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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED

Erste Fassung

EIN FREMDES LIED

LIBRETTO

PHILIPP BLOM

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

DRAMATIS PERSONAE

Angelo Soliman, kaiserlicher Mohr – Bariton

Josephine Soliman, seine Tochter – Mezzosopran

Christian, ein junger Graf – Tenor

Franz II., Kaiser von Österreich und Ungarn – Altus

Baron Aibenbach, Direktor der Hofkanzlei – Bassbariton

Der Maler

Der Professor

Drei Schreiber/Beamte

Höflinge

Zeitpunkt der Handlung ist 1796, der Ort ist Wien

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
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AKT I

SZENE I: DIE KAISERLICHE NATURALIENSAMMLUNG

Wir sind in einem Museum, alt und


verstaubt, alles sehr trist.
Braunes Holz dominiert. Einige
ausgestopfte Tiere stehen da,
Glasvitrinen mit kleinen Tieren,
Vogeleiern, etc., auch einige
Glasbehälter mit Schlangen in
Alkohol und ähnlichen Präparaten.
Das ganze macht den Eindruck, sehr
rigide und sehr langweilig zu sein.

Der Kaiser und sein Hofstaat kommen


herein wie ein Sturm. Der Kaiser
selbst wird von einigen Beratern
umgeben, hinter ihnen kommt der
Tross der Höflinge, die sich
blasiert und erstaunt umsehen,
augenscheinlich sind sie noch nie
hier gewesen. Unter den Höflingen
ist auch Angelo Soliman. Er steht
allein. Man sieht, daß hinter
seinem Rücken getuschelt wird.

KAISER
(ungeduldig befehlend)
Ich will Exotik haben, mehr Exotik!

MUSEUMSDIREKTOR
Aber Majestät haben doch allergnädigst…

KAISER

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(unterbricht den Direktor unwirsch)


Was redet er? Drama will ich! Farben! Tieren aus der ganzen
welt!

MUSEUMSDIREKTOR
Ich bitte untertänigst, Eure Majestät, die größten Gelehrten
des Reiches…

KAISER
(ungeduldig)
Was gehen mich seine Gelehrten an?
Fad’ ist das hier! Schulkram!
Was soll ich mit Rindviechern und Wachteleiern? Mit Hasen und
Igeln?
Geb’ er mir Elephanten und Löwen und Giraffen!
Gibt es denn kein Rhinozeros?
Ich will Afrika! den Zauber Indiens! Ich will Raritäten!

MUSEUMSDIREKTOR
(unterwürfig)
Euer Majestät erlauchtester Vorgänger…

KAISER
(immer mehr irritiert)
Was geht denn der mich an?
Ich bin der Kaiser! Ich! Endlich!
Hab’ kein Interesse an dem alten Zeug!

Er gibt einem ausgestopften Tier


einen Tritt, sodaß es in einer
Staubwolke in sich zusammenfällt.
Die Höflinge weichen erschreckt
zurück und scharen sich jetzt um
den Kaiser und den Direktor.

KAISER
(weiter)

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Ich will Farben! Die Wunder des Orients! Da kommt er mir mit
solchem Dreck? Was bildet er sich ein?
Schaff’ er was besseres herbei! Sonst werde ich einen anderen
Direktor einsetzen!

DIREKTOR
(Dienstfertig, mit tiefer Verbeugung)
Jawohl, Eure Majestät, wie Eure Majestät befehlen!

KAISER
(zu allen)
Wir werden neue Saiten aufziehen hier!
Alles wird sich ändern!

HOFGESELLSCHAFT
Alles wird sich ändern!
Es lebe unser Kaiser!

In der Menge sieht der Kaiser


Angelo Soliman, der in seinem
silbernen Hofkostüm mit Turban
unter den farbig gekleideten
Höflingen heraussticht. Der Kaiser
wendet sich an ihn.

KAISER
(süffisant)
Ah, der brave Soliman! Er ist selbst schon fast ein
Museumsstück, nicht wahr?

Die Höflinge lachen.

SOLIMAN
(verbeugt sich sehr würdevoll)
Wohl wahr, ich bin schon lange im kaiserlichen Dienst. Eurem
Vater war ich ein treuer Diener, Majestät, und er erwies mir
die Ehre, mich als Freund zu behandeln.

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KAISER
(irritiert über diese Wendung)
Ja, ja, mag sein. Jetzt aber sind neue Zeiten angebrochen, wie
er sieht. Seh’ er sich an in seiner Livree! So geht doch
niemand mehr herum! Höchstens Lakaien tragen sowas noch!

SOLIMAN
(verbeugt sich wieder tief)
Eure Majestät!

KAISER
Hier hält es mich nicht mehr. Wir gehen. Wenn ich wiederkomme,
will ich daß sich die Dinge hier geändert haben!

Der Kaiser und der Hoofstaat


verlassen das Museum. Im Abgehen
legt Baron Aibenbach die Hand auf
Solimans Schulter.

AIBENBACH
(mitfühlend)
Sei nicht niedergeschlagen, lieber Freund. So ist der neue
Herr. Aufbrausend und impulsiv. Der Schatten seines großen
Vaters liegt auf ihm und er kann es nicht ertragen.

SOLIMAN
Ich habe immer treu gedient.

AIBENBACH
Natürlich, aber der Dienst am Einen ist dem Andern ein Dorn im
Auge.

beide ab

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SZENE II: IN DER KAISERLICHEN NATURALIENSAMMLUNG

Der Hofstaat geht ab und Josephine


und Christian bleiben allein im
Museum zurück.

JOSEPHINE
Wie gekränkt der Vater ist!

CHRISTIAN
Eine neue Zeit!

JOSEPHINE
(sie sieht sich um)
Dies ist ein schauderhafter Ort. Es bedrückt mich jedes Mal,
wenn wir uns hier treffen. Der Tod wohnt hier! Es riecht schon
nach Tod und nach Sterben. Wie lange müssen wir uns noch
heimlich treffen?

CHRISTIAN
(beruhigt sie)
Schau die ausgestopften Viecher nicht an! Schau nur mich an!
Ich bin hier! Hier können wir uns sehen, ungestört. Hier kann
ich dich in meinen Armen halten!

JOSEPHINE
Ich habe Angst.

CHRISTIAN
(nimmt ihre Hand)
Josephine!
Josephine ist zerrissen zwischen
dem Bedauern für ihren Vater,ihrer
Furcht vor den Präparaten, und
ihrer Liebe zu Christian. Sie sieht
ihn an und lächelt, dann aber fällt

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ihr Blick auf einen Bären, der mit


erhobener Tatze neben ihnen steht.

JOSEPHINE
Alles hier ist erstarrt!
Sie macht sich von Christian los
und geht hin zu einigen Gläsern,
die mit verschiedenen anatomischen
Präparaten, vielleicht auch mit
Embryos, gefüllt sind.

Bleich wie vom toten Mond beschienen.


Wenn hier ein Auge lebendig funkelt, dann ist es doch aus
Glas.
Laß’ uns fortgehen von hier, nur wir zwei, weit fort von
diesem schrecklichen Ort und vom Hof und von deiner Mutter,
vor der wir uns verstecken müssen!

CHRISTIAN
(drängend)
Warte nur noch ein wenig, warte! Da draußen sehen sie uns
doch, da sind die Augen überall. Die gläsernen Augen hier
werden unser Geheimnis schon bewahren!

JOSEPHINE
Wie lange noch?

CHRISTIAN
Nicht lange – du weißt doch, meine Mutter hat schon ein
Mädchen für mich gefunden. Eine dumme Gräfin, aber Geld hat
sie. Ich will sie nicht. Nur dich will ich.

JOSEPHINE
(niedergeschlagen)
Es ist sinnlos. Nie werden wir zusammenkommen. Ich bin nicht –
so eine.

CHRISTIAN
(nimmt sie wieder bei der Hand)

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Natürlich nicht, aber ich kann meine Mutter umstimmen, ganz


gewiß! Gib mir nur noch etwas Zeit, ich muß den richtigen
Moment abwarten. Auch ich will mich nicht einfach so verkaufen
lassen! Ich habe meine Wahl getroffen, dich will ich heiraten,
nur dich!

JOSEPHINE
Ich bin die Tochter des kaiserlichen Hofmohren Angelo Soliman.
Glaubst du, daß eine wie deine Mutter jemals über eine solche
Ehe nachdenken würde? Ein kraushaariges Enkelkind in der
gräflichen Familie? Glaubst du das? Wenn es doch genügend
reizende junge Gräfinnen gibt, die…

CHRISTIAN
(unterbricht sie)
Still, sei still! Red’ nicht von ihr! Wir vertun nur unsere
kostbare Zeit! Komm…

JOSEPHINE
(trotzig und verzweifelt)
Niemals wird sie das erlauben!

CHRISTIAN
(richtet sich auf und drückt Josephine
an sich)
Mir kann sie nichts verbieten! Ich bin kein Kind mehr! Die
Zeiten ändern sich, wie unser Kaiser sagt!

JOSEPHINE
Nicht für die Tochter des Mohren Soliman!

CHRISTIAN
(mit fester Stimme)
Was redest du? Dein Vater war ein großer Mann bei Hofe! Ein
Offizier, Haushofmeister der Fürsten Liechtenstein, ein
Gelehrter und intimer Freund des großen Kaisers! Da zählt die
Farbe nichts!

JOSEPHINE

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Das war einmal!

CHRISTIAN
Und es ist immernoch. Ein Freund des Kaisers ist ein großer
Mann.

JOSEPHINE
(ironisch, bitter)
Du hast ja gesehen, was der neue Kaiser darüber denkt, vor
allen Leuten. Die Freundschaft des Vaters verdammt ihn für den
Sohn.

CHRISTIAN
(vehement)
Ich werde mit meiner Mutter sprechen!

(DUETT)

JOSEPHINE
Das glaube ich nicht! Das wage ich nicht zu glauben.
Enttäusch’ mich nicht. Nur das nicht.

CHRISTIAN
(ungestühm und jugendlich)
Vertraue mir! Ich werde mit der Mutter sprechen, ganz sicher!
Ich liebe dich und niemand wird uns trennen!

JOSEPHINE
(schaudernd)
Der Tod wohnt hier!

CHRISTIAN
Josephine!

JOSEPHINE

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…wie von dem bleichen Mond beschienen. Halt’ mich fest! Halt
mich, damit ich dir einen Moment glauben kann!

Sie umarmen sich.

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SZENE III: SOLIMANS HAUS IN DER WIENER VORSTADT

Ein bescheiden möblierter Raum mit


einem Schreibtisch, einigen Büchern
in einem Regahl, zwei Stühlen,
einer Kleiderpuppe und einem
bodenlangen Spiegel. Alles macht
den Eindruck vergangener Pracht,
gute Qualität aber heruntergekommen
und altmodisch.

Soliman tritt auf. Er kommt aus der


kaiserlichen Naturaliensammlung, wo
er von dem neuen Kaiser gedemütigt
wurde. Er trägt seine silberne
Hofuniform mit Turban, Stock mit
Silberknauf und Degen. Trotz seines
Alters, er ist über siebzig, ist er
noch immer eine sehr respekt-
einflößende Gestalt und hält sich
sehr aufrecht, ein alter Offizier.

Im Laufe der folgenden Szene


beginnt er, sich langsam
umzuziehen.

SOLIMAN
Sie lachen über mich, kümmern sich nicht einmal ob ich es
höre. „Da ist der alte Soliman, der wilde Mann vom Fürsten
Liechtenstein“, „unter seiner weißen Livree hat er doch eine
schwarze Seele“, „man hört sie sind teuflisch in der Liebe“,
„unter dem krausen Haar sind krause Gedanken, tausend
Grausamkeiten“
Ich höre es in meinem Rücken, wo immer ich gehe.
Zischeln. Flüstern.
Überall.

Aus dem Off kommen zischelnd


flüsternde Stimmen des Chores, die
einzelne Phrasen wiederholen.

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(imaginäre Gestalten ansprechend)


He du! Wer seid ihr, daß ihr so über mich redet?
Wißt ihr überhaupt, mit wem ihr es zu tun habt?

Er stellt sich aufrecht hin, sehr


formell, wie von seiner eigenen
Wichtigkeit durchdrungen.

Ich bin Angelo Soliman, Offizier seiner Majestät, Berater von


Fürsten und selbst von fürstlichem Geschlecht, Freund seiner
seligen Majestät Josefs II…

CHOR
(aus dem allgemeinen Gezischel lösen
sich immer wieder einzele Stimmen in
seine Rezitation hinein, die auch aus
seinen Gedanken kommen könnten)
Ein Sklavenbub! der Mutter von der Brust gerissen!
Heiße Schokolade hat er der Fürstin gebracht, hat alles für
sie getan, alles!
Ein schöner junger Mann war er, Gespiele des Fürsten, sagt
man, und auch die Fürstin…
Niedlich war er…
Mozart hat er gekannt…
…schwarze Seele…
…mit dem Kaiser hat er Schach gespielt…
…der Hengst im Bett der alten Fürstin…
…auch Weihwasser wäscht das nicht weg…

SOLIMAN
(stoisch weiter rezitierend)
Bruder unter Brüdern und unter Fürsten ein Fürst.
Offizier in seiner Majestät Armee!
Ich bin immernoch Soliman, der kaiserliche Mohr!
Immernoch!
Niemand lacht über mich!

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Niemand

Soliman zieht seinen Degen und


dreht sich bedrohlich um die eigene
Achse, wie, um einen Feind zu
finden.

Die Stimmen verstummen plötzlich.

Soliman sieht die Kleiderpuppe vor


sich. Für einen Augenblick scheint
es, als wolle er ihr einen Hieb
versetzen, dann läßt er aber seinen
Degen sinken. Er nimmt seine
Schärpe und seine Livree ab.

Ach, ich bin müde.


Wer glaubt mir denn all das noch?
Längst vergangene Zeiten.

Soliman nimmt sich seinen Turban ab


und platziert ihn sorgfältig auf
einen Perückenkopf, der auf dem
Schreibtisch steht. Auch seine
Weste zieht er aus und zieht
stattdessen eine Hausjacke über.
Jetzt ist er wirklich ein alter
Mann geworden.

Ich bin kein Kämpfer mehr.


Damals hat mein blutiger Säbel zu Dutzenden die Türkenköpfe
gespalten. Heute kann ich mein eigenes Brennholz nicht mehr
spalten.
Die Frauen haben mich damals angehimmelt, angesehen wie eine
verbotene Frucht. Nicht einmal die Kinder laufen mir heute
noch nach.
Damals!
Große Zeiten!

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Ein Menuett erklingt. Er beginnt,


angedeutet dazu zu tanzen. In die
Musik mischen sich wieder kichernde
und zischelnde Stimmen und auch
afrikanische Klänge. Solimans Tanz
wird zum Schattengefecht gegen
imaginäre Gegner. Die Kleiderpuppe,
vor der er sich eben noch feierlich
verbeugt hatte, wird ihm jetzt zum
Gegenspieler.

Josephine tritt auf und sieht ihrem


Vater einen Moment zu, der sich
sichtlich außer Atem hinsetzen muß.

JOSEPHINE
(besorgt)
Du mußt dich schonen, Vater.

SOLIMAN
Mir geht es gut, nur diese Gesellschaften ermüden mich.

JOSEPHINE
Niemand war so hoheitsvoll, wie du!

SOLIMAN
Ach was. Wem machen wir etwas vor? Der neue Kaiser hat andere
Ideen. Er will Exotik, nur Exotik! Ganz Wien soll ein
Jahrmarkt werden.

JOSEPHINE
Er ist jung, muß sich erst profilieren. Der Schatten seines
Vaters… mit eisernen Besen will er kehren.

SOLIMAN
Ohne mich! Er wird zur Vernunft kommen. All diese Leute! Nimm
dich in Acht vor ihnen! Ich kenne dieses Pack, aber schützen
kann ich dich nicht mehr.

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JOSEPHINE
Ich kann schon auf mich selbst aufpassen.

SOLIMAN
Das habe ich auch einmal geglaubt, aber sieh mich an: ein
Leben lang habe ich treu gedient, und alles was sie sehen, ist
ein schwarzer Mann. Was soll ich anderes tun, um meine
Herkunft abzuwaschen?

JOSEPHINE
Schleuder’ sie ihnen ins Gesicht! Du bist ein Fürst! Das hast
du mir immer erzählt. Wir sind Fürsten aus Nubien und diese
Leute sind nur zu provinziell, das zu begreifen.

SOLIMAN
Was soll ich anderes tun?

JOSEPHINE
(greift ihn am Arm)
Als ich klein war, da hast du mir ein Lied vorgesungen, aus
deiner Heimat, ein Wiegenlied.

SOLIMAN
Meine Heimat ist hier!

JOSEPHINE
Sing’ es mir noch einmal vor! Es hat mich immer sehr berührt.

SOLIMAN
(abwehrend)
Das ist alles zu lange her! Dunkle Vorgeschichte.
Ich bin ein alter Gelehrter und Offizier am kaiserlichen Hof
und du eine junge Wiener Dame. Nie wirst du glücklich, wenn du
diesen Weg…
Was willst du dich mit solchem Zeug noch weiter abgeben?

JOSEPHINE

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Es war ein schönes, fernes Lied, und es ist Teil von mir.

SOLIMAN
Wenn du dir einen Gefallen tun willst, dann vergißt du es ganz
schnell. Niemand wird dich heiraten! Vom schwarzen Afrika will
niemand was wissen!

JOSEPHINE
Aber ich will was davon wissen! Dieses Lied ist das Lied
meiner Herkunft, das auch in mir nachhallt.

SOLIMAN
Hier bist du geboren! Hier aufgewachsen! Eine anständige
Wienerin war deine selige Mama! Eine fromme Christin!
All diese Geschichten!

JOSEPHINE
Sing’ es, Vater, es ist doch auch Teil von mir.

SOLIMAN
Ich erinnere mich nicht!

JOSEPHINE
Aber ja! Hör’ doch!

Josephine beginnt, leise zu singen.


Es ist eine einfache afrikanische
Melodie, sehr einprägsam.

SOLIMAN
(erregt)
Hör’ auf! Jetzt gleich! Ich verbiete es dir!

JOSEPHINE
Es ist doch nur ein Lied.

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SOLIMAN
Ein fremdes Lied! Ein Land ohne Gesetz! Versunkene
Erinnerungen.
Ein fremdes Leben.

JOSEPHINE
(singt weiter)

SOLIMAN
(trotzig erregt, gegen das Lied an)
Jetzt bin ich Angelo Solimann, Offizier seiner Majestät, unter
Brüdern ein Bruder und unter Fürsten ein Fürst!

JOSEPHINE
Es wiegt mich ein, dieses Lied.

SOLIMAN
Verachten wird man dich! Eine schwarze Seele werden sie dich
nennen! Puder’ dir lieber dein Gesicht und suche dir einen
guten Mann!

JOSEPHINE
Ein schönes Lied.

SOLIMAN
Schwarze Vergangenheit! Sieh mich an und nenne es nicht mehr!

JOSEPHINE
Es ist ein Teil von mir!

SOLIMAN
Wie ein Fluch!

JOSEPHINE
Dein Fluch!

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SOLIMAN
Ich bin über ihn hinausgewachsen! Niemand hat es gewagt, ein
Wort gegen Angelo Soliman zu sagen! Ein Bruder unter Brüdern…

JOSEPHINE
Das glaubst du?

SOLIMAN
Offizier seiner Majestät…

JOSEPHINE
Ein Geck! Ein Dummkopf! Eine jämmerliche Gestalt!

SOLIMAN
So spricht niemand vor mir über seine Majestät! Sei still!
Kein Wort mehr!

JOSEPHINE
Ein beschränkter Trottel, ein grausamer Gernegroß, der nicht
einmal die ältesten Freunde seines Vaters…

SOLIMAN
(sichtlich erregt)
Aus meinem Haus! ich kann nicht… Laß mich allein! Hinaus!

Josephine sieht ihn an, tief


getroffen, daß er die Seite seiner
Unterdrücker wählt. Auch Mitleid
spielt auf ihrem Gesicht. Sie geht
ab.

SOLIMAN
(weiter)
Undank!
Laßt mich, alle! Laßt mich!

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SZENE IV: IN SOLIMANS HAUS, DIREKT WEITER

Es klopft. Soliman schreckt auf.

SOLIMAN
Einen Augenblick Geduld!

Er beginnt hastig, sich wieder


herzurichten, zieht seine Weste an
und setzt zwar nicht seinen Turban
aber doch eine anständige Hausmütze
auf, zieht seine Jacke zurecht und
hält sich wieder gerade. Dann geht
er zur Tür und öffnet. Er hat kein
Dienstmädchen mehr. Vor der Tür
steht Baron Aibenbach.

SOLIMAN
(sehr freundlich, erleichtert)
Ah, lieber Freund! Was verschafft mir die Ehre? Verzeihen sie,
ich bin…

Der Baron tirtt ein.

AIBENBACH
Unter Freunden darf es doch keine Formalitäten geben, lieber
Angelo! Noch dazu in unserm Alter!

SOLIMAN
So setz’ dich doch.

AIBENBACH
Ich hab’ schon in der Hofkanzlei den ganzen Tag gesessen,
jetzt tut mir das Stehen ganz gut.

SOLIMAN

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
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Was kann ich für dich tun? Der Direktor der allerhöchsten
Hofkanzlei kommt doch nicht ohne Grund in die ferne Vorstadt?
Du must entschuldigen: Ich kann dir noch nicht einmal etwas
anbieten außer einem Glas Wein. Ich bin auf Besuche nicht mehr
vorbereitet.

AIBENBACH
Nur unsere Freundschaft bringt mich her, lieber Angelo. Unser
Treffen in der Naturalienkammer (Museum) hat mich daran
erinnert, wie lange wir schon nicht mehr miteinander
gesprochen hatten.
War das nicht übrigens deine Josephine, die ich draußen sah?
Sie ist eine schöne junge Frau geworden.

SOLIMAN
Schön aber eigensinnig! Ich habe sie gerade aus dem Haus
geworfen, weil sie respektlos redet über seine Majestät! Sie
kann es nicht lassen und ich kann es nicht zulassen.

AIBENBACH
Sei nicht so hart zu ihr.

SOLIMAN
Ein Leben lang bin ich ihrer Majestäten treuester Diener.
Denkst du, ich kenne ihre Fehler nicht? Aber ich kann es nicht
zulassen. Alles verdanke ich dem Kaiserhaus. Da soll ich meine
eigene Tochter schlecht reden lassen über sie?

AIBENBACH
Und doch ist sie deine einzige Tochter, Blut von deinem Blut.
Die innigste Verbindung, die man haben kann.

SOLIMAN
Ich habe für den Kaiser mein Blut gelassen, auf dem
Schlachtfeld. Mein Blut gehört auch Habsburg!

AIBENBACH
Versöhne dich mit ihr. Du wirst sie brauchen. Schlussendlich
hat man nichts als die Familie. Hör’ auf mich!

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SOLIMAN
(mißtrauisch)
Hast du mir was zu sagen?

AIBENBACH
(verlegen)
Nun ja, es hat keinen Sinn, einem so erfahrenen Mann wie dir
etwas vorzumachen. Zwar komme ich aus alter Freundschaft, aber
ich wollte dich tatsächlich…

SOLIMAN
Was…

AIBENBACH
Ich wollte dir etwas mitteilen. Ich dachte, es ist am besten,
wenn du es nicht von jemand anderem zuerst hörst.

SOLIMAN
Ich verstehe.

AIBENBACH
Wie du siehst, erschafft unser neuer Kaiser den Hof in seinem
Bilde.

SOLIMAN
Genau das hat mir auch Josephine schon gesagt.

AIBENBACH
Du hast eine kluge Tochter. So ist es nun einmal. Der Kaiser
will nicht mehr erinnert werden an seinen Vater, an den großen
Mann. Alles was mit ihm zu tun hat…

SOLIMAN
Darum will er die Sammlung ganz neu machen!

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

AIBENBACH
Und nicht nur die Sammlung. Alles ändert er. Neue Gesichter
will er.

SOLIMAN
Und du und ich…

AIBENBACH
Darum bin ich gekommen.

SOLIMAN
(mißversteht die Situation)
Du brauchst Hilfe, Freund? Du hast sie!

AIBENBACH
(sichtlich bewegt)
Nein, mein Freund, nicht um micht geht es hier. Der Kaiser
will alles verändern und er hat beschlossen…

SOLIMAN
Er kann doch nicht…

AIBENBACH
Er will dich nicht mehr bei Hofe sehen. Das hat er gesagt.
Deine Pension wirst du weiter bekommen, aber in die Hofburg…

SOLIMAN
(aufbrausend)
Das kann nicht sein! Ein Mißverständnis! ich bin…

AIBENBACH
Es ist so. Es tut mir leid. Schon morgen wird es offiziell.
Dann werden alle drüber reden. Du solltest es nicht vor dem
Tor erfahren.

SOLIMAN

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Das kann nicht sein!

AIBENBACH
Du warst der Freund des Vaters. Nichts erinnert so fatal an
ihn, wie du.

SOLIMAN
Das soll er mir selbst sagen, direkt ins Gesicht!

AIBENBACH
Du wirst nicht vorgelassen werden.

SOLIMAN
Ein Irrtum! Alles wird sich aufklären!

AIBENBACH
Kein Irrtum, lieber Freund. Allerhöchster Beschluß.

SOLIMAN
Noch heute hat er mit mir gesprochen, vor allen Höflingen hat
er mich so ausgezeichnet.

AIBENBACH
Du bist ein zu guter Mann, um so blind zu sein? Hast du nicht
gehört, was er zu dir sagte? Es ist vorbei!

SOLIMAN
(sichtlich von dieser Neuigkeit
überwältigt)
Ich, ich… das kann nicht… ich werde… ich… Laß’ mich allein!
ich muß… laß mich… ich will allein sein!

AIBENBACH
(besorgt)
Wenn ich noch irgendetwas, lieber Freund…

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
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SOLIMAN
Allein!

Aibenbach umarmt Soliman.

AIBENBACH
Adieu mein Freund!

Aibenbach ab.

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SZENE V: IN SOLIMANS HAUS, DIREKT WEITER

Soliman ist allein. Er legt wieder


seine Hoflivree an und setzt den
silbernen Turban auf. Er steht vor
dem Spiegel. Es scheint, als wolle
er doch zur Hofburg gehen.

SOLIMAN
Ich bin Angelo Soliman, Offizier seiner Majestät, Berater von
Fürsten und selbst von fürstlichem Geschlecht, Freund seiner
seligen Majestät Josefs II…

einen Moment Innehalten…

„Da ist der alte Soliman, der wilde Mann vom Fürsten
Liechtenstein“
Jetzt sind neue Zeiten angebrochen
Ich will Afrika! den Zauber Indiens! Ich will Raritäten!
Ein fremdes Lied!
Versunkene Erinnerungen.

er verliert sich einen Moment in


seiner Erinnerung. das
afrikanische Motiv erscheint wieder

Ein Sklavenbub! der Mutter von der Brust gerissen!


Heiße Schokolade hat er der Fürstin gebracht, hat alles für
sie getan, alles!
Längst vergangene Zeiten.

mit wachsender Verzweiflung und


bitterer Persiflage

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Erste Fassung

Ah, der brave Soliman! Er ist selbst schon fast ein


Museumsstück, nicht wahr?
Schaff’ er was besseres herbei!
Sie lachen über mich!
Ich bin Angelo Soliman, Offizier seiner Majestät…
Wer glaubt mir denn all das noch?
Er will dich nicht mehr bei Hofe sehen.

das afrikanische Lied, das im


Orchester schon länger präsent ist,
beginnt, sich durchzusetzen. Der
Herzschlag beschleunigt sich

Es war ein schönes, fernes Lied, und es ist Teil von mir.
Ein fremdes Lied! Ein Land ohne Gesetz!
Versunkene Erinnerungen.
Ein fremdes Leben.

Der Herzschlag wird unregelmäßig


und unterbricht die sich immer
weiterspinnende Melodie immer
wieder

…schwarze Seele…
Ach, ich bin müde.
Puder’ dir lieber dein Gesicht!
„unter seiner weißen Livree hat er doch eine schwarze Seele“,
Weißes Puder!
Mozart hat er gekannt…
Schon morgen wird es offiziell.
Ein fremdes Leben…
Weißes Puder…
fremdes Leben…
müde…
Ich bin Angelo!

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
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Er bricht zusammen. Der Herzschlag


hört auf.

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
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SZENE VI: IM HAUS VON ANGELO SOLIMAN

Solimans Salon ist in ein


Totenzimmer verwandelt. Auf den
Leuchtern ist schwarzer Trauerflor,
der Spiegel ist schwarz verhängt.
Kerzen leuchten auf eine kleine
Gemeinde von Trauernden, die um den
offenen Sarg in der Mitte des
Raumes herumsitzen. Im Sarg liegt
Soliman in seiner silbernen
Hoflivree, mit Turban. Sein
Hausmantel hängt auf der
Kleiderpuppe im Hintergrund. Zwei
große Kerzen brennen am Kopfende
des Sarges.

Die Trauernden intonieren das


gregorianische Requiem.

TRAUERGÄSTE
Requiem aeterna…

Ein hartes Klopfen an die Tür im


Hintergrund der Bühne. Josephine
steht auf und geht zur Tür. Sie
öffnet. In der Türöffnung stehen
ein Beamter, ein bewaffneter
Polizist und vier kräftig gebaute
Männer.

BEAMTER
Frau Josephine Soliman, Tochter des verstorbenen Angelo
Soliman?

JOSEPHINE

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Das bin ich. So kommen sie doch herein.

Der Beamte und seine Gehilfen


kommen herein und stellen sich
neben den Sarg.

BEAMTER
(zu Josephine)
Ist das der Verstorbene?

JOSEPHINE
(durch seinen Ton verunsichert)
Natürlich ist er das. Das ist mein seliger Vater.

BEAMTER
(holt ein Dokument aus seinem
Ärmelaufschlag und liest vor)
Auf Befehl ihrer allerhöchsten Majestät des Kaisers sind die
sterblichen Überreste des Soliman Angelo, ehemals Hofmohr
ihrer Majestäten Josefs II. und Franz II., ehemals
Haushofmeister der Fürsten Liechtenstein, ehemals Offizier in
der Armee seiner Majestät sofort und unverzüglich in die Obhut
der kaiserlichen Behörden zu übergeben und von diesen selbst
an einen geeigneten Ort zu überführen und gemäß dem
allerhöchsten Willen gesondert zu behandeln!
Gezeichnet, seine Majestät von Gottes Gnaden.
Los Männer, nur vorsichtig!

Die vier Männer stellen die Kerzen


am Kopfende zur Seite, schultern
kurzerhand den Sarg und gehen zur
Tür. Josephine wirft sich ihnen in
den Weg.

JOSEPHINE
Das können sie nicht tun! Was ist das für eine Barbarei?
Weswegen wollen sie mir den Vater wegnehmen? Ich muß ihn
beerdigen!

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

BEAMTER
Geh’ sie aus dem Weg. Seine Majestät hat andere Pläne für
ihren Vater!

JOSEPHINE
Davon hat mir niemand etwas gesagt!

BEAMTER
Aus dem Weg jetzt, sonst lasse ich sie festnehmen!

Der Polizist stellt sich Josephine


in den Weg, sodaß die Sargträger
abziehen können. Dann läßt er sie
los und schließt die Tür.

Zwei Frauen kommen sofort zu


Josephine um sie zu trösten.

JOSEPHINE
(verwirrt und allein, fast wie in
Trance)

Mir hat doch niemand etwas gesagt…


Was soll denn nur werden?
Wer kann denn…

Während Josephine verblüfft und


verzweifelt da steht, wo eben noch
der Sarg ihres Vaters gewesen ist,
beginnen die Trauergäste still aber
eilig das Haus zu verlassen, sodaß
sie bald ganz allein im Raum ist.
Im Kerzenschein sieht die
Kleiderpuppe mit Solimans Hausjacke
beinahe so aus, wie ein Mensch.

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

AKT II

SZENE I: DAS KONTOR DES BARON VON AIBENBACH IN DER HOFKANZLEI

Wir sind im Vorraum des


Aibenbachschen Büros. Vier Beamte
sitzen an Schreibpulten, die mit
Papieren bedeckt sind. Akten stehen
an den Wänden entlang. Eine sehr
sachliche Atmosphäre herrscht.

Es klopft an die Türe. Von einem


Diener in Livree begleitet kommt
Josephine herein. Sie ist sehr
elegant und formell in schwarz
gekleidet.

DIENER
Wenn gnädige Frau hier warten möchten.

Der Diener flüstert etwas zu einem


der Beamten. Dieser steht auf und
geht zur Tür am Ende des Raumes. Er
klopft. Baron Aibenbach erscheint.

Der Diener zieht sich zurück.

BEAMTER
Exzellenz, die junge Dame besteht darauf, sie persönlich zu
sprechen.

AIBENBACH
(zu Josephine)

32
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Ah, meine Liebe! Wie schön, sie zu sehen! Mein Beileid, es tut
mir so unendlich leid…
(zum Beamten)
Schon gut, schon gut, ich kenne diese Dame.

JOSEPHINE
Euer Gnaden…

AIBENBACH
Ihr Vater war ein guter Mann, ein treuer Freund auch.

JOSEPHINE
Und doch ist er mir gleich zweimal genommen worden.

AIBENBACH
Ich hab’ davon gehört. Mir fehlen die Worte.

JOSEPHINE
Sie waren sein Freund. Nur sie können mir helfen, Exzellenz!

AIBENBACH
Wie soll das möglich sein?

JOSEPHINE
Ich muß wissen, was geschieht. Man hat mir nichts gesagt. Auf
kaiserlichen Befehl wurden die Überreste meines armen Vaters
weggenommen – geraubt! - vor eine Woche schon. Seitdem habe
ich kein Wort gehört, ich weiß nicht wo man ihn hingebracht
ist und was geschehen soll. Alles was ich weiß, ist daß man
mir verweigert den Vater christlich zu bestatten.

AIBENBACH
Nichts hat man ihnen gesagt?

JOSEPHINE
Nur, daß sein Körper auf kaiserlichen Befehl mitgenommen
wurde, so wie man Vieh requiriert.

33
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

AIBENBACH
Auch ich habe nur vage Gerüchte gehört. Ich kann nichts
sicheres sagen. Es heißt, der Kaiser wolle ihren Vater, den
Vertrauten seines eigenen Vaters, besonders ehren und ihm als
treuem Diener ein ewiges Denkmal setzen.

JOSEPHINE
Ist das ein Grund, ihm seine letzte Ruhe zu verweigern?

AIBENBACH
Natürlich nicht. Nur kann ich dazu auch nichts sagen. Aber
umhören kann ich mich. Vielleicht kann ich doch mehr erfahren.
Wenn jemand bei Hofe etwas weiß, so werde auch ich es schon
bald wissen. Vertrauen sie mir.

JOSEPHINE
Ich wäre Eurer Exzellenz auf ewig dankbar.

AIBENBACH
Ich werde tun, was in meinen Kräften steht. Kommen sie bald
wieder.

JOSEPHINE
Schon morgen werde ich wieder vorsprechen.

AIBENBACH
Nein, gerade morgen ist es nicht günstig und überhaupt drehen
sich die Mühlen hier nicht so schnell. Momentan bin ich sehr
eingebunden. Ich werde jeden Tag in der kaiserlichen
Naturaliensammlung sein, denn bis die Sammlung neu eröffnet
werden kann ist viel zu tun und man hat mich hinzugezogen, als
Berater. Sie wissen ja, nichts ist seiner Majestät so wichtig
im Moment, wie sein Museum.

JOSEPHINE
Dann werde ich warten müssen.

AIBENBACH

34
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Das werden sie wohl. Aber kommen sie doch zur Eröffnung in
drei Wochen, dann kann ich ihnen auf jeden Fall berichten, was
ich herausgefunden habe. Und wenn ich zwischenzeitlich etwas
erfahren sollte, dann lasse ich es sie umgehend wissen.

JOSEPHINE
Also gut, ich werde kommen. Es ist ein fürchterlicher Ort,
dieses Museum, aber ich werde dort sein.

AIBENBACH
Sie werden es nicht wiedererkennen! Alles ist verändert
worden. Es wird ihnen gefallen, sie vielleicht sogar auf
andere Gedanken bringen.

JOSEPHINE
Noch einmal, danke. Ohne Eure Hilfe wüßte ich nicht, wohin ich
mich wenden sollte.

AIBENBACH
Ist schon gut. Alles wird sich aufklären und zum Besten
wenden.

JOSEPHINE
Danke, Exzellenz!

AIBENBACH
Auf bald!

Josephine geht ab. Aibenbach kehrt


in sein Büro zurück. Auf der Bühne
sind die vier Schreiber wieder bei
der Arbeit.

35
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SZENE II: IM KAISERLICHEN NATURALIENKABINETT

Die gesamte Hofgesellschaft ist für


die Wiedereröffnung des
Naturalienkabinetts erschienen. Das
Museum ist nicht mehr wiederzu-
erkennen: die Kühe und Hasen sind
verschwunden, alles ist farbiger
und spektakulärer. Exotische Tiere
stehen vor gemalten Hintergründen,
ganze Landschaftspanoramen sind zu
sehen, mit den dazugehörigen Tieren
und sogar Bäumen und anderen
Pflanzen. Helle Farben dominieren,
wo fürher Mahagoni war: hellgrün,
gelb, hellblau, hier und da rot und
dunkelblau als dramatischer
Kontrast. In der Mitte des Raumes,
über die anderen Ausstellungsstücke
erhöht auf einem Podest, steht ein
Kasten, der durch einen roten
Vorhang verdeckt ist.

Die Menge ist voller Erwartung.


Tuschelnd erwartet man den Kaiser,
der noch nicht eingetroffen ist.
Vorne, halb verdeckt von einem
großen Tier (einem Elephanten oder
Rhinozeros) stehen auch Josephine
und Christian, die verstohlen
Händchen halten.

JOSEPHINE
Und wieder treffen wir uns hier.

CHRISTIAN
Ja, aber diesmal ist alles anders hier. Du hattest gesagt dies
sei ein schrecklicher Ort, aber eigentlich sieht es mehr wie
ein Jahrmarkt aus. Und außerdem: bei all dem Trubel kümmert
sich niemand um uns.

36
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

JOSEPHINE
Ich habe Angst, Christian!

CHRISTIAN
Angst? Wovor?

JOSEPHINE
Ich bin allein. Mein Vater ist mir genommen worden, zweimal
gleich, und eine Mutter hab ich schon lang nicht mehr. Ich bin
ohne Familie und jetzt habe ich weniger denn je die
Möglichkeit, ein Leben mit dir zu beginnen!

CHRISTIAN
Was redest du, Liebste? Es ist alles nur eine Frage der Zeit,
bis ich meine Mutter überzeugen kann…

JOSEPHINE
…daß du statt einer jungen Gräfin ein vaterloses Mädchen ohne
Mitgift oder Titel heiraten willst? (Ich bin niemand hier)

CHRISTIAN
Das wird sich sehr bald ändern. Man sagt, seine Majestät würde
den kaiserlichen Mohren, deinen Vater, noch posthum hoch
auszeichnen. Vor großen Würden ist die Rede. Es wäre nicht das
erste Mal, daß einem treuen Diener noch nachträglich ein Titel
verliehen wird!

JOSEPHINE
Ich glaube nicht daran.

Christian sieht, wie seine Mutter


aus der Menge zu ihm hinübersieht.
Sofort läßt er Josephines Hand los.

CHRISTIAN
Gib acht, jetzt schaut sie her! Daß sie uns nur nicht sieht!

37
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

JOSEPHINE
Wie sollte ich auch daran glauben? Kannst du mir nicht zeigen,
was du fühlst? Kannst du nicht zu ihr gehen, jetzt gleich, und
mit ihr sprechen?

CHRISTIAN
Das wirst du nie verstehen! Wenn ich das tue, dann macht sie
uns jetzt eine Szene, mitten bei der Eröffnung, und ich werde
enerbt. Und wie sollte ich mich dann um dich und unsere Kinder
kümmern?

JOSEPHINE
Unsere Kinder?

CHRISTIAN
Ich will eine Zukunft mit dir haben, ein ganzes Leben! Aber
gut Ding will Weile haben und wir dürfen nur nichts
überstürzen.

JOSEPHINE
Natürlich.
(resigniert, zu sich selbst)
Kalt ist es hier, trotz aller Tropentiere. Schrecklich kalt.
Einsam bin ich, trotz aller Menschen hier…

Ein Zeremonienmeister in besticktem


Frack tritt auf.

ZEREMONIENMEISTER
Seine Majestät der Kaiser!

Ein feierlicher Marsch erklingt


kurz.

Der Hofstaat verneigt sich als der


Kaiser Eizug hält. Josephine und
Christian bleiben halb verborgen.

38
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

KAISER
Lange Wochen haben wir warten müssen, bis aus einer traurigen
und verstaubtenm Sammlung alter Kadaver und Vogeleier eine
kaiserliche Sammlung wurde, die dieses Namens würdig ist!
Jetzt, endlich, können wir unseren Untertanen das neue Museum
zum Geschenk machen, ein Blick über die Grenzen unseres
schönen Reiches hinaus, auf den ganzen farbigen Schatz der
Schöpfung.
Alles findet sich hier: Panoramas von Steppe und Wüste und
Regenwald, Asien, Afrika und Indien und sogar die Weiten
Südamerikas! Tiere, die in ihren natürlichen Lebensräumen
ausgestellt werden, ganz so, als würde der Löwe gleich zum
Sprung ansetzen und die Giraffe den Stuck von der Decke des
Palastes fressen wollen!
Es ist eine Pracht und Herrlichkeit, wie es sie sonst
nirgendwo gibt. Sogar der kaiserliche Zoo von Peking erreicht
dergleichen nicht!
Es ist ein Weltwunder unserer Zivilisation!

Der Hofstaat applaudiert, einige


Hochrufe sind hörbar.

Wissenschaft und Schönheit sind hier brüderlich vereint zur


Belehrung und Erbauung unserer Untertanen.
Künstler, Anatomen und Gelehrte haben daran gearbeitet, dieses
Kabinett zum prächtigsten Europas zu machen und wir haben
einen Wink des Schicksals aufgenommen.
Vor einigen Wochen verlor der kaiserliche Hof einen seiner
treuesten Diener, als jener von unser aller Herr zu sich
gerufen wurde.
Was aber ein Anlaß der Trauer ist wurde mit Hilfe der
fähigsten Künstler des Reiches in einen Triumph verwandelt,
die Krönung dieser Sammlung und der Anfang einer ganz neuen,
so wie die Welt noch niemals eine gesehen hat. Nichts ist ihm
gleich, nichts ist prächtiger, schöner, seltsam bewegender.
Hier ist es, das Prunkstück der kaiserlichen Sammlung, der
wilde Mann, der schwarze Mohr, der Naturmensch selbst, der
leibhaftige Angelo Soliman!

Auf ein Zeichen des Kaisers fällt


der Vorhang, der den Kasten in der
Mitte des Raumes umgeben hatte. Es
ist eine Glasvitrine. Drinnen steht

39
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

der ausgestopfte Körper des Angelo


Soliman, nicht in seiner gewohnt
aristokratisch geraden Haltung,
sondern fast bucklig, mit einem
Speer in der Hand und mit Muscheln
und Federn bekleidet, die an einem
Gürtel herunterhängen und knapp
seine Scham bedecken.

Die Menge ist begeistert und


applaudiert. Josephine, die dem
Kaiser nicht zugehört hatte und
stattdessen mit Christian
beschäftigt war, dreht sich langsam
um und sieht plötzlich den
Mittelpunkt der allgemeinen
Aufmerksamkeit – ihren Vater, oder
doch seinen ausgestopften Körper.

JOSEPHINE
(schreit auf)
Ah!

Josephine fällt in Ohnmacht.


Christian will sich um sie kümmern,
aber jetzt hat ihn seine Mutter
bemerkt. Sie geht zu ihm, sieht, um
welche junge Frau es sich handelt,
wirft einen Blick erst auf Angelo
in dem Kasten und dann auf ihren
Sohn, und zieht Christian unsanft
am Arm weg und hinter sich her ins
Off.

Aibenbach hat die Szene auch


bemerkt und eilt Josephine zur
Hilfe.

40
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SZENE III: IN DER KAISERLICHEN NATURALIENSAMMLUNG, AM ABEND

Die Bühne ist fast ganz dunkel, nur


ein Museumswärter mit einer Laterne
dreht seine Runden und vergewissert
sich, daß alle Fenster verschlossen
sind.

Josephine kommt von rechts, als der


Museumswärter gerade dabei ist, die
Tür abzuschließen.

JOSEPHINE
Ist er der Museumswärter?

WÄRTER
Das bin ich, aber die Sammlung ist geschlossen. Kommen sie
morgen wieder!

JOSEPHINE
Will er sich nicht etwas Geld verdienen?

WÄRTER
(unschlüssig)
Das kommt darauf an…

JOSEPHINE
(hält ihm einige Münzen hin)
Zehn Taler, wenn er mich eine halbe Stunde dort drinnen allein
läßt.

WÄRTER
Zehn Taler! ich weiß nicht…

41
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

JOSEPHINE
Zwölf Taler! und mach’ er sich keine Sorgen, ich rühre nichts
an. Ich will nur allein sein – dort.

WÄRTER
Dort drinnen? Jetzt? Bei Dunkelheit? Für zwölf Taler?

JOSEPHINE
Das will ich.

WÄRTER
Na, meinetwegen! Aber nur eine halbe Stunde!

Er nimmt das Geld und geht ab. Die


Tür steht offen. Josephine betritt
das Museum und schließt die Tür
hinter sich. Sie hat eine Lampe
mitgebracht. Sie zündet einige
Kerzen an, geht zum Kabinett und
zieht den Vorhang auf. Sie tritt,
taumelt fast, ein oder zwei
Schritte zurück und sieht auf die
ausgestopfte Figur ihres Vaters.

JOSEPHINE
Ich hab’ dir nicht einmal Adieu gesagt, Vater, es war ja keine
Zeit dazu.
Jetzt hören deine Ohren meine Stimme nicht mehr, und Glasaugen
starren hinaus auf eine gemalte Welt.
Du warst so stolz darauf, kaiserlicher Mohr zu sein!
Angelo Soliman, unter Fürsten ein Fürst.
Jetzt bist du nichts mehr als ein wilder Mann, ein
Kinderschreck, der nackt dasteht.
Deine Tochter kennt niemand mehr.
Sie sehen auf der Straße durch mich durch, als wäre ich nicht
vorhanden, oder als ob ich eine Hottentottin wäre und keine
anständigen Kleider tragen würde.
Ich bin gekommen, dich zu trösten, Vater, aber vielleicht bin
ich es, die Trost braucht.

42
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Ich bin gekommen dir zu sagen, daß ich alles tun werde, was in
meiner Macht steht.
Doch meine Macht ist klein. Ich habe nie gefühlt, wie schwach
ich bin.
Ich schreie, strenge meine Lungen bis zum Platzen an, aber es
hört mich niemand.
Ich kann nichts für dich tun.
Es ist, als wäre ich selbst schon tot. Im Traum ist es
manchmal so: du rufst und niemand hört dich, du rennst und
kommst nicht weiter. Wie eingeschlossen in einem Glaskasten.

Leise und fast mechanisch beginnt


Soliman zu singen, die Melodie des
afrikanischen Wiegenliedes aus dem
ersten Akt. Josephine kann ihn
nicht hören und setzt ihren Monolog
fort. Sie singen also aneinander
vorbei ein Duett. Der gesungene
Monolog ist eine Art Deskant zum
immer wiederkehrenden Generalbaß
des Liedes.

JOSEPHINE
(weiter)
Als du noch lebtest war ich deine Josephine, ein Mädchen wie
tausend andere auch. Jetzt aber hab’ ich mich verändert. Die
Tochter des wilden Mannes ist halb von dieser Welt und halb
von einer anderen, aus Afrika, das ich nur aus Geschichten
kenne.
Wo warst du, bevor sie dich zum Sklaven machten? Wer war deine
Mutter, meine Großmutter? Hast du oft an sie gedacht oder hast
du wirklich alles hinter dir gelassen?
Ich verstehe nicht.
Ich kenne die Sprache deiner Ahnen nicht, ihre Gesten und ihre
Götter. Ich bin ein Kind aus Wien.
Was ist man, wenn der eigene Vater leibhaftig im Museum steht?
Vater, hilf mir, gib mir Kraft!
Bin ich eine von denen oder gehöre ich zu dir? Soll ich lachen
über dich oder soll ich mich neben dich stellen? Nackt, damit
die Männer ihre Freude haben?
Wo stehe ich?

43
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Ich bin die Tochter vom Wilden Mann. Meinen Namen kennt längst
keiner mehr.
Du hast dich an deiner Illusion noch wärmen können, aber ich
stehe in der Winterkälte der gleichgültigen Blicke.
Sie sehen mich nicht!
Ich habe einen Vater aus Leder, Gips und Stroh, mit
unverwüstlichen Glasaugen, kunstvoll über ein Holzgerüst
gespannt. Ein Vater für die Ewigkeit. Ein ewiger Vater.
Der Tod wohnt hier, und ist bunt wie das Leben angemalt.
Alles hab’ ich hier verloren.
Kalt ist es hier.

Es klopft. Soliman hört auf zu


singen. Der Museumswärter kommt
herein und macht eine Geste zu
Josephine, die eilig den Vorhang
über dem Kabinett zuzieht und dann
zur Tür kommmt. Sie verläßt die
Bühne. Es ist dunkel.

44
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SZENE IV: IN DER KAISERLICHEN NATURALIENSAMMLUNG

Der Kaiser ist mit einigen Dienern


in seiner Sammlung. Mehrere Kisten
verschiedener Größe stehen herum,
manche schon geöffnet mit Stroh
darin. Verschiedene zoologische
Präparate, die gerade ausgepackt
wurden, stehen noch in oder neben
den Kisten. Der Kasten mit Soliman
drin ist in der Mitte der Bühne.

KAISER
Neuankünfte! Neuankünfte!
Acht Paradisvögel aus Südamerika! Drei Papageien! Ein Tukan
und ein Jaguar!
Sei doch vorsichtig! Stell es hier her! Nein hier! Laß
Ansehen! und pack’ jetzt diese Kiste aus, rasch, rasch!
Ein Gürteltier soll drinnen sein, ein Biest, das ich noch nie
gesehen habe! Ich muß es sehen! Kleinkopfert, trübsinnig und
am ganzen Leib gepanzert gegen die Welt – ganz wie mein
seliger Vater! Er würde staunen, wenn er all dies sehen würde,
der alte Wassertrinker!
Hat man mir denn keinen Indianer geschickt?
Der alte Soliman soll nicht allein bleiben. Man ist kein
Unmensch! Auch ein Neger braucht Gesellschaft! Auch ein Wilder
will die Wärme anderer Körper spühren.
Ah, eine Federkrone. Gib her!

Der Kaiser setzt die Federkrone


auf. Sie ist beinahe so groß wie er
selbst.

Schön ist die Schöpfung Gottes und ich bin Herr über einen
Teil von ihr! Ah, gut, stell das Gürteltier hierher. Mit

45
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Majestät sollst du es anreden, denn es erinnert mich an meinen


Vater.
Wo ist mein Maler?

MALER
Hier bin ich, Eure Majestät.

KAISER
Uns sie, Herr Professor, was sagen sie?

PROFESSOR
Eine stattliche Sammlung, ganz zweifellos, Eure Majestät!

KAISER
Wir werden einen Kampf auf Leben und Tod inszenieren! Ein
Tiger, der über das Gürteltier herfällt mit der ganzen Macht
des herrlichen Angriffes gegen die pathetische Defensive! Es
wird großartig aussehen, es wird…

PROFESSOR
Aber Majestät, wenn ich untertänigst…

KAISER
(irritiert)
Was will er?

PROFESSOR
…ich erlaube mir darauf hinzuweisen, daß Gürteltiere in
Südamerika, Tiger aber ausschließlich…

KAISER
Hat er denn seine Fantasie in seinen Büchern verloren, daß er
es wagt, mich mit solchen Details zu ärgern? Ich will Exotik!
Drama!

Der Maler und der Professor


verbeugen sich stumm.

46
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Aibenbach tritt auf.

KAISER
(weiter)
Ah, mein guter Aibenbach! Er kommt gerade recht um sich meine
letzte Lieferung anzusehen, direkt aus den Regenwäldern
Südamerikas.

AIBENBACH
Majestät!

KAISER
(zu einem Diener)
Nun fange er mit dieser Kiste an, ich bin neugierig, was darin
zu finden ist. Na los, beeil’ er sich! Aber Vorsichtig!

AIBENBACH
Ich bin gekommen, um Euch alleruntertänigst ein persönliches
Anliegen vorzutragen.

KAISER
(gut gelaunt)
Na, sag’ er schon: wo drückt der Schuh?

AIBENBACH
Es geht um das Unglück einer jungen Frau.

KAISER
Noch so eine, die sich von einem hergelaufenen Blaubart hat
verführen lassen und jetzt ins Wasser gehen will?

AIBENBACH
Nein, Majestät, diese Unglückliche erwartet nicht, daß ihre
Familie sich vergrößert. Im Gegenteil, sie hat jemanden
verloren.

47
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

KAISER
Nicht noch eine Witwenpension. Weiß er denn nicht, was das
hier alles kostet? Ich hab’ kein Geld für solche
Trivialitäten.

AIBENBACH
Sie bittet Eure Majestät um keinen Heller.

KAISER
Ich beginne schon, diese Person zu mögen. Und was will sie von
mir? Er redet ja in Rätseln!

AIBENBACH
Die junge Unglückliche hat bereits mehrere Eingaben an die
Hofkanzlei gemacht. Ihr Name ist Josephine Soliman.

KAISER
Ah! Ist das nicht die Tochter von… von dem da? Nun, was will
sie? Ist es ihr nicht genug, daß ihr Vater so vor allen
anderen ausgezeichnet worden ist? Eine Abfindung vielleicht?
Doch Geld?

AIBENBACH
Nein, Eure Majestät, sie wendet sich an Euch als ihren
katholischen Kaiser und bittet euch untertänigst, ihren Vater
christlich zu begraben, so wie die Kirche es verlangt.

KAISER
Ja, hat sie das nicht selbst getan? Die Reste wurden ihr doch
ausgefolgt!

AIBENBACH
Das schon, aber nicht die Haut und der Schädel, und ohne sie
ist ihr Vater nicht wirklich bestattet.

KAISER
Also was will sie, die impertinente Person?

48
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

AIBENBACH
Sie bittet untertänigst um ihres Vaters Haut!

KAISER
Ganz ausgeschlossen! Was denkt sie sich denn? Das Prunkstück
meiner Sammlung! Ganz so, wie er im Leben war! Ein
Meisterstück! Die Menschen kommen her, um ihn zu sehen!
(zu einem Diener, der mit Auspacken
beschäftigt ist)
Er da, zieh’ er den Vorhang auf!

Der Diener öffnet den Vorhang und


Soliman wird sichtbar.

KAISER
(weiter)
Da! und das will er zerstören wegen eines frömmlerischen
Weibsbilds? Soll es denn niemals Fortschritt geben? Sollen wir
denn immer nur weiblichen Gefühlen folgen? Und er, Aibenbach,
wie kann er sich zum Sprachrohr für solchen Unsinn machen?
Schämt er sich denn nicht?

AIBENBACH
Majestät müssen glauben…

KAISER
Gar nichts muß der Kaiser! Merke er sich das!

Aibenbach verbeugt sich und geht


stumm ab. Der Kaiser geht auf und
ab zwischen den Kisten und bleibt
vor einem Spiegel stehen.

KAISER
(zu sich selbst, immernoch mit der
Federkrone auf dem Kopf)
Ich weiß nicht, ob ich diese Federkrone nicht dem Soliman
aufsetzen soll, bis wir einen Indianer bekommen. Wir werden
ein neues Kabinett für ihn bauen müssen. Auf jeden Fall müssen

49
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

wir ein Weibchen für ihn beschaffen, eins mit straffen


Brüsten!

50
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SZENE V: IM VORRAUM VOM BÜRO DES BARON AIBENBACH

In der Schreibstube sitzen drei


Schreiber, die Köpfe über die Pulte
gebeugt.

Josephine tritt auf.

SCHREIBER 1
(sehr mechanisch und schnell, wie auch
seine Kollegen, wie singende
Schreibmaschinen)
Was will sie denn? (3x 16e/8e in koor)

SCHREIBER 2
Wo will sie ihn?

SCHREIBER 3
Wen will sie sehen?

JOSEPHINE
Zum Baron Aibenbach will ich, in einer persönlichen
Angelegenheit.

SCHREIBER 1
Der Herr Baron…

SCHREIBER 2
…sind unabkömmlich…

SCHREIBER 3
…und höchst beschäftigt

SCHREIBER 1,2,3

51
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Niemand kann vorgelassen werden!

JOSEPHINE
Er ist ein Freund der Familie!

SCHREIBER 2
Das gilt für alle!

SCHREIBER 3
Und ganz besonders…

SCHREIBER 1
…für die Familie des seligen Angelo Soliman!

SCHREIBER 2
Des Wilden Mannes!

SCHREIBER 3
Vom Museumsmohren!

JOSEPHINE
Er war ein respektierter Herr bei Hofe!

SCHREIBER 2
Das kann schon sein…

SCHREIBER 1
Das war er ja…

SCHREIBER 3
doch es ist lange her!

SCHREIBER 2
und er ist übersiedelt ins Museum!

52
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SCHREIBER 3
In der Hofkanzlei seiner Majestät empfängt man keine
Verwandtschaft von Museumsstücken!

JOSEPHINE
Ich habe Eingaben gemacht, Briefe geschrieben, Bittschreiben,
Petitionen, Submissionen, Anträge gestellt…

SCHREIBER 2
Und wir haben sie gesehen…

SCHREIBER 3
…bearbeitet…

SCHREIBER 1
…erwogen und verworfen…

SCHREIBER 2
…weitergleitet…

SCHREIBER 3
…und Bescheid bekommen…

SCHREIBER 1
…von allerhöchster Stelle…

SCHREIBER 2
…daß so ein Ansinnen ganz unmöglich ist…

SCHREIBER 3
…nie kann so einem Vorhaben stattgegeben werden.

SCHREIBER 1
Wo kämen wir dahin?

53
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SCHREIBER 2
Alles wegwerfen…

SCHREIBER 3
…beliebig zurückgeben…

SCHREIBER 1
…in geweihter Erde vergraben?

SCHREIBER 2
Das ist völlig unmöglich nach §117 Absatz 3 der
Monumentenordnung…

SCHREIBER 3
nach §53 der Gräbervorschriften…

SCHREIBER 1
…von §119 der allgemeinen Strafordnung ganz zu schweigen!

SCHREIBER 2
Dann ist da die Hof- und Grundordnung, §8-35,

SCHREIBER 3
…das Reglement des k.u.k. Mobiliendepots, die Sondererlässe
des kaiserlichen Haushaltes, die uralten Bestimmungen des
Hofzeremoniells…

SCHREIBER 1
…die Vorschriften §47 und 64 sowie die Standesgesetze,
Supplement von 1771 und Zusätze 66 und 97 der allgemeinen
Steuerordnung, nach denen ein Verblichener, der nicht
ordentlich begraben, zwar von den Steuern befreit…

SCHREIBER 2
…aber doch keineswegs ohne Pflichten ist…

54
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SCHREIBER 3
So ist die Ordnung…

SCHREIBER 1
…sonst droht Kollaps…

SCHREIBER 2
…Zusammenbruch…

SCHREIBER 3
…Revolution!

SCHREIBER 2
Wir haben nachgeforscht…

SCHREIBER 3
…in ihrem Interesse, junge Frau…

SCHREIBER 1
…und sind zum Schluß gekommen…

SCHREIBER 2
…daß bei allen Gesetzen, Verordnungen, Urteilen, Paragraphen,
Verfügungen, Dekreten, Gesetzen, Erlässen, Bestimmungen,
Kundmachungen und Sonderbestimmungen nicht ein einziges
zutrifft auf ihren Fall…

SCHREIBER 3
…auch nicht…

SCHREIBER 1
…von allerhöchster Stelle…

SCHREIBER 2
…und das folglich…

55
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SCHREIBER 3
…im Sinne der göttlichen Ordnung…

SCHREIBER 1
…von allerhöchster Stelle…

SCHREIBER 1,2,3
Nichts zu unternehmen ist!
Unmöglich! Ganz unmöglich!

Durch den Lärm der plappernden


Schreiber ist Aibenbach von sich
aus in den Raum gekommen.

AIBENBACH
(unwirsch)
Was ist das für ein Lärm? Habt ihr nichts besseres zu tun?

Josephine eilt zu Aibenbach.

JOSEPHINE
Exzellenz! Ich weiß keinen Ausweg mehr! Nur sie können mir
können mir noch helfen!
AIBENBACH
Ich hab’ nichts Gutes zu berichten, mein liebes Kind. Ich war
bei seiner Majestät, doch will der Kaiser nichts davon hören,
sich von dem wie er sagt besten Stück in seiner Sammlung zu
trennen – nicht von Soliman.

JOSEPHINE
Dann bleibt keine Hoffnung?

AIBENBACH
Nicht für mich, es tut mir unendlich leid. Vielleicht, wenn
sie selbst sein Herz berühren könnten?

56
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

JOSEPHINE
(bitter)
Sein Herz? Nachdem er das meines Vaters herausgerissen hat?

AIBENBACH
Sei still, sei still!
(er sieht sich nervös um)
So zu reden hilft dir nichts!
Wenn du noch einen letzten Versuch machen willst, eine Audienz
bei seiner Majestät zu bekommen, könnte ich vielleicht dafür
sorgen, daß du zumindest vorgelassen wirst, am besten, wenn er
in seinem Museum ist, da ist er zumindest guter Laune. Das ist
alles, was ich tun kann.
Jetzt aber geh’, geh’! Hier gibt es nichts mehr für dich.

Josephine verbeugt sich und geht


ab.

57
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SZENE VI: IN DER KAISERLICHEN NATURALIENSAMMLUNG

Josephine ist allein. Sie tut so,


als ob sie nur eine Besucherin ist,
aber es ist klar, daß sie nervös
ist. Sie ist sehr formell
angezogen, mit gepudertem Haar und
einem eleganten Kleid. Scheinbar
sieht sie eins der zoologischen
Panoramen an, aber es ist deutlich,
daß ihre ganze Aufmerksamkeit dem
Kabinett mit Angelo Soliman gilt,
das hinter ihr steht.

JOSEPHINE
Vater, gib mir die Kraft, das Richtige zu tun. Sing für mich!
Erinnerst du dich an das Lied?

Sie beginnt, die afrikanische


Melodie zu singen.

Ich werde es nie vergessen, auch wenn du es mir nicht mehr


vorgesungen hast. Das ist alles zu lange her! Dunkle
Vorgeschichte, hast du mir gesagt. Ein fremdes Lied.
Du hattest recht. Es ist ein fremdes Lied. Ich bin mit
Ländlern aufgewachsen, mit Menuetten, mit Weihnachtsliedern.
Aber was hilft das jetzt?

Christian tritt auf und versteckt


sich hinter einer Säule oder einem
großen, ausgestopften Tier.

JOSEPHINE
(weiter)

58
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Puder dir dein Gesicht, hast du gesagt. Und dann? Bin ich dann
eine Andere? Bin ich das nicht ohnehin? Was soll ich denn
sein?

CHRISTIAN
(flüsternd)
Psst! Josephine!

Josephine ist erschreckt. Für einen


Augenblick scheint es ihr fast, als
würde ihr Vater sie rufen, dann
aber entdeckt sie Christian.

JOSEPHINE
(erleichtert)
Christian! Liebster! Was machst du hier?

CHRISTIAN
Ich bin gekommen, weil ich dir helfen will!

JOSEPHINE
Mir helfen? Ich dachte, niemand könnte mir noch helfen!

CHRISTIAN
Was immer ich tun kann, das werde ich tun.

JOSEPHINE
Liebster!

Sie fällt ihm in die Arme.

JOSEPHINE
Ich hatte solche Angst! Ich dachte, ich würde es nicht
aushalten, allein. Ich erwarte den Kaiser hier, gleich muß er
vorbeikommen.

59
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

CHRISTIAN
Den Kaiser!

JOSEPHINE
Ja! Aibenbach hat mir gesagt, meine einzige Chance jetzt ist,
direkt sein Herz zu rühren.

CHRISTIAN
Aber wenn er mich sieht!

JOSEPHINE
Hast du denn Angst vor ihm? Da kommt er schon! Schnell!

Christian geht in sein Versteck


zurück und beobachtet die folgende
Szene.

60
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SZENE VII: IN DER KAISERLICHEN NATURALIENSAMMLUNG (DIREKT


WEITER)

Der Kaiser, der Professor, der


Maler und einige andere Berater
treten auf und gehen von rechts
nach links über die Bühne.

KAISER
(ungeduldig, wie immer)
Ist es denn so schwer zu verstehen? Die wissenschaftliche
Exaktheit spielt hier keine Rolle!

PROFESSOR
Aber Majestät wollen allergnädigst..

KAISER
Garnichts will ich, folge er meinen Anweisungen! Ich…

Josephine stellt sich dem Kaiser in


den Weg und fällt vor ihm auf die
Knie.

JOSEPHINE
Eure Majestät, mir bleibt nichts mehr, als mich direkt an Euer
christliches Herz zu wenden!

KAISER
Was will den diese Weibsperson? Wie ist sie reingekommen? Was
ist los? Wer ist das?

61
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

JOSEPHINE
Ich bin Josephine Soliman, die Tochter Eures treuen Dieners,
der jetzt in diesem Museum ausgestellt ist wie ein exotisches
Tier.

KAISER
(hat sich von seiner Überraschung
erholt und ist jetzt kühl und ironisch)
Na und? Was erwartet sie von mir?

JOSEPHINE
Nur das, was Euer Herz Euch sagt!

KAISER
(irritiert und wie beiläufig)
Steh’ sie doch auf, steh’ sie doch auf!

Josephine erhebt sich und steht vor


dem Kaiser, der ihr mit
impertinenter Direktheit ins
Gesicht sieht.

KAISER
(weiter, sehr kühl)
Die Tochter vom Soliman ist sie? Hab sie noch gar nicht recht
zur Kenntnis genommen. Hübsch ist sie! Sehr ansehnlich! Und
eine Ähnlichkeit gibt es sicherlich. Die Augen, die Lippen,
die Wangenknochen – und das Haar kräuselt sich sehr fein, sehe
ich.

JOSEPHINE
Ich bin die Tochter meines Vaters, aber er war ein Christ, wie
ihr es seid!

(ENSEMBLE)

CHRISTIAN

62
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

(verzweifelt und beschämt, zu sich


selbst, noch immer versteckt)
Oh großer Gott, was soll ich tun?

JOSEPHINE
Tut, was Rechtens ist, um meines Vaters und des Himmels
Willen!

KAISER
Sie weiß also, was Rechtens ist, sie hat den Himmel auf ihrer
Seite!

PROFESSOR
So ist die Ordnung der Schöpfung, unabänderlich!

MALER
Kann sie denn nicht die Schönheit dieser Dinge sehen?

CHRISTIAN
Ich will ihr beistehen, denn sie hat niemanden auf ihrer
Seite!

JOSEPHINE
Ich bitte Euch in aller Demut! Vater, seh’ mich an!

KAISER
(zu Josephine)
Sie will einen allerhöchsten Gnadenakt!
Sie könnte ja, wenn sie keiner heiraten will, hier eine
Anstellung bekommen, als Aufseherin oder besser noch: Wenn sie
ihn so vermißt, kann sie sich ihm gleich beigesellen! Ich
brauche gerade noch ein Weibchen für mein Kabinett, und obwohl
sie nur halb afrikanisch ist kann mein Anatom sicherlich
nachhelfen mit Farbtopf und mit Requisiten! Dann hat sie auch
ihren Vater wieder, was ihr ja so am Herzen liegt!

Er lacht laut schrill und fast


hysterisch. Der Professor und der

63
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Maler sind schockiert, lachen dann


aber unsicher mit.

Josephine taumelt einen Schritt


zurück.

KAISER
(weiter)
Und jetzt, Herzchen, gehe sie nach Hause, sie hat ihren Spaß
gehabt und meine Zeit ist kostbar!

Der Kaiser und seine Berater gehen


weiter und lassen Josephine einfach
stehen.

64
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

SZENE VIII IN DER KAISERLICHEN NATURALIENSAMMLUNG (DIREKT


WEITER)

Josephine hat ihre letzte Karte


ausgespielt und verloren. Sie ist
verzweifelt, sie zittert vor
Erschöpfung, vor Wut.

Christian kommt aus seinem Versteck


hervor.

CHRISTIAN
(nimmt sie in seine Arme)
Josephine! Es tut mir so leid!

JOSEPHINE
Was soll ich tun? Wohin kann ich mich wenden?

CHRISTIAN
Wenn ich dir helfen könnte!

JOSEPHINE
(langsam wird sie gefaßter)
Niemand kann mir helfen. Nur ich selbst kann es noch.

CHRISTIAN
Laß gut sein, du hast getan, was eine Tochter kann!

JOSEPHINE
Nichts habe ich getan! Gar nichts! Siehst du diese Briefe
hier?

65
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Sie holt ein Bündel Briefe aus


ihrer Tasche.

Das sind Eingaben, die ich geschrieben habe. Makulatur! Für


nichts weiter gut, als sich die Hände daran zu wärmen.

Sie geht zu einem der Leuchter, die


an der Wand hängen, und zündet
einen Brief nach dem anderen an.
Die flammenden Papiere läßt sie auf
den Boden fallen.

CHRISTIAN
Und was jetzt?

JOSEPHINE
Ich kann dir vertrauen?

CHRISTIAN
Wie deinem eigenen Leben. Ich liebe dich!

JOSEPHINE
Wirst du mir helfen?

CHRISTIAN
Mit allem, was in meiner Macht steht.

JOSEPHINE
Dann hör’ mir zu. Wenn sie sich weigern, meinen Vater
freizugeben, werden wir selbst ihn befreien müssen.

CHRISTIAN
Ihn befreien?
Wir werden weggehen von hier, weit
weg!
JOSEPHINE
(erregt)

66
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Bei Nacht und Nebel, so, wie man einen Gefangenen aus einem
Kerker holt. Ich kenne den Wärter, gegen ein paar Gulden sieht
der weg, und dann ist es zu spät.

CHRISTIAN
Zu spät? (und dann?)

JOSEPHINE
(sich immer mehr hineinsteigernd)
Das Kabinett wird leer sein!
Nur kann ich es nicht alleine. Ich brauche Hilfe beim Tragen,
jemand muß Wache stehen.
Wir werden hineinschleichen und werden meinen Vater befreien!
Ihn hinaustragen in einer Kiste oder, besser noch, ihn mit
einem Umhang bekleiden und zwischen uns nehmen und hinausgehen
mit ihm, ganz so, als würde er noch leben!
Seine Befreiung wird auch unsere Befreiung sein!
Wir werden endlich frei sein, du und ich, wir werden meinen
Vater angständig begraben und dann weggehen und frei leben!
Nach Amerika werden wir gehen! Du und ich!
Du und ich! (eventueel behouden?)
(sie fällt ihm um de Hals)
Ich wußte ja, daß du mir helfen würdest!

CHRISTIAN
(macht sich höflich los)
Ja natürlich, mit gutem Rat, mit Geld, wenn du welches
brauchst, aber…

JOSEPHINE
Was aber?

CHRISTIAN
Gerade jetzt kann ich nicht…

JOSEPHINE
(plötzlich ernüchtert)

67
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Ach so ist das. Auch du.


Gerade jetzt.
Was ist jetzt?

CHRISTIAN
Ich war gekommen, um es dir selbst zu sagen. Eine gute
Nachricht.

JOSEPHINE
Hast du mit deiner Mutter gesprochen?

CHRISTIAN
Ja, und sie mit mir. Sie hat gar nichts dagegen, wenn wir uns
sehen, nur…

JOSEPHINE
Wenn wir uns sehen?

CHRISTIAN
Ich kann dir eine Wohnung bezahlen, in der Stadt, so kannst du
immer in der Nähe sein.

JOSEPHINE
(wie vor den Kopf geschlagen)
Ich verstehe nicht…

CHRISTIAN
Meine Mutter hat eine Braut für mich gefunden. Die Hochzeit
ist in einem Monat. Sie hat aber auch gesagt, daß dann unserer
Liaison nichts im Wege steht.

Josephine ist still, wie vom Donner


gerührt. Sie geht zur anderen
Bühnenseite. Dann, langsam, wendet
sie sich ihm wieder zu.

JOSEPHINE

68
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Du meinst also, ich bin so eine?

CHRISTIAN
Natürlich nicht, aber es wäre doch besser so, realistisch
gesprochen… schließlich haben sich die Umstände… du als
Tochter von…, dein Vater…, wer soll denn da ans Heiraten
denken… eine alte Familie… es gibt Sitten, Gepflogenheiten,
Traditionen…

JOSEPHINE
(apathisch)
Ich verstehe.

CHRISTIAN
Wir werden endlich beieinander sein! Wir werden uns nicht mehr
im Museum treffen müssen, nicht mehr in Kirchen heimlich
hintereinander knieen!

JOSEPHINE
Das werden wir nicht mehr.

CHRISTIAN
Ich bin ja so glücklich, daß du verstehst! Und du siehst auch,
daß ich unter diesen Umständen, so kurz vor meiner Hochzeit,
keine dummen Bubenstreiche machen darf…

JOSEPHINE
Dumme Bubenstreiche. Nein, natürlich nicht.

(DUETT)

CHRISTIAN
Wir haben es gefunden, ein wunderbares Arrangement!
Keine Heimlichkeiten mehr, zumindest nicht mehr als üblich!
Heiraten ist ganz ausgeschlossen, aber lieben können wir uns
so!
Ich werde meine Gräfin haben, meine Erbschaft und meine
Josephine!

69
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Sie ist so ein gutes Mädchen, so verständig!

JOSEPHINE
Endlich verstehe ich, endlich sehe ich ganz klar.
Er wird seine Gräfin haben und seine Erbschaft, nicht aber
mich.
So eine wie mich, eine mit einer schwarzen Seele, die heiratet
man nicht, die installiert man höchstens nebenan.
Er öffnet seine Arme, wenn ich meine Beine öffne.
Niemand, niemand wird mir Hilfe geben.

CHRISTIAN
(enthusiastisch)
Dann ist es also abgemacht?

JOSEPHINE
Du wirst mir nicht helfen.

CHRISTIAN
Helfen? Wie könnte ich? Ich würde so gerne! Aber die
Konventionen… Du verstehst mich doch. Du hast mich immer
verstanden.

JOSEPHINE
Habe ich das?

CHRISTIAN
Wir lieben einander doch! Du bist doch immer meine große
Liebe! Das andere, die Gräfin, das ist doch nur der
Gesellschaft halber.

JOSEPHINE
Ja, der Gesellschaft halber, die meinen Vater ausstellt in
einem Kasten.

CHRISTIAN
(irritiert)

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Kannst du nicht mal an etwas anderes denken?


(freundlicher, etwas reuig)
Ich lade dich aufs Land ein, morgen, nur wir zwei, ungesehen,
dann kommen dir andere Ideen. Die Landluft wird dir guttun.

JOSEPHINE
(gleichgültig)
Fahr du nur aufs Land. Ich werde dich nicht kompromittieren.

CHRISTIAN
Du bist mir doch nicht bös’?

JOSEPHINE
Nein, böse bin ich nicht. Nur erwachsener vielleicht. Ich sehe
klarer, so wie mein Vater, der seine altersblinden Augen für
neue, gläserne eingetauscht hat. Wunder der Wissenschaft!
Ich sehe klarer.
Du wirst heiraten. Du wirst dir Mätressen halten in der
kleinen Wohnung nebenan, aber ich werde nicht auch noch zur
Trophäe werden. (Du wirst eine Wonung halten nebenan) Ein
hübsches junges Ding findet sich an jeder Straßenecke, und
jede Saison ein neues. Ich bin schon bald ein älteres Modell.

CHRISTIAN
Wie bitter du plötzlich klingst.

JOSEPHINE
(ironisch und feindselig, aber sehr
ruhig)
Das kommt mit der Klarheit. Mach’ dir nichts draus. Ich komme
schon zurecht und dir blüht ohnehin eine große Zukunft.
Vielleicht brauchen sie ja bald einen neuen Museumsdirektor,
ich höre, der alte tritt in den Ruhestand.

CHRISTIAN
Du bist verletzend.

JOSEPHINE

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Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

(plötzlich außer sich vor Wut)


Du! Du willst mir sagen, was nötig ist?
Was weißt du denn? Wer bist du denn?
Geh doch! Heirate deine Erbschaft!
Laß mich allein! Ich will dich nicht mehr sehn!
Weißt du denn was das ist, Liebe?
Weißt du das?
Geh doch! Geh!

Christian wendet sich zum gehen.

JOSEPHINE
(verzweifelt)
Nein, laß’ mich nicht allein! Alles was meine Zukunft gutes
bringt kommt nur mit dir! Bleib bei mir!

CHRISTIAN
Ich hab’ es dir erklärt, es geht nicht. Ich… meine Familie… du
mußt verstehen… ich liebe dich doch auch, aber…

Obwohl es ihm augenscheinlich


schwer fällt wählt er die sichere
Zukunft, reißt sich von ihr los und
geht ab, für immer.

JOSEPHINE
(voller Trauer)
Nur wer sie verloren hat der weiß, was Liebe ist.

Einen Moment lang ist sie stumm,


mit hängendem Kopf.

Ist es das, wovor du mich schützen wolltest, Vater?


Ich gestehe: Ich höre das Lied meiner Vorfahren nicht.
Ich bin ein Mädchen aus Wien.
Wie hast du gesagt? Verachten wird man dich! Eine schwarze
Seele werden sie dich nennen! Puder’ dir dein Gesicht!

72
Philipp Blom: EIN FREMDES LIED
Erste Fassung

Sie nimmt eine Handvoll schwarze


Asche von den Briefen, die sie
verbrannt hat, und schwärzt sich
damit das Gesicht.

Ein fremdes Lied.

Sie beginnt, die afrikanische


Melodie zu singen.

Ein fremdes Lied.

73

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