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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten | 947

Weiterführende Literatur sie sei „eigentlich“ (4:391) die Grundlage der ‚Me-
Bittner, Rüdiger: „Das Unternehmen einer Grund- taphysik der Sitten‘. Umstritten ist das Verhältnis
legung zur Metaphysik der Sitten“, in: Höffe, zwischen der GMS und der KpV, die drei Jahre spä-
Otfried (Hg.): Grundlegung zur Metaphysik der ter (1788) erschien, obwohl Kant in der GMS allein
Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/ den „Vorsatze“ (4:391) äußert, „eine Metaphysik
M.: Klostermann 1993, 13–30. der Sitten dereinst zu liefern“ (4:391). Einige Briefe
Siep, Ludwig: „Wozu Metaphysik der Sitten? Be- aus der Feder → Hamanns erwecken den – aller-
merkungen zur Vorrede der Grundlegung“, in: dings nicht abschließend bestätigten – Eindruck,
Höffe, Otfried (Hg.): Grundlegung zur Metaphy- Kant sei bei der Arbeit an der GMS durch ein im
sik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Herbst 1783 veröffentlichtes Buch → Garves zu Ci-
Frankfurt/M.: Klostermann 1993, 31–44. ceros De officiis beeinflusst worden (vgl. Garve,
Timmermann, Jens: Kant’s Groundwork of the Me- De officiis). Mehrmals ist von so etwas wie „einem
taphysics of Morals. A Commentary, Cambridge Prodromo zur Moral“ die Rede (Brief an Müller
u. a.: Cambridge University Press 2007. vom 30. April 1784, Hamann, Briefwechsel, S. 141).
Josep Clusa Der endgültige Titel wird dann erstmals in einem
Schreiben an → Scheffner erwähnt: „Kant hat das
Mst. seiner Grundlegung zur Metaph. der Sitten
abgeschickt“ (Brief an Scheffner vom 19. Septem-
Grundlegung zur ber 1784, Hamann, Briefwechsel, S. 222).
Metaphysik der Sitten
Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS) 1 Vorrede
erschien 1785 in Riga bei J. F. Hartknoch. Mehrere In der Vorrede skizziert Kant die Idee einer ‚Meta-
Auflagen und Nachdrucke wurden noch zu Kants physik der Sitten‘. Darunter versteht er denjenigen
Lebzeiten publiziert, wobei die 1786 erschienene Teil der Moralphilosophie, der „völlig a priori, frei
zweite Auflage, in der eine Vielzahl von kleineren von allem Empirischen“ (4:410) versucht, mora-
Änderungen vorgenommen wurde, insgesamt als lische Gesetze aufzustellen und zu begründen.
die zuverlässigste gilt; das Manuskript ist nicht Ethik und Moral handeln nach Kant davon, was
erhalten. Eine Neuausgabe wurde 1999 von Bernd wir unbedingt tun sollen, und zwar unabhängig
Kraft und Dieter Schönecker besorgt (vgl. Kraft/ davon, was bei uns an Interessen und Wünschen
Schönecker, GMS). Es gibt keine gravierenden vorausgesetzt werden kann. Das Vermögen, uns
editorischen Probleme. unabhängig von unseren subjektiven Interessen
Mit der GMS widmet Kant erstmalig ein gan- zum Handeln bestimmen zu können, nennt Kant
zes Buch der Moralphilosophie. Aber bereits in reine praktische Vernunft. Kant meint, dass es die-
den 60er und 70er Jahren hat Kant über eine ‚Meta- ses Vermögen gibt, und wendet sich damit gegen
physik der Sitten‘ nachgedacht (den Terminus hat eine Tradition, für die moralisches Handeln ohne
Kant nicht erfunden); so beabsichtigte er schon Bezug auf bereits vorausgesetzte Interessen gar
1768, ein Werk unter diesem Titel herauszubrin- nicht sinnvoll denkbar ist.
gen (vgl. Brief an Herder vom 9. Mai 1768, 10:74). Kant parallelisiert Moralgesetze mit Naturge-
Zwischen 1773 und 1781 schweigt Kant weitgehend setzen vermittelst der Begriffe Notwendigkeit und
über seine moralphilosophischen Vorhaben. Erst Allgemeinheit. Sein Grundgedanke scheint dieser
in der KrV erscheint wieder die Idee einer ‚Me- zu sein: Notwendigkeit bedeutet, dass moralische
taphysik der Sitten‘, und zwar im Rahmen der Gesetze unabhängig von unseren Neigungen (In-
Architektonik der reinen Vernunft (KrV A 832–851 / teressen) gelten müssen, also kategorisch und
B 860–879). Es ist unklar, ob Kant nach 1781 die ausnahmslos. Die Allgemeinheit moralischer Ge-
Realisierung der Metaphysik der Sitten beabsich- setze ergibt sich daraus, dass sie der Vernunft
tigt hat, ohne dabei zunächst einen grundlegen- des Menschen entspringen (und nicht aus sei-
den Teil voranschicken zu wollen. Unklar ist auch, ner Natur) und daher auch für alle vernünftigen
welche Rolle die Idee einer ‚Kritik der reinen prak- Wesen gelten; nur als vernünftige Gesetze kön-
tischen Vernunft‘ in diesem Zusammenhang ge- nen sie auch notwendig sein. Ein moralisches
spielt hat, von der Kant ja in der GMS behauptet, Prinzip muss ein solches sein, das „sich auf kein

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Interesse gründet und also unter allen möglichen nennt Kant einen speziellen Teil der GMS selbst
Imperativen allein unbedingt sein kann“ (4:432). wieder Metaphysik der Sitten.
Daraus folgt auch, dass moralische Gesetze ohne Aufgabe der GMS ist die „Aufsuchung und
„Ausnahme“ (4:424) gelten müssen. Denn eine Festsetzung des obersten Princips der Moralität“
Ausnahme resultiert ja gerade daraus, dass wir (4:392). Im 1. und 2. Abschnitt der GMS geht es
uns „zum Vortheil unserer Neigung“ (4:424) der um Bedeutungsanalysen der elementaren moral-
kategorischen Geltung des moralischen Gesetzes philosophischen Grundbegriffe (‚Aufsuchung‘),
entziehen wollen. Moralische Gesetze sind als Ge- also um die „bloße Zergliederung der Begriffe der
setze der Freiheit zugleich autonome Gesetze, von Sittlichkeit“ (4:440). Der 3. Abschnitt der GMS
uns selbst (aber in einem nicht-konstruktivisti- leistet dagegen die „Deduction“ (4:454) des in die-
schen Sinne) hervorgebracht; in politischer und ser Begriffszergliederung eruierten kategorischen
geschichtsphilosophischer Perspektive ist damit Imperativs (‚Festsetzung‘). Kants Hinweise zur
zugleich das Aufklärungsmotiv des Selbstdenkens „Methode“ (4:392) in der Vorrede und am Ende
und Selbsthandelns verbunden. des 2. Abschnitts der GMS (4:445f.) sind daher
Kant hebt immer wieder die Apriorität der nicht so misszuverstehen, als folgten der 1. und
Moralphilosophie als einer Metaphysik der Sitten 2. Abschnitt der analytischen und der 3. Abschnitt
hervor. Es gibt nach Kant aber auch einen „empi- der synthetischen Methode im Sinne der Prole-
rischen Theil“ (4:387) der Ethik, die „praktische gomena (vgl. 4:276 Anm.). Vielmehr bezieht sich
Anthropologie“ (4:388). Was genau Kant unter An- der Begriff der Methode in der Vorrede auf die
thropologie im Verhältnis zur reinen Metaphysik ‚Übergänge‘, die in den drei Abschnitten der GMS
der Sitten überhaupt versteht, bleibt in der GMS jeweils vollzogen werden. Die Prädikate analy-
(und nicht nur dort) allerdings unklar. Eine solche tisch und synthetisch beziehen sich dagegen auf
Anthropologie spielt als systematische Wissen- die Begriffsanalysis bzw. Begriffssynthesis (vgl.
schaft und empirischer Teil der Ethik in der GMS 4:400).
tatsächlich keine Rolle, wenn auch die diversen
Ableitungen moralischer Pflichten ohne empiri- 2 Übergang von der gemeinen sittlichen
schen Kontext unmöglich sind (das zeigt sich bei Vernunfterkenntnis zur philosophischen
der Diskussion der berühmten Beispiele aus dem Der erste ‚Übergang‘ beginnt mit der „gemeinen
2. Abschnitt der GMS). sittlichen Vernunfterkenntniß“ (4:393). Kant möch-
Die GMS ist das Fundament der Metaphysik te zeigen, dass er sich mit seinen Begriffsbestim-
der Sitten. Da die GMS aber selbst schon a prio- mungen in Übereinstimmung mit dem tatsächli-
ri verfährt und sogar die „Hauptfrage“ (4:392) chen Sprachgebrauch und dem normalen Moral-
des ganzen Unternehmens beantworten muss, ist verständnis befindet. Er habe, so schreibt Kant zu
auch die GMS schon Metaphysik der Sitten. Kant Beginn des 2. Abschnitts der GMS, den „bisherigen
kündigt für „dereinst“ (4:391) eine Metaphysik Begriff der Pflicht aus dem gemeinen Gebrauche
der Sitten an, deren Aufgabe u. a. die systemati- unserer praktischen Vernunft gezogen“ (4:406).
sche und vollständige „Eintheilung der Pflichten“ Der 1. Abschnitt der GMS ist klar gegliedert: Kant
(4:421 Anm.) ist. Es handelt sich dabei um die beginnt mit dem Begriff des an sich guten Willens
1797 veröffentlichte MS. Außerdem kennt Kant (vgl. 4:393–396). Er vollzieht dann den Übergang
aber auch noch eine Metaphysik der Sitten, die zum Pflichtbegriff (vgl. 4:397), den er in drei Sät-
derjenige Teil der GMS ist, zu dem im 2. Abschnitt zen entwickelt (vgl. 4:397–401). Es folgen die erste
übergegangen und der dann im 3. Abschnitt wie- Formulierung des kategorischen Imperativs (vgl.
der verlassen wird (Übergang von der populären 4:402f.) und der Hinweis auf die natürliche Dialek-
sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten, tik der gemeinen Menschenvernunft (vgl. 4:403ff.),
4:406–445). Der Begriff der ‚Metaphysik der Sitten‘ aus welcher sich die Notwendigkeit einer weiteren
hat in der GMS also eine dreifache Bedeutung: philosophischen Analyse ergibt.
Erstens ist es ein Oberbegriff, der das ganze Unter- Es ist zunächst bemerkenswert, dass die Be-
nehmen einer Moralphilosophie a priori bezeich- stimmung, was das moralische Gesetz überhaupt
net; zweitens heißt auch die künftige Rechts- und ist (vgl. 4:420), erst erfolgt, nachdem die Analyse
Tugendlehre Metaphysik der Sitten; und drittens des guten Willens sowie die daran anschließende

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Theorie der Achtung vor dem moralischen Gesetz (Neigungen) eingeschränkt wird, kann also „nach
bereits geleistet wurden. Die Analyse eines Wil- seiner subjectiven Beschaffenheit nur durch die
lens, der das Gute allein „um desselben willen“ Vorstellung des Guten bestimmt werden“ (4:414).
(4:390) will (so Kant schon in der Vorrede), gibt Für solche Wesen mit einer solchen Vernunft ist
also zugleich Aufschluss darüber, was moralisch das Sittengesetz keine Nötigung und bedarf daher
geboten ist; daher Kants Hinweis, dass „der Begriff nicht der Form eines Imperativs: „das Sollen ist
der Handlung [aus Pflicht] an sich selbst schon hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon
ein Gesetz für mich enthält“ (4:402). von selbst mit dem Gesetz nothwendig einstimmig
Der erste Schritt (Absätze 1–3) besteht in der ist“ (4:414). Den reinen Willen begreift Kant als
These, dass bestimmte intellektuelle Begabun- den Willen Gottes oder sonstiger vollkommener,
gen, Eigenschaften des Temperaments, Glückse- weil bloß vernünftiger Wesen. Er begreift ihn aber
ligkeit oder auch klassisch verstandene Tugen- auch als den intelligiblen Willen eines sinnlich-
den „keinen innern unbedingten Werth“ (4:393f.) vernünftigen Wesens, das ausschließlich als Glied
haben. Das Hauptargument dafür ist, dass „Na- der Verstandeswelt betrachtet wird: „Als bloßen
turgaben“ (4:393) wie auch „Glücksgaben“ (4:393) Gliedes der Verstandeswelt würden also alle mei-
missbraucht werden können (wie etwa „das kalte ne Handlungen dem Princip der Autonomie des
Blut eines Bösewichts“, 4:394); die Glückselig- reinen Willens vollkommen gemäß sein“ (4:453).
keit selbst hat korrumpierenden Einfluss und ziert Für sinnlich-vernünftige Wesen, die „nicht an sich
auch nur den guten Menschen. All diese Dinge völlig der Vernunft gemäß“ (4:413) handeln, wird
sind zwar in bestimmten Kontexten nicht wertlos, das Sittengesetz zur Nötigung, die gebotene Hand-
aber für ohne Einschränkung gut halten wir nur lung zur Pflicht. Wegen dieses Unterschiedes ent-
den moralisch guten Willen: „Es ist überall nichts hält der Begriff der Pflicht den Begriff des guten
in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu Willens, aber nicht umgekehrt.
denken möglich, was ohne Einschränkung für gut Kant entwickelt den Pflichtbegriff in drei Sät-
könne gehalten werden, als allein ein guter Wille“ zen, von denen der erste allerdings nicht (explizit)
(4:393). Was dieser gute Wille ist, wird von Kant, genannt wird. Den „dritten Satz, als Folgerung
bevor er zum Pflichtbegriff übergeht, nicht spezi- aus beiden vorigen“ (4:400), drückt Kant folgen-
fiziert (er sagt nur, was er nicht ist). Kant schließt dermaßen aus: „Pflicht ist die Nothwendigkeit ei-
aber ein teleologisches Argument zur Stärkung ner Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (4:400).
seiner These vom an sich guten Willen an (Absätze Auf die Bestimmungsmomente des Pflichtbegriffs
4–7): Organisierte Lebewesen besitzen für den je- (‚Notwendigkeit einer Handlung‘, ‚Achtung fürs
weiligen Zweck optimal eingerichtete Werkzeuge. Gesetz‘) nehmen die vorangehenden Absätze
Die Vernunft ist für den Zweck der Glückselig- nicht expressis verbis Bezug. Kant macht aber
keit nicht optimal eingerichtet. Also ist sie auch deutlich, dass dasjenige, was einen aus Pflicht
kein Werkzeug zur Erlangung der Glückseligkeit, handelnden Willen bestimmt, „objectiv das Gesetz
sondern vielmehr ein praktisches Vermögen zur und subjectiv reine Achtung für dieses praktische
Bestimmung des Willens als an sich gut. Gesetz“ ist (4:400). Der „zweite Satz“ (4:399) han-
Um den Begriff des an sich guten Willens zu delt vom Moment der objektiven Notwendigkeit
„entwickeln“ (4:397), analysiert Kant im nächsten des moralischen Gesetzes und lässt sich so refor-
großen Schritt „den Begriff der Pflicht [. . . ], der mulieren: Eine Handlung aus Pflicht folgt einer
den eines guten Willens, obzwar unter gewissen durch das moralische Gesetz gebotenen Maxime
subjectiven Einschränkungen und Hindernissen, und ist damit eine durch das moralische Gesetz
enthält“ (4:397). Kant zieht hier wie auch sonst in als notwendig gebotene Handlung. Folglich muss
der GMS den Begriff eines vollkommenen Willens im ‚ersten Satz‘ das Moment der Achtung thema-
als Folie seiner Überlegungen heran. Er unter- tisch sein. Er muss lauten: Eine Handlung aus
scheidet mehrmals zwischen einem Willen, der Pflicht ist eine Handlung aus Achtung fürs Gesetz.
nur gut sein kann, und einem Willen, der zwar Eine Handlung hat also, subjektiv betrachtet, nur
gut sein kann, aber nicht notwendigerweise gut dann unbedingten moralischen Wert, wenn sie
ist. Ein Wesen, das über einen reinen Willen ver- aus Achtung für das Sittengesetz geschieht, oder
fügt und durch keine ‚subjektiven Hindernisse‘ eben mit anderen Worten, wenn sie aus Pflicht ge-

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schieht. Auf der Differenz wiederum zwischen der könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz
(objektiven) Übereinstimmung mit dem Gesetz werden“ (4:402). Es ist höchst strittig, wie diese
und der (subjektiven) Achtung fürs Gesetz beruht Ableitung des kategorischen Imperativs genau zu
der Unterschied zwischen einer pflichtmäßigen verstehen bzw. ob sie erfolgreich ist (sie ist nicht
Handlung und einer Handlung aus Pflicht. zu verwechseln mit der Deduktion im 3. Abschnitt
Ohne als solcher genannt zu werden, wird der GMS). Denn hier wie schon vorher im Text (vgl.
der Begriff der Achtung von Kant in den Absätzen 4:393ff.) ist nicht deutlich, ob Kant, und wenn ja,
9 bis 13 herausgearbeitet (vgl. 4:397ff.). Kants Aus- wie genau und ob erfolgreich, gegen konsequen-
führungen und Beispiele (vgl. 4:397ff.: kaufmän- tialistische Theorien argumentiert, was aber für
nische Ehrlichkeit, Suizid, Wohltätigkeit, Glückse- die Beschränkung auf die „bloße Gesetzmäßig-
ligkeit) zeigen deutlich, dass pflichtwidrige Hand- keit“ (4:402) als Grundlage des Inhalts der Moral
lungen, aber auch pflichtmäßige Handlungen, die notwendig scheint. Es kommt hinzu, dass Kant
aus mittelbarer Neigung erfolgen (also Handlun- hier schon indirekt auf den Gedanken der Auto-
gen, die zwar objektiv im Einklang mit dem mora- nomie vorgreift, der aber erst viel später im Text
lisch Gebotenen sind, aber nicht um der Moralität auftaucht.
willen geschehen, sondern aus einem direkten Kant schließt den ersten Abschnitt mit hier
Interesse, wie etwa dem des Krämers), keinen (vgl. 4:403ff.) wie auch an anderen Gelenkstellen
moralischen Wert haben. Viel weniger eindeu- eindringlich vorgetragenen Warnungen vor einer
tig ist die Frage zu beantworten, ob nach Kant empiristischen Ethik (vgl. 4:387–392; 4:406–412;
eine Handlung aus Pflicht (d. i. aus Achtung) in 4:425ff.; 4:441ff.; 4:447f.).
der einen oder anderen Weise von einer unmit-
telbaren Neigung zur betroffenen Person (Liebe, 3 Übergang von der populären sittlichen
Sympathie, Mitleid) begleitet, verstärkt oder sogar Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten
ersetzt werden darf. Achtung ist für Kant ein von Die Struktur des zweiten Abschnitts ist, anders als
der Vernunft gewirktes und daher selbstgewirktes die des ersten, komplexer und nicht immer durch-
Gefühl der moralischen Motivation. Hinter der sichtig. Sachlich neue Überlegungen beginnen
interpretatorischen Schwierigkeit, die sich vor al- erst dort, wo Kant das „praktische Vernunftvermö-
lem aus einer unklaren Stelle („Weit schwerer ist gen“ (4:412) analysiert. Im Mittelpunkt dieser Ana-
dieser Unterschied zu bemerken, wo die Hand- lyse steht der Begriff des Imperativs, den Kant all-
lung pflichtmäßig ist und das Subjekt noch über- gemein als nötigendes Vernunftprinzip bestimmt
dem unmittelbare Neigung zu ihr hat“, 4:397) so- und dann unterteilt in kategorische und hypothe-
wie aus den missverständlichen Beispielen ergibt, tische Imperative (vgl. 4:412–417). Sodann fragt er,
steckt das sachliche Problem, dass das Motiv der wie diese Imperative möglich sind. Er gibt die Ant-
Achtung dem Motiv der unmittelbaren Neigung wort mit Bezug auf hypothetische Imperative (vgl.
so ähnlich ist („Analogie“ mit ihm hat, 4:401). 4:417ff.), verschiebt aber die Antwort auf die Fra-
→ Schillers berühmte Xenie („Gerne dien ich den ge, wie kategorische Imperative möglich sind (vgl.
Freunden, doch thu ich es leider mit Neigung, 4:419f.), auf den 3. Abschnitt der GMS. Stattdes-
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft sen fährt er fort mit der Begriffsexplikation und
bin“, Schiller, Werke, S. 357) geht direkt auf diesen präsentiert eine (oder auch die) Grundformel des
Konflikt zurück. kategorischen Imperativs (vgl. 4:420f.). Die alter-
Dass Kant erst nach der Analyse der mora- native Darstellung in der Naturgesetzformel nutzt
lischen Motivation und im Anschluss an deren Kant für eine erste Einteilung der Pflichten (vgl.
Ergebnisse den kategorischen Imperativ ableitet, 4:421ff.). Aber auch danach verschiebt er wieder
wird schon daraus deutlich, dass er erst nach die- die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des
ser Analyse fragt: „Was kann das aber wohl für kategorischen Imperativs. Er vollzieht zunächst
ein Gesetz sein [. . . ]?“ (4:402), das den moralisch den „Übergang [. . . ] zur Metaphysik der Sitten“
guten Willen objektiv bestimmen muss? Kants (4:406). Innerhalb dieser Metaphysik der Sitten
Antwort lautet: Der kategorische Imperativ, den er thematisiert Kant dann einige Grundbegriffe sei-
an dieser Stelle erstmalig formuliert („ich soll nie- ner Moralphilosophie mit den entsprechenden
mals anders verfahren als so, daß ich auch wollen Formeln des kategorischen Imperativs: Zweck an

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sich (vgl. 4:427ff.), Autonomie (vgl. 4:430ff.), Reich Möglichkeit (d. h. Geltung) leicht erkläre, die Syn-
der Zwecke (vgl. 4:433ff.); eine Zusammenfassung thetizität des kategorischen Imperativs die Frage
(vgl. 4:436ff.) und ein Überblick über Autonomie nach dessen Möglichkeit dagegen nur schwer be-
und Heteronomie (vgl. 4:440ff.) schließen sich an. antwortbar mache. Der synthetische Charakter
Auch bei der Analyse des praktischen Ver- kategorischer Imperative scheint darin zu liegen,
nunftvermögens steht wieder die Begrenztheit ver- dass durch einen moralischen Imperativ das Wol-
nünftig-sinnlicher Wesen im Mittelpunkt, also die len des Guten mit dem Willen eines sinnlich-ver-
von Kant behauptete Tatsache, dass vernünftiges nünftigen Wesens verknüpft wird, das dieses Gute
Wollen und Handeln für Wesen, deren „Wille nicht nicht ohne weiteres will: „Ich verknüpfe mit dem
an sich völlig der Vernunft gemäß [ist] (wie es bei Willen ohne vorausgesetzte Bedingung aus irgend
Menschen wirklich ist)“, eine „Nöthigung“ und da- einer Neigung die That a priori, mithin nothwen-
mit ein „Sollen“ (4:413) beinhaltet. Die praktische dig (obgleich nur objectiv, d. i. unter der Idee ei-
Vernunft ist das Vermögen, objektive, notwendige, ner Vernunft, die über alle subjectiven Bewegur-
für alle Vernunftwesen (universale) Handlungs- sachen völlige Gewalt hätte). Dieses ist also ein
normen aufzustellen (Vernunft als principium dii- praktischer Satz, der das Wollen einer Handlung
udicationis) und nach ihnen zu handeln, sie also nicht aus einem anderen, schon vorausgesetzten
zu wollen (principium executionis; daher iden- analytisch ableitet (denn wir haben keinen so
tifiziert Kant zuweilen die praktische Vernunft vollkommenen Willen), sondern mit dem Begriffe
mit dem Wollen). Im Unterschied dazu bezeich- des Willens eines vernünftigen Wesens unmit-
net der Begriff der Maxime eine Handlungsregel, telbar als etwas, das in ihm nicht enthalten ist,
sofern man sie sich zu eigen gemacht hat (was verknüpft“ (4:420 Anm.).
natürlich nicht ausschließt, dass eine solche Re- Noch vor dem Übergang zur Metaphysik der
gel tatsächlich mit einer objektiv-notwendig Ver- Sitten (vgl. 4:426f.) präsentiert Kant eine Grund-
nunftregel zusammenfällt). Solche vernünftigen formel des kategorischen Imperativs und auch
Handlungsnormen sind hypothetische Imperative die sogenannte Naturgesetzformel. Die Grund-
und kategorische Imperative. Der kategorische oder Universalisierungsformel lautet: „handle nur
Imperativ ist der schon aus dem 1. Abschnitt der nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich
GMS bekannte moralische Imperativ der Pflicht. wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz wer-
Die hypothetischen Imperative teilt Kant auf in de“ (4:421). Es ist strittig, ob diese Formel mit der
die technischen „Imperative der Geschicklichkeit“ in 4:436f. präsentierten Formel identisch ist oder
(4:415) und die pragmatischen „Imperative der nicht: „handle nach der Maxime, die sich selbst
Klugheit“ (4:417). Hypothetische Imperative ge- zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann“
bieten eine Handlung unter der Voraussetzung (4:436f.). In 4:431 zählt Kant drei verschiedene
eines vielleicht gewollten Zweckes (irgendeines Formeln auf: Die (jeweils sogenannte) Naturge-
Zweckes) oder sie gebieten Handlungen hinsicht- setzformel, die Zweck-an-sich-Formel und die Au-
lich des von allen Menschen gewollten Zweckes tonomie-Formel. Auch später (vgl. 4:436f.) zählt
der Glückseligkeit (die ersteren nennt Kant daher Kant wieder drei Formeln auf, wobei aber die Auto-
auch problematische, die letzteren assertorische nomie-Formel durch die Reich-der-Zwecke-Formel
Imperative). Daher sind hypothetische Imperative ersetzt wird, so dass man vier Formeln zählt. Da
„bedingt, nämlich: wenn oder weil man dieses Kant außerdem behauptet, dass all diese Formeln
Object will, soll man so oder so handeln“ (4:444); „im Grunde nur so viele Formeln eben desselben
der kategorische Imperativ wird dagegen „durch Gesetzes“ (4:436) seien, nämlich der allgemeinen
keine Bedingung eingeschränkt“ (4:416). Formel, muss man insgesamt mindestens fünf ver-
Nach der Einteilung der Vernunftprinzipi- schiedenen Formeln des kategorischen Imperativs
en in hypothetische und kategorische Imperative zählen.
stellt Kant „die Frage: wie sind alle diese Impe- Alle diese Formeln sollen nach Kant im Grun-
rative möglich?“ (4:417). Wiederholt nennt Kant de dasselbe ausdrücken. Doch schon der Vergleich
die hypothetischen Imperative analytisch und der Ableitungen vollkommener und unvollkom-
den kategorischen Imperativ synthetisch, wobei mener Pflichten gegen sich selbst und gegen an-
die Analytizität hypothetischer Imperative deren dere auf der Grundlage der Naturgesetzformel

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(vgl. 4:421ff.) und der Zweck-an-sich-Formel (vgl. dagegen die Frage nach der Geltung des mora-
4:429f.) beweist, wie verschieden die Formeln lischen Gesetzes als eines kategorischen Impe-
sind. Bei der Naturgesetzformel (die der allgemei- ratives für sinnlich-vernünftige Wesen und die
nen Formel am nächsten kommt) geht es um die Frage nach der Voraussetzung dieses Gesetzes,
Idee der Universalisierung von Maximen (derge- der Möglichkeit der Freiheit.
stalt, dass unstatthafte Maximen ohne logischen Von entscheidender Bedeutung ist das Ver-
oder vielleicht nur praktischen Widerspruch nicht ständnis dessen, was man Kants Analytizitäts-
gewollt bzw. gedacht werden können). Dagegen these (Sek.1) nennen könnte: „[. . . ] also ist ein
beruht die Zweck-an-sich-Formel im Sinne eines freier Wille und ein Wille unter sittlichen Geset-
moralischen Realismus auf der Idee, dass „die zen einerlei“ (4:447). Kants These, dass unter der
vernünftige Natur [. . . ] als Zweck an sich selbst Voraussetzung der Freiheit des Willens das morali-
[existiert]“ (4:429), also „Person“ (4:429) ist und sche Gesetz „durch bloße Zergliederung“ (4:447) –
„absoluten Werth“ (4:428) oder „Würde“ (4:434) also analytisch – aus dem Begriff des freien Wil-
hat. Demzufolge sind Handlungen bzw. Maximen lens folgt, und dass der kategorische Imperativ
dann verboten, wenn sie auf die eine oder andere dennoch ein synthetischer Satz ist, erscheint nur
Weise diesen Status von Vernunftwesen verlet- sinnvoll, wenn der Wille, von dem in der Ana-
zen. lytizitätsthese die Rede ist, der Wille in noume-
Die abschließenden Teile des 2. Abschnitts naler Perspektive ist, und wenn infolgedessen
der GMS zur Autonomie und Heteronomie tra- das Gesetz, von dem die Analytizitätsthese han-
gen nichts wesentlich Neues zur „Zergliederung delt, nicht der kategorische Imperativ ist, sondern
der Begriffe der Sittlichkeit“ (4:440) bei. Kant be- das moralische Gesetz. Auch hier macht Kant die
tont aber noch einmal, dass nach aller Zerglie- Idee eines vollkommenen Willens zur Folie seiner
derung die Sittlichkeit ein „Hirngespinst“ (4:445) Argumentation. Kants Analytizitätsthese besagt
sein könnte. Einmal mehr hebt er also hervor, demnach: Freiheit als das Vermögen, ganz von
dass die Frage, wie ein kategorischer Imperativ selbst etwas hervorzubringen, muss als Kausa-
möglich sei, erst innerhalb einer Kritik der rei- lität wie jede Kausalität ein Gesetz haben, und
nen praktischen Vernunft beantwortet werden da durch den negativen Freiheitsbegriff Naturge-
kann. setzlichkeit ausgeschlossen ist, und da zudem
keine andere Gesetzlichkeit in Frage kommt, ist
4 Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Freiheit die „Eigenschaft des Willens, sich selbst
Kritik der reinen praktischen Vernunft ein Gesetz zu sein“ (4:447); dieses Gesetz ist das
Der 3. Abschnitt der GMS gehört zu den dunkels- moralische Gesetz (aber nicht als kategorischer
ten Passagen in Kants Werk überhaupt. Dabei ist Imperativ).
die zentrale Frage des 3. Abschnitts („Wie ist ein Der nächste Schritt in Kants Gedankengang
kategorischer Imperativ möglich?“, 4:453) schon (Sek.2) ist ein transzendentales Argument: Jedes
sehr früh (vgl. ab 4:417) die Leitfrage des ganzen vernunftbegabte Wesen muss sich als denkendes
Buches. Doch schon die genaue Bedeutung dieser Wesen für spontan und damit für transzendental
Frage, die Kant offenkundig parallel zur Frage aus frei halten, weil sonst der mit jedem Aktus des
der theoretischen Philosophie stellt, wie syntheti- Denkens – auch mit dem, der den Determinismus
sche Urteile a priori möglich sind, ist umstritten, behauptet – unvermeidlich erhobene Geltungs-
und das angemessene Verständnis von Kants Ant- anspruch unmöglich ist; der Aktus des Denkens
wort – Kant nennt dies die „Deduction“ (4:447; ist ein Aktus der Spontaneität, und Spontaneität
vgl. 4:454; 4:463) der Freiheit und des kategori- beinhaltet transzendentale Freiheit. Und weil es
schen Imperativs – umso mehr. In der Sek.5 führt „doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft
Kant ausführlich aus, warum die Frage, wie die sein kann, die bloß in der Anwendung unterschie-
reine praktische Vernunft eine tatsächliche bewe- den sein muß“ (4:391), muss die denkende Ver-
gende Kraft ausüben könne, nicht beantwortet nunft „folglich“ auch „als praktische Vernunft“
werden kann; insoweit kann die Frage nach der (4:448) frei sein (vgl. dazu Rez. Schulz). Dass Frei-
Möglichkeit des kategorischen Imperativs also heit nur eine „Idee“ (4:448) ist, heißt also nicht,
nicht beantwortet werden. Beantwortet werden dass Kant für die Voraussetzung der Freiheit kein

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triftiges Argument hätte. Es heißt nur, dass man Gültigkeit des Sittengesetzes zu rekurrieren). Als
Freiheit nicht erklären kann, in dem strikten Sin- ein „vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt
ne von empirischer Erklärung, den Kant in der gehöriges Wesen“ (4:452) ist der Mensch „als Intel-
KrV entwickelt hatte und auf den er in der Sek.5 ligenz das eigentliche Selbst“ (4:457), und sofern
rekurriert. der Mensch nur in dieser noumenalen Perspektive
Mit der Sek.2 ist noch nicht bewiesen, dass betrachtet wird, ist das moralische Gesetz in der
der Mensch sich als ein vernünftiges Wesen den- Tat eine direkte „Folge“ (4:453) seiner Freiheit:
ken darf. Unbewiesen ist bis dahin auch die Gel- „Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei
tung des moralischen Gesetzes als eines kategori- denken, so versetzen wir uns als Glieder in die
schen Imperativs für menschliche Wesen. So hält Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des
Kant zu Beginn der Sek.3 ausdrücklich fest, er Willens, sammt ihrer Folge, der Moralität; denken
sei hinsichtlich der Frage, „woher das moralische wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns
Gesetz verbinde“ (4:450), noch „um nichts weiter als zur Sinnenwelt gehörig und doch zugleich zur
gekommen“ (4:449). Denn selbst wenn Freiheit als Verstandeswelt gehörig“ (4:453). Die Frage nach
Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen der Möglichkeit des kategorischen Imperativs als
vorausgesetzt werden muss, folgt daraus nicht die Frage nach dessen Geltung beantwortet Kant in
Gültigkeit des kategorischen Imperativs für sinn- Sek.4 (was danach in Sek.5 und der Schlussanmer-
lich-vernünftige Wesen, weil das mit jener Freiheit kung kommt, trägt zur eigentlichen Deduktion
direkt verbundene Gesetz nur das moralische Ge- nichts mehr bei).
setz als analytischer Satz ist. Der kategorische Kant wiederholt in Sek.4 zunächst noch ein-
Imperativ ist aber ein synthetischer Satz, d. h. ein mal die Analytizitätsthese aus Sek.1, wonach ‚ein
Satz, der für sinnlich-vernünftige Wesen gelten freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen
soll. Daher erfolgt der abschließende Übergang einerlei‘ sind: „Als bloßen Gliedes der Verstan-
von der analytisch zergliedernden Metaphysik der deswelt“ (4:453) – und das heißt: als Wesen, das
Sitten zur beweisenden Kritik der reinen prakti- ausschließlich frei und vernünftig handelt – „wür-
schen Vernunft auch erst in der Sek.3. den also alle meine Handlungen dem Princip der
Genau an dieser Stelle entsteht der berühmte Autonomie des reinen Willens vollkommen ge-
und umstrittene Verdacht auf eine „Art von Cir- mäß sein“ (4:453). Die Deduktion erfolgt dann in
kel“ (4:450). Kant spricht auch von der bloßen einem einzigen Satz (vgl. 4:453f.), der außeror-
„Erbittung eines Princips“ (4:453), was seine Über- dentlich schwer interpretierbar ist, aber folgen-
setzung des logischen Terminus petitio principii dermaßen rekonstruiert werden kann: ‚Weil die
ist. Doch für Kant ist, dies blieb lange unbeachtet, Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt ent-
eine petitio principii kein circulus in probando hält, weil sie mithin auch den Grund der Gesetze
(vgl. 9:135; Refl. 3314, 16:774). Der Zirkel besteht der Sinnenwelt enthält, weil sie also in Ansehung
daher nicht darin, dass wir frei sind, weil wir dem meines Willens, der ganz zu ihr gehört, unmit-
moralischen Gesetz unterworfen sind, und dass telbar gesetzgebend ist und weil sie also auch in
wir dem moralischen Gesetz unterworfen sind, Ansehung meines Willens als eine Verstandeswelt
weil wir frei sind. Das Problem besteht darin, we- gedacht werden muss, die den Grund der Sinnen-
gen der „Wichtigkeit“ (4:450) des moralischen welt und den Grund der Gesetze derselben enthält,
Gesetzes die Freiheit nur „um des sittlichen Geset- so werde ich mich als ein Wesen, das sich zugleich
zes willen“ (4:453) anzunehmen, ohne sie eigens als Glied der Verstandeswelt (Intelligenz) und als
zu beweisen, sowie in dem Missverständnis, dass Glied der Sinnenwelt betrachtet, dem Gesetze der
sich aus der Freiheit des menschlichen Willens die Verstandeswelt, mithin der Vernunft, die in der
Gültigkeit des moralischen Gesetzes als eines ka- Idee der Freiheit das Gesetz der Verstandeswelt
tegorischen Imperativs als direkte „Folge“ (4:453) enthält, und also der Autonomie des Willens un-
ableiten ließe. Kant begegnet dem Zirkelverdacht, terworfen erkennen und folglich die Gesetze der
indem er in Anknüpfung an das Argument aus der Verstandeswelt für mich als Imperative und die
Sek.2 die Freiheit des menschlichen Willens über diesem Prinzip gemäßen Handlungen als Pflich-
die „reine Selbstthätigkeit“ (4:452) von Verstand ten ansehen müssen.‘ – Auch an einer späteren
und Vernunft beweist (also ohne dabei auf die Stelle wird deutlich, dass Kant in der Tat mit der

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954 | Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

ontischen Superiorität der Verstandeswelt argu- rativs (vgl. Kerstein, Supreme Principle of Morali-
mentiert, wenn er schreibt, dass das moralische ty)? Im 2. Abschnitt der GMS sind es, abgesehen
Gesetz „für uns als Menschen gilt, da es aus unse- von der Zählung der diversen Formeln und deren
rem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem Verhältnis zueinander, vor allem die Beispiele der
eigentlichen Selbst entsprungen ist; was aber zur Ableitung von vollkommenen und unvollkomme-
bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft nen Pflichten gegen sich selbst und gegen andere,
nothwendig der Beschaffenheit der Sache an sich die ungebrochen Stoff für Analysen bieten (vgl.
selbst untergeordnet“ (4:461). Kants Deduktion des Schönecker/Wood, Kants Grundlegung). Schließ-
kategorischen Imperativs lässt sich also folgen- lich ist zu klären, wie der von Kant behauptete
dermaßen zusammenfassen: Der Mensch verfügt analytische Charakter hypothetischer Imperative
über das Vermögen der Vernunft, das als epistemi- zu verstehen ist.
sches Vermögen eine Form reiner Selbsttätigkeit Mit Bezug auf den 3. Abschnitt der GMS sind
ist. Als ein solches Wesen muss der Mensch sich folgende Fragen wichtig: Wie ist das analytische
als Intelligenz und damit als Glied der Verstandes- Verhältnis von Freiheit (Autonomie) und Sittenge-
welt betrachten, das zugleich auch seinen Willen setz zu verstehen? Hat Kant überhaupt einen Be-
als frei verstehen muss. Da mit dieser Freiheit das weis für die epistemische Freiheit (Spontaneität)
Sittengesetz analytisch verbunden ist, erkennt vernünftiger Wesen? Gibt es über den Nachweis
auch der Mensch, wenn und sofern er sich als ein hinaus, dass vernünftige Wesen sich für praktisch
solches Wesen begreift, die Autonomie und das autonom halten dürfen, noch eine weitere Leis-
moralische Gesetz als Gesetz seines vernünftigen tung, die Kant erbringt? Und wie ist in diesem
Wollens. Und da die Verstandeswelt und damit Zusammenhang der Zirkelverdacht Kants zu ver-
auch der Wille als Glied dieser intelligiblen Welt stehen? (vgl. Schönecker, Grundlegung III)
der Sinnenwelt ontisch übergeordnet sind, gilt das In sachlicher Hinsicht sind immer noch
Gesetz jener Welt (das Sittengesetz) auch als Ge- Kants (angeblicher) Rigorismus, seine (angebli-
setz (als kategorischer Imperativ) für Wesen, die che) Geringschätzung von (nicht durch Vernunft
zugleich Glieder der Sinnenwelt und der Verstan- bewirkten) Gefühlen und die ganze Idee der (so-
deswelt sind. Kraft des Unterschiedes zwischen genannten) Universalisierung die Hauptangriffs-
der intelligiblen Welt und der Sinnenwelt vermag punkte von Kants Moralphilosophie. In Anknüp-
Kant das Sollen, das im kategorischen Imperativ fung an die Arbeiten von John Rawls wurde in
enthalten ist, als ein eingeschränktes eigenes Wol- letzter Zeit zudem eine sogenannte konstruktivis-
len zu verstehen: „Das moralische Sollen ist also tische Lesart und Weiterentwicklung der kanti-
eigenes nothwendiges Wollen als Gliedes einer schen Moralphilosophie vertreten, die auf Kants
intelligibelen Welt und wird nur so fern von ihm metaphysische Voraussetzungen und Thesen weit-
[sc. dem Menschen] als Sollen gedacht, als er sich gehend verzichtet.
zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet“
(4:455). Weiterführende Literatur
Allison, Henry E.:. Kant’s Groundwork for the Me-
Interpretationslage taphysics of Morals. A Commentary. Oxford
Kants Moralphilosophie und besonders seine GMS University Press 2011.
üben bis heute über alle philosophischen Traditio- Baron, Marcia: Kantian Ethics almost without Apo-
nen und Lager hinweg einen ungebrochen großen logy, Ithaca: Cornell University Press 1995.
Einfluss aus. Die Auseinandersetzung mit Kants Delfosse, Heinrich P.: Kant-Index, Bd. 15, Stellen-
Moralphilosophie ist zudem immer noch überwie- index und Konkordanz zur ‚Grundlegung zur
gend eine Auseinandersetzung mit der GMS. Im Metaphysik der Sitten‘, Stuttgart-Bad Cannstatt:
1. Abschnitt der GMS stehen zwei Probleme im Frommann-Holzboog 2000.
Vordergrund: Erstens, was genau heißt es, aus Freudiger, Jürg: Kants Begründung der prakti-
Pflicht zu handeln, und in welchem Verhältnis schen Philosophie. Systematische Stellung, Me-
steht das Motiv der Achtung zu Motiven der Nei- thode und Argumentationsstruktur der ‚Grund-
gung (vgl. Baron, Kantian Ethics)? Zweitens, wie legung zur Metaphysik der Sitten‘, Bern u. a.: P.
verläuft Kants Ableitung des kategorischen Impe- Haupt 1993.

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Grundsatz | 955

Guyer, Paul: „Kant’s Groundwork of the Metaphy- Verwandte Stichworte


sics of Morals“, in: Gregor, Mary (Hg.): Criti- Beweis; Methode
cal Essays, Lanham: Rowmann & Littlefield
1998. Philosophische Funktion
Horn, Christoph / Schönecker, Dieter (Hg.): Kant, Gründlichkeit ist für die wissenschaftliche oder
Immanuel: Groundwork for the Metaphysics of → scholastische Methode charakteristisch und
Morals, Berlin u. a.: de Gruyter 2008. steht der „populare[n] Methode“ des Philosophie-
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der rens gegenüber: während die letztere nur auf „Un-
Sitten. Ein kooperativer Kommentar, hg. von terhaltung“ abzielt, „geht [erstere] auf Gründlich-
Otfried Höffe, Frankfurt/M.: V. Klostermann keit und entfernt daher alles Fremdartige“ (9:148).
1989. Kant betrachtet sein eigenes transzendentales
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Projekt in diesem Sinne als gründlich. Der populä-
Sitten, hg. von Jens Timmermann, Göttingen: ren Methode steht er misstrauisch gegenüber: Im
Vandenhoeck & Ruprecht, 2004. Vorwort zur zweiten Auflage der KrV merkt er an,
Kerstein, Samuel J.: Kant’s Search for the Supreme „daß der Geist der Gründlichkeit in Deutschland
Principle of Morality, Cambridge: Cambridge nicht erstorben, sondern nur durch den Modeton
University Press 2002. einer geniemäßigen Freiheit im Denken auf kurze
Paton, Henry J.: The Categorical Imperative. A Zeit überschrien worden“ ist (KrV B XLIIf.). Gründ-
Study in Kant’s Moral Philosophy, New York: lichkeit kann allerdings auch zur → Pedanterie
Hutchinson 1947. verkommen, welche nur eine „affectirte Gründ-
Schönecker, Dieter: Kant: Grundlegung III. Die De- lichkeit“ (9:47) darstellt. Auf eine solche Praxis
duktion des kategorischen Imperativs, Freiburg deutet Kant in der KrV hin, wenn er Aristoteles’ Ge-
u. a.: Alber 1999. brauch der logischen Themen anprangert, „deren
Schönecker, Dieter / Wood, Allen, W.: Kants sich Schullehrer und Redner bedienen konnten,
‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘. Ein um [. . . ] nachzusehen, was sich am besten für ei-
einführender Kommentar, Paderborn: Schö- ne vorliegende Materie schickte, und darüber mit
ningh 2004. einem Schein von Gründlichkeit zu vernünfteln“
Timmermann, Jens (Hg.): Kant’s ‚Groundwork (KrV A 268f. / B 324f.). Und in der Religion werden
of the Metaphysics of Morals‘. A Critical Gui- diejenigen Theologen, die auf die Philosophie nur
de, Cambridge: Cambridge University Press einen flüchtigen Blick werfen, von Kant dafür ge-
2013. rügt, dass ihnen die Gründlichkeit abgeht, die
Wood, Allen W.: Kant’s Ethical Thought, Cam- für ordentliche und vollständige Untersuchungen
bridge: Cambridge University Press 1999. nötig ist (vgl. 6:10).
Dieter Schönecker Peter Thielke
(Übersetzung: Sebastian Boll)

Gründlichkeit
Gründlichkeit stellt eine Methode dar, philosophi- Grundsatz
sche Themen zu behandeln, und ist die Grundlage Im üblichen weiten Sinn ist ein Grundsatz eine
für eine logisch strenge Bearbeitung eines Pro- allgemeine als wahr erkannte Regel, aus der man
blems. Kant definiert „Gründlichkeit“ als „zweck- andere Erkenntnisse ableiten kann. In einem we-
mäßige Genauigkeit in Formalien“ und „scho- niger üblichen engen Sinn ist eine Regel nur dann
lastische Vollkommenheit“ (9:47). Zur logischen ein Grundsatz, wenn sie selbst keiner Ableitung
Vollkommenheit der Erkenntnis führt Kant aus, fähig ist. Kant verwendet ‚Grundsatz‘, ‚Prinzip‘
dass sie „in der Deutlichkeit, der Gründlichkeit und ‚principium‘ normalerweise gleichbedeutend.
und systematischen Anordnung derselben zum Wichtige Stellen: KrV A 130f. / B 169f.; KrV A 148 /
Ganzen einer Wissenschaft“ (9:140) bestehe. Kant B 188; 5:19; 5:285; 9:7; 9:110.
vergleicht sie mit einer „populare[n] Methode“
(9:148), die diese Strenge nicht aufweist. Weitere Verwandte Stichworte
wichtige Stellen: KrV B XLIIf.; 9:47. Prinzip; Postulat; Analytik der Grundsätze

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Kant-Lexikon

|
Herausgegeben von
Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg,
Georg Mohr, Stefano Bacin
unter Mitarbeit von
Thomas Höwing, Florian Marwede, Steffi Schadow

in Verbindung mit
Eckart Förster, Heiner Klemme, Christian Klotz,
Bernd Ludwig, Peter McLaughlin, Eric Watkins

Band 1
a priori / a posteriori – Gymnastik

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Herausgeber
Marcus Willaschek, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt
Jürgen Stolzenberg, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Georg Mohr, Universität Bremen
Stefano Bacin, Università Vita-Salute San Raffaele, Milano

ISBN 978-3-11-017259-1
e-ISBN (PDF) 978-3-11-044399-8
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-044401-8

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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier
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