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Als das Flugzeug Kloten auf dem schnellsten Weg ver- liess, waren meine Hände wieder mal so
feucht, dass ein Goldfisch darin hätte herumschwimmen können. Um mich auf den eventuellen
Absturz vorzubereiten, griff ich zum «Safety on board»-Prospekt. Gütiger Himmel! Da stand: »Sie
fliegen in einer MD-11«! Also in der Teufelsmaschine mit ihren berüchtigten Unterhaltungselektro-
nik-Kabeln, aus denen die Funken feuerwerksähnlich stieben, bis die Piloten im brennenden
Cockpit niedersinken! Jetzt brauchte ich wirklich einen Freund. »Ich möchte Sie nicht stören«,
sagte ich zur bildschönen Frau neben mir, «aber das ist ein Notfall! Wir fliegen in der tödlichen
MD-11!« Ihre schönen Augen begannen unruhig herumzuwandern. «Aber ich habe doch«, flüsterte
sie, «bei der Buchung ausdrücklich eine Boeing-747 verlangt, alles, nur keine MD-11!« «Zu spät«,
sagte ich nach einem Blick aus dem Fenster. »Ich habe eine zweijährige Tochter und eine
gutgehende Boutique«, flüsterte die Schöne. «Bitte, unternehmen Sie etwas!« Das war aber gar
nicht nötig, denn ein Herr hinter uns war der Swissair ebenfalls auf die Schliche gekommen. «Fräu-
lein«, rief er Richtung Stewardess, »Sie, das ist eine MD-11! Das hat mir aber keiner gesagt! Ich
möchte sofort mit dem Kapitän sprechen!«
Die Stewardess bot ihm einen Cognac an, aber der Herr verlangte kategorisch eine Notlandung.
«Bravo!« rief die Schöne, deren Parfüm umwerfend war. Wenigstens wirst du in einer wunderbaren
Duftwolke abstürzen, sagte ich mir und zog die Schwimmweste an. Das löste in meiner näheren
Umgebung eine kleine Panik aus. »Unter meinem Sitz fehlt der Schwimmgurt!« schrie jemand. Ein
anderer hämmerte mit den Fäusten auf das Fach, in dem er die Sauerstoffmaske vermutete. Der
Chefsteward war auch nicht gerade die Ruhe selbst. »Ladies and Gentlemen«, rief er ins
Mikrophon, »wir bitten Sie, die Schwimmwesten auszuziehen und eine ganz normale Sitzposition
einzunehmen!« Vorn in der Business Class hatten nämlich alle die im »Safety on board»-Prospel<t
für den Fall einer Bruchlandung vorgeschriebene Kopf-zwischen-die-Knie-Hal- tung angenommen.
Dem Chefsteward zuliebe hoben jetzt einige ihre Köpfe, steckten sie aber sofort wieder zwischen
die Knie, als jemand rief: »Rauch! Das Triebwerk brennt!« »Adieu«, flüsterte meine Sitznachbarin
erstaunlich gefasst. »Es war schön, mit Ihnen zu fliegen«, sagte ich leise. Wie durch einen Nebel
hörten wir die Stimme des Flugkapitäns, der uns erklärte, das Triebwerk brenne nicht; bei dem
»Rauch« handle es sich
vielmehr um Wolken, denen man in dieser Flughöhe und Jahreszeit relativ oft begegne. »Gibt es
hier einen Pfarrer?« fragte eine ältere Dame jeden, an dem sie auf dem Weg zur Toilette vorbeikam.
Acht Stunden später landeten wir komplett erschöpft in New York. Einige legten erst im
Zubringerbus ihre Sau- crstoffniaske ab. Die Schwimmwesten durften wir behalten - trotz allem
eine nette Geste der Swissair. Bei der Gepäckausgabe kam es dann zu ergreifenden Szenen: Wir
Überlebenden fielen einander um den Hals, weinten, machten Duzis und gründeten spontan eine
Selbsthilfegruppe ehemaliger MD-ll-Passagiere.
Mit dieser Methode kann man sich aber - und nun wird es für ältere Menschen interessant - auch
kleinere Zahlen gut merken. »Als ich gestern im Schuhgeschäft all die vielen verschiedenen Schuhe
sah«, schrieb mir ein 87-jähriger Anhänger meiner Methode, »wusste ich einen Moment lang nicht
mehr, wie viele Füsse ich habe. Aber dann erinnerte ich mich, dass es bei den Pinguinen die
Königs- und die Kaiserpinguine gibt. Also 2 grosse Arten!«
Traumfigur: Abnehmen
Normalerweise wird in einer Kolumne versucht, dem Leser die grossen Probleme unserer Zeit
verständlich zu machen. Leider musste ich feststellen, dass vielen Leuten gar nicht die
Globalisierung oder die Entlassungswelle am meisten Sorgen macht, sondern ihr Übergewicht. So
schreibt mir z.B. ein Dr. Albert K. aus Winterthur: »Als Insektenkundler lese ich Ihre Kolumne mit
zunehmender Enttäuschung! Nun aber Spass beiseite: Ich möchte abnehmen. Hätten Sie nicht ein
paar Tips?« Natürlich habe ich die, denn auch mir ist es schon passiert, dass ich morgens nackt im
Badezimmer stand und im Spiegel jemanden sah, den ich nicht gleich erkannte, weil ich mich
anders in Erinnerung gehabt hatte. Herr Dr. Albert K. aus Winterthur, jetzt gibt es nur eins. Sie
müssen dieser unförmigen Gestalt, die bei der geringsten Bewegung in einen Tanz des
Überflüssigen gerät, zurufen: »Ich werde Massnahmen ergreifen, die dich zum Verschwinden brin-
gen!« Und hier nun die Massnahmen: Ziehen Sie sofort aus Winterthur, denn dort gibt es zu viele
Geschäfte, die Nahrungsmittel anbieten. Nehmen Sie nichts mit als
Ihre Möbel, Kleider und einen Spielzeugrevolver. Lassen Sie sich in einem Bauerndorf nieder, in
dem es maximal zwei Wirtshäuser und eine winzige Aldi-Filiale gibt. Gehen Sie schon am ersten
Tag in die winzige Aldi-Filiale. Es wird nur eine einzige Verkäuferin dort sein, die gleichzeitig die
Kassiererin ist. Sagen Sie zu ihr: »Bitte schauen Sie mich an!« Sie wird Sie anschauen. Nehmen Sie
jetzt urplötzlich den Spielzeugrevolver aus der Manteltasche, drücken Sie ihn sich an die Schläfe,
rufen Sie: »Wenn Sie mir jemals etwas anderes verkaufen als Mineralwasser, bringe ich mich um!«
Damit fällt die Aldi- Filiale als Kalorienquelle weg. Warten Sie jetzt, bis es dunkel wird und sich die
einzigen beiden Wirtshäuser, der »Ochse« und der »Hirsch« ordentlich mit Leuten gefüllt haben.
Begeben Sie sich zuerst in den »Ochsen«. Bestellen Sie eine Schweinsbratwurst mit einer doppelten
Portion Rösti. Der Teller wird vor Ihnen stehen. Rühren Sie das Köstliche nicht an! Rufen Sie, so
dass es jeder hört, in die Beiz hinein: »Hoppla Schorsch! Drüben im >Hirschen< sind die
Schweinsbratwürste doppelt so dick und halb so teuer!« Werfen Sie empört die Papierserviette und
eine Zwanzigernote auf den Tisch, und schreien Sie, bevor Sie die Tür hinter sich zuschmettern:
»Nur gut, dass ich einen Redaktor vom >Kassensturz< kenne!«
Wiederholen Sie dasselbe im »Hirschen«. Sie werden danach im ganzen Dorf nichts mehr zu essen
finden, bravo! Wenn Sie mit dem Auto gekommen sind, sollten Sie jetzt die Zündkerzen
herausschrauben und im örtlichen Feuerwehrteich versenken. Binden Sie dann leere Kon-
servenbüchsen an Ihre Füsse, denn in den nächsten Tagen könnten sie versucht sein, sich nachts in
den Hühnerstall Ihres Nachbarn zu schleichen, um eins der nahrhaften Wesen notfalls an Ort und
Stelle roh zu verzehren. Der Lärm der Konservenbüchsen wird das verhindern. Weitere
Massnahmen, Herr Dr. K., sind nicht nötig.
Georg hatte massive Sorgen. Ich traf ihn beim Vorverkauf für das Bob-Dylan-Konzert, und er sagte:
»Es ist wegen Simon.« Das ist sein Sohn, den Georg streng biodynamisch erzogen hat.
»Schulprobleme?« fragte ich. »Im Gegenteil! Er ist sogar«, knurrte Georg, »eher ein Streber. Aber
damit hat Angelika mehr Mühe als ich.« Angelika ist Georgs Frau und kämpft seit 1968 gegen das
Leistungsdenken. »Nein«, sagte Georg, »was mir Sorgen macht ist, dass der Bub bald siebzehn wird
und noch kein einziges Mal gekifft hat! Das ist doch nicht normal!« »He komm«, sagte ich, »Georg,
das wird schon noch! Lass ihm einfach ein bisschen Zeit! Vielleicht weiss er ganz einfach nicht, wie
man einen Joint baut.« »Das habe ich ihm doch schon hundertmal gezeigt«, rief Georg, »und
jedesmal sagt er <Super, kann ich jetzt gehen?) Der Junge ist so was von verstockt!« »Und Angeli-
ka«, fragte ich, »unterstützt sie dich?« »Sie hat sogar schon diesen Brechbühl angerufen«, sagte
Georg, »den Mathematiklehrer von Simon. Der Kerl ist in der CDU!« Angelika habe ihn frei heraus
gefragt, »Herr Brechbühl, impfen Sie Ihren Schülern Vorurteile gegen Haschisch ein?« »Er hat es
natürlich abgestritten«, sagte Georg, »und als Angelika ihn fragte <So, und warum kifft unser
Simon dann nicht?hat er uns zu einem Elterngespräch eingeladen! Als ob wir schuld seien an
Simons Horror vor Drogen!«
Georg tat mir wirklich leid. Sein ganzes Leben lang hat er hart gepafft. Vom frühen Morgen bis spät
in die Nacht hinein ist er ununterbrochen stoned gewesen, jahrein, jahraus und bei jedem Wetter.
Das war nicht immer einfach, aber er wusste, wofür er es tat: um eines Tages den Joint an seinen
einzigen Sohn weiterzureichen. »Hilf mir«, sagte er leise, »rede du einmal mit Simon. Auf seinen
Vater hört er nicht, aber dir als Aussenstehendem glaubt er vielleicht.« Nur ein herzloser Lump hätte
nein gesagt.
Schon am nächsten Tag sass ich in Simons Zimmer. »Tolle Poster hast du«, sagte ich, »Oasis,
Smashing Pump- kins, Supergruppen.« »Mmh«, sagte Simon. »Ich hätte jetzt total Lust«, sagte ich,
»deine Poster einmal so richtig in Farbe zu sehen. Und du?« »Die sind schon farbig«, sagte Simon.
»Aber sie könnten noch viel farbiger sein«, säuselte ich und holte das Rizla-Bigsize-Zigarettenpa-
pier hervor. »Kiffen bitte nur im Elternschlafzimmer«, sagte Simon trocken. Dieser Bengel war
wirklich ein Problemhaufen! »Hör zu«, sagte ich eine Spur schärfer, »wenn du deinen Vater nicht
ins Grab bringen willst, rauchst du jetzt mit mir diesen erstklassigen Blütenstaub-Shit aus Marokko!
Kapiert?« Simon stöhnte. »Mann«, sagte er, »kiffen ist megaspiessig!« Unverschämter Lümmel!
»Kiffen ist revolutionär«, rief ich, »schon seit dreissig Jahren! Und jetzt geh in die Küche und hol
uns vier Liter Mineralwasser!« Während er meinen Befehl ausführte, drehte ich kraft der Erfahrung
meines Alters einen extrem geraden, optimal gestopften sogenannt Dreiblättrigen. Simon nahm
auch tatsächlich einen Zug, in Anwesenheit seines Vaters. »Jetzt bist du ein richtiger Mann«,
flüsterte Georg mit Tränen in den Augen.
Wohnungswechsel: Umziehen
Zum Thema Umziehen hier eine faszinierende Fallstudie: Herr Heggenschwiler hat endlich eine
grössere Wohnung gefunden und ruft die Firma Keller, Umzüge aller Art, an. »Um etwas möchte
ich noch bitten«, sagt Heggenschwiler, nachdem er mit Frau Bosch Termin und Preis vereinbart hat,
ich hätte lieber Schweizer Umzugsmänner.« »So?« fragt Frau Bosch und schweigt dann.
Heggenschwiler fühlt sich zu einer Präzisierung genötigt: Er habe, damit das klar sei, überhaupt
nichts gegen Ausländer, aber voriges Mal hätten sie ihm Jugoslawen geschickt, und am Schluss
seien drei Kristallgläser kaputt gewesen, obwohl er auf die Kiste deutlich »Achtung zerbrechlich!«
geschrieben habe. »Oje«, sagt Frau Bosch. »Eigentlich halb so schlimm«, sagt Heggenschwiler und
ist zu einem Kompromiss bereit: »Wenn Sie keine Schweizer haben, dann bitte wenigstens
Ausländer, die lesen können, was man auf eine Kiste schreibt.« »Da muss ich mal nachschauen«,
sagt Frau Bosch - nein am 24. könne sie wirklich nur Herrn Kladic und Herrn Bosjanovic aufbieten.
»Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagt Frau Bosch, »ich schicke Ihnen gratis noch einen
Portugiesen vorbei.« »Aha«, sagt Heggenschwiler und erinnert sich daran, wie er in Lissabon
plötzlich ohne Koffer dastand, und die Polizei überhaupt nichts unternommen hat. Deshalb ist er mit
der von Frau Bosch vorgeschlagenen Ausländerkombination gar nicht glücklich: »Denken Sie bitte
nichts Falsches über mich«, sagt er, »aber ein Italiener wäre mir jetzt doch lieber.« »Anstelle der
Jugoslawen?« fragt Frau Bosch. »Nein, anstelle des Portugiesen«, sagt Heggenschwiler, »oder
hätten Sie denn drei Italiener?« Frau Bosch lacht. »Das war einmal, Herr Heggenschwiler. Ein
Italiener hat heutzutage ein eigenes Transportunternehmen!« »Ja so«, sagt Heggenschwiler, der es
jetzt bereut, dass er nicht bei einem italienischen Umzugsunternehmen angerufen hat, wo er
bestimmt drei Italiener, vielleicht sogar aus dem Norden, bekommen hätte. »Aber noch ist nicht
aller Tage Abend«, sagt Frau Bosch, wenn Sie einen Tag später umziehen könnten, hätte ich für Sie
ein Superan- gebot!« Am 25. seien nämlich zwei Tamilen noch nicht gebucht. »Und wo ist der
Haken?« fragt Heggenschwiler scherzhaft, um das Gespräch ein wenig aufzulockern und Frau
Bosch darauf vorzubereiten, dass Tamilen für ihn nur in Frage kommen, wenn sie aus der
Hauptstadt Co-lombo stammen. Sein Bruder war dort nämlich einmal auf Geschäftsreise und
wusste nur Gutes zu berichten. »Also Haken würde ich nicht sagen«, sagt Frau Bosch, »aber die
beiden Tamilen kann ich Ihnen am 25. leider nur zusammen mit einem jugoslawischen Fahrer
geben.« »Warum auch nicht«, sagt Heggenschwiler, der jetzt seine ganze Hoffnung in die Tamilen
setzt. »Wissen Sie zufällig, ob die aus Colombo stammen?« »Moment«, sagt Frau Bosch, und dann
gleich: »Oje«, denn einer ist in Jaffna und der andere in Trincomalee geboren. »Geht das für Sie?«
fragt Frau Bosch. »Es muss«, sagt Heggenschwiler und versteht plötzlich nicht mehr, warum er ums
Verrecken eine grössere Wohnung haben musste.
NACHBARN – DAS RISIKO EINER SILVESTERFEIER
Als politisch und menschlich unbequemer Kolumnist hat man nur einen einzigen Freund: seinen
Anwalt. Wenn dieser über Neujahr nach Thailand verreist, hockt man am Silvesterabend natürlich
mutterseelenallein vor der Tischbombe. Mir persönlich wäre das egal, aber unsere Gesellschaft ist
einsamen Menschen gegenüber nicht so tolerant wie ich, schon gar nicht an Silvester. Wer sich um
Mitternacht, wenn die Glocken läuten, im Badezimmerspiegel mit einem Glas Champagner selbst
zuprostet, wird als »Sonderling« oder »beziehungsunfähiger Computerspezialist« diskriminiert!
Damit muss Schluss sein!, sagte ich mir voriges Jahr und entwickelte eine Strategie zur Täuschung
der Nachbarn. Zwei Tage vor dem verhassten Jahreswechsel setzte ich mich in ein überfülltes
Szene-Lokal. »Was willst du denn mit dem Tonband?« fragte mich der Kellner. »Ich brauche
Stimmengewirr, Gelächter und Hintergrundmusik für meine Silvesterparty«, sagte ich
wahrheitsgemäss. Nun fehlten mir aber noch Treppenhausgeräusche, denn irgendwie mussten die
Leute ja in meine Wohnung kommen. Es war eine harte Nuss! »Herrgott«, dachte ich, »schon der
30. Dezember, und du hast immer noch kein Getrampel von Gästen!« In der Not schaltete ich eine
Fernsehsendung über Huftiere in der Serengeti ein und
nahm das Geräusch einer fliehenden Zebraherde auf. Dann besorgte ich mir eine Familienpackung
Konfetti, vierundzwanzig Flaschen Sekt und sechs kleine Hochlei- stungs-Lautsprecher, die ich in
der Nacht vor Silvester im Treppenhaus versteckte. Geradezu diabolisch-genial war aber mein
Einfall mit dem Flugblatt. Ich schrieb: »Liebe Nachbarn, heute ist Silvester, und da feiert man
bekanntlich mit seinen vielen Freunden, manchmal halt auch bis in die frühen Morgenstunden. Bitte
haben Sie Verständnis dafür, dass meine Party vielleicht etwas laut werden wird!« Am 31.
Dezember bei Tagesanbruch steckte ich in jeden Briefkasten eine Kopie. Dann stellte ich den
Wecker auf 21 Uhr.
Nach unruhigem Schlaf startete ich die zweite und entscheidende Phase: die Party! Ich legte die
Kassette mit der Zebraherde ein und spielte über die Treppenhausboxen zunächst nur eine kurze
Trampelsequenz ab. Es klang, als rasten drei oder vier Gäste in Stepptanzschuhen in den dritten
Stock hoch. Parallel dazu liess ich erste Partygeräusche los, deren Lautstärke ich bis 23 Uhr 15
kontinuierlich steigerte. Um halb zwölf drehte ich voll auf! Die Stimmung erreichte ihren
Höhepunkt, aber wie bei jeder Party hatte auch hier der Gastgeber am wenigsten davon. Einerseits
musste ich wie zwanzig tanzende
Personen in der Wohnung herumstampfen, andererseits - und da begann der Stress erst wirklich -
punkt Mitternacht meine zwei Dutzend Sektflaschen knallen lassen und erst noch die
Familienpackung Konfetti zum Fenster hinaus streuen.
Aber insgesamt war die Party ein voller Erfolg, denn gegen drei Uhr klingelten zwei leibhaftige
Polizisten. Sie baten mich, darauf zu achten, dass meine Gäste beim Verlassen des Festes nicht »wie
eine Herde Wasserbüffel« das Treppenhaus hinuntertrampeln - ein Nachbar habe sich beschwert.
Früher haben die Leute viel mehr Kontakt miteinander gehabt. Das muss grauenvoll gewesen sein!
Mein Grossvater erzählte mir kürzlich, er habe, wie das damals üblich gewesen sei, seinem
Briefträger zum Geburtstag immer einen Rössli-Stumpen geschenkt. »Vielleicht war er aber
Nichtraucher«, gab ich zu bedenken, »und wusste gar nicht, wohin mit den vielen Stumpen.« »Nein,
es hat ihn gefreut«, sagte mein Grossvater, »sonst wäre er sicher nicht mit 39 Jahren an
Lungenkrebs gestorben.« 0 mein Gott, dachte ich, dieser Briefträger musste jung sterben, weil er in
einer Zeit lebte, in der die Menschen noch miteinander redeten! Mit zwanzig hatte er sich für den
Briefträgerjob entschieden, weil er gern an der frischen Luft war.
Aber die Realität sah anders aus: Dauernd wurde er in verrauchte Stuben zum Kaffee eingeladen
von Leuten, die gefährlich viel Zeit für ein Schwätzchen hatten. Schon um zehn Uhr vormittags war
er ein koffeinverseuchtes Nervenbündel! Seine Hände zitterten so stark, dass ihm die Briefe
davonflogen! Leise öffnete er das nächste Gartentor, auf Zehenspitzen schlich er zum Briefkasten.
Aber während er noch betete: »Allmächtiger, beschütze deinen Postier und mach, dass Frau Blaser
mich nicht hört!«, riss dieselbe die Haustür auf und
rief: »Sie sind ja ganz bleich! Ein Tässchen Kaffee wird Ihnen guttun!« Die Geburtstage ruinierten
seine Gesundheit dann vollends.
»Herzlichen Glückwunsch!« riefen die geselligen Nachbarn und steckten ihrem Briefträger
bombastische Stumpen in die Jackentasche. »Und jetzt noch ein Schnäpschen!« riefen sie, so dass
der arme Kerl, der Nichtraucher war und vom Alkohol Ausschläge kriegte, rauchte und soff, bis der
Pfarrer eine Handvoll Erde auf ihn hinunterwarf.
»Das ist das wahre Gesicht deiner guten alten Zeit mit all ihrem zwischenmenschlichen
Schnickschnack«, sagte ich zu meinem Grossvater. Wieviel besser hat es da der heutige Briefträger!
Keiner im Quartier kennt ihn, folglich schenkt ihm auch niemand schädliche Genussmittel. Wenn er
nicht versehentlich von einem Hausbesitzer, der ihn für einen Einbrecher hält, erschossen wird,
kann er ein hohes Alter erreichen.
»Früher«, sagte mein Grossvater altersstur, »hat man am Schicksal anderer noch Anteil
genommen.« »Weil es nur einen einzigen Fernsehsender gab«, rief ich, »und noch überhaupt keine
Talkshows!« »Und wenn man ins Tram einstieg«, murmelte mein Grossvater, »hat man >Grüezi
mitenand< gesagt.« »Das ist heute medizinisch
erklärbar«, sagte ich, »man nennt es Palilalie, pathologische Schwatzsucht.«
Mir kam wieder der frühverstorbene Briefträger in den Sinn. Wenn die Leute damals Palilalie-
hemmende Medi kamente geschluckt hätten, könnte der Mann heute noch leben! Denn dann hätte
er, ohne dauernd von Mitmenschen angequatscht und mit Stumpen vergiftet zu werden, in aller
Anonymität und Ruhe seine Post austragen können.
PS: Heute begegnete ich unserem Briefträger. Er sagte: »Tag!« »Sind Sie verrückt?« zischte ich ihm
zu. »Wissen Sie nicht, wie gefährlich es für Briefträger sein kann, wenn die Bevölkerung Kontakt
mit ihnen hat?!«
Thema Nr. 1: Vor einiger Zeit rief mich ein Bekannter an: »Du glaubst es nicht«, sagte er, »sieben
Monate war ich arbeitslos, und jetzt habe ich wieder einen Job!« »Super«, sagte ich, »und als was?«
Es stellte sich heraus, dass er jetzt selbständiger Vergangenheitsbewälti- ger war. »Das boomt«,
sagte er. »aber du bist doch Architekt«, wagte ich einzuwenden, »ich war es, mein Lieber, ich war
es... Jetzt bewältige ich Vergangenheiten aller Art zu einem einmalig günstigen Tagessatz.« Soeben
habe er einen Grossauftrag an Land gezogen: »Ich soll für das schwedische Aussenministerium die
Zeit von 1941 bis 1944 bewältigen; die restlichen Kriegsjahre haben sie einem Hinterhofbewältiger
überlassen, der mit Dumpingpreisen den Markt ruiniert«, sagte mein Bekannter sorgenvoll. »Aber
vier Jahre sind auch nicht schlecht!« rief er dann wieder optimistisch. »Super«, sagte ich, »und wie
arbeitet so ein Bewältiger?« »Im Prinzip wie Thomas Borer«, sagte er, »kommunizieren, hier etwas
eingestehen, dort etwas herunterspielen, und vor allem Bankette.« Die Vergangenheit von Staaten
werde hauptsächlich an Banketten bewältigt, sagte er und erwähnte beiläufig, dass er bereits
expandiere: »Japan ist der absolute Topmarkt in meiner Branche.« Aber bei den Japanern dürfe man
nichts überstürzen: »Wenn ich denen gleich eine Totalbewältigung des Weltkriegs anbiete,
verneigen die sich, und fort sind sie!« Um ihr Vertrauen zu gewinnen, habe er ihnen die
Bewältigung der vollkommen harmlosen Jahre 1867 bis 1899 angeboten, »zum halben Tarif,
inklusive zweier Gratisjahre«. »Super«, sagte ich. »Und wenn sie dann soweit sind«, sagte mein
Bekannter, »verkaufe ich ihnen den Überfall auf China zusammen mit Pearl Habor als
Bewältigungspaket 2 für 1.« »Und Cotti, das Nazigold?« fragte ich, »ich meine wir hätten doch
auch eine einheimische Vergangenheit ...« »Wo lebst du denn!« rief mein Bekannter. Als
selbständiger Unternehmer müsse er global denken - »der Schweizer Markt ist praktisch tot«, sagte
er bitter, »abgegrast von Historikern mit Staatsgehältern. Die bewältigen dir einen Weltkrieg zu
einem Tarif, bei dem ich die Bude zumachen müsste!« »Mist!« sagte ich. »Genau«, sagte er; in der
Schweiz lohne es sich nur, wenn man nebenbei noch die Vergangenheit mittelgrosser Firmen und
vermögender Privatpersonen bewältige. Jetzt müsse er aber auflegen; er erwarte einen Anruf von
Bundesrat Villiger. »Hoppla!« sagte ich. »Verglichen mit Japan ein kleiner Fisch«, sagte er
grossmännisch; Villiger - das müsse unter uns bleiben - sei mit der Bewältigung der Vergangenheit
der Firma Villiger in den Jahren
33 bis 45 noch nicht restlos zufrieden. »Nur ein paar Details, die ich meiner Assistentin zur
Bewältigung übergebe«, sagte mein Bekannter und beendete das Gespräch mit Grüssen an meine
Frau.
Thema Nr. 2: Kürzlich habe ich damit begonnen, die Vergangenheit unseres Quartierbäckers zu
bewältigen. Seit er im Vollsuff in sein Schaufenster gepinkelt hat, wollen die Leute keine Kuchen
mehr bei ihm kaufen. Ich kommuniziere, gestehe hier etwas ein, spiele da etwas herunter, und schon
kehren die ersten Kunden zurück. Geplant ist ein Gratismorgen in der Bäckerei. Es macht Spass; ich
glaube, es ist ein Job mit Zukunft.
Geht es Ihnen auch so? Sie schauen sich im Fernsehen den »Ziischtigsclub« an und stellen fest, dass
die Gesprächsteilnehmer vom Thema überhaupt nichts verstehen. »Dieser Psychologe verzapft ja
den ärgsten Bockmist!« sagen Sie zu Ihrem Ehepartner. Wenn irgendeine Schauspielerin eine
haarsträubende Behauptung aufstellt, rufen Sie: »Blödsinn! Genau umkehrt ist es!« Sie spüren, dass
eigentlich Sie im Studio sitzen müssten. Erst dann bekäme die Diskussion die nötige Tiefe. Aus-
serdem würden Sie Ihre Meinung viel pointierter formulieren als diese Westentaschengäste. Ein
leidiges Problem! Also habe ich mir vor einer Woche ein Ledersofa gekauft, dazu vier gestreifte
Sessel, zwei Beistelltischchen und ein Stück Plexiglas. Im Bastelkeller leimte ich aus Hartkarton
einige Mikrophonattrappen zusammen, die ich mit Wasserfarbe naturalistisch anmalte. Nun zerteilte
ich das Plexiglas, sägelte mit der Laubsäge die Buchstaben CLUB heraus und befestigte die Logos
an den Mikrophonattrappen. Es sah mordsprofessionell aus! Im Wohnzimmer war schon alles
bereit, die Rolläden heruntergelassen, die Lampenschirme so gedreht, dass sie wie Scheinwerfer
aussahen: mild beleuchteten sie die gestreiften Sessel, die ich im Halbkreis um das Sofa gruppiert
hatte. Dahinter stand auf dem Stativ meine Videokamera, die eine sehr studiomässige Atmosphäre
verbreitete. Mit feuchten Händen - leichtes Lampenfieber! - stellte ich eine Karaffe mit
Mineralwasser und eine mit Weisswein auf die Beistelltischchen, atmete tief ein, klingelte bei mei-
nen Nachbarn und lud Herrn Breitinger, einen pensionierten Buchhalter, Frau Bloch, eine
geschiedene Alleinerziehende, und Herrn Hug, unseren Hauswart, zu einem Gespräch über
»Flugangst - ist sie heilbar?« ein. Etwas befangen setzten sie sich in die gestreiften Sessel. »Es ist
schön«, sagte Frau Bloch und räusperte sich, »dass man sich einmal kennenlernt.« »Pst!« sagte ich,
denn die Videokamera lief schon. »Guten Abend, meine Damen und Herren, liebe Zuschauer«,
sagte ich ins Kartonmikrophon, »heute habe ich eine hochkarätige Runde zum Thema Flugangst bei
mir.« Ich stellte zuerst Frau Bloch vor, dann Herrn Hug, der mich aber unterbrach: »So, Sie sind
geschieden?« sagte er zu Frau Bloch. »Das wusste ich gar nicht.« »Das ist doch kein Verbrechen«,
sagte Herr Breitinger und liess seine stark zitternde Hand schützend auf Frau Blochs Knie fallen.
Ein Fiasko bahnte sich an, so dass ich die Vorstellungsrunde abbrach und gleich zum Thema kam:
»Herr Breitinger, Sie waren Buchhalter. Jeder dritte Schweizer leidet unter Flugangst. Haben Sie ein
Rezept?« Herr Breitinger murmelte etwas. »Sie müssen ins Mikrophon sprechen«, sagte ich. »Ich
bin Witwer«, rief Herr Breitinger in meine täuschend echte Attrappe, »und möchte bei dieser
Gelegenheit Frau Bloch fragen, ob sie mir nicht jeweils am Freitag die Wäsche machen könnte?« In
diesem Stil ging es weiter. Als Abwart Hug dann im Alleingang den Weisswein austrank und
versehentlich die Videokamera umwarf, packte ich meinen selbstgebastelten »Ziischtigsclub«
wieder zusammen. Dabei hätte ich zu meinem Gesprächsthema soviel Gescheites zu sagen gehabt!
Hier eine Geschichte zum Thema Kunst. Als mich ein Freund zur Show des britischen Komikers K.
einladen wollte, drehte ich durch. »Danke, nein«, schrie ich ihn an, »ich bin doch nicht
lebensmüde!« Aus der Zeitung wusste ich nämlich, dass dieser K. zu jenen Künstlern gehört, die
mitten im Programm auf einen Herrn mit Schnurrbart zeigen und rufen: »Sie da, Sie mit der Lip-
penbehaarung! Kommen Sie bitte auf die Bühne, ich brauche einen Assistenten!«
Natürlich schüttelt das Opfer heftig den Kopf. Nützt aber nichts! Denn der verfluchte Künstler
macht das Publikum zu seinem Komplizen: »Der Herr hat ein bisschen Lampenfieber, das ist ganz
normal. Bitte unterstützen Sie ihn durch einen kräftigen Applaus!« Logischerweise klatscht der
ganze Saal wie wild, denn jeder ist daran interessiert, dass das Opfer endlich auf die Bühne klettert.
Andernfalls besteht die Gefahr, dass man selbst rauf muss. Der Schnurrbärtige aber hält sich tapfer
am Arm seiner Frau fest, deren Gesicht die Farbe eines indischen Sonnenuntergangs angenommen
hat. »So geh doch endlich! Feigling!« zischt sie ihm ins Ohr. Das gibt dem Opfer den Rest. Von der
eigenen Frau verraten, liefert der Herr sich dem Künstler aus, der ihm natürlich sofort die Haare
zerstrubbelt. Dann wird er un
ter dem Gelächter der Wölfe gefragt: »Tragen Sie eigentlich eine zu Ihrem Schnurrbart passende
Unterhose?« Solche Künstler sollte man bombardieren! Mir stinkt es nämlich, dass ich ihretwegen
immer auf den billigsten Plätzen in der hintersten Reihe sitzen muss. Dort ist man vor ihnen zwar
einigermassen sicher, hat aber schlechte Sicht auf die Bühne und die Zuschauer, die dort fertigge-
macht werden.
Einmal im Zirkus Knie rief ein Clown: »Ich brauche Hiii- ilfe von einem starken Maaa-ann!« Der
Scheinwerfer tastete ausgerechnet die hinterste Reihe ab, also meine. Ruhig bleiben, sagte ich mir,
der erwischt dich nicht, der nimmt jemanden aus den vorderen Reihen. Aber plötzlich strahlte mir
der Scheinwerfer direkt in die Augen, und der Clown rief: »Da ist ja ein starker Maaa-an!« Wer das
einmal erlebt hat, wird mir verzeihen, dass ich einer Mutter, die neben mir sass, ihr kleines Kind
entriss und mir auf den Schoss setzte. Als der Clown sich durch die dichtbesetzte Reihe mir
entgegenpflügte, rief ich: »Ich kann leider nicht mit Ihnen in die Manege kommen! Sie sehen ja,
mein Kind schreit wie am Spiess, und meine Frau ruft nach der Polizei!«
An dieser Stelle möchte ich alle Clowns, Komiker und sonstigen Elemente, die gern mit
Zuschauern arbeiten, dazu auffordern, ihren Job gefälligst allein zu machen! Ein Chirurg stellt sich
vor einer Operation auch nicht auf die Strasse vor dem Spital und drückt einem Passanten das
Skalpell in die Hand mit den Worten: »Gehen Sie mal in den OP 3 und holen Sie dem Kerl, der dort
schläft, die Nierensteine raus!« Ich möchte endlich in der ersten Reihe sitzen können, und zwar
ohne Gaspistole im Sack!