
plomatische Empfehlungen nach Frankreich und England zu bitten, behufs einer
von mir zu unternehmenden wissenschaftlichen Reise, gleichzeitig hatte ich mich
erboten, bei meiner ev. Rückkehr Referate über die dortigen mathematischen Ver-
hältnisse einzureichen. Auf dieses Gesuch hatte ich das Glück unter U 7737, den
26ten Maerz, von Ew. Excellenz die Antwort zu erhalten, daß mir die betreffen-
den diplomatischen Empfehlungen bewilligt seien, und Ew. Excellenz die Mit-
theilungen über französische und englische Mathematik seiner Zeit gern entgegen
nehmen würden.
Leider hat, unter den obwaltenden Zeitverhältnissen meine Reise nicht in der
Art ausgeführt werden können, wie ich das beabsichtigte. Mein Aufenthalt in Pa-
ris – wohin ich mich mit dem 19ten April begeben hatte – wurde durch die Kriegs-
erklärung vom 16ten Juli plötzlich unterbrochen. Ich eilte nach Hause (Duessel-
dorf) und trat, da ich von der betreffenden Behörde als augenblicklich zum Mili-
tärdienste nicht brauchbar gefunden wurde, einem inzwischen in Bonn gegründe-
ten Verein zur freiwilligen Krankenpflege bei. Als Mitglied dieses Vereins habe
ich die Zeit vom 16ten August bis zum 2ten October, wo ich wegen Unwohlsein’s
nach Hause zurückkehren mußte, auf dem Kriegsschauplatze zugebracht.
Seit kurzem ziemlich wieder hergestellt, mochte ich wegen des Zeitverlustes,
den ich gehabt, nicht noch die in Wegfall gekommene Reise nach England durch-
führen; vielmehr habe ich mich bereits zur Habilitation als Privatdocent der Ma-
thematik in Goettingen gemeldet und denke mit Neujahr dorthin überzusiedeln.
Ist es mir hiernach nicht möglich, in der Art, wie das meine Absicht war, Re-
ferate über die französischen und englischen mathematischen Verhältnisse zu ge-
ben, so möchte ich wenigstens zum Zeichen, daß ich während meines Pariser
Aufenthaltes in der angegebenen Richtung gearbeitet habe, diesem Schreiben ei-
nen kurzen Bericht über französische mathematische Zustände in Abschrift beige-
ben, der, von mir redigirt, durch mich und einen meiner Studienfreunde, Dr. Lie
aus Christiania, mit dem zusammen ich in Paris lebte, an den akademischen ma-
thematischen Verein der Universität Berlin am 7ten Juli abgesandt wurde.
Gleichzeitig erlaube ich mir eine Arbeit „Sur une certaine famille de courbes
et de surfaces“ beizulegen, die mir mit meinem Freunde Lie gemeinsam ist, und
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496 Anhang: Auswahl von Dokumenten
die wir in zwei Abtheilungen, am 6ten und 13ten Juni, der Académie des Sciences
einreichten, in deren Comptes Rendus von dem genannten Datum sie Aufnahme
fand. Indem wir diesen Weg der Veröffentlichung wählten, durften wir hoffen,
eine nähere Einsicht in die dortigen Verhältnisse und eine persönliche Bekannt-
schaft mit einer größeren Zahl dortiger Mathematiker zu erreichen, was uns dann
auch geglückt ist.
Schließlich sei mir noch gestattet, beizufügen, daß wir eine aus derselben Zeit
stammende ebenfalls gemeinsame Arbeit „Ueber die Haupttangenten-Curven der
Kummer’schen Fläche vierten Grades mit 16 Knotenpunkten“, deren Resultate
wir kürzlich Herrn Professor Kummer privatim mitgetheilt hatten, auf dessen
Wunsch der Akademie der Wissenschaften in Berlin eingereicht haben, in deren
Monatsberichten sie unter dem Datum des 15ten December erscheinen wird. –
Indem ich Ew. Excellenz meinen tiefsten Dank für die freundliche Aufnahme
meines anfänglichen Gesuches ausspreche und um ferneres geneigtes Wohlwollen
bitte verharre ich Ew. Excellenz hochachtungsvoll ergebenster Dr. Felix Klein.
Nr. 2) Antrag Felix Kleins an den akademischen Senat der Universität Erlangen,
betr. Bewilligung einer Summe zur Ausstattung der mathematischen Abtheilung
der Universitäts-Bibliothek, 15.11.18722
2 [UA Erlangen] Ph. Th. I Pos. 20 V Nr. 8. – Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.3 im Buch.
Anhang: Auswahl von Dokumenten 497
Nr. 3) Wahlvorschlag für Dr. Felix Klein, o. Professor der Mathematik an der TH
München zum außerordentlichen Mitgliede der mathematisch-physikalischen
Classe der Kgl. Akademie der Wissenschaften, 7.6.1879.4
4 [AdW München] 18791. – Die Kgl. Bayerische Akademie der Wissenschaften bestand seit
1759. Klein wurde am 25.6.1879 in der Math.-physikal. Classe mit 15 weißen (von 15) und in
der allgemeinen Sitzung mit 29 weißen (von 34) gewählt [Protokoll der Wahlsitzungen]. Mit
Kleins Wechsel nach Leipzig wurde aus der außerordentlichen eine korrespondierende Mit-
gliedschaft. – Vgl. zu Kleins Wahl das Urteil von Paul Gordan, Zitat im Abschnitt 4.4.
500 Anhang: Auswahl von Dokumenten
5 Bericht in [UAG] Phil. Fak. 170a, Nr. 41ss-41tt und in Kleins Personalakte [UAG] Kur. 5956,
Bl. 1-8. – Vgl. hierzu Abschnitt 5.8.2 im Buch.
Anhang: Auswahl von Dokumenten 501
Als solchen schlagen wir in erster Linie vor den Dr. Felix Klein, ordentlicher
Professor der Geometrie in Leipzig, geboren 1849. Derselbe hat seine mathemati-
schen Studien in Bonn begonnen und hat sich nachdem er daselbst promovirt war,
zu ihrer Vollendung in Göttingen und Berlin während mehrere Semester aufge-
halten. Er habilitirte sich im Jahre 1871 in Göttingen, wurde aber schon im fol-
genden Jahr als ordentlicher Professor nach Erlangen berufen; 1875 ging er an die
technische Hochschule in München, 1880 nach Leipzig. Schon seine ersten Ar-
beiten, welche sich in den von Plücker und Cayley angebahnten Richtungen geo-
metrischer Forschung bewegten, ließen die hervorragende Begabung des Verfas-
sers erkennen. Sie zeichneten sich ebenso aus durch den Reichthum der geometri-
schen Anschauung, wie durch die Weite des wissenschaftlichen Blickes und lie-
ßen erwarten, daß der Verfasser in der weiteren Entwicklung seiner wissenschaft-
lichen Laufbahn sich nicht auf das engere Gebiet der rein geometrischen Unter-
suchungen beschränken, sondern gestützt auf die Hülfsmittel der Geometrie auch
anderen Problemen der Mathematik sich zuwenden werde. In der That wurde er
durch eine allgemeinere Betrachtung der verschiedenen Methoden geometrischer
Forschung zunächst auf die Theorie der Transformationsgruppen geführt. Diese
hat den Mittelpunkt seiner weiteren wissenschaftlichen Thätigkeit gebildet, und er
hat sich seitdem durch zahlreiche und umfangreiche Untersuchungen, welche
Zeugnis ablegen von der Vielseitigkeit seines Geistes, einen allgemein geachteten
Namen in der wissenschaftlichen Welt errungen.
Klein ist ein ausgezeichneter Lehrer, dessen Persönlichkeit seine Schüler mit
aufrichtiger Verehrung erfüllt; er versteht es in hervorragendem Maße seine Zuhö-
rer für die mathematische Forschung zu begeistern und zur Ausführung selbststän-
diger wissenschaftlicher Untersuchungen anzuregen. Er entfaltet außerdem eine
sehr ersprießliche Thätigkeit als Herausgeber der Leipziger mathematischen An-
nalen und ist nach all den berührten Richtungen hin als eine unermüdliche Ar-
beitskraft anerkannt. Wir würden es daher mit ganz besonderer Freude begrüßen,
wenn es gelänge, den ausgezeichneten Gelehrten für unsere Hochschule zu gewin-
nen und wir haben sicheren Grund zu den Annahme, daß er selbst aus persön-
lichen Ursachen wohl geneigt ist, Leipzig mit Göttingen zu vertauschen.
Sollte es aber nicht gelingen, Herrn Klein für unsere Hochschule zu gewin-
nen, so beehren wir uns folgende Herren Euer Excellenz secundo loco et pari
passu gehorsamst vorzuschlagen:
Dr. Aurel Voss, geboren 1845, gegenwärtig Professor in Dresden, zu Ostern
dieses Jahres nach München an die technische Hochschule München berufen und
Dr. Alfred Enneper, geboren 1830, außerord. Professor an unserer Universität.
Dabei sind wir uns bewußt, daß Professor Enneper der Richtung seiner wis-
senschaftlichen Thätigkeit nach den im Eingange dieses Berichts hervorgehobe-
nen Gesichtspunkten, weniger entspricht. Allein, wenn es nicht gelingt, den erle-
digten Lehrstuhl durch einen Geometer von der Bedeutung des Professors F.
Klein zu besetzen, so kommen nach unserer Ueberzeugung den früheren Erwä-
gungen gegenüber die treuen Dienste in Betracht, welche Professor Enneper der
Wissenschaft und unserer Universität eine lange Reihe von Jahren hindurch ge-
leistet hat. […weiter zu Voss und Ennepers Leistungen, R. To]
502 Anhang: Auswahl von Dokumenten
Sollten sich der Berufung der Herren Klein, Voss oder Enneper unvorhergese-
hene Hindernisse in den Weg stellen, so bitten wir Ew. Excellenz gehorsamst der
Fakultät zu neuen Vorschlägen Gelegenheit geben zu wollen.
Die philosophische Facultät. Der Dekan. (gez.) W. Müller
Daß derselbe während der letzten Zeit seiner Anstellung bei der Berliner Uni-
versität nichts veröffentlicht hat, beruht wesentlich auf dem Umstande, daß die
dortigen Verhältnisse ihm bisher eine außerordentlich große […] Lehrthätigkeit
auferlegten. Seine genaue Bekanntschaft mit den höchsten Theilen der verschie-
denen mathematischen Gebiete verbürgt aber noch sehr werthvolle literarische
Leistungen. Die von ihm behandelten Gebiete würden vollkommen die von Herrn
Professor Stern vertreten gewesenen Disciplinen decken.
(gez.) Schering.
Votum des Prof. H. A. Schwarz bezüglich der Berufung eines Nachfolgers des
Herrn Prof. Stern7
Göttingen, den 25ten Januar 1885.
Ew. Excellenz
bitte ich um Erlaubniß, meine in einigen Punkten von der Mehrheit meiner
Herren Collegen abweichenden und in Hinsicht auf wesentliche Gesichtspunkte
mit dem Gutachten meines nächsten Herren Fachkollegen, Prof. Schering, über-
einstimmende Überzeugung bezüglich der bei der Besetzung einer dritten ordent-
lichen Professur für Mathematik in unserer Facultät in Betracht kommenden Per-
sonenfrage gehorsamst darlegen zu dürfen.
Ein von seinen Fachgenossen nicht hoch genug anzuerkennendes Verdienst
des jetzt in den Ruhestand übergetretenen Herrn Prof. Stern besteht darin, daß
derselbe seinem ganzen Universitätsunterrichte nicht allein für die Bedürfnisse
der in höhern Semestern befindlichen Studirenden der Mathematik, sondern auch
für die Bedürfnisse der Anfänger, solange seine Kräfte es gestatteten, mit uner-
müdlicher Hingebung und mit nachhaltigem Erfolge Sorge getragen hat.
Daß die Studirenden der mathematischen Wissenschaft an unserer Universität
in den letzten Jahrzehnten stets Gelegenheit hatten, die, unumgängliche[n] Grund-
lagen fast aller höheren mathematischen Studien bildenden Disciplinen (Algebra,
Differential- und Integralrechnung, sowie elementare Mechanik) durch die Vorle-
sungen eines ausgezeichneten Lehrers und durch die von demselben geleiteten
Seminar-Übungen kennen zu lernen, diesem Verdienste des Herrn Prof. Stern ist
es zum großen Theile zuzuschreiben, daß an unserer Universität die mathemati-
schen Studien zu einer solchen Blüte gelangen konnten.
Wenn andere Gelehrte ihren mathematischen Vorlesungen der Pflege speziel-
ler Disciplinen sich widmen konnten und eine größere Zahl wohlvorbereitete Zu-
hörer fanden, so ist dies unzweifelhaft nur dadurch ermöglicht worden, daß für die
in erster Linie in Betracht kommenden nothwendigsten Bedürfnisse des mathe-
matischen Unterrichts durch Herrn Prof. Stern in bester Weise gesorgt war. Dieser
Gesichtspunkt ausreichender Fürsorge für die in erster Linie nothwendigsten Be-
dürfnisse des mathematischen Unterrichts ist auch in Zukunft für die Heranbil-
dung tüchtiger Gymnasiallehrer von außerordentlicher Wichtigkeit.
Die Blüthe der mathematischen Studien an unserer Universität aufrecht zu er-
halten wird nach meiner Überzeugung zweifellos nur dann gelingen, wenn bei der
Auswahl des als Nachfolger des Herrn Prof. Stern zu berufenden Gelehrten an der
Forderung festgehalten wird, daß derselbe nicht allein eine unbestritten hervorra-
gende Lehrbefähigung besitzen, sondern auch die Gewähr bieten müsse, daß er in
Gemeinschaft mit den gegenwärtigen Vertretern der Mathematik in unserer Fa-
cultät auch für die Bedürfnisse der Anfänger ausreichend sorgen werde.
Durch keinen der beiden gegenwärtig der Facultät ange[hören]den ordentli-
chen Professoren der Mathematik wird das Fach der Algebra vertreten; dieses für
die Heranbildung der künftigen Gymnasiallehrer so außerordentlich wichtige Fach
gehört auch nicht zu den Disciplinen, als deren fachlicher Vertreter der der Facul-
tät gegenwärtig angehörende außerordentliche Professor der Mathematik ange-
sehen werden kann.
Nach der übereinstimmenden Ueberzeugung des Herrn Professor Schering
und des Unterzeichneten ist es im Interesse einer möglichst vollständigen Vertre-
tung der mathematischen Disciplinen an unserer Universität sehr wünschenswert,
daß der Nachfolger des Herrn Prof. Stern – selb[st]verständlich, ohne sonst in sei-
ner Lehrthätigkeit irgendwie eingeschränkt zu sein – die Vertretung der Algebra
in ihrem ganzen Umfange übernehmen kann.
Als einen solchen Gelehrten glaubte der Unterzeichnete in Uebereinstimmung
mit Herrn Prof. Schering Herrn Dr. Georg Hettner, geboren 1854, gegenwärtig
außerordentlicher Professor an der Universität Berlin, Ew Excellenz gehorsamst
bezeichnen zu dürfen.
Herr Prof. Hettner hat seine algebraischen Studien unter Leitung des hervorra-
gensten Forschers auf dem Gebiete der Algebra unter allen jetzt lebenden Mathe-
matikern, des Herrn Kronecker in Berlin gemacht, außerdem ist Herr Prof. Hettner
einer der talentvollsten Schüler der Herren Kummer und Weierstrass in Berlin.
Bezüglich des Lobes des Herrn Prof. Hettner schließe ich mich sowohl hinsicht-
lich der Würdigung seiner wissenschaftlichen Arbeiten, als auch hinsichtlich sei-
nes eminenten Lehrtalentes den Ausführungen des Herrn Prof. Schering in seinem
Votum in allen Punkten an.
In Hinsicht auf die von der Mehrheit der Facultät Ew. Excellenz unterbreite-
ten Vorschläge betreffend die Berufung eines Nachfolgers des Herrn Prof. Stern
kann ich den die Professoren Felix Klein und Aurel Voss betreffenden Vorschlä-
gen nicht entgegentreten. Wenn die Berufung des Herrn Prof. Klein gelingt, so
wird damit eine hervorragende Lehrkraft und ein bedeutender Gelehrter für unsere
Universität und für unser preußisches Vaterland gewonnen. Analoges gilt bezüg-
lich des Herrn Prof. Voss.
Zu meinem lebhaften Bedauern kann ich aber dem Vorschlage gegenüber,
Herrn Prof. Enneper zum ordentlichen Professor und zum Nachfolger des Herrn
Prof. Stern zu befördern, aus den dargelegten sachlichen Gründen dieselbe Stel-
lung nicht einnehmen.
Ew. Excellenz gehorsamster
(gez.) H. A. Schwarz
Anhang: Auswahl von Dokumenten 505
Nr. 5) Zur wissenschaftlichen Polemik zwischen Felix Klein und Lazarus Fuchs.
Aus einem Briefentwurf Felix Kleins an Wilhelm Foerster, 15.1.18928
[…] Hier nur noch einige Ausführungen über meine Beziehungen zu Fuchs. Ich
schicke vor allem unter Kreuzband beifolgend die autographirte Ausarbeitung
einer Vorlesung, die ich im Sommer 91 gehalten habe. Sie finden da auf p. 66-89
eine Darstellung der historischen Entwicklung jener Untersuchungen, die nun vor
10 Jahren die Polemik zwischen Fuchs und mir hervorrief, und wenn diese Dar-
stellung zunächst selbstverst.[ändlich] für meine Zuhörer bestimmt ist, so wird
dieselbe wie ich hoffe doch auch dem Fernerstehenden lesbar sein. Ich meine die
Darstellung, bei der ich genau meine frühere Auffassung festhalte, solle den Ein-
druck von schwerster Aufrichtigkeit hervorrufen. Sie werden dem Hefte ferner
entnehmen, dass ich wieder energisch gerade über diese Fragen arbeite und daran
bin, die letzten Vorbereitungen für eine endgültige Darstellung des ganzen Ge-
bietes zu treffen. ((Sie werden beiläufig aus demselben ersehen, wie ich die Auf-
gabe des Geometers verstehe, nämlich dahin gehend, dass er das Gesammtgebiet
der Mathematik (und ich darf hinzufügen: ihrer Anwendungen) von der geome-
tr.[ischen] Anschauung aus zu verstehen hat.))9
Ich muss nun ferner aussprechen, dass es auch in den letzten Jahren zweimal
indirecte Conflicte zwischen Fuchs und mir gegeben hat […]:
1) Fuchs publiciert eine Theorie, die sich als schlechtweg falsch herausstellt.10
2) ein jüngerer Mathematiker bemerkt das, wendet sich zunächst an Fuchs selbst
und findet bei diesem nicht dasjenige Verständnis, welches er erhofft hatte.11
3) Darauf sendet er mir für die Gött. Nachrichten oder die Math. Annalen eine
Darstellung des Sachverhaltes ein, die ich, wenn sie richtig ist, zur Publication
bringe, nachdem ich übrigens gegebenenfalls die Ausdrucksweise geglättet habe.
8 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 1 C: 2. – Vgl. hierzu die Abschnitte 5.5.5 und 6.5.1.1 im Buch.
9 Klein strich den in Doppelklammer gesetzten Satz wieder. Der Satz könnte andeuten, dass er
seine Auffassung als Geometer durchaus gern in der Hauptstadt durchgesetzt hätte.
10 Fuchs, L.: „Über diejenigen algebraischen Gebilde, welche eine Involution zulassen“ (Sit-
zungsberichte Berliner Akademie, Juli 1886). – Hurwitz hatte Klein informiert: „Ich habe
neuerdings gefunden, dass man alle diese Curven durch Gleichungen f (s2, z) = 0 darstellen
kann, woraus unmittelbar folgt, dass dieselben keineswegs durch die hyperelliptischen Cur-
ven erschöpft werden, wie das neuerdings von anderer Seite (Berichte d. Berliner Akademie
etc.) behauptet worden ist.“ [UBG] Cod. Ms. F. Klein 9: 1034 (28.12.1886).
11 Hurwitz hatte Fuchs seine Korrektur des Fehlers geschickt und schrieb Klein: „Fuchs hat
noch nicht geantwortet. Wissen Sie auch, dass die Jubel-Arbeit in Bd. 100 des Crelle’schen
Journal’s auf dem falschen Satz aufgebaut ist und damit vollständig in sich zusammenbricht?
Es ist ja ein fabelhaftes Pech, welches F. trifft. Aber bei allem Mitleid, liegt mir doch auch
der Gedanke nicht fern, dass es eine gerechte Strafe für Fuchs ist. Warum liest er unsere Ar-
beiten nicht?! Hätte er mit einiger Aufmerksamkeit die vielen Aufsätze über Modularcor-
respondenzen oder meine Correspondenznote (welche ich ihm der Zeit zugeschickt habe) nur
durchblättert – dieser entsetzliche Lapsus hätte ihm nicht passiren können.“ [UBG] Cod. Ms.
F. Klein 9: 1037 (3.1.1887). – Schwarz erklärte Weierstraß den Fehler von Fuchs in einem
Brief v. 9.1.1887 (CONFALONIERI o. J., 311-19) und unterstützte Hurwitz’ Publikation in den
Göttinger Nachrichten.
506 Anhang: Auswahl von Dokumenten
So war es mit Hurwitz 188712, so ist es eben nun mit den russischen Mathe-
matikern Nekrassoff und Anissimoff.
Um nur von Letzeren zu reden: Die falschen Entwicklungen, welche Fuchs
ursprünglich in Crelle 75 gegeben hatte, wurden von ihm auf den Vorhalt von
Anissimoff in Crelle 106 durch andere ersetzt, die wieder unrichtig war, und zwar
in einer Form, durch welche A.[nissimoff] sich auch persönlich nicht befriedigt
fühlt. Hierauf gibt Nekrassoff in Annalen 38 die richtige Theorie,13 irrt sich dabei
aber allerdings in einem Nebenpuncte, nämlich da, wo er den inneren Grund des
von Fuchs in Bd. 106 begangenen Fehlers aufdecken will. Letzteres bemerkt
Fuchs und antwortet in Bd. 108 mit einer groben Replik, in der er die Theorie von
Bd. 106 rückhaltlos aufrecht erhält! Hierauf leidenschaftliche Zusendungen von
Nekr. und A. an mich, die ich nun eben in den Weihnachtsferien in ruhige Form
gebracht habe und demnächst in den Annalen veröffentlichen werde.14
Ein jedes solches Vorkommnis dient natürlich dazu, den blinden Hass [geän-
dert in: das Gefühl der Abneigung], mit dem Fuchs auf mich geworfen hat, auf’s
Neue zu steigern. Das geht so weit, dass darüber die Gebote des Anstands ausser
Acht gesetzt werden. Mein Schüler, Hr. Dr. Fricke, der in den letzten Jahren in
Berlin lebte (und den ich persönlich u. mathematisch ausserordentlich hoch halte),
weiß davon zu erzählen. Vor Jahresfrist übersandte er Fuchs den 1ten Band meiner
von Fricke bearbeiteten ellipt.[ischen] Modulfunctionen (in denen gar keine Po-
lemik enthalten ist) mit der Bitte um persönliche Bezugnahme: er erhielt gar keine
Antwort. Eben damals wandte sich Fr.[icke] an Kronecker (dem er wissensch.[aft-
lich] sehr nahe getreten war) mit der Frage, wie sich Kr.[onecker] einem von
Fricke bei der Berliner Facultät einzureichenden Habilitationsgesuch gegenüber
stellen werde. Kr. antwortete rundweg, dass er nicht in der Lage sei, ein Gesuch
zu unterstützen, über welches noch erst die Facultät zu befinden haben werde.
Nehmen Sie dies Alles zusammen, so beantwortet sich die Frage, wie sich das
Verhältnis zwischen F.[uchs] und mir bei etwaiger näherer Collegenschaft gestal-
ten würde von selbst. Ich würde gewiss nicht provocirend auftreten sondern mög-
lichst alle aeusseren Conflicte vermeiden. Aber auf meinen Arbeitsplan kann ich
ebenso wenig verzichten wie darauf, dass ich drucke, was ich für richtig halte.
Niemand kann verlangen, dass ich einer Berliner Prof.[essur] zu Liebe meine
ganze Vergangenheit verleugne. (Und schon die blosse Thatsache meiner etwai-
gen Berufung nach Berlin wird Fuchs als eine ihm angethane schwere Beleidi-
gung empfinden. Mich persönlich schreckt diese Perspective eigentlich wenig
(meine Bedenken, die ich an A.[lthoff] schrieb, gehen nach ganz anderer Rich-
tung), aber ich weiß nicht, wie sich die Sache von einem allgemeineren Stand-
puncte aus darstellt, und ob Sie es verantworten wollen, zur Herbeiführung so
unerquicklicher Verhältnisse die Hand geboten zu haben.[…]
6.1 Auszug aus einem Brief Felix Kleins an Adolf Hurwitz, 28.2.189215
[…] Althoff ist drei Tage hier gewesen und hat die Berliner Neuberufungen zum
Abschlusse gebracht. Neben Frobenius kommt Schwarz hin, und zwar schon zum
1. April. – Ich selbst bin, wenn ich Das hier aussprechen darf, mit der Wendung
der Dinge durchaus zufrieden. Denn ich bin mit einer gewissen Auszeichnung
behandelt worden und gewinne ja an Bewegungsfreiheit. –
Aber um bei der Sache zu bleiben: nun wird Schwarz’ Stelle hier in Göttingen
besetzt werden müssen und zwar soll das schon in nächster Zeit geschehen. Ich
weiß auch genau, welche Vorschläge ich der Facultät machen will (Wobei Sie
natürlich nicht vergessen dürfen, dass ich nicht die Facultät bin; ich will mir sogar
ausdrücklich alle Freiheit vorbehalten, im Laufe der demnächstigen Verhandlun-
gen meine jetzige Ideen möglicherweise zu modifciren): Sie werden es ungefähr
rathen, dass ich Sie und Hilbert vorschlagen will, als die beiden Einzigen, die im
Stande sind, mit mir zusammen Berlin gegenüber unserem Platze wissenschaftli-
ches Ansehen zu sichern, ohne schon in ein Alter getreten zu sein, welches die
fernere wissenschaftliche Entwicklung in der Hauptsache ausschliesst.
Und nun die grosse Schwierigkeit, die mir viele Ueberlegung gekostet hat, bis
ich mich entschloss Ihnen selbst darüber zu schreiben. Selbstverständlich werde
ich Sie zuerst nennen und Hilbert hinter Ihnen. Aber es sind eine Reihe Bedenken,
was Ihre Berufung angeht, und es ist die Frage, wie weit ich diesen Bedenken
Ausdruck geben und vielleicht geradezu aussprechen soll, dass Hilbert’s Hierher-
kommen schliesslich unseren Bedürfnissen doch noch in höherem Maasse ent-
sprechen würde.16 Da ist erstens Ihre Kränklichkeit, deren Bedeutung ich ja nicht
überschätzen will aber doch auch nicht ganz ignoriren darf. Da ist zweitens der
viel feinere Grund, dass Sie mir nicht nur persönlich sondern auch nach der Art
Ihrer mathematischen Denkweise viel näher stehen als Hilbert, so dass mit Ihrem
Hierherkommen unsere Göttinger Mathematik vielleicht zu einseitigen Charakter
erhalten würde. Da ist drittens – ich muß es berühren, so widerlich mir die Sache
ist und so sehr ich Ihre berechtigte Empfindlichkeit in dieser Hinsicht kenne – die
Judenfrage. Nicht dass Ihre Berufung als solche Schwierigkeiten machte, die wür-
de ich überwinden können. Aber wir haben bereits Schönflies, dem ich immer
eine feste Stellung hierorts zuwenden möchte (besoldetes Extraordinariat). Und
das setze ich weder in der Facultät noch beim Minister durch, dass Sie und Schön-
flies nebeneinander angestellt werden!
Doch ich komme zum Schlusse. Die Entscheidung zwischen Ihnen und Hil-
bert ist mir, wenn ich rein objectiv die Gründe für und wider abwägen soll, schwer
genug. Aber nun die subjective Schwierigkeit, dass ich Sie am allerwenigsten bei
jetziger Gelegenheit kränken möchte, vielmehr Alles thun möchte, um Ihnen be-
hülflich zu sein. Schreiben Sie mir bitte umgehend eine Zeile, wenn es sein kann
der Beruhigung; jedenfalls aber sprechen Sie sich ebenso rückhaltlos gegen mich
aus, wie ich es hier gethan habe. Am Donnerstag soll die Facultätssitzung sein; bis
dahin kann ich ja wohl Ihre Antwort haben! Wie immer sich diese Sache wenden
wird, versprechen Sie mir, dass unsere persönliche Beziehung darunter nicht lei-
den soll.
Mit herzlichen Grüssen verbleibe ich
Ihr
Felix Klein
19 Hier folgte ein lobendes Urteil über Lindemann, weil sich dieser darüber beschwert hatte,
dass Klein die jüngeren Hurwitz und Hilbert bevorzuge.
20 Anschließend urteilte Klein über Hilbert und Schottky (Zürich). Dabei setzte er Schottky nur
desshalb hier hinterher, weil die beiden Anderen (Hurwitz, Hilbert) ihm an Vielseitigkeit vor-
anstehen. – In einem weiteren Brief erklärte Klein Althoff noch, dass die Fakultät Frobenius
für nicht erreichbar hielt und betonte: Ich persönlich würde allerdings Hilbert dem Prof.
Schottky, der eine etwas schwerfällige Art besitzt, vorgezogen haben, um so mehr als ich von
Hilbert noch Ausserordentliches in Zukunft erwarte, ich konnte die Facultät aber nicht
bestimmen, den jungen Privatdocenten auf gleiche Linie mit den älteren Vertretern des Fa-
ches zu setzen. Der Name Weber ist erst später auf unsere Liste gekommen, als der Hr. Cu-
rator uns auf die Nothwendigkeit aufmerksam machte, drei Namen zu nennen. Ich habe nicht
verheimlicht und im Facultätsbericht tritt das wohl auch unverkennbar hervor, dass ich
betreffs Weber bestimmte Bedenken habe. […] dass Weber mir wie allen Anderen unter per-
sönlichen Gesichtspuncten besonders willkommen wäre, brauche ich kaum auszusprechen.
Aber gemeint habe ich bei dem Facultätsbericht und die grosse Majorität mit mir: Hurwitz.
[UBG] Cod. Ms. F. Klein 1C: 2, Bl. 29, 29v (Brief v. 21.3.1892).
510 Anhang: Auswahl von Dokumenten
22 Damit bereitete Klein sein wiederholtes Engagement für Arthur Schönflies vor.
512 Anhang: Auswahl von Dokumenten
24 [UBG] Cod. Ms. Hilbert 575: Nr. 1. Redemanuskript zum 25.4.1909, Absätze eingefügt.
Abgedruckt in englischer Übersetzung in ROWE 2018a, 198-99.
25 Henri Poincaré weilte vom 22.-28.4.1909 zu Vorträgen in Göttingen (Vortragstitel in Jahres-
bericht DMV 18 (1909) Abt. 2, 78-79). Klein schrieb Fricke am 15.5.1909: Die Poincarétage
sind ja nach aussen recht befriedigend verlaufen. Nach innen war ihr Ertrag geringer, weil
Poincaré sich darauf beschränkte, seine neuesten Arbeiten, die doch nur ältere Ideen ausfüh-
ren, ohne Hervorkehrung allgemeiner Gesichtspunkte unter Vorführung der Einzelheiten ei-
nem ziemlich verständnislosen Publikum auseinanderzusetzen. Poincaré ist auch in der Un-
terhaltung nichts weniger als ausgiebig. Er hört freundlich an, was man ihm sagt, aber er
erwiedert [sic!] sehr wenig. [UA Braunschweig]. Zur Poincaré-Woche vgl. auch ROWE
2018a, 195-202. – Während Poincarés Anwesenheit tagte die Göttinger Mathematische Ge-
sellschaft am Donnerstag, 23.4., mit Vorträgen von Hilbert und Klein; am Dienstag, 27.4., mit
Vorträgen von Landau und Zermelo, vgl. Jahresbericht DMV 18 (1909) 79.
514 Anhang: Auswahl von Dokumenten
Philosophie hin die Math.[ematik] immer mehr zur Geltung kommt und ihre ehe-
malige zentrale Stellung zurückzuerobern im Begriff steht. Was für eine Lust aber
muss es da erst speziell der Math.[ematiker] F. Klein an seinem 60ten Geburtstage
zu sein. Zur Kennzeichnung Ihrer wissenschaftlichen Erfolge möchte ich nur 3
Punkte, die als typische Beispiele nur gelten sollen, herausgreifen.
Erstens von Beginn an haben Sie die geom.[etrische] Anschauung, ihre Pflege
durch Zeichnung und Modelle betont überhaupt die physikalische, kinematische,
mechanische Deutung der math.[ematischen] Gedanken in den Vordergrund ge-
stellt. Riemann war der Name, der auf Ihrer Fahne stand und unter diesem Zei-
chen haben Sie auf der ganzen Linie gesiegt – gesiegt über die Gegner wegen der
Richtigkeit Ihrer Ideen, weswegen sie Unterstützung erhielten, wo Sie sie gar
nicht erwarteten z.B. durch M.[inkowski], der stets das geomet.[risch] Anschau-
liche als math.[ematische] Methode ausgestaltet hat.
Wenn ich 2.) ein speziell math.[ematisches] Gebiet auswählen soll, nun wenn
wir die Namen Poincaré – Klein zusammen hören, welcher Math.[ematiker] wird
da nicht an die automorphen Funktionen erinnert, deren Th.[eorie] P.[oincaré] zu-
erst begründet, deren reiche Ausgestaltung aber ihr Verdienst ist. Gerade die tief-
ste Seite, die sie praesagiente animo vorhergesagt und für die sie auch die Beweis-
ideen beigebracht haben. Gerade heute sehen sie ihrer Vollendung entgegen.26
Und 3.) Wenn unserer aller Namen verschollen sind, vielleicht noch der eine
oder andere historisches Interesse haben wird, werden Ihnen die spätesten Ge-
schlechter dankbar bleiben für das grossartige Werk der Encyk.[lopädie] dessen
Hervorbringung gerade eines Mannes wie Sie bedurfte, der soviel Entsagung und
Aufopferung wie Sie besass.
Und dadurch komme ich dazu, zu sagen, dass vielmehr wie das thatsächlich
Erreichte, wie Ihre Erfolge Sie das Bewusstsein mit Befriedigung erfüllen müssen,
dass diese Erfolge Ihrem mit der Minute kargenden Fleisse, Ihrer Energie, Ihrer
Thatkraft, Ihren Charakter nicht allein Ihrer glänzenden Begabung zu danken ha-
ben. Ihr Sinn war niemals auf Ihren persönlichen Vorteil, noch auf den Vorteil
einer anderen Person gerichtet, sondern galt stets der Sache. Daher lassen Ihnen
heute auch Alle, auch Ihre Gegner, an denen es einem Manne, wie Sie nie fehlen
kann, volle Gerechtigkeit widerfahren und im Kreise Ihrer Kollegen haben Sie
vollste Anerkennung und die Gefühle höchster Dankbarkeit ausgelöst.
Aber Ihr Lebenswerk ist nicht vollendet. Sie befinden sich in jugendlicher Fri-
sche auf Ihrem Lebensschifflein auf voller Fahrt. M.[inkowski] hat uns gelehrt,
dass der Begriff der Gleichzeitigkeit ein relativer ist. Vielmehr gilt das vom Be-
griff der Gleichaltrigkeit. Das Alter, in dem Sinne auf den es allein ankommt, ist
nicht so eine einfache Funktion der Zeit allein, sondern von vielen imponderabilen
[unwägbaren] Parametern und ein Mann von 70 Jahren kann mit einem Jünglinge
an Frische, Plänen, Lebenskraft gleichaltrig sein. Dass dies bei Ihnen einmal der
Fall sein und, dass entspricht aller Wahrscheinlichkeit und mit diesem Wunsche
schliesse ich, dass dieser wahrscheinliche Fall Wirklichkeit wird.
26 praesagiente animo = vorausahnend. – Koebe, Paul (1909): „Über die Uniformisierung der
algebraischen Kurven. I“. Math. Ann. 67, 145-224.
Anhang: Auswahl von Dokumenten 515
Nr. 9) Felix Klein an Ludwig Bieberbach zum Entwurf von dessen Dissertation27
Göttingen 15 Mai 09
Lieber Hr. Bieberbach!
Ich habe eben Ihre Dissertation durchgesehen und nehme daraufhin grossen
Anstand an Teil I. Was richtig ist, ist nicht neu, was neu ist, ist falsch. Beweis:
Ad. 1. Dass die kanonischen Schnittsysteme keineswegs durch die Perioden
der Abel’schen Integrale festgelegt sind, wird Ann. XXI. pag. 184/185 nicht nur
bemerkt, sondern auch erklärt.28 – Fricke kommt in Bd. I der Automorphen, p.
324, darauf zu sprechen und beweist dort, dass zur Erzeugung aller kanonischen
Schnitte zwei Operationen ausreichen.29
Ad. 2. Der Satz von der Erzeugung aller binaeren Periodentransformationen
im hyperelliptischen Falle durch Monodromie der Verzweigungspunkte ist nur für
p = 2 richtig; für p = 3 gibt es schon 36 getrennte Schaaren. Ich habe diesen Ge-
genstand 1892 durch H. D. Thompson in seiner Dissertation behandeln lassen
(American Journal XV; – im Lesezimmer unter meinen Separaten).30
Falsch ist aber auch die Zurückführung der Frage für beliebige Riemann’sche
Flächen auf zweiblättrige. Der Irrtum hat seine Quelle darin, dass bei Clebsch-
Lüroth unter „Blatt“ einer R.[iemannschen] Fl.[läche] gar nicht ein solches Stück
der Fläche verstanden wird, welches die […] Ebene genau einmal überdeckt, son-
dern nur irgend ein einfach zusammenhängendes Stück.
Was soll nun bei dieser Sachlage geschehen? Ich bin leider in diesen Tagen
angesichts der wieder beginnenden Herrenhausverhandlungen über alle Maasen
beschäftigt. Immer bitte ich Sie, Montag um 12 zu mir in’s Sammlungszimmer zu
kommen. Wollen Sie übrigens Dr. Koebe diesen Brief vorlegen.31
Ihr sehr ergebener
F. Klein
27 [Deutsches Museum] Nachlass Ludwig Bieberbach. – Für den Hinweis auf den Brief dankt
die Autorin Reinhard Siegmund-Schultze, Kristiansand.
28 Klein bezog sich auf seine eigene Arbeit „Neue Beiträge zur Riemann’schen Functionentheo-
rie“. Math. Ann. 21 (1883) 141-218, speziell 184-85.
29 FRICKE/KLEIN 1897.
30 Thompson, H. D.: „Hyperelliptische Schnittsysteme und Zusammenordnung der algebrai-
schen und transcendenten Thetacharacteristiken“. American Journal of Mathematics 15
(1893) 91-123.
31 Bieberbach hörte Vorlesungen bei Klein von 1906/07 bis 1908. Er arbeitete (mit Max Caspar)
die Vorträge aus, die Klein vom 1.5. bis 31.7.1907 über automorphe Funktionen hielt ([Pro-
tokolle] Bd. 26). Bieberbachs Dissertation Zur Theorie der automorphen Funktionen hatte
Privatdozent Koebe angeregt, worauf Klein im Gutachten zur Dissertation verwies. – Max
Caspar reichte seine Dissertation (Über die Darstellbarkeit der homomorphen Formenscha-
ren durch Poincarésche Z-Reihen) bei A. Brill in Tübingen ein; sie beruhte auf Kleins Anre-
gung. Zu den Kurzbiographien, einschließlich Noten und Fächern im Rigorosum, vgl. TOBIES
2006, 58 (Bieberbach), 78 (Caspar).
516 Anhang: Auswahl von Dokumenten
32 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 2 D, Bl. 65 und 66. – Vgl. hierzu Abschnitt 8.5.1 im Buch.
Anhang: Auswahl von Dokumenten 517
Nr. 11) Wahlvorschlag für Felix Klein zum korrespondierenden Mitglied der Kgl.
Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 27.2.191333
Die Unterzeichneten beehren sich, der Akademie die Wahl des Herrn Professor
Felix Klein zum correspendirenden Mitgliede im Fache Mathematik vorzuschla-
gen. Klein wurde geboren den 25ten April 1849 in Düsseldorf, er studierte in
Bonn, Göttingen und Berlin, promovierte in Bonn 1868, wurde 1871 Privatdocent
in Göttingen, 1872 ordentlicher Professor in Erlangen, ging von dort 1875 an die
technische Hochschule in München. 1880 wurde er an die Universität Leipzig
berufen und lehrt seit 188734 an der Göttinger Universität.
Klein, einer der wenigen Mathematiker, die jetzt noch imstande sind, das
ganze der Mathematik zu übersehen, war ursprünglich Geometer. Vertraut mit den
Ideen des geistvollen Plücker, begann er seine Laufbahn mit Arbeiten, die der
Theorie der Liniencomplexe angehören. Er stellt eine einfache Form auf für die
Gleichung einer Fläche zweiten Grades in Liniencoordinaten, bestimmt zusam-
men mit Sophus Lie die Haupttangentencurven der Kummer’schen Fläche und
giebt für die Liniencomplexe ein Analogon des Dupin’schen Krümmungssatzes.
Seine Kenntnis der Ideen von Plücker, Staudt, Sophus Lie und seine eigenen Un-
tersuchungen führen ihn dazu, die von seinen Vorgängern behandelten Fragen
unter gemeinsamem Gesichtspunkt zu betrachten, und in seiner Erlanger Antritts-
rede35 vereinigt er alle damals neuen geometrischen Ideen zu einem Ganzen, in-
dem er nicht mehr Formeln, sondern Gedanken darlegt. – Auf einen Geometer,
der so allgemein dachte, mußte die Riemann’sche Theorie der Abel’schen Funkti-
onen eine starke Anziehungskraft ausüben. Das Interesse, das Klein immer für
Riemann bekundet hat, tritt in seinem Buch über die elliptischen Modulfunktionen
besonders deutlich hervor. Dieses Buch, zwei starke Bände, enthält Vorlesungen,
die Klein gehalten hat und umfaßt eine große Reihe von einzelnen Arbeiten, die er
vorher veröffentlicht hatte. Ein schönes Capitel in ihm bildet die Klein’sche Dar-
stellung der Riemann’schen Theorie. Das Buch handelt im wesentlichen von einer
einzigen Funktion, aber von einer sehr wichtigen, der Modulfunktion. Ihr funktio-
nentheoretischer Charakter war zuerst von Gauß erkannt worden, der selbst nichts
darüber mittheilte, aber ein Blatt mit einigen charakteristischen Zeichnungen von
Gauß, das im Nachlaß aufgefunden wurde, wurde noch rechtzeitig veröffentlicht,
um Gauß in diesem Punkte die Priorität zu sichern. An die Modulfunktionen
knüpften sich schon von Gauß und Jacobi her algebraische Forschungen von gro-
ßem Interesse, die Klein mit neuen Mitteln und in neuer Form wieder aufnimmt.
Aber Klein faßt diese ganze Arbeit nur als Vorstufe auf für eine umfassende Un-
tersuchung derjenigen Funktionen, die um jene Zeit, teilweise auch erheblich frü-
her, entdeckt worden waren und die Poincaré Fuchs’sche und Klein’sche, Klein
automorphe Funktionen nennt. Wenn man, wie es Klein thut, die Gauß-Jacobi’-
sche Modulfunktion zum Ausgangpunkt nimmt, so hat man doch das erste Bei-
33 [BBA] III b, Bd. 22, Nr. 135, Bl. 70-74v. (Handschrift von Friedrich Schottky).
34 Falsche Jahresangabe; Klein lehrte seit April 1886 in Göttingen.
35 Gemeint ist die Erlanger Programmschrift (KLEIN 1872).
518 Anhang: Auswahl von Dokumenten
spiel einer automorphen Funktion, und dieses offenbart unmittelbar einige der
Tiefen und Schwierigkeiten der Theorie, die Klein im Wettbewerb mit Poincaré
aufstellt. Wenn es darauf ankommt, die einfachsten und prinzipiell wichtigsten der
damals und in den vorangehenden Jahren von deutschen Mathematikern neu ge-
wonnenen Funktionen auf direktem Wege zu definieren, so hat man anders zu
verfahren. Aber nächst Poincaré war Felix Klein derjenige, der am meisten für die
neuen Funktionen gearbeitet hat. Auch diese Untersuchungen füllen zwei starke
Bände.
Klein hat auch seine übrigen Göttinger Vorlesungen, in denen die wichtigsten
Resultate seiner Arbeiten enthalten sind, dadurch einem weiteren Kreise zugäng-
lich gemacht, daß er sie autographiren ließ. Es sind Vorlesungen über das Ikosae-
der, über die nicht-Euklidische Geometrie, über Anwendung der Differential- und
Integralrechnung auf die Geometrie, eine Revision der Prinzipien, über die hyper-
geometrische Funktion, über Riemann’sche Flächen. Es ist zu hoffen, daß alles
dies dem Druck übergeben werden wird.36 Dann wird, was sehr wünschenswerth
ist, für Deutschland ein großes bänderreiches Lehrbuch der Analysis existiren,
voll eigenthümlicher geometrischer Methoden und mit geometrischer Tendenz.
Die rastlose Thätigkeit Felix Klein’s beschränkte sich nicht auf die eigenen
wissenschaftlichen Forschungen. Es ist sein Verdienst, wenn die schwierige Auf-
gabe der Veröffentlichung von Gauß’ Nachlaß jetzt fast vollständig und in mus-
terhafter Weise gelöst ist, daß ferner das große Werk der mathematischen En-
cyklopädie begonnen und energisch fortgeführt wurde. Er war unermüdlich thätig
auf Congressen, um den Zusammenschluß der Mathematiker zu fördern und auf
wichtige Ziele hinzuweisen. Fast alle Akademien und mathematische Gesellschaf-
ten zählen ihn zu ihren Mitgliedern, mehrere Universitäten haben ihn zu ihrem
Ehrendoktor ernannt. In der letzten Zeit war sein Eifer hauptsächlich auf die
Hebung des mathematischen Unterrichtes in Hoch- und Mittelschulen gewidmet,
er war hierbei ebenso unermüdlich wie die Jahrzehnte vorher als Mathematiker.
H. A. Schwarz,
Frobenius,
Schottky,
Planck37
36 Die Vorlesungen über das Ikosaeder (Leipzig: B.G. Teubner, 1884) waren von Beginn an ein
von Klein ausgearbeitetes gedrucktes Buch. Mit autographierten Vorlesungen sind Verviel-
fältigungen von handschriftlichen Ausarbeitungen gemeint. Klein konnte davon einige noch
selbst für den Druck als Buch vorbereiten (vgl. Abschnitt 9.2).
37 Kleins Wahl erfolgte gleichzeitig mit Hilbert zum Korrespondenten der Berliner Akademie.
In der mathematisch-physikalischen Klasse wurden beide am 29.5.1913 einstimmig gewählt.
Bei der Wahl in der Gesamtsitzung der Akademie am 10.7.1913 erhielt Klein 40 von 44
Stimmen. Hilbert erhielt alle Stimmen.
Anhang: Auswahl von Dokumenten 519
Nr. 12) Ansprache von Eduard Riecke beim Überreichen des Gemäldes von Max
Liebermann an Felix Klein, gestiftet anlässlich seines 40-jährigen Professoren-
Jubiläums, und Antwort Felix Klein, am 25.5.191338
Lieber Freund!
Das Alter ist im allgemeinen ein etwas zweifelhafter Vorzug; allein heute bin
ich ihm dankbar, denn es gibt mir die schöne Pflicht und die herzliche Freude,
dass ich im Namen der Kollegen einige Worte an Dich richten darf.
Ich erinnere mich noch deutlich der Kollegstunde bei Clebsch, wo ich Dich
zum ersten Male sah und wo ich, ohne noch ein Wort mit Dir gewechselt zu ha-
ben, mir sagte, hinter diesen Augen und hinter dieser Stirn steckt etwas Besonde-
res. Als ich dann im Laufe des Semesters Dir näher kam, sah ich, daß mein Auge
mich nicht getäuscht hatte. Die folgenden Semester, die Ereignisse des Krieges
führten Dich von Göttingen weg und erst im Sommer 1871 fanden wir uns wieder
als Göttinger Privatdozenten. Neben den geometrischen Problemen, die Dich da-
mals beschäftigten, standen lebhafte physikalische Interessen; Du hast damals
auch eine Vorlesung über die Theorie des Lichts gehalten, begleitet von Experi-
menten. Der Fresnelsche Spiegel, der damals konstruiert wurde, befindet sich,
wenn auch nicht ganz im originalen Zustande, noch heute im physikalischen In-
stitut.
Als im Jahre 1885 Stern seine Professur niederlegte,39 erschien die ferne
Hoffnung Dich wieder für Göttingen zu gewinnen; die Sache gelang trotz großer
Schwierigkeiten; Althoff, der dem Plane an sich sympathisch gegenüberstand,
fürchtete eine Absage. Auf dem Wege von der Sternwarte nach der Stadt, auf dem
ich ihn begleitete, erfolgte seine Entschließung. An der Ecke, wo der Schildweg
von dem Kasernenhof abzweigt, frug er mich: „Stehen Sie mir dafür, dass Klein
annimmt!“ Ich antwortete: „Ja“ und darauf sagte er die Berufung zu.
Daß Du als unser neuer Kollege Dich nicht nach dem Spruche: ‚quieta non
movere’40 richten würdest, wusste ich wohl; aber eben deshalb hielt ich Deine
Berufung für so wichtig und schien sie mir geradezu eine Lebensfrage für unsere
Universität zu sein. Es bestand damals die Gefahr, dass diese allmählich auf den
Stand einer reinen Provinzialuniversität herabsinken würde, deshalb war ein neuer
Impuls von außen dringend notwendig. Daß wir uns in dieser Annahme nicht ge-
täuscht haben, davon zeugt die Geschichte der letzten Jahrzehnte; Neuorganisa-
tion des mathematischen Unterrichts, Neugründung der Gesellschaft der Wissen-
schaften, Göttinger Vereinigung, um nur zu nennen, was Göttingen besonders
angeht. Bei all diesen organisatorischen Arbeiten haben wir immer drei Dinge vor
allem bewundert: den hohen Standpunkt und den weiten Blick, mit dem Du alle in
Betracht kommenden Fragen zu umfassen, mit dem Du die Beziehung der ver-
38 [Privatnachlass Hillebrand]; [UBG] Cod. Ms. F. Klein 107. – Vgl. Abschnitt 8.5.2 im Buch.
39 Moritz Stern stellte am 19.4.1884 bereits den Antrag auf Dispens vom Amt, was ihm zum
1.10.1884 genehmigt wurde (vgl. Abschnitt 5.5.1).
40 quieta non movere = Was ruht, soll man nicht aufrühren.
520 Anhang: Auswahl von Dokumenten
41 Der Wortlaut der Grußadresse bietet inhaltlich nichts Neues. Interessant ist das weltweite
Netz. Die 71 Personen, die zur Stiftung aufgerufen hatten, waren: A. Ackermann-Teubner, L.
Bianchi, O. Blumenthal, M. Bôcher, H. v. Böttinger, A. v. Brill, H. Burkhardt, C. Cara-
théodory, G. Darboux, R. Dedekind, W. v. Dyck, E. Ehlers, F. Enriques, H. Fehr, L. Fejér, R.
Fricke, R. Fueter, P.. Gordan, G. Greenhill, Cav. G. B. Guccia, A. Gutzmer, J. Hadamard, O.
Henrici, D. Hilbert, E. W. Hobson, A. Höfler, O. Hölder, A. Hurwitz, G. Kerschensteiner, P.
Koebe, J. König, A. Krazer, E. Landau, E. Lange, W. Lietzmann, C. v. Linde, F. Lindemann,
F. Mertens, F. Meyer, O. v. Miller, G. Mittag-Leffler, J. Molk, E. H. Moore, C. H. Müller, M.
Nöther, W. Osgood, E. Picard, H. Poincaré, E. Riecke, K. Rohn, C. Runge, R. Schimmack, H.
Schotten, F. Schur, A. Sommerfeld, P. Stäckel, W. Stekloff, O. Taaks, A. Thaer, P. Treutlein,
G. Veronese, W. Voigt, V. Volterra, K. VonderMühll, A. Voss, E. Waelsch, A. Wassiliew, H.
Weber, A. Wiman, W. Wirtinger, H. G. Zeuthen. –
Sie gewannen 331 Spender, die aus Australien, Belgien, Canada (J.C. Fields), Dänemark (P.
Heegaard…), Deutschland, Frankreich (P. Appell, E. Borel, B. Boutroux …), Griechenland
(C. Stephanos), Großbritannien (A. Berry, G. Darwin, A.E.H. Love), Indien, Italien (G.
Castelnuovo, G. Loria, E. d’Ovidio, E. Pascal, C. Segre…), Japan (R. Fujisawa, T. Yoshiye),
den Niederlanden (L.E.J. Brouwer, J. Cardinaal), Österreich-Ungarn, (J. König, G. Rados, G.
Zemplén ...), Portugal (F.G. Teixeira). Sie waren Polen (S. Dickstein, K. Zorawski), kamen
aus Russland (darunter Nadjeschda Gernet, A.N. Kriloff, A. Markoff, D.M. Sintzow …),
Schweden, der Schweiz (darunter E. Fiedler, C. Jaccottet, F. Rudio, A. Weiler), den USA
(darunter F.N. Cole, F. Franklin, M.W. Haskell, W. D.E. Smith, V. Snyder, H.W. Tyler,
E.B.V. Vleck, F.S. Woods). – Die Namen befinden sich nur dann im Personenregister des
Buches, wenn sie noch an weiterer Stelle im Buch vorkommen.
Anhang: Auswahl von Dokumenten 521
Nr. 13) Virgil Snyder aus Ithaca (New York) an Felix Klein, betreffend den
Internationalen Mathematiker-Kongress in Toronto (Canada), 4.7.192443
42 Wie erwähnt, wurde das Institut erst 1929 vollendet (Bunsenstraße 3-5), vgl. 9.4.2.
43 [UBG] Cod. Ms. F. Klein 11: 1040A. – Snyder hatte vier Semester (1892/93 bis 1894) Vorle-
sungen bei Klein gehört und zweimal im Seminar vorgetragen. Ausgehend vom Vortrag über
„Kugelgeometrie“ ([Protokolle] Bd. 11, 265-73) lenkte Klein ihn zur Dissertation: Über die
linearen Komplexe der Lie’schen Kugelgeometrie, 1895. Seit 1910 war Snyder Full Professor
an der Cornell University (Ithaca, New York). In den USA setzte er Kleins Erbe in der alge-
braischen Geometrie fort, vgl. auch PARSHALL/ROWE 1994.
522 Anhang: Auswahl von Dokumenten
Herr Professor R. C. Archibald,44 der zur selben Zeit in Rom war, und ich
machten Pläne, wenigstens einige der Mathematiker, die sich am Congress betei-
ligten, nach dem Schluss desselben einzuladen, Vorträge an unseren Universitäten
zu halten, vielleicht in der Form von kürzeren Kursen, die in einigen Wochen ge-
geben werden könnten. Auf diese Weise hofften wir, dass Studenten wie Fakultät
an unsern Universitäten diese Männer kennen lernen würden und denen dadurch
zum Teil wenigstens die lange Reise hierher finanziell erleichtert würde.
Es wird Sie interessieren zu hören, dass Castelnuovo, Enriques, Levi-Civita,
Segre, Severi,45 denen ich diesen Plan mitteilte, ausserordentlich annehmbar fan-
den und jeder von ihnen äusserten den Wunsch, dass auch Einladungen für die
Ausführung desselben an die Vertreter Mitteleuropas geschickt würden.
Ich habe nie erfahren, warum die finanzielle Unterstützung, erst versprochen,
wieder zurückgezogen wurde, was notwendigerweise auch die amerikanische[n]
Einladungen aufhob.
Sobald die Einladung Canada’s erfolgte und angenommen war, legte ich den
Plan von Archibald und mir dem Vorsitzenden des Ausschusses des canad.[i-
schen] Congresses, Herrn Professor J. C. Fields,46 vor. Dieser billigte ihn und for-
derte mich auf, ihn weiter zu entwickeln, etc. Von einer Beschränkung der Einla-
dungen war nicht die Rede.
Hierauf fragte ich bei den Universitäten Chicago, Harvard, Cornell an. Aus
Chicago erhielt ich die Nachricht von der Beschränkung der Teilnahme am Con-
gress. Ich wurde gebeten, meinen Plan aufzugeben, da er den canad.[ischen] Aus-
schuss nur in Verlegenheit versetzen würde. Auf meine Anfrage um weitere Auf-
klärungen erhielt ich einen langen Brief von Professor Dickson.47 Er schrieb, alle
Welt weiss von der Sachlage – warum erst Alles wieder aufstöbern? Doch in der
in New York bald danach stattfindenden Sitzung der Math.[ematical] Society
wusste niemand etwas davon. Ich sprach mit etwa vierzig Teilnehmenden. Aller-
dings nach einer langen Unterredung mit Herrn Fields sah ich ein, dass ich meinen
Plan nicht durchführen konnte und gab ihn auf.
Doch nun bietet sich mir eine Gelegenheit, etwas durchzusetzen, was mir sehr
am Herzen liegt. Die verschiedenen amerikanischen Körperschaften (Mathemati-
cal Society, Physical Society, National Academy etc.) wurden aufgefordert, Re-
44 Der in Canada geborene Raymond Clare Archibald hatte 1900 bei Theodor Reye in Straßburg
promoviert und lehrte seit 1908 an der Brown University (Rhode Island) in den USA.
45 Klein ordnete ein: „Das allgemeine Problem der birationalen Transformation der Flächen ist
dann insbesondere von der jungen italienischen Schule weiterentwickelt worden, der Segre,
Veronese, Enriques, Castelnuovo, Severi angehören.“ KLEIN 1926 (Vorlesungen I, 314).
46 John Charles Fields, Toronto, gehörte wie Snyder zu den Stiftern des Liebermann-Gemäldes
für Klein 1912. Fields hinterließ bei seinem Tod 1932 eine Summe für eine nach ihm be-
nannte Medaille für herausragende mathematische Leistungen. Sie wird seit 1936 auf den
internationalen Mathematiker-Kongressen verliehen.
47 Leonard Eugene Dickson, vor allem Algebraiker und Zahlentheoretiker, hatte in Chicago bei
Mathematikern, die eng mit Klein verbunden waren (H. Maschke, O. Bolza, E. H. Moore)
und auch bei S. Lie in Leipzig und C. Jordan in Paris studiert. Er kannte die in Frankreich
noch bestehenden Aversionen gegen eine Teilnahme deutscher Mathematiker an internatio-
nalen Kongressen, vgl. auch SIEGMUND-SCHULTZE 2011.
Anhang: Auswahl von Dokumenten 523
M.[eine] D.[amen] u.[nd] H.[erren]. Gestatten Sie mir einige Worte vor Eintritt in
die Tagesordnung. Unser lieber Lehrer, Kollege und Freund Felix Klein ist ges-
tern Abend sanft entschlafen. Sein Ende war friedlich und schmerzlos; es war uns
nicht überraschend, sondern lange vorausgesehen. Aber das Ereignis, nachdem es
nun da ist, hat uns doch alle auf tiefste berührt und aufs schmerzlichste erschüt-
tert. Denn bis dahin war F. Klein doch noch immer bei uns, wir konnten ihn besu-
chen, auf seinen Rat hören und sehen, welch lebhaften Anteil er nahm. Jetzt ist es
damit vorbei. Ein grosser Geist, ein starker Wille, ein vornehmer Charakter ist uns
genommen. – Hier ist nicht der Platz, Klein zu würdigen; eine Würdigung liesse
sich nicht in wenig Worten machen. Denn das Schaffen u.[nd] Wirken war so
vielseitig und so gewaltig, dass man nicht gut Einzelnes bevorzugen kann. Man
kann nicht einmal entscheiden, ob er am meisten als Lehrer, als Forscher oder als
Persönlichkeit gewirkt hat. Als Lehrer, da gedenken wir hier vor Allem seiner
glänzenden Vorträge und Vorlesungen. Aber wenn wir den grossen Zug nennen
wollen, so müssten wir schildern, wie er im Gegensatz zu der damals vorherr-
schenden Richtung des Abstrakten u.[nd] Formalen stets das Anschauliche und
48 Arthur Byron Coble, Prof., University of Illinois, hatte eine Zeitlang bei E. Study studiert. –
Roland Richardson hatte vor seiner Promotion in Yale (1906) auch in Göttingen studiert und
war Professor an der Brown University geworden. Zum Einfluss durch Hilbert, Klein und M.
Bôcher, vgl. https://projecteuclid.org/download/pdf_1/euclid.bams/1183514768
49 Der von der US-Delegation in Toronto 1924 gestellte Antrag wurde von den Teilnehmern aus
Dänemark, Großbritannien, Italien, Niederlande, Norwegen, Schweden unterstützt. Snyder,
Präsident der American Mathematical Society 1927/28, war Delegierter beim Kongress in
Bologna 1928, wo deutsche Mathematiker/innen wieder teilnahmen, nicht ohne heftigen Wi-
derspruch nationalistisch eingestellter Mathematiker (vgl. SIEGMUND-SCHULTZE 2016).
50 [UBG] Cod. Ms. Hilbert 575: Nr. 3 (Hilbert, Notizen am 23.6.1925). – Hilbert leitete mit
diesen Worten die Sitzung der Mathematischen Gesellschaft zu Göttingen am Dienstag, den
23. Juni 1925, ein.
524 Anhang: Auswahl von Dokumenten
die Anwendungen betonte und damit das Vielgestaltige in der Math.[ematik] zum
Ausdruck und zur Geltung brachte. Und mit dieser Tendenz ist er trotz scharfer
Gegenströmungen durchgedrungen. Und das wissenschaftliche Zeichen, mit dem
er siegte war der Name Riemann, den er auf seine Fahne schrieb. Was den For-
scher Klein angeht, so ist kaum ein math.[ematisches] Gebiet nicht von ihm ge-
pflegt worden. Besonders Geom.[etrie] und insb.[esondere] geom.[etrische] Funk-
tionenth.[eorie]. Gerade die tiefsten Sätze über Unif.[ormisierung] hat er zuerst
praesagiente animo vorausgesehen, auch die Beweisgründe erbracht und heute
steht der ganze starke Bau ausgeführt von seinen Schülern da. Die letzten Kräfte
in seinen letzten Lebensjahren hat er dazu verwandt, uns ein besonders wertvolles
Geschenk zu machen, die 3 Bde seiner Abh.[andlungen], ein Musterbeispiel, wie
die Werke eines Gelehrten herauszugeben sind. Aber, wenn auch diese Betätigun-
gen Kleins für die Welt u.[nd] Wiss.[enschaft] die Hauptsache sein mögen, für
uns hier kommt noch wesentlich in Frage, was er für Göttingen geschaffen: eine
neue Blütezeit, nicht bloss den Grund gelegt, sondern die Ausführungsbestim-
mungen erlassen. Alles was Sie hier in Göttingen sehen ist das Werk seiner Per-
sönlichkeit: Lesezimmer, Modellsammlung, die […] Institute, die Berufungen, die
Bereitwilligkeit des Ministeriums, die bedeutenden Personen aus der Industrie, die
er interessierte. Dies verdanken wir seiner Persönlichkeit, durch die er überall den
Erfolg auf seiner Seite hatte, und woher der Erfolg: Das Geheimnis des Erfolges
lag in seiner unbestechlichen Sachlichkeit. Grosse Ziele, nie kleinste persönliche
Nebenzwecke. So hat Klein auch seinen Geist uns hinterlassen: in seinem Geiste
das Werk fortführen. Fortdauer, solange uns dieser Geist nicht verblasst.
Abb. 38: Grabstein Felix und Anna Klein, alter Stadtfriedhof Göttingen
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550 Bibliographie
Abb. 39: Urkunde zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der TH München, 23.12.1905
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abb. 1: Felix Klein, 1975. Quelle: [Privatnachlass Hillebrand]. ................................................ v
Abb. 2: Auszug aus dem Stammbaum der Familien Klein und Hegel.
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach [Privatnachlass Hillebrand] Alfred Klein. ..... x
Abb. 3: Felix Klein an Sophus Lie, Briefauszug vom 1.4.1872. Quelle: [Oslo] ...................... xvi
Abb. 4: Felix Klein im Alter von zwei Jahren (Zeichner unbekannt).
Quelle: [Privatnachlass Hillebrand]. ............................................................................ 12
Abb. 5: Promotionsurkunde Felix Kleins, 12.12.1868.
Quelle: [UBG] Cod. Ms. F. Klein 101. ........................................................................ 34
Abb. 6: Alfred Clebsch. Quelle: B. G. Teubner Leipzig; Tobies/Rowe 1990, 10. .................... 38
Abb. 7: Titelblatt der Mathematischen Annalen Bd. 6 (1873). ................................................. 46
Abb. 8: Kummersche Fläche mit 16 reellen Doppelpunkten.
Quelle: FISCHER 1986, Foto 34. ................................................................................... 50
Abb. 9: Titelblatt des Bulletin des Sciences Mathématiques et Astronomique. ........................ 65
Abb. 10: Auszug aus einem Brief von Felix Klein an Sophus Lie nach Paris,
vom 29. Juli 1870. Quelle: [Oslo] Nachlass Sophus Lie. ............................................. 74
Abb. 11: Diagonalfläche von Clebsch.
Quelle: Quelle: FISCHER 1986, Foto 10. ...................................................................... 93
Abb. 12: Fläche dritter Ordnung mit vier reellen Knotenpunkten.
Quelle: KLEIN 1922 GMA II, 15. . .............................................................................. 96
Abb. 13: Eduard Riecke. Quelle: [UBG] Math. Archiv 52. ........................................................ 98
Abb. 14: Titelblatt zum Erlanger Programm (Oktober 1872). ................................................. 110
Abb. 15: Kleins Kreis in Erlangen 1873. Von rechts: Felix Klein, Ferdinand Lindemann,
Wilhelm Bretschneider, Siegmund Günther, Adolf Weiler, Ludwig Wedekind.
Quelle: Otto Volk-Zimmer des Mathematischen Instituts der Universität Würzburg;
publiziert in: TOBIES/VOLKERT 1998, 132. ........................................................... 115
Abb. 16: Arithmomètre. Vierspezies-Rechenmaschine von Charles Xavier Thomas,
Serien-Nr. 759, Baujahr 1868.
Quelle:Informatik-Sammlung, Universität Erlangen, Foto: Georg Pöhlein. .............. 126
Abb. 17: Verlobungsanzeige. Quelle: [Oslo] Nachlass Sophus Lie. ......................................... 141
Abb. 18: Zur Silberhochzeitsfeier von Anna und Felix Klein aufgenommenes Foto,
am Sonntag, den 19. August 1900. Quelle: [Privatnachlass Hillebrand]. .................. 145
Abb. 19: Kleins Modulfigur, abgeleitet nach Dedekind.
Quelle: KLEIN 1923 GMA III, 23. ............................................................................ 162
Abb. 20: Kleins „Hauptfigur“ mit 2 x 168 Kreisbogendreiecken.
Quelle: KLEIN 1923 GMA III, 126. .......................................................................... 164
Abb. 21: Adolf Hurwitz. Quelle: [UBG] Cod. Ms. F. Klein. .................................................... 173
Abb. 22: Carl Linde, 1872.
Quelle: [Deutsches Museum] Porträtsammlung, Bild-Nr. 41926. ............................. 179
Abb. 23: Felix Klein in Leipzig. Quelle: [Privatnachlass Hillebrand]. ..................................... 188
Abb. 24: Kleinscher Schlauch. Quelle: KLEIN/ROSEMANN 1928, 262. ............................... 230
Abb. 25: Auszug aus einem Briefentwurf F. Kleins an A. Ackermann-Teubner, 31.12.1899.
Quelle. [UBG] Cod. Ms. F. Klein. ............................................................................. 273
Abb. 26: Gründungsmitglieder der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Postkarte. ........... 292
Abb. 27: Wohnhaus Felix Kleins, Göttingen, Wilhelm Weber-Str. 3.
Quelle: Aufnahmen v. Dr. W. Mahler am 31.5.2014. ................................................ 294
551
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R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2
552 Tabellenverzeichnis
Abb. 28: Rohns Gasthaus auf dem Hainberg. Quelle: Historische Postkarte. .......................... 295
Abb. 29: Göttinger Mathematische Gesellschaft, 1902. Quelle: [UBG] Cod. Ms. F. Klein. ... 348
Abb. 30: ENCYKLOPÄDIE-Reise nach Wales: Felix Klein und Arnold Sommerfeld bei der
Familie von George Hartley Bryan. Quelle: [Deutsches Museum] CD 66310. ......... 359
Abb. 31: Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik,
Postkarte zum Stiftungsfest, 1908. Quelle: [UBG] Cod. Ms. F. Klein 4E. ................ 384
Abb. 32: Plan Kleins für den Band „Die mathematischen Wissenschaften“ im Projekt
Kultur der Gegenwart, 1912 (Anzeige des Verlags B.G. Teubner). .......................... 410
Abb. 33: Titelblatt der Zeitschrift L’Enseignement mathématique, Bd. 1 (1899). .................... 424
Abb. 34: Gremien in Deutschland, in denen Klein Unterrichtsfragen diskutierte. ................... 426
Abb. 35: Historische Postkarte, Bocksberg-Hahnenklee mit Sanatorium. ................................ 441
Abb. 36: Max Liebermann: Bildnis Felix Klein, 1912. ............................................................ 445
Abb. 37: Felix Klein. Zeichnung von Leonard Nelson.
Quelle: [Privatnachlass Hillebrand]. .......................................................................... 482
Abb. 38: Grabstein Felix und Anna Klein, alter Stadtfriedhof Göttingen.
Quelle: Aufnahme Dr. W. Mahler. ............................................................................ 524
Abb. 39: Urkunde zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der TH München, 23.12.1905.
Quelle: [UBG] Cod. Ms. F. Klein 113, Nr. 8 ............................................................. 550
TABELLENVERZEICHNIS
Tab. 1: Urteile über Felix Kleins Leistungen aus seinem Reifeprüfungszeugnis
vom 3. August 1865. .................................................................................................... 18
Tab. 3: Lehrveranstaltungen, die Felix Klein an der Universität Bonn besuchte. .................... 23
553
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R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2
554 Abkürzungsverzeichnis
Abbe, Ernst 1840–1905, Physiker, Math., Aronhold, Siegfried 1819–1884, Math.: 41,
Unternehmer, DMV: 27, 382, 479, 547 44, 105
Abel, Niels Henrik 1802–1829, norweg. Artin, Emil 1898–1962, österr. Math.,
Math.: vii, 39, 41, 43f., 47, 54, 57f., DMV: 457
81, 86, 95, 130, 132, 156-58, 191, 198, Ascoli, Giulio 1843–1896, ital. Math.: 136
202, 204f., 212f., 217, 226, 232f., Aßmann, Richard 1845–1918, Meteorol.:
235f., 243, 253, 261, 267-69, 277, 290, 391f.
305-07, 309, 315, 326, 346, 362, 364, Asthöwer, Fritz 1835–1913, Ing.: 376
487, 515, 517 Baade, Walter 1893–1960, Astr., DMV:
Abraham, Max 1875–1922, theor. Physiker, 456f.
DMV, Enc: 37, 462, 348 Bach, Carl von 1847–1931, Maschinenbau-
Ackermann-Teubner, Alfred Gustav Bene- Ing.: 10, 272
dictus 1857–1941, Verleger, DMV: Bacharach, Isaak 1854–1942, Math., DMV:
191, 269, 270, 272-75, 356, 520, 551 180
Afanassjewa (verh. Ehrenfest), Tatjana A. Bäcklund, A. Victor 1845–1922, schwed.
1876–1964, russ. Math., Enc: 356 Math., DMV: 117
Ahrens, Wilhelm 1872–1927, Math., DMV: Baeyer, Adolf (seit 1885 Ritter von), Adolf
355 1835–1917, Chem.: 337, 475
Airy, George Biddell 1801–1892, brit. Math. Ball, Robert Stawell 1840–1913, irischer
Astr.: 406 Math., Astr.: 130, 297, 322
Aleksandrov, Pavel S. 1896–1982, russ. Baltzer, Richard 1818–1887, Math.: 89,
Math., DMV: 458, 546 279f., 498
Alexejewsky, W. P., Charkow, Math.: 347 Barkhausen, Heinrich 1881–1956, Physiker:
Althoff, Friedrich 1839–1907, preuß. Minis- 403
terialbeamter: 6, 72, 74, 207f., 216, Barnum, Charlotte Cynthia 1860–1934, US-
286f., 298, 300f., 316, 319f., 323f., amerik. Math.: 369
326, 331-39, 342, 360, 362, 365f., 368- Bartling, Friedrich Gottlieb 1798–1875,
70, 373, 375-79, 382-88, 391, 419, 431, Botan.: 78
438, 444, 464, 507-09, 519, 528, 546 Battaglini, Guiseppe 1826–1894, ital. Math.:
Amelung, Julius *1864, stud. Math. bei 33, 36, 65, 75, 132, 134
Klein, Lehrer: 177 Bauer, Gustav 1820–1906, Math., DMV:
Ameseder, Adolf 1858–1891, österr. Math.: 108, 150f., 499, 548
204, 221 Bauer, Max 1844–1917, Mineral.: 101
Appell, Paul 1855–1930, franz. Math., Bauernfeind, Karl Maximilian von 1818–
Enc(f): 239, 315, 424, 520 1894, Geodät: 149, 151, 181, 499
Archenhold, Friedrich Simon 1861–1939, Bauschinger, Johann 1834–1893, techn.
Astr., DMV: 329 Mech.: 150, 177
Archibald, Raymond Clare 1875–1955, ka- Bauschinger, Julius 1860–1934, Astr.,
nad. Math., Math.hist., DMV: 522 DMV, Enc: 177, 472, 474
Argelander, Friedrich Wilhelm 1799–1875, Bayer, Friedrich 1851–1920, Unternehmer:
Astr.: 23 383, 427, 475
555
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Tobies, Felix Klein, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58749-2
556 Personenverzeichnis
Bechmann (seit 1891 Ritter von), August Bischof, Karl G. 1792–1870, Geochem.: 25
1834–1907, Rechtswiss.: 124 Bismarck, Otto von 1815–1898, Politiker:
Becker, Carl Heinrich 1876–1933, Orienta- 21, 73, 296, 438, 537
list, Politiker: 449, 465 Blake, Edwin Mortimer 1868–1955, US-
Beer, August 1825–1863, math.Physik.: 498 amerik. Math.: 363
Beetz (seit 1876 von), Wilhelm 1822–1886, Blaschke, Wilhelm 1885–1962, österr.
Physik.: 150 Math., DMV: 31, 113, 357, 448, 456
Behnke, Heinrich 1898–1979, Math., DMV: Blumenthal, Otto 1876–1944, Math., DMV:
464, 478, 527, 532 v, 48, 348, 380, 393, 463, 474, 520
Behrendsen, Otto 1850–1921, Gymn.-Prof.: Bobek, Karl 1855–1899, österr. Math.,
346, 352 DMV: 203, 221
Behrens, Wilhelm 1885–1917, Math., Dr.- Bôcher, Maxime 1867–1918, US-amerik.
Schüler Kleins, DMV: 421, 442 Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV, Enc:
Beke, Emanuel 1862–1946, ungar. Math., 88, 271, 310, 347, 363, 394, 520, 523
DMV: 347, 423, 429 Bödiker, Tonio 1843–1907, Jurist, Beamter,
Beltrami, Eugenio 1835–1900, ital. Math.: Vorstand Siemens &Halske: 383
45, 75, 89f., 133-35, 220, 228, 312 Boelitz, Otto 1876–1951, Päd., Politiker:
Beman, Wooster Woodruff 1850–1922, US- 471
amerik. Math., DMV: 352, 535 Börnstein, Richard 1852–1913, Physik.: 85
Beneke, Carl Gustav 1800–1864, Prediger: Böttger, Adolf, Math.: 203, 206
414, 416f. Böttinger (seit 1907 von), Henry Theodor
Beneke, Friedrich Eduard 1798–1854, 1848–1920, Chem., Unternehmer: 376-
Philos.: 414, 416f. 78, 383-86, 389, 391-93, 427, 431f.,
Benfey, Bruno 1891–1962, Pastor: 148 438, 453, 475, 520, 536
Benfey, Theodor 1809–1881, Orient.: 322 Bohlmann, Georg 1869–1928, Vers.math.,
Bernays, Paul 1888–1977, Math., DMV: DMV, Enc: 347, 374, 388
457 Bokowski, Adalbert 1899–1948, Math.,
Berneker, Erich 1874–1937, Slawist: 466 DMV: 457
Bernstein, Felix 1878–1956, Math., DMV: Boltzmann, Ludwig 1844–1906, österr.
271, 348, 375, 413, 421f., 442, 546 Physik, DMV, Enc: vii, 274, 325, 337,
Bertheau, Ernst 1812–1888, Orient.: 78 354, 358, 391, 414, 420, 533
Bertini, Eugenio 1846–1933, ital. Math.: Bolyai, János (Johann) 1802–1860, ungar.
136 Math.: 60, 62, 88f., 222, 486, 541
Bertrand, Joseph 1822–1900, franz. Math.: Bolza, Oskar 1857–1942, Math., DMV:
72, 280, 314, 498 146, 303, 361, 363
Bessel-Hagen, Erich 1898–1946, Math., Bolzano, Bernhard 1781–1848, böhm. Theo-
DMV: 251, 455, 457f. loge, Math.: 120
Betti, Enrico 1823–1892, ital. Math.: 133, Borchardt, Carl Wilhelm 1817–1880, Math.:
135 53, 252, 303f., 325, 368
Beumer, Wilhelm 1848–1929, Indust.: 376 Borel, Émile 1871–1956, franz. Math.: 271,
Bezold, Wilhelm von 1837–1907, Physik., 357, 392, 520
Meteorol.: 178f. Born, Max 1882–1970, Physik, DMV, Enc:
Bianchi, Luigi 1856–1928, ital. Math.: 172, viii, 271, 317, 345, 349, 383, 408, 463,
175f., 185, 190, 319, 488, 520 476, 528
Bieberbach, Ludwig 1886–1982, Math., Bortkiewicz, Ladislaus von 1868–1931,
DMV, Enc: 355, 396, 422, 447, 470, poln.-russ. Statistiker, Enc: 374
474, 515, 538 Bosse, Robert 1832–1901, Politiker, Kultus-
Biedermann, Paul *1862, Math., Dr.-Schüler minister: 352, 382
Kleins: 57, 171, 201, 203, 263, 279 Bosworth, Anne Lucy verh. Focke 1868–
Birkhoff, George D. 1884–1944, US-amerik. 1907, US-amerik. Math.: 347
Math., DMV: 488 Boulanger, Auguste 1866–1923, franz. Ma-
Bischof, Johann N., Math.: 150-52, 187 thematiker, Enc(f): 300
Personenverzeichnis 557
134f., 137f., 140, 150, 163, 168f., 174, Debye, Peter 1884–1966, niederl. Physik.,
187, 191f., 196, 221, 226, 235f., 268, DMV, Enc: 294f., 413, 476, 525
297, 304, 318f., 321, 329, 336, 363, Decoster, Paul 1886–1939, belg. Philosoph:
411f., 414, 451, 464, 483-85, 489, 421
498f., 515, 519 Dedekind, Richard 1831–1916, Math.,
Clifford, William Kingdon 1845–1879, engl. DMV: 82, 95, 162, 206, 221f., 235,
Math.: 3, 40, 90, 128f., 169, 312 252, 254, 307f., 310, 326, 363, 398,
Coble, Arthur Byron 1878–1966, US-ame- 520, 536, 541f., 551
rik. Math.: 304f., 523 Des Coudres, Theodor 1862–1926, Physi-
Cohen, Hermann 1842–1918, Philos.: 545 ker: 205, 383, 389
Cohn, Gustav 1840–1919, Nationalökonom: Despeyroux, Théodore 1815–1883, franz.
459, 533 Math., Physik.: 400
Cohn-Vossen, Stephan 1902–1936, Math., Deussen, Gustav Adolf Hugo *15.10.1837,
DMV: 459, 533 Religionslehrer: 17
Cole, Frank Nelson 1861–1926, US-amerik. Dickson, Leonard Eugene 1874–1954, US-
Math., Dr.-Schüler Kleins: 204, 219, amerik. Math.: 522
259, 303, 520 Dickstein, Samuel 1851–1939, poln. Math.,
Collatz, Lothar 1910–1990, Math., DMV: Math.hist., DMV: 113, 520
389, 529 Diekmann, Joseph 1848–1905, Math., Dr.-
Cornelius, Hans 1863–1947, Philos.: 204 Schüler Kleins: 94, 99
Courant, Richard 1888–1972, Math., DMV: Diels, Hermann 1848–1922, Philologe: 386,
vii, 102, 375, 413, 448, 455, 457-59, 439
470, 473f., 477f., 480, 489f., 529, 541 Diestel, Friedrich 1863–1925, Math., Bibl.,
Cram, Myrthel, Schwiegertochter Kleins: x, DMV: 346, 348
145 Diesterweg, Adolph 1790–1866, Päd.: 465
Crelle, August L. 1780–1855, Math.: 53 Dingeldey, Friedrich 1859–1939, Math., Dr.
Cremona, Luigi 1830–1903, ital. Math., -Schüler Kleins, DMV, Enc: 203, 206,
DMV: 29, 43f., 75, 95, 133-36, 166, 233, 278
182, 191, 305, 405, 424, 483, 498, 526 Dini, Ulisse 1845–1918, ital. Math.: 136
Culmann, Karl 1821–1881, dt.-schweiz. Dirichlet, Peter Gustav Lejeune 1805–1859,
Bauing.: 63, 405 Math.: 7, 38, 52, 54, 82, 226, 230, 232-
Curie (Skłodowska), Marie 1867–1934, pol- 35, 242, 247, 296, 319f., 367, 412, 422,
nisch-franz. Physik., Chem.: 453, 537f. 448, 502, 533
Czapski, Siegfried 1861–1907, Physiker, Domsch, Paul 1860–1918, Math., Dr.-Schü-
techn. Optik: 100 ler Kleins, DMV: 88, 203, 206, 235,
Czermak, Johann Nepomuk 1828–1873, 237, 278
Physiol.: 194 Dove, Heinrich Wilhelm 1803–1879, Mete-
Czuber, Emanuel 1851–1925, österr. Math.: orologe: 58, 77
424 Dove, Richard Wilhelm 1833–1907, Kir-
Dalwigk, Friedrich von 1864–1943, Math., chenrechtler: 77, 427
DMV: 347 Drenckhahn, Friedrich 1894–1977, Math.,
Darboux, Gaston 1842–1917, franz. Math.: Didaktiker, DMV: 435, 457
5, 10, 37, 63-66, 70, 72, 74, 76, 84, 87- Dreßler, Heinrich, Lehrer: 203, 206, 233
89, 94, 104, 107, 110f., 114, 119, 139, Du Bois-Reymond, Emil Heinrich 1818–
159, 169, 172f., 184f., 189, 212, 217, 1896, Physiol.: 52, 425, 530
218, 222, 226f., 239, 241, 262, 279f., Du Bois-Reymond, Paul 1831–1889, Math.:
289, 300, 355, 400, 429, 438, 452, 486, 55, 196, 211, 237, 297, 419
497f., 520, 525, 529, 532f., 541, 547 Duhamel, Jean-Marie Constant 1797–1872,
Darwin, Charles Robert 1809–1882, brit. franz. Math., Physik.: 498
Biologe: 28, 181, 494, 527, 533 Dühring, Eugen 1833–1921, Philos.: 101
Darwin, George Howard 1845–1912, brit. Duisberg, Carl 1861–1935, Chem., Unter-
Astr., Math., Enc: 28, 520 nehmer: 427, 475-78, 537
Personenverzeichnis 559
Grüning, Martin 1869–1932, Bauing.: 406 Hauck, Guido 1845–1905, Math.: 272, 330,
Gruson, auch Grüson, Johann Philipp 1768– 431, 433
1857, Gymn.-Prof., Math.: 142 Hayashi, Tsuruichi 1873–1935, japan.
Günther, Siegmund 1848–1923, Math., Geo- Math., Math.hist., DMV: 351
graph, Math.hist., DMV: 108, 114f., Hecke, Erich 1887–1947, Math., DMV, Enc:
150f. 355, 440, 448, 458, 463, 478, 525
Gundelfinger, Sigmund 1846–1910, Math., Hedrick, E. Raymond 1876–1943, US-
DMV: 168, 183 amerik. Math., DMV: 233
Gutzmer, August 1860–1924, Math., DMV: Heegaard, Poul 1871–1948, dän. Math.,
6, 105, 273f., 330, 388f., 393, 423, 427, DMV, Enc: 83, 86, 304, 347f., 352,
429, 435, 465, 520, 532, 546 520, 537
Haber, Fritz 1868–1934, Chem.: 472f. Heffter, Lothar 1862–1962, Math., DMV:
Hadamard, Jacques 1865–1963, franz. Ma- 329, 361, 408
thematiker: 520 Hegel geb. Tucher von Simmelsdorf, Susan-
Haeckel, Ernst 1834–1919, Zool.: 10, 28, ne Maria Caroline H. 1826–1878,
181, 214, 452, 494, 541, 549 Schwiegermutter Kleins: x, 143
Haenisch, Konrad 1876–1925, Journalist, Hegel verh. Lommel, Louise Friederike C.
SPD-Politiker: 453, 468 1853–1924, Schwägerin Kleins: x, 144
Haeseler, Gottlieb Graf von 1836–1919, Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1770–
Offizier: 428, 436 1831, Philos.: x, 142, 414
Hagemann, Eberhard 1880–1958, Jurist, Hegel, Georg, 1856–1933, bayer. Oberst,
Schwiegersohn Kleins: x, 145, 147 Schwager Kleins: x, 144
Hahn, Hans 1879–1934, österr. Mathema- Hegel, Friedrich Wilhelm Karl (Ritter von,
tiker, DMV: 404, 444, 520, 543 bayer. Personenadel) 1813–1901, Hist.,
Hall, G. Stanley 1846–1924, US-amerik. Schwiegervater Kleins: x, 27, 102, 140,
Psychologe: 315 142f., 145, 537
Halphen, Georges Henri 1844–1889, franz. Hegel, Maria 1855–1929, Schwägerin
Math.: 69, 215f., 221, 238, 240 Kleins: x, 144f.
Hamburger, Hans 1889–1956, Math., DMV: Hegel, Wilhelm Sigmund 1863–1945, Reg.-
272, 323, 372, 506 Rat, Schwager Kleins: x, 144f.
Hamel, Georg 1877–1854, Math., DMV: Hegel, Sophie Louise 1861–1940, Lehrerin,
348, 389, 469f. Schwägerin Kleins: x, 144f., 190, 256,
Hamilton, William Rowan 1805–1865, iri- 481
scher Math.: 91f., 146, 216, 381 Heimsoeth, Friedrich 1818-1877, Philol.: 27
Hammerschmidt verh. Klein, Maria Catha- Heine, Eduard 1821–1881, Math.: 105, 498
rina 1787–1871, Großmutter Kleins Heine, Heinrich 1797–1856, Dichter, Publi-
väterlicherseits: x, 11 zist: 186, 443
Hankel, Hermann 1839–1873, Math.: 92,107 Heinemann, Käthe *8.5.1889, Math., Botan.,
Hankel, Wilhelm Gottlieb 1814–1899, Phy- Lehrerin: 456, 458
siker: 288 Hellinger, Ernst 1883–1950, Math., DMV,
Hanstein, Johannes von 1822–1880, Botan.: Enc: 344f.
24f. Helmert, Robert 1843–1917, Geodät, Math.,
Harnack (seit 1914 von), Adolf 1851–1930, DMV, Enc: 272, 545
ev. Theologe: 141, 432, 436, 472, 537 Helmholtz, Hermann von 1821–1894, Physi-
Harnack, Axel 1851–1888, Math., Dr.-Schü- ker, Physiol.: 53, 82, 85, 99, 136, 290,
ler Kleins: 47, 115, 117f., 141, 156, 312-14, 332, 334, 360, 364, 367, 375,
168, 187, 191, 211, 265, 279, 288, 432 385, 416, 475f., 536
Hartnack, Eduard 1826–1891, Optiker: 28 Henneberg, Lebrecht 1850–1933, Math.,
Haskell, Mellen Woodman 1863–1948, US- DMV, Enc: 182f., 292, 405
amerik. Math., Dr.-Schüler Kleins, Henrici, Olaus 1840–1918, Math., DMV 40,
DMV: 255, 305-07, 520 127, 163, 167, 169, 520
562 Personenverzeichnis
Hensel, Kurt 1861–1941, Math., DMV, Enc: Höfler, Alois 1853–1922, österr. Math.-
54 Didakt., Philos., DMV: 274, 414, 420,
Herglotz, Gustav 1881–1953, Math., DMV, 434, 520, 533
Enc: 403, 404, 448 Hölder, Otto 1859–1937, Math., DMV, Enc:
Hermite, Charles 1822–1901, franz. Math.: 48, 50, 53, 61, 109, 195f., 204, 206f.,
viii, 5, 113, 157-59, 161, 163, 169, 236, 208, 212, 219, 237, 270, 296-301, 321-
238f., 241, 252, 258, 262, 308, 310f., 33, 354, 389, 457, 492, 520, 533
315, 319, 346, 361, 366f., 394, 397, Höpfner, Ernst 1836–1915, Pädag., Univ.-
399, 400, 483, 532 Kurator: 344, 370, 373, 383
Heß, Wilhelm 1858–1937, Math.: 171 Hoetzsch, Otto 1876–1946, Historiker: 466
Hesse, Otto 1811–1874, Math.: 39-41, 67, Hofmann, August Wilhelm 1818–1893,
95, 103, 105, 119, 150, 154f., 178, Chemiker.: 28
498f., 534 Holst, Elling Bolt 1849–1915, norweg.
Hettner, Georg 1854–1914, Math., DMV: Math.: 118, 291
228, 285f., 502, 504 Holzmüller, Gustav 1844–1914, Math.,
Heun, Karl 1859–1929, Math., DMV, Enc: DMV: 400, 425
408 Hoppe, Edmund 1854–1928, Math., Math.-
Hilb, Emil 1882–1929, Math., DMV, Enc: Hist., DMV: 450
249, 311, 338 Hoppe, Robert Heinrich 1857–1899, Math.,
Hilbert, David 1862–1943, Math., DMV, Lehrer, DMV: 203, 206, 233
Enc: viii, ix, 1, 5, 8, 32, 41f., 48, 55, Hoppe, Reinhold 1816–1900, Math., DMV:
76f., 91, 118, 137, 169, 173-75, 204, 105, 183, 292, 329
209, 210, 215f., 222, 229f., 232f., 235, Hoüel, Jules 1823–1886, franz. Math.: 65,
240, 249f., 252, 256, 272f., 275, 279, 89, 532
289, 292, 294, 298, 300, 311, 314f., Humboldt, Alexander von 1769–1859,
318-21, 326-31, 335, 340, 344-50, 353, Naturforscher: 16, 483, 542, 544
361, 363, 372, 375, 378-80, 383, 385, Humboldt, Wilhelm von 1767–1835, Ge-
393-97, 399, 402f., 407f., 415-17, 420, lehrter: 16, 483, 542, 544
426, 430, 434, 443f., 447f., 451f., Hurwitz, Adolf 1859–1919, Math., DMV:
456f., 459f., 463f., 467, 470, 480, 485- 8, 43, 47, 102, 118, 133, 155, 161, 169,
87, 489f., 492-94, 507-09, 513, 518, 172-75, 185-87, 190, 198-200, 202f.,
520, 523, 526, 531, 533, 539, 541f., 205, 207-210, 212f., 221, 224, 228,
544, 546 231f., 239, 241-43, 245f., 254-56, 260-
Hildebrand, Rudolf, Math.: 204 69, 276f., 279-81, 284, 287f., 290,
Hillebrand, Meinolf Rudolf *3.3.1937, Ur- 294f., 299f., 305, 307, 311, 313, 315,
enkel Kleins: 9f., 525, 551f. 318-22, 325, 328f., 331-33, 335f., 338,
Hillebrandt, Alfred 1853–1927, Philologe: 340f., 351, 361, 366, 369, 372, 378-80,
386, 428, 465f. 396-400, 439, 478f., 484-86, 490, 505-
Hinneberg, Paul 1862–1934, Hist.: 409, 439 09, 520, 526, 533, 542, 548, 551
Hirst, Thomas Archer 1830–1892, brit. Hurwitz, Julius 1857–1919, Math., DMV:
Math.: 40 43, 540
Hirzebruch, Friedrich 1927–2012, Math., Husserl, Edmund 1859–1938, Philos.: 420,
DMV: 197, 531 494
Hjelmslev (Petersen), Johannes 1873–1950, Huygens, Christiaan 1629–1695, niederl.
dän. Math.: 357 Math., Physik., Astr.: 496, 498
Hobson, Ernest William 1856–1933, brit. Ihlenburg, Wilhelm *1884, Math., Dr.-
Math., Enc.: 520 Schüler Kleins: 395
Hoeck, Karl Friedrich Christian 1794–1877, Intze, Otto 1843–1904, Bauing.: 376
Althist., Altphilol., Bibl.: 78 Jaccottet, Charles 1872–1938, schweiz.
Höckner, Georg Woldemar, Math., Gymn.- Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 300,
Lehrer: 203 311, 347, 352, 520
Personenverzeichnis 563
231, 245, 264, 314, 327, 336, 367, 420, Krupp von Bohlen und Hallbach, Gustav
498, 536 1870–1950, Ltr. d. Krupp-Konzerns:
Kötter, Fritz 1857–1912, Math., Mech., 148, 376, 383, 385f., 453, 475
DMV: 401 Krylow [Kriloff], Alexej, N. 1863–1945,
Kohlrausch, Wilhelm 1855–1936, Physiker, russ. Schiffbauing., Math., Enc: 413,
Elektrotechniker: 146 520
Kollert, Julius 1856–1937, Lehrer, Prof., Kuhn, Thomas S. 1922–1996, US-amerik.
Elektrotechn., DMV: 203, 233 Physiker, Wiss.philos.: 7
Koppel, Friedrich 1854–1933, Bankier: 439 Elster, Ludwig 1856–1935, Volkswirt 345
Korkin, Aleksandr Nikolaevič 1837–1908, Kummer, Ernst Eduard 1810–1893, Math.:
russ. Math.: 223 1, 27, 49-53, 55f., 61, 67, 73, 75-77,
Korteweg, Dieterik J. 1848–1941, niederl. 86f., 182, 196, 206f., 268, 297, 332,
Math.: 359 363, 496, 504, 517, 542
Kortum, Carl Arnold 1745–1824, Bergarzt, Kundt, August 1839–1894, Physiker: 334
Dichter: 141 Kutta, Wilhelm 1867–1944, Math., DMV:
Kortum, Hermann 1836–1904, Math. DMV: 391
333 Ladd-Franklin, Christine 1847–1930, US-
Kottler, Friedrich 1886–1965, österr.-US- amerik. Math.: 369f.
amerik. theor. Physik.: 460 Lagarde, Paul Anton de 1827–1891, Kul-
Kovalevskaya geb. Korwin-Krukowskaja, turphilos., Orientalist: 285f., 325, 537
Sofia 1850–1891, russ. Math.: 85, 190, Lagrange, Joseph-Louis 1736–1813, franz.
368, 401, 548 Math.: 7, 99, 157, 381, 398, 413, 496,
Kowalewski, Gerhard 1875–1950, Math., 498
DMV: 216, 357, 537 Laisant, Charles-Ange 1841–1920, franz.
Kraepelin, Karl 1848–1915, Biol.: 39, 427, Mathematiker: 65, 274, 424
545 Lamb, Horace 1849–1934, brit. Math.,
Krause, Martin 1851–1920, Math., DMV: Physiker, Enc: 271, 358
361 Lamé, Gabriel 1875-1870, franz. Math.,
Krauß (seit 1905 Ritter von), Georg 1826– Physiker: 226, 310f., 400f., 498
1906, Unternehmer: 179, 378 Lampe, Emil 1840–1918, Math., DMV: 65,
Krazer, Adolf 1858–1926, Math., DMV, 105, 274, 292, 329, 431, 439
Enc: 204, 207f., 211f., 235f., 267, 350, Lanchester, William 1868–1946, brit. Ing.,
457, 470, 472-74, 520 Math., Automobilfabrikant, Flugzeug-
Kregel von Sternbach, Karl Friedrich 1717– bauer: 392
1789, Stifter: 213 Landau, Edmund 1877–1938, Math., DMV:
Krell, Otto 1866–1938, Ing., Industr.: 391 viii, 294, 385, 399, 443, 447f., 450,
Kretzschmar, Hermann 1848–1924, Musik- 457, 465, 481, 487, 513, 520, 544
wiss.: 146 Landolt, Hans Heinrich 1831–1910,
Krieg v. Hochfelden, Franz 1857–1919 stud. schweiz. Chem.: 24f., 85
math.: 204 Lange, Ernst Julius M. *1858, Math., Dr.-
Kronecker, Leopold 1832–1891, Math., Schüler Kleins: 197, 205f., 276, 520
DMV: 27, 47, 52-55, 57, 157-60, 165, Lange, Helene 1848–1930, Päd., Frauen-
172-74, 206, 209, 211-13, 221f., 231, rechtlerin: 435
235, 237, 258, 263, 265, 267, 290, 296, Larmor, Joseph 1857–1942, irischer Math.,
308, 319, 328f., 331-35, 363, 415, 487, Physiker: 358
494, 504, 506, 509 Laski, Gerda 1893–1928, österr. Physikerin:
Kronheimer, Peter *1963, brit. Math.: 260 457
Krüger, Louis 1857–1923, Math., Geodät, Laue, Max von 1879–1960, Physiker, DMV,
DMV: 472, 474 Enc: 317
Krull, Wolfgang 1899–1971, Math., DMV, Laugel, Léonce 1859–1936, franz. Math.:
Enc: 457 313, 366, 397, 400, 415, 534
Personenverzeichnis 565
Launhardt, Wilhelm 1832–1918, Bau-Ing., 441-43, 467, 469f., 480, 486, 490, 520,
Verkehrswiss.: 323, 326 526, 530, 538
Lederer, Hugo 1871–1940, Bildhauer: 483 Lilienthal, Reinhold von 1857–1935, Math.,
Legendre, Adrien-Marie 1752–1833, franz. DMV, Enc: 333
Math.: 23, 224, 243 Linde (seit 1897 Ritter von), Carl 1842–
Leibniz, Gottfried Wilhelm 1646–1716, 1934, Ing., Unternehmer: 150, 177-79,
Universal-Gelehrter: 436, 454 375, 377f. 386, 442, 520, 551
Lejeune-Dirichlet, Johann Peter Gustav Lindemann, Ferdinand 1852–1939, Math.,
1805–1859, Math.: 7, 38, 52, 54, 82, Dr.-Schüler Kleins, DMV: 4, 14, 33,
226, 230, 232-35, 242, 247, 296, 319f., 40, 47, 53, 76f., 82-85, 99-101, 103,
367, 412f., 448, 502, 533 105, 114-16, 118, 138-41, 149, 168f.,
Lemoine, Émile 1840–1912, franz. Math.: 174, 183-85, 192, 210, 235f., 279, 288-
361 90, 300, 312, 318, 328, 331f., 334, 338,
Lenard, Philipp 1862–1947, Exp.Phys.: 343, 347, 357, 360, 509, 520, 525, 529,
462f. 549, 551
Leo, Friedrich 1851–1914, Altphilol.: 12 Linné, Carl von 1707–1778, schwed. Natur–
Lerch, Matyás 1860–1922, tschech. Math., forscher: 421
DMV: 361 Liouville, Joseph 1809–1882, franz. Math.:
Levi-Civita, Tullio 1873–1941, ital. Math., 74
DMV: 176, 401, 522 Lippich, Ferdinand 1838–1913, österr. Phy–
Lexis, Wilhelm 1837–1914, Math., Statis– siker, Math.: 47
tiker, Ökon.: 360, 370, 373-75, 383, Lipschitz, Rudolf 1832–1903, Math., DMV:
387, 393, 431, 433, 534f. 23-26, 34, 36, 53, 99, 105, 329
Lichtenberg, Georg Christoph 1742–1799, Lissajous, Jules Antoine 1822–1880, franz.
Physiker: 38 Physiker: 117
Lichtenstein, Leon 1878–1933, poln.-dt. Listing, Johann Benedikt 1808–1882, Math.,
Math., DMV, Enc: 227, 251, 475 Physik.: 81-83, 105, 209
Lichtwark, Alfred 1852–1914, Kunsthistori– Lobatschewski, Nikolai I. 1792–1856, russ.
ker: 444, 540 Math.: 60-62, 89, 313, 541
Lie, Sophus 1842–1899, norweg. Math., Loewy, Alfred 1873–1935, Math., DMV:
DMV: viii, xvi, 1, 5, 13, 19, 21, 32, 37, 347
47f., 51, 54-56, 58-61, 63f., 66-80, 83- Lommel (seit 1892 von), Eugen 1837–1899,
94, 96f., 99, 103-07, 110f., 113-19, Physiker, DMV, Schwager Kleins: x,
123, 127-30, 132, 135, 137-40, 142f., 108, 139, 144, 466, 497f.
158f., 161, 182f., 185, 198, 200, 205, Lommel, Herman 1885–1968, Linguist, In–
213f., 217, 225, 238f., 247, 255-57, dogermanist, Neffe Kleins: 466
260, 272, 276, 280, 282f., 288-91, Lorentz, Hendrik Antoon 1853–1928, nie–
295f., 300, 302, 311-14, 332, 340, 346, derl. Physik., Math., Enc: 130, 272,
354, 363, 368, 416, 422, 484f., 489f., 349, 358, 407, 430, 439
495, 517, 521f., 525, 529f., 533f., 537, Lorenz, Hans 1865–1940, techn. Physik.,
539, 541f., 544f., 547 DMV: 383, 389, 492
Liebermann, Max 1847–1935, Maler: ix, Lorey, Wilhelm 1873–1955, Vers.-Math.,
444f., 447, 452, 454, 483, 519, 522, DMV: 23, 40, 43, 56, 78, 82, 84, 94,
540, 552 100, 109, 125, 154f., 194, 206, 246,
Liebig, Justus (ab 1845 Freiherr von) 1803– 281, 352, 372-74, 413, 431, 435, 451,
1873, Chem.: 475 452, 525f., 538, 543
Liebisch, Theodor 1852–1922, Mineral., Loria, Gino 1862–1954, ital. Math.,
Enc: 285, 317, 325, 340, 343 Math.hist., DMV, Enc: 4, 35, 116, 352,
Liebmann, Heinrich 1874–1935, Math., 520, 535
DMV, Enc: 271, 305, 401, 538 Lotze, Rudolf Hermann 1817–1881, Philo–
Lietzmann, Walther 1880–1959, Math., soph: 78, 101
Didakt., DMV: 350, 428f., 433-35,
566 Personenverzeichnis
Love, Edward Hough 1863–1940, brit. Meyer, Eugen 1868–1930, techn. Physik.,
Math., Enc: 271, 356, 358, 405f., 520 DMV: 378, 389
Ludwig II., Otto F. W. von Wittelsbach Meyer, Wilhelm Franz 1856–1934, Math.,
1845–1886, König von Bayern: 149f. DMV, Enc: 170f., 180, 216, 269, 274,
Ludwig, Carl 1816–1895, Physiol.: 2, 278, 292, 328, 330, 346, 349, 353, 357, 361,
280f. 379, 520
Lüders, Otto 1844–1912, klass. Philol.: 28 Meyerstein, Moritz 1808–1882, Univ.-
Lüroth, Jacob 1844–1910, Math., DMV: 33, Mech.: 105
39-41, 44, 75, 87, 105, 150, 183, 187, Michelson, Albert Abraham 1852–1931,
281, 328, 332, 515 US-amerik. Physik.: 349
Luther, Robert 1822–1900, Astr.: 20 Mie, Gustav 1868–1957, theor. Physiker,
Mach, Ernst 1838–1916, österr. Physik., DMV: 275, 459
Philos.: 264, 265, 420 Mill, John Stuart 1806–1873, brit. Philos.,
Maddison, Ada Isabel 1869–1950, brit. Ma– Ökonom: 28
thematikerin: 415 Miller (ab 1875 von), Oskar 1855–1934,
Magnus, Gustav 1802–1870, Physiker: 52 Bauing.: 442, 520
Maltby, Margaret Eliza 1860–1944, US- Minding, Ferdinand 1805–1885, deutsch-
amerik. Physikochemikerin: 370 russ. Math.: 117
Mansion, Paul 1844–1919, belg. Math., Minkowski, Hermann 1864–1909, Math.,
Math.hist., DMV: 111, 424 DMV, Enc: 48, 210, 292, 294, 379,
Mariotte, Edme ca. 1620–1684, franz. 393, 490
Physiker: 178 Minkowski, Rudolph 1895–1976, dt.-US-
Markow (Markoff, Markov), Andrej An– amerik. Astr.physiker: 457
dreevič 1856–1922, russ. Math.: 6, Minnigerode, Bernhard 1837–1896, Math.,
223f., 271, 310f., 316, 520, 525, 547 Mineral.: 43, 81, 84, 105
Marotte, F. franz. Math., Übersetzer: 433 Mises, Richard von 1883–1953, Math.,
Maschke, Heinrich 1853–1908, Math., DMV, Enc: 6, 237, 273, 355, 389, 448,
DMV: 303f., 325f., 361, 363, 369, 522 454, 474, 479f., 525, 539, 544
Massenbach, Leo Freiherr von 1797–1880, Mittag-Leffler, Gösta 1846–1927, schwed.
Jurist, preuß. Beamter: 12 Math., DMV: viii, 47, 187, 223, 243,
Maxwell, James Clerk 1831–1879, schott. 247f., 264, 273, 283, 296, 308, 424
Physiker: 367, 401, 405 444, 520, 541, 545
Mayer, Adolph 1839–1908, Math., DMV: Młodziejewski, Bolesław 1858–1928, poln.-
6, 39, 44-48, 79, 88, 103-07, 136, 140, russ. Math.: 300
159-61, 169, 171, 184-86, 189-91, 195, Möbius, August Ferdinand 1790–1868,
197, 200-02, 213f., 223, 238, 272, 276, Math.: 29f., 91, 99, 120, 184, 191, 193,
279f., 288, 290-92, 302, 316, 328f., 211, 221, 229, 270, 278-80, 411, 549
354, 412, 484, 547 Mohrmann, Hans 1881–1941, Math., DMV,
McClintock, Emory 1840–1916, US-amerik. Enc: 356f., 458
Vers.-Math.: 365, 373 Molien, Theodor 1861–1941, dt.-balt., sowj.
Mehmke, Rudolf 1857–1944, Math., DMV, Math., DMV: 204, 223, 262, 279
Enc: 126, 271-73 Molk, Jules 1857–1914, franz. Math., DMV,
Meier, Ernst von 1832–1911, Jurist, Univ.- Enc(f): 356, 520, 532
Kurator: 337, 339, 369f. Mollier, Richard 1863–1935, angew. Phy–
Mendelejeff, Dmitri I. 1834–1907, russ. siker, Ing.: 378, 389
Chem.: 323 Monge, Gaspard 1746–1818, franz. Math.,
Merkel, Friedrich 1845–1919, Anatom: Physik.: 30, 37, 66, 198
101f., 412 Moore, Eliakim Hastings 1862–1932, US-
Merz, John Theodore 1840–1922, brit. amerik. Math., DMV: 280, 352, 361f.,
Chem., Hist., Industr.: 413, 415f., 539 369, 520, 522, 539f.
Metzler, G. F., Hörer bei Klein: 352 Morera, Giacinto 1856–1909, ital. Math.:
Meyer, Diedrich, Baurat, Direktor VDI: 479 204, 220f., 262, 279
Personenverzeichnis 567
Pascal, Ernesto 1865–1940, ital. Math.: 135, Plücker, Antonie geb. Altstätter, Ehefrau v.
326 Julius P.: 32, 85, 97, 411
Pasch, Moritz 1843–1930, Math., DMV: 87, Plücker, Julius 1801–1868, Math., Physik.:
105, 415, 421, 508, 543 2, 7, 11, 15, 21-33, 35, 39, 43f., 49-52,
Pasquier, Ernest 1849–1926, belg. Math.: 54, 56-59, 77f., 97, 99, 111, 131f.,
105, 111 182f., 191, 207, 269f., 297, 411, 483f.,
Pasteur, Louis 1822–1895, franz. Chem., 499, 501, 517, 529f., 540, 549
Mikrobiologe: 28 Pockels, Friedrich 1864–1913, Math.,
Pauli, Wolfgang Ernst 1900–1958, österr. Physiker, DMV, Enc: 271, 310, 394,
Physiker, Enc: 457, 460 411, 540
Peano, Guiseppe 1858–1932, ital. Math.: Poincaré, Henri 1854–1912, franz. Math.,
415, 421 Physik., Astr.: viii, 4, 5, 165, 217, 222,
Peipers, Johann Philipp David 1838–1912, 224f., 238-55, 264, 306, 308, 318, 340,
Philosoph: 102 343, 349, 362, 367, 395, 416, 424,
Penrose, Roger *1931, brit. Math., theor. 438f., 444, 486, 489, 513f., 517, 520,
Physiker: 411 532, 540f., 543, 548
Perry, John 1850–1920, irischer Ing., Math.: Poinsot, Louis 1777–1859, franz. Math.:
147, 271, 430, 433, 436, 494, 540 155, 498
Pervouchine, T. M., russ. Math.: 361 Poisson, Siméon Denis 1781–1840, franz.
Pestalozzi, Johann Heinrich 1746–1827, Math., Physiker: 497
schweiz. Pädag.: 465 Poncelet, Jean-Victor 1788–1867, franz.
Peter, Albert 1853–1937, Botaniker: 352 Math., Ing., Physiker: 1, 29, 31, 58,
Petermann, August Heinrich 1822–1878, 111, 483
Geogr., Kartograph: 29 Pontani, Bernhard *27.10.1845, Kommili-
Pfaff, Friedrich 1825–1886, Geologe, Mine– tone Kleins, Lehrer: 22
raloge: 125 Poske, Friedrich 1852–1925, Päd., Naturw.:
Pfaff, Hans Ulrich Vitalis 1824–1872, Ma– 429, 469
thematiker: 107f., 125, 140 Prandtl, Ludwig 1875–1953, Mech., Strö-
Pfeiffer, Friedrich 1883–1961, Math., DMV: mungsphysik, DMV, Enc: viii, 3, 6,
406 275, 294, 382, 390-93, 402, 404, 406,
Pfitzer, Ernst 1846–1906, Botaniker: 24 447f., 454, 476f., 479f., 490f., 525, 530
Picard, Émile 1856–1941, franz. Math.: Prange, Georg 1885–1941, Math., DMV,
225, 239, 262, 300, 306, 308f., 315, Enc: 481
318, 367, 395, 424, 438, 452, 454, 520 Pringsheim, Alfred 1850–1941, Mathema-
Pick, Georg 1859–1942, österr. Math., tiker, DMV, Enc: 180, 430, 490
DMV: 8, 204, 221, 262, 264, 289, 297, Pringsheim, Nathanael 1823–1894, Bota–
372 niker: 29
Pickering, Edward Charles 1846–1919, US- Prym, Friedrich 1841–1915, Math., DMV:
amerik. Astr.: 365 211, 228, 235, 267
Pieri, Mario 1860–1913, ital. Math. Enc(f): Puiseux, Victor 1820–1883, franz. Math.:
113, 538 95
Pietzker, Friedrich 1844–1916, Gymn.Prof., Pulfrich, Carl 1858–1927, Physiker, Kon–
DMV: 429, 433 strukteur opt. Instrumente: 27, 547
Pincherle, Salvatore 1853–1936, ital. Math., Pupin, Mihajlo Idvorski 1854–1935, serb.-
DMV, Enc: 361, 415 US-amerik. Physiker: 404
Planck, Gottlieb 1824–1910, Jurist: 294 Rabinowitsch-Kempner, Lydia 1871–1935,
Planck, Max 1858–1947, Physiker, DMV: Mikrobiologin: 435
8, 155, 180, 355, 371, 386, 420, 452, Radicke, Gustav 1810–1883, Physiker: 24
454, 461, 489, 518, 525, 533, 536f., Rados (Raussnitz), Gusztáv 1862–1942,
541, 544 ungar. Math., DMV: 204, 221f., 520
Platon ca. 428–348 v. Chr., griech. Philo– Raffael 1483–1520, ital. Maler: 480
soph: vii, 28, 123
Personenverzeichnis 569
Ranke (seit 1865 von), Leopold 1795–1886, Rodenberg, Carl Friedrich 1851–1933,
Historiker: 102, 143, 355, 409 Math., DMV: 85, 95, 277, 292
Rausenberger, Otto 1852–1931, Math., Rohn, Karl 1855–1920, Math., Dr.-Schüler
Lehrer: 245f. Kleins, DMV, Enc: 133, 170f., 180,
Reeß, Maximilian Ferdinand Franz 1845– 182, 195-98, 201, 210, 268f., 276, 279,
1901, Botaniker: 116 357, 520
Reich, Max 1874–1941, Physiker: 476 Rohns, Christian Friedrich Andreas 1787–
Reichardt, Willibald Alexander *1864, 1853, Architekt, Bauunternehmer: 147,
Math., Dr.-Schüler Kleins: 62, 204, 295, 350, 464, 551
268, 279, 303 Rohr, Moritz von 1868–1940, Math., Indus–
Rein, Wilhelm 1847–1929, Pädag.: 423, 547 trieforscher: 100, 547
Reißner, Hans 1874–1967, Ing., Math., Phy– Rosanes, Jacob 1842–1922, Math., DMV:
siker, DMV, Enc: 454 332
Repsold, Johann A. 1838–1919, Instrumen– Rosemann, Walther 1899–1971, Math.:
tenbauer: 323, 326 129, 229, 456, 536
Réthy, Mór (Moritz) 1846–1925, ungar. Rosenbach, Friedrich Julius 1842–1923,
Math., DMV: 105 Med., Chirurg: 340
Reye, Karl Theodor 1838–1919, Math., Rosenhain, J. Georg 1816–1887, Math.: 210
DMV: 59, 63, 68, 75, 105, 184, 191, Rosenthal, Arthur 1887–1959, Math., DMV,
214, 329, 498, 522 Enc: 338, 357, 375
Ricci-Curbastro, Gregorio 1853–1925, ital. Rost, Georg 1870–1958, Math., DMV: 267
Math., DMV: 175f. Routh, Edward John 1831–1907, brit. Math.:
Richardson, Roland George Dwight 1878– 271, 358
1949, kanad.-US-amerik. Math., DMV: Roux, Karl 1826–1894, Maler: 185
523 Rüdenberg, Reinhold 1883–1961, Elektro-
Richelot, Friedrich Julius 1808–1875, Math.: Ing.: 403, 539
39, 105, 198, 336 Rudio, Ferdinand 1856–1929, dt.-schweizer.
Richert, Hans 1869–1940, Lehrer, Schul– Math., Math.hist.: 284, 412, 520
politiker: 433, 471 Ruer, Julius Wilhelm 1784–1864, Arzt: 20
Riecke, Eduard 1845–1915, Physiker, DMV: Ruer, Wilhelm, Mitschüler Kleins: 20
84, 97-102, 105, 140, 209, 274, 284- Ruffini, Paolo 1765–1822, ital. Math.: 157
87, 293, 301f., 323, 325, 376, 379, 383, Runge, Carl 1856–1927, Math., DMV, Enc:
391, 408, 447, 464, 519f., 551 viii, 19, 55, 78, 155, 206, 232, 272,
Riedler, Alois 1850–1936, österr. Ing.: 385 292, 294, 341, 345, 375, 387, 389,
Riemann, Bernhard 1826–1866, Math.: 1, 4, 392f., 402, 404, 406, 408, 413, 418,
38f., 42, 47, 55, 62f., 82, 84, 86, 89f., 420, 431, 438, 443, 447f., 451, 458f.,
95, 111f., 120-23, 132f., 135f., 162f., 465, 473f., 477, 480, 491, 520, 533.
179f., 193, 198, 204, 221, 225f., 228- Runge, Iris 1888–1966, Industrie-Math.,
31, 233-37, 241, 244f., 247f., 252f., Physikerin: 436, 442, 458, 464, 547
255, 263f., 304, 306, 308f., 315, 318, Russell, Bertrand 1872–1970, brit. Philos.,
321, 326, 366f., 399, 412, 489, 502, Math., Logiker: 487
514f., 517f., 524, 532, 534, 537, 540f. Sachs, Eva Henriette 1882–1936, Philol.,
Rieppel (seit 1906 von), Anton 1852–1926, Lehrerin: 28
Brückenbauing., Industr.: 383, 386f., Sachs, José (Joseph) 1864–1927, schweiz.-
407 brasil. Math.-Lehrer, Missionar: 430
Ritter, Ernst 1867–1895, Math., Dr.-Schüler Sachs, Julius 1832–1897, Botaniker: 29
Kleins, DMV: 4, 292, 342f., 347, 370, Sagorski, Ernst 1847-1929, Kommilitone
380 Kleins, Gymn.Prof.: 22, 28, 36
Roch, Gustav 1839–1866, Math.: 236 Salié, Hans 1902–1978, Math., DMV: 198
Rockefeller, John D. 1839–1937, US-ame– Salmon, George 1819–1904, irischer Math.:
rik. Unternehmer: 478, 525, 544 33, 39, 75, 498, 542
570 Personenverzeichnis
Selenka, Emil 1842–1902, Zoologe: 116 Spiro, Eugen (Eugene) 1874–1972, deutsch-
Selling, Eduard 1834–1920, Math., DMV: US-amerik. Maler: ix
346 Spitzer, Simon 1826–1887, österr. Math.:
Seyfarth, Friedrich 1891–1960, Math., Stu- 183
diendirektor, DMV: 435, 456, 458, 535 Springer, Anton 1825–1891, Kunsthist.: 23
Sibley, Hiram 1807–1888, US-amerik. Un– Springer, Julius 1880–1968, Verleger,
ternehmer: 365 DMV: 48, 271, 275, 296, 448, 455
Siedentopf, Henry 1872–1940, Physiker, Stäckel, Paul 1862–1919, Math., Math.hist.,
Zeiss-Forscher: 352, 403 DMV, Enc: 271, 273, 354, 410, 412,
Siemens, Werner von 1816–1892, Elek– 427, 429, 520
trotechn., Industr.: 382f., 385, 391 Stähelin, Helene 1891–1970, schweiz. Ma–
Simon, Hermann Theodor 1870–1918, Phy– thematikerin: 456, 458
siker: 274, 389, 403, 476 Stahl, Hermann von 1843–1909, Math.,
Simon, Max 1844–1918, Math., Math.hist., DMV: 267, 385
DMV: 56, 105, 430 Staiger, Robert 1882–1914, Musikwiss.,
Simony, Oscar 1852–1915, österr. Math.: Schwiegersohn Kleins: 145f., 451
183 Stark, Johannes 1874–1957, Exp.Phys.: 408,
Sintzow, Dimitrij M. 1867–1946, russ. 462
Math., DMV: 113, 520 Starke, Dorothea 1902–1943, Mathemati–
Sitter, Willem de 1872–1934, niederl. Astr.: kerin: 407
462 Staude, Otto 1857–1928, Math., Dr.-Schüler
Slaby, Adolf 1849–1913, Elektrotechniker: Kleins, DMV, Enc: 54, 61, 88, 109,
385, 391, 428, 431-33, 535 196, 203, 205, 207, 211, 235f., 279f.,
Slodowy, Peter 1948–2002, Math., DMV: 296, 435, 533
4, 157, 258, 260, 534, 544 Staudt, Karl Georg Christian von 1789–
Smend, Rudolf 1851–1913, Theologe: 379 1867, Math.: 60, 69, 90, 107, 191, 517
Smith, David Eugene 1860–1944, US-ame– Steindorff, Ernst 1839–1895, Hist.: 102
rik. Math., Math.hist., Pädag., DMV: Steiner, Jacob 1796–1863, Math.: 30, 39,
349, 352, 423, 443, 454, 535 51, 57, 191, 526, 533, 536, 543, 547-49
Smith, Henry John Stephen 1826–1883, iri– Steinitz, Ernst 1871–1928, Math., DMV,
scher Math.: 128-30, 161, 172, 176, Enc: 36, 534
217, 282 Stephanos, Cyparissos 1857–1918, griech.
Smith, William Robertson 1846–1894, Math., DMV: 424, 520
schott. Theologe, Arabist: 85, 92, 107, Stern, Alfred 1846–1936, Hist.: 102, 478f.
127, 161, 315 Stern, Antonie 1892–nach 1967, Mathema–
Snyder, Virgil 1869–1950, US-amerik. tikerin, DMV: 457
Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 352, Stern, Moritz Abraham 1807–1894, Math.,
365, 372, 520-23 DMV: 43, 80-82, 102, 106, 111, 284,
Sohncke, Leonhard 1842–1897, Physiker, 478, 503f., 519
Kristallograph: 317 Still, Carl 1868–1951, Ing., Unternehmer,
Sommerfeld, Arnold 1868–1951, Math., DMV: 478
Physiker, DMV, Enc: 3, 6, 225, 228f., Stöhr, Friedrich, stud.math.: 203
272f., 310, 343-45, 347f., 354, 358f., Stokes, George Gabriel 1819–1903, irischer
372f., 379f., 393f., 400f., 459, 478, Math., Physik.: 358, 483
520, 530, 536, 544, 552 Stolberg (Fürst zu), Christian Ernst 1864–
Sonin, Nikolaj Jakovlevič 1849–1915, russ. 1940, Standesherr: 428
Math., DMV: 224, 429 Stolz, Otto 1842–1905, österr. Math., DMV:
Spiegel-Borlinghausen, Adolph von 1792– 6, 51, 56, 59, 88, 94, 102, 104f., 107,
1852, Offizier, preuß. Beamter: 12 111, 119, 140, 161, 184f., 189, 194,
Spiess, Otto 1878–1966, schweiz. Math., 197, 264f., 525, 527
Math.hist.: 458 Stresemann, Gustav 1878–1929, Politiker:
471
572 Personenverzeichnis
Vietoris, Leopold 1891–2002, österr. Math., Weber, Ernst Heinrich 1795–1878, Physiker,
DMV, Enc: 357 Physiologe: 276, 321
Virchow, Rudolf 1821–1902, Pathologe, Weber, Heinrich 1842–1913, Math., DMV,
Anthropologe: 181, 549 Enc: 39-41, 48, 222, 235, 253, 272,
Vleck, Edward Burr van 1863–1943, US- 276, 292, 326, 329f., 332, 335f., 338-
amerik. Math., Dr.-Schüler Kleins, 40, 346f., 349f., 353f., 361, 379f., 413,
DMV: 300, 311, 320, 363, 365 430, 490, 493, 520, 541f.
Vleck, John Monroe van 1833–1912, US- Weber, Moritz Gustav 1871–1951, Ing.,
amerik. Astronom: 365 Prof. f. Mechanik, DMV: 302, 345
Vögler, Albert 1877–1945, Unternehmer, Weber, Wilhelm Eduard 1804–1891, Phy–
Politiker: 476, 536 siker: 78, 81f., 85, 98f., 105, 209, 285,
Voellmy, Erwin 1886–1951, schweiz. Math., 294, 325, 361, 412, 475-77
Lehrer, DMV: 458 Wedekind, Ludwig 1843–1908, Math., Dr.-
Voigt, Georg 1866–1927, Politiker: 428 Schüler Kleins: 115, 117-19, 127, 168,
Voigt, Woldemar 1850–1919, Physiker, 360, 551
DMV: 285, 293, 299, 323, 379, 383, Weichold, Guido *1857, Math., Dr.-Schüler
399, 402, 428, 447, 476, 520 Kleins: 203, 232, 235f.
Volhard, Jakob 1834–1910, Chem.: 499 Weierstraß, Karl 1815–1897, Math., DMV:
Voss, Aurel 1845–1931, Math., DMV, Enc: 7, 27, 34, 41, 47, 51-58, 61f., 85, 105,
3, 43f., 47, 49, 83, 85, 87, 104f., 114, 118f., 122f., 131, 161, 169, 173-75,
118, 126, 137f., 142, 230, 270, 279, 180, 183, 187, 193, 197, 206f., 209,
285f., 289, 305, 325, 330, 340, 393, 211f., 221, 228, 231-33, 235-37, 239,
423, 464, 501, 504, 520 242, 261, 263f., 267f., 286-90, 296f.
Vries, Gustav de 1866–1934, niederl. Math., 305f., 308, 318, 327-32, 334f., 367f.,
DMV: 359 418, 430f., 483, 494, 504f., 509, 528f.,
Waelsch, Emil 1863–1927, tschech. Math., 533f., 536, 542, 548f.
DMV: 204, 221f., 520 Weiler, Adolf 1851–1916, schweiz. Math.,
Waerden, Bartel Leendert van der 1903– Dr.-Schüler Kleins, DMV: 35, 85, 95,
1996, niederl. Math., DMV: 215, 319, 96, 114f., 551
536 Weingarten, Julius 1836–1910, Math.,
Wagner, Ernst Leberecht 1829–1888, Pa– DMV: 87, 176
thologe, Mediziner: 230, 352 Weinreich, Hermann 1884–1932, Math.,
Wahrendorff, Ferdinand 1826–1898, Land– Pädagoge, DMV: 271, 425
arzt, Klinikgründer: 291 Weiß, Wilhelm 1859–1904, österr. Math.,
Waitz, Georg 1813–1886, Historiker: 78, DMV: 204, 221f.
102, 143, 464 Weitzenböck, Roland 1885–1955, österr.
Walker, Gilbert 1868–1958, brit. Math., Math., DMV, Enc: 357
Physiker, Meteorologe: 358 Welcker, Friedrich Gottlieb 1784–1868,
Wallach, Otto 1847–1931, Chemiker: 101, klass. Philologe, Archäologe: 28
383, 447, 527 Wellhausen, Julius 1844–1918, Theologe,
Walter, Max *1857, Schiffbau-Ing.: 478 Orientalist: 128, 338
Wangerin, Albert 1844–1933, Math. DMV, Wende, Erich 1884–1966, Jurist, Verwal–
Enc: 373 tungsbeamter: 450
Warnstedt, Adolf von 1813–1897, Jurist, Wenker, Albert †1871, Schulfreund Kleins:
Univ.-Kurator: 286 19, 50, 75, 78
Wassiljef [Wassiliew], Alexander W. 1853– Wernicke, Friedrich Alexander 1857–1915,
1929, russ. Math., Math.hist., DMV: Math., Pädagoge, DMV: 425
313, 316, 415, 424, 467, 520 Westpfahl, Wilhelm 1882–1978, Physiker:
Weber, Carl Maria von 1786–1826, Kom– 477
ponist: 27 Weyl, Hermann 1885–1955, Math., DMV:
Weber, Eduard Ritter von 1870–1934, 2, 123, 217, 230, 413, 420f., 442, 542f.
Math., DMV, Enc: 347
574 Personenverzeichnis
Weyr, Eduard 1852–1893, tschech. Math.: Wolfskehl, Paul Friedrich 1856–1906, Arzt,
361 Math., DMV: 249, 349, 459
Weyr, Emil 1848–1894, tschech. Math., Woods, Frederick Shenstone 1864–1950,
DMV: 65, 221, 306 US-amerik. Math., Dr.-Schüler Kleins:
White, Henry Seely 1861–1943, US-amerik. 300, 520
Math., Dr.-Schüler Kleins, DMV: 307, Wright, Orville 1871–1948, US-amerik.
335, 361 Luftfahrtpionier: 391, 392
Whitehead, Alfred North 1861–1947, brit. Wright, Wilbur 1867–1912, US-amerik.
Mathematiker, Philosoph: 487 Luftfahrtpionier: 391, 392
Wiechert, Emil 1861–1928, Geophysiker, Wulff, George V. 1863–1925, russ. Kris–
DMV, Enc: 384, 388, 391f., 403, 447, tallograph: 317
470, 493 Wüllner, Adolf 1835–1908, Physiker: 22,
Wiedemann, Eilhard 1852–1928, Physiker: 545
197 Wundt, Wilhelm 1832–1920, Psychologe,
Wieghardt, Karl 1874–1924, Math., Schüler Philosoph: 195, 206, 278, 423, 452
Kleins, DMV, Enc: 345, 403, 406 Wußing, Hans 1927–2011, Math.hist.: ix, 4,
Wiener, Christian 1826–1896, Math., DMV: 67, 112, 412, 549
41, 103, 317 Yoshiye (Yoshie), Takuji (Takuzi) 1874–
Wiener, Hermann 1857–1939, Math., DMV: 1947, japan. Mathematiker: 348, 520
204, 207f., 213, 292, 328 Young, George Paxton 1818–1889, brit.
Wiener, Norbert 1894–1964, US-amerik. Theologe, Logiker: 19
Math., DMV: 480, 549 Young, William Henry 1863–1942, engl.
Wiger, J., Hörer bei Klein: 352 Math., DMV: 447
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von Zacharias, Max 1873–1962, Math., DMV,
1848–1931, klass. Philologe: 28, 326, Enc: 357
381, 451f. Zarncke, Friedrich 1825–1891, Germanist:
Wilbrandt, Adolf von 1837–1911, Schrift- 23, 195
steller: 322 Zeiß, Carl 1816–1888, Mechaniker, Unter-
Wilhelm I. 1797–1888, deutscher Kaiser und nehmer: 382, 479
preuß. König: 73, 287 Zemplén, Győző 1879–1916, ungar. Physi-
Wilhelm II. 1859–1941, deutscher Kaiser ker, Enc: 404, 520
und preuß. König: 323, 325, 360, 371, Zeppelin, Ferdinand Graf von 1838–1917,
386, 391f., 425, 427f., 432 General, Ing.: 383, 391
Wiltheiss, Eduard 1855–1900, Math., DMV: Zermelo, Ernst 1871–1953, Math., DMV,
292, 307, 326, 328, 333 Enc: 275, 348, 421, 440, 513
Wiman, Anders 1865–1959, schwed. Math., Zeuner, Gustav 1828–1907, Ing.wiss.: 378
DMV, Enc: 86, 133, 166, 258, 304, 520 Zeuthen, Hieronymus Georg 1839–1920,
Windau, Willi 1889–1928, Math., DMV: dän. Math., Enc: 39, 42, 45, 58, 105,
457 216, 277, 348, 412, 520
Winkelmann, Max 1879–1946, Math., Dr.- Zindler, Konrad 1866–1934, österr. Math.,
Schüler Kleins, DMV: 372, 401, 407 DMV, Enc: 35, 36
Wirtinger, Wilhelm 1864-1945, österr. Ma- Ziwet, Alexander 1853–1928, poln.-dt.-US-
thematiker, DMV, Enc: 3f., 121, 161, amer. Ing., Math., DMV: 363, 424, 534
212, 250, 261, 306f., 326, 329, 356, Zoepffel, Richard 1843–1891, ev. Kirchen-
372, 380, 414, 520, 525, 529, 549 historiker: 102
Wirtz, Karl 1861–1928, Elektrotechn.: 203f. Zoepffel, Selma geb. Wiesinger: 102
Witting, Alexander 1861–1946, Math., Dr.- Żorawski, Kazimierz 1866–1953, poln.
Schüler Kleins, DMV: 186, 204, 206, Math., DMV: 300f., 320, 520
304 Zorn, Philipp 1850–1928, Kirchen-, Staats-
Wöhler, Friedrich 1800–1882, Chem.: 38 rechtler: 428
Wolff, Georg 1886–1977, Math., Lehrer, Zühlke, Paul 1877–1957, Math., Didaktik,
DMV: 469 DMV: 435