Blickwinkel
Gute-Nacht-Geschichten für
Erwachsene
Gute-Nacht-Geschichten von Helga
Sie macht sich für die Nacht zurecht. Für die Nacht oder für ihn?
Frischer Atem, gute Düfte, das Haar gebürstet, ob ein Gewand oder
keines, bleibt verschwiegen, erst beim Liegen zeigt sich, was angemessen.
Sie steht noch einmal auf und holt die Lektüre, sie hatte es fast vergessen,
dass eine Geschichte für eine gute Nacht dazu gehört, denn auch sie betört.
Wenn alles nicht hilft und er schon schläft, dann liest sie es ganz leise,
das ist nicht verkehrt und auf diese Weise ist sie bereit für die Nacht.
Was er verpasst, bleibt ungesagt und keiner frage nach Sonnenschein,
der kommt am Morgen und ganz allein lächelt jeder so in sich hinein.
Gedanken über die Nacht
Und wie ich so schön noch vor mich hin denke, langsam und voller
Inbrunst, ist mir bewusst, dass der Abend über mich herein gebrochen ist,
denn kaum hebe ich den Kopf, sehe ich mich im Spiegel der Fensterscheibe, ein
untrügliches Zeichen.
*
Es ist Neunzehnuhrsechsundvierzig - Neunzehnhundertsechsundvierzig…
erblickte sie das Licht der Welt, ohne zu wissen, dass da draußen ein Welt ist.
Man kennt ja nur Muttis Brust. Sie ist die Welt, sie ist alles, was wichtig ist.
Egal, ob Tag oder Nacht, total egal, ob sie schläft oder wacht. Die Wichtigkeit
ist einfach definiert. All das änderte sich mit der Zeit; und wie – vermutlich
bis man die Augen schließt für immer. Dann steht wieder alles auf Anfang,
falls man das glauben kann. Es gibt nur einen Unterschied – es ist wieder die
Nacht über sie herein gebrochen, aber sie sieht sich nicht mehr im Spiegel der
Fensterscheibe, auch Muttis Brust ist nicht in Sicht. Es ist dunkel. Sie ist nicht
mehr. Ein böser Traum, nur ein böser Taum.
*
Sie haben zu ihr gesagt, da ginge noch etwas. Sie müsse nur dran glauben
und es geschehen lassen. Wie alles ausgeht, bleibt aber offen. Auch in der
Dunkelheit gibt es Leben und Hoffnungen. Sie hatte das fast vergessen.
*
In der Wohnung herrschte nun noch mehr Stille. Es ist als würde dort keiner
wohnen und doch steht sie nicht leer. Die Frau fährt täglich zur Mülltonne, um
den Müll zu entsorgen - mit einem Rollator. Ihr Mann verstarb an einem
sonnigen Tag. Es war ein Sonntag als das Auto kam, welches den
Verstorbenen abholte. Nachbarn schüttelten ihr die Hand und boten ihre Hilfe
an, welcher Art auch immer. Sie bedankte sich artig. Die Tage sind nicht mehr
dieselben.
*
In der Nacht schweben Träume mit ihren bescheidenen Hoffnungen in
barmherzigen Armen durch die Dunkelheit. Ein paar Tage, bitte ein paar Tage
noch. Der Frühling ist extra früh gekommen.
***
Ein Gedicht am Abend
Manchmal maulen müde Männer
Mutti mach mal munter mich!
Merke meine Mieze:
Das ist nichts für dich.
Meistens murren Mamas,
meine Muse macht Musik.
Merke meine Mieze
gleich kommt jetzt Kritik.
Meine Mieze maunzt Miau,
saust schnell weg vor Mann und Frau.
Was kann sie für müde Männer
und Kritik der Musenkenner.
Mama mia, man möcht’ meinen,
was man hört betört nun keinen.
Grausig schallt es aus der Kammer,
schlimmer noch als Katzenjammer.
Mein müder Mann muss mahnen,
mehr Mitgefühl mit mir, mit mir!
Mehr Munterkeit die brauch ich nicht
Die Mutti schließt den Deckel vom Klavier.
Die Nacht davor …
sie ist immer das Schlimmste, denn die Gedanken halten sich an dem
kommenden Ereignis fest. Sie klammern, könnte man sagen, sie rauben uns
den Schlaf. Selbst, wenn wir es geschafft haben, weg zu dämmern, dann
werden Träume geschickt, die alles noch komplizierter machen als es ohnehin
schon scheint.
Morgen wird etwas Endgültiges zelebriert.
Das ist es nämlich – Endgültigkeit heißt, da ist nichts mehr zu machen, es
ist unumkehrbar und damit sind wir manchmal überfordert. Wir hätten gerne
noch ein Hintertürchen offen. Egal was es sein könnte, die Menschen mögen
das Absolute nicht besonders, obwohl sie das immer behaupten. Angeblich
wünscht man sich Klarheit, kein Wischiwaschi, sondern Eindeutigkeit,
insbesondere, wenn es um schöne und gute Sachen geht. Aber stimmt das? Ist
es soweit, dann kommen die Zweifel und wir möchten am Liebsten Bedenkzeit
oder ganz und gar entfliehen. Ob wir zur Hinrichtung müssen oder zur
Hochzeit, die Endgültigkeit bringt uns in Rage. Nun gut, der Vergleich ist
etwas unglücklich gewählt, er ist krass, auch gibt es bei uns zum Glück keine
Todesstrafe, aber die Nacht davor ist das Schlimmste. Soviel ist sicher.
Ich habe gebacken!
Zimtschneckenverstecken heute Abend
Mein Mann liebt Zimtschnecken. Man kann ihn damit necken. Auch mich.
Ich muss sie verstecken, denn wir recken die Hälse, wenn wir sie auf dem Tisch
entdecken. So kommt es zum Zimtschneckenverstecken. Finden wir sie, wird
das ein Fingerlecken, weil der Guss der Zimtschnecken ein wenig klebrig die
Hände bedecken. Wir lächeln und schlecken. So kann man Schlimmes
vergessen und Vieles zum Leben erwecken.
Über die grausige Nacht nach dem Zimtschneckenverstecken
Ich versteckte sie ganz tief in der finsteren Röhre. Als dann bin ich ins Bett
gekrochen und hab’ sie vergessen. Als ich abrupt erwachte, bin ich steil im
Bett gesessen, und mein Mann vermeinte er hätte gerochen, dass etwas
schmorte und seltsam rumorte. - Die Schnecken! - Sind sie lebendig und
grausig wendig in ihrem Versteck? Ich hüpfe behende aus meinem Bett und
tappe erschreckt die Treppe hinauf. Die Röhre steht auf!!!
Ich sehe mit geweiteten Augen einen großen Hund, noch eine Schnecke lugt
aus seinem gierigen Hundeschlund. Der Hund war ein verflixter
Zimtschneckenschweinehund. Wo kam er her und wie kam er rein, wie konnte
er sie finden, das Hundeschwein? Ich schreie, die Schnecken sind mein! Er
schaut mich an während er noch schlingt, er leckt sich das Maul, mein Mut in
den Keller sinkt. Dann ist er weg, ich schau in die Röhre, die Schnecken sind
da – hurra – und ich höre:
Guten Morgen meine Liebe, das Frühstück ist fertig, trallala und du musst sie
doch nicht verstecken. Ich finde sie doch immer. Hier ist eine, willst du sie?
Nur eine? Und ich denke, es ist zum Verrecken, ich seh’ ihn schon wieder hier,
den Zimtschneckenschweinehund, das unmögliche Tier. Er aber lächelt und
sagt, er meint es nicht schlecht, wenn ich keine will, ist es ihm ebenso recht.
Gutes Nacht-Ende von Cecilia
Die Schrecken der Nacht
Nach einem großen Baucheingriff hatte sie fortan nächtliche Schmerzen.
Keiner hatte eine Erklärung, woher die kamen.
Sie legte sich voller Urvertrauen zum Schlafen nieder, und nach wenigen
Stunden wachte sie daran auf.
Sie wartete mit Sehnsucht auf das morgendliche Auftauchen ihres Katers,
der sich alsbald auf ihrem Bauch niederließ und mit seiner Wärme und
seinem Schnurren die Schmerzen zum Verschwinden brachte.
Tauch weg
Kopfüber möchte ich in den Schlaf tauchen, den schweren. Die dunkle und
stille Nacht treibt ihr Unwesen mit mir und hält mich in den Falten des Tages
fest. Meine Sinne sind abgeschaltet, und so steigen Erinnerungsschwaden aus
dem Dunkel auf und ziehen wie der Nebel in alle Ritzen. Ich will die Augen der
Seele verschließen; sie aber ist ganz Auge. Ich will die Ohren der Seele
zustopfen, sie ist ganz Ohr.
Doch plötzlich - ich weiss nicht, wie - fühle ich, dass ich in den gurgelnden
Sog des Schlafes gezogen werde. In ihm breite ich mich aus, wohlig und ohne
Spannung. Seele und Körper sind eins.
Es ist nicht einfach: Unser Nachbar im oberen Stock hat wieder einmal
unsere Eigentümer-Gemeinschaft aufgemischt. Viel Intrige, viel Bockmist
erzählt, grossspurig getan, was er alles für uns gemacht hat und andere
niedergestossen: “Die bringen es nicht fertig, also muss ich es richten”! Das
erfahren wir am Abend.
Diskutieren und TV schauen nützt auch nicht so viel: Der “Aufgeblasene”
schwirrt immer wieder in unseren Köpfen umher. Leider geht das schon
siebzehn Jahre so.
Zeit zum Schlafen: Die Bilder quellen mir aus dem Kopf. Ich sehe vor mir
den “Aufschneider”. Was ich geistig mit ihm mache, ist nicht schön: Ich gebe
ihm eine “Watschn”, ich spucke ihn an, ich sage ihm alles Wüste der Welt. Es
wäre schön so. Aber das zwei, drei Stunden lang immer wieder……… schon
mühsam. An Schlaf ist nicht zu denken.
Was mache ich bloss? Das ist wie ein Selbstläufer: Immer wieder rollen
solche “Rachebilder” vor mir durch.
Aufstehen, ein Glas Wasser trinken, dann noch mal ein Versuch. Misslingt!
Irgendwie muss ich den Schalter finden, um diese Sequenz abzustellen. Ich
fange an, an schöne Dinge zu denken: An Bergtouren, an Reisen, an
Bootsfahrten, an nette Menschen. Langsam geht’s, wenn auch immer noch
hie und da ein Fetzen des alten Films dazwischen kommt.
Es scheint geklappt zu haben. Auf alle Fälle wache ich Morgens um sechs
auf, der Spuk ist weg. Gottlob!
Barfuß am Puls der Nacht von Enya
Es ist eine laue Sommernacht und die Stille legt sich nach der Hitze und
Geschäftigkeit des Tages fast bedrückend aufs Gemüt.
Sie kann nicht schlafen und nachdem sie sich längere Zeit unruhig im Bett hin
und hergewälzt hat, beschließt sie aufzustehen.
Sie wandert durchs Haus, lauscht der Stille, horcht in sich hinein und versucht
die Gründe der Schlaflosigkeit aufzuspüren, die sie nun schon seit einigen
Tagen heimsucht.
Es gibt keine, außer vielleicht, dass sie die Tage allzu sehr mit hektischer
Aktivität ausfüllt. Abschalten ist dann schwer möglich.
Sie bleibt vor ihrem Bücherregal stehen und lässt ihren Blick unschlüssig über
die Buchrücken wandern, findet Germinal von Zola, ein Buch, das sie vor
Jahren gelesen hat, aber nicht mehr richtig erinnert. Nachdem sie einige
Seiten gelesen hat, merkt sie, dass sie nichts von den Worten wirklich
aufnimmt. Die innere Unruhe lässt es nicht zu, dass sie sich vertieft.
Seufzend steht sie auf, geht in die Küche und schaut durchs Fenster. Die kleine
Straße ist menschenleer, gelbliches Licht lässt Häuser und Asphalt seltsam
fahl aussehen.
Kurz entschlossen zieht sie sich an, nimmt ihre Schlüssel und verlässt das
Haus. Es ist inzwischen drei Uhr und sie fühlt sich hellwach. Draußen atmet
sie tief ein und obwohl die Hitze des Tages einer sanften Wärme gewichen ist,
empfindet sie die Luft noch als bleiern.
Ziellos geht sie die Straße entlang, die Absätze ihrer Schuhe knallen beinahe
unverschämt laut auf das Pflaster, jeder Schritt ein Klacken, das von den
Häuserwänden widerhallt. Sie zieht die Schuhe aus, läuft barfuß weiter, setzt
die Schritte vorsichtig, darauf bedacht, nicht in Scherben oder Unrat zu
treten.
„Nachtasphalt“, denkt sie, „ich brenne Nachtasphalt in meine Sohlen.“
Seltsamerweise fühlt sie sich geerdet, verbunden mit diesem Boden, der noch
die Hitze des lebendigen Lebens vom Tage ausstrahlt. Ihre Sichtweise scheint
dadurch verändert, sie meint klarer zu sehen, die Konturen erhalten eine
bizarre Schärfe.
Sie geht langsam die Treppe hinunter und schaut sich an, was da gesprüht
worden ist. Es geht um die Schließung des Jugendheimes, das nicht weit von
hier liegt und das seit einigen Wochen leer steht. Im Ortsblättchen ist darüber
berichtet worden, die Reaktionen, auch die kritischen, sind rasch verstummt
gewesen.
“Ist dies die einzige Möglichkeit für die jungen Menschen, sich Gehör und
Aufmerksamkeit zu schaffen?“, überlegt sie. Sicher keine gute, derart anonym
und versteckt, seine Meinung kundzutun, aber was weiß sie schon davon, was
diese Menschen alles unternommen haben. „Versäumnisse“, denkt sie, „ich bin
genauso ignorant wie viele…“
Sie geht die Treppe auf der anderen Seite der Unterführung hoch und als sie
ins Freie tritt, fällt ihr Blick auf die Einfahrt zu einem Parkhaus.
Blaue Müllsäcke, jetzt im Nachtdunkel grau scheinend, bilden einen Haufen,
vor dem eine ebenso graue Gestalt kauert. Ein Mann stochert in dem Unrat
und aus den Säcken quellen die Erinnerungen an ein unnützes Gestern, das
vielleicht sogar einmal glanzvoll gestrahlt hat.
Als der Mann sich über die Schulter umblickt, kreuzt sich ihr Blick mit seinem
und im selben Moment empfindet sie Scham. Mag sein, dass das
Weggeworfene der Wohlstandsgesellschaft für ihn eine ganz andere
Bedeutung hat und sie meint, seine Scham darüber zu fühlen. Das ist nicht für
ihre Augen gedacht. Oder etwa doch?
Sind dies jene Momente, die im hellen Licht des Tages allzu leicht untergehen?
Doch vielleicht stört sie ihn, vielleicht empfindet er gar keine Scham und sie
belegt ihre eigene Ignoranz nur mit einem Siegel, das ihr allein innewohnt.
Was sie sieht, ist ein Mann, der im Müll stochert, nicht mehr und nicht
weniger.
Lautlos entfernt sie sich, geht an Häuserwänden entlang, die verhüllen, jetzt,
im Dunklen der Nacht.
Plötzlich hört sie vom Ende der Straße Stimmen, laut und unangenehm
wehen ihr Wortfetzen entgegen, die sie nicht versteht.
Eine Frau tastet sich torkelnd an der Häuserwand entlang, in der linken Hand
hält sie ein Glas. Drei Männer folgen ihr und sie sind es, die jene Worte
ausspucken, bei denen man nur vermuten kann, dass es Flüche und
Beschimpfungen sind.
Sie zögert, weiß nicht, was sie machen soll. Sie verspürt keine Angst, nur ein
unbestimmtes Gefühl, erneut Zeugin einer Szene zu sein, die sie nicht tangiert.
Gleichzeitig aber weiß sie sehr genau, dass all dies Facetten von Leben sind,
von Leben, das sich um sie herum abspielt und dem sie nun nicht den Rücken
kehren kann. So geht sie weiter, bis sie die Frau erreicht hat.
„Brauchen Sie Hilfe?“
Ihre Worte erscheinen ihr selber banal. Die Frau starrt sie kurz an und wendet
sich den Männern zu, stößt ihrerseits Beschimpfungen aus, welche letztlich in
einem irren Lachen enden.
Erschrocken geht sie weiter und als sie sich umdreht, sieht sie, wie einer der
Männer die Frau umarmt und sie sich an ihn klammert.
Was weiß man schon, wovor die Menschen fliehen, an wen oder was sie sich
klammern, was sie letztlich brauchen?
Sie versucht diese Gedanken wegzuwischen, das eben Erlebte auszublenden.
Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den anderen, bedächtig, ruhig. Sie hat es
nicht eilig.
Als sie aus der kleinen Straße auf den Platz tritt, sieht sie ihn sofort.
Wie gewohnt am Tage hockt er vor dem Brunnen im Schneidersitz, vor sich
seinen alten Hut, um den nun ein paar Tauben herumhüpfen. Sie kennt diesen
alten Barden, der tagtäglich die Menschen mit seinem Mundharmonikaspiel
erfreut. Sie kennt ihn, aber weiß doch kaum etwas von ihm. Nur, dass er
keinen Alkohol trinkt, immer nüchtern ist und sich über einen Becher Kaffee
freut. Das hat sie erfahren, als sie sich einmal getraut hat, ihn anzusprechen.
Ob er ein Domizil hat, weiß sie auch nicht. Nie hätte sie gedacht, dass er auch
nachts hier sitzen würde, stumm, geduldig, jetzt ohne die sentimentalen
Klänge, die er ansonsten seinem Instrument entlockt.
Es stimmt sie beinahe traurig, ihn nun so sitzen zu sehen. Sie kann nicht
anders und setzt sich auf die alte Steinbank gegenüber des Brunnens, spürt
die Wärme des Tages an ihren Beinen und fühlt neben der Traurigkeit auf
einmal eine große Ruhe.
Der Alte schaut sie an, er lächelt, nicht einmal mit dem Mund, sondern es sind
seine Augen, die sie dieses Lächeln empfinden lassen. Stumm sitzen sie sich
gegenüber, aber sie empfindet es nicht als störend oder gar quälend.
Manchmal gehen Menschen vorbei, allein oder auch zu zweit, ein
engumschlungenes Pärchen bleibt neben dem Brunnen stehen und küsst sich
intensiv, ein Junge schlängelt sich auf seinem Fahrrad durch die Pfosten, die
den Platz vom Gehweg abtrennen, hinten im Korb liegt ein Stapel Zeitungen,
die er vermutlich austragen wird. Auch um diese Uhrzeit steht das Leben in
der Stadt nicht völlig still.
Endlich wagt sie doch die Frage, die ihr die ganze Zeit im Kopf herumgeht.
„Sitzen Sie immer in der Nacht hier?“
Nun lächelt er wirklich, schüttelt den Kopf.
“Nein, ich schlafe auch manchmal…“ Er macht eine leichte Bewegung mit der
Hand,
„…hier und da…heute kann ich es nicht.“ Er hält kurz inne und fährt dann
fort: „Sie auch nicht, wie es aussieht.“
Nun lächelt sie und nickt. Er spricht mit leichtem Akzent, slawisch, wie sie
vermutet.
Nach einer Weile weiteren Schweigens nimmt er seine Mundharmonika und
beginnt zu spielen, leise, eine sanfte Melodie, fast wehmütig. Als die Töne
verklungen sind, schaut sie zum Himmel und sieht, dass die Schwärze einem
Grau gewichen ist. Er ist ihrem Blick gefolgt mit den Augen. „Bald wird es Tag.
Die Nächte sind kurz zu dieser Zeit.“
Gern würde sie ihm noch etwas sagen, bevor sie geht, aber sie hat keine
Worte. Vielleicht braucht es diese auch nicht. So steht sie auf, nickt leicht und
geht.
Ohne nachzudenken hat sie den Weg nach Hause eingeschlagen. Sie begegnet
keinem Menschen mehr. In die Stille des beginnenden Morgens mischen sich
plötzlich neue Töne. Sie gewahrt Vogelgezwitscher, verhalten zunächst, doch
mit jedem Schritt, den sie zurücklegt, scheint diese Melodie anzuschwellen,
immer neue Laute bereichern dieses Konzert – ein Frage- und Antwortspiel,
welches Leben verkündet.
Diese Töne verbinden sich in ihr mit dem Nachklang der Mundharmonika-
Töne.
Als sie vor ihrer Haustür ankommt, zieht sie die Schuhe wieder an.
Jetzt endlich kann sie tief durchatmen.
Die Nacht hat ihr eigenes Gesicht, denkt sie. All jenes, das am Tage untergeht,
verborgen bleibt, bewusst oder unbewusst, erhält andere, manchmal
schärfere Konturen. Für eine Weile hat sie Anteil gehabt an diesem Puls der
Nacht, der seinen eigenen Rhythmus schlägt.
© Enya K.
Die Nacht gehört dem Fluglärm von Cecilia
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