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W e n n Franz W i c k h o f f , g e b o r e n 1853 im
oberösterreichischen Steyr u n d verstorben
1909 in Venedig (Abb. i) 1 , positiv v o n Lehrer
o d e r Schülerschaft sprach, so o f f e n b a r vor allem,
u m d e n H i s t o r i k e r T h e o d o r v o n Sickel (1826
1908) u n d d e n A r c h ä o l o g e n Alexander C o n z e
(18311914) als seine eigentlichen Lehrer zu dekla
rieren 2 . Von schulmeisterlicher Attitüde hingegen
hielt er w e n i g : „ D i e Schulmeister m ö c h t e n u n s
gar zu gerne g l a u b e n m a c h e n , Literatur u n d
Kunst entwickelten sich in geraden Linien, erst ei
ner lobenswert aufsteigenden, d a n n in einer abfal
lenden, die sehr zu tadeln sei, d a m i t sie sich selber V
auf d e n Gipfel der Pyramide t r ä u m e n k ö n n e n , w o
sie gütig, sei es d e m Sophokles, sei es d e m Phidias
die wohlverdienten Siegeskränze reichen" 3 .
Trotz dieser ebenso typischen wie gern zitierten
Invektive w i r d d e r s e l b s t e r n a n n t e S p r ö ß l i n g
zweier n o r d d e u t s c h e r Gelehrter n i c h t n u r als der
erste Vertreter des ,Renaissance'Zeitalters der so
g e n a n n t e n W i e n e r Schule angesehen, s o n d e r n
a u c h als deren H a u p t u n d eigentlicher B e g r ü n
der 4 . U n d d o c h : O b w o h l i h m d a m i t ein beinahe 1 Franz Wickhoff. Fotografie. Bonn, Kunsthistorisches Institut
1 Zu Wickhoff zusammenfassend: E. LACHNIT, Wickhoff, Franz, in: The Dictionary of Art, New York 1996, Bd. 33, S. 158E P.
H. FEIST, WickhofT, Franz, in: P. BETTHAUSEN U. a. (Hg.), MetzlerKunsrhisrorikerLexikon. Zweihundert'Porträts deutsch
sprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten, Stuttgart/Weimar 1999, S. 466468. Nachlaß: Kunsthistorisches Institut der
Universität Wien. Ausschnitte der Korrespondenz sind publiziert: F. GLüCK, Briefe von Franz Wickhoff und Max Dvofäk an
Gustav Glück, in: Festschrift Karl Maria Swoboda zum 28. Januar 1959, Wien, Wiesbaden 1959, S. 103132. E. LACHNIT,
Hermann Dollmayr, ein frühvollendeter Repräsentant der Wiener kunsthistorischen Schule und sein Wirken im Kamptal;
mir einem Anhang: Ein Brief von Franz Wickhoff zur Veröffentlichung seiner DollmayrBiographie, in: KamptalStudien,
5,1985, S. 149162.
2 J. v. SCHLOSSER, Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Öster
reich, in: Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, 13,1934, S. i7of.
3 F. WICKHOFF, Römische Kunst. Die Wiener Genesis, in: M. DVORAK (Hg.), Die Schriften Franz WickhofFs, Bd. 3, Berlin
1912, S. 25.
4 SCHLOSSER (zit. Anm. 2); D. FREY, Bemerkungen zur „Wiener Schule der Kunstwissenschaft", in: Dagobert Frey 18831962.
Eine Erinnerungsschrift, hg. mit Unterstützung seiner Schüler, Kollegen und Freunde durch das Kunsthistorische Institut der
Universität Kiel, Kiel 1962, S. 515. I. DESPINA/K. MAXEINER, Franz Wickhoff. Kunstgeschichte als Wissenschaft, in: H.
162 ULRICH REHM
olympischer Ruf vorauseilt, wird er von der diszi schen Kunst als vorbildhaft 7 , auch wegen der dar
plingeschichtlichen Forschung bisher wenig be aus gewonnenen Distanz zu ästhetischen Wertur
5
achtet — weniger jedenfalls als der nur etwas jün teilen 8 . Nachhaltigen Einfluß gerade auf die
gere Alois Riegl (1858—1905) oder als Max Dvofäk Museumsarbeit haben die von ihm initiierten
(18741921), die als die spekulativeren W i e n e r Katalogisierungsprojekte, die bis heute fortgeführt
Köpfe gelten. Vielleicht ist diese Z u r ü c k h a l t u n g werden 9 .
der Preis für Wickhoffs gelegentlich als voreilig Hier soll im folgenden überlegt werden, wie
e m p f u n d e n e s Urteilen in seiner bemerkenswert W i c k h o f f auch unter erzähltheoretischen Ge
streitbaren und querdenkerischen Art 6 . Vor allem sichtspunkten über die Schwelle des 21. Jahrhun
aber sind seine Leistungen nicht allzu leicht unter derts hinaus Schule m a c h e n kann hoffentlich
ein Etikett zu fassen. o h n e ihn dabei in die ungeliebte Rolle des O b e r
O f t gilt Wickhoff schon wegen seiner produk lehrers zu drängen!
tiven Auseinandersetzung mit der zeitgenössi
Das Jahr 1895 darf als Sternstunde der kunsthistori folge zum Text des Buchs Genesis erstmals vollstän
10
schen Erzählforschung gelten . Damals wurde der dig publiziert 11 . Wilhelm Ritter von Härtel (1839—
spätantike Codex Graecus 31 der Wiener K. K. Hof 1907), Präfekt der Bibliothek, edierte den Text, der
bibliothek mit einer fragmentierten Illustrations in dieser Handschrift offenbar zugunsten der Bilder
partiell gekürzt ist. Wickhoff besorgte die Kom Jahre übrigens vor Riegls Spätrömischer Kunstindu
mentierung der Miniaturen, denen auf jeder Seite strie und zwei Jahre nach dessen Stilfragenl/i. Dabei
in deren unterer Hälfte etwa gleichviel Platz einge ging es ihm auch und besonders u m die Erzähl
räumt ist wie dem darüberstehenden Text, so daß weise der Miniaturen: „Wollen wir das Wesen die
Text und Bild parallel zueinander von Seite zu Seite ser Bibelbilder erfassen, so wird die Frage nach der
fortlaufen (Abb. 2). Vor allem aber verfaßte er eine Art in der sie erzählen, sich zunächst aufdrängen;
aufsehenerregende Einleitung, die später separat un denn die Art des Erzählens ist nicht mehr jene der
ter dem Titel Roman Art bzw. Römische Kunst er älteren griechischen Kunst" 1 5 .
schien 1 2 . Schon dies mag d a r a u f h i n d e u t e n , wie Von den Illustrationen der Handschrift ausge
weit Wickhoff ausholte, um den Codex als Produkt hend, unterschied Wickhoff drei Arten der Bilder
einer vermeintlichen Verfallsepoche 13 in seiner zählung, deren Genese und weitere Entwicklung er
kunsthistorischen Bedeutung zu würdigen sechs verfolgte 1 6 : die komplettierende, die distinguie
11 D i e W i e n e r G e n e s i s ( B e i l a g e z u m J a h r b u c h d e r K u n s t h i s t o r i s c h e n S a m m l u n g e n d e s a l l e r h ö c h s t e n K a i s e r h a u s e s , B d . 15/16),
W i e n 1895. D i e H a n d s c h r i f t ist ein F r a g m e n t , u m f a ß t h e u t e 24 Folia, ca. 25 x 30 c m g r o ß (zwei w e i t e r e Folia g e h ö r e n z u e i n e m
P u r p u r e v a n g e l i a r d e s 6 . J a h r h u n d e r t s ) . Sie ist m i t S i l b e r t i n t e in g r i e c h i s c h e r U n z i a l e a u f p u r p u r f a r b e n e m P e r g a m e n t g e
s c h r i e b e n . M a n n i m m t f ü r d i e u r s p r ü n g l i c h e G e s t a l t d e n e t w a d o p p e l t e n U m f a n g a n . D i e E n t s t e h u n g s r e g i o n ist w e i t e r h i n
u m s t r i t t e n . W i c k h o f T s w e i t f r ü h e r e D a t i e r u n g w u r d e i n z w i s c h e n generell z u g u n s t e n e i n e r k u r z v o r d e r M i t t e d e s 6. J a h r h u n
d e r t s a u f g e g e b e n (vgl. L i t e r a t u r zit. A n m . 3).
12 F. WICKHOFF, R o m a n A r t . S o m e o f its P r i n c i p l e s a n d t h e i r A p p l i c a t i o n t o Early C h r i s t i a n P a i n t i n g (E. S t r a n g ) , L o n d o n / N e w
rende und die kontinuierende 1 7 . Wesentliches Un bar folgenden Phasen der H a n d l u n g auf einem
terscheidungskriterium der drei Erzählarten ist der Bilde u n b e k ü m m e r t u m die Gesetze der Erfah
bildliche U m g a n g mit dem Zeitablauf des darge r u n g wiederholt dargestellt werden, u n d hatte
stellten Ereignisses. Bei der komplettierenden Er diese Art der Darstellung, die etwa von der Zeit
zählweise sind mehrere, zeitlich aufeinanderfolgend der Flavier bis ins siebzehnte Jahrhundert dauert,
zu denkende H a n d l u n g e n dargestellt, ohne daß die kontinuierende genannt" 2 0 . Erst in den letzten
einzelne Figuren wiederholt werden. Bei der distin Jahrhunderten sei die distinguierende Erzählweise,
guierenden wird nur ein einziger Ereignisaugen die einstmals von der kontinuierenden verdrängt
blick im Sinne einer . M o m e n t a u f n a h m e ' ins Bild worden sei, wieder an deren Stelle getreten.
gesetzt. Bei der kontinuierenden Erzählweise W i c k h o f f hielt die drei b e n a n n t e n Erzählwei
werden mehrere, zeitlich aufeinanderfolgend zu sen, auch in ihrer historischen Entwicklung, f ü r
denkende Ereignisse geschildert, indem einzelne die grundlegenden, letztlich anthropologisch be
Handlungsträger wiederholt dargestellt sind. In gründeten Möglichkeiten der Handlungsdarstel
den Termini der ComicAnalyse, die sich durchaus lung, wie er später unter Berufung auf die Analyse
auch auf Wickhoff bezieht, wird analog auch von von Kinderzeichnungen äußerte: „Inzwischen er
sequentieller Darstellung gesprochen 1 8 . schien zu dieser Frage ein vortreffliches Buch von
W i c k h o f f sah in der Wiener Genesis das frühe einem Schüler Lamprechts [...], wo der Nachweis
D o k u m e n t einer Epoche, die sich primär des geliefert wird, d a ß die Reihe der Darstellungsar
Kontinuierens bediente, das heißt, er benutzte die ten, die ich als kompletirend, distinguirend u n d
drei g e n a n n t e n Begriffe weniger zur Analyse k o n t i n u i r e n d bezeichnete, sich bei jedem zeich
künstlerischer Darstellungsmodi, sondern m e h r nenden Kinde ebenso folgt, daß also diese Abfolge
im Sinne von Stilbegriffen zur Definition unter nicht nur historisch, sondern biologisch sei" 21 .
schiedlicher Epochen des Bilderzählens. Die kon Die Verwendung der drei Begriffe als Stilbe
tinuierende Erzählweise war nach Wickhoffs An griffe zwingt zu Verallgemeinerungen, die für die
sicht in V e r b i n d u n g mit d e m „Illusionsstil" der heutige Erzählforschung von geringerem Interesse
spätrömischen Kunst z u m römischen Reichstil sind. Zugleich lassen sich jedoch mit Hilfe der
avanciert u n d in der Folge die vorherrschende Er Wickhoffschen Termini die den jeweiligen Bildern
zählweise bis ins 17. J a h r h u n d e r t hinein geblie zugrundeliegenden künstlerischen Darstellungs
ben 1 9 : „Ich hatte in der Einleitung zur Wiener modi oder prinzipien analysieren, die im Einzel
Genesis gezeigt, wie sich im zweiten Jahrhundert fall in ganz unterschiedlichem Ausmaß angewandt
der Kaiserzeit eine Art der Darstellung ausbildete, sein und in verschiedenen Kombinationen auftre
wo eine oder mehrere Personen in sich unmittel ten können. Erst auf diesem Weg, zu dem Michael
1 7 W I C K H O F F (zit. A n m . 3), S . 1 3 - 2 0 , 1 2 3 - 1 3 0 , 1 8 7 - 2 0 5 .
ßkw^*
i
SSr
2 Rebekka und der Knecht Abrahams. Buchmalerei, 6. Jahrhundert. Wien, Österreichische Nationalbibliothek,
Cod. Graec. 31, pag. 13 (zu Gn 24).
Fehr schon 1978 Schritte u n t e r n o m m e n hat, läßt Z u r Erläuterung sei die Begegnung Rebekkas
sich m. E. die jeweils spezifische Erzählweise des mit d e m Knecht Abrahams am B r u n n e n vor der
einzelnen Objekts differenziert beschreiben 22 . Stadt herangezogen (Abb. 2). Wickhoffs Zuwei-
22 M. FEHR, Exemplarische Untersuchungen zur Ikonographie und Erzählstruktur der Hildesheimer Bronzetüren, Diss. Phil.
Bochum 1978, siehe etwa S. 103E
166 ULRICH REHM
Mit harscher Kritik reagierte 1947 Kurt Weitz logen Carl Robert (18501922) etabliert worden,
m a n n (19041993) auf Wickhoffs Beitrag, u n d dessen Buch Bild und Lied unumgänglicher Aus
versuchte, dessen Terminologie d u r c h eine neue gangspunkt für jede weitere Untersuchung erzähl
zu ersetzen 24 . In seinem einflußreichen Buch Illu theoretischer Art sei 25 . Das wiederholte Bedauern,
stration* in Roll and Codex hat W e i t z m a n n d a ß ausgerechnet dieses Buch der A u f m e r k s a m
behauptet, die drei von W i c k h o f f b e n a n n t e n keit des W i e n e r Gelehrten entgangen sei, soll
Erzählweisen seien schon 1881 durch den Archäo wohl in erster Linie Plagiatsverdacht schüren 2 6 .
2 3 Selbst in einer Arbeit, deren Titel sich auf W i c k h o f f s Begriff des K o n t i n u i e r e n d e n bezieht, wird „ c o n t i n u o u s narrative" nicht
weiter definiert oder differenziert: L ANDREWS, Story and Space in Renaissance Art. T h e Rebirth of C o n t i n u o u s Narrative,
C a m b r i d g e 1995, hier zitiert: PaperbackAusg. 1998.
2 4 K. WEITZMANN, Illustrations in roll and codex. A study o f the origin and m e t h o d of tcxt Illustration, Ptinceton 1947 (Studies
in Manuscript Illumination. 2); Princeton 1970 2 .
2 5 C . ROBERT, Bild u n d Lied. Archaeologische Beiträge zur G e s c h i c h t e der Griechischen Heldensage, i n : P h i l o l o g i s c h e Unter
s u c h u n g e n , 5, Berlin 1881. „Three stages o f this d e v e l o p m e n t were distinguished by Carl Robert, w h o in Bild und Lied ana
lysed t h e m with great precision and clarity, so that any further investigation of this subject must take this study as a point o f de
parture": WEITZMANN (zit. A n m . 24), S. 12.
2 6 „and it remains o n c e m o r e to be regretted that his Bild u n d Lied escaped the attention o f the V i e n n e s e scholar": WEITZMANN
(zit. A n m . 24), S. 36.
WIEVIEL ZEIT HABEN DIE BILDER? 167
Tatsächlich hatte Robert in Bild und Lied wichtige Z u s a m m e n h a n g verwendet Wickhoff gelegentlich
Beobachtungen zu verschiedenen bildlichen Er den Begriff des Kontinuierlichen, der von m a n
zählmöglichkeiten formuliert. Einen Beleg für die chem späteren Autor verwirrenderweise synonym
angeblich schon dort angelegte, auch terminolo mit d e m des Kontinuierenden gebraucht wird 3 1 .
gische Differenzierung m u ß t e W e i t z m a n n aller Hier ist eine klare Differenzierung vonnöten, wie
dings schuldig bleiben 2 7 . sie etwa H e l m u t Buschhausen trifft, der den Ter
W e i t z m a n n wählte den Terminus simultane m i n u s „kontinuierlich" für zyklische Darstellun
M e t h o d e (simultaneous method) für den komplet gen wie jene von Triumphsäulen oder Rotuli be
tierenden u n d monoszenische M e t h o d e (mono- nutzt 3 2 .
scenic method) für den distinguierenden Erzähl Die Trajanssäule mit der spiralförmig gewun
m o d u s , o h n e d a ß meines Erachtens wesentliche denen Friesdarstellung der Dakerfeldzüge, die so
Vorteile gegenüber Wickhoffs Termini erkennbar wohl W i c k h o f f als auch W e i t z m a n n als Beispiel
wären (und über die Nachteile zu sprechen, ist heranziehen, weist eine zyklische oder kontinuier
28
hier nicht der O r t ) . D e n k o n t i n u i e r e n d e n Stil liche Erzählung auf. Die W i e d e r h o l u n g der Kai
ordnete Weitzmann als Sonderfall dem unter, was sergestalt hat im Sinne der Allgegenwärtigkeit
er zyklische M e t h o d e (cyclic method) n a n n t e 2 9 . des Herrschers sicher stärker repräsentative denn
M i t der dabei getroffenen Kritik traf Weitzmann narrative Gründe. O b sie überhaupt im Sinne des
tatsächlich bestimmte Schwachpunkte der Wick Kontinuierens geschieht, ist nicht leicht zu ent
hoffschen A r g u m e n t a t i o n . Dessen Bildanalysen scheiden. D e n n vom Kontinuieren ist zunächst
sind nämlich, der Disposition der Wiener Gene n u r innerhalb von in sich geschlossenen Erzähl
sisBilder entsprechend, primär auf die einzelne, einheiten zu sprechen, aus denen sich ein solcher
geschlossene Bildeinheit (wie in Abb. 2) gerichtet, Zyklus zusammensetzt. U n d diese Einheiten sind
u n d d e m e n t s p r e c h e n d werden die besonderen bei einem fortlaufenden Relief weniger eindeutig
Bedingungen des zyklischen Bilderzählens über zu bestimmen als bei den — schon durch die Sei
die mit einem Blick zu erfassende Einheit hinaus tendisposition voneinander abgegrenzten Sze
n u r unzureichend erfaßt auch, wenn Wickhoff nen der W i e n e r Genesis. D e n n o c h ist auch hier
gleich zu Beginn seines Textes den Aspekt des Zy die Frage grundsätzlich berechtigt, ob die Wieder
klischen anspricht, dessen Verhältnis zum Konti holung von Figuren auf dem Bildfeld einer Seite
nuierenden jedoch unscharf bleibt 3 0 . In diesem im Sinne des Kontinuierens geschieht, oder ob sie
als das zufällige Resultat der spezifischen medialen tiker Buchrollen abhängig. W ä h r e n d dort in die
Voraussetzungen anzusehen ist. Das h e i ß t : G e h t fortlaufenden Textspalten zyklisch zahlreiche Ein
es tatsächlich u m die sequentielle Schilderung zelbilder eingestreut gewesen sein sollen — so je
einer in sich geschlossenen Bildhandlung durch denfalls die hypothetische Rekonstruktion habe
Figurenwiederholung, oder sind lediglich die zum m a n diese im M e d i u m des Codex neu organisie
jeweiligen Textabschnitt und in ein einzelnes Bild ren u n d zusammenfassen müssen. Die Z u s a m
feld passenden (mehr oder weniger distinguieren menstellung der Bilder auf den Seiten eines C o
den) Episoden additiv nebeneinandergestellt, so dex resultiert d e m n a c h daraus, wieviel Text u n d
daß die Wiederholungen sich mehr oder weniger Bild jeweils auf einer Seite unterzubringen ist 3 4 .
zufällig ergeben und die von den Folia bedingten Der scharfe Tonfall gegenüber Wickhoff verdankt
Bildgrenzen für die Bildlektüre als unwesentlich sich vermutlich der Absicht, den Begriff des Zy
anzusehen sind? Diese Frage hängt eng mit der klischen in den Dienst einer T h e o r i e zu stellen,
spezifischen F u n k t i o n des C o d e x z u s a m m e n . nach der Bilder sich prinzipiell als Resultate hi
W o h l zurecht vermutet Arne Effenberger: „Die storischer Uberlieferungsprozesse erklären lassen.
H a n d s c h r i f t diente so k a u m liturgischen Zwe D o c h abgesehen davon, daß die angeführten ver
cken, sondern dürfte eher von einem vornehmen meintlichen Vorbilder zumeist rein hypotheti
Besitzer zur persönlichen Lektüre u n d Anschau scher N a t u r s i n d : Alles Abgeleitete ist auch ein
ung benutzt worden sein" 3 3 . intentional N e u Z u s a m m e n g e f ü g t e s . U n d d e m
Doch selbst wenn im Einzelfall eher eine zufäl entsprechend bietet W e i t z m a n n allenfalls eine
lig auf die vorhandenen Bildflächen verteilte Addi allerdings zwingend nötige Basis zur Erweite
tion von Einzelepisoden vorläge als eine Folge r u n g der W i c k h o f f s c h e n Erzählmodi u m die
sequentieller Bildeinheiten: Der Begriff des Konti Möglichkeiten zyklischer (oder kontinuierlicher)
nuierens ist damit keineswegs obsolet. Vielmehr ist Bildnarration, die gerade im Mittelalter außeror
das Zyklische eine ganz eigene Kategorie des Bil dentlich verbreitet, w e n n nicht vorherrschend
derzählens, innerhalb derer nicht nur der kontinu war 3 5 .
ierende, sondern alle drei Wickhoffschen Erzähl Das Paradebeispiel f ü r die kunsthistorische
modi zum Tragen k o m m e n können. D e n n das Narrativik ist in diesem Z u s a m m e n h a n g der Tep
Zyklische k o m m t durch das Zusammenfügen von pich von Bayeux, der in mancher Hinsicht jedoch
Erzähleinheiten zustande auch wenn sich man eine Ausnahmeerscheinung darstellt 3 6 . W ä h r e n d
che Szenenfolge oder Einzelszene von einem zykli es etwa auf der Trajanssäule d a r u m geht, mit der
schen Vorbild herleiten mag. Tatsächlich k o m m t Wiederholung des Kaisers dessen Omnipräsenz zu
man im Fall der Wiener Genesis, gerade angesichts propagieren, geht es hier vielfach u m eine, z u m
der zahlreichen jüdischen Legendenmotive, kaum Teil von den Beischriften unterstützte „HicUbi"
umhin, entsprechende Vorlagen zu vermuten. Struktur, sprich: u m den Wechsel zwischen der
Weitzmann behauptete, die Bilder früher C o Bewegung der Handlungsträger von einem z u m
dices seien in der Regel von den Bilderzyklen an anderen O r t und einer jeweils an diesem, zumeist
'WKtM^W- BA6IA
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3 Herzog Wilhelm k o m m t nach Bayeux, w o Harold ihm einen Eid leistet. Teppich von Bayeux (Ausschnitt), ca. 1070. Bayeux,
Centre Guillaume le Conquerant.
Die Fixierung auf das Ableiten — dessen g r u n d dienste für die Narrativik gelegentlich bis heute
sätzlicher Erkenntnisgewinn außer Frage steht — marginalisiert werden 3 7 . Imdahl hat sich im Rah
läßt bis in die jüngere Forschungsliteratur hinein m e n seiner Überlegungen zu den narrativen
gelegentlich übersehen, daß die tatsächlich erhal Strukturen in den Arenafresken Giottos aus
tenen O b j e k t e zunächst einmal vor allem sich drücklich auf W i c k h o f f u n d dessen drei Termini
selbst und nicht ihre vermeintlichen Vorläufer be zur Bilderzählung bezogen, o h n e diese allerdings
zeugen, u n d d a ß sie d e m e n t s p r e c h e n d die Frage erneut fruchtbar zu machen 3 8 . Vielmehr stützte er
nach der ihnen eigenen spezifischen Aussage auf sich mit Dagobert Frey (18831962) 39 u n d H a n s
werfen. Sedlmayr (18961984) stärker auf eine spätere Ge
Z u den frühen O p p o n e n t e n gegen bloßes Her neration Wiener Kunsthistoriker, die den von der
leiten gehört Max Imdahl (1925—1988), dessen Ver historischkritischen M e t h o d e geprägten, aufklä
36 Aus den zahlreichen Beiträgen vgl. etwa: R. BRILLIANT, The Bayeux Tapestry. A stripped Narrative for their Eyes and Ears,
in: Richard Brilliant, The Bayeux Tapestry: A striped Narrative for Their Eyes an Ears, in: word & image, 7,1991, S. 98126
(wiederabgedruckt in: R. GAMSON (ed.), The Study of the Bayeux Tapestry, Woodbridge 1997, S. in—137). S. LEWIS, The
Rhetoric of Power in the Bayeux Tapestry (Cambridge Studies in New Art History and Criticism), Cambridge 1998. C R .
OWEN-CROCKER, Telling a Tale: Narrative Techniques in the Bayeux Tapestry and the Old English Epic Beowulf, in: G. R.
OWEN-CROCKER IT. GRAHAM (ed.), Medieval Art. A memorial Tribute to Charles Reginald Dodwell, Manchester/New York
1998, S. 4059.
37 So bei W. PRINZ, Die Storia oder die Kunst des Erzählens in der italienischen Malerei und Plastik des späten Mittelalters und
der Frührenaissance 12601460. Mit Beiträgen von I. MARZIK, Bd. 12, Mainz 2000.
38 M. IMDAHL, Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos (1973), in: DERS., Gesammelte Schriften, Bd. 2:
Zur Kunst der Tradition, hg. von Gundolf Winter, Frankfurt am Main 1996, S. 180209, hier S. 205207. Vgl. auch: DERS.,
Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie. Ikonik ( Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd.
60), München 1980.
39 Explizit vor allem: ebenda, S. 3542.
170 ULRICH REHM
rerischen Impetus W i c k h o f f s zumindest partiell lein durch die figurale Verbildlichung also u n
gegen eine emphatisch rückwärtsgewandte Sinn abhängig v o m verbildlichten Text — z u m Aus
stiftungsmission eingetauscht hatte 4 0 . druck gelange 43 .
Analog zur Analyse der Paduaner W a n d Tatsächlich geht es in den Bildern des C o d e x
gemälde hat sich Imdahl auch in seinen Studien Egberti, eines Evangelistars des späten 10. Jahr
zur Buchmalerei ottonischer Zeit ausgiebig mit hunderts, nicht primär u m das gewissermaßen
der Frage der Erzählstrukturen im Bild auseinan textparallele Schildern des Handlungsablaufes,
dergesetzt 4 1 . Dabei galt sein Interesse in den wie es in den Miniaturen der Wiener Genesis der
Termini Wickhoffs gesprochen vor allem den Fall ist. Doch damit sind die Wickhoffschen Ter
komplettierenden M o m e n t e n . In Sprache und mini nicht von vornherein nutzlos. Vielmehr eig
Bild— Bild und Sprache von 1970 entwickelte Im net sich Imdahls Begriff der evidenten szenischen
dahl am Beispiel der M i n i a t u r der Gefangen Simultaneität (ebenso wie der der Gebärdenfigur)
n a h m e Christi (Abb. 4) im Codex Egberti den allenfalls zur Etikettierung eines bildspezifischen
Begriff der „evidenten szenischen Simultaneität". P h ä n o m e n s , k a u m jedoch zu dessen Analyse.
D a m i t versuchte er, eine ausschließlich im Bild D e n n hier soll der spezifische Erzählmodus inklu
gegebene Möglichkeit der Handlungsschilderung sive der d a m i t v e r b u n d e n e n , jedoch diffus blei
ottonischer Zeit zu fassen, die jenseits der Vorstel b e n d e n Intention unter einem einzigen Begriff
lung sukzessiver Handlungsabfolge liegt: „Es wäre z u s a m m e n g e f a ß t werden. D a m i t wird die „non
sinnlos, die verbildlichte Szene sozusagen narra verbale Restmenge" des Bildes allerdings mehr be
tionslogisch nach sukzedierenden Ereignismo schworen als ergründet 4 4 . D a f ü r jedenfalls spricht,
menten differenzieren zu wollen — zuerst die U m d a ß der selbe Begriff, als „sinnvolle szenische
a r m u n g , alsdann die Ergreifung, alsdann Jesu Gleichzeitigkeit" ins Deutsche übertragen, auch
H i n w e n d u n g zu Petrus oder auch u m g e k e h r t die spezifische Erzählleistung eines Historienbil
diese noch vor der Ergreifung , sogar m ü ß t e eine des des 17. Jahrhunderts (Nicolas Poussins Man
solche Differenzierung das Sinnganze des Bildes nalese, Abb. 11) erfassen soll 45 .
42
zerstören" . Mit der A n w e n d u n g von Wickhoffs Begriffsre
Imdahl berief sich in diesem Z u s a m m e n h a n g pertoire hingegen läßt sich die Erzählhaltung dif
auf den von H a n s Jantzen (18811967) entwickel ferenzierter beurteilen, wenn auch, o h n e daß da
ten Begriff der „Gebärdenfigur". Jantzen hatte mit bereits weiterreichende Aussageabsichten
diesen 1947 in Ottonische Kunst geprägt, u n d da erfaßt w ü r d e n . Bei der G e f a n g e n n a h m e Christi
von ausgehend zwischen /«halt u n d Gfhalt einer (Abb. 4) liegt eine K o m b i n a t i o n der distinguie
Bildaussage unterschieden, wobei der Gehalt al renden Erzählweise mit der komplettierenden vor,
4 0 Vgl. z u m Beispiel T . ZAUNSCHIRM, Leitbilder. D e n k m o d e l l e der Kunsthistoriker oder Von der Tragik, Bilder beschreiben zu
müssen, Klagenfurt 1993, S. 41—65.
41 M . IMDAHL, Sprache und Bild Bild und Sprache. Zur Miniatur der G e f a n g e n n a h m e im C o d e x Egberti (1970), in: G. WIN
TER (Hg.), Max Imdahl. G e s a m m e l t e Schriften, Bd. 2: Zur Kunst der Tradition, Frankhirt am Main 1996, S. 9 4 1 0 3 . M .
IMDAHL, Werke der ottonischen Kunst. Anschauung und Sprache (1989), in: WINTER, S. 156179. Vgl. auch: M . IMDAHL,
Bis an die Grenze des Aussagbaren, in: SITT (zit. A n m . 4), S. 245272, hier vor allem S. 255fr.
4 2 IMDAHL, Sprache und Bild (zit. A n m . 41), S. 96.
4 3 H . JANTZEN, Ottonische Kunst, M ü n c h e n 1947, S. 8 0 8 2 .
4 4 Vgl. J. IMORDE, Werte und Verwertungen. D i e W i e n e r Schule und die Z u k u n f t der Kunstgeschichte, in: Kunstchronik, 56,
2003, S. 5 3 6 0 , hier S. 59.
4 5 M . IMDAHL, D i e Zeitstruktur in Poussins „Mannalese". Fiktion und Referenz (1989), in: WINTER (zit. A n m . 41), Bd. 2: Zur
Kunst der Tradition, S. 475493, hier S. 485.
WIEVIEL ZEIT HABEN DIE BILDER?
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5
4 Gefangennahme Christi. Buchmalerei, ca. 985/90. Trier, Stadtbibliothek, Ms. 24 (Codex Egberti), fol. 79v.
172 ULRICH REHM
die sich vor allem an der Gestalt Christi festma text oft regelrecht herausgeschnittene Bild durch
chen läßt. Dieser e m p f ä n g t den Judaskuß, wird aus die Gefahr besteht, an der Bildintention vor
am H a n d g e l e n k ergriffen u n d gebietet zugleich beizuargumentieren. Gerade bei einem Ansatz,
Petrus. Dieser spezifische Erzählmodus hat zu dem es u m Erzählstrukturen geht, hätte zum Bei
mindest im konkreten Fall vermutlich die Funk spiel bemerkt werden können, daß die sogenann
tion, auf die in der einen Person Christi vereinte ten Hochzeit zu KanaBilder von G i o t t o u n d
heilsgeschichtliche Doppelrolle als O p f e r und Duccio aus dem frühen 14. Jahrhundert Gemälde
höchste Autorität hinzuweisen. Die Intention be mit ganz unterschiedlichen T h e m e n sind 4 6 .
steht also gemäß der liturgischen Funktion des W ä h r e n d in Giottos Wandbild tatsächlich ein Ak
Codex — weniger darin, Geschichten zu erzählen, zent auf d e m W e i n w u n d e r liegt 47 , ist in Duccios
sondern vielmehr darin, im Schildern einzelner, li Predellenbild der thematische S c h w e r p u n k t die
turgisch bedeutsamer Ereignisse deren heilsge Interpretation der Aussage „Was willst du von mir,
schichtliche D i m e n s i o n zu verdeutlichen. D e m Frau?" (Jo 2,4) 4S . Die damit assoziierte Trennung
entsprechend ist zu fragen, o b der Erzählmodus zwischen Christus u n d Maria wird nicht n u r
nicht tatsächlich eher simultan d e n n sequentiell durch Gestik und Mimik, sondern auch durch die
zu verstehen ist. A n o r d n u n g der H a n d e l n d e n im Bildraum ver
M a n c h e Imdahl angelastete oder anzulastende deutlicht : Zwischen den markant hervorgehobe
Fehlinterpretation liegt keineswegs in seiner Me nen Protagonisten klafft die Ö f f n u n g der T ü r .
t h o d e begründet, auch w e n n bei der radikalen Vergleichende Beurteilungen der W e i n w u n d e r
Konzentration auf das einzelne, aus seinem Kon Schilderung erübrigen sich damit.
In seiner Dissertation von 1978 hat sich Michael ratur hinein wird hingegen wiederholt, die
Fehr a n h a n d der Hildesheimer Bronzetüren in Hildesheimer Reliefs seien von einer spätantiken
tensiv m i t Fragen der Bilderzählung ottonischer Bildfolge abzuleiten, die durch Handschriften ka
Zeit befaßt 4 9 . Seine Arbeit, die sich in kritischer rolingischer Zeit vermittelt worden sei 50 : Eine der
Auseinandersetzung mit den Wickhoffschen Be Bamberger Alkuinbibel unmittelbar verwandte
griffen den Erzählstrukturen widmet, ist von der H a n d s c h r i f t müsse m a n in Hildesheim besessen
kunsthistorischen MittelalterForschung weit haben 5 1 . Auch wenn dies zutreffen sollte, was hier
gehend ignoriert worden. Bis in die jüngste Lite nicht in Frage steht, ist d a m i t noch nichts über
4 6 IMDAHI. ( z i t . A n m . 4 5 ) , S . 1 8 7 - 1 9 3 .
4 7 W a n d g e m ä l d e , ca. 1306. G i o t t o . P a d u a , A r e n a k a p e l l e .
4 8 T a f e l b i l d , 1311 v o l l e n d e t . D u c c i o . Siena, M u s e o d e H ' O p e t a del D u o m o .
4 9 FEHR ( z i t . A n m . 2 2 ) .
ST
4.
2
5 Die Erschaffung Adams und Evas. Miniatur, ca. 870. Bibel von San Paolo fuori le Mura, fol. 8v. Rom,
Basilica di San Paolo fuori le mura.
174 ULRICH REHM
die offensichtlich ganz eigenständige Programma gentlich kolportiert wurde? 5 4 Jede dieser Lösun
tik der Hildesheimer Bilder gesagt, die nicht zu gen impliziert einen anderen Erzählmodus, die er
letzt mit ihrer spezifischen G a t t u n g u n d Funktion ste den k o n t i n u i e r e n d e n , die zweite den distin
z u s a m m e n h ä n g t . Schon die Parallelisierung zwi guierenden, die dritte einen, den m a n ebenfalls
schen den benachbarten alt und neutestamentli distinguierend nennen könnte, bei dem allerdings
chen Szenen wirft die Frage nach präfigurativen unterschiedliche Realitätsebenen z u m Tragen
oder kontrastiven Aussagegesichtspunkten auf. k o m m e n (Dietmar Peil spricht in solchen Fällen
Z u d e m wäre mit dem Hinweis auf die hypotheti von Simultandarstellung) 5 5 . Womöglich wird erst
sche Vorlage gerade einmal für die Hälfte der Sze eine Klärung der Erzählhaltung(en) des Gesamt
nen, nämlich die alttestamentlichen, deren mög programms eine Entscheidung erlauben, die aber
liche H e r k u n f t geklärt. Die Eigenständigkeit der grundsätzlich auch zugunsten einer kalkulierten
Hildesheimer Bilderfindungen bestätigt sich nicht Mehrdeutigkeit ausfallen kann.
zuletzt in dem in dieser Konsequenz wohl sin Ein Blick auf die SündenfallSzene (Abb. 7)
gulär engen Bezug der Pflanzenmotive auf die wirft noch einmal Abgrenzungsfragen zu den Be
dargestellten Ereignisse, den Fehr ausführlich ana griffen Wickhoffs auf: Nach dessen Definition liegt
lysiert hat. hier der komplettierende Stil vor. O h n e daß die Fi
Die exemplarische Gegenüberstellung der guren wiederholt werden, ist zu sehen, wie die
Schöpfungsszene der Hildesheimer T ü r mit der Schlange den Apfel reicht, wie Eva ihn empfängt,
entsprechenden Szene der nordfranzösischen Bi wie diese ihn weiterreicht, während Adam ihr die
bel von Sankt Paul aus dem 9. Jahrhundert (Abb. geöffnete H a n d entgegenstreckt, u n d wie dieser
5) mag belegen, wie wenig ein solcher, gern gezo den bereits empfangenen Apfel in der anderen
gener Vergleich zum Verständnis der Darstellung H a n d hält. Diese Handlungsfolge von rechts nach
im oberen Relieffeld des Bronzetürflügels beiträgt links ließe sich aber auch als eine kontinuierende
(Abb. 6) 5 2 . W ä h r e n d die Miniatur an Eindeutig beschreiben, nur d a ß nicht die jeweils handelnde
keit kaum etwas zu wünschen übrig läßt, gibt die Person, sondern die Frucht im sequentiellen Sinne
Hildesheimer Darstellung m a n c h e Rätsel auf, die vervielfältigt ist. Z u m i n d e s t m ü ß t e man also zwi
sich durch ikonographische Vorbilder bisher nicht schen dem Komplettieren ohne und dem mit Wie
haben lösen lassen. N i c h t geklärt ist, wer gerade derholung von Einzelmotiven unterscheiden.
von Gottvater erschaffen wird, wer rechts neben Anders verhält es sich mit der Darstellung des
d e m Baum steht, u n d wie sich diese Figuren zu Brudermordes durch Kain (Abb. 8). Die Wieder
einander verhalten 5 3 . Ist die Erschaffung Adams holung des Protagonisten deutet auf den kontinu
dargestellt, der rechts noch einmal in bereits be ierenden Stil hin. Aber schon die spiegelsymme
lebtem Zustand zu sehen ist? O d e r handelt es sich trische Ausrichtung der zwei KainFiguren auf die
um die Erschaffung Evas, bei der Adam zuschaut? zentrale Gestalt Abels läßt vermuten, daß eine ein
O d e r ist die Erschaffung Adams mit dessen Vision deutige Lektürerichtung nicht beabsichtigt ist.
der Gestalt seiner zukünftigen Gefährtin kombi Dies wird besonders deutlich im Vergleich zu der
niert, wie sie in mittelalterlichen Legenden gele zur Ableitung gerne herangezogenen Aquarell
55 D . PEIL, B e o b a c h t u n g e n z u m Verhältnis von Text u n d Bild in d e r Fabelillustration des Mittelalters u n d der f r ü h e n Neuzeit, i n :
Text u n d Bild, Bild u n d Text. D F G S y m p o s i u m 1988 ( W . HARMS ( H g . ) , G e r m a n i s t i s c h e S y m p o s i e n . B e r i c h t b ä n d e , U, Stutt
gart 1990, S. 150-167, h i e r S . 160.
WIEVIEL ZEIT HABEN DIE BILDER?
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6 Erschaffung des I nen. Bror izerelief, 1015. Hildesheim, Dom, Sog. Bernwardstür, linker Flügel.
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m 7 Der Sündenfall, ßronzerelief, 1015. Hildesheim, Dom, Sog. Bernwardstür, linker Flügel.
ULRICH REHM
176
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8 Der Brudermord Kainsan Abel. Bronzerelief, 1015. Hildesheim, Dom, Sog. Bernwardstür, linker Flügel.
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9 Der Brudermord Ka,ns an Abel. Aquarell, 17. Jahrhundert. Vatikanstadt, B.blioteca Apostolica, Cod. Barb. Lat. 4406, fol. 32r.
WIEVIEL ZEIT HABEN DIE BILDER? 177
folge des 17. Jahrhunderts, die einen verlorenen M ö r d e r gekennzeichneten Kain u n d andererseits
Wandgemäldezyklus, wohl des 5. Jahrhunderts, den sichtbaren Beweis für den G r u n d der Verflu
56
aus San Paolo fuori le m u r a d o k u m e n t i e r t . Im c h u n g Kains durch Gottvater. A n f a n g u n d Ende
Aquarell (Abb. 9) ist eine Handlungsabfolge von der Bildargumentation sind nicht festgelegt.
links nach rechts zu erkennen: Links erhebt Kain Dies letztendlich doch wieder mit einem einzi
einen Stock gegen den vor dem Opferaltar knien gen u n d zudem noch einem „StifBegriff zu be
den Abel, rechts disputiert er mit Gottvater. Ganz legen, wie Fehr es mit dem „dialektischen Stil" tat,
anders das Hildesheimer Relief (Abb. 8) 5 7 : D e r trägt k a u m z u m weiteren Verständnis bei 5 8 .
stürzende Abel ist gewissermaßen Dreh u n d An Wichtig festzuhalten ist jedoch, daß die Anwen
gelpunkt der Komposition. Rechts davon steht d u n g der Wickhoffschen Begriffe hier an ihre
Kain mit erhobener Keule u n d wehendem M a n Grenzen stößt. D e n n nicht der temporale Aspekt
tel, links w i e d e r u m Kain, der sich hinter seinem ist für die Bilderzählung konstitutiv, sondern der
Mantel vor der H a n d Gottes zu verstecken sucht kausale. Es geht darum, Ursache u n d W i r k u n g zu
(vgl. G n 4,14). O f f e n b a r k o m m t es dabei nicht verdeutlichen: „Wo R a u m u n d Zeit ineinander
darauf an, einen exakten Augenblick der M o r d greifen", so schrieb im Jahr nach dem Erscheinen
handlung und dessen zeitlichen Bezug zur Entlar der Wiener Genesis der von W i c k h o f f gern u n d
vung des Mörders zu schildern. Entscheidend ist heftig gescholtene August Schmarsow (1853—1936),
vielmehr, d a ß Kain als Täter u n d Abel als O p f e r „wo sie gar in Bewegung geraten zueinander, da
charakterisiert ist. Es geht u m eine argumentative wird ein Vorwärts u n d Rückwärts angesponnen,
Struktur: Der in hohem Bogen stürzende Abel im nicht ohne die Frage nach Ursache u n d W i r k u n g
Z e n t r u m bezeichnet einerseits das O p f e r des als oder nach G r u n d u n d Folge" 5 9 .
Es stellt sich somit die grundsätzliche, Wickhoffs die umfassendere Frage: Welche Aussage u n d
Überlegungen ergänzende Frage, o b oder in wel Wirkungsabsichten können über die narrative Er
chem M a ß die Schilderung eines Zeitverlaufs oder eignisschilderung hinaus mit der A n w e n d u n g un
m o m e n t s für die jeweilige Bilderzählung konsti terschiedlicher Darstellungsmodi verknüpft sein ?
tutiv ist. Das heißt, es ist zu überlegen, ob die Barbara Z i m m e r m a n n hat 1993 in unmittelba
kontinuierende, aber ebenso die komplettierende rer Auseinandersetzung mit Wickhoffs Termino
Erzählweise tatsächlich im sequentiellen Sinne zu logie die spezifischen Bildaussagen frühchristlicher
verstehen ist, oder o b es sich eher u m eine simul Mosesszenen untersucht 6 1 . Auch hier erweist sich,
tane Auffassung handelt 6 0 . Und daraus ergibt sich daß die erhaltenen k o n t i n u i e r e n d e n Darstellun
gen sich nicht als Produkte mechanischer Kopier aus d e m 13. J a h r h u n d e r t ist die Darstellung des
u n d Ableitungsprozesse, sprich: aus der Reduk Isaakopfers so formuliert, d a ß die typologische
tion narrativer Zyklen im Sinne Weitzmanns er Aussage schon an einem N e b e n m o t i v sinnfällig
klären lassen. Vielmehr ist ihre jeweilige konkrete wird 6 5 : Das von Isaak (Typus) geschulterte Brenn
Gestalt mit ganz unterschiedlichen, vor allem al holz ist so zu einer Kreuzform z u s a m m e n g e b u n
legorischen Aussagen verknüpft, die in engem Be den, d a ß es von vornherein die Kreuztragung
zug zu ihrem unmittelbaren Kontext stehen. Christi (Antitypus) assoziieren läßt 6 6 . Die erhobe
Z i m m e r m a n n s Untersuchung steht in der Tra nen H ä n d e des Mose bei der Schlacht der Amale
dition einer seit den siebziger Jahren verstärkt kiter (Abb. 10) haben in der dargestellten Form
kontext oder f u n k t i o n s sowie BildTextorien eine legitimatorischautorisierende F u n k t i o n in
tierten Forschung. 1973 h a t Meyer Schapiro Hinblick auf den entsprechenden liturgischen Ge
(19041996), der sich schon in den dreißiger Jah stus, der im Medaillon darunter zu sehen ist; zu
ren mit den methodischen Leistungen der soge gleich wird der liturgische Akt in einem kämpfe
n a n n t e n alten u n d neuen Wiener Schule ausein rischen Sinn interpretiert 6 7 .
andergesetzt hatte, auf die unterschiedlichen Der schon bei Schapiro erkennbare, frühe Ein
Modi künstlerischer Repräsentation hingewiesen, fluß der Semiotik hat wesentliche theoretische
die mit unterschiedlichen Intentionen einherge Grundlagen für eine differenziertere Beurteilung
hen 6 2 . In Words andpictures zeigte er a n h a n d ver der Bedeutungskonstitution und des Prozesses der
schiedener Beispiele der alttestamentlichen Iko Bildlektüre geliefert. Carl Clausberg hat 1984 in
nographie, wie Darstellungen ein u n d desselben diesem Sinne zumindest exemplarisch auf die „vi
Sujets auf ganz divergierende Bildaussagen suelle G r a m m a t i k " der Wiener GenesisMiniatu
schließen lassen 63 . Über die ,wörtlichen' Darstel ren und deren Bedeutungs„Uberschuß" gegenü
lungen hinaus machte er auf ein breites Spektrum ber dem Text hingewiesen 6 8 .
64
allegorischer Aussagen aufmerksam . Hier seien Die allgemeinere Frage nach den jeweils spezi
lediglich zwei Beispiele für präfigurative Darstel fischen Intentionen u n d Wirkungsweisen narrati
lungsabsichten genannt, die in mittelalterlichen ver Darstellungen ist allerdings kaum systematisch
Bildern besonders häufig begegnen: In der Bible weiterentwickelt worden, auch w e n n — u m n u r
Moralisee der Osterreichischen Nationalbibliothek zwei Autoren zu n e n n e n mit Arbeiten von
6 2 M . SCHAPIRO, T h e N e w V i e n n e s e S c h o o l , in: T h e Art Bulletin, 18,1936, S. 2 5 8 - 2 6 6 ; wiederabgedruckt in: CH. WOOD (ed.),
T h e V i e n n a S c h o o l Reader. Politics and Art Historical M e t h o d in the 1930's, N e w York 2 0 0 0 , S. 453-485.
6 3 M . SCHAPIRO, W o r d s and pictures. O n the literal and the s y m b o l i c in the illustration o f a text, T h e Hague/Paris 1973, S. 32.
6 4 Vgl. auch E. KöNIG, Buchmalerei eine narrative Kunst?, in: N . F. PALMER H.J. SCHIEWER, Mittelalterliche Literatur u n d
Kunst im S p a n n u n g s f e l d v o n H o f u n d Kloster. Ergebnisse der Berliner T a g u n g , O k t o b e r 1997, T ü b i n g e n 1999,
S. 141148.
6 5 O p f e r Isaaks, Kreuztragung Christi. Buchmalerei (nach 1226). Illustration der Bible Moralisee, W i e n , Österreichische N a t i o
nalbibliothek, C o d . 2554, fol. 5r ( 1 0 D , d). Zur H a n d s c h r i f t siehe vor a l l e m : Bible Moralisee. FaksimileAusgabe im O r i
g i n a l f o r m a t des C o d e x V i n d o b o n e n s i s 2554 der Österreichischen N a t i o n a l b i b l i o t h e k , Graz u n d Paris 1973 ( C o d i c e s Selecti
P h o t o t y p i c e Impressi, Facsimile, vol. XL; R. HAUSSHERR, C o m m e n t a r i u m , vol. XL*). H . W . STORK: D i e W i e n e r französi
sche Bible moralisee C o d e x 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek. Transkription u n d Übersetzung, St. Ingbert 1988.
DERS., D i e W i e n e r französische Bible moralisee C o d e x 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek, St. Ingbert 1992 (Saar
brücker H o c h s c h u l s c h r i f t e n , 18). J. LOWDEN: T h e M a k i n g o f the Bibles Moralisees, I. T h e Manuscripts, University Park,
Pennsylvania 2 0 0 0 .
6 6 STORK (zit. A n m . 65), Bd. 1, S. 135; Bd. 2, S. 10.
6 7 STORK (zit. A n m . 65), Bd. 1, S. 182; Bd. 2, S. 4 8 4 9 .
6 8 CLAUSBERG (zit. A n m . 16), S. 1 0 , 1 6 .
WIEVIEL ZEIT HABEN DIE BILDER?
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10 Moses bei der Schlacht gegen die Amalekiter. Buchmalerei, wohl kurz nach 1226. Wien, Österreichische Nationalbibliothek,
Cod. 2554, fol. 23r.
180 ULRICH REHM
Im Fall der Kunst der frühen Neuzeit sind die Pro i m m e r wieder unter Einschränkungen u n d an
bleme oft ähnliche, auch wenn sie forschungsge hand von N o r m e n beurteilt, die erst später m a ß
schichtlich zum Teil anders gelagert sind. Z u m i n geblichen Einfluß gewannen u n d als deren wich
dest wird den Bildern dieser Epoche aufgrund der tigste Formulierung G o t t h o l d Ephraim Lessings
Aufwertung der Bilderfindung in der zeitgenössi Laokoon von 1766 gelten darP 4 . Dessen Gattungs
schen Kunstliteratur mit größerer Bereitschaft eine ästhetik ist ein genuines Produkt der Aufklärungs
spezifische Eigenaussage zugesprochen. Allerdings zeit u n d läßt sich in ihrer Zuspitzung auf eine be
werden auch Bilder des 15. u n d 16. Jahrhunderts s t i m m t e Erzählhaltung nicht o h n e weiteres auf
des Komplettierens, der die Funktion z u k o m m t , wie Julian Kliemann gezeigt hat, als gemalter Bei
die unmittelbare Vor- u n d Nachgeschichte des trag zum Diskurs darüber begreifen, wie selbst un
gewählten Darstellungsmoments zumindest anzu ter der M a ß g a b e strengen Distinguierens Vor
deuten ein Anliegen, das schon Philostrat for u n d Nachgeschichte angedeutet werden k ö n n e n
muliert hatte und das spätestens seit dem 16. Jahr (Abb. 12)84. D e n dargestellten Augenblick u m f a ß t
h u n d e r t zu einem vieldiskutierten Aspekt der der S c h u ß der N y m p h e in auffallend farbigem
Kunstliteratur avancierte 79 . Im Bild der Mannalese u n d aufflatterndem G e w a n d am linken Bildrand
geht es zumindest auf der vorderen Bildebene u n d der den Bildraum rechts soeben verlassende
u m den Umschlag von der Verzweiflung an der Pfeil. Die K o m b i n a t i o n aus H a n d l u n g s m o m e n
Hungersnot in die Erkenntnis der Errettung durch ten, Affektäußerungen u n d Positionierung der
das Wunder. Bildobjekte läßt jedoch die vorausgegangene
Z u d e m ist dieser Diskurs, der schließlich in Handlungsabfolge präzise rekonstruieren und die
Lessings Forderung gipfelte, der Einbildungskraft zukünftigen Folgen erahnen. Dabei steht die
müsse die Freiheit eingeräumt werden 8 0 , das je durchaus wörtlich zu n e h m e n d e , ,pfeilschußar
weilige Zuvor und Danach zu imaginieren, eng an tige' Kürze des dargestellten Ereignisses in auffäl
die seit dem 16. Jahrhundert zunehmende Etablie ligem Kontrast z u m benötigten Zeit u n d Kon
r u n g des Einzelbildes im Sinne einer in sich ge zentrationsaufwand der Bildlektüre ein Aspekt
81
schlossenen künstlerischen Einheit g e k n ü p f t . übrigens, der, so weit ich sehe, in der kunsthisto
Mit den spezifischen Zeitproblemen des in diesem rischen Erzählforschung bisher wenig beachtet
Sinne .klassischen Historienbildes' hat sich Louis wurde, der jedoch maßgeblich z u m Verständnis
M arin auseinandergesetzt 8 2 . Als radikale Gegen der verschiedenen Erzählmodi hinzugehört 8 5 . Als
position wäre die Caravaggios zu n e n n e n , der skulpturales Gegenstück kann Berninis nur wenig
etwa im Emmausmahl— gerade auf das scheinbar später entstandene Apoll u n d D a p h n e G r u p p e
83
Zufällige des Augenblicklichen setzt . f ü r Scipione Borghese gelten, deren Rezeptions
Domenichinos Galeriebild vom Bogenschieß prozeß vom Künstler d u r c h die ursprüngliche
wettbewerb unter den N y m p h e n Dianas läßt sich, Aufstellung (mit d e m Rücken Apolls z u m Be
S. 3 2 9 - 3 4 8 .
7 9 J. KLIEMANN, Kunst als B o g e n s c h i e ß e n . D o m e n i c h i n o s J a g d der Diana' in der Gallcria Borghese, in: R ö m i s c h e s Jahrbuch
der Bibliotheca Hertziana, 31,1996, S. 273-312, hier S. 2 7 9 - 2 8 6 .
8 0 LESSING (zit. A n m . 74), S. 23.
81 Bei Shaftesbury schließlich kam es in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g zu d e m sehr e n g definierten Begriff der „tabulature" in: A. A .
COOPER, Earl o f Shaftesbury, A n Essay o n Painting. Being a N o t a t i o n o f the Historical Draught or Tabulature o f the Judge-
m e n t o f Hercules [ . . . ] , L o n d o n 1714, S. 4.
8 2 L. MARIN, Towards a T h e o r i e o f Reading in the Visual Arts: Poussin's The Arcadian Shepherds, in: S. R. SULEIMAN/I. CROSMAN
(ed.), T h e Reader in the Text. Essays o n A u d i c n c e a n d Interpretation, Princeton N . J., 1980, S. 2 9 3 - 2 9 9 , 3 0 4 - 3 0 6 , 310-324. -
Hier b e n u t z t : Z u einer T h e o r i e des Lesens in den b i l d e n d e n K ü n s t e n : Poussins Arkadische Hirten, in: W . KEMP ( H g . ) , D e r
Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft u n d Rezeptionsästhetik ( D u M o n t - T a s c h e n b ü c h e r , 169), Köln 1985, S. 110-136.
8 3 Ö l a u f L e i n w a n d , 139 x 195 c m , 1596-1698, L o n d o n , National Gallery.
8 4 KLIEMANN (zit. A n m . 7 9 ) . - D a s Bild, heute in der Galleria Borghese, war ursprünglich für Pietro Aldobrandini b e s t i m m t .
8 5 Vgl. CLAUSBERG, W i e n e r Genesis (zit. A n m . 16), S. 41. - H . - T H . SCHULZE ALTCAPPENBERG, „per essere persona sofistica". Bot-
ticellis Bilderzyklus zur Göttlichen Komödie, in: H . - T H . SCHULZE ALTCAPPENBERG ( H g . ) , Sandro Botticelli, D e r Bilderzyklus
zu D a n t e s Göttlicher K o m ö d i e . M i t einer repräsentativen Auswahl von Z e i c h n u n g e n Botticellis und illuminierten C o m m e d i a -
H a n d s c h r i f t e n der Renaissance (Ausstellungskatalog Berlin, R o m , L o n d o n 2 0 0 0 ) , O s t f i l d e r n - R u i t / L o n d o n 2 0 0 0 , S. 14-35,
hier S. 31-35. - KATO, Malerei (zit. A n m . xx). - FRANZEN (zit. A n m . 72), S. 16.
WIEVIEL ZEIT HABEN DIE BILDER? 183
1 2 Bogenschießwettbewerb unter den Nymphen der Diana. Öl auf Leinwand, 1616/1617, Domenichino. Rom, Galleria Borghese.
trachter) gerade nicht auf ein schnelles Erfassen u n d u n u n t e r b r o c h e n , gleichwie die Uferland
m i t einem Blick, sondern auf ein N a c h - u n d - schaften bei einer Wasserfahrt an dem Auge vorü
Nach-Erschließen der vielansichtigen Skulptur berziehen, die jeweiligen Helden der Erzählung in
angelegt war, die zugleich der Inbegriff plötzlich kontinuierlich sich aneinanderreihenden Zustän
86
erstarrter H a n d l u n g e n und Affekte ist . den" 8 7 .
W i c k h o f f hat den Z u s a m m e n h a n g zwischen Z u Wickhoffs Verdiensten gehört es z u d e m ,
der kontinuierendkontinuierlichen Erzählweise mit der Wiener Genesis als einer der ersten sowohl
der W i e n e r Genesis u n d der erforderlichen Ge mit der ethischnormativen Ästhetik Winckel
schwindigkeit und Aufmerksamkeit der Bildlek m a n n s 8 8 , als auch mit der Lessingschen Zuspit
türe durchaus formuliert: „Nicht einzelne Bilder zung auf den fruchtbaren Augenblick gebrochen
ausgezeichneter, e p o c h e m a c h e n d e r Augenblicke zu haben, der im 18. Jahrhundert wohl spätestens
treten zu einem Zyklus zusammen [...], sondern, seit Shaftesburys Essay on Painting (1714) an m a ß
wie der Text strömt, begleiten ihn, sanft gleitend geblicher Relevanz gewonnen hatte 8 9 .
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13 Geschichte von Kain und Abel. Bronzerelief, 1425/52, Lorenzo Ghiberti, Florenz, Baptisterium, sog. Paradiesestür.
D e n n o c h vertrat 1929, unmittelbar auf Wick- Mittelalters den Todesstoß geben. Perspektive u n d
hoffs Terminologie bezogen, ausgerechnet einer kontinuierende Darstellung sind ihren Vorausset
der Biographen der Wiener Schule, der schon ge zungen nach unvereinbar" 9 0 . Demgegenüber hat
nannte Dagobert Frey, Schüler Max Dvoräks u n d Lew Andrews in einer eigens dieser Frage gewid
Julius von Schlossers (1866—1938), die nicht unwi meten Monographie (1995) sogar von einer Wie
dersprochene, aber vielfach nachhallende Mei dergeburt der kontinuierenden Erzählweise in der
n u n g : „So m u ß t e die Vorstellung der Renaissance Renaissance gesprochen 9 1 . Als ein deutliches In
notwendig der ,kontinuierenden Darstellung' des diz dafür, d a ß das Kontinuieren jedenfalls nicht
9 0 D . FREY, Gotik und Renaissance als Grundlagen der modernen Weltanschauung, Augsburg 1929, S. 55.
91 Was er allerdings unter „continous" versteht, bleibt schleierhaft: ANDREWS, Story (zit. A n m . 23). - Rezensionen: P. HILLS,
WIEVIEL ZEIT HABEN DIE BILDER? 185
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1 4 Das Neugeborenenwunder des Hl. Antonius. Bronzerelief, 1447, Donatello. Padua, Sant'Antonio, Hochaltar.
als rückständig oder überholt gegolten hat, m a g graphie von 1940 die „.kontinuierliche' [sie!] Dar
gelten, d a ß die m i t erheblichem innovativem stellungsart" der Paradiesestür m i t der episch
A n s p r u c h zwischen 1425 u n d 1452 geschaffenen schildernden Bildtradition des Trecento, wie sie
Reliefs der sogenannten Paradiesestür der Ghi besonders in Siena gepflegt w o r d e n sei, einer
bertiWerkstatt am Florentiner Baptisterium sich seits 93 u n d d e m Rückgriff auf spätantikaltchrist
primär und ausgiebig der kontinuierenden Erzähl liche Erzähltechnik andererseits 9 4 . Die Ausstel
92
weise bedienen (vgl. Abb. 13) . Leo Planiscig lung über Sandro Botticellis DanteZyklus in
(18871952), ebenfalls Schüler Dvofäks u n d Berlin 2 0 0 0 hat verdeutlicht, daß auch gegen
Schlossers, begründete in seiner G h i b e r t i M o n o Ende des 15. Jahrhunderts zyklisches Bilderzählen
in: Speculum, 73, i, 1998, S. 149. J. WIRTH, in: Bibliotheque d'Humanisme et Renaissance. Travaux et Documents, 59,1997,
S. 441443.
92 R. KRAUTHEIMER in collaboration withT. KRAUTHEIMERHESS, Lorenzo Ghiberti (Princeton Monographs in Art and Archa
eology, Bd. 31), Princeton, N.J. 1982, S. 157225. A. PERRIG, Lorenzo Ghiberti. Die Paradiesestür. Warum ein Künstler den
Rahmen sprengt, Frankfurt am Main 1987.
93 Eine Meinung, der sich Richard Krautheimer anschloß, die er mit dem Hinweis auf Ambrogio Lorenzetti konkretisierte und
auf Masaccio und Donatello erweiterte: „All three, then, Masaccio, Donatello, and Ghiberti, within the course of five odd
years, feil b a c k o n t h e m e c h o d o f p r e s e n t i n g a c o n t i n u o u s n a r r a t i v e w h i c h , a C e n t u r y earlier, h a d d o m i n a t e d t h e a r t o f t h e Sie
nese masters": KRAUTHEIMER, Ghiberti (zit. Anm. 92), S. 221. Zur Bilder/anhing in der sienesischen Kunst vgl. auch KEMP,
Räume (zit. Anm. 69), S. 5164.
94 Die antiken Vorbilder vermutete er „in der hellenistischen, namentlich in der alexandrinischen Kunst": PLANISCIG (zit. Anm.
31), S. 1921.
186 ULRICH REHM
mit k o n t i n u i e r e n d e n Elementen mit höchsten ten sehen will, liegt allein an der Fixierung auf
künstlerischen Ansprüchen u n d entsprechenden eine streng distinguierende Erzählhaltung. G e h t
Neuerungen verbunden war, die offenbar erst vor m a n von einem komplettierenden M o m e n t aus,
dem terminologischen Hintergrund der Filmana spricht nichts dagegen, in der Figur den von sei
lyse zur vollen W ü r d i g u n g gelangen 9 5 . ner Eitelkeit verblendeten E h e m a n n in der Rolle
Ein zweibändiges O p u s über Die Storia oder des Anklägers zu sehen. Ausdrücklich f ü h r t das
die Kunst des Erzählens in der italienischen Malerei Bild so den Kontrast zwischen der lasterhaften
und Plastik hingegen beurteilt noch im Jahr 2 0 0 0 Aufplusterung in H o c h m u t und der vorbildhaften
die Erzählleistungen des Tre u n d Q u a t t r o c e n t o Selbsterniedrigung in D e m u t zu beiden Seiten des
mit Limitierungen, die der Vielfalt der zeitgenös Heiligen vor eine Aussage, für die das Komplet
96
sischen Erzählhaltungen nicht gerecht werden . tieren sich bestens eignet. Das Bild bedient sich
So m u ß Donatello sich den Vorwurf gefallen las demnach einer bestimmten Art der Verknüpfung
sen, in einem Relief aus dem Zyklus der Antoni zweier Darstellungsprinzipien zugunsten einer di
uswunder v o m Santo in Padua (Abb. 14) „die daktischmoralisierenden Absicht.
H a u p t h a n d l u n g nicht in ihrem Ablauf deutlich W i e selbstverständlich sich nicht n u r die
gemacht", u n d überhaupt „etwas anderes geschil H e r o e n der Frührenaissance, wie Masaccio u n d
dert" zu haben als aus der legendarischen Uberlie Donatello, sondern auch die der Hochrenais
ferung bekannt sei 97 . Diese berichtet, eine schöne sance, wie Michelangelo u n d Raffael, der konti
Frau in Ferrara sei von ihrem G a t t e n des Ehe nuierenden Darstellungsweise bedienten, mögen
bruchs verdächtigt worden. D e r HI. A n t o n i u s die prominenten Bilder von Sündenfall und Ver
habe d e m neugeborenen Kind geboten, den Na treibung in der Sixtinischen Kapelle oder der Be
men des Vaters zu n e n n e n , u n d der Säugling freiung Petri in der Stanza d'Eliodoro belegen 9 8 .
habe, zum Ankläger gewandt, laut vernehmlich D a ß die Verwendung solcher vermeintlich nicht
gesprochen: „Dies ist m e i n Vater". Das Relief neuzeitgemäßer Erzählweisen in der Literatur oft
zeigt, wie A n t o n i u s das Kind an die M u t t e r n u r schwer akzeptiert wird, spiegeln bestimmte
zurückreicht. Die Reaktionen der U m s t e h e n d e n Abbildungskonventionen, die entsprechende Bil
lassen erkennen, daß sich das W u n d e r soeben er der gerne in Details zerlegt oder über eine D o p
eignet hat. A m deutlichsten bringt dies die im pelseite hinweg verteilt wiedergeben. Allerdings ist
Demutsgestus vor Antonius kniende Gestalt zum m. E. gerade in diesen Fällen zu untersuchen, ob
Ausdruck. Eindeutig als weiterer Protagonist ge die W i e d e r h o l u n g von Handlungsträgern in ei
kennzeichnet ist die in stolzem Gestus beinahe nem gemeinsamen Bildraum tatsächlich im Sinne
geckenartig auftretende Figur mit H u t links von der sequentiellen Lektüre oder doch m e h r im
Antonius. Diese weist, in Oppositionshaltung zur Sinne der Konzentration verschiedener H a n d
jungen Mutter, unmittelbar vor dem Körper des l u n g s m o m e n t e auf eine zentrale Bildaussage hin,
Heiligen mit erhobener H a n d auf das Kind. D a ß sprich: als Simultandarstellung, zu verstehen ist.
der Autor in dieser Figur partout nicht den Gat
9 5 SCHULZE ALTCAPPENBERG (zit. A n m . 85), S. 31-35. - Vgl. a u c h : DERS., V o n dieser u n d anderen Welten. S a n d r o Botticellis Bil
derzyklus zur „ G ö t t l i c h e n K o m ö d i e " , in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, 37, 2 0 0 0 , S. 175—187.
9 6 PRINZ, Storia (zit. A n m . 37).
9 7 PRINZ, Storia (zit. A n m . 37), Bd. 1, S. 415416. Vgl. J. POPEHENNESSY, D o n a t e l l o Sculptor, N e w Y o r k / L o n d o n / P a r i s 1993,
S. 2 3 3 2 3 8 .
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1 5 Philemon und Baucis, Ende 15. Jahrhundert (?), Bramantino. Köln, Wallraf-Richartz-Museum.
9 9 W . SUIDA, D i e J u g e n d w e r k e d e s B a r t o l o m e o S u a t d i , g e n a n n t B r a m a n t i n o , i n : J a h r b u c h d e r k u n s t h i s t o r i s c h e n S a m m l u n
g e n d e s A l l e r h ö c h s t e n K a i s e r h a u s e s , 25, 190s, S. 1-71. - DERS., B r a m a n t e P i t t o r e e il B r a m a n t i n o , M a i l a n d 1953. G . A .
DELLACQUAE/G. MULAZZANI, B r a m a n t i n o e B r a m a n t e p i t t o r e , i n : C l a s s i c i d e l l A r t e , 9$, M a i l a n d 1978. P . C . MARANI,
„ N e i fondi d e l l e i s t o r i e " . P a e s a g g i o e t e r r i t o r i o n e l l a p i t t u r a l o m b a r d a d e l Q u a t t r o c e n t o , i n : L a p i t t u r a in L o m b a r d i a . II
Q u a t t r o c e n r o , M a i l a n d 1993, S. 3 6 9 - 3 9 6 . Z u s a m m e n f a s s e n d : R. BENTIVOGLIO RAVASIO, B r a m a n t i n o , i n : SAUR, A l l g e m e i
n e s K ü n s t l e r l e x i k o n . D i e B i l d e n d e n K ü n s t l e r aJler Z e i t e n u n d V ö l k e r , B d . 13, M ü n c h e n u n d L e i p z i g 1996, S. 5 7 2 - 5 7 4 .
100 O v i d , M e t a m o r p h o s e n , V I I I , 6 1 1 - 7 2 4 .
101 U . REHM, S t u m m e S p r a c h e d e r Bilder. G e s r i k als M i t t e l n e u z e i t l i c h e r B i l d e r z a h l u n g , i n : K u n s t w i s s e n s c h a f t l i c h e S t u d i e n ,
106, M ü n c h e n / B e r l i n 2 0 0 2 , S. 327-341.
188 ULRICH REHM
Im Vordergrund ist ein zentraler M o m e n t des hen, von dem ansonsten nichts zu sehen ist: Aus
M y t h o s zu sehen: Das alte Ehepaar kniet ehr drücklich schildert Ovid, wie Philemon und Bau
fürchtig vor den himmlischen Besuchern Jupiter cis mit Staunen u n d Trauer auf den Untergang
u n d Merkur, die soeben als G ö t t e r erkannt wor der übrigen O r t s c h a f t reagieren die Strafe f ü r
den sind. Von dieser Szene überschnitten ist rechts die mangelnde Gastfreundschaft der Nachbarn.
zu sehen, wie Philemon die Fremden e m p f ä n g t , Offensichtlich dreht sich das kontinuierende
u n d wie er, noch einmal dargestellt, eine Kuh Prinzip des Bildes gewissermaßen u m ein k o m
melkt; links, wie die G ö t t e r d e m Ehepaar gebie plettierendes M o m e n t : Das Ehepaar im Z e n t r u m
ten, nicht zu ihren Ehren die einzige G a n s zu läßt sich auf verschiedene Situationen des Mythos
schlachten. Das kontinuierende Prinzip der Dar beziehen, die sich an mehreren Stellen sinnvoll in
stellung ist evident. die sequentielle Bildlektüre einfügen lassen. Z u
Welche Rolle aber spielen die zwei zentralen gleich ist die zentrale Darstellung der zwei Prota
Gestalten des Bildes am Ende des Tisches, in de gonisten auch eine Art überzeitliches Charakter
nen noch einmal Philemon und Baucis begegnen? bild.
Dazu bietet die Literatur unterschiedliche, sich Die auffallend symmetrische u n d etwas steife
scheinbar widersprechende Lösungen a n : Wolf Bildkomposition, vor allem aber die fast pedanti
gang Suida sah hier den Abschied der beiden von sche G r u p p i e r u n g der Figuren u m die zwei
einander geschildert, bevor sie sich in die zwei B a u m s t ä m m e im Z e n t r u m u n d u m die zwei
miteinander verschlungenen Bäume unmittelbar Holzpflöcke links u n d rechts, die der Stabilisie
102
hinter ihnen verwandeln . Wolfgang Stechow rung der alterschwachen Bäume dienen, lassen al
hingegen vermutete, es handle sich u m den Au lerdings überlegen, ob die Erzählhaltung des Bil
genblick, in dem Philemon u n d Baucis ebenso des nicht noch eine weitere D i m e n s i o n hat. Bei
überrascht wie d e m ü t i g v o m L o h n f ü r ihre O v i d dient der Hinweis auf die uralte, mit einer
Gastfreundschaft erfahren 1 0 3 . Eiche verschlungene Linde in der Rahmenerzäh
Die erhobene H a n d von Philemon u n d der lung als Ausgangs u n d E n d p u n k t der sich u m
Demutsgestus von Baucis lassen aber auch andere diese Bäume rankenden Erzählung. Dementspre
D e u t u n g e n zu. Es kann sich u m das der Vorder chend lassen sich auch im G e m ä l d e die u m die
grundsszene unmittelbar vorausgehende Ereignis Bäume und ihre Pflöcke gruppierten Figuren auf
h a n d e l n : Philemon u n d Baucis reagieren mit fassen : als auf die alterschwachen Bäume proji
Staunen u n d U n t e r w e r f u n g darauf, d a ß sich der zierte mythische Assoziationen, die sich erst in der
Wein in d e m vor ihnen stehenden Kelch i m m e r Bildlektüre zu einer Geschichte zusammenfügen.
wieder von selbst füllt. Faßt m a n den Gesichts Das Bild würde in ganz eigener Art und Weise auf
ausdruck der Baucis mit ihren herabgezogenen Ovids Erzähltechnik mit R a h m e n und Haupter
Mundwinkeln als Trauer auf, so läßt sich die Dar zählung antworten.
stellung sogar auf ein Ereignis des Mythos bezie
Folgen
D a m i t sind wir bei erzähltheoretischen Proble Es sind allerdings Ergänzungen nötig: einerseits
men derjenigen Epoche angelangt, die sich unter u m die Frage, ob eine eher sequentielle oder eine
einem weit gefaßten ut pictura poesis den Erzähl simultane Auffassung besteht, andererseits u m die
möglichkeiten des Bildes ganz besonders ver M o d i zyklischen Bilderzählens. Die Grenzen die
schrieben hatte, und an deren Erschließung Franz ser eher formalen Kriterien markieren Zugänge zu
W i c k h o f f wohl am meisten lag. Auch w e n n einer Vielfalt an Aussage u n d Wirkungsabsich
W i c k h o f f an der Schwelle z u m 20. J a h r h u n d e r t ten, die je nach Darstellungsträger u n d technik
nicht als erster u n d einziger daran wirkte, die sowie nach Kontext u n d F u n k t i o n zu unter
Kunstgeschichte besonders in der Beurteilung schiedlichen Zeiten ganz unterschiedlich ausfallen
gemalter Historien von der einengenden Wer k ö n n e n . Dies bedarf ebenso der weiteren histo
teskala des 18. Jahrhunderts zu befreien, so hat er rischsystematisierenden U n t e r s u c h u n g wie die
mit seiner terminologischen Differenzierung doch Frage nach den Implikationen u n d Folgen der
ein wirksames Instrumentarium bereitgestellt, das verschiedenen bildlichen Erzählweisen für den
sich auch unter den methodischen Prämissen und ,Lektüre' oder Rezeptionsprozeß, wenn m a n zu
Zielrichtungen am Ubergang zum 21. Jahrhundert einer umfassenderen kunsthistorischen Narrativik
im Sinne von Darsteliungsmodi oder prinzi gelangen will.
pien — zur Analyse von Bilderzählungen bewährt.