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1.1.3 Dareios starb im Winter 405 oder 404 in Babylon. Bei der
unmittelbar folgenden Inthronisierung des Arsakes als Artaxerxes
II. Mnemon waren Kyros und Tissaphemes anwesend. Dabei kam
es zu einem dramatischen Vorfall: Tissaphemes erreichte durch
die Beschuldigung, Kyros trachte dem neuen Großkönig nach dem
Leben, dessen Verhaftung und Verurteilung zum Tod. In der Über
lieferung (Ktesias FGrHist 688 F 16 [59], Plutarch, Artax. 3)
herrscht Übereinstimmung, daß es sich um eine Verleumdung han
delte. Nähere Einzelheiten finden sich bei Plutarch: danach be
diente sich Tissaphemes bei seinem Verleumdungsversuch eines
Priesters, der bei der Erziehung des jungen Kyros eine Rolle ge
spielt hatte und offenbar deutlich zum Ausdruck brachte, daß er
wie viele andere Perser lieber Kyros auf dem Thron sehen würde.
Unter dem Einfluß dieser allgemein verbreiteten Stimmung fand
Tissaphemes dann mit der Beschuldigung, Kyros wolle seinen Bru
der während der Weihezeremonie im Tempel von Pasagardai tö
ten, Glauben. Daß das Todesurteil nicht vollstreckt wurde, hatte
Kyros dem temperamentvollen Einsatz seiner Mutter zu verdanken,
deren Einfluß am Hof damals offenbar sehr groß war. Möglicher
weise konnte auch der Verdacht, den Tissaphemes sicher sehr di
plomatisch formuliert hatte, überzeugend ausgeräumt werden; da
für spricht die Rückkehr des Kyros in seine Satrapie.
1.1.4 Vermutlich hat Xenophon mit der Annahme recht, daß die
Absicht des Kyros, den Königsthron mit Gewalt zu erobern und so
seinen, wie er glaubte, legitimen Anspruch durchzusetzen, vor al
lem mit der entehrenden Behandlung durch den Bruder in der Ver
leumdungsangelegenheit motiviert war. Ebenso mit der weiteren
Annahme, daß die aktive Unterstützung des Kyros durch Parysatis,
die prominente Anführerin der Pro-Kyros-Partei am Hof, für sein
Vorhaben von größter Bedeutung war: ohne das Wissen um starke
und einflußreiche Kreise, die tatsächlich Kyros als Thronfolger fa
vorisierten, hätte der Putschversuch schwerlich ins Werk gesetzt
werden können.
1.1.6 Der Satrapie des Kyros hatten sich die jonischen Städte,
die ursprünglich Tissaphernes nach seiner Entmachtung noch be
lassen worden waren, aus freien Stücken angeschlossen. Die
Herrschaft des Tissaphernes beschränkte sich nun fast nur noch
auf Karien. Der Gedanke, daß er die abtrünnigen Städte mit Waf
fengewalt zurückerobern würde, war nicht abwegig und darf als un
verdächtiger Vorwand für die Verstärkung der griechischen Garni
sonen mit Elitetruppen gelten.
1.1.7 In noch höherem Maß trifft dies auf die Belagerung von Mi-
let zu, wo die Sammlung und der Einsatz von Truppen mit dem
Verhalten des Tissaphernes (der die Stadt 402/401 unter Mithilfe
der im Frühjahr 405 vertriebenen Demokraten erobert und seiner
seits die von Lysandros eingesetzten Machthaber vertrieben hatte)
überzeugend motiviert werden konnte. Griechische Söldner stan
den damals im Orient offenbar in erheblichen Mengen zur Verfü
gung.
1-2.14 St. 17. 18 Über Tyraion (oder Tyriaion, St. 18) führte die
Straße, der Kyros folgte, nach tkonion (St. 19), dessen Lage durch
die heutige Stadt Konia zweifelsfrei festgelegt ist. Mit Rücksicht auf
die Parasangenangaben Xenophons, nach denen die Strecke
durch Tyraion im Verhältnis 1 : 2 geteilt wurde, hat man den Ort bei
llgin lokalisiert, bis dort eine Inschrift gefunden wurde, aus welcher
der Ortsname Lageine gewonnen werden konnte. Daraufhin wurde
Tyraion etwa 25 km ostsüdöstlich von llgin bei Duraghan (Durnar)
vermutet, wodurch allerdings die Strecke bis Ikonion ungefähr in
zwei gleichgroße Hälften geteilt wurde. Überdies ist kaum ver-
ständlich, warum die Straße so tief in das südliche Bergland hin-
eingeführt haben sollte, anstatt dem Nordrand der Berge zu folgen
(wie die modernen Verkehrswege). Daher ist St. 18 wohl doch wei-
ter westlich anzusetzen, wo sich auch ebenes Gelände für die gro-
ße Heerschau findet (auch IYIANFREDI 56/7 identifiziert Tyriaion
wieder mit llgin; vgl. seine Abb.7: La "piana della parata militare").
1.2.15 Kyros nahm keinen Einfluß auf die Formation der griechi
schen Phalanx, die sich entgegen der üblichen Kampfpraxis nicht
acht, sondern nur vier Mann tief staffelte, dadurch aber eine impo
nierende Länge von fast drei Kilometern erreichte. Die Formulie
rung macht deutlich, daß die Kontingente der einzelnen Feldherren
als selbständige Einheiten aufzufassen sind, die jetzt erstmalig
zum Zweck der Musterung in einer zwischen den Feldherren ver
einbarten Reihenfolge nebeneinander aufmarschierten. Im späte
ren Ernstfall waren die Flügelpositionen umgekehrt besetzt (1.8.4):
inzwischen hatte Kiearchos seine führende Rolle im Kreis der Feld
herren erreicht.
1.2.16 Die einheimische Heeresgruppe, deren Truppenkörper
vermutlich in 'vollen Karrees' aufgestellt waren (vgl. zu 1.8.9), ließ
Kyros an sich vorbeiziehen, während er die Front der griechischen
Phalanx, die ja keine Marschformation darstellte, im Wagen ab
fuhr. Gegenüber den unterschiedlich bewaffneten und uniformier
ten persischen Soldaten, die anstelle von Helmen flache, weiche
Tiaren und anstelle von Harnischen tief herabfallende Jacken tru
gen, muß die lange Reihe der einheitlich uniformierten griechi
schen Hopliten mit ihren bronzenen Helmen und Beinschienen,
den vielfach metallbeschlagenen Lederpanzem, unter denen die
roten Chitone bis auf die Kniee herabhingen, und den kostbar ver-
zierten Schilden (die während des Marsches durch Futterale ge-
schützt wurden) einen überwältigenden Anblick geboten haben.
1.2.24 Der Hinweis darauf, daß die Bewohner von Soloi (einer ur
sprünglich griechischen Kolonie etwa 37 km südwestlich von Tar
sos) und Issos (auf der weiteren Marschroute nach Osten, St.41,
vgl.1.4.1) ihre Städte nicht verlassen hatten, beruht auf Autopsie:
Soloi durchzog Menon in Begleitung der Epyaxa, die es nicht ver
mocht hatte, die Flucht ihres Gemahls zu verhindern.
1.2.25 Das mysteriöse Verschwinden von 100 Hopliten aus der
Abteilung Menons (die aus 1000 Hopliten und 500 Peltasten be
standen hatte, 1.2.6) läßt die Schwierigkeiten während des Ge-
birgsmarsches deutlich werden. Beide angegebenen Gründe sind
einleuchtend: zum Zwecke der Plünderung hinter dem Gros zu
rückgebliebene Einheiten konnten in dem unwegsamen Gebirgs-
massiv wohl schnell die Orientierung verlieren, in existenzielle Not
geraten und dann zu Opfern der landeskundigen Bergsiedler, die
ihre geringe Habe natürlich erbittert verteidigten, werden * Die
Kontingente der einzelnen Feldherren waren in mehrere von Lo-
chagen geführte Lochoi (Kompanien) aufgeteilt, die als die takti
schen Grundeinheiten der Armee gelten müssen. Ihre Mann
schaftsstärke schwankt in der «Anabasis» zwischen 50 Mann (an
unserer Stelle) und 400 Mann (aus 6.2.12 in Verbindung mit 6.2.16
ergibt sich, daß bei der Neuorganisation des Heeres in Herakleia
Einheiten von etwa 400 Mann Größe geschaffen wurden, die 6.3.1
als Lochoi bezeichnet werden, aber unter dem Kommando nei
gewählter Strategen standen). Als Normgröße sind 100 Mann an
zusetzen (3.4.21, 4.8.15).
1.5.5 St. 70, 71. 72. 73. 74. 75. 76. 77. 78. 79. 80, 81. 82 Auf
dem Dreizehntagemarsch vom Khäbür bis nach Pylai (St. 82), dem
Tor nach Babylonjen, wurden mindestens 355 km bewältigt (wenn
man Pylai mit AI Aswad gleichsetzt, wie z.B. MUSIL [223]) oder et-
wa 360 km (wenn man Nafata annimmt, wie z.B. KROMAYER
[Schlachtfelder 222]; MANFREDI [125] lokalisiert es nur "grosso
modo nella zona dt Habbaniye"). Auf der unwirtlichen Wüstenstrek-
ke, die teilweise weiter ab vom Fluß durch eine felsige, von zahlrei-
chen kurzen tiefen Schluchten zerschnittene Landschaft führte, be-
trug die tägliche Marschzeit über nahezu zwei Wochen hin sie-
ben Stunden (zu je 4 - 5 km) - eine fast unglaubliche, nur aus der
existenziellen Not heraus erklärliche Energieleistung (vgl. 1.5.7).
Das grausame Schicksal der praktisch bis zum Hungertod vorwärts
getriebenen und dann notgeschlachteten Lasttiere tritt aus dem
Bericht Xenophons eindrucksvoll vor Augen. Nicht einmal der ein-
heimischen Bevölkerung gewährte das karge Land ausreichend
Nahrungsmittel: sie verarbeitete das poröse, viel kristallinen Gips
enthaltende Steinmaterial, aus dem hier die Flußufer bestanden,
zu Mühlsteinen als Tauschobjekte für Getreide. Für diese Anwoh-
ner des Euphrat bedeutete natürlich der Durchzug der riesigen
Marschkolonne, die sich aus dem Lande zu ernähren versuchen
mußte, eine entsetzliche Hungerkatastrophe.
1.5.6 Das Grundnahrungsmittel Getreide, das wohl im Troß auf
Wagen (vgl. 1.10.28) und auch von den einzelnen Personen als
Mehrtagesration im Handgepäck mitgeführt wurde, konnte aus
dem Lande nicht ergänzt werden, so daß ein akuter Notstand ein-
trat, der durch das Fleisch der notgeschlachteten Tragtiere über-
brückt werden mußte. Denn die lydischen Kaufleute (nach Herodot
1.155 hatten die Perser die Lyder, um ihren kämpferischen Cha-
rakter zu zähmen, zum Handel animiert und mit einem Verbot des
Waffentragens belegt), die vermutlich auf jedem Stathmos im Be-
reich der persischen Truppen einen Markt eröffneten, nutzten die
verzweifelte Situation schamlos aus: für etwas über zwei Kilo Mehl
(d.h. zwei normale Tagesrationen) verlangten sie 30 Obolen, den
Wochensold eines einfachen Soldaten.
1.5.9 Die Begründung Xenophons für die Eile, die Kyros an den
Tag legte, ist überzeugend. Tatsächlich hatte der Großkönig bis
zum Tag der Schlacht die Sammlung seiner Truppen, die aus sehr
weit voneinander und von Babylon entfernten Gegenden herbeige
führt werden mußten, noch nicht beenden können (vgl. 1.7.12).
1.5.10 Die große, blühende Stadt Charmande (St. 81) wird nur
hier erwähnt. Sie muß einen Tagemarsch oberhalb von Pylai (St.
82) in einer fruchtbaren Landschaft mit Dattelpalmenplantagen und
Hirseanbau am Südufer des Euphrat gesucht werden Im einzigen
wörtlichen Zitat aus der «Anabasis» des Sophainetos (FGrHist 109
F 4) wird die Stadt "an den babylonischen Toren jenseits des Flus
ses Euphrat" lokalisiert. Am ehesten möchte man an die Gegend
von Hit denken (so auch MANFREDI 126; Ramadi, das früher gele
gentlich erwogen wurde, kommt nicht in Frage, da es östlich von
Pylai liegt). MUSfL (223) vermutet in dem von Xenophon angege-
benen Namen eine Zusammensetzung aus Karm (= Weingarten)
und Ande, "the original Name öffne town", die er in der gewaltigen
Ruine von Adde südwestlich von AI Aswad auf dem rechten Eu-
phratufer wiederfinden will. * Die Flöße zur Flußüberquerung.
welche die Soldaten aus ihren Zeltplanen herstellten und mit trok-
kenem Gras füllten (vgl. eine moderne Parallele bei SCHUPPE),
sind den landesüblichen 'Keleks', deren tragendes Element aufge-
blasene Häute bildeten (vgl. 3.5.9), nachempfunden. Offenbar
nahmen einige geschäftstüchtige Soldaten (anscheinend aus der
Abteilung Klearchs) das Herbeischaffen der Lebensmittel über den
Fluß in die Hand und richteten dann auf ihrem Ufer einen Markt
ein, auf dem sie ihre Waren an die Kameraden (natürlich mit Ge-
winn !) weiterverkauften. Dabei kam es zum Streit, den Klearchos
auf seine Weise beilegte.
1.6.1 Die persische Reitereinheit war offenbar von Osten her bis
an die babylonische Grenze bei Pylai (St. 82) vorgerückt, um den
Anmarsch der Kyreer zu beobachten und zu melden sowie beim
Rückzug im babylonischen Bereich die von der Euphrat-
Norduferstraße aus erreichbaren Ressourcen, vor allem auch das
zu Heu vertrocknete Gras, das den Tieren als Nahrung diente, zu
vernichten. * Die Geschichte des Orontas (1.6.1-11) kannte Xe
nophon in allen Einzelheiten aus dem Bericht, den Klearchos als
Teilnehmer an der Gerichtsverhandlung seinen Freunden erstatte
te. Auf die früheren Konflikte mit Orontas und sein eigenes Ver
halten ihm gegenüber weist Kyros selbst 1.6.6 und 7 hin.
Das Verhalten des Orontas entspricht der realistischen La
gebeurteilung durch Kyros (1.5.16). Vermutlich gaben nur wenige
der persischen Vornehmen, die Kyros notgedrungen auf seinem
Marsch begleiteten, dem Putschversuch eine echte Chance.
Manch einer von ihnen mag überlegt haben, wie er noch im letzten
Augenblick aussteigen und dem Großkönig ein Zeichen seiner
Loyalität geben konnte, um spätere harte Bestrafung zu vermei-
den. Der offenbar spontan aus der Situation heraus entwickelte
Plan des Orontas war an sich überzeugend ausgedacht: insbeson-
dere schien es wichtig, die tatsächliche Ankunft der Kyros-Armee
in Babylonien so lange wie möglich geheim zu halten, um den
Überraschungseffekt ausnutzen zu können (vgl. 1.5.9).
1,6.11 Die Vorgänge, die sich im Zelt des Artapates (der später
in der Schlacht sein Leben für Kyros opferte, 1.8.28) abspielten,
haben naturgemäß die Phantasie der griechischen Beobachter
stark beschäftigt. Möglicherweise erklärt sich das spurlose Ver-
schwinden des Orontas daraus, daß die von Herodot (7.114) er-
wähnte persische Bestrafungsmethode des Lebendig-Eingrabens
angewendet wurde. Artapatas wird hier und 1 .8.28 als "der treuste
der Skepterträger des Kyros" bezeichnet, bekleidete, also ein ho-
hes Amt, das üblicherweise nur Eunuchen innehaben durften (vgl.
Kyrup. 7.3.15, 8.1-38, 8.3.15; vgl. auch Semonides 7.69, wo
nahezu auf eine Stufe mit röpavvo? gestellt wird).
1.7.1 Die St. 83. 84. 85 lagen an der Euphrat-Norduferstraße,
der letztere wohl einige Kilometer nordwestlich von Saqlawiya, wo
die Straße, die zuvor vermutlich auf den Uferhöhen des Euphrat
entlang führte, den Fluß direkt erreichte und fortan begleitete. Ky-
ros rechnete jetzt mit der Schlacht, weil er aus seiner Landeskennt-
nis heraus wußte, daß seine Truppen am nächsten Tag auf das
erste zur Verteidigung geeignete große Hindernis, einen (zur Zeit
gerade trocken gelegten) Bewässerungskanal, stoßen würden. Be-
reits um Mitternacht begannen die Vorbereitungen zur Schlacht mit
der Aufstellung (und zugleich Musterung) des Heeres. Es setzte
sich zusammen aus der griechischen und der einheimischen Hee-
resgruppe, die jeweils eigene taktische Einheiten mit rechtem und
linkem Flügel bildeten. Auf die Ordnung der griechischen Heeres-
gruppe nahm Kyros nur insofern Einfluß, als er dringend darum bat
(£ic£Xeuc), Kiearchos möge den rechten, Menon den linken Flü-
gel übernehmen; bei der schlachtmäßigen Vorführung des griechi-
schen Heeres vor Epyaxa in Tyriaion (1.2.15, St. 18), war es
noch umgekehrt gewesen - inzwischen hatte Kiearchos nicht nur
eine besondere Vertrauensstellung bei den Persern erworben,
sondern auch die größte Abteilung unter seinem Kommando ver-
einigt (vgl. 1.5.13). Bei dem bevorstehenden Unternehmen kam es,
wie Kyros wußte, in erster Linie auf den Durchbruch über die Land
brücke des Kanals unmittelbar am Euphratufer (vgl. 1.7.15} an. Für
diese Aufgabe war die Eliteeinheit Klearchs wie keine andere Trup-
pe geeignet. Hinsichtlich der Aufstellung der einheimischen Hee-
resgruppe läßt sich aus dem Ablauf der weiteren Ereignisse fol-
gern, daß Ariaios auf dem linken Flügel, Kyros auf dem rechten
Flügel, angelehnt an die Abteilung Menons, Position bezog.
1.7.18 Der Grieche Silanos aus Ambrakia, der später gegen Xe-
nophon intrigierte (5.6.16-18, 29, 34) und sich in Herakleia selb-
ständig machte (6.4.13), diente Kyros als offizieller Seher. Seine
elf Tage zurückliegende Weissagung dürfte auf einem der letzten
Stathmoi vor Pylai (St. 82), unmittelbar vor dem Einmarsch in Ba-
bylonien, erfolgt sein. Daß in Pylai oder bereits auf dem vorherge-
henden Stathmos gegenüber von Charmande (St. 81), wo sich Ge-
legenheit zur Proviantnahme ergeben hatte, eine mehrtägige {von
Xenophon nicht erwähnte) Pause eingelegt wurde, darf mit Sicher-
heit angenommen werden. Hier mußten die Soldaten wieder zu
Kräften gebracht und auf den bevorstehenden Kampf eingestellt
werden. Einer Aussage über diesen Kampf diente auch das Opfer,
in dessen Verlauf Silanos seinen präzisen Hinweis gab. Man kann
sich vorstellen, mit welcher Spannung der letzte Tag der von dem
Seher genannten Frist in Verbindung mit der spontanen Zusatzvor-
hersage des Kyros selbst erlebt wurde. Die außerordentlich hohe
Belohnung von zehn Talenten, die Kyros bar in der Form von 3000
Golddareiken auszahlen ließ, vermochte Silanos während der gan-
zen Zeit des Rückmarsches der 'Zehntausend' zu bewahren
(5.6.18).
1.7.19/20 St. 87, 88 Die Reaktion des Kyros, der seinen Bruder
ja genau kannte (vgl. 1.7.9), ist objektiv schwer verständlich und
wohl am ehesten psychologisch zu erklären: die sehr bestimmt er-
wartete Schlacht am Graben hatte überraschenderweise nicht
stattgefunden, stattdessen deuteten Spuren auf einen Rückzug
der Feinde hin, gerade an dem Tag, an dem die vom Seher vor-
ausgesagte Phase der Kampflosigkeit ablief. Hier schien göttliche
Fürsorge für das Anliegen des Prinzen erkennbar zu werden - ob-
wohl doch in Wahrheit gerade umgekehrt aus der Sicht des Se
hers jetzt wieder mit Kampf gerechnet werden mußte. Aber die Lö-
sung der Spannung, welche der problemtose Einmarsch in das ba-
bylonische Gebiet mit sich gebracht hatte, war nun in einen naiven
Zweckoptimismus übergegangen, der dann freilich zu einem für
den weiteren Ablauf der Ereignisse katastrophalen Fehlverhalten
führte. Kyros versäumte es nämlich, zusammen mit seinem Stab
und den griechischen Feldherren eine neue, auf eine normale
Feldschlacht abgestellte Strategie zu entwickeln. Er kannte ja den
üblichen Aufbau der persischen Schlachtreihe und wußte, daß es
im Kampf vor allem auf das Zentrum, wo der Großkönig stand, an-
kam. Als Konsequenz aus dieser Überlegung hätte er in seiner ei-
genen Schlachtreihe die stärkste Einheit (die Griechen, vor allem
die Söldner Klearchs) gegenüber dem gegnerischen Zentrum pla-
zieren müssen. Statt planmäßiger Vorbereitung auf die immerhin
noch mögliche (bei nüchterner Lagebeurteilung sogar unvermeid-
ehe) Entscheidungsschlacht ließ Kyros Schlamperei einreißen und
die Truppen aus dem gefechtsbereiten Marsch allmählich wieder
zum Reisemarsch mit seinen Erleichterungen (Transport der
schweren Schilde auf Wagen) zurückkehren. Wenn auch vielleicht
Xenophon um des dramatischen Kontrastes zu der gleich eintref-
fenden Alarmmeldung willen das Bild des sorglos dahinziehenden
Heeres übertrieben gezeichnet haben mag, im Kem trifft seine
Darstellung das Richtige: Kyros fühlte sich, je mehr er sich Babylon
annäherte, umso sicherer bereits als Sieger in der Auseinanderset-
zung mit seinem Bruder. Der erste der beiden hier erwähnten Ta-
gemärsche endete auf Stathmos 87, der zweite erreichte sein Ziel,
Stathmos 88, nicht mehr.
1.8.1 Die "Zeit des vollen Marktes" ist der spätere Vormittag, et-
wa von 10 bis 12 Uhr. Um diese Zeit traf üblicherweise die Spitze
der weit auseinander gezogenen und viele Kilometer langen
Marschkolonne, die bei ausgehender Nacht aufgebrochen war, am
Tagesziel (Stathmos) ein und begann das Biwak aufzuschlagen, in
welches dann später stundenlang die weiter hinten marschieren-
den Truppen und der Troß einströmten. Der hier ins Auge gefaßte
und schon in der Nähe liegende Stathmos 88 war eine Ortschaft
an der nach Sippar - Babylon führenden Fernstraße, vermutlich
Kunaxa (Plut. Artax. 8.2), das wohl am ehesten mit Teil Kuneise (AI
Knesje) zu identifizieren ist. Wahrscheinlich verlief der Euphrat da-
mals weiter östlich als heute; möglicherweise wurden Teilstücke
seines alten Bettes später bei der Anlage von Kanälen (z.B. des
Ridhwaniya-Kanals) ausgenutzt. Wirkliche Sicherheit läßt sich in
solchen Fragen nicht gewinnen, weil Verlagerungen des Haupt-
stromes in der von Kanälen durchzogenen Schwemmlandebene
häufiger eingetreten sind und praktisch keine datierbaren Spuren
hinterlassen haben. Immerhin ist jedoch bekannt, daß König Nabo-
polassar (626-605 v.Chr.) den Euphrat, der sich nach Westen ver-
lagert hatte, künstlich wieder in die Nähe der Stadt Sippar zurück-
führen ließ. Wenn Kunaxa in Teil Kuneise wiedergefunden ist,
kann der 1.10.12 genannte Hügel nur dem 9-10 km östlich davon
liegenden Teil Agar, der sich etwa 3,5 m über seiner Umgebung er-
hebt, entsprechen. Die von BARNETT [16/17] vorgeschlagene und
von MANFRED! [137; Karte 9] übernommene Identifizierung von
Kunaxa mit Nuseffiat nordöstlich von Teil Kuneise (vgl. Karte S.
100) hat nach meinem Urteil wenig für sich. * Pategyas hatte of-
fenbar im Auftrag des Kyros den neuen Stathmos begutachten sol-
len und dabei das bereits in Schlachtordnung aufgestellte und
langsam vorrückende Heer des Grollkönigs in der Ferne entdeckt.
1.8.4 Die Truppen richteten sich in der Eile nach dem für den
Übergang über den Graben entwickelten Aufstellungsplan. Den
rechten Flügel des Gesamtheeres nahm die griechische Heeres-
gruppe ein, die ihrerseits als autonome Einheit einen rechten und
einen linken Flügel bildete. Ihr rechter Flügel unter dem Komman-
do des Klearchos stand in der Nähe des Flusses, von dem aus
sich die Gesamtfront über mehrere Kilometer hin in die Ebene hin-
ein erstreckte. Klearchs Kontingent umfaßte damals mindestens
3000 Mann (vgl.1.3.7, 1.4.7), wahrscheinlich aber sogar 5300
Mann, da vermutlich die restlichen Truppen des Xennias und Pa-
sion nach der Flucht dieser beiden Feldherren in Myriandos (1.4.6,
St. 43) bei Klearchos Anschluß gesucht hatten. Xenophons Platz
neben Proxenos, dessen 1500 Hopliten bei der üblichen Anord-
nung in 8 Gliedern nicht ganz 200 m Frontbreite einnahmen, war
dann ziemlich genau im Zentrum der nahezu 1>4 km langen grie-
chischen Phalanx, mindestens aber 400 m von ihrem rechten Ende
entfernt, icat TÖ CTTpdT€up.a scheint ein späterer Bearbeiter in
den Text eingefügt zu haben fvgl. LENDLE [Kunaxa] 441 Anm.41).
1.8.5-7 Aus dem Bericht über die einheimische Heeresgruppe
ergeben sich folgende Informationen: Zwischen dem rechten Flü-
gel der griechischen Hopliten und dem Fluß standen noch 1000
paphlagonische Reiter, die bei einer Aufstellung in vier Gliedern
500 m Frontbreite einnahmen (bei mehr Gliedern entsprechend
weniger) und etwa 2000 griechische Peltasten, die bei Normalauf-
stellung in 8 Gliedern etwa 250 m einnahmen. Die übrigen einhei-
mischen Truppen {mindestens wohl 30000 Mann) bildeten den lin-
ken Teil der Gesamtfront unter Führung des Ariaios, der selbst
an der Spitze einer Reitereinheit (vgl. 1.9.31) auf dem äußersten
linken Flügel stand. Zwischen der griechischen und der einheimi-
schen Heeresgruppe nahm Kyros mit seiner 600 Mann starken Eli-
tereiterei Aufstellung (Xenophon hat hier, fasziniert durch seine ei-
gene Beschreibung der Bewaffnung dieser Reiter und ihrer Pferde
das eigentliche Ziel des Satzes - die Angabe der Position des Ky-
ros in der Phalanx - aus den Augen verloren; aber diese Position
ergibt sich zwingend aus dem Schlachtverlauf; man hat auch erwo-
gen, ob hinter ^|aK6ciioL die Angabe «cm! TA iieaov ausgefallen
ist; dies halte ich jedoch für weniger wahrscheinlich). Alles in allem
ergibt sich aus dem Bericht das Bild einer nach persischer Tradi-
tion zum Kampf aufgestellten Armee: mit Reitermassen auf den
Flügeln, der Elitereiterei des Königs (in diesem Fall des Thronan-
wärters) im Zentrum und den schweren Fußtruppen dazwischen.
Durch die Abordnung der Paphlagonier auf den rechten Flügel ne-
ben die Griechen versuchte Kyros offenbar, die beiden so unglei-
chen Heeresgruppen wenigstens äußerlich zusammenzubinden. *
Daß die griechischen Peltasten zwischen den Hopliten Klearchs
und den Paphlagoniern standen, ergibt sich aus 1.10.7; daß sie
hier jedoch unter dem Oberbegnff TOÜ ßapßapiKou aufgeführt
werden, ist merkwürdig und hat zu der Erwägung geführt, daß die-
se Phrase als Einschub zu verstehen sei (LENDLE [Kunaxa] 437,
dagegen GUGEL). * Der Hinweis, daß Kyros "mit unbedecktem
Haupt" in den Kampf gezogen sei, widerspricht der durch Plutarch
erhaltenen Nachricht des Ktesias (FGrHist 688 F 20.4), er habe eine
Tiara getragen, und auch der allgemeinen persischen Sitte. Da
Xenophon jedoch unmittelbar vor Beginn des Kampfes noch mit
Kyros gesprochen hat (1.8.15), darf man seine Aussage schwerlich
bezweifeln Entweder bezieht sich 4>LM" hier nur auf das Fehlen
des Helms, oder aber der Prinz vollzog den Erkundungsritt an der
griechischen Front entlang tatsächlich barhäuptig und setzte erst,
als er sich wieder auf seinem Posten befand, die {steile ?) Tiara
auf. * Daß die Panzerreiter mit Helmen ausgerüstet waren,
erachtete Xenophon als auffällig und mitteilenswert, weil die Perser
üblicherweise keine Helme, sondern flache Tiaren trugen (vgl.
Herod. 7 61.1, 5.49.3 in Verbindung mit Hesych s.v. Tidpa [= Kup-
ßaata]). * Den Satz WYCTOI - Siatcivfinvcöeiv hat WYTTEN-
BACH zu Recht getilgt, weil die Einleitung mit "man erzählt" dem
Augenzeugen Xenophon nicht zugeschrieben werden kann. Sach-
lich ist die Aussage haltbar, wenn man (fiXnis auf das aus griechi-
scher Sicht kaum vorstellbare Fehlen fester Helme bezieht.
1.8.8 Die Staubwolke der durch die Ebene heranrückenden
feindlichen Phalanx wurde am frühen Nachmittag, vielleicht gegen
14 Uhr. sichtbar, nach 1.10.19 noch vor dem Frühstück, das an
diesem Tag offenbar erst auf dem neuen Stathmos eingenommen
werden sollte (nach anderen Stellen wurde der Marsch meistens
einmal im Laufe des Vormittags zur Bereitung des Frühstücks un
terbrochen). Man spürt dem Bericht Xenophons die Spannung an,
mit welcher er das eindrucksvolle Manöver beobachtet hat, und
muß die Anschaulichkeit seiner Darstellung bewundem: man sieht
förmlich die Blitze vor Augen, welche von den blank geputzten
Speerspitzen, Hämischen, Metallbeschlägen der gepanzerten
Pferde usw. je nach ihrer Bewegung vor dem dunklen Hintergrund
aufstrahlten und wieder verloschen. Dann traten allmählich die
durch eine einheitliche Farbgebung und Bewaffnung (vor allem mit
verschieden großen und geformten Schilden) unterscheidbaren
Truppenkörper ins Blickfeld. Bis der langsam marschierende
(1.8.11) Gegner bis auf etwa 600 m heranwar (1.8.17), darf man
wohl annehmen, daß mindestens eine Stunde für die Beobachtung
des Schauspiels zur Verfügung stand.
Xenophon überschaute von seinem Standort aus (vgl. zu
1,8.4) nur den linken Flügel der feindlichen Armee und nennt die
Einheiten, die man damals identifizieren konnte. Im weiteren Ge
schehen spielte lediglich die Reitertruppe des Tissaphemes noch
eine Rolle. Die Aufstellung nach einzelnen Völkerschaften, die auf
eine bestimmte Kampfweise {Schwerbewaffnete, Bogenschützen,
Schleuderer usw.) spezielisiert und entsprechend ausgerüstet wa
ren, ergab ein buntscheckiges Aussehen und eine von Einheit zu
Einheit sich ändernde Kampfmethode und Kampfkraft der persi
schen Armee, von der sich die homogene Hoplitenphalanx der
Griechen, die nur auf den Flügeln (hier situationsbedingt allein auf
dem rechten Flügel) durch leichte Truppen ergänzt wurde, signi
fikant unterschied. Ein weiterer ins Auge springender Unterschied
betraf die Formation der Truppen: die griechische Phalanx stand
wahrscheinlich (wie üblich) acht Mann tief, die persischen Truppen
(vermutlich auch die einheimische Heeresgruppe des Kyros) waren
dagegen in 'vollen Karrees' aufgestellt, d.h. in tief gestaffelten und
voll mit Soldaten besetzten Vierecken - eine Kampfformation, wel
che den Griechen damals noch unbekannt war (Beispiele finden
sich erst bei Alexander dem Großen; dagegen wurde das 'offene
Karree', in welchem die Kampftruppen den Troß ringsum ein
schlössen, unter bestimmten Umständen von den Griechen als
Marschformation angewendet, auch von den 'Zehntausend' auf ih-
rem Rückmarsch, vgl. 3.2.36). Aus diesen Erwägungen läßt sich
folgern, daß den 11000 Hopliten der nicht ganz 1 V? km langen grie-
chischen Phalanx je nach der Tiefe der 'vollen Karrees' die drei-
bis vierfache Menge an königlichen Truppen gegenübergestanden
haben kann, ohne daß eine entsprechend große Verlängerung der
persischen Phalanx eintrat. Wenn wir auch bei den einheimischen
Truppen des Kyros mit einer Aufstellung in 'vollen Karrees' rech-
nen, dürften diese kaum mehr, wenn nicht sogar weniger Raum als
die Griechen eingenommen haben, so daß die ganze Front der
Kyros-Armee mit Reitern und Leichtbewaffneten auf eine Länge
von etwa 3'/2 - 4 km zu veranschlagen ist. Die Front der Armee des
Großkönigs dürfte mit ihrem rechten Flügel vielleicht 500 - 1000 m
übergestanden haben.
1.9.1 Kyros II. (der 559 König der Perser wurde, das persische
Weltreich begründete und 529 im Kampf gegen die Massageten
den Tod fand [Herodot 1.214.3]) setzt den von keinem Nachfolger
je wieder erreichten Maßstab, an dem der zu früh gestorbene {vgl.
Oikon. 4.18) jüngere Kyros (423-401) zu messen ist Dessen Kenn-
zeichnung als vom Schicksal begnadeter idealer König und Herr-
scher richtet sich gegen Artaxerxes, seinen älteren Bruder, der
statt seiner den Thron innehatte. Zugleich macht schon dieser
Überschriftsatz deutlich, daß es im folgenden nicht um den Men-
schen, sondern um den Herrscher Kyros gehen wird. Für die hohe
Einschätzung des jungen Prinzen als des {nach Kyros II.) besten
denkbaren Königs beruft sich Xenophon auf das übereinstimmen-
de Zeugnis aller, "die mit ihm in engeren Kontakt gekommen zu
sein glauben", etwa Klearchos oder Proxenos oder auch griechisch
sprechende Perser, denen er seine Informationen verdankte. Xe-
nophon selbst hat Kyros sicher öfter gesehen, war ihm auch nach
seinem Eintreffen in Sardeis von Proxenos vorgestellt worden
(3.1.8), dürfte aber kaum mehr als die 1.8.15-17 referierten Worte
mit ihm gewechselt haben.
1.9.2 Der erste Teil der Darstellung, mit dem die Begründung der
vorhergehenden Aussage eingeleitet wird, steht unter dem Stich-
wort 'Erziehung' und betrifft die Lebensphasen des Knaben
(1.9.2-5) und des Epheben (1.9.6). in welchen in allen Kulturen
durch Erziehungsmaßnahmen der Charakter des künftigen Man-
nes geprägt wird. Für die griechischen Leser besonders überra-
schend ist die Mitteilung, daß Kyros "zusammen mit seinem Bruder
[Artaxerxes] und den anderen Knaben" erzogen wurde. Dieser
Punkt, der für Xenophon ein vorbildliches Merkmal des persischen
Erziehungswesens darstellt, wird anschließend ausführlich erläu-
tert.
1.9.3/4 Folgende Einzelheiten, die im Gegensatz zum attischen
Erziehungswesen stehen, werden hervorgehoben; [1] Die gemein-
same Erziehung aller Knaben der elitären persischen Oberschicht
fand direkt am Hof des Großkönigs statt, abgesondert von der gro-
ßen Masse des Volkes, deren Bildungsgang (sofern man davon
überhaupt sprechen kann) ohne Interesse ist. Demgegenüber gab
es im attischen Erziehungswesen im unteren Bereich eine Art all-
gemeine Volksschule, deren Lehrer freilich auf der sozialen Stu-
fenleiter einen sehr niedrigen Platz einnahmen, im oberen Bereich
dagegen eine weitgehende Individualisierung mit privat bezahlten
Hauslehrern und jenen kleinen Zirkeln, die sich gegen Entrichtung
eines Honorars um Sophisten oder Philosophen oder Rhetoren
scharten. Im hier dargestellten persischen Erziehungssystem spiel-
ten 'Lehrer1 im Sinne des Wortes überhaupt keine Rolle. [2] Der
Begriff "an den Türen des Großkönigs" ist wörtlich zu nehmen: die
privilegierten Knaben und Prinzen standen auf dem Hof vor dem
offenen Eingang in den Saal, in welchem der Großkönig seine Re-
gierungsgeschäfte vollzog. Sie sahen und hörten, wie er Gesandt-
schaften empfing, Ehren verteilte, Strafen verhängte, Recht sprach
usw. Ihr Lernen orientierte sich am Vorbild des höchsten Reprä-
sentanten des Staates - ein für griechisches Denken kaum vorstell-
bares Verhallen. [3] Als in der Praxis erreichte Ziele werden ge-
nannt auMt>poai>\rt\ (wohl vor allem in der Bedeutung Anstand und
Sitte, wie der Gegenbegriff alaxpöv nahelegt), Gerechtigkeit (so
kann man den Inhalt von § 4 zusammenfassen) und, auf beides
gegründet, die Fähigkeit sowohl zu herrschen als auch zu gehor-
chen. Hier werden die Unterschiede zum attischen Erziehungswe-
sen (das sich in der Formalausbildung und der Konzentration auf
das Training des Intellekts festgefahren hatte) besonders deutlich.
Wie sehr dieses Thema Xenophon fasziniert hat, wird daraus er-
kennbar, daß er in der «Kyrupädie» (1.2.2-16) ausführlich darauf
zurückkommt und manche Einzelheiten nachträgt. So erfahren wir
dort, daß ähnlich wie am Hof des Großkönigs auch in den einzel-
nen Städten die Knaben durch das Vorbild der Älteren, denen sie
etwa bei der Rechtsprechung zuschauten, lernten: sie gingen in
die Schule, um die Gerechtigkeit zu lernen, "so wie bei uns, um die
Buchstaben zu lernen" (Kyrupäd. 1.2.6). Vor allem aber schuf die-
ses Erziehungssystem eine für die politische Praxis wesentliche
Voraussetzung; schon die Kinder lernten herrschen und gehor-
chen, das heißt zwei komplementäre Fähigkeiten, weicher eigent-
lich vor allem die Bürger einer Demokratie wie Athen bedurften.
Denn hier spielte ja ein und derselbe Bürger im ständigen Wechsel
mal die Rolle des -noXt-nis- dpxwv, mal die des iroW-rn? dpx^"
\ifvos, ohne ernstlich durch eine entsprechende Erziehung auf sei-
ne Aufgaben vorbereitet worden zu sein. * Was Xenophon hier
als besondere Vorzüge des persischen Erziehungswesens am Bei-
spiel des jüngeren Kyros propagiert, setzt natürlich eine andere als
die demokratische Staatsform voraus, nämlich die {ideale !) Monar-
chie mit den Repräsentanten einer kleinen aristokratischen Elite in
den führenden Positionen - und es kann wohl keinem Zweifel un-
terliegen, daß Xenophon selbst im tiefsten Inneren weit mehr mit
dieser Staatsform als mit der Demokratie sympathisierte. Es kann
allerdings auch keinem Zweifel unterliegen, daß das hier beschrie-
bene persische Erziehungssystem allenfalls von dem älteren Kyros
II. verwirklicht worden und inzwischen längst wieder zerfallen war.
Das Schlußkapitel der «Kyrupädie» (8.8) ist dem Nachweis gewid-
met, wohin dieser Zerfall geführt hat. Zwar sei, heißt es 8.8.13, die
Erziehung der Knaben "an den Türen" beibehalten worden, aber
sie lernten dort jetzt nicht mehr Gerechtigkeit, sondern Bestechlich-
keit, Unrecht und Giftmord. Mit anderen Worten: Xenophon proji-
ziert hier das altpersische ideale Erziehungssystem auf den jünge-
ren Kyros, um diesen als Vermittler von Gedanken benutzen zu
können, die er seinen Lesern nahebringen wollte.
1.9.5 Zu dem Prinzip, daß die Knaben (d.h. Jugendliche bis zum
Alter von 16-17 Jahren, vgl. Kyrup. 1.2.8) sich ausgewählten älte-
ren Männern unterzuordnen hatten, äußert sich Xenophon in der
«Kyrupädie» (1.2.5} genauer. Die Reitkünste des Kyros konnte er
vermutlich aus eigener Anschauung beurteilen; jedenfalls ist in der
«Kyrupädie» von Reitstunden der Knaben nicht die Rede. Dage
gen wird dort ausdrücklich (1.2.8) die Ausbildung im Speerwurf und
Bogenschießen als Bestandteil des Lehrprogramms für die Kna-
ben erwähnt: In allen Disziplinen erwies sich der junge Prinz nach
dem Urteil der Gewährsleute als der eifrigste, lemwilligste und be-
ste Schüler.
1.9.7 Die Einsetzung des Kyros als Satrap von Lydien, Groß-
phrygien und Kappadokien sowie als Oberbefehlshaber (Karanos)
der kleinasiatischen Truppen, deren Sammelplatz im Alarmfall die
kastolische Ebene war (vgl. 1.1.2), kann nur im Jahr 408 oder 407
erfolgt sein. Wenn andererseits die Behauptung des Ktesias
(FGrHist 688 F 17.4) zutrifft, er habe von Parysatis selbst gehört,
daß sie Kyros erst als Königin, d.h. frühestens im Jahr 423, gebo
ren habe, war dieser bei der Übernahme der Satrapie 15 oder al
lenfalls 16 Jahre alt, gehörte also noch nicht einmal in die Gruppe
der Epheben. Das läßt sich wiederum mit der 1.9.2 gegebenen In
formation, er habe die Knabenerziehung mit seinem Bruder durch
laufen, nicht vereinbaren: Artaxerxes soll nach 46-jähriger Herr
schaft (404 - 358) im Alter von 86 oder sogar 94 Jahren gestorben
sein, was einen Altersunterschied von zwei bis drei Jahrzehnten zu
Kyros bedeutet. An welchen Stellen die Tradition von der Wirklich
keit abweicht, ist nicht mehr aufzuklären. " Als erste wesentliche
Charaktereigenschaft des idealen Herrschers Kyros wird seine ab
solute Vertrauenswürdigkeit bei Verträgen, Verabredungen und
Versprechungen (absteigende Klimax) dargestellt (1.9-7-10).
1.9.8 1.9.8 Wenn sich Städte spontan in seine Abhängigkeit
begaben (vgl. 1.1.6}, taten sie dies im blinden Vertrauen auf sein
Versprechen, er werde sie korrekt zu behandeln, ohne daß sie sich
auf irgendwelche Rechtsansprüche berufen konnten. Dasselbe
traf für einzelne Personen zu, mit denen er Verabredungen traf
oder denen er Versprechungen machte - wie wohl auch
zahlreichen Griechen, deren Hoffnungen allerdings durch den
frühen Tod des Prinzen zunichte gemacht wurden. Der subjektive
Charakter des Vertrauens, das ehemalige Kriegsgegner in mit
Kyros abgeschlossene Verträge setzten, wird durch &v angedeutet
- in Wahrheit waren in dieser Zeit, wie Xenophon in der
«Kyrupädie» (8.8.2/3) ausführt, Eide und Abmachungen kaum
noch etwas wert.
1.9.29-31 Zum Schluß wird das Bild des Kyros dadurch abge-
rundet, daß die Wirksamkeit seiner Freundschaftspflege durch das
Verhalten der Freunde während des Feldzuges an zwei Beispielen
illustriert wird (vgi. auch Oikon. 4.18/19). Zur Geschichte des Oron-
tas vgl. 1.6.1-11; zur Bedeutung des Begriffes SoöXos- vgl. zu
1.9.14/15; zu den Vorgängen beim Tod des Kyros vgl. 1.8.25-29.
Die "sogenannten Tischgenossen" (vgl. Kyrup. 7.1.30) stellten wohl
den innersten Kern der persischen Freunde des Kyros dar, seine
ihn begleitenden engsten Berater und Günstlinge, welche zusam-
men mit ihm speisen durften. Außerordentlich geschickt findet Xe-
nophon mit dem Hinweis auf die Sonderrolle des Ariaios den Über-
gang aus dem eingeschobenen Persönlichkeitsbild zurück in den
Bericht.
1.10.1 Die Verstümmelung der Leiche des Kyros, insbesondere
das Abschlagen der rechten Hand, das nach Plut. Artax.13.2
[Ktesias FGrHist 688 F 20] einer "gewissen persischen Sitte" ent-
spricht, kann als die gebührende, auch am Leichnam noch zu voll-
ziehende Strafe für den blasphemischen Aufstand gegen den am-
tierenden Großkönig, den 'Stellvertreter der Götter1, verstanden
werden. Nach 3.1.17 ließ Artaxerxes später die abgetrennten
Gliedmaßen auf einer Stange befestigen und zur Schau stellen. *
Nach der Beendigung des heftigen Kampfes im Zentrum rückten
die Truppen des Großkönigs, der durch seine Verwundung wohl an
der persönlichen Führung verhindert war, in den Beute verspre-
chenden Lagerbereich vor, während gleichzeitig die einheimische
Heeresgruppe des Kyros, als sich die Nachricht vom Tod des Prin-
zen verbreitete, fluchtartig das Schlachtfeld räumte und zu Stath-
mos 87 zurückkehrte. Ernstliche Kämpfe scheinen bei diesen Vor-
gängen nicht stattgefunden zu haben.
1.10.2/3 In den Lagerbereich war bereits kurz vorher Tissapher-
nes, der mit seiner Reitertruppe am Euphratufer den rechten Flügel
der Kyreer kampflos durchbrochen hatte (1.10.7), eingedrungen
(2.3.19) und fand dort nun wieder Anschluß an die Hauptmacht,
deren Kommando er wahrscheinlich in Vertretung des Großkönigs
übernahm. Bis er die spontan zum Plündern ausgeschwärmten
Truppen wieder unter Kontrolle und zu einer neuen Phalanx for-
miert hatte, mag mindestens eine Stunde vergangen sein. In
dem allgemeinen Chaos wurde auch der Harem des Kyros in
Mitleidenschaft gezogen, dem mehrere Griechinnen angehörten:
neben der jüngeren offenbar auch eine ältere Frau aus Milet und
dann vor allem die Favoritin des Prinzen, welche im Heer als "die
Phokäerin" bekannt war; über ihr Schicksal sind wir durch
verschiedene Quellen (Ailian var.hist. 12.1. Plut. Artax. 26.3-5 und
Perikl. 24.7) recht gut unterrichtet. Sie war die Tochter des freien
Bürgers Hermoti-mos aus Phokaia in Jonien und hieß entweder
(die Quellen widersprechen sich in diesem Punkt) Aspasia mit
dem zusätzlichen, auf ihre blühende Gesichtsfarbe anspielenden
Kosenamen Milto, oder Milto und wurde erst von Kyros, als sie in
dessen Harem gelangte, Aspasia genannt. Nach ihrer
Gefangennahme bei Kunaxa geriet sie in den Harem des
Artaxerxes und behielt dort lange die Gunst des Großkönigs und
des Hofes. Als um 362 Artaxerxes' ältester Sohn Dareios zum
Thronfolger ernannt wurde, erbat er sich Aspasia als
Herrschaftsgabe, die der König nach persischer Sitte nicht
ablehnen durfte. Dieser kam der Bitte dementsprechend zwar
nach, machte die Frau aber kurz darauf zur Priesterin der Artemis
Anaitis, verpflichtete sie damit zu einem keuschen Leben und ent-
zog sie so dem Zugriff seines damals schon etwa fünfzigjährigen
Sohnes. Dieser, der in die offenbar immer noch sehr attraktive
Frau ernstlich verliebt war, zettelte daraufhin eine Verschwörung
gegen seinen Vater an, die jedoch entdeckt und mit seiner Hinrich-
tung geahndet wurde. * Das griechische Lager dürfte die einzige
Stelle im Troß gewesen sein, die von einer kleinen Mannschaft
energisch und erfolgreich verteidigt wurde. Es wirkt im Gewühl der
fliehenden oder plündernden orientalischen Massen wie eine Insel
der Sicherheit, wenn es freilich auch nicht unbehelligt von Plünde-
rungen blieb (vgl. 1.10.18).
1.10.12/13 Der Erdhügel hat bei der Suche nach dem Schlacht-
feld meistens eine entscheidende Rolle gespielt. Von den verschie-
denen Vorschlägen scheint mir der Teil Agar, einige Kilometer öst-
lich von Teil Kuneise (= Kunaxa) bei weitem den Vorzug zu verdie-
nen. Kunaxa selbst lag an der Straße nach Sippar - Babylon, die
neben dem damals weiter östlich als heute (etwa auf der Linie des
späteren Ridhwamya-Kanals) orientierten Euphrat entlang lief (vgl.
zu 1.8.1). Das Schlachtfeld erstreckte sich offenbar in der leicht
nach Osten abfallenden Ebene südlich des Abu Ghuraib-Kanals,
über die sich lediglich im Osten der Teil Agar, von dem aus ein
schmaler Sattel bis zum Euphrat reicht, um wenige Meter erhebt.
Während die persischen Fußtruppen sich in eiligem Rückzug nach
Südosten befanden, machten die Reiter auf dem Hügel und dem
anschließenden Sattel noch einmal Halt. In ihrem Schutz wurde
auch der verwundete Artaxerxes zurückgebracht, dessen Feldzei-
chen einige Leute erkannt zu haben behaupteten: einen goldenen
Adler, der auf einem langen Spieß (ΠΕΛΤΗΝ) in die Höhe gestreckt
wurde (in der «Kyrupädie» [7.1.4] beschreibt Xenophon das Feld-
zeichen des älteren Kyros ebenso und fügt hinzu, daß dasselbe
Zeichen auch zu seinerzeit noch von den persischen Großkönigen
verwendet werde, vgl. BONNER).
1.10.14-19 Lykios aus Syrakus wird nur hier erwähnt; er gehörte
zu den wenigen Griechen, die (wie auch Xenophon) den Angriff zu
Pferde im Rücken der Phalanx mitmachten. * Das Bild der im
Abenddämmer rastenden, völlig erschöpften Hopliten tritt dem Le-
ser deutlich vor Augen. Ebenso wird ihm die Ratlosigkeit der Offi-
ziere, die nicht den geringsten Einblick in die Gesamtlage hatten,
aber an dem Sieg des Kyros anscheinend keinen Augenblick zwei-
felten, bewußt. Ihre Erwägungen über die Gründe dafür, warum
der Kontakt zu ihm, der ja unmittelbar neben ihrem linken Flügel
gestanden hatte, vollständig abgebrochen war [16], lassen die un-
überschaubare Ausdehnung des staubbedeckten Schlachtfeldes
erahnen. * Nach Diodor (14.24.4) sollen die Griechen um die
zweite Nachtwache wieder bei ihrem Troß eingetroffen sein; aller-
dings fügt Diodor hinzu, sie hätten zuvor viele Perser getötet,
dann, schon bei Dunkelheit, ein Siegeszeichen aufgestellt und den
Rückmarsch angetreten - Details, die von dem Augenzeugen Xe-
nophon nicht bestätigt werden: dadurch wird auch die scheinbar so
präzise Zeitbestimmung für das Eintreffen beim Troß fragwürdig.
Jedenfalls aber beanspruchte der Rückmarsch (5 Vi km) sicher 1
-2 Stunden; als "Zeit des Abendessens" ist der frühe Abend anzu-
setzen. * Zu den Plünderungen vgl. 1.10.2/3; natürlich hatte die
kleine Schutzmannschaft nicht die ganze Masse der Traglasten
und Wagenladungen, die im Lagerbereich des Trosses versam-
melt waren, vor dem Ansturm der beutehungrigen Perser retten
können, sondern mußte sich vor allem auf den Schutz der zahlrei-
chen Nichtkombattanten konzentrieren. Die hier erwähnten 400
Wagen mit Notverpflegung für die Griechen befanden sich weit au-
ßerhalb des griechischen Einflußbereiches in dem chaotischen Ge-
wimmel des persischen Trosses - wenn sie nicht überhaupt nur in
der Phantasie der Soldaten existierten (vgl. ROY 311 Anm.93).
Möglicherweise nahm dieses Gerücht seinen Ausgang von der si-
cherlich großen Wagenkolonne, in welcher Kyros seine eigenen
Versorgungsgüter mitführte.