Sie sind auf Seite 1von 3

Handout zu dem Referat vom

19. November 2007

Daniel Osafo | Handout Banlieus 1


Leben in der Bannmeile
Statt Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gibt es für ‚banlieusards’,
das Vorortvolk, Elend, Resignation und Isolation […] Frankreich hat eine
ganze Generation verloren. Im tristen Zustand der Außenbezirke lebt eine
entwurzelte Jugend, die sich ziellos herumtreibt. Die, die in den cités der
banlieue existieren, haben den Zug verpasst, der vielleicht nie vorbei ge-
kommen ist […] Ihr Protest ist vorgezeichnet.

(François Maspero 1993)1

Im Oktober und November 2005 kam es zu den bislang stärksten gewalttätigen Ausschrei-
tungen in der Pariser Banlieu. Auslöser für die Gewalt war der Unfalltod zweier Jugendli-
cher afrikanischer Herkunft, die am 27. Oktober 2005 bei der Flucht vor der Polizei versucht
hatten, eine Transformatorstation zu überwinden und dabei von Stromschlägen tödlich
getroffen wurden und verbrannten. Als Reaktion auf dieses Ereignis zündeten Jugend-
gangs in dem Pariser Vorort Clichy-sous-Bois, in dem die verstorbenen Jugendlichen be-
heimatet waren, mehrere Fahrzeuge an. Es kam zu einer Reihe zunächst unorganisierter
Sachbeschädigungen und Brandstiftungen an Autos und zahlreichen öffentlichen Ge-
bäuden, wie Kindergärten, Schulen und Stadtteilzentren, sowie christlichen und muslimi-
schen Einrichtungen. Die Unruhen, die ausschließlich nachts stattfanden, griffen schnell auf
andere Pariser Vororte und Anfang November schließlich auch auf andere französische
Städte wie Lyon, Toulouse und Straßburg über.

Ausgeführt wurden diese Aktionen überwiegend von Gruppen männlicher Jugendlicher


aus den ehemaligen Kolonien, vor allem aus dem Mahgreb und dem subsaharischen Afri-
ka, die in vielen Vororten der Pariser Banlieu in der Mehrheit sind. Insgesamt wurden in der
Zeit vom 27. Oktober bis zum 17. November 2005 9.267 Autos zerstört und es kam zu 2.832
Festnahmen. Die Regierung reagierte am 9. November 2005 mit der Ausrufung des Not-
standes in 30 von 96 Departments.

Dabei ist die Gewalt für die Bewohner der Banlieus nichts Neues: In 2001 und 2002 kam es
zu Angriffen auf die Synagoge in Clichy sous Bois und jedes Jahr brennen ca. 28.000 Autos
in Frankreich. Das Ausmaß der Krawalle im Herbst 2005 brachte brachte die Medien auf
den Plan und die Schlagzeilen „Die französische Intifada“, „Muslim Ghettos in Flammen“
und „Kampf der Zivilisationen“ gingen mit den Bildern der brennenden Fahrzeuge und des
tobenden Mobs gingen um die Welt und rückten die Missstände in einer der größten In-
dustrienation ins Bewusstsein. Als dann nur noch 100 Autos die Nacht brannten, wurde die
Situation von der Polizei wieder als normal eingestuft und alle außer den Bewohnern wa-
ren bemüht, zur Normalität zurückzukehren.

Doch wie kam es zu den Unruhen? Wo liegen die Ursachen für das Ausmaß an Gewalt,
das in Europa seinesgleichen sucht, für diesen Vorbürgerkrieg? Eine Antwort gibt ein Blick
auf die Banlieus, ihre Bewohner und deren Leben in ihrem Habitat.

Daniel Osafo | Handout Banlieus 2


Das Wort „Banlieu“ stammt etymologisch von dem
Begriff Bannmeile ab, welche historisch die Meile
um die Stadt war, die der städtischen Gerichtsbar-
keit unterstand. Aus dieser konnten Individuen oder
Gruppen verbannt werden - heute werden sie
vielmehr in diese verbannt. Die Banlieus die ring-
förmigen Vororte um die großen französischen Städ-
te dar, jedoch sind nicht alle von Elend und Armut
gekennzeichnet - auch Versailles ist unter den pari-
ser Banlieus. In vielen Banlieus liegen jedoch auf
Die Vorstädte von Paris Grund der infrastrukturellen und sozialen Defizite ei-
ne große Unzufriedenheit unter den Bewohnern vor

Die Banlieus entstanden als Neubausiedlungen nach dem 2. Weltkrieg, um den Woh-
nungsmangel zu beseitigen und den Bewohnern ein Minimum an Komfort und Wohnraum
zu sichern. Die Errichtung war ein Experiment der modernen Städteplanung: Unter der Lei-
tung von LeCorbusier war in den Jahren 1933-41 die „Charta von Athen“ formuliert wor-
den, die das Konzepte der funktional separierten Stadt enthielt. Die funktionalen Räume
sollten folgende Zonierung aufweisen: Die Innenstadt enthielt Verwaltung, Handel, Banken
und Kulturzentren, den Gürtel um die Innenstadt bildeten voneinander getrennte Industrie
und Gewerbezonen und auch Wohnmöglichkeiten. Die Peripherie sollten ein in Grüngürtel
eingebettete Satellitenstädte mit reiner Wohnfunktion bilden, die den Arbeitern der Indust-
riebetriebe als Schlafstädte dienen sollten. Diese kennzeichneten sich besonders durch
hohe, weitläufig auseinander liegende Appartementhäuser mit hoher Wohndichte aus.
Dieses Konzept liegt den Banlieus zugrunde.

Heute bewohnen die Banlieus hauptsächlich Menschen aus den ehemaligen Kolonien,
ohne Arbeit (die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 40%), und ohne Ausweg, denn es gibt keine
oder mangelhafte Anbindung an den ÖPNV; in Clichy-sous-Bois, dem Viertel, in dem die
Unruhen im Oktober 2005 ihren Anfang nahmen, gibt es keine Metro, die nächste Halte-
stelle ist mehrere Kilometer entfernt, und die Busverbindungen sind bescheiden. So ver-
kommt die Bannmeile zur Meile der Verbannten, die Schlafstädte zum Albtraum, in denen
Perspektivlosigkeit, Tristesse und Gewalt zum Alltag gehören.

Aus den ehemaligen roten Ringen der Sozialisten sind nun die grünen Ringe des Islams
geworden. Und die Einwohner klammern sich entfremdet in ihrer neuen Heimat an den
Werten und Bräuchen ihrer alten Heimat fest, um eine Identität zu bewahren und einen
Bezugspunkt zu haben. Dies hat leider zur Folge, dass Frauen verheiratet werden und
Mädchen, die sich den westlichen Werten annähern, in der Vergangenheit häufig zu Op-
fern von Drohungen und Gewalt wurden.

Die Schwierigkeit an den Missständen etwas zu ändern ergibt sich aus den gleichsam in
Beton gegossenen Strukturen: Die funktionale Trennung und Zonierung des physischen
Raumes erschwert die dringen notwendigen Veränderungen im sozialen Raum. Das Ghet-
to degradiert seine Bewohner und bildet ein Reservat der mittellosen Akteure, die sich und
ihren sozialen Raum selbst reproduzieren. Nachdem alle politischen Versuche von Strafan-
drohung, Erhöhung der Polizeipräsenz und kurzfristigen Finanzspritzen nach den Unruhen,
liegt die Hoffnung nun auf den Schultern der Wissenschaft: So soll das pariser Institut für So-
zialwissenschaften in die Banlieus umziehen, um als teilnehmender an dem Geschehen
teilzunehmen und eine genauere Analyse der Konflikte zu ermöglichen.

Daniel Osafo | Handout Banlieus 3

Das könnte Ihnen auch gefallen