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Octave Mirbeau : Die Hinrichtung

(Der Garten der Qualen, II, 3)

« Letztes Jahr, mit Annie, habe ich noch etwas viel Erstaunlicheres
gesehen. Ich sah einen Mann, der seine Mutter vergewaltigt und ihr dann
mit einem Messer den Bauch aufgeschlitzt hatte. Er schien übrigens
verrückt gewesen zu sein. Er wurde verurteilt, die Folter der
Zärtlichkeiten zu erdulden. Ja, mein Liebster... ist das erstaunlich?
Fremden ist es nicht gestattet, dieser Folter, die übrigens nur noch selten
angewandt wird, beizuwohnen. Aber wir hatten dem Wächter Geld
gegeben, er verbarg uns hinter einer spanischen Wand. Annie und ich, wir
haben alles gesehen...

Der Verrückte — er machte aber nicht den Eindruck eines Verrückten


— lag ausgestreckt auf einem niedrigen Tisch, Gliedmaßen und Rumpf
waren mit festen Riemen gefesselt, der Mund geknebelt, er konnte sich
nicht bewegen, nicht schreien...

Es erschien eine Frau, sie war nicht schön, nicht jung, sie hatte einen
feierlichen, maskenhaften Gesichtsausdruck, sie war vollkommen in
Schwarz gekleidet, ihr Arm war nackt, sie trug einen großen, goldenen
Reif. Sie kniete sich neben den Verrückten, sie schloß ihre Faust um seine
Rute, sie waltete ihres Amtes... Ach, Liebster... Liebster... Wenn du das
gesehen hättest ! Es dauerte vier Stunden. Vier Stunden, denk dir nur !
Vier Stunden voller entsetzlicher, kunstvoller Zärtlichkeiten, und die
Hand der Frau ließ auch nicht eine Minute lang nach, und ihr Gesicht blieb
kalt und düster... Das Opfer gab seinen Geist mit einem Blutstrahl, der in
das Gesicht der Foltermeisterin spritzte, auf. Ich habe niemals so etwas
Grausames gesehen. Es war so grausam, mein Lieber, daß Annie und ich
ohnmächtig wurden... »

Und im Tone des Bedauerns fügte sie hinzu: « Diese Frau trug an
einem Finger ihrer Hand einen dicken Rubin, der während der Folter im
Sonnenlicht hin und her flog wie ein rotes, tanzendes Flämmchen... Annie
hat ihn sich gekauft... Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist ... Ich
würde ihn gern haben... »

(nach Der Rabe 15, 1986, 74-75)

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