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Universität Potsdam

Institut für Künste und Medien – AVL


WS 2009/2010
Hausarbeit von Philip Ketzel
Note: 1,7
überarbeitet am 24.5.2011

Ein Leben Im Netz


Intertextualität in
Neal Stephensons Snow Crash
„’This Snow Crash thing – is it a virus, a drug, or a religion?‘
Juanita shrugs. ‘What’s the difference?’”
(Stephensons Snow Crash)

Ketzel 2
Inhalt
1. Einleitung ............................................................................................................ 4
2. Zwischen den Texten – Theorie der Intertextualität .............................................. 6
3. Cyberpunk – postmoderne Science Fiction ........................................................... 9
3.1. Was ist Science Fiction? ............................................................................... 9
3.2. Was ist Cyberpunk? .................................................................................... 11
4. Intertextualität in Neal Stephensons Snow Crash................................................ 13
4.1. Literarische Prätexte ................................................................................... 13
4.1.1. William Gibsons Neuromancer: ............................................................. 13
4.1.2. Tomas Pynchons Vineland:..................................................................... 17
4.1.3. Die Bibel und der Babel-Mythos: ........................................................... 18
4.1.4. William S. Burroughs‘ The Electronic Revolution .................................. 20
4.2. Filmische Prätexte....................................................................................... 22
4.2.1. Snow Crash der SF-Fbilm....................................................................... 22
4.2.2. Star Trek ................................................................................................ 22
4.2.3. Tron ....................................................................................................... 23
4.3. Snow Crash als Prätext ........................................................................... 24
5. Schluss .............................................................................................................. 26
6. Literaturverzeichnis ........................................................................................... 27

Ketzel 3
1. Einleitung
Der Textraum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2011. Obwohl diese beiden
Sätze nicht den genauen Wortlaut des Monologs wiedergeben, der zu Beginn jeder Star Trek
Folge die neuen Abenteuer des Raumschiffs Enterprise ankündigt, kann man davon ausgehen,
dass diese Sätze trotzdem beim Leser sofort eine Referenz zu der Fernsehserie aufrufen, die
vor vier Jahrzehnten zum ersten Mal im deutschen Fernsehen (ZDF) ausgestrahlt worden ist,1
weil sie im Kanon der Popkultur Science Fiktion Geschichte geschrieben hat. Wenn der Leser
diesen Verweis erkennt, wird bei ihm die Erwartung geweckt, dass das nun Folgende sich in
irgend einer Art und Weise im semantischen Feld der Science Fiction (SF) Literatur bewegen
wird, denn warum sonst sollte vom Textraum und nicht, wie im Original, vom Weltraum die
Rede sein. Diese Erwartung soll hier dann auch nicht enttäuscht werden. Gleichzeitig wurde
mit diesem Einstieg aber auch schon auf den zweiten wesentlichen Aspekt der vorliegenden
Arbeit hingewiesen; auf das Phänomen der Intertextualität.
Interessant an SF ist nämlich, dass es sich dabei um ein Genre handelt, welches sich
besonders durch Intertextualität auszeichnet. Damien Broderick nennt diese zwischen-
textlichen Zusammenhänge von SF den »mega-text«.2 Sowohl Leser als auch Autoren von SF
kennen sich für gewöhnlich sehr gut mit diesem »mega-text« aus. Das bedeutet, dass Motive,
Metaphern, Themen, Symbole etc. als Anspielungen auf vorherige SF Werke erkannt und
mitgelesen werden.3 Gerade in den Anfängen von amerikanischer SF – dem ‚Golden Age‗ der
späten 30iger bis 50iger Jahre – in denen SF hauptsächlich aus Kurzgeschichten und
Textserien in den »Pulp Magazines«4 wie Astounding bestand, war es aus Platzgründen und
um sich nicht zu wiederholen Gang und Gebe sich auf bereits Etabliertes zu beziehen. Was
sozusagen als Pragmatismus begann, wurde über die Jahre hinweg zu einem
identifikatorischem Merkmal des Genres.
Für die vorliegende Arbeit soll jedoch ein aktuelleres Werk der anglophonen SF näher
auf seine intertextuellen Bezüge hin untersucht werden. Es handelt sich um den von Neal
Stephenson verfassten Roman Snow Crash von 1992, der nicht nur ein besonderes Werk des
SF Subgenres Cyberpunk, sondern auch postmoderner Literatur darstellt.

In dem Roman geht es darum, dass der Held und Hacker Hiro Protagonist zusammen
mit der Skateboard Kurierin Y.T. den Medienmonopolisten L. Bob Rife davon abhält die

1
Siehe http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/22/0,1872,8205526,00.html (Zugriff am 22.3.2011)
2
Roberts, Adam. Science Fiction . New York: Routledge, 2006. S. 2
3
Ebd. S. 3 und folgend
4
Der Begriff ‚Pulp‗ verweist auf billig hergestelltes Papier.
Ketzel 4
Weltherrschaft an sich zu reißen. Was sich zunächst wie ein gewöhnlicher Plot von
Mainstream-Literatur anhört, ist in Wirklichkeit ein vielschichtiger Roman, der sich
gesellschaftskritischen, mythologischen und sprachphilosophischen Diskursen bedient.
Bei dem titelgebenden Snow Crash handelt es sich nämlich um ein komplexes Virus,
mit dessen Hilfe L. Bob Rife sein Ziel erreichen will. Die Auswirkung dieses Virus ist die
Veränderung des menschlichen Bewusstseins, sodass der Mensch einem Computer gleich zu
einer kontrollierbaren Maschine zur Ausführung von Befehlen wird. Die Fähigkeit zur
Reflextion wird dem Menschen genommen, indem das Virus den Rückfall in eine der
vorbabylonischen Zungenrede ähnliche Sprache bewirkt. Das Virus tritt dabei in zwei
verschiedenen Formen auf. Einerseits ist es ein Computervirus, das ungeschützte Computer
einen Systemabsturz erleiden lässt, sodass nur noch ein Bild mit schwarzen und weißen
Pixeln auf dem Bildschirm zurückbleibt. Dieses Bild repräsentiert die binäre Form des Virus
und veranlasst Hacker und Programmierer beim genauen Betrachten des Bildes in einen
irrationalen Bewusstseinszustand zu verfallen, der sich primär durch Glossolalie auszeichnet.
Denn Hacker und Programmierer haben, nach der Logik des Romans, beim Erlernen der
binären Computersprache fixe neuronale Strukturen aufgebaut, die sie für eben diese Form
des Virus anfällig machen. Andererseits ist Snow Crash aber auch ein biologisches
neurolinguistisches Virus, das hauptsächlich in Form einer synthetischen Droge von L. Bob
Rife verbreitet wird. Auch hier ist die Auswirkung die Bewusstseinsveränderung des
Konsumenten bzw. Infizierten, die ihn oder sie zu einem irrationalen, in Zungenrede
sprechenden und kontrollierbaren bzw. programmierbaren Menschen werden lässt.
Man hat es also bei Snow Crash mit einem Abenteuerroman zu tun, der den Babel-
Mythos neu interpretiert und dabei interessante Hypothesen zu den oben angesprochenen
Diskursen aufstellt. Ziel dieser Arbeit soll es nun sein, grundlegende intertextuelle Bezüge des
Romans herauszuarbeiten, um anzudeuten, wie Snow Crash diese postmoderne
Uminterpretation des Babel-Mythos in Form einer zukunftsnahen Dystopie erzählt. Aufgrund
der Kürze der Arbeit, kann dieses Vorhaben jedoch nur von beispielhaftem Charakter sein
und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Ketzel 5
2. Zwischen den Texten – Theorie der Intertextualität
Kaum ein Begriff hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der Literaturwissenschaft und
-kritik, aber ebenso in der Textlinguistik sowie in der Semiotik zu solchen Kontroversen
geführt wie der der Intertextualität. Von kaum einem anderen Begriff innerhalb des literatur-
und sprachwissenschaftlichen Diskurses läßt sich sagen, daß seine Bedeutung derartig
umkämpft und umstritten ist.5

Der Begriff Intertextualität wird, ganz allgemein gesprochen, als der Bezug eines Textes
auf einen oder mehrere andere Texte verstanden. Man kann jedoch sagen, dass es zwei
wesentlich unterschiedliche Betrachtungsweisen gibt Intertextualität zu verstehen. Da wäre
zum einen die poststrukturalistische und dekonstruktivistische, welche Julia Kristeva mit
ihrem Aufsatz Bachtin das Wort, der Dialog und der Roman geprägt hat. In dieser
Betrachtungsweise wird „jeder Text als Teil eines universalen Intertexts―6 verstanden. Durch
den Einschluss von Kultur, Gesellschaft und Geschichte als Zeichensysteme wird der
Textbegriff, laut Manfred Pfister, dabei „so radikal generalisiert, daß letztendlich alles, oder
doch zumindest jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur, Text sein soll.―7
Gleichzeitig postuliert diese Position eine Intersubjektivität des Textes, die den Verlust der
„Individualität des Werkes selbst―8 mit sich bringt.
Da diese Betrachtungsweise für die Literaturwissenschaft problematisch wird, sobald
sie sich mit konkreten Werken auseinandersetzt, steht ihr eine hermeneutische bzw.
textdeskriptive gegenüber, in welcher „der Begriff der Intertextualität auf bewußte, intendierte
und markierte Bezüge zwischen einem Text und vorliegenden Texten oder Textgruppen
eingeengt wird.―9 Der Text als Werk behält dabei seine Identität, weil durch die subjektive
intertextuelle Markierung die Literarizität des Textes gewährleistet bleibt.10 Aber auch hier
gibt es unterschiedliche Auffassungen bezüglich des Textbegriffs, welche eine mehr oder
weniger starke Eingrenzung des Intertextualitätsbegriffs zu Folge haben.

Während Theoretiker wie Genette unter dem Begriff der Inter- bzw. Transtextualität sowohl
die Bezüge eines Textes auf individuelle Prätexte als auch die auf textübergreifende
Systeme, auf Texten zugrundeliegende Muster und Codes, zusammenfassen, unterscheiden
andere zwischen Intertextualität einerseits und Systemreferenz andererseits.11

5
Tegtmeier, Henning. „Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen – Eine Kritik der
Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis‘.― In Textbeziehungen: linguistische und
literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität, Herausgeber: Josef Klein und Ulla Fix, 49-81.
Tübingen: Stauffenburg , 1997. S.17
6
Pfister, Manfred. „Konzepte der Intertextualität.― In Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische
Fallstudien, Herausgeber: Ulrich Broich und Manfred Pfister, 1-30. Tübingen: M. Niemeyer, 1985. S. 25
7
Ebd. S. 7
8
Ebd. S. 9
9
Ebd. S. 25
10
Ebd S. 14f
11
Ebd. S. 17
Ketzel 6
In der vorliegenden Arbeit sollen die Typen von Intertextualität, die von Gérad Genette
in Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe vorgeschlagen werden, als Bezugspunkt
herangezogen werden. Was die Poststrukturalisten wie Kristeva unter Intertextualität
verstehen, bezeichnet Genette als Transtextualität, weil er den Begriff Intertextualität einzig
für die mehr oder weniger explizite „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text―
reserviert.12 Zu der Intertextualität zählt er das Zitat, das Plagiat und die Anspielung.
Wohingegen die ersten beiden schon durch ihre allgemeine Bedeutung hinreichend bestimmt
sind, definiert Genette die Anspielung als eine „Aussage, deren volles Verständnis das
Erkennen einer Beziehung zwischen ihr und einer anderen voraussetzt, auf die sich diese oder
jene Wendung des Textes bezieht, der ja sonst nicht ganz verständlich wäre―13. Genette
unterscheidet Transtextualität in vier weitere sich wechselseitig überschneidenden Formen
bzw. „Aspekte der Textualität―14:
- Paratextualität, womit transtextuelle Bezüge gemeint sind wie: „Titel, Untertitel;
Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien,
Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen―. 15
- „Metatextualität; dabei handelt es sich um die üblicherweise als »Kommentar«
apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm
auseinandersetzt, ohne ihn unbedingt zu zitieren (anzuführen) oder auch nur zu
erwähnen―.
- Architextualität, ist „eine unausgesprochene Beziehung, die bestenfalls in einem
paratextuellen Hinweis auf die taxonomische Zugehörigkeit eines Textes zum
Ausdruck kommt―, wie etwa die Gattung.
- Hypertextualität
Da die Hypertextualität die wohl komplexesten transtextuellen Beziehungen beschreibt, soll
sie hier genauer erläutert werden. Unter ihr versteht Genette, „die komplette Umformung
eines Ausgangstextes―16, wobei er den Ausgangstext als Hypotext und den umgeformten als
Hypertext bezeichnet. Diese Umformung kann entweder durch die ‚Transformation‗
geschehen, „wobei das Thema dasselbe bleibt, jedoch in einem anderen Stil behandelt
wird―17, oder durch die ‚Imitation‗ bzw. Nachahmung, bei der „der Stil beibehalten, aber das

12
Genette, Gerad. Palimpseste: Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993. S. 9-10
13
Ebd. S. 10
14
Ebd. S. 19
15
Ebd. S. 11-13 (bezogen auf alle Zitate zu Paratextualität, Metatextualität und Archetextualität)
16
SR. Intertextualität (nach Gérard Genette). http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/epik/intertextg.htm
(Zugriff am 2. März 2011)
17
Ebd.
Ketzel 7
Thema verändert― wird. 18 Indem Genette auch noch auf die verschiedenen Funktionen
(spielerisch, satirisch, ernst) eingeht, mit denen sich der Hypertext auf seinen Hypotext
beziehen kann, kommt er zu der folgenden strukturellen Unterscheidung:

(entnommen aus Genette S. 44)

Mit dieser Taxonomie der Transtextualität (bzw. Intertextualität) von Genette vor
Augen, soll nun im Folgenden Stephensons Roman auf seine transtextuellen Bezüge hin
untersucht werden. Der zugrunde liegende Textbegriff dieser Analyse ist nicht so extrem breit
gefasst, wie der von Kristeva. Aber, weil sich SF als Genre in Anbetracht seiner
Intermedialität nicht nur auf literarische Texte beschränkt, werden in dieser Arbeit auch Filme
und TV Serien als Prätexte von Snow Crash verstanden. Einzig für das Kapitel »Snow Crash
als Prätext« wird dieser Textbegriff auf den Einschluss von Software ausgedehnt, weil dies
u.a. bei einem Roman, in dem Software eine tragende Rolle spielt, durchaus sinnvoll
erscheint.

18
SR. Intertextualität (nach Gérard Genette). http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/epik/intertextg.htm
(Zugriff am 2. März 2011)
Ketzel 8
3. Cyberpunk – postmoderne Science Fiction
3.1. Was ist Science Fiction?

Um Snow Crash im Textraum der Literatur zu verorten, ist es zunächst sinnvoll darauf
einzugehen, was SF eigentlich ausmacht. Lange Zeit wurde SF als Paraliteratur oder ‚niedere‗
Literatur, die einzig der Unterhaltung der Massen dient, verstanden und demzufolge von
Seiten der Literaturwissenschaft nur marginal betrachtet.19 Dies änderte sich vor allem mit
Darko Suvins Poetik der Science Fiction, die bis heute eine vielzitierte Referenz für
literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit SF ist. In diesem Text erarbeitet Suvin
eine sehr ausdifferenzierte Sicht auf SF. Er bestreitet nicht, dass ein Großteil der SF Literatur
aufgrund seines Unterhaltungsfaktors von ästhetisch minderer Qualität zu sein scheint, jedoch
begründet er sein Anliegen damit, dass ihr gerade für die Zeit nach der industriellen
Revolution ein interessantes und erkenntnisreiches Potential innewohnt.20
Für ihn ist SF „Literatur der erkenntnisbezogenen Verfremdung―21. Verfremdung ist in
diesem Zusammenhang als Utopie oder Dystopie zu verstehen, in welcher der Autor „von
einer fiktionalen (»literarischen«) Hypothese aus[geht]―, und diese „mit totalisierender
(»wissenschaftlicher«) Folgerichtigkeit― entwickelt.22 „Derartige faktische Darstellungen von
Fiktion wirken als Konfrontationen eines gegebenen normativen Systems―23 mit einem neuen
Normsystem bzw. einer anderen Weltanschauung.

Die SF ist folglich ein literarisches Genre, dessen notwendige und hinreichende Bedingung
das Vorhandensein und das Aufeinanderwirken von Verfremdung und Erkenntnis sind, und
deren formaler Hauptgriff ein imaginativer Rahmen ist, der als Alternative zur empirischen
Umwelt des Autors fungiert.24

SF Literatur ist also für Suvin deshalb erkenntnisbezogen, weil sie in ihrer Haltung der
Verfremdung ein logisch plausibles »was wäre wenn« postuliert, das durch die Rückkopplung
von der wirklichen Welt in der utopischen bzw. dystopischen Welt als Kritik am Bestehenden
Erkenntnisse liefern kann.
Ein zweites wesentliches Gattungsmerkmal der SF besteht für Suvin damit zusammen-
hängend im Novum. Mit diesem Begriff verweist er auf Ernst Bloch und definiert ihn wie
folgt:

19
Darko Suvin geht darauf im Vorwort von Poetik der Science Fiction (Suhrkamp, 1979) ebenso ein, wie Simon
Spiegel in Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films (Marburg, 2007,
S. 2-3).
20
Suvin 1979. S.11
21
Ebd. S. 24 (kursiv im Original)
22
Ebd. S. 25
23
Ebd.
24
Ebd. S. 27 (kursiv im Original)
Ketzel 9
Ein Novum oder eine erkenntnisträchtige Neuerung ist eine ganzheitliche (totalisierende)
Erscheinung oder ein Verhältnis, die von der Wirklichkeitsnorm des Autors und des
impliziten Lesers abweichen. 25

Damit bezieht sich Suvin auf Neuerungen technischer und/oder soziokultureller Art, die
entweder auf bestehende wissenschaftliche Erkenntnisse aufbauen, oder in ihrer Er-
kenntnislogik folgerichtige Gedankenexperimente darstellen.26 Was aber diesbezüglich auch
nicht vergessen werden darf, ist die Tatsache, dass das Novum historischer Veränderung
unterliegt. Was damals als Novum galt, kann durchaus alltäglich geworden sein, wie man am
Beispiel des Internets sehr gut erkennen kann.
Bezogen auf Snow Crash lässt sich mit Suvin hier schon mal vorwegnehmen, dass all
die Verhältnisse um das Sprachvirus Snow Crash ein Novum konstituieren, welches im Laufe
des Romans wissenschaftlich erklärt wird und eine entfremdete Welt entstehen lässt. Denn
das Sprache als Virus verstanden werden kann, stellt eine Verfremdung zum bisherigen Leben
dar. Das Snow Crash Virus verändert das rationale Denken des Menschen und soll eine
informationstechnische Diktatur etablieren, oder „Infocalypse―, wie es im Roman selbst
genannt wird. Die Kritik, die hier in der Rückkopplung zur realen Welt angestellt wird, ist
eine Kritik der Informationsgesellschaft, mit ihren Tendenzen die Menschen durch
sprachliche ‚Konditionierung‗ zu gleichgeschalteten, unreflektiert konsumierenden und
maschinengleich kontrollierbaren Teilen des Gesellschaftssystems zu machen.
Die Nähe von SF zu postmoderner Literatur, die hierbei für Snow Crash, als auch in der
Definition von Suvin impliziert wird, konkretisiert Istvan Csicsery-Ronay, wenn er sagt, dass
schon immer eine Theorie des Postmodernismus im Futurismus von SF verankert gewesen
sei. 27 Dabei bezieht er sich auf die Tatsache, dass es SF seit jeher eigen ist, bestimmte
klassische ‚Wahrheiten‗ abzulehnen, wie etwa: die Unveränderbarkeit der menschlichen
Natur, dass Werte ewig sein können oder dass soziale Macht aus der Natur abgeleitet werden
kann. 28 Jedoch sagt Csicsery-Ronay auch, dass diese Tendenz erst im Zeitalter der
Postmoderne ihren Höhepunkt erreicht hat.29
Damien Brodericks Definition für zeitgenössische SF schließt sich dieser postmodernen
Sichtweise auf SF an und betont dabei die paraliterarische und intertextuelle Seite von SF.

SF is that species of storytelling native to a culture undergoing the epistemic changes


implicated in the rise and supercession [sic!] of technical-industrial modes of production,
distribution, consumption and disposal. It is marked by (i) metaphoric strategies and
25
Suvin 1979. S. 94
26
Ebd. S. 94f
27
Istvan Csicsery-Ronay, Jr. „Introduction: Postmodernism's SF/SF's Postmodernism .― Science Fiction Studies,
1991, 55 Ausg. (http://www.depauw.edu/sfs/backissues/55/intro55.htm - Zugriff am 25. Februar 2011)
28
Ebd.
29
Ebd.
Ketzel 10
metonymic tactics, (ii) the foregrounding of icons and interpretative schemata from a
collectively constituted generic ‚mega-text‗ and the concomitant de-emphasis of ‚fine
writing‗ and characterisation, and (iii) certain priorities more often found in scientific and
postmodern texts than in literary models: specifically, attention to the object in preference to
the subject. 30

Von besonderem Interesse ist diese Definition für uns, wie bereits zu Beginn erwähnt, wegen
des »mega-texts«. Mit den »icons« und interpretativen Schemata des »mega-texts« meint
Broderick laut Roberts den Corpus von akzeptieren Nova, wie Raumschiffe, Zeitreisen,
Cyberspace etc.31 Dieser Corpus setzt sich aber nicht nur aus reinen literarischen Werken,
sondern ebenso aus Filmen, Fernsehsendungen, Comics und anderen Medien zusammen, mit
denen die SF Fangemeindevertraut ist.32 Der SF »mega-text« bildet sozusagen, wie Jauß
sagen würde, einen ästhetischen Erwartungshorizont, an dem jedes neue SF Werk gemessen
und der gleichzeitig von jedem neuen SF Werk erweitert wird.

3.2. Was ist Cyberpunk?

Stephensons Snow Crash wird zum SF Subgenre des Cyberpunk gezählt, das historisch
gesehen der New Wave Bewegung der 1960iger und 1970iger folgt. Diese Bewegung um
größtenteils anglophone Autoren wie J.G. Ballard und John Brunner zeichnet sich
dahingehend aus, dass sie auf avantgardistische Art und Weise versucht SF auf ein höheres
literarisches Niveau zu heben und dabei den bis dahin stark angewachsenen »mega-text«
insofern ignoriert, als dass sie sich eher auf humanwissenschaftliche (soft SF) und weniger
auf die typischen naturwissenschaftlichen (hard SF) Konzepte konzentriert.33
Sabine Heuser definiert Cyberpunk als Kreuzungspunkt von postmoderner und SF
Literatur, wobei sie New Wave als einen konstruierten Kontrapunkt zu Cyberpunk sieht, mit
dessen Hilfe man das Postmoderne im Cyberpunk hervorheben kann. 34 So zeichnet sich
Cyberpunk dadurch aus: 35
- dass es eine Synthese von soft und hard SF anstrebt,
- dass es auf z.T. selbstironische Weise, durch eine anarchische »Punk«-Attitüde seinen
unterhaltenden Aspekt in den Vordergrund rückt, um die intellektuellen ‗Monopole‗
des guten Geschmacks zu parodieren,

30
Broderick zitiert nach Roberts 2006. S. 11
31
Ebd. S. 11
32
Ebd. S. 3
33
Vgl. Roberts 2006. S. 61-65 und Heuser, Sabine. Virtual Geographies: Cyberpunk at the Intersectoin of the
Postmodern and Science Fiktion. Amsterdam: Rodopoi, 2003. S. x-xi
34
Heuser 2003. S. xi und folgend
35
Vgl. Heuser 2003. S. xi-xv
Ketzel 11
- und dass es eine mehrdeutige Haltung bezogen auf die Zukunft einnimmt, welche
weder rein pessimistisch noch völlig optimistisch ist.
Desweiteren beschreibt Heuser Cyberpunk als eine Strömung im SF Genre, die als Spannung
zwischen „high tech― und „low life― identifiziert wird. 36 Diese Spannung resultiert aus der
Darstellung einer Version von Cyberspace bzw. virtueller Realität und einem romantisierten,
typischerweise männlichen Hacker oder Cowboy, der gegen die Verschwörung von
multinationalem Kapital und dessen Konzerne kämpft, welche selbst als eigenständige
Lebensformen wahrgenommen werden. 37 Sie fährt fort und sagt, dass der für Cyberpunk
charakteristische Cyberspace mit einer reichen Geschichte an Bildern aufgeladen ist, welche
assoziativ mit dem Computer, Architektur und Robotern verknüpft sind und so eine Version
einer virtuellen Realität erschaffen, in der alles möglich ist. 38 Jean Baudrillard‘s in Simulacres
et Simulation beschriebene Realität lässt grüßen.

Die von Heuser konstatierten Eigenschaften des Cyberpunk treffen auch auf Snow
Crash zu. Hiro ist der romantisierte Hacker, der zwar im Cyberspace reich und mächtig ist, im
realen Leben aber in einem Teil von Los Angeles wohnt, der dem ‚low life‗ zugeschrieben
wird. Die Welt des Romans ist weder rein dystopisch noch utopisch, sondern vielmehr eine
plausible Extrapolation der Gegenwart mit ihren positiven und negativen Aspekten. Gerade
die »Punk«-Attitüde ist recht stark in Snow Crash ausgeprägt, was sich zum einen in den
Charakteren von Hiro und Y.T. niederschlägt, und sich zum anderen durch die Verwendung
von Umgangssprache und dem Film entlehnte Stilmittel, wie z.B. der Plotstruktur, äußert.
Auch die Kombination von ‚soft‗ und ‚hard‗ SF ist durch den sprachphilosophischen Aspekt
und zahlreiche technische Erfindungen gegeben.

36
Heuser 2003. S. xviii-xix
37
Ebd. S. xviii-xix
38
Ebd. S. xviii-xix
Ketzel 12
4. Intertextualität in Neal Stephensons Snow Crash
4.1. Literarische Prätexte

4.1.1. William Gibsons Neuromancer:

Sobald in der Literaturwissenschaft von Cyberpunk die Rede ist, fällt sehr schnell der
Name Neuromancer. Es handelt sich dabei um den von William Gibson 1984 geschriebenen
Roman, der als Vorreiter des Cyberpunkgenres gilt. 39 Mit Neuromancer war Gibson
derjenige, der den Begriff des Cyberspace geprägt hat und ihn als ―consensual hallucination
that was the matrix―40 in den SF »mega-text« einbrachte.

Der erste direkte Verweis von Snow Crash auf Neuromancer ist paratextueller Natur. So
heißt es in einem Zitats von SF Autor Rudy Rucker auf dem Buchrücken von Snow Crash:
„Fast, dense, deep, funnny, Neuromancer meets Vineland. The best book I‘ve ever read this
year―. Mit Genette gesprochen handelt es sich also um eine Mischung aus Para- und
Metatextualität, welche einen intertextuellen Bezug zwischen Stephensons und Gibsons Werk
markiert. Der Leser wird noch vor der eigentlichen Lektüre darauf hingewiesen, in welchen
Bereich des SF »mega-texts« Snow Crash einzuordnen ist und das Neuromancer als Hypotext
für Snow Crash verstanden werden kann.
Gibsons Werk wird hier auf zum Teil parodistische Weise transformiert 41, was sich in
verschieden mehr oder weniger expliziten Anspielungen äußert. Die wohl eindeutigste
Anspielung ist Stephensons Metaverse. Ähnlich dem Cyberspace bzw. der Matrix in
Neuromancer ist es eine virtuelle Repräsentation der Welt, die Millionen von Menschen per
Computer betreten. Während bei Gibson dieser Ort jedoch eher als ein abstraktes und
komplexes Geflecht von digitalen Daten, als „Lines of light ranged in the nonspace of mind,
clusters and constellation of data― (N 51) beschrieben wird, ist das Metaverse eine
dreidimensionale simulierte Realität, mit „buildings, parks, signs, as well as things that do not
exist in Reality, such as […] special neighborhoods where the rules of the three-dimentional
spacetime are ignored―42.

39
Vgl. Heuser 2003. S. 257 u. S. 278
40
Gibson, William. Neuromancer (Remembering Tomorrow). New York: Ace Books, 1986. S. 5 – Von nun an
werden Zitate aus Neuromancer mit N und der Seitenzahl abgekürzt.
41
Vgl. Heuser 2003. S. 278
42
Stephenson, Neal. Snow Crash . New York: Penguin Books, 1992. S. 23 – Von nun an werden Zitate aus Snow
Crash mit SC und der Seitenzahl abgekürzt.

Ketzel 13
Die geistähnliche Körperlichkeit, die das Bewusstsein in der Matrix annimmt, wird im
Metaverse parodiert, indem die Avatare (die virtuellen Körper) im Prinzip jede beliebige
Form annehmen können. „You can look like a gorilla or a dragon or a giant talking penis in
the Metaverse.‖ (SC 34) Wenn man in der Matrix stirbt, so stirbt man auch im realen Leben.
Im Metaverse kann lediglich der Avatar sterben, wodurch sein Benutzer aus dem Cyberspace
geworfen wird und warten muss bis sein Avatar von Computerprogrammen entsorgt wurde,
bevor er sich wieder einwählen kann. Eingeführt wird diese Logik, als Hiro im angesagtesten
Club des Metaverses gegen einen japanischen Geschäftsmann zu einem Schwertkampf antritt
und ihn besiegt.

At this moment, a Nipponese businessmen somewhere, in a nice hotel in London or an office


in Tokyo or even in the first-class lounge of the LATH, the Los Angeles/Tokyo Hypersonic,
is sitting in front of his computer, red-faced and sweating, looking at The Black Sun itself,
disconnected as it were from the Metaverse, and is just seeing a two-dimensional display.
The top ten swordsmen of all time are shown along with their photographs. Beneath is a
scrolling list of numbers and names, starting with #11. He can scroll down the list if he wants
to find out his own ranking. The screen helpfully informs him that he is currently ranked
number 863 out of 890 people who have ever participated in a sword fight in The Black Sun.
Number one, the name and the photograph on the top of the list, belongs to Hiroaki
Protagonist. (SC 82-83)

Die Ernsthaftigkeit, die in Neuromancer der Mensch/Maschine Verbindung inne ist, wird in
Snow Crash, wie man hier sehen kann, mit Hilfe eines Verweises auf Computerspiele
verspottet. Beim Tod darf die Metapher »Cyberspace ist Realität« gebrochen werden.

Eine andere Parallele, die Neuromancer zur Folie von Snow Crash werden lässt, besteht
in den Protagonisten. Hiro ist wie der männliche Protagonist Case aus Neuromancer ein
Hacker und Pionier des Cyberspace. Doch im Gegensatz zu Case stielt Hiro keine
Informationen von multinationalen Konzernen. Sondern er beliefert sie als „stringer―, indem
er jegliche Form von Informationen, wie „gossip, videotape, audiotape, a fragment of a
computer disk, a xerox of a document― (SC 20) in die Datenbank des CIC lädt, einem aus
CIA und Library of Congress fusionierten Unternehmen, wodurch er Tantiemen erhält, sobald
jemand diese Informationen kauft. Das für Cyberpunk typische idealisierte Hackerbild,
welches darin besteht, dass der Hacker als letzte Bastion der Freiheit die
datenkontrollierenden hegemonistischen Konzerne infiltriert und subversiert, wird somit auf
den ersten Blick mittels Ironie dekonstruiert. Betrachtet man aber den gesamten Plot, dann
fällt einem auf, dass dieses Hackerideal durch Hiro dermaßen übertrieben dargestellt wird,
dass man nicht umhinkommt Snow Crash auch als Parodie auf die bis dahin im Cyberpunk
etablierten Werte zu verstehen. Diese Übertreibung äußert sich u.a. darin, dass Snow Crash
als neurolinguistisches Virus die gesamte Menschheit bedroht und nur Hiro derjenige ist, der
Ketzel 14
die „Infocalypse― verhindern kann. Auch unverkennbar in diesem Zusammenhang ist der
Name von Hiro selbst, denn Hiro ist ein Homophon für ‚hero‗. Er wird also quasi doppelt
wortwörtlich als Held deklariert.

Molly, die als Partnerin von Case in Neuromancer als eine Art Femme fatal dargestellt
wird, kann als direkte Vorlage für Y.T. gelesen werden, welche jedoch durch die klaren
Unterschiede zwischen beiden parodistische Züge erhält. Molly ist eine in asiatischen
Kampfkünsten ausgebildete professionelle Auftragskillerin. Y.T. wird als ebenso hübsch und
knallhart dargestellt, bleibt aber trotzdem nur ein 15 jähriges Mädchen, das auf einem High-
Tech Skateboard vorbeifahrende Autos harpuniert, um mit deren physikalischem Moment auf
autobahnsurfende Weise ihrer Kuriertätigkeit nachzugehen. Sie weiß sich zwar mit Hilfe von
diversen Gadgets zu verteidigen, ist aber keine kaltblütige Mörderin wie Molly, sondern
letzten Endes immer noch ein naives pubertierendes Mädchen, das abends zurück ins
vertraute Heim zu ihrer Mutter geht.

Y.T. had a flashback to the most excruciating conversation she ever had, which was a year
ago when her mother tried to give her advice on what to do if a boy got fresh with her. Yeah,
Mom, right. I‘ll keep that in mind. Yeah, I‘ll be sure to remember that. Y.T. knew that
advice was worthless, and this goes to show she was right. (SC 323)

Dieses Zitat bezieht sich darauf, dass sich Y.T. auf eine Affäre mit Raven eingelassen hat,
dem brutalen Handlanger von L. Bob Rife. Man kann daran erkennen, dass das Femme fatal
Bild, was bis zu diesem Punkt noch aufrecht erhalten wurde und somit immer an Molly
erinnerte, durch Y.T.s Naivität parodiert wird.
Y.T. bleibt, bis auf ein paar wenige Situationen, wie Molly in der realen Welt, um Hiro
mit Informationen zu beliefern. In Neuromancer klinkt sich Case über ein Implantat, das
Simstim, in das Sensorium von Molly ein und nimmt so, bis auf Schmerz, alles war, was auch
Molly wahrnimmt. Dies wird in Snow Crash dahingehend parodiert, dass Hiro und Y.T. über
herkömmliche Mobiltelefone miteinander kommunizieren. Eine weitere Parallele zu
Neuromancer betrifft die visuelle Wahrnehmung von Y.T. und Molly. Mollys Augen sind
durch eine implantierte silberne Computerbrille verdeckt, wodurch sie zusätzliche
Informationen angezeigt bekommt und so eine verbesserte visuelle Wahrnehmung hat. Y.T.
hat etwas ähnliches, nur ist es kein Implantat, sondern eine „RadiKS Knight Vison― Brille, die
sich auf die unterschiedlichen Lichtverhältnisse automatisch anpasst und Zusatzinformationen
wie Infrarotsicht liefert.

Ketzel 15
Bezogen auf Parallelen im Setting zwischen Neuromancer und Snow Crash ist es auf
jeden Fall auch noch wichtig zu erwähnen, dass Stephenson das Konzept der ‚Megacity‗ bzw.
des ‚Sprawl‗, wie es in Neuromancer genannt wird, übernimmt. In Snow Crash äußert sich
dieses Konzept als Aneinanderreihung von mehreren „Burbclaves― (SC 12), einer
lexikalischen Kontamination aus Suburban und Enclave, und anderen „FOQNEs, Franchise-
Organized Quasi-National Entities― (SC 14). Dabei handelt es sich um
Einheitswohnsiedlungen und Industriegebiete, die jeweils unterschiedliche, jedoch franchise-
basierte Gesetze haben und somit zu quasi-nationalen souveränen Gebieten werden. Um von
dem einen in das andere Gebiet zu kommen, z.B. von „Mr. Lee‘s Greater Hongkong― zum auf
Apartheit basierten „White Culumns―, benötigt man ein entsprechendes Visum oder die
jeweilige Staatsangehörigkeit. Die Einhaltung der Gesetzte wird wiederum von
unterschiedlichen privaten Franchise-Unternehmen gewährleistet. Diese Anspielung auf die
Sprawls von Gibson ist aber auch gleichzeitig eine intertextuelle Anspielung auf den
kalifornischen »Davis-Stirling Common Interest Development Act«43 von 1985, der den
Bürgern erlaubt eine gesicherte Siedlungsgemeinschaft, eine sogenannte »gated communitiy«,
zu gründen, in der die von ihnen verabschiedeten Gesetze rechtlich bindend sind, solange sie
nicht den Bundesgesetzen widersprechen. Dieses reale kalifornische Gesetzt wird somit zur
Grundlage der in Snow Crash beschrieben Franchise Nation USA.

Selbst der Titel stellt, wenn auch sehr implizit, eine Anspielung auf Neuromancer dar.
Als Titel ist diese für den im Copmuterjargon unversierten Leser noch unmarkiert, aber dies
ändert sich, sobald Snow Crash definiert wird. Denn „‗snow crash‗ is computer lingo. It
means a system crash‖ (SC 39) der sich darin äußert einen „gyrating blizzard‖ (SC 40) von
Pixel auf dem Monitor zu hinterlassen. Diese Markierung kann als direkte Anspielung auf den
ersten Satz von Neuromancer verstanden werden, in dem die Farbe des Himmels als „the
color of television, tuned to a dead channel― (N 3) beschrieben wird. Denkt man diese
Interpretation weiter, so wäre Snow Crash das Virus, das Neuromancer zum Absturz gebracht
hat. Denn wie oben beschrieben, macht sich Snow Crash über Neuromancher lustig, indem es
seine doch sehr SF typische Welt auf eine Ebene herunter holt, die bei weitem realistischer
und plausibler erscheint.

43
Vgl. http://www.dre.ca.gov/pub_re39.html (Zugriff am 26. Februar 2011)
Ketzel 16
4.1.2. Tomas Pynchons Vineland:

Dem Zitat auf dem Buchrücken zufolge bezieht sich Snow Crash auch auf Tomas
Pynchons Vineland. Und das geschieht auch nicht ganz zu Unrecht, denn Snow Crash scheint
dort weiter zu machen, wo Vineland aufhört. Deshalb Pynchons Werk gleich als eine Art
Hypotext für Snow Crash zu verstehen mag ein wenig zu weit hergeholt sein, aber Tatsache
ist, dass bei Stephenson einige Anspielungen auf die Welt von Vineland zu finden sind.
Der in Vineland um Richard Nixon und Ronald Reagan vorherrschende Kontrollstaat,
der mit Hilfe des Fernsehens seine Bürger gefügig macht, hat sich in Snow Crash durch seine
Budgetkürzungen selbst aufgelöst. Als Folge dessen bildeten sich durch kapitalistischen
Druck die FOQNEs, denen gegenüber die Regierung keine wirkliche Macht mehr hat. Die
„Informationsrevolution―44, von der in Vineland die Rede ist und die sich auf das Ansammeln
von Daten durch Spitzel der CIA bezieht, wird in Snow Crash ad absurdum geführt. Denn
dort wächst die Library of Congress, durch die Informationsrevolution – womit hier vielmehr
die Digitalisierung von sämtlichen Werken gemeint ist – auf eine Größe und Komplexität an,
die sie von der Datenbank der CIA kaum noch unterscheidet. Als Resultat werden beide
Datenbanken zu der CIC, der „Central Intelligence Corporation― (SC 20)
zusammengeschlossen und als Aktiengesellschaft privatisiert, „just as the government was
falling apart anyway.― (SC 21)
In Vineland wird immer wieder beschrieben, wie eng die Regierung mit Massenmedien,
vor allem dem Fernsehen, verbunden ist. In Snow Crash scheint genau dieser Bund schuld
gewesen zu sein für den Zerfall der Regierung, da diese sich nun auf die Taktik „back-to-the-
basics― (SC 165) zurückbesinnt. „Government should govern. It‘s not the entertainment
industry, is it? Leave entertainment to Industrie weirdos―. (ebd.) Die Anspielung auf die
Reagan-Ära ist hier unverkennbar. Nichtsdestotrotz bleibt in Snow Crash der Wille der
Regierung bestehen, mit Hilfe der Medien wieder an die Macht zu kommen. Der Präsident der
USA arbeitet mit dem Medienmogul L. Bob Rife, der sehr an Rupert Murdoch erinnert,
zusammen und die durch das Snow Crash Virus kontrollierbar gemachten
Antennenkopfzombies erwecken unmittelbar das Bild der in Vineland geisterähnlichen
Thanatoiden.

44
Vgl. Pynchon, Thomas. Vineland. Hamburg: Rowohlt, 1995. S. 95
Ketzel 17
4.1.3. Die Bibel und der Babel-Mythos:

Wie bereits in der Einleitung darauf hingewiesen wurde, ist Snow Crash eine Neu-
interpretation des Babel-Mythos. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass im Roman an
einigen Stellen aus der Bibel zitiert wird.
Die erste Anspielung auf den Mythos findet statt wenn Juanita, eine alte Freundin und
Ex-Hackerkollegin von Hiro, ihn im Hacker Club des Metaverse, The Black Sun, anspricht
und eine Hypercard übergibt, auf der „BABEL― und darunter „(Infocalypse)― (SC 64) steht.
Eine Hypercard im Metaverse ist so etwas wie eine virtuelle Darstellung einer Datenbank,
ähnlich einem USB Stick, durch die eine unbegrenzte Menge von Daten von einem Computer
auf einen anderen übertragen werden kann. Im Buch wird sie als Illustration ähnlich einer
Visitenkarte abgebildet, weshalb man nach Genette auch von einem paratextuellen Verweis
sprechen kann. Mit dieser Hypercard wird durch das Wort Babel unmittelbar der Babel-
Mythos als Prätext aufgerufen.
Kurz darauf spricht Hiro mit Da5id, einem anderen Ex-Hackerkollegen des Teams,
welches die grundlegende Software für die Struktur des Metaverses programmiert hat. In
dieser Unterhaltung stellt sich heraus, dass beide von einem unbekannten Avatar eine Droge
Namens Snow Crash in Form einer Hypercard angeboten bekommen hatten. Wobei Hiro
Da5id erzählt, dass er auf dieses Angebot nicht einging, weil er die Wirkung einer virtuellen
Droge bezweifelt und dahinter ein simples Computervirus vermutet, versucht Da5id die
Droge, woraufhin sich ein einfach programmierter nackter weiblicher Avatar vor Da5id
materialisiert, ihm etwas ins Ohr flüstert und direkt vor seinen Augen ein zweidimensionales
Bild des Snow Crash Virus entrollt. Da sich zuerst keine Auswirkung zeigt, fragt Hiro, was
der Avatar geflüstert hat.

‗Some language I didn‘t recognize,‗― Da5id says. ‗Just a bunch


of babble‘
Babble. Babel. (SC 69, kursiv im Original)

Hier wird also eine weitere Anspielung auf den Mythos gemacht, welche, durch das Wort
‗babble‘, was als unverständliches Brabbeln übersetzt werden kann, impliziert, dass es sich
bei der nicht erkannten Sprache um diejenige handelt, welche nach dem Mythos vor der
Sprachverwirrung von Babel gesprochen wurde.
Durch die Hypercard von Juanita ist Hiro im Besitz der Daten aus der CIC Datenbank,
die alles um den Babel-Mythos Gespeicherte enthalten und einem dazugehörigen
Bibliothekarprogramm, das als Avatar für ihn diese Daten sortiert. Es sind die Gespräche
zwischen Hiro und diesem Bibliothekar, in denen die Bibel (z.b. SC 100) und reale Wissen-

Ketzel 18
schaftler, die sich mit dem Babel-Mythos und den dazugehörigen sumerischen Mythen
auseinandergesetzt haben (z.B. SC 197), zitiert werden.
Mit Hilfe dieser Zitate und Gedanken entfaltet der Roman seine Interpretation des
Babel-Mythos, die darauf basiert, dass Sprache als Virus verstanden werden kann. In den
Gesprächen zwischen Hiro und dem Bibliothekar erfährt man, dass die Sprachverwirrung von
Babel auf einen wahren historischen Moment zurück gehen soll. Es soll ein sumerischer
neurolinguistischer Hacker namens Enki gewesen sein, der mit seinem neurolinguistischen
Virus (SC 204), dem „nam-shub―, eine „self-fullfilling fiction― (SC 236) schrieb, welche die
neurolinguistischen Tiefenstrukturen der Menschen dermaßen verändert hätten, dass sie ihre
gemeinsame Sprache nicht mehr verstanden. Dieses Nam-Shub wird im Buch als ein von dem
realen Wissenschaftler Kramer übersetztes Gedicht zitiert.
Sobald in Snow Crash von neurolinguistischen Tiefenstrukturen, die allen Menschen
gemein sein soll, die Rede ist, wird dadurch eine unmarkierte Anspielung auf die Universal
Grammar Theorie des Linguisten Noam Chomsky gemacht. Als Hiro den Bibliothekar nach
dem Wesen dieser Tiefenstrukturen befragt, fällt dann auch Chomskys Name und die
Anspielung wird durch die Erklärung der Grundposition von Chomskys Theorie eindeutig.
Diese Interpretation von Chomskys Theorie ist die Grundlage, um Snow Crash als
neurolinguistisches Virus zu erklären. (SC 258-259) Der Logik des Romans folgend, handle
es sich bei diesen Tiefenstrukturen um eine permanente linguistische Infrastruktur im Gehirn,
die auf demselben Prinzip beruht, wie ein logischer Schaltkreis. Der Unterschied bestünde
lediglich darin, dass die Sprache, die auf diesen Strukturen realisiert werden kann, nicht binär,
wie im Falle der logischen Schaltkriese, sondern die Zungenrede bzw. Glossolalie ist. Hacker
wären jedoch auch für das binäre Virus anfällig, weil sie binäre Tiefenstrukturen gebildet
haben. Die Auswirkung solch einer Sprache wäre demnach, dass die Menschen kein
Bewusstsein hätten wie wir es kennen, weil Signifikat und Signifikant zusammenfallen.

‗So you might say that the nam-shub of Enki was the beginning of human consciousness,
when we first had to think for ourselves.‘ (SC 372)

Dieses Zitat bezieht sich darauf, dass in der Gesellschaft vor der Sprachverwirrung das
Gesagte direkt als Handlung umgesetzt oder direkt als Gedanke gedacht würde. Enki habe als
Gott/Vertreiber des me, womit die linguistisch determinierten Gesetze der vorbabylonischen
Zivilisation gemeint sind, dieses Wesen der Sprache als Virus erkannt. Demzufolge habe er
auch erkannt, dass die Ursprache geradezu die nahrhafteste Petrischale für eine virusähnliche
Ausbreitung von sich negativ auswirkenden Informationen bzw. Gedanken und Handlungen
darstellt. Um die Menschen vor solchen negativen Sprachviren zu beschützen, habe er darum

Ketzel 19
sein Nam-shub geschrieben, was sich als Sprachvirus „like a serpant around the brainstem―
gewickelt habe und seitdem verantwortlich für die menschliche Sprachdivergenz sei. Als
Nebeneffekt hätte sich dabei das Bewusstsein wie wir es kennen entwickelt.
Indem der Antagonist L. Bob Rife u.a. durch Ausgrabungen an das Wissen um diesen
Mythos herangekommen ist, mitsamt einer Methode das Nam-Shub von Enki rückgängig zu
machen, kann er die Menschen zu den unbewussten, kontrollierbaren und in Zungenrede
sprechenden Sklaven machen. Hiro kann jedoch mit Hilfe des Nam-Shub von Enki, was als
Artifakt noch erhalten ist, diesen Plan vereiteln.

Stephenson sagt im Nachwort des Romans, dass das Babelmaterial in Snow Crash auf
der Grundlage von wissenschaftlichen Arbeiten vieler Historiker und Archäologen beruht und
dass der Großteil der Worte des Bibliothekars eine Wiedergabe dieses Wissens ist. (SC 440)
Darin betont er auch, dass er versucht hat die relevanten Stellen in Form von verbalen
Fußnoten des Bibliothekars korrekt wissenschaftlich zu zitieren. (ebd.) Die
erkenntnisbezogene Erzählweise von Snow Crash ist in diesem Falle also größtenteils
wissenschaftlich intertextuell. Mit Genette gesprochen, kann man also sagen, dass der
sumerische Babel-Mythos einen Hypotext darstellt, der von Stephenson so transformiert wird,
sodass Snow Crash eine Transposition dieses Mythos darstellt.

4.1.4. William S. Burroughs‘ The Electronic Revolution

In seinem Essay von 1970 The Electronic Revolution hat SF Autor William S.
Burroughs den Gedanken elaboriert, dass Sprache als Virus verstanden werden kann. Snow
Crash ist diesem Werk in seinen Grundthesen so nahe, dass man in der Wissenschaft
wahrscheinlich von einem Plagiat reden würde. Soweit soll hier nicht gegangen werden, aber
trotz der fehlenden Markierungen sollte Snow Crash wegen seiner theoretischen Nähe als
Anspielung auf Burroughs verstanden werden.
Burroughs äußert die These, dass das geschriebene Wort in Wirklichkeit ein bio-
logisches Virus war, das die Struktur des menschlichen Sprechapparates infolge seines Befalls
so sehr veränderte, dass das Sprechen überhaupt erst möglich wurde. 45 Damit habe das Virus
eine Symbiose mit dem Menschen herstellen können, in der es sich unbemerkt als
geschriebenes Wort reproduzieren konnte. 46 Genau diese These findet sich auch in Snow

45
Burroughs, William S. „The Electronic Revolution.― www.swissinstitute.net. 1970.
www.swissinstitute.net/2001-2006/Images/electronic_revolution.pdf (Zugriff am 18. März 2011). S. 6
46
Ebd. S. 6
Ketzel 20
Crash, wobei das Virus, das Sprache ermöglichte, mit dem paradiesischen Fall gleichgesetzt
wird:

‗So when Eve – or Asherah – got Adam to eat the fruit of the tree of knowledge of good and
evil, she was introducing the metavirus, which creates viruses.‘ (SC 217)

Mit dem Metavirus ist die sumerische Ursprache, „[t]he oldes of all written languages― (SC
196) gemeint und mit den anderen Viren, alle biologischen und psychischen Krankheiten (SC
217), die, wie im vorherigen Kapitel erwähnt, durch die virulente Anfälligkeit der Ursprache
hervorgerufen werden können.

Da unsere Zivilisation aber weiterhin auf dem geschriebenen Wort basiert, und für
Burroughs das geschrieben Wort dem Bild und der Abbildung gleich ist, 47 funktioniere
Sprache immer noch als Virus.48 Eine genaue Darlegung dieses Teils der Theorie von
Burroughs kann hier aus Platzgründen und aufgrund ihrer post-strukturalistischen Thesen aus
der Sprachphilosophie leider nicht gegeben werden, wodurch auch der direkte Beweis zum
Bezug zu Snow Crash leider ausbleiben muss.
Stark zusammenfassend lässt sich aber folgendes sagen. Burroughs verfolgt mit der
These ‚Sprache als Virus‗ eine Kombination aus Logozentrismus und Neurolinguistischer
Programmierung (NLP). Das Sprachvirus kann somit als Mythos verstanden werden, der sich
durch seinen in der Gesellschaft realisierten und akzeptierten Wahrheitsanspruch permanent
reproduziert und somit für seine Erhaltung als ‚Große Erzählung‗ sorgt, der aber auch die
psychosomatische bzw. neurolinguistische Fähigkeit besitzt Krankheiten zu produzieren.
Wegen der Eigenschaft von geschriebener Sprache, an ein Medium gebunden zu sein, steige
darum gerade im Zeitalter der elektronischen Revolution diese virulente Gefahr, weil es
einfacher geworden ist, neue Mythen zu generieren und durch Massenmedien zu legitimieren
und zu verbreiten. In Snow Crash wird diese Gefahr als Hauptthema stark überspitzt, was man
z.B. an der Gleichsetzung von Babel mit Infocalypse und an Hiro‗s Nachricht an die von ihm
geretteten Hacker im Metaverse erkennen kann:

IF THIS WERE A VIRUS


YOU WOULD BE DEAD NOW
FORTUNATELY IT‘S NOT
THE METAVERSE IS A DANGEROUS PLACE; HOW‘S YOUR SECURITY?
CALL HIRO PROTAGONIST SECURITY ASSOCIATIATES
FOR A FREE INITIAL CONSULTATION49

47
Burroughs 1970. S. 11
48
Ebd. S. 7
49
SC 428
Ketzel 21
4.2. Filmische Prätexte

4.2.1. Snow Crash der SF-Film

Betrachtet man Snow Crash in seinem narrativen Aufbau, so kann man als Leser Josef
Raab nur zustimmen, wenn er sagt: „Snow Crash is an action-driven novel that seems to lend
itself to being made a film.―50 Das Zitat von Rucker auf dem Buchrücken deutet das ja schon
mit den Adjektiven schnell und dicht an. Aber besonders auffällig wird dieser Aspekt durch
den spannungssteigernden Plot, der am Ende in einem typischen Actionfilm Showdown
endet, wenn Hiro mit der High Tech Superwaffe Reason und seinen beiden Samurai-
Schwertern bewaffnet das Hauptquartier des Bösewichts stürmt.
Mit Genette gesprochen, ließe sich sagen, dass das Genre des Actionfilms als text-
übergreifendes System einen weiteren Hypotext für Snow Crash darstellt, der sich in diesem
Fall jedoch als eine Pastiche oder Persiflage äußert, je nachdem ob man es als eine
spielerische oder satirische Nachahmung interpretiert.

4.2.2. Star Trek

Stephenson benutzt einige markierte Anspielungen auf die von Gene Roddenberry
kreierten Star Trek Geschichten, um die Welt von Snow Crash besser beschreiben zu können.
So zum Beispiel wenn erklärt wird, wie man sich in das Metaverse einloggt.

You can‘t just materialize anywhere in the Metaverse, like Captain Kirk beaming down from
on high. This would be confusing and irritating to the people around you. It would break the
metaphor. Materializing out of nowhere (or vanishing back into Reality) is considered to be a
private function best done in the confines of your own House. Most avatars nowadays are
anatomically correct, and naked as a babe when they are first created, so in any case, you
have to make yourself decent before you emerge onto the Street. Unless you‘re something
intrinsically indecent and you don‘t care. (SC 34)

Das visuelle Wissen um den Vorgang des Beamens in Star Trek ist also eine Grundvo-
raussetzung, um das Metaverse in seiner Konkretheit zu erfassen. Denn durch den Verweis
auf die von Star Trek gegebene Visualisierung des Beamens bzw. Materialisierens, werden
beim Leser eben genau diese Bilder aufgerufen.

Ein anderer markierter Verweis auf Star Trek ist da schon etwas weniger offensichtlich
in seiner Funktion, jedoch wird durch den Kontext eindeutig klar, warum ihn Stephenson
benutzt.
50
Raab, Josef. „From Intertextuality to Virtual Reality: Robert Coover‘s A Night at the Movies and Neal
Stephenson‘s Snow Crash.― In Science, Technology, and the Humanities in recent American Fiction,
Herausgeber: Peter Freese und Charles B. Harris, 485-519. Essen: Die Blaue Eule, 2004. S. 512-515
Ketzel 22
Behind her on the wall was an amateurish painting of an old lady, set in an ornate antique
frame. It was the only decoration in Juanita‘s office. All the other hackers had color
photographs of the space shuttle lifting off, or posters of the starship Enterprise. (SC 55,
kursiv im Original)

Dieser Verweis funktioniert zwar offensichtlich als eine Charakterisierung von Juanita und
ihren Arbeitskollegen, aber in seiner parodistischen Tiefe kann er erst verstanden werden,
wenn man das stereotypische Bild des Star Trek Fans kennt. Denn diesem werden u.a. die
Attribute zugewiesen: ein Computer-freak/nerd/geek mit sozialen Defiziten zu sein, der 51 im
Star Trek Universum – einem fiktiven Phänomen der Popkultur – die optimale Realisierung
von ästhetischen und ideologischen Konzepten sieht.52 So gesehen, müsste die Tatsache, dass
Juanita kein Raumschiff Enterprise Poster, sondern das beschriebene Bild in ihrem Büro zu
hängen hat, als Symbol für ihre kulturelle und soziale Überlegenheit verstanden werden. Zu
denken, Stephenson würde somit die Star Trek Fans unter seinen Lesern verprellen, wäre aber
auch nicht ganz richtig. Denn nach dem Soziologen John Tenuto kann man davon ausgehen,
dass dem realen Star Trek Fan die übertriebene Konstruiertheit dieses Stereotyps durchaus
vertraut ist und er deshalb die Anspielung als ironisch gemeinte versteht.53 Mit dieser
Anspielung liefert Snow Crash somit auch ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Stephenson in
selbstironischer Weise SF als Genre parodiert, weil ein Großteil der SF Geschichten gerade
aufgrund der starken Tendenz zu stereotypischen Stilmitteln zu greifen als Paraliteratur
klassifiziert wird.

4.2.3. Tron

Anspielungen auf den 1982 von Steven Lisberger gedrehten Film Tron sind in Snow
Crash zwar nicht direkt markiert gegeben. Aber der zehn Jahre vor Snow Crash erschienene
Disney Film ist wegen seiner tatsächlichen Visualisierung des Cyberspace-konzepts ein
wichtiger Teil des Cyberpunk Genres. Andererseits fordert der Text, wie eben schon
angesprochen, durch seine narrative Ähnlichkeit zum Film und durch solche Anspielungen,
wie die mit dem Beamen, den Leser auch regelrecht heraus bestimmte Szenen als implizite
Anspielung auf Tron zu lesen. Bei diesen Szenen handelt es sich zum Beispiel um die
Verfolgungsjagt, die sich Hiro und Raven zum Ende der Geschichte auf ihren Motorädern im
Metaverse liefern.

51
Ja, ein weiteres Attribut des Stereotyps ist dessen Männlichkeit.
52
Vgl. Wenger, Christian. Jenseits der Sterne: Gemeinschaft und Identität in Fankulturen. Zur Konstitution des
Star Trek Fandoms. Bielefeld: transcript, 2006. S. 241-251
53
Siehe Tenuto, John. The Myth of the Star Trek Fan. 2006. http://trekmovie.com/2006/09/24/the-myth-of-the-
star-trek-fan/ (Zugriff am 2. April 2011).
Ketzel 23
„Raven gets turned toward Downtown and twists his throttle just as Hiro is pulling in behind
him on the Street, doing the same. Within a couple of seconds, they‘re both headed for
Downtown at something like fifty thousand miles an hour. Hiro‘s half a mile behind Raven
but can see him clearly: the streetlights have merged into a smooth twin streak of yellow, and
Raven blazes in the middle, a storm of cheap color and big pixels.‖ (SC 411)

Gerade durch die Beschreibung von Ravens Vorbeirauschen als Sturm von billigen Farben
und großen Pixeln ruft unmittelbar die Szenen von Tron auf, in denen die gladiato-
renkampfähnlichen Motoradrennen dadurch gewonnen werden, dass man seinem Gegner mit
der aus Licht hinterlassenen Spur auf dem „Grid― den Weg abschneidet. Vor allem die Wörter
„cheap color and big pixels― erinnern den Leser an die zwar eindeutig unrealistischen, jedoch
den Zuschauer wegen ihres Novum-Charakters beindruckenden visuellen Effekte von Tron.

4.3. Snow Crash als Prätext

Der Theorie zur Intertextualität bzw. Transtextualität nach, kann jeder Text auch zum
Prätext werden. Mark Pesce ist in seinem Essay Magic Mirror: The Novel as a Software
Development Platform sehr umfangreich und mit vielen Beispielen darauf eingegangen, wie
stark SF Romane die Entwicklung von Technologien inspiriert und bedingt haben.54 Snow
Crash ist auch dafür ein ausgezeichnetes Beispiel. So hat es z.B. den Begriff Avatar in seiner
beschriebenen Verwendung zum Fachbegriff werden lassen, obwohl dieser auch schon vor
Stephenson für dieselbe Funktion verwendet wurde.55 Aber auch das Metaverse, als eine vom
Computer graphisch dargestellte dreidimensionale virtuelle Realität, wurde auf verschiedene
Weise in der Realität umgesetzt. Das wohl prominenteste Beispiel ist die Software bzw.
Virtuelle Welt Second Life. So beantwortet der Erfinder von Second Life Philip Rosdale in
einem Interview die Frage, inwiefern Snow Crash einen Einfluss auf Second Life hatte, wie
folgt:

When Snow Crash came out, I was already really intent on the idea of creating a virtual
world like Second Life — I had been thinking about it and doing what small experiments I
could since I was in college. But Snow Crash certainly painted a compelling picture of what
such a virtual world could look like in the near future, and I found that inspiring. 56

54
Mark Pesce, Mark. Mirror: The Novel as a Software Development Platform. http://web.mit.edu/comm-
forum/papers/pesce.html (Zugriff am 27. Februar 2011).
55
Ebd.
56
Dubner, Stephen J. Philip Rosedale Answers Your Second Life Questions. 2007.
http://www.freakonomics.com/2007/12/13/philip-rosedale-answers-your-second-life-questions/?hp (Zugriff
am 3. April 2011).

Ketzel 24
Snow Crash kann also durchaus als intermedialer und/oder als intertextueller Prätext für
Second Life bezeichnet werden. Denn immerhin handelt es sich bei Second Life um eine auf
Code bzw. Text basierte Software.

Ein weiterer Text auf den hier nur kurz eingegangen werden soll, ist der Film Matrix
von 1999 unter der Regie von Laurence und Andrew Wachowski. Betrachtet man, wie in
Matrix das Konzept des Cyberspace dargestellt wird und die Eigenschaften des Protagonist
Neo, so lassen sich die Bezüge zu Snow Crash, aber auch Neuromancer, nicht von der Hand
weisen.
Von Neuromancer übernimmt der Film offensichtlich den Begriff für die Beschreibung
des Cyberspace und die Idee der direkten Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Aber
die graphische Repräsentation des Geistes in der Matrix entspricht eindeutig dem Metaverse
in seiner konsequent zu Ende gedachten Perfektion. Es ist die perfekte Simulation der Realität
mit all ihren physikalischen Gesetzten, in der bis auf die lediglich Déjà-vu hervorrufenden
„Glitches― niemals die Metapher der Realität gebrochen wird. Dies ändert sich erst durch die
Fähigkeit Neos die Matrix direkt fühlen, sehen und beeinflussen zu können. Das die filmische
Umsetzung dieser Fähigkeiten durch Kung-Fu geschieht, mag sicherlich zu einem gewissen
Teil Gibson und Stephenson zu verdanken sein, die mit Hiro und Molly zwei in asiatischer
Kampfkunst ausgebildete Helden liefern. Hiro ist jedoch noch mehr eine Vorlage für Neo als
Molly, weil in Snow Crash mehrmals auf seine fast übersinnlich erscheinenden Reflexe
hingewiesen wird und weil Hiro als Miterfinder des Metaverses die Gesetze der virtuellen
Realität umgehen kann.

Ketzel 25
5. Schluss
Die Prätexte von Snow Crash, auf die diese Arbeit eingegangen ist, sind nicht alle
Texte, zu denen der Roman intertextuelle Bezüge aufbaut. Es wäre zum Beispiel auch noch
interessant gewesen zu fragen, inwiefern der Name und Charakter L. Bob Rife als Anspielung
auf den Scientology-Gründer und berühmten SF Autor L. Ron Hubbard verstanden werden
kann, oder, wie stark Snow Crash vom Psychologen Julian Jaynes‗ durch dessen Werk Der
Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche geprägt ist.
Diese Texte wurden jedoch nicht als Prätexte von Snow Crash untersucht, weil die
Beantwortung dieser Fragen einfach den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt hätte.

Abschließend kann man sagen, dass Stephensons Snow Crash ein sehr gutes Beispiel
dafür ist, dass zeitgenössische Science Fiction Literatur gerade wegen ihrer starken Tendenz
zur Intertextualität gleichzeitig unterhaltend und anspruchsvoll sein kann. Wie beispielhaft
gezeigt wurde, wird die Eigenschaft des Romans, eine schnelle, dichte, tiefgründige und
lustige Erzählung zu sein, vor allem durch gezielte Verweise auf bestimmte Prätexte erreicht.
So werden in Snow Crash dadurch parodistische Momente erzeugt, dass der Text auf typisch
postmoderne Weise seine Fiktionalität und Genrezugehörigkeit thematisiert. Hiro ist nicht nur
der filmähnliche ‚Action-Hero‗, sondern eben auch der Protagonist in einer virtuellen und
fiktionalen Realität, die bei weitem plausibler erscheint, als ihre Vorlage in Gibsons
Neuromancer. Denn gerade die Einbettung von realen wissenschaftlichen Diskursen und alten
Mythen in die Darstellung einer zukünftigen Welt, die aus heutiger Perspektive immer
realistischer zu werden droht, wirft auf unterhaltene Art kritische Fragen bezüglich unseres
Umgangs mit neuen Informationstechnologien auf. Wenn zum Beispiel Sprache in ihrer
Eigenschaft bestimmte Informationen an ein Medium zu binden, von denjenigen, welche die
Medien kontrollieren, missbraucht wird, und die Menschen aufhören die Konstitution der
Informationen, also die durch Medien verbreiteten Nachrichten und Geschichten, zu
hinterfragen bzw. mitzubestimmen, dann besteht die Gefahr, dass Sprache zu einem Virus, zu
einer Droge oder zu einer Religion wird.

Ketzel 26
6. Literaturverzeichnis
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März 2011).
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http://www.freakonomics.com/2007/12/13/philip-rosedale-answers-your-second-life-
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Ketzel 27

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