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Endspurt der Dinosaurier

Den einen lenkte sein Skateboard ab, der andere lebte lieber
seine Ideale, die Kommilitonin bekam Kinder: Die Ära der
Langzeitstudenten mit kurvenreichen Lebensläufen geht zu
Ende – die neue Uni-Welt verlangt Effizienz und Tempo.
Am Tag, an dem sich Gerhard Holm auf den Weg zu seiner Erstsemester- Während vor allem Unternehmensberater und Anwalts-
Vorlesung machte, wurde John Lennon erschossen. Es war im Dezember kanzleien in ihren Stellenanzeigen ein zügig absolviertes
1980, Holm hatte gerade sein Magisterstudium an der Uni Münster begonnen. Studium fordern, plädieren andere für den Müßiggang.
Heute verdient er sein Geld als Musiker, das Studium hat er nie beendet. Als »Ich bin dafür, ein paar Jahre des Lebens nicht unter den
er abbrach, 2004, hatte er fast ein Vierteljahrhundert an der Uni verbracht. Er üblichen Maßstäben einer leistungsorientierten Verwer-
zählte mehr Semester als Lebensjahre: 48. tungsgesellschaft zu betrachten«, sagt Philipp Köster, Chef-
Je mehr Bachelor-Studierende an Deutschlands Unis ihren Abschluss machen, redakteur der Fußballzeitschrift »11Freunde« und einer
desto exotischer werden Langzeitstudenten wie Holm. In einer Welt, in der der erfolgreichsten jungen Magazingründer Deutschlands.
das Studium nach drei Jahren enden soll und die Note entscheidet, wer wei- »Ich habe jahrelang nur ›Simpsons‹ geguckt. Das hat mei-
terstudieren darf, werden sie zu einer aussterbenden Spezies. nen popkulturellen Kosmos erweitert.«
Knapp 40 000 Männer und Frauen sind in Deutschland seit 20 Semestern Prinzipiell sei ein längeres Studium in den meisten Bran-
oder länger an einer Universität eingeschrieben – das sind etwa drei Prozent chen kein Problem, sagt Frauke Narjes vom Career Cen-
aller Studenten. Weil die alten Magister- und Diplomstudiengänge auslaufen, ter der Uni Hamburg. Vom Credo des schnellen Durch-
müssen nun auch die Dinosaurier zum Ende kommen, viele bis spätestens studierens hätten sich viele Unternehmen verabschiedet
2012. – solange es für die hohe Semesterzahl gute Gründe
Einige Unis bieten deshalb neuerdings sogenannte Endspurt-Programme an. gibt. »Manche Berufswege verlaufen halt im Zickzack,
Sie sollen Dauerstudierenden den Weg zum Abschluss erleichtern – eine Art und das ist auch in Ordnung so«, findet Narjes.
Gehhilfe für die letzten Meter. Weil Langzeitstudenten Bund und Länder Geld kosten
Die Nachfrage ist groß: Für ihre Sprechstunde gebe es mittlerweile Wartezeiten, und Deutschlands Absolventen noch immer zu den äl-
sagt Amrit Malhotra, Endspurt-Betreuerin an der Uni Münster. Sie erstellt testen in Europa zählen, soll die Bologna-Reform das
mit den verbliebenen Magister- und Diplomanwärtern persönliche Zeitpläne, Studium raffen: durch straffere Lehrpläne, strengere
gibt Motivationstrainings und Gruppensitzungen. Die Studenten, die ihr ge- Prüfungen, kürzere Regelstudienzeiten. Doch ob Ba-
genübersitzen, sind oft älter als die 29-jährige Sozialpädagogin selbst. chelor- und Masterstudiengänge tatsächlich kürzere
»Die meisten, die zu mir kommen, haben nebenbei zu viel gearbeitet«, sagt Studienzeiten bringen, ist ungewiss.
Malhotra. Nebenjobs sind die größte Hürde auf dem Weg zum Abschluss. »Auch bei Bachelorstudierenden zeichnen sich Verzö-
Von den gut zwei Dritteln aller Studenten, die neben dem Studium jobben, gerungen gegenüber der geplanten Studiendauer ab«,
arbeitet die Hälfte mehr als einen vollen Tag pro Woche. Ein Pensum, das warnten unlängst Konstanzer Hochschulforscher. Weil
Wissenschaftler der Arbeitsgruppe Hochschulforschung an der Uni Konstanz Seminare und Vorlesungen oft ausfallen oder zeitgleich
für problematisch halten: Bereits acht Stunden pro angeboten werden, verlängert sich ein modularisiertes
Semesterwoche könnten das Studium verzögern. Studium gern mal um mehrere Semester. Rund die Hälf-
66 ½ Jahre versammelte Der Marburger Student Mikheil Peradze kommt te aller Studenten beenden ihr Studium später als ge-
Studienerfahrung: Heike auf mehr als 50 Stunden Arbeit plus Studium pro plant. Würden sich die Veranstaltungen an den Unis
Bathke (mit Söhnen),
Woche. Peradze ist Georgier und zog 2003 von Tif- nicht mehr überschneiden, sänke diese Quote auf knapp
Mikheil Peradze, Christi-
an Keil; es fehlen Ger-
lis nach Deutschland, er wollte hier Politologie stu- 30 Prozent, schätzen die Wissenschaftler aus Konstanz.
hard Holm und Niko Dörr dieren. Mittlerweile ist er im 16. Semester und hat Doch viele Hürden, die auch motivierte Studenten
noch immer keinen Abschluss. Peradze bekommt bremsen, bleiben bestehen. Auch Bachelor- und Mas-
kein Bafög, kein Stipendium, kein Geld von den teranwärter bekommen Kinder, müssen Angehörige
Eltern. Um sich sein Studentenleben zu finanzieren, hangelt er sich von einem pflegen und arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren.
Job zum nächsten. Für Referate, Hausarbeiten und Prüfungen bleibt wenig Ein Stipendium bekommen nur rund drei Prozent aller
Zeit. Seine Dozenten registrieren nur, dass er oft schlechte Noten schreibt. Studenten in Deutschland.
Dass nicht Faulheit, sondern Zeitnot dahintersteckt, sehen sie nicht. Die Oldenburger Biologiestudentin Heike Bathke hatte
Der schlechte Ruf der Bummel- und Scheinstudenten, die eingeschrieben Glück: Sie konnte dank eines Stipendiums im vergan-
sind, um ein Semesterticket und günstige Versicherungstarife abzugreifen, genen Jahr ihre Diplomarbeit beenden und bereitet sich
färbe auf ihn ab, klagt Peradze. Und auf viele andere Kommilitonen, die länger nun – zwischen Job und Mutterpflichten – auf die letz-
für ihr Studium brauchen als der Durchschnitt. ten mündlichen Prüfungen vor. Mikheil Peradze steckt
So wie Heike Bathke, die 25 Semester Biologie studiert hat und sich zwischen nach 16 Semestern Politikstudium in den letzten Zügen
Hörsaal und Labor um ihre Kinder kümmerte, alleinerziehend. So wie der seiner Abschlussprüfung und bewirbt sich um einen
Musikwissenschaftsstudent Niko Dörr, der aus Interesse am Fach Seminare Masterplatz. Sein Marburger Kommilitone Niko Dörr
besucht, für die er keine Scheine bekommt, und damit wirkt wie das Relikt hat sich vorgenommen, spätestens im kommenden Jahr
eines längst vergessenen Bildungsideals. sein Musikwissenschaftsstudium zu beenden. Und
So wie der Skateboarder Christian Keil, der neben dem Studium fast täglich Christian Keil aus Münster prüft, für welche Seminare
trainiert und lange Zeit Sport-Camps für Kinder organisiert hat. Er begann ihm noch Scheine fehlen.
sein Magisterstudium 1998 – in dem Jahr, in dem Gerhard Schröder Bundes- An seiner Uni treffen sich jetzt jede Woche Langzeit-
kanzler wurde und Bill Clintons Affäre mit Monica Lewinsky aufflog. Dass studenten, die sich im Endspurt-Programm von Amrit
MARKUS MILDE

Keil bis heute keinen Abschluss hat, bereut er nicht. »Ich finde es wichtig, Malhotra kennengelernt haben. Gemeinsam pauken
auch außerhalb des Hörsaals für eine Sache zu brennen, seinen Horizont zu sie für eine Zukunft außerhalb der Uni.
erweitern.« NORA GANTENBRINK, CATERINA LOBENSTEIN

UniSPIEGEL 3/2011 9
Endspurt der Dinosaurier

Heike Bathke, 36 die Kinder werden. Im Gegenteil. Als sie noch im Kindergarten waren, habe
25 Semester Biologie, Uni Oldenburg ich mit befreundeten Eltern manchmal nachmittags abwechselnd auf sie auf-
»Als mein ältester Sohn geboren wurde, war ich im gepasst. Heute muss ich den Ansprüchen gerecht werden, die die Schule an
achten Semester und fast scheinfrei. Er war ein Eltern stellt. Auch das kostet Zeit, die mir zum Studieren fehlt.
Wunschkind, genau wie der zweite, der anderthalb Im vergangenen Jahr habe ich in der Biochemie meine Abschlussarbeit ge-
Jahre später kam. Ich wusste immer, dass ich Kinder schrieben, über ein Enzym aus der Netzhaut von Zebrafischen. Eine experi-
haben will, und ich wollte nach dem Diplom in mentelle Arbeit, für die ich jede freie Minute im Labor stand. Ich habe ein Sti-
der Wissenschaft arbeiten. pendium dafür bekommen, anders hätte ich diese Zeit nicht finanzieren kön-
nen. Zwei Prüfungen stehen jetzt noch an. Dann bin ich fertig. Dass ich
Heike Bathke mit ihren zwei Söhnen meinen Abschluss mache, daran habe ich nie gezweifelt.«

Christian Keil, 33
26 Semester Kulturanthropologie, Sportwissenschaften
und Philosophie, Uni Münster
»Mein Skateboard hat mindestens 18 Semester Studienzeit auf dem Gewissen.
Es gab Zeiten, da bin ich aufgestanden und dann skaten gegangen, bis es
dunkel wurde. Abends dann nach Hause, Skate-Videos schauen oder mit Kol-
legen über die Tricks des Tages fachsimpeln. Und am nächsten Morgen dann
die Repeat-Taste drücken: aufste-
hen, skaten, Après-Skate, schlafen
gehen.
Mit dem Studium habe ich 1998
angefangen, erst Pädagogik in
Mainz, später bin ich dann meiner
großen Liebe nach Münster gefolgt.
Ich war damals Anfang 20, und zur
selben Zeit kamen die ersten Spon-
soren auf mich zu. Für eine Profi-
karriere war ich da aber schon zu
alt und irgendwie auch zu vernünf-
tig. Trotzdem habe ich viel Zeit in
meine Leidenschaft investiert.
Ich habe auf viele Arten versucht,
mir neben dem Studium eine Exis-
tenz als Skateboarder aufzubauen,
TRISTAN VANKANN

weil ich jede Chance nutzen wollte.


Darum habe ich Skate-Camps und
Touren geleitet, Unterricht gege-
ben, für Skate-Magazine geschrie-
Nach vier Jahren Hörsaalpause waren meine beiden ben und Skate-Parks entworfen.
Söhne alt genug für den Kindergarten, und ich war Diese Zeit fehlte dann natürlich bei
bereit für den Wiedereinstieg. Fachlich habe ich Hausarbeiten und Seminaren, ob-
mich schnell wieder zurechtgefunden, das Diplom wohl ich fast jedes Semester mit
rückte in erreichbare Nähe. Doch 2005 trennten voller Motivation angefangen habe.
mein Mann und ich uns. Die Zeit danach forderte Wenn man mich heute fragt, ob ich
mich als Mutter noch mehr als sonst. Also wieder: es bereue, so lange studiert zu ha-
Familie statt Labor. Zur selben Zeit lief mein Bafög ben, dann sage ich nein.
aus, seitdem arbeite ich auf einer halben Stelle als Ein guter Abschluss bedeutet noch
Sozialberaterin im Asta. Das Einkommen reicht lange keinen guten Job, und vor al-
gerade so zum Leben. Trotzdem mache ich diesen lem verheißen auch der gute Job
Job gern, weil er sehr flexibel ist. und das gute Einkommen nicht un-
Von meinen Dozenten und Kommilitonen fühle bedingt Glück und Zufriedenheit
CARSTEN BEHLER

ich mich akzeptiert, auch wenn ich mich dem Stu- – Werte, die mir für mein Leben
dium nicht voll widmen kann. Trotzdem spüre ich wichtiger sind als Haus und Auto.
oft, dass ihre Lebenswirklichkeit eine ganz andere Mein Studium will ich jetzt auf je-
ist als meine. Leider wird es nicht leichter, je älter den Fall beenden.« Christian Keil

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B L U C I N E M A T H E K Endspurt der Dinosaurier

20 EXKLUSIVE
B LU - R AY S FÜR DAS
Gerhard Holm, 49 (möchte
seinen richtigen Namen nicht im
Uni-SPIEGEL stehen haben)
HD-KINOERLEBNIS 48 Semester Germanistik und
Musik (abgebrochen),
ZU HAUSE! Uni Münster
»Ich war schon als 16-Jähriger politisch
A U S G E WÄ H LT U N D
PRÄSENTIERT VON
aktiv, was ich dann in der Uni-Zeit weiter
verfolgt habe. Beim Anti-AKW-Theater,
bei Hausbesetzungen oder Demos. Die
Freiheiten, die ich plötzlich im Studium
hatte, habe ich von Anfang an genossen.
Wahrscheinlich zu sehr. Statt zu studie-
ren, habe ich protestiert oder in einer
Punkrockband gespielt. Mein Grundstu-
dium habe ich noch abgeschlossen. Aber
danach war ich nur noch selten in der

BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO


Universität.
Meine Eltern kamen aus bäuerlichen Ver-
hältnissen, wir waren fünf Kinder zu Hau-
se. Es bedeutete ihnen sehr viel, dass ich
studiere. Ich glaube, deshalb habe ich
mich so lange nicht getraut abzubrechen. Niko Dörr
Dabei war mir schon früh klar, dass ich
nie verbeamteter Lehrer werden würde.
Ich war gegen das politische System und Niko Dörr, 29
wollte nicht Teil davon werden. Auch den 18 Semester Musikwissenschaft
konservativen Schulunterricht sah ich kri- und Ethnologie, Uni Marburg
tisch. Von heute aus betrachtet war das »Es passiert immer wieder. Ich sitze im
natürlich pubertär. Das war so eine kon- Seminar, sage etwas, und die jüngeren
traproduktive Trotzeinstellung unter dem Kommilitonen verdrehen die Augen.
Tarnmantel des politischen Aktivismus. Dann weiß ich schon: Ich bin mal wieder
Ich bin dann irgendwann gar nicht mehr der Klugscheißer. Meistens halte ich mich
zur Uni gegangen und einfach jahrelang ja zurück, und es ist logisch, dass ich oft
eingeschrieben geblieben, um noch wei- einen besseren Überblick habe als die
ter günstiger versichert zu bleiben. Ar- Jüngeren: Ich studiere jetzt seit 18 Semes-
beitslos wollte ich mich nicht melden, tern Musikwissenschaft. Am Tag höre ich
auch kein Arbeitslosengeld beziehen. rund drei Stunden Musik, die Bibliothek
Meine Unabhängigkeit vom Arbeitsamt kenne ich fast auswendig.
war mir wichtig. Ich fing an, Einzelschü- Effektiv bin ich dabei ganz sicher nicht.
ler zu unterrichten. An der Uni kannte Jedes Semester halte ich ein bis zwei Re-
ich irgendwann keinen mehr. Dazu kam, ferate in Seminaren, für die ich keinen
dass ich die Langzeitgebühren mit mei- Schein brauche – einfach, weil mich die
nem Einkommen nicht mehr stemmen Themen interessieren. Ich sitze bei den
konnte. Daher dann, 2004, die Exmatri- Physikern in Vorlesungen über Akustik
kulation. und Schall, in Philosophie- und Ge-
Natürlich frage ich mich manchmal, ob schichtsseminaren. Ich will ja nicht nur
UVP 14,99 ich alles richtig gemacht habe. Jetzt ist klar, die Musik verstehen, sondern auch die
EURO dass ein Studium für mich nicht der rich- Welt drumherum. Wenn ich zum Bei-
tige Weg war, aber die Uni-Zeit hat mir spiel in der Oper sitze, und der Handlung
trotzdem was gebracht. Zum Beispiel Le- liegt ein griechisches Drama zugrunde,
benserfahrung und eine kritische Sicht auf dann will ich etwas über antike Dramen-
die Welt. Dass ich nicht in einen Hörsaal theorie wissen.
gehöre, habe ich einfach zu spät eingese- Drei Jahre war ich in der Fachschaft,
JETZT IM HANDEL und im hen. Heute verdiene ich als Künstler zwar habe die Einführungswochen und die
auch nicht mehr als ein Hartz-IV-Emp- Institutskonzerte mitorganisiert. Weil die
fänger, aber dafür fühle ich mich frei.« Erstsemester manchmal noch nicht No-
www.spiegel.de/shop
12 UniSPIEGEL 3/2011
www.arthaus.de/Blu_Cinemathek
ten lesen können, habe ich Tutorien an- Promotion. Vielleicht über den Schlager
Die
Geschichte
geboten, um es ihnen beizubringen – un- in der DDR und dessen politische Bedeu-
bezahlt. tung. Dazu wurde bislang kaum ge-
Die meiste Zeit meines Studiums habe forscht.«
ich nebenher gearbeitet. Ungefähr drei-
mal die Woche kümmere ich mich um
meinen kranken Großvater. Ich kaufe für
ihn ein, mache die Gartenarbeit, besorge
Mikheil Peradze, 27
16 Semester
des Islam
ihm neue Sauerstoffflaschen. Politikwissenschaft,
In dem Dorf, in dem ich wohne, leite ich Uni Marburg
einen Laienchor und schreibe an der »Ein Abitur mit einem Durchschnitt von
Dorfchronik mit. Nur für die Uni zu le- 1,0, ein dritter Platz beim Aufnahme-
ben und nebenher nichts anderes zu tun verfahren der staatlichen Universität,
würde mich unglücklich machen. Ich fin- eine ausgezeichnete Zwischenprüfung.
de es in Ordnung, dass ich so lange an Das hört sich gut an, nur: Es interessiert
der Uni war. Alles in drei Jahren durch- niemanden. Zumindest nicht hier in
zupeitschen, das kann ich mir nicht vor- Deutschland. Denn das Gymnasium und
stellen. die Universität, an denen ich diese
Manchmal frustriert es mich, wie ober- Prüfungen absolviert habe, liegen in
flächlich Bachelorstudenten an ihrem Georgien, wo ich geboren bin.
Fach vorbeistreifen – gezwungenerma- 2003 bin ich von Tiflis nach Marburg ge-
ßen. Aber auch ich muss bald mal fertig zogen, um Politik zu studieren – meine
werden. Danach kommt hoffentlich eine Heimatuni war so schlecht ausgestattet.
Die meisten Bücher dort stammten noch
Mikheil Peradze aus der Sowjetunion. Hier in Deutsch-
land bekomme ich kein Geld von meinen
Eltern, kein Bafög, kein Stipendium.
Manchmal habe ich vier Jobs gleichzeitig.
Ich habe in Restaurantküchen gejobbt,
als Kellner und nachts als Türsteher. Tags-
über arbeite ich für ein Marktforschungs-
unternehmen.
Weil ich so viel jobben muss, blieb von Gebunden | 288 Seiten mit Abb.
Anfang an kaum Zeit zum Lernen. € 19,99 [D] | ISBN 978-3-421-04520-1
Pflichtseminare kann ich oft nicht besu-
$XFK�DOV�H%RRN�HUKlOWOLFK�
chen, weil die Arbeit mir in die Quere
kommt. Manchmal standen direkt nach
einer Türsteherschicht wichtige Vorle-
Vor 1400 Jahren betrat der Islam die
sungen auf dem Plan. Einmal bin ich da-
Bühne der Weltgeschichte, mit hohem
bei eingeschlafen. Die Professorin hat
mich zu sich zitiert und mir nicht ge- Anspruch und ungeheurer Energie.
glaubt, dass ich wegen des Jobs so über- Verkündet wurde die neue Religion
müdet war. von einem Mann, der sich als »Sie-
Vor ein paar Wochen habe ich meine Ba- gel der Propheten« verstand, und in
chelorarbeit abgegeben, jetzt fehlen nur erstaunlich kurzer Zeit eroberten die
noch zwei Module. In die Bewerbungs- Gläubigen ein riesiges Reich. Gemein-
mappen für den Master habe ich auch sam mit renommierten Islamwissen-
meine georgischen Zeugnisse gelegt. schaftlern zeichnen SPIEGEL-Autoren
Aber dass ich in Tiflis zu den Besten ge- die Geschichte des Islam nach und
hört habe, scheint nicht zu zählen. Auch
BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO

bieten so eine fundierte Einführung


nicht, dass ich vier Sprachen fließend
in Glauben, Wissenschaft und Kultur
spreche, dass ich durch die vielen Jobs
ein echtes Organisationstalent geworden dieser Religion bis hin zu den heftigen
bin. Ich will unbedingt den Master ma- Konflikten unserer Tage.
chen. Aber vom Zulassungsbüro höre ich
nur, dass mein Notenspiegel nicht so
glänzend sei.«
Erhältlich im
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UniSPIEGEL 3/2011 13 www.spiegel.de/shop

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