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SCHWERPUNKT: DENKEN _GORE

Gar nicht chefiger Chef: Eduard Klein


Andere Fotos zeigen Gores Medizinprodukte
und eine Jacke im Regentest

Der
Talentschuppen
Teamgeist, Kreativität und Eigenverantwortung der Mitarbeiter
werden in vielen Unternehmen beschworen – ohne dass dies Folgen hätte.
Welche es haben kann, zeigt der Kunststoffhersteller Gore.

Porträt einer extrem vernünftigen Firma.

Text: Jens Bergmann Foto: Sigrid Reinichs

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Jeder kann alles werden

Schon die erste Angestellte, der der Besucher bei Gore begegnet,
ist erstaunlich begeistert von ihrem Arbeitgeber. Die Rezeptioni-
stin Veronika Mender, ein barocker Typ mit Berliner Witz, wirkt
wie euphorisiert. Vor fünf Jahren, so erzählt sie am Empfang des
Werks II in Putzbrunn bei München, hat sie dort angefangen,
ohne etwas über das Unternehmen zu wissen. Ein Bekannter habe
sie damals noch gewarnt: „Das sind doch Amerikaner, die haben
bestimmt was mit Scientology zu tun!“ Der Sekten-Verdacht ist
nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn man die 60-Jährige von
„der ganz besonderen Stimmung“ schwärmen hört, davon, dass
„wir hier keine Mitarbeiter sind, sondern Associates, Teilhaber der
Firma“ – und natürlich von ihrem „neuen Commitment“.
Zu dieser in Gore-Sprech sogenannten neuen Aufgabe kam
die Empfangsdame auf bezeichnende Weise: In dem Werk ist auch
die Personalabteilung untergebracht, sodass alle Bewerber an
ihrem Tresen vorbeimüssen. Und weil die gelernte Schauspiele-
rin gern Menschen beobachtet und mit ihren Eindrücken nicht
hinterm Berg hält, hörten die Personaler ihr zu. „Ich habe ihnen
dann geschildert, ob einer zu uns passen könnte oder nicht.“
Ungeeignet seien „Leute, die zu sehr von sich selbst eingenom-
men sind – so etwas fällt mir gleich auf“. Weil sie oft mit ihrer
Einschätzung richtig lag, übertrug man ihr daraufhin die zentrale
Bewerber-Hotline für Europa. Wenn Interessenten für einen Job
bei Gore anrufen, landen sie bei Veronika Mender.
Ein Talent wie das ihre zu nutzen liegt eigentlich nahe – doch
in den meisten Unternehmen wären wohl Abteilungskompeten-
zen, Eifersüchteleien und Bürokratie davor. Bei Gore darf und 3

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soll jeder weiterdenken, etwas Neues wagen und dabei auch Feh-
ler machen. Damit die keine dramatischen Folgen haben, gibt es
die einprägsame Regel „Waterline“. Bei Entscheidungen, die das
Unternehmen existenziell gefährden könnten – wie ein Torpedo
ein Schiff –, sollte man sich vorher mit den Kollegen absprechen.
Auf eine formale Hierarchie, die neue Ideen im Keim erstickt, hat
Gore von Anfang an verzichtet.

Eine schrecklich innovative Familie: die Gores

Die Geschichte der Firma beginnt Mitte der fünfziger Jahre mit
einer Enttäuschung. Der Chemiker Bill Gore, leitender Mitarbei-
ter in der Forschung des Konzerns DuPont im amerikanischen
Wilmington, Delaware, versucht vergeblich, seinen Arbeitgeber
vom Potenzial des Kunststoffs Polytetrafluorethylen zu überzeu-
gen (PTFE, auch bekannt unter DuPonts Marke Teflon). Also
experimentiert Gore in seiner Freizeit damit und erkennt, dass
PTFE sich gut als Isolationsmaterial für Drähte eignet, insbeson-
dere für Verkabelung der damals aufkommenden Großrechner.
Doch sein Arbeitgeber denkt nur an die Chemie und schert sich
nicht um Endverbraucher, sodass Gore sich im Keller seines Hau-
ses kurzerhand selbstständig macht. Er führt das Geschäft mit
seiner Frau Genevieve. Später steigen Familienmitglieder und
externe Mitarbeiter ein, die er Associates nennt.
Als Schlüssel für den unternehmerischen Erfolg erweist sich Rezeptionistin mit Blick fürs geeignete Personal: Veronika Mender
1969 die Idee von Gores Sohn Bob, das Polymer PTFE zu stre-
cken. Nach zahllosen gescheiterten Versuchen entsteht schließlich
eine stabile, vielseitig verwendbare Membran: die Grundlage für Die Gores sind nicht nur begabte Tüftler und Verkäufer, son-
den wasserabweisenden, aber atmungsaktiven Stoff Goretex und dern auch praktische Organisationspsychologen, die ihre Firma
Hunderte weiterer Produkte. Heute wird das Gewebe für Freizeit- nach neuen Grundsätzen führen. Bill Gore will die Atmosphäre
und Schutzkleidung aller Art, Filter, Dichtungen, Belüftungsele- guter Labors, in denen allein die bessere Idee zählt, auf sein
mente, Zahnseide und komplexe Gefäß-Implantate verwendet. gesamtes Unternehmen übertragen. „Hinter der Fassade der auto-
Das Geschäftsprinzip von Gore besteht darin, sich ständig ritären Hierarchie“, so seine bei DuPont gewonnene Überzeu-
neue Anwendungen für PTFE einfallen zu lassen – und bei Ent- gung, gibt es eine informelle Beziehungsmatrix, die die wahren
wicklung, Vertrieb und Marketing unorthodox vorzugehen. So Kompetenzen widerspiegelt. So führt er in seiner Firma Positio-
sehen Sportbekleidungshersteller zunächst keinen Bedarf für das nen und Titel gar nicht erst ein, („no ranks, no titles“), damit das
Material. Deshalb sprechen die Gore-Leute in mühseliger Klein- Wissen frei fließen und die Teams sich eigenständig finden kön-
arbeit selbst die Endkunden an, schalten Anzeigen, demonstrie- nen. Als nützlich erweist sich seine Gabe, Überzeugungen in Form
ren unermüdlich auf Messen und in Geschäften die Vorzüge prägnanter Merksätze zu formulieren: „Wir managen keine Men-
ihres Produktes. Bis die Nachfrage auf dem Markt die Hersteller schen, die Menschen managen sich selbst.“
überzeugt. Als aus Goretex gefertigte Parkas nicht dicht halten, Der Management-Theoretiker Gary Hamel bezeichnet die
zieht die Firma radikale Konsequenzen: Fortan muss sich jeder, Firma als „Innovationsdemokratie“, eine Gemeinschaft sich selbst
der den Stoff weiterverarbeitet, verpflichten, das fertige Produkt organisierender Problemlöser. Das allerdings setzt ständige Ab-
in Gores Laboren testen zu lassen. Im Gegenzug garantiert man sprachen voraus – was mit der wachsenden Größe des Unter-
für die Qualität. Ein sehr hoher Aufwand, der sich lohnt, weil er nehmens immer aufwendiger wird. Gores verblüffende Lösung:
das Unternehmen aus dem Heer namenloser Zulieferer heraus- Wenn die Zahl der Mitarbeiter eines Werks ein der Kommunika-
hebt. Die Marke Goretex überstrahlt nicht selten – dabei dem tion dienliches Maß übersteigt, wird ein neues gegründet.
Chiphersteller Intel nicht unähnlich – den Hersteller des End- In dieser Wabenstruktur weitgehend selbstständiger und hoch-
produktes. Die strengen Qualitätsmaßstäbe werden auch auf Pro- flexibler Einheiten entwickelt sich die Firma bald international, seit
dukte für Industrie und Gesundheitstechnik ausgeweitet. 1966 ist Gore in Deutschland. So gibt es auch in Putzbrunn – eine

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der vielen Gewerbegemeinden rund um München, die mehr Jobs Und dass Gore ebenso viel Zeit in seine Unternehmenskultur
als Einwohner zählen – vier Gore-Werke für rund 800 Mitarbei- investiere wie in die Produkte.
ter. Dieser Luxus ist auch deshalb möglich, weil die Produktions-
kosten in dem innovationsgetriebenen Unternehmen nicht die Die Kollegen sehen alles
entscheidende Rolle spielen. Orthodoxe Betriebswirte, gäbe es sie
denn bei Gore, bekämen trotzdem Pickel. Was in Controller-Ohren nach unglaublicher Verschwendung
klingen mag, ist in Wahrheit höchst effektiv: Selbstkontrolle ist
Wer unser Chef ist, entscheiden wir besser als Fremdkontrolle. Dafür dass sie verantwortungsbewusst
wahrgenommen wird, gibt es handfeste Gründe: Elf Prozent des
Es überrascht wenig, dass die Führung wenig chefig auftritt. Edu- Bruttogehalts aller Mitarbeiter werden in Form von Aktien aus-
ard Klein, einer von drei Geschäftsführern der Gore Deutschland gezahlt, deren Wert vierteljährlich von einer Wirtschaftsprüfungs-
GmbH, trägt die firmentypische Freizeitkleidung. Der 54-Jährige gesellschaft ermittelt wird (das Unternehmen ist nicht börsen-
ist freundlich und nachdenklich, er sagt, dass ihm diese Firma „in notiert). Hinzu kommt eine Gewinnbeteiligung. Wer Firmengeld
gewisser Weise Heimat ist“. Nun hat man Ähnliches auch schon verschwendet, schadet sich also auch selbst. Weil das offenbar
von anderen Managern gehört, ebenso wie Kleins Bemerkung, allgemein so empfunden wird, kann sich Gore bürokratischen
dass er und seine Kollegen sich um die Aufgaben des Betriebs- Aufwand wie die Genehmigung von Reiseanträgen sparen: Darü-
rats – den es bei Gore nicht gibt – mit kümmerten. Dass dies nicht ber entscheidet jeder selbst.
nur Gerede ist, zeigt der gute Ruf, den das Unternehmen seit Diese Firma ist nach wie vor ein Exot in der Wirtschaftswelt.
Jahren hat. Bei Arbeitgeber-Vergleichen landet es, egal ob in Und dabei rentabel: Sie schreibt seit mehr als 30 Jahren schwarze
Deutschland, Italien, Großbritannien oder den USA, regelmäßig Zahlen, gerade in den vergangenen Jahren sind Umsatz und
auf den vorderen Plätzen. Dies auch deshalb, weil die Gore- Gewinn stark gewachsen. Großen Aufwand treibt man bei der Ge-
Manager quasi demokratisch legitimiert sind. Auch dafür gibt es haltsfindung. Dazu wird der individuelle Beitrag zum Unterneh-
einen Merksatz, den Klein gern und häufig zitiert: „Leadership is menserfolg jährlich nicht nur von den jeweiligen Mitgliedern der
defined by Followership.“ Führungsqualitäten zeigen sich dem- Arbeitsgruppe, sondern auch von anderen Kollegen bewertet, die
nach, „wenn jemand im Team häufig gefragt und einbezogen mit diesem Team zu tun haben, häufig sind das solche aus dem
wird, wenn die Leute erkennen: Ja, das, was der sagt, ist richtig Ausland. Ergebnis ist ein Ranking, das mit dem derzeitigen Ge-
– so sollten wir das machen.“ halt und dem Marktwert, den jeder Mitarbeiter „draußen“ hätte,
So ist auch Klein aufgestiegen. Er fing vor 24 Jahren in der in Beziehung gesetzt wird. Ziel sei es, so Klein, Gerechtigkeit nach
Personalabteilung an – zu einer Zeit, als man in der Tüftlerfirma innen herzustellen und Wettbewerbsfähigkeit nach außen.
die Daseinsberechtigung solcher Leute nicht wirklich einsah. Dass Das scheint zu funktionieren. Gore zahlt dem Vernehmen
sich dies geändert hat, ist auch Klein zu verdanken. Später hat er nach nicht überdurchschnittlich; die große Freiheit und die 3
dann, Gore-typisch, den Job gewechselt und
ein Werk geleitet. Vor sechs Jahren kamen die
Geschäftsführungsaufgaben hinzu, die ihn, so Technische Leiterin mit Visitenkarte und Überzeugungskraft: Elli Steinbacher
betont er, „aber innerhalb der Firma deshalb
nicht besonders herausheben“.
So wie er sind die meisten Führungskräfte
Hausgewächse, auch wenn man inzwischen
von der alten Regel abweicht, dass sich Mana-
ger unbedingt als normale Team-Mitglieder
hochzuarbeiten haben. Doch auch wer von
außen kommt, muss sich den Respekt der über-
aus selbstbewussten Belegschaft erarbeiten und
darf nicht auf Statussymbole wie repräsentative
Büros, Dienstwagen und devote Assistenten
hoffen. Eine gute Absicherung gegen Egoma-
nen und Machtspielchen. Terri Kelly, jüngst
nach 23-jähriger Karriere im Unternehmen
zur Konzern-Chefin berufen, sagt, dass sie ihre
Aufgabe darin sehe, „das Chaos zu managen“.

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Erfolg bei Gore nie allein an Zahlen gemessen wurde, sondern da-
ran, „nützliche Dinge herzustellen und dabei Spaß zu haben“.
Was allerdings nicht vorgesehen ist in der Teilhaber-Firma,
sind schmerzvolle Einschnitte. Als der Geschäftsführer Klein er-
zählt, wie er Ende der neunziger Jahre rund 50 Leute aus betrieb-
lichen Gründen entlassen musste, wirkt er immer noch wirklich
betroffen. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie damals Kol-
legen zu mir ins Büro kamen und fragten: ,Wieso der?‘ – Und ich
musste das dann erklären …“
Wie die gegenwärtige Krise sich auf Gore auswirkt, kann auch
Klein noch nicht sagen. Das Geschäft mit Industriekunden ist zu-
rückgegangen, dafür laufe die Medizintechnik gut. Man setze nach
wie vor auf Innovationen: Acht bis zehn Prozent des Umsatzes
werden jährlich in Forschung und Entwicklung gesteckt. Klein
sagt: „Wir haben so gut wie keine Schulden, finanzieren unser
Wachstum aus dem laufendem Geschäft – und planen natürlich
auch dieses Jahr, wieder Gewinn zu machen.“

Nicht nur erlaubt, sondern erwünscht: spinnen

Eine, die dafür sorgt, dass neue Ideen für die Umsätze von mor-
gen sorgen, ist Elli Steinbacher, die den Titel Technical Leader für
die Industrie-Sparte führt – allerdings nur auf der Visitenkarte. Die
Abweichung vom Gore-Dogma begründet sie so: „Gerade für
Für Verkauf und Balance zuständig: Korina Karl eine Frau ist es in der deutschen Industrie erforderlich, dass da
was draufsteht.“ Bei Gore selbst habe der Rang nicht die gleiche
Bedeutung. „Hier können Sie nicht mit Druck führen, sondern
Chancen, sich dort zu verwirklichen, werden von vielen als im- nur durch Überzeugung.“
materielle Vergütung gesehen. Die Firma sei ideal für „Menschen, Steinbacher ist der Prototyp der Gore-Führungskraft: eine, die
die mit anderen gemeinsam etwas bewegen wollen“ (Klein). Weni- genau weiß, was sie will, ohne Aufhebens von sich zu machen.
ger geeignet ist sie für Leute, die sich bei der Arbeit ausruhen wol- Was sie nicht will, erkannte sie schon als Studentin der Kunststoff-
len. Die Methode Gore bedeutet Fördern und Fordern: Wer eine technik im Praktikum bei der BASF – „wo man für die Beantra-
Aufgabe übernimmt, wird daran gemessen, wie er sie meistert. gung eines Urlaubstags fünf Stempel brauchte“. Weil ihr das zu
Anders als in klassischen Hierarchien kann man sich hier nicht bürokratisch war, fing die Ingenieurin bei einer kleinen Firma an,
verstecken: Die Kollegen sehen alles und bewerten einander här- doch dort vermisste sie Aufstiegsmöglichkeiten. So kam sie zu
ter, als ein Vorgesetzter es täte. Gore und machte Karriere, obwohl sie Auszeiten nach der Geburt
ihrer zwei heute 15 und 18 Jahre alten Söhne nahm. Steinbachers
Geht nicht? Gibt’s nicht Aufstieg verlief Gore-typisch: Ihr Name wurde intern immer häu-
figer genannt, und irgendwann war sie Führungskraft.
Gores Stärke ist die Versöhnung scheinbarer Widersprüche. So Liegt es in diesem System nicht nahe, Wahlkampf in eigener
geht es dort trotz mittlerweile 2,4 Milliarden Dollar Jahresumsatz, Sache zu machen? Sie wehrt lachend ab: „Nein – das käme ganz
fast 9000 Mitarbeitern und einem weltweiten Geschäft in vieler- schlecht an. Hier zählt nur, was einer kann.“ Dann leitet sie
lei Hinsicht zu wie in einem Kleinbetrieb. Obwohl schon mehr elegant auf die vielen tollen Produkte über, in denen Gores
als 50 Jahre alt, hat die Firma sich die Tugenden eines Start-up Membrane vorteilhaft wirken: von elektrischen Zahnbürsten und
bewahrt. Und verfügt als amerikanische Familienfirma über die Autoleuchten bis hin zur Brennstoffzelle – eine vielversprechende
Stabilität eines klassischen deutschen Mittelständlers. Technik, die noch ein Schattendasein fristet und von deren Durch-
Wird es diesen Charakter behalten, wenn es immer weiter ex- setzung der Kunststoffhersteller enorm profitieren könnte.
pandiert, wie derzeit vor allem in China? Joseph McCann, Direk- In diesem Unternehmen, das stets an vielen Projekten gleich-
tor des Davis College of Business der Jacksonville University, Flo- zeitig arbeitet, hat man Geduld und weiß seine Zeit zu nutzen.
rida, und Kenner des Unternehmens, hält das für möglich – weil So darf jeder Mitarbeiter an eigenen, auch auf den ersten Blick

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abseitigen Projekten arbeiten. Dabei kommt immer wieder Nützliches heraus. So


überzog ein Ingenieur die Bowden-Züge seines Mountainbike mit PTFE und kam
dabei auf die Idee, dass man das auch mit Gitarrensaiten machen könnte – die,
wenn sie verschmutzt sind, nicht klingen. Ein lukrativer Geistesblitz: Heute ist
Gore mit seinen Elixir-Gitarrensaiten Marktführer.
Und sonst? Gar keine Schwachstellen? Steinbacher überlegt: „Weil Entschei-
dungen auf breiter Basis gefällt werden, dauern sie lange. Das ist nicht immer
nachteilig, aber manchmal schon.“ Andererseits, ergänzt sie, „sind unsere Ent-
scheidungen fundierter als anderswo, weil sie nicht von irgendwelchen Chefs weit
weg getroffen werden, sondern von denen, die sich damit auskennen“.
Besonderen Diskussionsbedarf gibt es, wenn es um Prinzipien geht. Die sind
bei Gore zwar nicht in Stein gehauen, aber jede Veränderung bedarf viel Über-
zeugungsarbeit. Aktuelles Thema ist die neue Kantine in Putzbrunn für alle Mit-
arbeiter am Standort. Früher hatte jedes Werk – der Idee der autonomen Einheit
folgend – eine eigene, ebenso wie eine eigene Buchhaltung. Das hat man nun,
nicht zuletzt aus Kostengründen, geändert – nach vielen lebhaften Diskussionen,
die im gesamten Gore-Imperium aufmerksam verfolgt wurden.

Die größte Gefahr: Überidentifikation

Die permanente Selbstbeobachtung der Goreianer wirkt auf viele Außenstehende


sonderbar. Hat aber auch große Vorteile, wie Korina Karl, Wirtschaftsingenieu-
rin und im Verkauf industrieller Belüftungsprodukte tätig, erklärt: „In klassischen,
hierarchischen Unternehmen köcheln viele Konflikte still vor sich hin – bis das
Bömbchen irgendwann hochgeht oder jemand von oben draufhaut. Bei uns
ist die Sensibilität höher. Hier werden Streitpunkte früher erkannt und können
bearbeitet werden.“ Zudem führe der Gore-immanente Zwang, sich selbst zu
organisieren, dazu, dass die vielen Tüftler und Spezialisten im Haus miteinander
ins Gespräch kämen, zu „teamfähigen Individualisten“ würden.
Für Konferenz-Hasser sei Gore allerdings nichts, sagt die 40-Jährige – eben-
so wenig wie für Blender. „Die werden von den Kollegen schnell entlarvt und
beim Ranking entsprechend eingestuft.“ Ein größeres Problem sei aber die Über-
forderung in einem Unternehmen, in dem sich jeder so viel aufladen könne, wie
er wolle. Dieses Problem hat man erkannt und auf klassische Weise angegangen:
in Form eines Commitments. Korina Karl wurde vor zwei Jahren gefragt, ob sie
nicht eine Work-Life-Balance-Gruppe leiten wolle. Sie wollte, suchte Mitstreiter
und beackerte mit denen verschiedene Themen, die den Kollegen helfen sollen,
Gore und Privatleben in Einklang zu bringen. Stolz präsentiert sie die Ergebnisse:
So gibt es nun unter anderem gesünderes Essen in der Kantine, allerlei von der
Firma bezuschusste Kurse (von Physiotherapie bis zu einem von der Rezeptionis-
tin Mender mit geleiteten Theaterkurs). Außerdem wurde die Kernarbeitszeit –
früher von 9 bis 16 Uhr – abgeschafft, die vielen Kollegen nicht gefallen hatte.
„Jetzt ist jeder selbst dafür verantwortlich, die vertraglich vereinbarten Stunden
zu leisten – das passt besser zu unserer Kultur.“ Zum Abschied gibt Karl dem
Besucher noch einen selbst gestalteten Work-Life-Button mit auf den Weg.
Warum arbeiten nicht mehr Unternehmen so wie Gore? Weil Hierarchen
ungern Macht abgeben – auch wenn das sehr vernünftig wäre. Und weil offen-
kundig nur wenige Gore-Leute Lust haben, die Idee der Selbstorganisation in
andere Firmen zu tragen; die Fluktuation ist gering. Der Geschäftsführer Klein
drückt es scherzhaft so aus: „Wir sind alle schwer vermittelbar.“ -
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