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Zwei Soziologen entdecken eine neue Form des Kapitalismus: Er schöpft aus
Mode, Luxus, Kunst und Tourismus. Kann das stimmen?
S ollte sich die zentrale These dieses Buches belegen lassen, dann wäre das sensationell.
Dann erlebte der globale Kapitalismus gerade eine Verwandlung von einer Tragweite, die
der Ablösung von Ackerland und Vieh durch Kohle und Erdöl als zentrale
Wertschöpfungsquellen im 19. Jahrhundert vergleichbar wäre. Dann würde sich Reichtum heute
immer weniger aus fossilen Rohstoffen speisen und immer mehr aus den immateriellen
Rohstoffen des Geistes – aus den Erzählungen, die Dingen, Orten und Personen Wert verleihen.
Dann wären alle, deren Werke hier verhandelt werden, alle, die darüber schreiben, und alle, die
darüber lesen, an der Zunahme der globalen Vermögen beteiligt – allerdings nur jener derer,
die bereits vermögend sind.
Hätte dieses Buch recht, dann wäre neben der Deregulierung der Finanzmärkte seit den
siebziger Jahren eine neue Erklärung gefunden für die beständige Zunahme der Einkünfte durch
Vermögen gegenüber den Einkünften aus Arbeit. Dann schöpften die Reichen ihren Reichtum
nicht mehr bloß aus der Ausbeutung der Armen; sondern entscheidend aus der Ausbeutung
der Reichen: jener, die sich einzigartige Reisen, Kunstwerke und Luxusgegenstände leisten
können. Und würden damit alle immer reicher. Und das mittels des Rohstoffs, den wir alle
pflegen, wenn wir schöne, gute, wahre Dinge herstellen, von ihnen sprechen und sie genießen:
Kultur.
Diese wurde von den Sozialwissenschaften immer im Konflikt mit der Ökonomie gesehen, so
wie auch Walter Benjamin im Luxuskonsum ein Bollwerk gegen die Gleichmacherei des
Kapitalismus sah. Dieses Buch dagegen tut, wovon es behauptet, dass es zumindest die
französische Kulturpolitik seit dem Kultusminister und Deleuze-Verzwecker Jack Lang in den
achtziger Jahren tue: Es führt Kultur und Ökonomie als untrennbare Teile desselben Systems
ineinander.
Der Luxus der Jahrhunderte: Ein Model präsentiert ein Stück aus der „Gucci Cruise Collection 2019“ in
der römischen Grabstätte Alyscamps in Arles. Bild: AFP
Einer seiner Autoren, Luc Boltanski – Bruder des bekannteren Künstlers Christian Boltanski –,
zählt zu den bedeutendsten Soziologen Frankreichs. Sein 1999 gemeinsam mit Ève Chiapello
veröffentlichtes Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ wird regelmäßig zitiert, wenn es um
den „immateriellen“ oder „mentalen“ Kapitalismus geht, der seine Gegner immunisiert, indem
er sich deren Ideale – Kreativität, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung – als
Managementtugenden zu eigen macht und so ihre Ziele untrennbar mit seinen vermischt.
Noch immer arbeite sich die Kapitalismuskritik an der Industriegesellschaft ab, kritisieren
Boltanski und Arnaud Esquerre in ihrer 679 Seiten starken „Kritik der Ware“, obwohl die lange
in sogenannte Schwellenländer ausgelagert sei. Statt einer Konsumgesellschaft bilde der
Westen heute eine kommerzialisierte Gesellschaft (die schon Ulrich Bröckling im
„Unternehmerischen Selbst“ beschrieb), in der jeder nicht nur Konsument, sondern auch
Händler ist, und in der noch das lästigste Familiengut, das überholteste Auto und die
entvölkertste Region mit neuem Wert versehen werden können – durch die Inszenierung der
Geschichte der Familie, der Region oder des Unternehmens zur Umschmeichelung des
differenzierenden Kennerblicks, den der Qualitätstourist mit dem Kunstsammler teilt und der
zunehmend auch dem Discounter-Kunden nahegelegt wird.
Das Buch ist voller neuartig klingender Wörter wie „Gastronationalismus“, „Kunstwerdung“,
„Seltenheitseffekt“, „Kulturerbeeffekt“ oder „Mode-, Kultur- und Geschmacksdarsteller“. Es
zitiert aus dem blühenden Zweig der Reichenforschung, aus kulturpolitischen Konzepten und
aus Leitfäden des Tourismusmarketings. Und führt so drei Felder zusammen, die bislang nur
getrennt voneinander untersucht wurden, obwohl sie sich ihre Zielgruppe und deren Wachstum
teilen: die Künste (deren Institutionen, Zuarbeiter, Studiengänge und Preise zunehmen), die
Luxusindustrie (deren weltweite Exporte sich während der nuller Jahre fast verdoppelten) und
den Tourismus (der sich seit 1950 weltweit vervierzigfacht hat und mit 7,4 Prozent Anteil am
Bruttoinlandsprodukt für Frankreichs Wirtschaft so wichtig ist wie die Automobil- und die
Flugzeugindustrie). Gemeinsam bildeten sie eine „Bereicherungsökonomie“, eine „Ökonomie
der Vergangenheit“, in der der größte Profit nicht mehr in der Herstellung von möglich viel des
Gleichen liege, sondern in sammlungswürdigen Einzelstücken und Erfahrungen.
Dafür entwerfen die Autoren eine neue Werttheorie, die zwischen vier
„Wertermittlungsformen“ unterscheidet: der Standardform (das Auto, dessen Gebrauchswert
mit dem Alter sinkt), der Trendform (neue Mode mit schnellem Wertverfall), der Anlageform
(Oldtimer oder Kunstobjekte, die sich in eine Geschichte einschreiben und Wertsteigerung
versprechen) und der Sammlerform (Dinge, die man haben muss, weil sie mit einer bestimmten
Geschichte verknüpft sind). Die letzteren beiden bestimmten zunehmend die Art, wie Waren
lanciert und konsumiert würden: Die Kunst wird zur paradigmatischen Wertschöpfungsform.
Wein als nationales Naturgut: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf der 55. Internationalen
Pariser Landwirtschaftsmesse Bild: dpa
Auch Nationalparks, Weltkulturerbestätten und eine Denkmalschutzpolitik, die die Aufwertung
erinnerungswürdiger Immobilien mit Steuervergünstigungen fördert, verstehen die Autoren als
Teil dieser Ökonomie, in der „Narrativität das bevorzugte Wertschöpfungsverfahren“ ist.
Entsprechend taucht Arbeit in dieser Ökonomie als erzählte Arbeit auf, als Fiktion des
handgemachten, ursprünglichen, unkopierbaren Einzelstücks. So wie die Arbeit des
preisgekrönten Messerschmiedes im Städtchen Laguiole im Aubrac, der vor den Augen der
durch die Messerschmiede strömenden Touristen messerschmiedend für die lokale Tradition
der Messerschmiedekunst einsteht – bei der es sich um eine Erfindung von Gemeinderäten
handelt, die in den achtziger Jahren nach Wegen suchten, Arbeit in ihre deindustrialisierte
Kleinstadt zu bringen.
Das ist eine der Pointen der postindustriellen Gesellschaft, die dieses Buch herausarbeitet: Die
Industrialisierung hatte die Manufakturen abgelöst. In der Bereicherungsökonomie, die auf das
Sammeln unkopierbarer Objekte und Erfahrungen baut, lösen die Manufakturen wieder die
Fabriken ab. Und Landwirte werden per Subventionen zu Landschaftsgestaltern.
Am Beispiel Laguiole führen die Soziologen vor, wie „Patrimonialisierung“ funktioniert, die
Verwurzelung von Dingen in einer Region, die letztlich zum branding der Nation beiträgt.
Frankreich wäre dann die Summe der Erzählungen, welche bestimmte Dinge mit der Marke
Frankreich verknüpfen. Laguiole beschreiben die Autoren als „quasi musealen Raum“, als
„lebendiges Museum“, und wenn jetzt jemand an Michel Houellebecqs in einen Frankreich-
Erlebnispark umgewertetes Frankreich in „Karte und Gebiet“ denkt: Das tun die Autoren auch.
Und weisen darauf hin, dass sich in London eine ganze Szene von Agenturen gebildet hat, die
darauf spezialisiert sind, Regionen zu vermarkten. Wie von einem Industriegebiet könne man
von einem „Bereicherungsgebiet“ sprechen. Und diese Gebiete wüchsen vor allem an den
Küsten Frankreichs, wo die Zahlen von Zweitwohnungen, Pensionisten und Hausangestellten
zunehmen, aber auch auf dem Land, wie im Aubrac. Während industriell geprägte Regionen
wenig von der Bereicherungsökonomie profitierten, was sich in wachsenden Stimmanteilen für
den Front National niederschlage.
Dass die Reichen den lukrativeren und schneller wachsenden Markt bilden als die breite Masse,
hat man schon früh in den Konzernen LVMH (Moët Hennessy – Louis Vuitton) und Kering
(früher Pinault) verstanden, in denen man sich seit der Jahrtausendwende von allen
Beteiligungen an Herstellern von Massenprodukten getrennt und auf Weingüter, Schmuck und
Modeunternehmen wie Gucci und Balenciaga konzentriert hat, mit denen Gewinnspannen von
bis zu dreißig Prozent zu erzielen sind. Kering-Eigner François Pinault besitzt nicht nur das
mächtigste Kunstauktionshaus Christie’s, sondern ist, wie LVMH-Chef Bernard Arnault, einer
der größten Sammler zeitgenössischer Kunst, unterhält zwei
Ausstellungshäuser in Venedig und eins in Paris – und kann damit
so ziemlich jedes exquisite Bedürfnis befriedigen, vom Reiseziel
über das Reiseoutfit und den Wein bis zum wertstabilen
Kunstobjekt für zu Hause.
Durch dieses zirkelhafte enrichissement (was sowohl Be- wie Anreicherung bedeutet) gewinnen
alle: die Winzer, ihre Dörfer, die Sammler, die Stars, die Museen, die im Erfolgsfall expandieren
nach Bilbao oder Abu Dhabi, die Viertel, in denen die Museen, Galerien, Boutiquen und
Boutiquehotels stehen – vor allem aber die Eigner der Immobilien. Verlierer sind die, die keine
Geschichte zu verkaufen haben. Und die der Wertsteigerung im Weg stehen, weil sie das Bild
stören, weil sie als Sicherheitsrisiko gelten oder weil sie arm sind – es sei denn, ihre Armut füge
sich als „typisch“ in die Verwertungsmasse ein.
© Beyoncé / Youtube
Dass sie sich auf Beispiele aus Frankreich beschränken, rechtfertigen die Autoren damit, dass
der von ihnen beschriebene Wirtschaftstypus dort am weitesten entwickelt sei (130 der 270
„Prestigemarken“ auf der Welt stammen aus Frankreich). Das könnte man ihrerseits als
erzählerische Anreicherung mittels Zirkelschluss auslegen. Wie sie überhaupt viel Stoff
ansammeln, der recht lose nebeneinandersteht: die übersichtliche Zahl an Fallstudien, Szenen
aus Balzacs „Vetter Pons“ als paradigmatischer (aber nicht sehr zeitgemäßer) Sammlertypus
und eben die Theorie, die ihre Schlüssigkeit in sich durch eine mathematische Formalisierung
am Ende des Buches belegt.
Treffen die Thesen also zu, und wenn ja, wie neu wäre das? Die Organisation der Welt als
Ausstellung voll begehrenswerter Souvenirs und Reiseziele, auch über die Inszenierung der
Vergangenheit, steht im 19. Jahrhundert am Ursprung von Tourismus und Massenmarkt. Ihren
Vulgärformen begegnet man aber tatsächlich zunehmend in den meisten Metropolen und in
jedem zum Luxushotel umfunktionierten Bauernhof. Auch der Industriekapitalismus, erinnern
die Autoren, habe in wenigen englischen Landkreisen begonnen.
Neu ist die Frenetisierung der Öffentlichkeit durch die Digitalisierung, in der Markenwert und -
reichweite zum zentralen Kapital geworden sind. Diese zwingt tatsächlich jene, die Dinge
bestaunen, in eine engere Komplizenschaft mit jenen, die sie sich leisten können. Blickkontakte
rechtfertigen Preise – das legte Christie’s-Chef Brett Gorvy vor vier Jahren offen, als er einen
neuen Preisrekord für einen Francis Bacon mit dem weltweit wachsenden Interesse an Kunst
rechtfertigte.
Wer dieses Buch liest, meint die Logik hinter der wundersamen Rede vom „globalen
Wettbewerb der Narrative“ im Koalitionsvertrag zu verstehen. Es beschreibt eine Ökonomie,
die ihre Teilnehmer in einen Wettkampf um Durchsetzung zwingt, in das Ringen um den
Alleinverfügungsanspruch über ihre Erzählungen. Es steht vor dem zentralen Begriff der
Erzählung ein Elefant im Raum: die Identität. Sie ließe sich rückstandsfrei einsetzen. Der
Einsatz im Messerkampf von Laguiole, in dem sich die um ihre Geschäftsgrundlage bangenden
Unternehmer gegen die Kaperung ihrer Standortmarke wehren, ist das terroir: Unsere Messer
sind die echten, denn sie sind aus unserem terroir. Wenn nicht nur Unternehmen, sondern auch
Regionen und Personen in Pflege und Ausbau ihres eigenen Markenwertes eingespannt sind,
dann kämpfen alle gegen alle. Und es bleiben wenige Kapazitäten, um in Formen zu denken und
zu träumen, die frei sind von den Zwängen der eigenen Existenzerhaltung.
Luc Boltanski und Arnaud Esquerre: „Bereicherung. Eine Kritik der Ware“. Suhrkamp, 730 Seiten, 48 Euro
Quelle: F.A.S. Hier können Sie die Rechte an diesem Artikel erwerben.
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des menschlichen Denkens und Miniaturen in realen Welten so, dass
Handelns, die im Rausch zutage sich alles zu einem perfekten Bild
treten. fügt.
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