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Von der Utopie zur Realität – die gesellschaftliche Relevanz des

Internets

Bertolt Brecht hatte Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, die sehr
politisch gemeinte Vision, dass „der Rundfunk der denkbar großartigste
Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens wäre, […]wenn er es verstünde,
nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur
zu hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern
ihn auch in Beziehung zu setzen.“ Wir wissen, dass das Radio zu dieser Form des
Dialogs – abgesehen vom Amateurfunk – aus technischen Gründen nicht fähig
war und ist. Das Web 2.0 ermöglicht es nun die ehemaligen „Zuhörer“ („the
people formerly known as the audience“1) „sprechen zu machen“. Millionen von
Menschen schreiben Artikel auf Wikipedia, laden Fotos auf Flickr sowie Videos auf
Youtube oder betätigen sich als Weblog-AutorInnen. Die großen
Medienunternehmen mussten ihre Monopolstellung bei der Bildung der
öffentlichen Meinung abgeben und diese Macht nun mit zahlreichen Web 2.0-
AktivistInnen teilen.

Der Begriff „Web 2.0“ wurde 2004 von dem US-amerikanischen Verleger Tim
O’Reilly geprägt. Er sollte das Entstehen neuer partizipativer und kollaborativer
Internetanwendungen beschreiben, die nach dem Platzen der „Internetblase“ im
Jahr 2000 entstanden sind. Neben neuen Techniken, die die niederschwellige
Publikation, Vernetzung und Interaktion ermöglichen, haben sich auch neue
kommunikationskulturelle Formen der Nutzung entwickelt. Dialog und
Kommunikation, statt Einweg-Information, beleben das Internet. Die NutzerInnen
bilden Interessenskoalitionen in Social Networks und partizipieren an der
Erstellung der für sie relevanten Inhalte. Kreative Prozesse, wie die
Weiterentwicklung von Programmen und Inhalten, werden durch neue
Urheberrechtsmodelle (z.B. freie Lizenzen für Open Source Software oder
Creative Commons2 für Content) gefördert.

Während traditionelle Medien wie Print, Radio und TV Beteiligung nur in sehr
eingeschränktem Umfang – schon alleine aufgrund der technischen
Gegebenheiten – zulassen wird das Internet und insbesondere das partizipative
Web 2.0 zu einem Labor des interaktiven Experimentierens.

Eindrucksvoll konnte die sogenannte „Twitter-Revolution“ im Iran nach den


Wahlen im Frühsommer 2009 zeigen, welche Rolle das Web 2.0 bei der
Koordinierung von Protesten und der Generierung von internationaler
Aufmerksamkeit spielen kann. Zahlreiche Beteiligte berichteten unmittelbar von
den Geschehnissen auf Twitter – einem Microblogging-Dienst, der nur 140
Zeichen pro Nachricht zulässt – in Weblogs und auf Youtube über die Ereignisse.
Auch aufgrund der Einschränkungen, denen die internationalen
MedienvertreterInnen im Iran unterworfen waren, konnte diese Berichterstattung
durch die Betroffenen wesentlich zum Gesamtbild beitragen.

1
Jay Rosen, Journalismus-Forscher an der New York University
2
www.creativecommons.at
Ebenso wurde das Potential des Internet bei den Protesten an den Universitäten
in Österreich im Herbst 2009 deutlich. Max Kossatz, Blogger und Berater in Wien,
analysierte in einem Weblogeintrag3 sehr anschaulich mit einer Video-Animation,
wie sich die Information und die anschließend aufflammenden Proteste über
Twitter bis nach Deutschland verbreiteten. Über die Web 2.0-
Kommunikationskanäle konnten viele Personen erreicht und zur Beteiligung
motiviert werden. Interessant an dem Protest war nicht nur die „kollektive
Organisation in Realtime“, wie die Wissenschafterin Jana Herwig die neuen
Kommunikationsformen angesichts von teilweise mehr als 2.000 ZuseherInnen
der Live-Video-Übertragungen aus dem besetzen Audimax der Universität Wien in
einem lesenswerten Blogbeitrag4 beschreibt, sondern auch, dass der Protest ohne
die Nutzung etablierter Strukturen der Österreichischen HochschülerInnenschaft,
eindrucksvoll durchgeführt werden konnte. Wo Twitter, mobiles Video-Live-
Streaming, Smartphones, WLAN und schnelle Mobilfunknetze allgegenwärtig sind,
verlieren die klassischen (Protest-)organisationen wie Interessensvertretungen
und NGOs an Relevanz. Der flexible und relativ niederschwellige Zugang zum
Web 2.0 ermöglicht Austausch, gemeinsames Reden und Handeln.

Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Mitte Oktober 2010 vom Bündnis für
Menschenrechte & Zivilcourage gestartete Online-Demonstration auf Facebook,
die auf Abschiebepolitik des österreichischen Innenministeriums aufmerksam
machen möchte. Sie fordert die Teilnehmenden dazu auf, das Logo der Aktion als
Zeichen des Protests als Profilfoto auf Facebook zu laden: „Mache deinen Protest
sichtbar, zumindest hier auf Facebook.“ Mehr als 13.000 Facebook-User folgten
dem Aufruf. „Poster“ „xv22“ im Online-Forum des Standard5 ist überzeugt, dass
„man online genauso viel bewegen kann wie offline – man kann anderen Leuten
Themen nahebringen, die sie vorher nicht kannten und dadurch Mitstreiter
gewinnen, die als Multiplikatoren wirken, man kann reale Aktivitäten
koordinieren, man kann sogar auf reale Strukturen Einfluss nehmen“.

Bei mehr als zwei Millionen Facebook- und fünf Millionen Internet-NutzerInnen in
Österreich, ist das Internet in der Lebenswirklichkeit angekommen. Die Kluft
zwischen digitaler Elite und denen, die am traditionellen Medienkonsum aufgrund
von Ausbildung, finanziellen Möglichkeiten und technischen Fähigkeiten
festhalten müssen, wird geringer werden. Die entstandene Dynamik wird sich
ungebremst fortsetzen. Mit den neuen Medien wird sich die politische Kultur
ändern.

Mag. David Röthler, Medienexperte und -journalist, arbeitet als Berater für EU-
finanzierte Projekte und in der politischen Bildung. Seine Schwerpunkte sind
partizipative Medien - insbesondere das Web 2.0 – und deren Nutzung in der
internationalen Projekt – sowie der politischen Arbeit. Röthler ist langjähriger
Referent der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung sowie

3
http://wissenbelastet.com/2009/11/27/unibrennt-auf-twitter-eine-analyse/
4
http://digiom.wordpress.com/2009/10/25/vom-flashmob-zu-unibrennt-kollektive-organisation-in-realtime/
5
http://derstandard.at/1285200880571/Facebook-Online-Demo-gegen-Abschiebepolitik
verschiedener öffentlicher und privater Bildungseinrichtungen. Er ist Mitgründer
des Beratungsunternehmens PROJEKTkompetenz.eu.

Email: david@roethler.at

Weblog: politik.netzkompetenz.at

Von März bis Mai 2011 wird am Bundesinstitut für Erwachsenenbildung in Strobl
am Wolfgangsee der Lehrgang „Öffentliches Engagement und das Web 2.0“
stattfinden, der sich praxisbezogenen mit den neuen Kommunikations- und
Aktionsformen auseinandersetzt. Information unter www.engagement20.at

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