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Zum Buch

Zwei junge Paare aus Reykjavík machen mit ihrem Jeep einen Ausflug in die raue,
menschenfeindliche Bergwelt des Hochlands. Dichter Nebel zieht auf, sie kommen vom
Weg ab und rammen ein Haus, das in der Einöde plötzlich wie aus dem Nichts vor ihnen
aufragt. Notgedrungen müssen sie die Nacht dort verbringen. Ihr Amüsement über das
ungeplante Abenteuer verwandelt sich schon bald in Unbehagen, denn ihre Gastgeber, ein
verschrobenes altes Paar, benehmen sich sehr merkwürdig: Warum verbarrikadieren sie
das Haus bei Einbruch der Dunkelheit wie eine Festung? Was lauert dort draußen? Und
wieso haben sie so wenig Interesse daran, ihren Gästen zu helfen? Zunehmend panisch
geraten die jungen Städter miteinander in Streit, und ihre Versuche, den Weg zurück in die
Zivilisation zu finden, werden immer verzweifelter. Gibt es ein Entrinnen?

Ein verstörender Pageturner vor der einzigartigen Kulisse des isländischen Hochlands.

Zum Autor
Steinar Bragi, 1975 geboren, gilt als neues nordisches Thrillertalent. Sein Roman »Frauen«
(2010) war für den Literaturpreis des Nordischen Rats nominiert und brachte dem
isländischen Autor den internationalen Durchbruch. Sein Thriller »Hochland« wurde von
der Kritik hochgelobt und mit den Horrorgeschichten Stephen Kings verglichen. Das Buch
erscheint in zwanzig Ländern.
Thriller
Aus dem Isländischen
von Tina Flecken

Deutsche Verlags-Anstalt
HRAFN – 1 | Flora Islands
Die Natur war vollkommen still. Die Schatten am Horizont wurden dunkler
und zeichneten sich scharf vor dem Himmel ab, bevor sie mit der Nacht
verschmolzen.
Sie schwiegen alle vier. Nur aus dem Radio drang undeutliches leises
Gemurmel. Vigdís las auf dem Rücksitz in einem Buch, Anna war gerade von
einem Nickerchen aufgewacht und öffnete eine Flasche Bier. Zwischen ihnen
lag Annas Hund, ein isländischer Hütehund, den sie seit ein paar Monaten
besaß.
»Lasst uns was spielen«, durchbrach Anna die Stille. »Ich sehe was, was
du nicht siehst – eine Sache im Auto oder draußen, auf der Straße oder im
Sand …«
»Hey, das hab ich schon ewig nicht mehr gespielt«, fiel Egill ihr ins Wort,
mit kindisch freudiger Stimme nach dem dritten Bier und dem zehnten
Schluck aus dem Flachmann.
»Spannend«, spottete Hrafn. Er musterte Anna im Rückspiegel, ihre
dunkle Silhouette und das schwache Glänzen ihrer Augen. »Was meinst du
mit ›Sache‹? Wenn ich das Gewissen oder das Blut deines Mannes nehme,
gilt das auch?«
»Wie krank«, entgegnete sie belustigt. Egill schaute aus dem Fenster, und
Hrafn kam es so vor, als blicke er in den Seitenspiegel, zu Vigdís, die hinter
ihm saß. »Nein, Blut nicht. Alles, was man nicht sehen kann, ist verboten.«
»Wovon sprecht ihr?«, fragte Vigdís und klappte Die Flora Islands zu, in die
sie vertieft gewesen war. Anna erklärte ihr das Spiel und sagte, sie werde
anfangen.
»Na, dann los!«, sagte Egill, und das Spiel begann. Hrafn löste den Blick
nicht von der Schotterpiste, die immer schwerer zu erkennen war, je dunkler
es wurde. Die Abende waren nicht mehr so hell, nachts wurde es schon für
ein paar Stunden dunkel, und der Winter drang in seine Gedanken, türmte
sich am Horizont auf wie ein Wellenbrecher und verstärkte die Unruhe, die
ihn in den vergangenen Tagen ergriffen hatte. Seit der Mittagszeit hatte er
den starken Drang, so schnell wie möglich zurück in die Stadt zu fahren.
»Die Augen des Fahrers?«, riet Vigdís, während der Jeep weiter an den
Leitpfosten vorbeiglitt, die in der Dunkelheit aufleuchteten. Hrafn kurbelte
die Scheibe herunter, steckte den Kopf aus dem Fenster und sah, dass der
Himmel voller Wolken war, aber sie befanden sich ja auch im Hochland.
»Glaubst du, du findest es in den Wolken?«, fragte Anna hinter ihm
lachend.
»Ihr müsst mir helfen, Jungs«, sagte Vigdís. »Mir fällt nichts mehr ein.«
»Ein Leitpfosten?«, schlug Hrafn vor und kurbelte die Fensterscheibe
wieder hoch. Anna verneinte. Der Polarwinter, dachte er. War das eine
Sache? Zumindest waren seine Spuren überall zu sehen, vom Frost
zersprungene Felsbrocken, nichts Grünes, keine Farben, keine Flora. Nur
Sand, Geröll, unterschiedliche Nuancen von Schwarz und Grau.
Schon bald sanken die Wolken bis auf die Erde hinunter, und sie fuhren
in den Nebel. Das Licht der Autoscheinwerfer schnitt zwei Kegel in den
Nebel, sodass er weiß wurde, an den Seiten über dem schwarzen
vulkanischen Sand blieb er dunkelgrau. Die Sicht reichte nur noch zehn oder
zwanzig Meter weit, und Hrafns Augen fingen schnell an zu brennen, weil er
die ganze Zeit in die Dunkelheit starrte. Er hätte nichts gegen eine kleine
Pause gehabt, aber Egill war zu betrunken zum Fahren, und den Frauen
traute er das ohnehin nicht zu, nicht in bewohnten Gegenden und schon gar
nicht hier auf den Sandflächen.
Er hielt den Wagen an, um zu pinkeln und kurz Luft zu schnappen, und
blickte in den Nebel, der schnell dichter wurde und sich kalt und feucht auf
sein Gesicht legte. Keiner von ihnen hatte auch nur die geringste Erfahrung
mit Hochlandtrips oder wusste, was man machen musste, wenn das Auto
nicht mehr ansprang. Vigdís hatte das bei der Planung der Reise
angesprochen, aber Egill und er hatten sie mit ein paar unverbindlichen
Floskeln beruhigt. Das GPS war zwar angeschlossen, doch kurz nachdem sie
vom Askja-Vulkan weitergefahren waren, hatte es plötzlich nicht mehr
funktioniert – vielleicht hätte es sich wieder aktivieren lassen, aber keiner von
ihnen kannte sich richtig mit dem Gerät aus.
Er überlegte, wie lange ein Mensch alleine da draußen in der Sandwüste
überleben würde. Im Sommer ein paar Tage, mit Zugang zu Wasser und
einem Schutz vor dem Wind, aber im Winter wohl nur ein paar Stunden,
vielleicht sogar Minuten; die Angst davor, verloren zu sein, presste das Blut in
die Haut und kühlte den Körper aus, man verlor die Orientierung, die
Anstrengung war zu groß, und man geriet in Panik.
Er stieg wieder ins Auto und fuhr weiter. Die Leitpfosten leuchteten wie
die Augen von Tiefseefischen fahl im Nebel auf. Aus dem Augenwinkel sah
er, wie Egill sich eine Zigarette anzündete und die Flasche erneut zum Mund
führte. Er hörte ihn lachen. Die anderen spielten immer noch, und
schlagartig wurde ihm klar, wie absurd das alles war, zu viert über die
Sandflächen nördlich des Vatnajökull-Gletschers zu gleiten, bei Dunkelheit
und Nebel, beinahe als gäbe es nichts Selbstverständlicheres; dabei
mexikanisches Bier zu trinken, leicht bekleidet in der Wärme, die sie mit den
Drehschaltern am Armaturenbrett regulierten, Musik in den Ohren; reglos
durch die Landschaft getragen zu werden, ohne das Knirschen und Knacken
zu hören, wenn die Reifen den Schotter zermahlten, sich um nichts Sorgen
zu machen, nicht wirklich – jedenfalls nicht um die Reise, sondern um ganz
andere Dinge, ihre Beziehungen, etwas, das jemand gesagt oder getan hatte,
kürzlich, gestern oder vor zwanzig Jahren, ihre Kontostände, während sie die
Natur draußen an sich vorbeiziehen sahen …
Er kam wieder zu sich, versuchte sich auf die Piste zu konzentrieren,
wusste aber sofort, dass etwas verändert war. Nach ein paar Minuten
schwenkte er erst in die eine Richtung, dann in die andere, bremste und hielt
schließlich an.
»Was ist los?«, fragte Egill.
»Seht ihr noch Leitpfosten?« Hrafn versuchte sich zu erinnern, wann er
zuletzt einen gesehen hatte. Der Abstand zwischen ihnen war irgendwann
immer größer geworden, und der Nebel hatte sie rasch verschluckt.
»Scheiße«, fluchte Egill, richtete sich auf seinem Platz auf und spähte aus
dem Fenster. Anna erschien zwischen den Vordersitzen und fragte, ob sie
sich verfahren hätten.
»Wär doch cool«, fügte sie hinzu. »Im Nebel verirrt, wie im Märchen.«
»Wann haben wir den letzten Leitpfosten gesehen?«, fragte Hrafn und
fixierte Vigdís im Spiegel. Sie hob eine Augenbraue.
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Ich hab mich auf das Spiel
konzentriert.«
Hrafn schaute wieder nach vorne ins Scheinwerferlicht, in die weißen
Nebelschleier, trat aufs Gaspedal und fuhr langsam wieder los.
»Sag bloß, du hast die Piste verloren!«, stichelte Egill.
»Die finden wir schon wieder«, meinte Anna und quetschte sich zwischen
den Sitzen nach vorne. Sie roch so stark nach Alkohol, dass einem fast
schwindlig wurde. Es konnte noch nicht lange her sein, dass sie von der Piste
abgekommen waren. Hrafn hatte das dumpfe Gefühl, sich etwas zu weit links
gehalten zu haben, was bedeutete, dass die Piste rechts von ihnen lag.
Er bog nach rechts und versuchte, die Richtung zu halten. Als Vigdís
fragte, was er da mache, erklärte er es ihr. »Dann können wir nur hoffen, dass
die Piste nicht auch eine Rechtskurve macht«, sagte sie, und Anna kicherte.
Hrafn fuhr weiter nach rechts, bis er glaubte, so weit gefahren zu sein,
dass die Piste nicht auf der rechten Seite liegen konnte. Außerdem war er
wahrscheinlich so scharf abgebogen, dass sie im Kreis fuhren, in einem
verhältnismäßig kleinen Kreis, und vielleicht sogar schon mehrmals. Die
anderen hatten zu viel getrunken, um es zu bemerken, oder es war ihnen
egal.
Er hielt wieder an, schaltete das Radio aus, um sich besser konzentrieren
zu können, und holte den Kompass aus dem Handschuhfach.
»Na endlich«, nuschelte Egill. »So kriegen wir das hin!«
Hrafn nahm den Kompass, legte ihn auf seinen Schoß und fuhr weiter
Richtung Osten.
»Wozu machst du das?«, fragte Anna.
»Damit ich nicht im Kreis fahre«, antwortete er und blickte abwechselnd
auf den Kompass und die vor ihnen liegende Sandfläche.
»Fahren wir denn in die richtige Richtung?«, fragte Vigdís.
»Die Piste, auf der wir waren, verlief von Norden nach Süden«, erklärte
er. »Ich bin mir sicher, dass wir von ihr nicht nach links abgekommen sind.
Was bedeutet, dass wir uns westlich von ihr befinden, und jetzt fahren wir
nach Osten, um wieder auf sie zu treffen. Einverstanden?«
Vigdís hob wieder die Augenbrauen, und er hatte den Eindruck, dass sie
genervt war.
»Klingt gut«, sagte sie. »Es sei denn, wir überqueren die Piste, ohne es zu
merken, zwischen den Leitpfosten …«
»Da müssen wir eben aufpassen. Wer auf der rechten Seite sitzt, schaut
nach rechts, und die anderen nach links.« Das vertraute Gefühl der
Verzweiflung, der Klaustrophobie war zurückgekehrt. Er kurbelte die
Fensterscheibe runter und sah, wie der Nebel immer dichter wurde, roch den
Alkohol immer intensiver.
»Wie konntest du nur die Scheißpiste verlieren?«, hörte er Egill neben
sich jammern und konnte ihn nicht länger ignorieren.
»Du bist genauso daran schuld! Du sitzt doch direkt neben mir und
schaust aus demselben verdammten Fenster!«
»Aber ich fahre ja wohl nicht, oder?«
»Mensch, Jungs«, sagte Vigdís und berührte Hrafn an der Schulter, »jetzt
kommt mal wieder runter und atmet tief durch. Das wird schon wieder,
vielleicht sogar schneller, als wir denken.«
Sie verstummten. Der Hund hatte sich aufgesetzt, winselte ab und an
leise, und durch das offene Fenster hörte man den Sand unter den Rädern
knirschen. Hrafn spähte auf seiner Seite in die Dunkelheit, ohne etwas zu
erkennen. Nachdem er zehn Minuten nach Osten gefahren war, wusste er
nicht mehr, was er machen sollte. Er dachte an seine erste Reaktion und
überlegte, ob er vielleicht doch nicht lange genug nach Westen gefahren war.
Dann schaute er auf den Kompass, um sich zu vergewissern, dass die
Richtung noch stimmte. Wenn sie die beibehielten, mussten sie am Ende
wieder auf die Piste treffen.
»Gibt es hier eigentlich Felsschluchten oder Spalten?«, fragte Anna.
»Willst du dich nicht anschnallen, Egill?«
»Oder Treibsand«, ergänzte Vigdís.
»Puh, in dem wir versinken, meinst du?«
»Ja, wie im Moor. Hier wurden schon Pferde aus dem Mittelalter
gefunden, die waren im Schlamm gut erhalten. Und Menschen.«
»Ein Jeep wäre da bestimmt ein Glücksfall. Mit vier Insassen, einem
Hund, Handys, SMS und Zahnfüllungen. Für zukünftige archäologische
Forschungen über das einundzwanzigste Jahrhundert!« Sie lachten.
Keine Spur von den Leitpfosten oder der Piste. Anstatt umzudrehen und
den anderen den Grund dafür erklären zu müssen, fuhr Hrafn weiter nach
Osten. Natürlich wäre es besser gewesen, anzuhalten und zu warten, bis es in
ein paar Stunden hell wurde oder der Nebel sich lichtete, aber das wäre
unglaublich lächerlich, falls die Piste nur ein paar Meter von ihnen entfernt
war. Er fuhr weiter, wollte nicht zu früh aufgeben, hatte vielleicht einfach
kein Zeitgefühl mehr, versank in seinen Gedanken, oder vielleicht war ihm
auch alles egal. Vielleicht war ihnen allen alles egal, sie starrten schweigend in
den Nebel, der an den Seiten grau war und in der Mitte aufleuchtete, sodass
Hrafn meinte, in ein blendend weißes Loch zu fahren, einen Tunnel, der
immer tiefer und tiefer wurde.
Irgendwann sah er im Nebel ein Licht, schwach und gelb. Automatisch
fuhr er darauf zu, die Hände ums Lenkrad gekrallt. Die Dunkelheit um sie
herum war in Bewegung, und er murmelte leise vor sich hin, blinzelte in das
Licht, das plötzlich verschwand, etwas raste aus dem Nebel auf sie zu und
prallte gegen den Wagen.
2 | Auf allen vieren
Die Windschutzscheibe zerbrach, Risse zogen sich über die gesamte Fläche,
eine weiße Blase blähte sich auf und verschluckte seinen Kopf. In der Blase
schwammen Fische aus Licht, ganze Schwärme kleiner Fische mit stechend
roten Augen, die ihm etwas tun wollten. Er wurde wieder aus der Blase
gespuckt, sah, wie Egill auf seiner Seite gegen die Scheibe prallte, wie etwas
Rotes über sein Gesicht lief und er mit einem Grinsen aus dem Sitz
katapultiert wurde.
Jetzt gibt es doch Blut, dachte Hrafn und spürte, wie das Auto kippte und
auf den Stoßdämpfern wippte, dann wurde alles still. Er holte tief Luft,
blinzelte und hatte Schmerzen im Brustkorb, der vom Sicherheitsgurt
eingeschnitten wurde. Die Luftblase war verschwunden. Grauer Rauch, der
nach Öl schmeckte, füllte den Wagen, und weiße Teilchen flogen durch die
Luft. Er tastete sein Gesicht nach Glassplittern ab, fand aber keine, schnallte
sich ab, fiel aus dem Wagen und spürte die frische Luft in seine Lungen
strömen.
Er beugte sich über den Rücksitz und half Vigdís aus dem Auto. Sie sagte,
sie sei unverletzt. Anna schrie Egill an, der schräg über dem Fahrersitz hing.
Das Fenster auf seiner Seite war zerbrochen.
Vor dem Auto war die Nacht noch dunkler, als recke sich ein Felsen in
den Himmel und rage über ihnen auf, düster und still. Hrafn überlegte, wann
die Sonne aufgehen würde, ob sie es über den Rand dieses schwarzen
Monstrums schaffen würde, zog Egill aus dem Auto und legte ihn der Länge
nach in den Sand. Der Hund lief jaulend um sie herum.
Vigdís hockte sich neben Egill und rief Hrafn zu, er solle den
Verbandskasten aus dem Kofferraum holen. Weiter oben an dem Felsen
gingen Lichter an, erst eins, dann zwei.
»Er ist nur bewusstlos«, hörte er Vigdís sagen und reichte ihr eine Flasche
mit Desinfektionsmittel, die er im Verbandskasten gefunden hatte. Anna hielt
Egills Kopf, während Vigdís ihm eine Mullbinde um die Stirn band und den
Blutfluss stoppte.
Die Autoscheinwerfer waren zersplittert und erloschen. Der Rauch im
Wagen hatte sich aufgelöst, es dampfte jedoch aus der eingedellten
Motorhaube. Hrafn kniete sich neben den Vorderreifen – den, der nicht in
der Schwärze versunken war – und hörte ein leises, rhythmisches Zischeln
wie von einem Tier, das unter das Auto gekrochen war, um sich zu
verstecken.
Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich allmählich. Er sah die Umrisse
eines Hauses, eines schwarzen Hauses im schwarzen Sand, gegen das sie
gefahren waren. Er bewegte seine tauben, unsicheren Beine und sah einen
Lichtstrahl über den Sand huschen. Der Hund bellte. Jemand kam um die
Hausecke und leuchtete sie mit einer Taschenlampe an.
»Wer ist da?«, fragte eine Frauenstimme aus dem Dunkeln. Vigdís
antwortete, sie bräuchten Hilfe, das Licht schwenkte auf Egills blutendes
Gesicht, und in der Dunkelheit tauchte eine zweite Taschenlampe auf. Die
Frauenstimme gab einen Klagelaut von sich, und Hrafn erkannte im Licht
die Silhouette einer Frau, krummer Rücken, zerzaustes Haar, und hinter ihr
einen hageren alten Mann, der genauso grinste wie Egill, als er gegen die
Scheibe geknallt war.
»Ins Haus«, sagte jemand.
»Ins Haus«, wiederholte die Alte, trieb sie zur Eile an, schwenkte die
Taschenlampe und zischte dem alten Mann etwas zu. Anna weinte. Hrafn
packte Egill unter den Armen, und Vigdís hob seine Beine an. Gemeinsam
trugen sie ihn um die Ecke, eine steile Steintreppe hinauf und ins Haus.
Die Alte wies sie ins Wohnzimmer, wo sie Egill auf den Fußboden legten.
Er kam zu sich, murmelte etwas Unzusammenhängendes und lächelte, ohne
die Augen aufzuschlagen. Anna rief seinen Namen.
Vigdís erschien ganz nah an Hrafns Gesicht, fast so, als hätte die Welt
keine Tiefe, und fragte, ob es ihm gut gehe.
»Ich glaub schon, nur ein bisschen durcheinander«, sagte er, und sie
umarmten sich. Über Vigdís Schulter sah er die Alte durch einen Raum
schlurfen, der aussah wie eine Küche.
»Und du?« Vigdís entgegnete, ihr gehe es auch gut, löste sich von ihm
und sagte, sie wolle zum Auto, den Verbandskasten und den Whisky holen,
um Egill aufzupeppen.
Kurz darauf erklang Lärm, und als Hrafn in die Diele trat, stritten sich
Vigdís und die Alte. Die Alte versperrte die Haustür und wollte Vigdís nicht
rauslassen.
»Ich muss was aus dem Auto holen«, insistierte Vigdís.
»Wollen Sie uns einsperren?«, fragte Hrafn. »Was machen Sie denn da?«
Die Alte antwortete nicht, schüttelte den Kopf und schaute sie mit weit
aufgerissenen, flehenden Augen an.
»Nicht aufregen«, sagte Vigdís und nahm Hrafns Hand. »Sie sind
aufgewühlt, Sie und Ihr Mann, das verstehe ich gut. Wir sind mitten in der
Nacht gegen Ihr Haus gefahren, haben einen großen Wirbel verursacht, und
das ist alles etwas zu viel für Sie …«
»Machen Sie die Tür auf!«, sagte Hrafn und merkte, dass er kurz davor
war, laut loszulachen. Hier lag etwas in der Luft, eine merkwürdige
Aggressivität, deren Herkunft und Ursache er nicht kannte.
»Wir bleiben jetzt alle ganz ruhig«, beschwichtigte Vigdís, und Hrafn sah
zu seiner Verwunderung, dass sie ihn anschaute und nicht die Alte.
Dann war er auf einmal wieder im Wohnzimmer. Anna beugte sich über
Egill, redete leise auf ihn ein und blickte ihn unverwandt an wie ein verliebter
Teenager. Abstoßend – kranke Leute, dachte Hrafn. Irgendwo im Haus hörte
er ein Hämmern.
Vigdís kam ins Wohnzimmer, zerrte den Hund hinter sich her, der
offensichtlich wieder rauswollte, und gab Anna eine Plastiktüte mit einer
Decke und einer Flasche Whisky. Anna breitete die Decke über Egill, der die
Augen aufgeschlagen hatte, goss Whisky in den Schraubverschluss und hielt
ihn an seine Lippen.
Hrafn hatte plötzlich große Lust, auch einen Schluck aus der Flasche zu
trinken, doch da stieß Egill plötzlich einen Schrei aus, zeigte in seine
Richtung und rief wütend: »Das hast du extra gemacht! Aber du hast den
Luftballon vergessen!«, und weiteres unzusammenhängendes Zeug,
Schwachsinn, den Hrafn ignorierte. Anna beugte sich über Egill und
verhinderte so, dass die Männer sich in die Augen schauen konnten.
Vigdís kam wieder zurück und fragte: »Geht’s dir gut? Du bist ein
bisschen blass.«
Er nickte. »Ja. Das war ein Unfall, ein unglücklicher Unfall.« Er zündete
sich eine Zigarette an, inhalierte den Rauch tief und sah zu, wie Anna Egill
mehr Whisky einflößte und dann selbst aus dem Schraubverschluss trank.
»Aber es ist natürlich seltsam, total absurd, in diesem Haus zu landen, im
Wohnzimmer.« Da fiel ihm sein Handy ein, er zog es aus der Tasche seines
Hemdes und checkte die Verbindung.
»Hast du Empfang?«, fragte Vigdís. Er schüttelte den Kopf, und etwas
sagte ihm, dass das, was man Empfang nannte, keine Rolle mehr spielte, von
jetzt an nicht mehr – es gehörte zu seinem früheren Leben, zu den Sorgen
aus einer anderen Existenz. Er verstand seine eigenen Gedanken nicht,
spürte, wie sie unter dem Einfluss des Nikotins immer wilder herumwirbelten,
und wollte sich hinsetzen und ausruhen. Er ließ sich aufs Sofa fallen, hörte
den Hund irgendwo im Haus winseln.
Vigdís brachte ihm ein Glas Wasser, und er trank es in großen Schlucken
leer, sah ihr nach in die Küche, wo sie sich mit der alten Frau unterhielt. Er
ließ den Blick durchs Wohnzimmer schweifen, das braune Linoleum auf dem
Fußboden und die rote Decke, die über Egill gebreitet war. Im Zimmer
befand sich ein Regal mit Büchern, und an der Wand hing ein gerahmtes
Foto. Auf dem Couchtisch stand eine Schale aus gefärbtem Glas, rot, grün
und blau in einem Muster, das er nicht einordnen konnte.
Sie waren hier keine Gäste, dachte er im selben Augenblick, als die Asche
von seiner Zigarette auf den Teppich fiel. Die Alte wollte sie so schnell wie
möglich wieder loswerden, obwohl sie sie so gewissenhaft eingeschlossen
hatte. Sie waren nicht willkommen.
Er brauchte einen Aschenbecher, ging aus dem Wohnzimmer und sah,
dass ein Riegel vor die Haustür geschoben worden war.
»Man hat uns angeboten, hier zu übernachten«, sagte Vigdís, als er in der
Küchentür stehen blieb. Die Frauen saßen am Tisch. »Wir schlafen eine
Nacht hier, damit Egill sich erholen kann. Außerdem brauchen wir
Tageslicht, um den Jeep zu inspizieren.«
»Das ist nett von Ihnen«, sagte Hrafn und lächelte der Alten zu. Er stellte
sich ihr vor, und sie nuschelte eine Entgegnung, die wie »Ása« klang. Er
fragte, ob das eine Abkürzung für einen längeren Namen sei, doch sie
antwortete nicht. Der alte Mann war nirgends zu sehen. »Ich verspreche
Ihnen, dass wir nicht lange bleiben, Ása«, sagte er. »Selbstverständlich
werden wir so schnell wie möglich weiterfahren, um Ihnen nicht zur Last zu
fallen.«
»Sie sind willkommen«, sagte Ása mit ältlicher, schriller Stimme. Ihm fiel
es schwer, ihr Alter zu schätzen. Ihr Gesicht war faltig und ledrig, die Haare
schwarz mit ein paar grauen Strähnen und zu einem einfachen
Pferdeschwanz gebunden. Sie sah aus wie um die sechzig, aber in ihren
Augen lag eine Wachheit, eine Durchtriebenheit, die zu einer wesentlich
jüngeren Person gepasst hätte. »Heute Nacht schlafen Sie hier«, fuhr sie fort
und nickte, als wolle sie das sich selbst gegenüber bekräftigen. »Das ist für alle
das Beste. Ist ja auch die einzige Möglichkeit. Ich zeige Ihnen die Zimmer,
und morgen ist alles gut, und Sie fahren weiter.«
»Das ist bestimmt unangenehm für Sie«, sagte Vigdís, »so unerwartet
Gäste zu bekommen. Sie haben sich doch bestimmt erschrocken?«
»Kann schon sein«, sagte Ása und erhob sich vom Tisch. »Hat ganz
schön laut geknallt.« Sie hatte einen Ausschlag in den Augenwinkeln, eine
geschwollene Röte, die sich an der Nase entlang bis zu den Mundwinkeln
zog.

Die Zimmer, die ihnen zugewiesen wurden, befanden sich im ersten Stock
und lagen sich am Ende eines langen Flurs gegenüber. Hrafn und Vigdís
holten auf Ásas Anweisung hin eine Matratze aus dem Schrank und legten sie
in ihr Zimmer, das bis auf einen kleinen Tisch mit einer Öllampe leer war. In
Annas und Egills Zimmer gab es einen Stuhl, einen Tisch und ein Doppelbett
für den Verletzten.
Während die Frauen Egill die Treppe hinaufhalfen, wartete Hrafn in der
Küche. Der Schwindel ließ endlich nach. Als Ása sagte, es gebe auf dem Hof
einen Jeep, mit dem sie am nächsten Tag in bewohnte Gegenden fahren
könnten, falls ihrer nicht mehr anspringe, wurde er ruhiger. Alles würde gut
werden.
Ása gab ihnen Decken und Kissen, entzündete die Lampe in Hrafns und
Vigdís’ Zimmer, und Anna durfte Tryggur, ihren Hund, in der Nacht bei sich
haben. Dann sagte die Alte, sie sei unten in der Küche, falls sie noch etwas
bräuchten.
Hrafn legte sich auf die Matratze auf dem Boden, zündete sich eine
Zigarette an und starrte an die Decke. Die Matratze roch modrig, aber die
Lampe warf ein warmes Licht an die Wände. Draußen im Flur diskutierten
Anna und Vigdís darüber, ob es für Egill nach der Ohnmacht gefährlich sein
könne zu schlafen und warum die Haustür wohl so sorgfältig abgeschlossen
worden sei.
»Vier Schlösser, als würde sie damit rechnen …«, setzte Anna an und
senkte dann die Stimme. Hrafn schloss die Augen und hörte Vigdís ins
Zimmer kommen. Sie ging über den knarrenden Holzboden und legte sich
neben ihn auf die Matratze, umarmte ihn und vergrub ihren Kopf in seiner
Halsbeuge. Er drückte die Zigarette in einem Schraubverschluss aus und
drehte sich zu ihr.
»Du darfst ruhig was trinken, wenn du willst«, sagte er.
»Ich weiß, aber ich hab keine Lust, ich bin zu müde«, entgegnete sie nach
einer kurzen Pause. »Natürlich weiß ich, dass ich das darf. Würdest du
gerne?« Er schüttelte den Kopf. Bei näherer Betrachtung war es seltsam, dass
die Alte sie nicht nach der Vorgeschichte des Unfalls gefragt oder ihnen etwas
zu essen, Kaffee, Kekse oder Butterbrote angeboten hatte. Wo war nur die
gute alte Gastfreundschaft auf dem Land geblieben? Andererseits hatte man
sie zum Übernachten eingeladen, aber die Alte führte bestimmt irgendwas im
Schilde, das konnte er an ihren Augen ablesen. Sie verheimlichte ihnen
etwas, wollte sie nicht beherbergen, fühlte sich aber dazu verpflichtet.
Er öffnete den Mund, um mit Vigdís darüber zu reden, ließ es dann aber
doch bleiben. Sie zog ihre Kleider aus, breitete die Decke über sie und
schmiegte sich an ihn. Sie küssten sich, er sagte, er liebe sie, aber sie
entgegnete nichts. Sie stöhnte, und obwohl er es nicht vorgehabt hatte, zog er
seine Hose aus und drang in sie ein. Nach einer Weile drehte sie sich auf den
Bauch, und er kniete sich hinter sie und stützte sich am Fensterrahmen ab.
Dabei fiel sein Blick aus dem Fenster, und er sah, dass der Nebel
verschwunden war. Ab und zu drang der Mond durch die Wolken und warf
sein fahles Licht auf die Sandflächen. Am Horizont erhob sich der Gletscher
aus der Ebene, schwer, reglos und weiß wie ein Foto, das noch nicht ganz
entwickelt war.
Sie bewegten sich schneller, Vigdís stöhnte unter ihm auf, und als er kam,
sah er draußen auf dem Sand etwas vorbeihuschen: einen Menschen, der
humpelnd und gebückt vom Haus fortlief, strauchelte und dann auf allen
vieren blitzschnell in der Dunkelheit verschwand.
Er legte sich auf dem Rücken auf die Matratze, das Zimmer drehte sich
vor seinen Augen, und sein Herz raste. Auf allen vieren, dachte er und war
kurz darauf eingeschlafen.
3 | Der Kadaver
Als er aufwachte, war er alleine im Zimmer. Er blieb noch einen Moment
liegen, versuchte, die nächtlichen Ereignisse zu sortieren, an die er sich nur
noch verschwommen erinnerte – wie so häufig zu der Zeit, als er noch
getrunken hatte.
Unten in der Küche saß Vigdís und studierte eine Karte. Auf dem Tisch
standen Aufschnitt und Brot und ein paar schmutzige Teller. Vigdís sagte,
alle seien wach und hätten schon gefrühstückt.
»Egill und Anna machen einen Spaziergang und schauen sich ein
bisschen um … Der Jeep ist kaputt.«
»Wer sagt das? Egill?«
»Schau ihn dir selbst an.«
Hrafn verließ das Haus, stieg die Treppe hinunter, die länger war, als er
sie in Erinnerung hatte, und ging um die Hausecke zu der Stelle, wo der Jeep
stand. Auf der Beifahrerseite verschwand die Motorhaube in der Wand, und
beide Vorderreifen waren platt. Wahrscheinlich konnten sie froh sein, dass
die Wand nicht über ihnen eingestürzt war. Hrafn reckte sich in den Wagen,
drehte den Zündschlüssel und versuchte, den Motor zu starten, aber nichts
geschah. Die Windschutzscheibe und das Fenster auf der Beifahrerseite
waren zerbrochen; der eine Airbag hing schlaff aus dem Lenkrad und der
andere über dem Handschuhfach. Auf Egills Sitz klebte getrocknetes Blut.
Der Motor schwamm in Öl, das auch auf den Sand unter dem Auto
getropft war. Die Schlafsäcke, das Zelt und die Angelausrüstung befanden
sich noch an ihrem Platz auf dem Dachgepäckträger.
Er ging wieder ins Haus, setzte sich an den Tisch und schmierte sich eine
Scheibe Brot mit Käse.
»Ása will uns einen Jeep leihen«, sagte Vigdís. »Von hier soll es eine Piste
nach Norden zum Askjagebiet geben.«
»Dann weißt du also, wo wir sind?« Er nickte in Richtung der Karte, und
sie bejahte.
»So ungefähr … Sie waren eben beide hier. Der Alte scheint schwer an
Alzheimer erkrankt zu sein. Was glaubst du, was sie machen?«
»Keine Ahnung, Bauern nehme ich an.« Aus irgendeinem Grund musste
er an den Ausschlag im Gesicht der Frau denken. Jemand hatte ihm mal
erzählt, die Leute auf dem Land sähen älter aus, weil ihre Haut von Sonne,
Frost und Regen gegerbt sei.
»Ich hab mich nicht getraut zu fragen.« Vigdís schüttelte den Kopf. »Aber
es kommt mir seltsam vor, hier auf dem Sander Landwirtschaft zu betreiben,
oder?«
Er goss sich aus der Kanne, die auf dem Tisch stand, Kaffee ein. »Haben
wir schon nachgesehen, ob sie ein Telefon haben?«
»Danach hab ich schon gefragt. Sie meinte, sie hätten eine Störung in der
Leitung.«
»Eine Störung!« Er fluchte. »Wie weit ist es eigentlich bis zu einer
richtigen Straße?«
»Keine Ahnung … Kommt drauf an, wie weit wir uns gestern verfahren
haben. Das ist mir nicht ganz klar. Wir sind gegen zwei am Mývatn
aufgebrochen, waren dann zwei Stunden unterwegs, haben zwei Stunden
Fresspause gemacht und sind anschließend drei oder vier Stunden nach
Süden gefahren, vermute ich.«
»Ich glaube, eher vier. Und davon ungefähr eine Stunde abseits der Piste.
Wir haben den Abzweig zur Askja, den wir nach Osten nehmen wollten, gar
nicht gefunden. Müssten wir dann nicht eine oder zwei Stunden südlich von
ihm sein? Dann müssten wir den Gletscher sehen können.«
»Ich hab Ása die Karte gezeigt. Sie scheint sich nicht ganz sicher über den
Standort zu sein, weder über ihren noch über unseren.« Vigdís grinste. »Oder
sie hat noch nie eine Karte gesehen, so wirkte sie zumindest.«
Hrafn schob den Teller weg, nahm den Kaffee mit zum Fenster und
zündete sich eine Zigarette an. Die Vorzüge des Landlebens: Die Leute
rauchten immer noch drinnen, hatten keine Angst davor, dass die Wände in
ein paar Jahrzehnten gelb würden. Er hatte an dem Tag nach ihrer Abreise
wieder angefangen zu rauchen und sofort jeden einzelnen Tag bereut, den er
ohne Zigarette verbracht hatte.
Draußen war der Himmel klar. Er spürte, wie sich die betäubende
Wirkung des Nikotins in seinem Körper ausbreitete. Die Küche lag auf
derselben Hausseite wie das Schlafzimmer, trotzdem konnte er den Gletscher
nirgendwo entdecken.
Egill und Anna kamen auf den Hof, der Hund schnüffelte um sie herum.
Hrafn ging raus auf die Treppe und grüßte sie. Sie lachten weiter über etwas,
über das sie anscheinend gerade gesprochen hatten.
»Was ist denn so witzig?«, fragte Hrafn. »Hab ich was verpasst?«
»Wir werden erwartet«, sagte Anna. »In der Scheune.«
»Das Auto ist bereit«, ergänzte Egill. »Und da steht eine 600-Liter-Tonne
mit Sprit, den die Frau für den Alten abzapft.«
Anna eilte ins Haus, um aufs Klo zu gehen und zu packen, und die beiden
Männer blieben draußen stehen. Egill hatte immer noch die Mullbinde um
den Kopf.
»Geht’s dir gut?«, fragte Hrafn, setzte sich auf die Treppe und zündete
sich noch eine Zigarette an.
»Nur ein bisschen Kopfschmerzen … Entschuldige, wie ich mich gestern
benommen habe. Anna meinte, ich hätte dich angeschrien. Ich weiß nicht,
wie das passieren konnte, vielleicht die Mischung aus dem Schlag gegen den
Kopf und den paar Bier … Ich hätte mich anschnallen sollen, Anna hatte
mich ja darum gebeten, meinte sie. Ich weiß, dass du ein guter Fahrer bist, es
war ntürlich neblig, und die Sicht war schlecht …«
»Ist schon gut. Vergiss es einfach.« Sie gaben sich die Hand, was
scherzhaft gemeint war, vermutete Hrafn, sich aber irgendwie peinlich
anfühlte, halbherzig und albern.
Dann gingen sie zum Jeep, und Hrafn packte ein paar Kleider und
Zigaretten in einen Rucksack. Anschließend kniete er sich neben das Loch in
der Wand, konnte aber im Haus wegen der Dunkelheit nichts erkennen. Er
setzte sich in den Wagen und schaltete das GPS ein, versuchte es zu
aktivieren, aber wie beim letzten Mal konnte er nur eine Karte der
Reykjavíker Innenstadt aufrufen.
Egill holte seine Sachen aus dem Kofferraum und beugte sich dann mit
einer Bierflasche in der Hand durch das zerbrochene Fenster in den Wagen.
»Und, wie sieht’s aus, was machst du da?«
»Dieses blöde GPS checken. Ich hab’s schon hundertmal versucht, genau
nach Anleitung, hab alles gemacht, was man machen soll. Dem Gerät nach
befinden wir uns beim Stadtbummel auf dem Austurvöllur.«
»Genauso fühlt es sich auch an.« Egill hob die Bierflasche und zeigte
damit auf das Haus. »Vor dem Hotel Borg.«
»Säufst du schon wieder?« Hrafn hätte ihn gerne auf das Blut auf dem
Sitz und dem Armaturenbrett hingewiesen, das Egill nicht zu bemerken
schien oder einfach ignorierte, widerstand aber der Versuchung und stieg
wieder aus dem Auto.
»Wir müssen uns jetzt alle anstrengen und dafür sorgen, dass das Gepäck
leichter wird«, sagte Egill grinsend.
Die Frauen standen abfahrbereit auf dem Hof. Sie setzten ihre Rucksäcke
auf und marschierten los zu den Außengebäuden, die ein paar Hundert
Meter weiter westlich lagen, einem Schuppen aus Holz und Wellblech, von
dem die Farbe abblätterte, und einem Gebäude, das vermutlich die Scheune
war.
Es war windstill, ausgezeichnete Sicht, und Hrafn wunderte sich immer
noch, warum der Gletscher nicht zu sehen war. Es konnte doch keinen so
großen Unterschied machen, ob man sich eine Etage höher befand.
»Ob sie Kühe oder Schafe haben?«
»Ich hab hier jedenfalls kein einziges Tier gesehen«, sagte Egill. »Aber
irgendwas müssen sie doch mit dem Heu machen. Sie fressen es ja wohl kaum
selbst.«
»Ställe stehen doch normalerweise den Sommer über leer, oder? Sind
Schafe im Sommer nicht draußen, damit sie Fett ansetzen?«
»Wenn hier irgendwo Gras wäre. Nee, hier oben gibt es garantiert keine
Wiesen. Sie müssten das Heu von anderen Bauern kaufen, oder?«
»Ihr habt doch echt keine Ahnung von gar nichts«, sagte Anna mit dieser
launigen Impulsivität, von der Hrafn sofort gewusst hatte, dass sie im Lauf
der Reise entweder unerträglich oder durchaus charmant werden würde. Er
hatte nie verstanden, was diese Person antrieb oder wer sie überhaupt war.
Sie schien voller Gegensätze zu sein; wenn man sie kennenlernte, wirkte sie
nett, geradezu naiv, und total emotionsgesteuert. Doch wenn sie meinte, dass
man sie wegen ihrer Unkompliziertheit nicht ernst nahm oder nicht genug
respektierte, konnte sie scharfzüngig und so aggressiv und unnahbar werden,
dass sie nicht mehr wiederzuerkennen war.
»Was ist das da hinten?« Vigdís zeigte auf etwas. Sie machten einen
Schlenker und erreichten nach ein paar Minuten einen Laternenpfahl, der
aus dem Sand ragte.
»Ein Laternenpfahl! Auf dem Hof gibt’s kein funktionierendes Telefon,
aber einen Laternenpfahl«, sagte Anna lachend. Der Pfahl stand einfach da,
mitten im Sand, ragte kerzengerade in die Höhe und bog sich vornüber, ohne
irgendeinen erkennbaren Zweck.
Sie umringten den Pfahl und blickten nach oben. Das Licht war
ausgeschaltet.
»Ob er wohl funktioniert?«, fragte Vigdís. »Ist das vielleicht das Licht, das
wir gestern gesehen haben, bevor wir gegen das Haus gefahren sind?«
»Er steht zu weit weg«, meinte Hrafn. »Und warum sollten sie ihn abends
einschalten?«
»Vielleicht steht er nur da, damit Hunde was zum Anpinkeln haben«,
schlug Anna vor, und im selben Moment rannte der Hund zu dem Pfahl, hob
das Hinterbein und ließ einen Urinstrahl dagegenprasseln. Sie prusteten los,
der Hund bellte und schaute sich verdutzt um, bis Egill ihn zurechtwies.
»Nee, wir könnten weiter vom Weg abgekommen sein, als wir dachten«,
sagte Hrafn nach kurzem Schweigen. »Ich erinnere mich an einen anderen
Laternenpfahl, der auch an einem entlegenen Ort stand – in Narnia. Als die
Kinder aus dem Schrank kletterten, sammelten sie sich um einen
Laternenpfahl im Schnee …«
»Die waren auch zu viert«, ergänzte Vigdís. »Zwei Mädchen und zwei
Jungen.«
Anna war ein Stück weitergegangen und rief ihnen zu, sie sollten
kommen. Sie stand neben einem Kadaver, der im Sand lag. Blutige
Fleischstriemen hingen an dicken, kräftigen Knochen, blaugrüne Eingeweide
quollen aus dem Bauch, und hellbraunes Fell lag um den Kadaver verteilt.
Aus dem Kopf ragte ein kurzes Horn.
»Ekelhaft«, stieß Anna aus und rührte sich nicht.
»Ein Rentier«, sagte Hrafn und hatte den Eindruck, dass der Kadaver
noch nicht besonders alt war, wahrscheinlich von letzter Nacht. Die Augen
waren noch da, und er stank noch nicht. Hrafn kniete sich neben das Tier
und sah, dass es noch ziemlich viel Fleisch auf den Knochen hatte. Einige
Knochen waren zerkratzt, hatten Bissspuren. Er berührte den Rumpf, der
kalt war, und suchte Brust und Schultern nach Einschüssen ab, fand aber
keine. Als er jünger gewesen war und in Suðurnes gewohnt hatte, hatte er
Hunderte von Möwen, ein paar Gänse und ab und zu einen Schwan
geschossen. Aber er war noch nie in die Nähe eines Rentiers gekommen.
»Es ist zerfetzt worden«, sagte Vigdís. »Es ist bestimmt gestorben, und ein
Fuchs hat seine Witterung aufgenommen. Es wurde doch nicht von Füchsen
getötet, oder?«
»Es scheint nicht erschossen worden zu sein«, entgegnete Hrafn, stand auf
und schaute sich um. »Hast du jemanden weglaufen sehen?«, fragte er Anna,
doch sie schüttelte den Kopf.
»Jemanden, das klingt, als meinst du einen Menschen …«
»Etwas, meine ich.« Er lächelte. »Vielleicht haben wir ein Tier
aufgescheucht, das hier gerade am Fressen war … Trotzdem seltsam, dass
das Rentier so nah zum Hof gekommen ist, um zu sterben, falls es wirklich
von alleine gestorben ist.«
Sie gingen weiter.
VIGDÍS – 4 | Kleines Lämmchen
Durch die geöffnete Scheunentür sah man Heuballen in Plastikfolie
aufgestapelt, grüne und weiße. Auf dem Platz davor stand ein alter Willys
Jeep, von dem der Lack abblätterte. Die Alte kniete in einem schmutzigen
Overall neben einem der Reifen und schob ein Werkzeug unter den Wagen.
Offenbar kümmerte sie sich auf dem Hof nicht nur um den Haushalt.
Blauer Qualm wirbelte aus dem Auspuff, und Vigdís hatte den Eindruck,
dass das Auto vor lauter Anstrengung, nicht abzusaufen, schaukelte. Das war
zweifellos mal ein guter Wagen gewesen, aber jetzt hatte er überall rostige
Stellen und sogar Löcher, Moos an den Fensterrahmen, einen zerbrochenen
Frontscheinwerfer und so abgefahrene Reifen, dass an einigen Stellen schon
die Drähte durchschienen.
Direkt neben der Tür stand ein großer grauer Metallkanister mit einem
Vorhängeschloss vor dem Auslaufhahn, der nach Benzin roch. Der Sprit, von
dem Anna und Egill gesprochen hatten.
Die Alte richtete sich auf, und Hrafn fragte, ob sie und ihr Mann oft über
den Sander führen.
»Mit den Jahren immer seltener«, antwortete sie.
»Jedenfalls vielen Dank, dass Sie uns den Jeep leihen«, sagte Egill laut.
»Das sind hier natürlich keine normalen Entfernungen, man muss bestimmt
früh aufstehen, um am selben Tag noch irgendwo anzukommen …«
»Haben Sie Schafe?«, fiel Anna ihm ins Wort und ermahnte ihn
unauffällig.
Ása bejahte. »Kühe und Schafe«, sagte sie und starrte in den Sand.
»Blöde Viecher, diese Schafe, dumm und stumpfsinnig.«
»Ich kannte mal einen Mann, der im Hochland aufgewachsen war«,
erzählte Anna. »Sein Vater war Landvermesser, er wartete Stromtrassen und
setzte Zäune instand, Zäune gegen die Verbreitung von Schafkrankheiten,
glaube ich. Ich denke, es gibt viele Sorten von Bauern. Wohnen Sie schon
lange hier?«
»Allerdings, ziemlich lange«, antwortete Ása und nickte, ohne
aufzuschauen.
»Wir haben den Laternenpfahl gesehen. Nicht weit davon liegt ein
Kadaver. Von einem Rentier, jedenfalls glauben wir, dass es ein Rentier ist.«
Ása entgegnete nichts, ging am Auto entlang, öffnete die Motorhaube und
beugte sich über den Motor.
»Ist ja ganz normal«, sagte Egill lachend. »Ein totes Rentier direkt am
Hof!« Anna zischte ihn an und zog ihn zur anderen Seite des Wagens. Vigdís
konnte hören, wie sie ihn beschwor, nichts mehr zu trinken, sie habe Angst
und könne es nicht ertragen, wenn er schon mittags lallte und benebelt sei.
Kurz darauf stürmte er in die Scheune. Wahrscheinlich würden sie fürs Erste
nicht mehr miteinander reden, was allerdings nicht viel zu bedeuten hatte.
Sie stritten sich schnell, versöhnten sich aber genauso schnell wieder, was
meistens so ablief, dass Anna sich wie ein kleines, hilfloses Mädchen
benahm – was sie nicht war – und Egill bei irgendeiner Lappalie um Hilfe
bat, etwa eine Dose oder Flasche zu öffnen, und ehe man sich versah, küssten
sie sich.
Auf gewisse Weise bewunderte Vigdís diese Spielchen und fühlte sich
dabei wie eine geschlechtslose und unterkühlte ältere Frau, denn Anna
wandte diese Masche bei beiden Männern an, es war ein spielerisches
Flirten – was die Männer so stolz machte, dass sie ihr aus der Hand fraßen,
ohne es zu merken. Die Kurzausgabe davon war, einen Sekundenbruchteil
schneller als sonst mit den Augen zu klimpern und eine fast unsichtbare
Schnute zu ziehen. Offenbar war das alles zu Annas zweiter Natur geworden,
und Vigdís hätte mehr davon gehabt, es nachzuahmen, als es zu kritisieren,
aber es ging ihr auf die Nerven, dass Hrafn Anna schon seit Beginn der Reise
so unverfroren mit seiner Männlichkeit umgarnte, seinem Wohlwollen und
seinem Beschützerinstinkt, und dass er das noch nicht einmal bemerkte.
Tryggur fing wieder an zu bellen. Am Horizont sahen sie eine Bewegung,
zwei rotbraune Punkte, die näher kamen und kurz vor der Scheune
anhielten.
»Füchse! ?«, rief Vigdís und konnte ihre Verwunderung nicht verbergen.
Anna packte Tryggur, zog eine Leine aus ihrem Rucksack und befestigte sie
an seinem Halsband. Die Füchse blieben still sitzen und beobachteten sie, ihr
Fell glänzte in der Sonne, ihre Schwänze waren lang und puschelig, und ihre
Ohren standen gerade nach oben. Vigdís meinte zu erkennen, dass sie immer
wieder die Zähne bleckten und knurrten, war sich aber nicht sicher.
»Was ist das denn? Kommen die so nah?«, fragte Hrafn die Alte. Sie
schien überhaupt nicht erstaunt zu sein, die Füchse zu sehen. »Fressen ein
paar Meter vom Hof entfernt ein totes Tier und kommen dann her? Haben
Sie sie schon mal gesehen? Wie ist das Rentier gestorben?«
»Füttern Sie die Füchse?«, fragte Vigdís, doch die Alte antwortete nicht.
Schweigend musterten sie die Füchse, bis Egill pfeifend aus der Scheune kam
und eine Bierdose aufmachte, aus der es spritzte. Die Füchse reagierten sofort
und huschten über die Sandfläche. Egill und Anna fingen wieder an zu
streiten, und Vigdís wollte sich ein Stück von den anderen entfernen, um zu
pinkeln, bevor sie losfuhren. Sie ging um die Ecke der Scheune und sah, dass
ein weiteres Gebäude, flacher und länger, daran angebaut war. Der Stall. Vor
dem Stall standen ein rostiger Traktor und ein Anhänger voller Sand.
In der Mitte des Gebäudes war eine offene Tür, und trotz des Geruchs,
den Vigdís in Gedanken als Landgeruch abstempelte, trat sie ein. Ihre Augen
gewöhnten sich an die Dunkelheit, und sie konnte eine Reihe leerer Boxen
erkennen. Der Boden war voller Mist, wahrscheinlich Kuhfladen, und aus
der Tiefe des Stalls hörte man ein Muhen. Der Mist war glatt und weich, fast
wie ein Teppich, und darunter schienen an einigen Stellen Holzbohlen
durch.
Sie tastete sich weiter in den Stall hinein und entdeckte zu ihrer
Verwunderung in einer der Boxen eine Toilette. Das Porzellan war glänzend
weiß und die Klobrille einigermaßen sauber. Vigdís spähte in die Kloschüssel
und sah, dass kein Wasser darin war, sondern die Öffnung direkt zu dem
eingetrockneten Mist führte, der den Boden bedeckte. Da macht ein bisschen
Urin auch nichts aus, dachte sie und spürte Aufregung in sich hochsteigen.
Sie wäre schnell fertig, die Toilette stand im Schatten, und so machte man
das wahrscheinlich auf dem Land, wenn man mal musste.
Rasch zog sie die Hose runter, stützte sich an der Zwischenwand ab und
setzte sich auf die Klobrille, pinkelte mit leisem Zischen auf den Boden und
sah im selben Moment die Silhouette eines Menschen ganz in der Nähe, halb
verborgen im Schatten. Sie hielt ein, sprang auf und zog die Hose hoch. An
der Wand stand der alte Mann und schaute sie lächelnd an.
»Hallo«, sagte sie, und im selben Augenblick ging eine Tür auf, die wohl
in die Scheune führte. Die Alte stand im Türrahmen und fragte barsch, was
sie da drinnen zu suchen habe.
»Ich musste mal«, sagte Vigdís entschuldigend. Die Alte kam zu ihr, und
der Mann folgte ihr auf den Fersen. Er war schmächtig und zittrig, lächelte
viel, schien aber nicht sprechen zu können. Er hatte Tränensäcke unter den
Augen, die so schwer herunterhingen, dass die rosafarbene, glänzende Haut
unter den Augäpfeln aufblitzte, so als würden ihm die Augen aus dem Kopf
fallen, wenn er sich etwas zu weit vorbeugte.
»Hat er Sie belästigt?«, fragte die Alte. Der Mann trat dicht an die Frauen
heran und glotzte Vigdís an. »Er ist krank und manchmal verwirrt. Bitte
nehmen Sie das nicht zu ernst. Wir haben nicht oft Gäste.«
»Nein, natürlich nicht. Alles ist gut«, entgegnete Vigdís und versuchte den
Mann zu ignorieren, ohne unhöflich zu sein. Die Alte war ziemlich groß,
schien es sich aber angewöhnt zu haben, gebeugt zu gehen; ihr Rücken war
krumm und bucklig. »Kommen hier denn nie Touristen vorbei?«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Nicht sehr oft. Im Frühjahr und im Herbst
bekommen wir Vorräte und Heu für die Tiere. Die Medikamente für
ihn …«, sie nickte zu dem Alten, »… werden mit einem kleinen Flugzeug
gebracht … Aber das ist für mich kein Besuch, wenn die Leute nicht
bleiben.« Sie gab ein Geräusch von sich, das an eine schlecht geölte Tür
erinnerte, die sich langsam öffnet.
Vigdís nahm eine Bewegung wahr und schaute im selben Moment nach
unten, als der Alte seine Hand fest auf ihren Bauch legte, kurz oberhalb des
Schritts. »Pfui«, stieß sie hervor und wich ihm aus, während die Alte
herbeistürzte, die Hand des Alten wegriss und leise auf ihn einredete.
Sie bat Vigdís um Entschuldigung. »Sie brauchen keine Angst zu haben.
Er wollte Sie nur begrüßen«, sagte sie. Der Alte streckte wieder die Hand aus,
und Vigdís lachte verlegen, nahm dann seine Hand und schüttelte sie. Die
Handfläche des Mannes fühlte sich rau an, unter den Fingernägeln waren
Trauerränder, und sein Handschlag war fest und unangenehm. Vigdís
nannte ihren Namen, und der Alte starrte sie an und versuchte offenbar,
etwas zu sagen. Vor lauter Anstrengung legte sich seine Stirn in Falten, und
er ließ ihre Hand nicht los.
»Was hat er gesagt?«
»Er möchte Ihnen etwas vorsingen«, erklärte die Alte. Der Mann straffte
den Rücken, sein Gesicht wurde ganz friedlich, und er sang mit heller,
kindlicher Stimme: »Kleines Lämmchen, Lämmchen mein, Fett sollst du
ansetzen fein. Gib dir schön viel Mühe, dann kommst du in die Brühe.«
Er verstummte, ohne den Blick von Vigdís abzuwenden, und lächelte. In
seinen Augen lag eine Distanz, jedoch keine sanfte wie bei anderen alten
Menschen, die sie kannte, sondern eine hinterlistige. Sie zog ihre Hand
zurück, hätte sie fast weggerissen, doch im selben Augenblick verlor der
Mann das Interesse an ihr und ging weg.
5 | Der Garten
Langsam fuhren sie über die Schotterflächen, auf einer Piste, die mal mehr,
mal weniger gut zu sehen war. Hrafn schaute nach vorne, spähte aber immer
wieder durch die offenen Fenster nach rechts und links und blieb meistens im
zweiten Gang, wie sehr der Motor auch stotterte und quietschte. Tryggur lag
winselnd auf Annas Schoß, als verabscheue er diese Klapperkiste.
»Bescheuert … das Ganze. Und dieses Haus«, sagte Anna. »Dass es
überhaupt hier steht. Es sei denn, es ist ein altes Sommerhaus. Ich habe mal
in einem Haus übernachtet, das war ganz ähnlich, auf einem Hügel mitten in
einem Sumpfgebiet im Borgarfjörður. Der Urgroßvater des Jungen, mit dem
ich zusammen war, hatte es als Sommerhaus bauen lassen. Früher waren
Sommerhäuser nur etwas für die Oberschicht.«
»Immerhin ist es ein richtiges Haus. Aus Stein von irgendwelchen Felsen
hier in der Gegend gebaut«, sagte Hrafn und warf einen Blick in den
Rückspiegel.
»Vielleicht hatte es irgendwann mal eine Funktion«, meinte Anna. »Bevor
es zu einem Sommerhaus wurde.«
»Als Heim für Leprakranke?«, fragte Egill ironisch vom Rücksitz, aber die
anderen ignorierten ihn.
»Wie in Möðrudalur«, warf Vigdís ein. »War da früher nicht eine Art
Wegkreuzung?«
»In Möðrudalur wird zumindest Landwirtschaft betrieben«, erwiderte
Hrafn. »Da ist die Landschaft ja auch ganz anders, Heideland und Wiesen,
keine Wüste.«
»Wüste?«, fragte Anna und machte ein Gesicht, als wolle sie das kleine,
ängstliche Mädchen spielen. »Warum sagst du Wüste?«
»Natürlich ist das hier Wüste. Was denn sonst? Das Hochland hat keine
Vegetation, jedenfalls so gut wie keine, und besteht nur aus windgepeitschten
Sandflächen. Hier könnte man niemals Landwirtschaft betreiben, es sei denn
mit zugekauftem Futter. Das heißt, sie haben Geld.«
»Die Oberschicht im Sommerhaus, meint ihr?«, sagte Egill. »Passt doch
alles. Die Alten sind in Urlaub gefahren und länger geblieben – so um die
fünfzig Jahre.«
»Trotzdem finde ich, ein anderes Wort würde besser passen«, meinte
Anna.
»Einöde? Fändest du das netter?«, fragte Egill.
»Ein Drittel von Island wird als Wüste bezeichnet«, sagte Vigdís. »Man
muss sich damit abfinden, was soll es denn sonst sein?«
»Warum hält sich diese Nation immer für was Besonderes?«, fragte Egill
mürrisch, vielleicht weil er sich noch nicht traute, eine der Bierdosen
aufzumachen, die er in seinen Rucksack gesteckt hatte. »Alles ist ein bisschen
anders als anderswo. Auch die Wüsten.«
»Das hab ich doch gar nicht gesagt«, protestierte Vigdís. »Natürlich ist
das eine Wüste. Aber diese Gegend ist nun mal sehr speziell. Die Sandflächen
stammen zum Beispiel größtenteils aus dem Erdinneren und sind durch
Vulkanausbrüche entstanden. Astronauten waren hier, um sich auf die
Mondlandung vorzubereiten, und es gab auch Untersuchungen, die gezeigt
haben, dass kein Boden auf der ganzen Welt so fein ist und so leicht verweht
wie dieser Sandboden – außer dem Staub auf dem Mond.«
»Wir haben also Wüsten aus Staub«, konterte Egill. »Und der
Unterschied zwischen unseren Wüsten und anderen ist der, dass unsere feiner
sind!«
»Wer will denn hier schon ein Sommerhaus haben?«, meinte Anna und
winkte ab.
»Hast du nicht gesehen, wie relaxt der alte Knabe war?«, fragte Hrafn.
Außer beim Abschied, als der Alte seine Hand genommen hatte, als wolle er
etwas Ernstes und Wichtiges sagen, aber nur ein Brabbeln zustande gebracht
hatte.
»Mach dich nicht lustig über ihn«, sagte Vigdís. »Er ist krank.«
»Ich glaube, sie sind beide krank«, entgegnete Hrafn. »Geisteskrank.
Denkt nur an die Füchse. Welcher Bauer versucht denn, Füchse anzulocken?
Außerdem begreife ich nicht, wie das Rentier gestorben ist.«
»Die Füchse sind hübsch«, sagte Anna. »Und finden hier bestimmt nicht
viel zu fressen. Wenn sie mitten im Winter um meinen Hof streichen würden,
abgemagert und ausgehungert, würde ich das wahrscheinlich auch tun.«
»Füchse sind zu bösartig, um Haustiere oder Schoßhündchen zu werden.
Das ist ihre Natur. Die lockt man doch nicht an!«, lachte Hrafn. »Warum
sollte man sie durchfüttern, wenn man Landwirtschaft betreibt? Entweder
man hält Vieh oder man betreibt eine Fuchsfarm, aber doch nicht beides.«
»Ja, das ist seltsam … Vielleicht sind sie nicht abhängig von der
Landwirtschaft. Diese Leute machen mich wirklich neugierig«, fuhr Anna
fort. »Wer sich so ein Haus baut, hat viel Geld, und wenn sie Heu und Essen
und so weiter kaufen müssen, haben sie bestimmt reichlich Kohle. Was sie
wohl früher gemacht haben?«
»Astronauten, ist doch klar«, warf Egill ein. Hrafn und er vertieften sich in
ein Gespräch über Füchse und Fuchszucht, in die Hrafns Vater in den
Achtzigerjahren investiert hatte, die Frauen schwiegen. Vigdís juckte es
zwischen den Beinen von dem Urin, mit dem sie sich im Stall bespritzt hatte.
Sie war unruhig, spürte es im ganzen Körper, an ihrem Herzschlag, ihrem
kurzen, schnellen Atem. Schon seit sie am Morgen aufgewacht war, fühlte sie
sich so.
Sie hätte sich gerne mit Anna unterhalten. Alle ihre Versuche,
miteinander zu reden, waren fehlgeschlagen, schon seit Beginn der Reise.
Wenn sie sich vorher hin und wieder mal bei Essenseinladungen getroffen
hatten, war die Atmosphäre nicht so angespannt gewesen, und sie hatten
beide gewusst, dass sie nur ein paar Stunden miteinander verbringen würden.
Doch schon bei der Abfahrt schien ihnen klar zu sein, dass jetzt alles anders
war, und seitdem kamen sie nicht über zögerliche Annäherungsversuche
hinaus. Sämtliche Äußerungen führten zu Missverständnissen, übertriebener
Höflichkeit, zu langen oder zu kurzen Pausen. Die Kommunikation mit Egill
war leichter, aber da war der Anspruch auch nicht so hoch, denn natürlich
war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass Anna und sie sich gut verstehen
sollten, als Frauen. Sie konnten sich ja schließlich nicht mit dem Mann der
jeweils anderen anfreunden.
Vielleicht lag es daran, dass Anna jünger war als sie und ein bisschen
arrogant wirkte. Manchmal glaubte sie, Anna fände sie zu gewöhnlich, nicht
kapriziös genug, weil sie nicht alles, was sie sagte, mit blumigen Worten
ausschmückte. Aber das war bestimmt nur Einbildung. Tryggur drückte sich
hechelnd an sie, mit heraushängender Zunge und lebhaftem Blick.
Sie beschloss, das Erstbeste zu sagen, was ihr in den Sinn kam.
»Ich mag dich«, sagte sie und kraulte Tryggur hinter den Ohren.
»Was hast du gesagt?« Anna lehnte sich auf ihrem Sitz vor und lächelte
sie an.
»Du hast doch gehört, was ich gesagt habe!« Sie lachte. »Ich hab gesagt,
ich mag dich, das wollte ich dir nur sagen.«
»Vielen Dank, wie nett von dir. Ich hatte nämlich gerade so
deprimierende Gedanken, wie das alles … was für Fehler ich habe.«
»Ich würde mich gerne intensiver mit dir unterhalten, weiß aber nicht
richtig, wie. Bitte entschuldige. Ich bin nicht betrunken, aber hier oben ist
natürlich ziemlich viel Sauerstoff …«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen … Ich muss dir auch was
gestehen, wenn wir schon mal dabei sind: Ich bin dir gegenüber unsicher.«
»Warum solltest du mir gegenüber unsicher sein?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht weil ich seit ein paar Monaten zu einem
Psychologen gehe. Ich hab das Gefühl, ihr durchschaut mich und denkt, dass
ich was zu verbergen habe.«
»Verstehe. Und? Hast du was zu verbergen?« Sie tauschten einen Blick,
und Anna grinste.
»Das machst du gut! Nein, das ist wahrscheinlich nur so ein allgemeines
Schamgefühl. Ich weiß nicht. Wenn ich von der Therapie komme, schäme
ich mich, wie ein Mann, der sich von einer Prostituierten wegschleicht –
jedenfalls stelle ich mir das so vor. Es fällt mir auch schwer, dem Psychologen
das Geld zu geben, ich finde, dass man für so was gar nicht genug bezahlen
kann. Das Geld zerstört die Täuschung, dass ich nur jemanden getroffen
habe, der sich für mich interessiert. Ich möchte also, dass die Nutte sagt, sie
liebt mich, oder noch besser, dass sie mich wirklich liebt. Jämmerlich … Hab
ich dich gerade mit einer Nutte verglichen?« Vigdís nickte, und sie mussten
lachen. »Ich hätte Probleme mit so einem Beruf, bei dem man alles mit nach
Hause nimmt.«
»Das kann man lernen«, entgegnete Vigdís. »Professionellen Abstand zu
halten zum Beispiel. Aber um mit dem Beruf klarzukommen, muss man sich
schon anstrengen, sein eigenes Leben analysieren, Probleme aus der
Vergangenheit bearbeiten und alte Wunden aufreißen. Ich nehme an, das
habe ich gemacht.« Im selben Moment, als sie das gesagt hatte, wusste sie,
dass es nicht stimmte. Sie fühlte sich, als hätte sich ein Riss in ihrem Kopf
aufgetan, voller Chaos und Schmerz. »Und man gewöhnt sich natürlich
einfach dran«, fügte sie hinzu und schaute aus dem Fenster, auf die
vorbeigleitenden Sandflächen. »Das ist wohl die einfachste Erklärung.«
Vigdís wusste nicht mehr, wo und in welchem Zusammenhang sie zum ersten
Mal den Begriff das gemeine Volk gehört hatte, aber seitdem hatte sie immer
geglaubt, es handele sich um ihre Eltern.
Ihre Mutter wuchs als Tochter eines Seemanns und einer Hausfrau in
Akureyri auf und zog als Teenager nach Hafnarfjörður. Bei einem Schwof im
Gymnasium lernte sie Vigdís’ Vater kennen, der älter war als sie, auf
Frachtschiffen in die USA und nach Hamburg fuhr und ihr immer
Schinkenkonserven, Kaugummi und Nylonstrümpfe mitbrachte. Nach einer
kurzen Verlobungszeit bezogen sie eine kleine Wohnung im Framnesvegur in
der Reykjavíker Weststadt, aus der sie nie mehr auszogen.
Ihre Mutter studierte Lehramt, hörte aber bald wegen einer Erkrankung
auf, die, wie Vigdís ihrem Vater später aus der Nase zog, mit den »Nerven«
zu tun hatte. Außerdem murmelte er noch etwas über eine Fehlgeburt und
schwere Zeiten und sagte, ihre Mutter sei schon immer empfindlich gewesen.
Vielleicht war es aus Angst vor Veränderung oder einfach aus allgemeiner
Gleichgültigkeit, dass Vigdís erst auf die Welt kam, als ihre Mutter schon weit
über vierzig und ihr Vater fast fünfzig war. Soweit sie wusste, war sie weder
geplant noch ein »Unfall« gewesen, und wenn sie danach fragte, erklärte ihre
Mutter ungewohnt überschwänglich: »Du warst natürlich der Grund. Du
hattest selbst entschieden zu kommen.« Das war aber auch das Äußerste, was
Vigdís über ihre Mutter und deren Lebensphilosophie herausfand, wobei
Philosophie wahrscheinlich ein zu hochgestochenes Wort war.
Ihre Geburt störte den Alltag ihrer Eltern mitnichten, aber sie hatten ja
auch schon genug Zeit gehabt, ihr Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Ihr
Vater fuhr immer noch die Tour nach Hamburg, von dort durch einen
Kanal zur Ostsee, nach Norwegen und von da nach Hause, ging in den
Häfen aber nicht oft an Land, weil man seiner Aussage nach inzwischen
überall in Island Schinken bekam. Nach ihrer Erkrankung hatte ihre Mutter
an der Fernschule Schreibmaschineschreiben und Stenografie gelernt, und
nach einem kurzen Intermezzo als Aushilfe bekam sie eine Festanstellung als
Sekretärin in der Notenbank, die damals ihre Büros in der Austurstræti hatte.
Vigdís ging auf die Schule in der Weststadt, bekam ein eigenes Zimmer
und hatte den ersten und letzten Wutanfall ihres Lebens, weil sie unbedingt
eine Katze haben wollte und nicht aufhörte zu heulen, bis ihre Mutter bei
einem Nachbarn ein Kätzchen besorgt hatte. Danach geschah kaum noch
etwas Erwähnenswertes; in der Schule lief es hervorragend, Vigdís war
zurückhaltend und gewissenhaft und hatte wenige, aber enge Freunde. Ihren
Vater sah sie nur ein paar Wochen im Jahr und hegte – als sie älter war – den
Verdacht, dass er so viele Touren wie möglich übernommen hatte.
Ihre Mutter redete nicht viel, kümmerte sich aber sehr gut um sie, eher
wie eine geduldige Großmutter, die alles für sie getan hätte. Das verstärkte
die merkwürdige Distanz zwischen ihnen, die Vigdís bei anderen Mutter-
Tochter-Beziehungen nie gesehen hatte, und war zugleich ein Versuch, sie zu
überbrücken. Vielleicht lag es schlicht und ergreifend am Alter und daran,
wie spät ihre Eltern sie bekommen hatten. Ihre Großeltern aus dem Norden
kamen nur selten zu Besuch; die andere Großmutter war tot und der
Großvater »krank« im Altenheim in Kjalarnes, was, wie sie später erfuhr, ein
Heim für betagte Alkoholiker war. Wenn überhaupt mal Gleichaltrige zu
Besuch kamen, bezeichneten sie ihre Mutter immer als »Oma«, was Vigdís
meistens nicht korrigierte.
Als Jugendliche versuchte Vigdís aus diesem unbegreiflichen Schweigen
und dieser Gehemmtheit, die wie ein Albtraum auf der Familie lastete,
auszubrechen – es fühlte sich fast so an, als befände sich die Wohnung tief im
Bauch eines Schweigemonsters, das sie vor Urzeiten verschluckt hatte, wie
ihre Freundin Guðlaug es formulierte. Mit Guðlaugs Hilfe hörte Vigdís auf,
die Tochter ihrer Großeltern zu sein, lernte, mindestens einmal im Monat die
Sau rauszulassen, probierte Zigaretten und Alkohol und verlor ihre Unschuld
mit fünfzehn an einen Jungen, der drei Jahre älter war. Er war alleine zu
Hause in einem großen Einfamilienhaus im Skerjafjörður, und bevor sie
wusste, wie ihr geschah, hatte er sie ausgezogen und lachend in den Hot Pot
im Garten geschubst. Die Erfahrung enttäuschte sie zwar nicht direkt, aber
ihrem Tagebuch vertraute sie an, sie sei traurig, weil sie sich Sex jetzt nicht
mehr als Befreiung vorstellen könne und als etwas, das einen von sich selbst
entfernte. Vielleicht fiel es ihr auch einfach nur schwer, Menschen zu
vertrauen, sich jemandem hinzugeben, den sie nicht kannte.
Als ihr zweites Schuljahr in der Oberstufe gerade begonnen hatte, wurde
ihre Mutter überfahren. Sie ging an einem Freitag von der Arbeit nach
Hause, als unweit der Landakotskirkja ein Auto um die Ecke bog und sie mit
solcher Wucht anfuhr, dass sie über einen Zaun auf die Wiese bei der Kirche
flog. Sie hatte eine Tüte mit Lebensmitteln dabei, die sie für sich und Vigdís
zum Abendessen gekauft hatte. Ein paar Tage später fand Vigdís nah bei der
Stelle, an der ihre Mutter gelegen hatte, einen Schokoriegel auf der Wiese.
Seit ein paar Monaten hatte sie freitags immer Schokolade zum Nachtisch
gekauft, und Vigdís war davon überzeugt, dass dieser Riegel für sie bestimmt
gewesen war. Sie nahm ihn mit nach Hause, wo ihr Vater inzwischen
eingetroffen war, um die Beerdigung zu organisieren, weinte sich still in den
Schlaf und versuchte, sich angemessen zu benehmen, bevor sie sich, sobald
ihr Vater wieder auf See wäre, besinnungslos besaufen würde.
Sie setzte sich hin, um einen Nachruf zu schreiben, weil sie glaubte, dass
das sonst niemand machen würde – eine Vorstellung, die zu traurig war, um
sie aushalten zu können. Es musste doch irgendwelche Spuren geben, dass
ihre Mutter gelebt hatte. Sie schrieb alles auf, an das sie sich erinnern konnte,
und hatte dabei das Gefühl, es sei alles gelogen, außer vielleicht eine kurze
Passage, die sie sich über ihre gemeinsamen Stunden im Garten hinter dem
Haus abrang. Der Garten war klein und wurde von allen Bewohnern des
Hauses gemeinsam genutzt, doch ihre Mutter durfte über eine Ecke frei
verfügen, in der sie Kartoffeln, Möhren und Kohl anbaute und Bäume
pflanzte. Im Frühling half ihr Vigdís, Blumenzwiebeln und Samen zu säen
und Unkraut, Löwenzahn- und Hahnenfußwurzeln zu jäten. In einem
Sommer baute ihr Vater einen kleinen Geräteschuppen, den sie grün
anstrichen. Sie hängten Gardinen vor das kleine, viereckige Gartenfenster
und stellten ein Regal auf, in dem ihre Mutter Stecklinge zog. Im Lauf der
Zeit schaffte sie sich Werkzeug an, das sie an die Wand hängte, Tüten mit
Samen, für die sie im Garten noch keinen Platz hatte, und stellte einen Tisch
und zwei Hocker in den Schuppen, auf denen Vigdís und sie manchmal
saßen und plauderten.
Rückwirkend betrachtet fand Vigdís es geradezu absurd, mit ihrer Mutter
an einem Ort gesessen zu haben, an dem es ihr schwerer fiel, sich hinter
praktischen Dingen zu verstecken – wie etwa im Haus –, und sie gezwungen
waren, sich miteinander zu unterhalten. Es sah ihr überhaupt nicht ähnlich,
sich so bloßzustellen, und obwohl sie nie besonders viel geredet hatten,
entdeckte Vigdís dort eine Seite an ihrer Mutter, die komplizierter war, als sie
mit ihrem damaligen Wissen und ihrer Erfahrung verstehen konnte. Sie
erinnerte sich daran, wie ihre Mutter dagesessen und geraucht hatte, wie sie
schweigend aus dem Fenster geschaut hatte, und wusste, dass sie etwas an
ihrem Leben übersehen hatte; es war größer und barg so viel mehr, als ihr
bekannt war, es manifestierte sich nicht in dem, was sichtbar war, sondern in
dem, was unterdrückt wurde. Zumindest gestattete Vigdís sich diese
Hoffnung.
Nach der Beerdigung fuhr ihr Vater wieder zur See und kam noch
seltener nach Hause als vorher. Guðlaug nannte Vigdís Pippi Langstrumpf
und übernachtete immer öfter bei ihr, bis sie zusammenzogen. Ihr Vater
überließ ihnen die Wohnung, verlangte keine Miete und kam zu Besuch,
wenn er zufällig mal an Land war und in einer Pension abstieg.
Vigdís machte Abitur und schrieb sich an der Uni für Psychologie ein.
Manchmal betrank sie sich, hatte ein paar One-Night-Stands, meistens mit
Kommilitonen, und verbrachte ihre übrige Zeit in der Bibliothek. Es fiel ihr
leicht, sich Theorien anzueignen, und sie schloss ihr Studium als eine der
Besten ab, zog nach Dänemark und machte ihren Magister an der
Universität in Kopenhagen, wo sie ihre Abschlussarbeit über die
Wechselwirkung von Depression und Diabetes schrieb.
Zum Studium gehörte auch eine Therapie, in der sie auf gewisse Weise
versuchte, ihr Leben zu verarbeiten, sich von sich selbst und dem Schweigen
zu lösen; manchmal fand sie alles unmöglich, fühlte sich ihrer Mutter zu
ähnlich und glaubte, in ihrem Inneren verberge sich dieses Etwas, das bald
ihr Leben übernehmen und sie mit in das Schweigen reißen würde, falls es
das nicht schon längst getan hatte. Als sie wieder in Island war, eröffnete sie
eine eigene Praxis im Klapparstígur, in der sie Patienten empfing, sie mit
kognitiver Verhaltenstherapie behandelte und die Jungsche Traumdeutung
vermied, obwohl sie sich ab und zu dazu hinreißen ließ. Sie ging ins
Fitnessstudio, gemeinsam mit Tausenden Landsleuten, und entdeckte die
Nachmittagsmeditation der Zen-Buddhisten im Grensásvegur, wo sie ihr
neues, »offeneres« Schweigen perfektionierte.
Das Leben war schön. In Gesellschaft von Guðlaug, die inzwischen
Assistentin eines Bereichsleiters der Kaupþing-Bank war, trat sie einem
Verein bei, der das Networking zwischen Frauen stärken wollte und
wöchentliche Restaurantbesuche, monatliche Ausflüge zum Golfen, Angeln
oder Schwimmen sowie jährliche Auslandstrips anbot, meist der luxuriöseren
Art. Auf einer Reise nach Milano ließ sie sich in einer Diskothek von einem
Italiener abschleppen, nachdem sie ein ganzes Jahr mit niemandem mehr
geschlafen hatte, und hörte zum ersten Mal von Hrafn – als einem der
schlimmsten Blutsauger Islands. Kurz darauf betrat der Mann
höchstpersönlich ihre Praxis, sein Leben war ein undurchschaubares Chaos,
das sie durch ihre kognitive Verhaltenstherapie sofort entwirrte.
Sie hatte schon bald das Gefühl, dass er in sie verliebt war. Eines
Nachmittags, nach einer Therapiesitzung, spazierten sie gemeinsam um den
Stadtteich, gingen in ein Restaurant und landeten bei ihm zu Hause im Bett –
in seinem großen Haus in Seltjarnarnes, das jenem ähnelte, in dem sie ihre
Jungfräulichkeit verloren hatte: ein Hot Pot auf der Terrasse im ersten Stock
mit Aussicht auf den Berg Esja, nur stand vor der Garage kein roter
Sportwagen, sondern ein schwarzer. Am nächsten Tag sagte er, er liebe sie
und wolle den Rest seines Lebens mit ihr verbringen, überlud sie mit
Geschenken und schien es tatsächlich ernst zu meinen. Sie nahm ihm das
Versprechen ab, niemandem von ihrer Beziehung zu erzählen – was schlecht
für ihren Job gewesen wäre –, doch schon bald schlief sie jede Nacht bei ihm.
Bei Hrafn ging alles schnell, außerdem war er nett, redete während eines
Frühstücks mehr als ihre Eltern in ihrem ganzen Leben und konnte die ersten
Seiten von Laxness’ Islandglocke auswendig.
Am Anfang war ihr nicht richtig klar, was er machte. Sie informierte sich
über seine Firma im Internet, traf seine Eltern im Laufásvegur und
verbrachte eine Woche mit ihnen in einer Strandvilla in Florida, sah seinen
Vater mit aufgedunsenem Gesicht über den Rand seines Glases grinsen und
vielsagend nicken zu den lustigen Anekdoten seines Sohnes über den alten
Vater, die das Bild eines fröhlichen Soziopathen vermittelten, der vormittags
Gewerkschaften auflöste, nachmittags Rollstühle an Querschnittsgelähmte
verteilte und während des Abendessens versuchte, die Bedienung im Hotel
Holt zu vergewaltigen. Das »maritime« Vermögen der Familie wuchs
beständig und wurde im Auftrag der isländischen Nation aus dem Meer
gefischt, legal, aber vielleicht lag tief unten auf dem Grund etwas
Unmoralisches – das kam ganz darauf an, wen man fragte.
Nachdem Hrafn seinem Bruder die Hauptanteile an der Firma verkauft
hatte, begann er zu investieren, schob zwischen verschiedenen Orten auf der
Welt Geld hin und her, von einem Konto aufs andere, und sah zu, wie es sich
vermehrte. Er sagte, der Job sei schwierig und riskant, aber Vigdís hatte nicht
den Eindruck, dass er sich Sorgen machte oder besonders viel arbeitete.
Manchmal gingen sie zu Botschaftspartys oder Cocktailempfängen bei
Banken, wo auch Hrafns Freunde und Bekannte aus der Partei waren. Er
sagte, er sei nicht politisch, sondern Pragmatiker, habe weder besonders viel
noch besonders wenig Ehrgeiz, betrachte aber sich und seinen Bruder als
Verwalter eines Familienvermögens, das zumindest im selben Umfang an die
nächste Generation übergeben werden müsse. In der Zukunft wolle er Kinder
haben und wünsche sich für sie eine liebevollere Kindheit als seine eigene.
Was das Alter angehe, gebe er sich durchaus mit einem Haus am Canal
Grande zufrieden, wo er auf der Veranda Aquarelle malen und Bücher lesen
könne. Er wusste selbst nicht, ob er Witze machte, wenn er so sprach, grinste
aber meistens dabei.
Vigdís hatte keine Ahnung, was sie davon halten sollte. Sie hatte in ihrem
bisherigen Leben nicht besonders viele Beziehungen zu Männern gehabt und
machte sich im Grunde mehr Gedanken darüber, was ein Mann wie Hrafn
an ihr fand. Auch wenn sie sich für ausreichend attraktiv und gebildet für ihn
hielt, spürte sie manchmal das gemeine Volk in sich, dieses unterdrückte,
stumme Innere, das es nicht wagte, auszubrechen und all das zu fordern, was
Menschen wie Hrafn und seine Familie als selbstverständlich ansahen. Sie
blieben zwar auch nicht von Problemen verschont, aber diese beruhten weder
auf Mangel noch auf übertriebener Bescheidenheit; sie hatten keine Zweifel,
wenn es um ihre Bedürfnisse ging, entschuldigten sich nicht für sich selbst.
Vielmehr schienen sie zu glauben, sie hätten das angeborene Recht, von
anderen mehr zu fordern als von sich, und das entbehrte durchaus nicht einer
gewissen Dreistigkeit. Doch Vigdís hielt sich zurück; sie fand, es gebe einen
»Klassenunterschied« zwischen ihnen, und eines Abends erläuterte Hrafn das
auf seine Weise, indem er sagte, er liebe sie mehr als sich selbst, sie sei
unabhängig und verfüge über eine Ruhe, die aus ihren Augen strahle und
ihre gesamte Umgebung veredle; außerdem sei sie wunderschön, warmherzig
und unfähig zur Heuchelei – alles, was seine Familie nicht sei.
Sie traf ihren Vater dreimal im Jahr, sie aßen gemeinsam und sprachen
über früher oder das, was gerade in den Nachrichten war. Ihr Vater war ein
»guter Mann«, eindeutig, aber so distanziert, dass sie manchmal das Gefühl
hatte, alleine am Tisch zu sitzen, sein Schweigen war so unbeschreiblich
intensiv, dass es ihr noch nicht einmal unangenehm war. Nicht wie bei einem
liebevollen Großvater, sondern mehr wie bei einem wohlwollenden Onkel.
Manchmal machte sie ihre Eltern für ihre Probleme verantwortlich, aber nie
wirklich ernsthaft. Natürlich hätte es in ihrer Kindheit mehr Nähe geben
können, doch falls es sich dabei um das einzige Unrecht handelte, das ihr im
Leben widerfahren war, musste man es wohl als minimale Verfehlung
ansehen. Im Großen und Ganzen waren ihre Eltern gute Menschen, still,
ängstlich, und das einzig Ungewöhnliche in ihrem Leben war, dass sie nie
geheiratet hatten, wahrscheinlich aus Trägheit und Angst vor einer
aufwendigen Feier.
Vielleicht war es auch gar nicht so gewesen, sondern ganz anders, als sie
dachte; manches beruhte wohl nur auf Vermutungen auf Grundlage der
Fotos aus dem einzigen Familienalbum, das ihre Mutter einsortiert und das
Vigdís sich nach ihrem Tod stundenlang angeschaut hatte. Sie hatte keine
Geschwister und konnte nicht viele Leute fragen, und wenn ihr Vater eines
Tages komplett im Schweigen versinken würde, wäre niemand mehr da.
Manchmal träumte sie von ihrer Mutter, hörte den Knall, als sie gegen
das Auto prallte, und sah sie durch die Luft fliegen wie Mary Poppins, nur
ohne Regenschirm und Gesang, Arme und Beine ausgestreckt, über die
Wiese der Landakotskirkja schweben, mit einem wohlwollenden, sanften
Lächeln auf den Lippen.

Sie hielt sich an der Rücklehne fest. Die Piste war schlechter geworden,
härter, löchriger und schroffer. Die Sandfläche um sie herum war hügeliger,
und überall lagen große Steine.
Der Jeep wurde stärker durchgeschüttelt als zuvor, und Vigdís biss die
Zähne zusammen, damit sie nicht mehr klapperten. Durch das Fenster sah
sie, dass die Piste dort entlangführte, wo die Landschaft am steinigsten war
und das meiste Geröll lag, sich durch Sanddünen und Hügelketten
schlängelte, die jetzt an beiden Seiten des Autos auftauchten. Sie fuhren wie
über ein Waschbrett, rumpelten in zwei, drei tiefe Löcher, dann schlug der
Wagen plötzlich schwer auf. Es knallte, der Motor ging aus, und sie blieben
stehen.
»Scheiße«, fluchte Anna, die mit dem Kopf gegen den Vordersitz geprallt
war. »Was ist denn jetzt los?« Hrafn antwortete nicht, stieg aus dem Wagen,
und die anderen folgten ihm.
Das Auto stand schief, und der Vorderreifen auf der Beifahrerseite war
geplatzt.
EGILL – 6 | Zwischen den Sandkörnern
»Mist«, sagte Egill und ging kopfschüttelnd um das Auto herum.
Hrafn legte sich auf den Bauch, um unter den Wagen zu schauen, und
Egill tat dasselbe von der anderen Seite. Auf der Beifahrerseite befand sich
ein großes Loch unter dem Auto, in das sie hineingefahren und aus dem sie
wieder herauskatapultiert worden waren. Der vordere Rand des Lochs war so
scharf, dass der Reifen durch den Aufprall geplatzt war.
»Verdammte Schrottkarre«, murmelte Egill, stand auf und klopfte sich
den Staub ab. Die Piste führte zwischen zwei steinigen Hügeln hindurch, und
dies war wahrscheinlich die einzige Stelle, an der man nicht ausweichen
konnte. Tryggur starrte zu einem der Hügel, jaulte leise und zog den
Schwanz ein.
»Ich glaube, die Achse ist gebrochen«, sagte Hrafn und stand auf. »Oder
wie auch immer das heißt, diese Stange, auf der die Räder sitzen …
Immerhin sind wir wieder aus dem Loch rausgekommen.« Anna hatte sich in
der Nähe in den Sand gesetzt, zupfte an ihrem Ohrläppchen und rauchte.
Egill war von ihr genervt.
»Das kriegen wir wieder hin, oder?«, meinte er.
»Wenn die Alten einen Schweißbrenner haben, schon«, entgegnete
Hrafn. »Und einen zweiten Ersatzreifen. Beide Vorderreifen sind platt.« Der
Reifen, der nicht sofort geplatzt war, zischte leise und wurde immer schlaffer.
Hrafn ging zu den Frauen und bat sie, zurück zum Hof zu gehen.
Währenddessen tat Egill so, als bastele er an der anderen Seite des Wagens
herum. Die Frauen setzten ihre Rucksäcke auf und machten sich auf den
Weg, und Egill war froh, sie los zu sein. Er hörte, wie Vigdís versuchte, Anna
aufzumuntern, die – natürlich! – hysterisch war, weil sie nicht wegkamen.
»Das war ja nur der erste Versuch«, sagte Vigdís. Tryggur rannte kläffend
und aufgekratzt vor ihnen her, und dann wurden sie von der Weite
verschluckt.
Hrafn kramte im Kofferraum, fand Werkzeug und legte sich wieder unter
den Wagen, während Egill sich auf einen Hügel setzte, ein Bier aufmachte
und einen Schluck Whisky trank. In der Tasche seines Hemdes steckte ein
fertig gerollter Joint.
Das Wetter wurde immer besser, und bald war es windstill und so warm,
dass sie ihre Hemden auszogen und Egill seine Hosenbeine hochkrempelte.
Er zündete sich eine Zigarette an. Anna mischte sich immer in seine
Angelegenheiten ein. Sie kannte sich selbst nicht besonders gut, zumindest
nicht so gut wie er. Manchmal machte er einfach nichts, saß nur ausdruckslos
da, leerte seinen Kopf und sah, wie sie rotierte und versuchte, mit ihm in
Kontakt zu treten, oder wie sie auf der Suche nach Ablenkung von einem
Fernsehsender zum nächsten zappte, um die Angst zu verdrängen, die immer
hochkam, wenn sie nicht wusste, was ihre Umgebung ihr mitteilen wollte,
wenn sie sich selbst im Weg stand.
Nach ein paar Minuten Fummelei unter dem Wagen hatte Hrafn die
Nase voll, wischte sich Rost und Öl von den Händen und schleuderte das
Werkzeug in den Kofferraum. Dann stellte er sich neben Egill, trank gierig
aus einer Wasserflasche und blickte zum Horizont. Unter seinem Arm
klemmte eine rote Plastikschachtel.
»Wie läuft’s?«, fragte Egill. »Was hast du gemacht?«
»Versucht, die Achse zu befestigen.«
»Kennst du dich mit Autos aus?«
»Jedenfalls besser als du … Das Schlagloch sieht ziemlich frisch aus.«
»Wie meinst du das?«
»Das Loch, in das wir gefahren sind. Ich glaube, es wurde vor nicht allzu
langer Zeit ausgehoben. Oder vertieft. Die Erde darin ist dunkler als der
Sand drumherum.«
»Wir sind reingefahren, ist doch normal, dass der Sand dabei verrutscht,
oder? Was spielt das für eine Rolle?«
Hrafn zuckte die Achseln. »Ich hab im Kofferraum Signalraketen
gefunden«, sagte er und nahm die Schachtel in die Hand. »Die könnten uns
noch nützen.« In der Schachtel lagen fünf oder sechs rote Plastikrohre mit
Holzgriffen und aufgedruckten Instruktionen.
»Wie beruhigend«, meinte Egill. »Die sind jedenfalls neuer als der
Wagen.«

Sie machten sich auf dem Weg zurück zum Hof. Hrafn sagte, die Achse sei
wahrscheinlich zu verrostet, um sie reparieren zu können, unabhängig davon,
was für Werkzeug das alte Ehepaar besitzen mochte.
»Du meinst also, jemand hat das Loch gegraben?«, fragte Egill.
»Ich weiß es nicht … Wer sollte so was tun?« Hrafn schüttelte den Kopf.
»Bitte erzähl den Frauen nichts davon. Ich will sie nicht beunruhigen.«
»Was machen wir, wenn wir die Karre nicht wieder in Gang kriegen?«
»Keine Ahnung. Wir legen uns hin und verrotten«, entgegnete Hrafn
genervt.
Von Süden kam ein schwacher Wind auf. Die Sandflächen zogen sich in
alle Richtungen, und nirgends wurde der Horizont von Bergen oder
Anhöhen durchbrochen. Egill musste daran denken, dass es nicht viele Orte
auf der Welt gab, an denen es so unwahrscheinlich war, auf einen anderen
Menschen zu stoßen: Sibirien, die Sahara, die kanadische Wildnis, die
Pole …
»Wir sind so klein«, sagte er, obwohl er eigentlich etwas ganz anderes
hatte sagen wollen.
»Was soll das heißen? Hast du Schiss? Willst du heim zu deiner Mama?«
Hrafn verdrehte genervt die Augen. Seine Stimmung schwankte ständig, wie
schon während der gesamten Reise.
»Ich weiß nicht.« Egill nahm einen Schluck aus dem Flachmann und
verzog das Gesicht. »Du hast dich verändert«, sagte er und nahm sich vor,
sich von Hrafn nicht runtermachen zu lassen. »Im vergangenen Jahr. Als ich
letztens zurückdachte, kam mir das total offensichtlich vor. Du bist stiller,
redest aber gleichzeitig mehr. Du bist extremer, als wärst du …« Fast hätte er
ihn gefragt, ob es beruflich nicht gut laufe, ob er alles verloren habe, aber das
wäre dumm, viel zu offenkundig. »Manchmal habe ich das Gefühl, als gäbe
es ein Geheimnis, etwas, über das du nicht sprechen willst. Du weißt doch,
dass du mir vertrauen kannst, oder?«
»Was willst du von mir hören? Mein ganzes Leben in einem Satz …?«
»Ist zwischen Vigdís und dir alles in Ordnung?«
»Natürlich ist zwischen uns alles in Ordnung. Sie ist das Beste, was mir je
passiert ist, keine Frage. Warum fragst du nach ihr?«
»Ich frage einfach nur. Weil du besorgt wirkst.« Sie gingen weiter,
konnten die Frauen nirgendwo sehen und folgten den Reifenspuren.
Hrafn blieb stehen und entschuldigte sich dafür, dass er sich so aufgeregt
hatte. »Letztens hat Vigdís zu mir gesagt, ich sollte wieder trinken. Das wäre
besser, als so aufbrausend zu sein.« Lachend fügte er hinzu, sie hätten eine
schwierige Phase hinter sich, verharmloste das Ganze dann aber und sagte, es
sei nichts Ernstes. Er erzählte, wie schwierig es heutzutage sei, eine Firma zu
leiten, unter erschwerten Bedingungen, und Egill hatte den Eindruck, er sei
kurz vorm Losheulen, schaffe es aber gerade noch, sich zusammenzureißen.
»Ich weiß nicht«, setzte Egill an, als sie weitergingen. »Anna und ich
haben jedenfalls eine richtige Krise. Sex gibt es nicht mehr, das ist vorbei. Sie
will, dass wir zu einem Therapeuten gehen … Alle, die ich kenne, sind total
fertig. Es ist, als wäre diese Gesellschaft eine Maschine, die Menschen
zermalmt und dann völlig falsch zusammengesetzt wieder ausspuckt – mit
dem Arsch im Mund, den Augen im Schritt.«
Sie gingen über eine Sanddüne, eine kleine Welle im ansonsten stillen
Meer, sahen das Haus jedoch nicht, nur die schnurgerade Piste. Hrafn
fluchte, weil er das Fernglas vergessen hatte, setzte sich in den Sand und goss
sich aus der Flasche Wasser über den Kopf. Egill trank einen Schluck aus
dem Flachmann und warf ihn zwischen sie in den Sand, zog den Joint aus der
Hemdtasche, hielt ihn sich an die Nase und beobachtete Hrafn aus dem
Augenwinkel.
»Denkst du eigentlich noch an Árbær?«, fragte er. »Geile Zeit, Mann.
Verdammt geile Zeit. Gab es danach noch mal eine so geile Zeit? Aber du
hast wohl in einer anderen Welt gelebt als ich, da bei euch in Selás.« Egill
lachte. »Der kleine Vogel im goldenen Käfig.«
Hrafn stammte nicht aus den Wohnblocks im Stadtteil Árbær, sondern
aus dem Selás-Viertel, wo die Kinder der reichen Leute wohnten. Seine
Eltern besaßen eine der größten Villen in der Fjarðarás-Straße. Egill hatte
dort zum ersten Mal eine Sonnenbank gesehen, einen Kühlschrank mit
Eiswürfelbereiter und ein schnurloses Telefon. Im Hobbykeller, neben dem
Pac-Man-Automaten, hing ein riesiges Poster von Val d’Isère in den
französischen Alpen, wo Hrafn und seine Familie Ski fuhren, seit er ein Kind
war. Darüber hinaus schienen sich die einzelnen Familienmitglieder kaum
füreinander zu interessieren, anders als bei Egill zu Hause, aber in der
Wohnung seiner Eltern gab es auch weniger Platz, um sich aus dem Weg zu
gehen.
Sie machten ihre ersten Alkoholerfahrungen durch Hrafns Bruder und
dessen Freunde, die sehr zum Missfallen der in Val d’Isère Ski fahrenden
Eltern eine dreiwöchige Party in der Villa schmissen. Das Trinkgelage
begann im Wohnzimmer, dann soffen sie sich durch den Hobbykeller, über
die Tischtennisplatte und den Billardtisch, wetteiferten auf dem Rudergerät,
bis sie in der Sauna endeten, wo Hrafn sich selbst und Egill den Saunaofen
vollkotzte, schworen sich, es nie wieder zu tun, und fielen bewusstlos ins Bett.
Der Kotzgestank hing noch monatelang im Keller, lockte aber schon am
darauffolgenden Tag ein paar Mädchen von der Party im Erdgeschoss an,
was unversehens wieder zu einem Besäufnis führte sowie dazu, dass Hrafn
mit einem älteren Mädchen im Ártúnsholt-Viertel im Bett landete und
entjungfert wurde, sich aber an nichts erinnern konnte, außer dass sie Valdís
hieß. Egill wies ihn darauf hin, der Name klinge merkwürdig ähnlich wie Val
d’Isère, und war fest davon überzeugt, dass er ihm etwas vorgelogen hatte,
um auch ganz sicher der Erste zu sein.
Als Egills Eltern in die Weststadt zogen, hatte er einen eigenen Keller zur
Verfügung, in dem Hrafn übernachtete, wenn er zu Besuch kam. Sie hörten
mit den Ladendiebstählen und dem anderen Unfug auf, den sie in Árbær und
im Kringlan-Shoppingcenter getrieben hatten, fingen stattdessen an, in einer
Garage draußen auf dem Hafengelände Selbstgebrannten herzustellen, und
lieferten die Kanister mit dem Fahrrad vom Rauðarárstígur bis nach Nes im
Westen der Stadt aus. Im letzten Jahr der Oberstufe begannen sie, bei den
Fischerschuppen an der Ægisíða zu kiffen, und kurz darauf, fast so als wäre es
vorherbestimmt, verlor Hrafn den Boden unter den Füßen. Alles, was sie zum
ersten Mal gemeinsam gemacht hatten – saufen, kiffen, auf Laternenpfähle,
Bushaltestellen und Leute eindreschen –, waren Dinge, die Egill zu
beherrschen lernte, während Hrafn die Kontrolle verlor, von etwas getrieben,
das Egill nicht verstand. Nachdem Hrafn das Gymnasium geschmissen hatte
und zu Hause ausgezogen war, fing er an, mit den Drogen, die er selbst
nahm, auch zu dealen, und sank so tief, dass er noch nicht einmal merkte,
dass sich etwas verändert hatte. Egill hatte keine Lust mehr, mit ihm
rumzuhängen, und als sich die Gelegenheit bot, kurz nach ihrem achtzehnten
Geburtstag, beendete Egill die Freundschaft mithilfe eines Mädchens, in das
Hrafn verliebt war, verbannte ihn damit aus seinem Leben und schaute nie
zurück – bis sie sich zehn Jahre später zufällig bei einer Cocktailparty trafen.
Egill drehte den Joint mehrmals zwischen den Fingern und zündete ihn
dann an. Er inhalierte den Rauch, hielt ihn in der Lunge und reichte Hrafn
den Joint, der ihn entgegennahm, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres.
Egill blies den Rauch aus, ohne Hrafn anzuschauen, sah aber, dass er an dem
Joint zog, einmal, zweimal. Der Joint wanderte zwischen ihnen hin und her.
»Wusstest du, dass eineinhalb Prozent der Fläche Nordamerikas
asphaltiert sind?«, fragte Egill und schaute über die Sandebenen.
»Ist das viel?«
Egill kicherte und hatte das Gefühl, dass sich sein Kopf aufpumpte und
gleich von der Luft darin gesprengt würde, weil sie jedes Mal mehr wurde,
wenn er den Mund zum Sprechen aufmachte.
Er nahm sein Handy und schaltete es ein.
»Hast du Empfang?«
Egill verneinte, steckte das Handy wieder in die Tasche, nahm den Joint
entgegen, sog den Rauch ein und hielt ihn lange in der Lunge, fühlte, wie sich
sein gesamter Körper entspannte, wie der Rauch durch die Lungen strömte,
und als er eine hellgraue Rauchsäule ausblies, spürte er jede einzelne Zelle
seines Körpers – alles war genau am richtigen Platz und konnte gar nicht
anders sein. Als sie jünger waren, nannte Hrafn das den Alkoholrausch anturnen –
nicht zu viel, nur um in Fahrt zu kommen. Er hielt Hrafn den Joint wieder
hin und sagte: »Auf einer Party hab ich mal einen Schriftsteller
kennengelernt, der ein Buch über Kühe schrieb. Er behauptete, in
bestimmten Landesteilen, wo es kein Handynetz oder elektromagnetische
Wellen oder so was in der Luft gebe, sammelten sich alle Gespenster und
Teufel und Wiedergänger, verborgenes Volk und Elfen, Schutzgeister,
Ungeheuer. Weil sie woanders keinen Platz mehr hätten.«
»Klingt vernünftig.«
Egill nickte. »Falls es andere Dimensionen gibt und Wesen, die sie
bewohnen, ist ja klar, dass sie auf einer anderen Frequenz funktionieren, auf
anderen Wellenlängen, und manche von ihnen könnten sich von unseren
Telefonsignalen gestört fühlen – in ihrer Welt wäre das so, als würden ständig
Maschinengewehre in den Himmel abgefeuert und Nagelbomben
explodieren. Natürlich fliehen sie dann in die Berge. Und lassen sich hier in
der Sandwüste nieder, zwischen den Sandkörnern.«
Egill reckte sich nach dem Flachmann und kippte den Rest in sich hinein,
spülte den Mund aus. In der anderen Hand hielt er den Joint und wusste
nicht mehr, wann er ihn entgegengenommen hatte, sah aber, dass er bald zu
Ende war. Er bot ihn Hrafn an, der abwinkte, zerbröselte ihn dann zwischen
den Fingern und betrachtete die Glut im Sand, die aussah wie ein
zusammengekniffenes rotes Auge oder eine Blume aus der Hölle. Bevor Anna
ihn kennengelernt hatte, hatte sie ein unbefriedigendes, ödes Leben geführt.
Sie hatte schlechten Sex gehabt. Er fand es ermüdend, immer die Initiative
zum Vögeln zu ergreifen, abgewiesen zu werden, manchmal anderswo seine
Bedürfnisse befriedigen zu müssen, das hatte er eigentlich nicht nötig. Er
brauchte mehr Wärme, Feuer in der Brust, das durch den ganzen Körper
strömte. Oder Geld.
»Anna hatte noch nie einen Orgasmus, bevor sie mich kennenlernte.«
»Deine Stirn blutet.«
Egill legte die Hand auf die Stirn, spürte den Verband und etwas
Feuchtes, das hinausrann, sah Blut an seinen Fingerkuppen.
»Die Hitze, nehme ich an.« Er unternahm nichts, hätte auch nicht
gewusst was, dachte nur irgendetwas Wirres über die Augentropfen, die er
benutzte, damit seine Augen vom Rauchen nicht so rot wurden.
»… auf allen vieren und rannte in die Dunkelheit«, sagte Hrafn, der
gerade etwas beschrieb, das er am Abend vorher durchs Fenster gesehen
hatte.
»Aha … Bist du schon paranoid?«
»Ich hab mir das nicht eingebildet. Es rannte auf allen vieren über die
Sandfläche und verschwand.«
Sie schwiegen. Egill stellte sich vor, wie es sein musste, hier aufzuwachsen,
in dieser Einöde. Im neunzehnten Jahrhundert. Oder im achtzehnten oder
siebzehnten oder sechzehnten. »Ich verstehe nicht, wie die Leute früher hier
leben konnten. Stell dir nur die Stille und die Dunkelheit vor. Keine Farben,
keine Geräusche, fades Essen, kein Licht, höchstens von einem kleinen
Kerzenstumpf oder einer Tranlampe, nichts zum Anschauen, nichts zu lesen,
keine Süßigkeiten. Nichts … Jeden Tag, das ganze Leben. Tausend Jahre
lang. Die kleinen ausgemergelten Körper, die ausgetrockneten Seelen wie
Rosinen im Sand.«
»Sie hatten zumindest ihre Geschichten«, sagte Hrafn. »Von anderen
Dimensionen, Wesen in Steinen und Hügeln, verborgenem Volk,
Gespenstern und Wiedergängern. Das, wovon du eben gesprochen hast,
oder?«
»Geschichten über den eigenen Wahnsinn.« Egill wurde das Gespräch
langsam unangenehm.
»Wir müssen zusehen, dass wir nach Hause kommen, die Sache hinter
uns bringen.«
»Das wird schon, wir schaffen das …« Er wollte noch etwas hinzufügen,
vergaß es aber, schaute zum Horizont und meinte, die Dämmerung
hereinbrechen zu sehen, obwohl es noch viel zu früh dafür war. »Monster,
Trolle«, murmelte er, und vor seinem inneren Auge erwachte eine groteske
Personifikation der isländischen Kultur zum Leben: das Büro eines Reeders
in einer wellblechverkleideten Halle unten am Hafen, groß und leer; in der
Luft ein schwacher Geruch von Fischinnereien, vermischt mit nach Kiefern
duftendem Raumdeo aus der Toilette, ein summender Computer auf dem
Schreibtisch, ein Telefon in einer Halterung, die man sich an die Schulter
klemmen konnte; an der Wand eine Mitgliedsurkunde der
Unabhängigkeitspartei, das gängige Diplom all jener, die von der Schule des
Lebens sprachen, die übliche Rechtfertigung derer, die gegen Unabhängigkeit
und Freiheit kämpften; in den Regalen Akten mit Statistiken und Fangquoten
und Lohnkosten. Und hinter dem Schreibtisch hockte das Genie
höchstpersönlich: ein kleiner Mann mit großen Träumen und einem
Riesenappetit, ein eifriger Leser von Arnaldur Indriðason, ja geradezu ein
»Abonnent« von Arnaldurs Büchern, der offen seine Meinung über
Arnaldurs Qualitäten herausposaunte und ziemlich empört war, wenn man
Arnaldur schmälerte. Ein eifriger Anhänger des freien Marktes, der
natürlichen Auslese und der Selbstoptimierung. Ein eifriger Anhänger seiner
selbst und seiner eigenen Begierden, der alles Mögliche auf eine Stufe stellte –
wie es ihm gerade passte –, Kultur und Geld, Sex und Appetit. Der sich
schnaufend von Frauen wälzte, sich für tüchtig, durchtrieben und klug hielt.
Der Macht erlangte und sich lange daran festklammerte, ja, während der
gesamten Geschichte der isländischen Republik, nur durch Wortklaubereien,
durch Spott und Hohn, indem er bei allen Diskussionen polarisierte,
bagatellisierte und banalisierte.
»Klingt wie mein Vater«, meinte Hrafn. Egill merkte, dass er laut geredet
und Hrafn recht hatte. Er sprach von dessen Vater Halldór.
»Entschuldige«, sagte Egill, ohne es zu meinen oder zu verstehen, warum
er sich entschuldigte. Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich wollte nur sagen,
es fehlte die Seele … Es fehlt die Seele, verstehst du.« Warum konnten sie
keine vernünftigen, ehrlichen Gespräche führen, wenn sie zu viert waren?
Alle ihre Gespräche erstarben, blieben oberflächlich und gingen nie über den
kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus, höflich und einfallslos. Waren sie
wirklich Freunde? Wollten sie tatsächlich Zeit miteinander verbringen? Sollte
man ihre Beziehungen zueinander nicht lösen und die Gruppe neu
zusammenfügen? Wenn er zum Beispiel alleine mit Vigdís dagesessen hätte,
mit der anmutigen Vigdís, könnte er aufrichtig sein, ihr näherkommen, er
sehnte sich nach Sanftheit und Wärme.
»Vigdís ist eine tolle Frau«, sagte er, stützte sich auf die Ellbogen und
schaute zu den vorbeijagenden Wolken. »Sie ist nett und freundlich,
ungekünstelt, ich verstehe gut, was du an ihr findest … Sie unterstützt einen,
ist nicht egoistisch, hat nicht diesen Blutgeschmack im Mund und wetteifert
nicht bei allem, was sie macht.« Er hatte das nicht laut sagen wollen, konnte
sich aber nicht bremsen. »Mütterlich vielleicht … sie hat etwas, das
heutzutage selten ist. Sie hat Seele. Ich würde alles dafür geben, das zu
haben, was du hast. Du weißt gar nicht, was für ein Glückspilz du bist, hast es
noch nie gewusst.«
»… sicher«, klang es von Hrafn wie aus weiter Ferne, von weit her aus
einer Kälte, die sich über sie stülpte. Seine Stimme war scharf wie ein
Eiszapfen.
»Was uns fehlt …«, setzte Egill an, doch dann überkam ihn Müdigkeit,
endlich, und er wollte die Augen für einen Moment schließen, diese ganzen
Gedanken, Sorgen, Gefühlswallungen loslassen, alles, woraus er bestand.
»… loslaufen«, sagte Hrafn, und Egill winkte mit der Hand, die taub war.
Sein Herzschlag hatte sich normalisiert, es würde schon gehen.
»Schön hier«, sagte er und seufzte, spürte das Schimmern des
unsichtbaren Gletschers auf seinem Gesicht, wie er sich kalt über das Land
erhob, über dessen Vergangenheit und Zukunft, er kroch in jede Spalte des
Landes und sprengte sich frei, hörte Hrafns Schritte entschwinden, den Sand
zerbröseln, die Sandkristalle zertreten bei jeder seiner Bewegungen,
verschwinden.
ANNA – 7 | Das Bild von dem schönen Paar
Anna wachte davon auf, dass Egill zu ihr ins Bett kroch. Nach der
Wanderung hatten Vigdís und sie sich in den Zimmern, die ihnen am Abend
vorher zugewiesen worden waren, hingelegt. Er schmiegte sich an sie, und auf
einmal hatten sie sich versöhnt, ohne groß darüber zu reden.
Sie machten sich jeder ein Bier auf und gingen nach draußen, wo Hrafn
und Vigdís damit beschäftigt waren, das Abendessen vorzubereiten. Sie
hatten nicht weit vom Haus einen Tisch und Stühle in den Sand gestellt, und
Vigdís flüsterte Anna zu, sie wolle sich nicht länger als nötig im Haus
aufhalten.
»Ich verstehe, was du meinst«, entgegnete Anna. Fetzen aus ihrem Traum
gingen ihr durch den Kopf: ein schmelzender Gletscher, der drei Grabsteine
zum Vorschein brachte, deren Form an Hochhäuser erinnert. Aus ihren
Fenstern drang dunkelrotes Licht, und Füchse streiften über die Sandflächen,
verbreiteten sich im ganzen Land wie flüssiges Feuer.
Sie teilten die Aufgaben unter sich auf: Hrafn stellte den Reisegrill auf und
befüllte ihn mit Holzkohle, wickelte mit Gorgonzola gefüllte Champignons in
Alufolie und bepinselte Rinderfilets, Vigdís schnitt Knoblauch und Gemüse
unter Ásas wachsamen Augen, die am Küchenfenster stand, während Anna
Kartoffeln aus dem Auto holte. Egill hatte einen neuen Verband um die
Stirn, trank Bier und half nur mit, wenn er penetrant darum gebeten wurde.
Er spielte mit Tryggur, ließ ihn wieder und wieder einen kleinen Ball holen
und streichelte ihn, was Anna überraschte. Normalerweise konnte er »den
Köter« nicht ausstehen, beschwerte sich über seine runden, bettelnden
Augen, wenn sie am Esstisch saßen, und wollte, dass er im Flur blieb, weil er
haarte.
Sie hatten genug Lebensmittel eingekauft, bevor sie am Mývatn
losgefahren waren, schließlich hatten sie damit gerechnet, eine Zeit lang nicht
in bewohnte Gegenden zu kommen. Im Kofferraum hatte Hrafn eine
Kühlbox einbauen lassen, damit die Fleischwaren nicht verdarben, ebenso
wie der Hummer, den Egill grillen wollte, sobald sie die Landesmitte
erreichen würden, was für ihn anscheinend eine Art Sieg über die Natur
bedeutete.
Anna wusste nicht mehr, wie lange sie schon unterwegs waren. Die Reise
hatte sie mit Haut und Haaren verschlungen, oder umgekehrt. Sie war so
leicht beeinflussbar; wenn sie ein paar Tage lang dasselbe machte, hatte sie
das Gefühl, nie etwas anderes getan zu haben. Wahrscheinlich waren sie seit
einer Woche unterwegs. Sie waren an einem Sonntag losgefahren, hatten die
erste Nacht in Þingvellir verbracht und die zweite in einem Hotel beim
Geysir, weil sie keine Lust hatten zu zelten. Anschließend waren sie zum
Hvítárvatn-Gletschersee gefahren, wo sie zwei Nächte geblieben waren, von
dort zu den Kerlingarfjöll, zu denen sie sich notiert hatte, es seien die
schönsten Rhyolith-Berge Islands, hatten den Hánýpur bestiegen, in den
heißen Quellen in Hveradalir gebadet, waren dann über die Kjölur-
Hochlandpiste und weiter nach Osten zum Mývatn-See gefahren, wo sie in
einem schönen Hotel übernachtet, zwei Nächte relaxt und sich mit Vorräten
eingedeckt hatten.
Sie ging in die Küche, um die Alte zu fragen, ob sie die Kartoffeln der
Schnelligkeit halber bei ihr kochen könne, doch sie war nirgends zu sehen. Im
Wohnzimmer fiel Annas Blick auf eine Fotografie, die sie schon gesehen hatte
und die ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Das Foto war schwarz-
weiß, eingerahmt und nicht besonders scharf. Zuerst hatte Anna gedacht, es
sei von dem alten Ehepaar in jüngeren Jahren, aber jetzt war sie sich sicher,
dass die Frau nicht Ása war, sondern eine andere, hübschere. Die Frau auf
dem Foto legte den Kopf schief und lächelte verträumt, sie war um die
dreißig, jünger als der Mann, der breite Schultern, große Augen und kräftige
Kieferknochen hatte, ohne dass sein Gesicht grobschlächtig wirkte. Er trug
einen perfekt sitzenden Anzug, blickte ernst, aber nicht unfreundlich in die
Kamera durch eine Brille, die so filigran war, dass sie auf dem Foto kaum zu
erkennen war. Wenn Anna es nicht besser gewusst hätte, hätte sie ihn für
einen gebildeten Mann aus guter Familie gehalten, nicht für einen Bauern,
und eigentlich galt für die Frau dasselbe.
Da war etwas an dieser Fotografie, das sie störte: Wie die Frau sich an den
Mann lehnte und eine Schulter hob, als trage sie etwas, das man nicht sah,
oder war es die Bildkomposition – waren es die Proportionen?
Konnte man denn ausschließen, dass Ásas Mann gebildet und aus guter
Familie war? Anna fiel es schwerer, in Ása etwas anderes zu sehen als eine –
was? Hausfrau war vermutlich das Wort, das sie suchte. Aber sie mussten
doch irgendetwas machen, das ihnen Einkünfte einbrachte, oder zumindest
früher mal etwas gemacht haben.
Sie hörte den Fußboden im ersten Stock knarren, beschloss, lieber doch
nicht wegen der Kartoffeln zu fragen, und eilte zurück nach draußen.
Sie setzten sich an den gedeckten Tisch und hoben ihre Weißweingläser, alle
außer Hrafn, der irgendeinen Orangensaft trank. Anna hatte Mitleid mit
ihm, weil er nichts trinken durfte, fand das aber gleichzeitig ziemlich kindisch.
Vigdís holte die Sofortbildkamera, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und
machte ein Foto von ihnen.
»Auf die Natur!«, rief Anna, und sie stießen vor der Kamera an. Das Foto
war innerhalb von einer Minute entwickelt. Anna hatte darauf rote Augen
und einen verzerrten Mund, der den bräunlichen Zahn entblößte, den sie
bald bleichen lassen würde. Während der Reise hatte Vigdís mit der Kamera
Blumen und Pflanzen fotografiert und darüber gewitzelt, dass sie als Erste
neue Arten entdecken würde, die ausländische Touristen unter ihren
Schuhsohlen ins Hochland getragen hatten; sie würde eine neue Blume nach
sich benennen.
»So jagen Frauen«, hatte Anna sich für einen Artikel notiert, aber
wahrscheinlich wollte Vigdís sich nur an ihre Mutter erinnern, die sie
offenbar sehr geliebt hatte: indem sie die Kamera benutzte, die sie von ihr
geerbt hatte, und herausfand, wie die Pflanzen hießen – das schien ein
spezielles Hobby ihrer Mutter gewesen zu sein.
Egill leerte ein weiteres Glas, und Anna wünschte sich, er würde es
langsamer angehen lassen, damit er diesen Abend keinen Ärger machte. Das
Haus stand südlich von ihnen, ansonsten hatten sie freien Blick auf die
Sandflächen.
Tryggur lag zu ihren Füßen unter dem Tisch. Manchmal winselte er leise
und drängte sich an sie, bis sie ihm einen der Knochen gab, die sie aus der
Stadt mitgenommen hatte. Müde vom Laufen, dachte sie. Auf dem Rückweg
vom Auto war er abgehauen und erst wieder aufgetaucht, als Vigdís und sie
das Haus erreicht hatten, hechelnd, als sei er die ganze Zeit gerannt.
Nachdem sie eine Weile übers Wetter geredet hatten, sagte Hrafn, er
habe mit der Alten über den Wagen gesprochen.
»Es gibt hier kein Werkzeug, mit dem man die Achse reparieren kann.
Außerdem sind beide Vorderreifen platt, und es gibt nur einen Ersatzreifen.
Und kein Flickzeug. Aber sie hat gesagt, wir könnten die Signalraketen
haben.«
»Könnte nützlich sein, die zu haben«, sagte Vigdís.
»Und jetzt?«, fragte Anna. »Wir bleiben doch nicht länger hier und
warten, wenn es nichts gibt, worauf wir warten können? Wie kommen wir
von hier weg?« Sie hatte keinen Appetit mehr, nahm das Weinglas und
drehte es zwischen den Fingern.
»Wir laufen«, schlug Vigdís vor. »Bis wir Handyempfang haben. Wenn
wir Glück haben, finden wir eine Schutzhütte mit einem Funkgerät.
Ansonsten folgen wir der Piste nach Norden zur Askja, das ist nicht so weit
von hier.«
»Wie weit?«, fragte Anna.
»Einen halben Tagesmarsch, glaube ich«, antwortete Vigdís. »Kommt
drauf an, wo genau wir uns auf der Karte befinden. Aber gemessen an der
Zeit, die wir in die falsche Richtung gefahren sind, können es nur ein paar
Stunden mehr oder weniger sein. Wir suchen uns hier in der Gegend ein paar
Landmarken und benutzen den Kompass und die Karte.«
Es wurde dunkel, und sie unterhielten sich über die elektronischen
Sphärenklänge, die aus der Anlage ertönten. Egill versuchte, ihnen den
Unterschied zwischen Ambient und Minimal Music zu erklären, was ihm
nicht besonders gut gelang. Vigdís zündete Kerzen an und reihte sie in der
Mitte des Tisches auf, woraufhin die Dunkelheit um sie herum noch dichter
zu werden schien. Hrafn nahm Vigdís in den Arm und küsste sie liebevoll auf
die Stirn.
Anna versuchte, Kontakt zu Egill zu knüpfen, aber es gelang ihr nicht. Er
trank weiter und stierte mit unergründlicher Miene in die Dunkelheit. Als sie
sich kennengelernt hatten, war er auch betrunken gewesen, aber nicht
unangenehm, nicht wie eine fette Katze, so wie später, sondern nur so
strotzend vor Vitalität und Selbstbewusstsein. Sein Gesicht war
sonnengebräunt, sein Hemd weiß und am Kragen aufgeknöpft, sein Jackett
saß perfekt. Sie waren bei einem Empfang der Kaupþing-Bank in der
Borgartún, wo Anna an einem groß aufgemachten Interview mit den
Gattinnen isländischer Geschäftsmänner arbeitete. Er stellte sich ihr vor und
sagte, er kenne sie aus dem Gymnasium, was nicht auf Gegenseitigkeit
beruhte, doch nach einem kurzen Small Talk erinnerte sie sich dunkel an
einen Pullover tragenden, distanzierten Jüngling, der sich in einem Herbst für
irgendein Amt bei der Schülervertretung Framtíð beworben hatte –
Kassenwart vermutlich –, meistens in irgendwelche Managementbücher
vertieft und ein oder zwei Jahre jünger als sie.
»Sag’s ruhig, heute sehe ich besser aus«, sagte er lächelnd, doch das
Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. Als sie sich besser kennenlernten,
merkte sie, dass seine Augen nur selten mit dem übereinstimmten, was sich in
seinem Gesicht abspielte. Damals war er kurz davor, sein Büro in der
Suðurgata zu eröffnen, und behauptete, er sei noch nicht reich genug, dass
ihm Geld egal wäre. Er besaß eine Wohnung in der Innenstadt, zwei Autos,
einen Motorschlitten und ein Sommerhaus in Snæfellsnes, investierte jeden
Monat in Gold, hatte ein großes Aktienportfolio und ein Schnellboot, um
kurz mal zum Sommerhaus zu düsen – mit noch nicht einmal dreißig – und
hielt das für wenig.
Sie selbst sagte, ihr Ziel sei einfach nur, glücklich zu sein, hoffte dabei
halbwegs, ihn vor den Kopf zu stoßen, ihn abzuschütteln, doch gleichzeitig
fühlte sich ein Teil von ihr von dieser Unerbittlichkeit, dieser Amoral und
diesem unverhohlenen Aufstiegswillen angezogen. Sie stellte keine Fragen,
bildete sich aber im Gegensatz zu seinen Eltern nicht ein, dass »niemand
verlor« oder dass seine Tricks sicher wären, hatte nur das brennende
Verlangen, ihm näherzukommen, zu verstehen, was ihn antrieb. Als dies
schiefzugehen drohte, versuchte sie, sich in seinem Leben einzunisten, sich
unentbehrlich zu machen, suchte jedoch zugleich nach Schwächen – dem
Schmerzhaften und Verdrängten –, allerdings nur halbherzig, mit
zusammengekniffenen Augen. Und als sie die Laster schließlich entdeckte,
war das nicht auf ihren Scharfsinn, sondern auf seine eigenen Fehler
zurückzuführen.
Anna spürte wieder diese Unruhe, trank ihr Glas in einem Zug leer und
legte fröhlichere Musik auf. Es dauerte nicht lange, und Hrafn und Vigdís
waren aufgestanden und hatten angefangen, auf ihrer Seite des Tisches zu
tanzen. Sie drehten sich im Sand im Kreis, und Anna ließ nicht locker, bis
Egill sie auch kichernd herumwirbelte. Sie bemerkte, dass er die Bewegungen
des anderen Paares oder vielmehr die von Vigdís beobachtete. Wenn sie
genauer darüber nachdachte, war es nicht das erste Mal an diesem Abend,
dass er Vigdís so anschaute. Und sie war nicht die Einzige, die es bemerkt
hatte, Hrafn hatte es auch gesehen, über den Rand seines kleinen Saftglases
hinweg, was sie allerdings nicht daraus schlussfolgerte, wie er Egill anschaute,
nein – die Männer schauten sich gar nicht mehr an –, sondern daraus, wie er
Vigdís anstarrte. Anna war sensibel für so etwas, zu sensibel, schon immer
gewesen.
Sie beschloss, die Sache zu verdrängen, spürte Liebe in sich aufwallen und
nahm bald nichts anderes mehr wahr als das kräftige, rhythmische Klopfen in
ihrer Brust und die Sterne, die einer nach dem anderen am Himmel
erstrahlten, der sich über ihnen wölbte.
8 | Die Krone von Skimmi Stokkur
Später saßen sie am Tisch und rauchten. Die CD war zu Ende, und nur
Tryggurs Jaulen durchbrach die Stille.
»Er hat Angst vor den Füchsen, die hier möglicherweise
herumschleichen«, sagte Hrafn. Egill verdrehte die Augen, bis Anna selbst
genug von dem Gejaule hatte. Sie brachte Tryggur ins Haus und sperrte ihn
mit seinem Knochen in ihr Zimmer ein.
Als sie zurückkam, schlug Vigdís vor, Spukgeschichten zu erzählen. »Passt
doch gut, wenn man unter freiem Himmel sitzt. Dafür brauchen wir doch
kein Lagerfeuer, oder?«
»Vigdís ist Spezialistin für Spukgeschichten«, ergänzte Hrafn.
»Sie ist ja auch Psychologin«, meinte Egill.
Alle wollten eine Spukgeschichte hören, und Vigdís erzählte, sie habe als
Kind viele gelesen. »Und Horrorgeschichten und Volksmärchen. Mir fällt
eine ein, die ich erst vor Kurzem gehört habe. Sie spielt im
Studentenwohnheim. Ich weiß nicht, ob ich die erzählen soll …«
»Doch, unbedingt«, bat Anna und erschauerte. »Ich liebe es, mich zu
gruseln.«
»Wahrscheinlich fällt sie in die Kategorie Volksmärchen, und doch auch
wieder nicht – sie ist nämlich wahr. Das ist alles passiert und passiert
garantiert immer noch. Ich habe euch jedenfalls gewarnt. Seid ihr ganz
sicher, dass ich sie euch erzählen soll?«
»Hör auf! Und fang an!«, entgegnete Anna lachend und stellte sich Vigdís
bei einem Pfadfinderausflug vor, ein kleines Mädchen mit einem roten Tuch
um den Hals, wie es nach einem langen Tag voller Knoten und Erster Hilfe
mit seinen Kameraden im Skorradalur am Lagerfeuer saß.
»Na gut«, sagte Vigdís und erzählte die Geschichte: »Es war einmal ein
Paar, das hatte zwei Kinder, die waren drei und sieben Jahre alt. Als die
Eltern anfingen zu studieren, zogen sie in eines der Studentenwohnheime in
der Eggertsgata, die für Familien reserviert sind. Viele der Wohnungen liegen
im Erdgeschoss nach Süden zum Flughafen hin, nur ein paar Meter von den
Felsen entfernt, von denen man sagt, sie seien beim Bau der Häuser in ihrer
Ruhe gestört worden. Die kleine Familie richtete sich also in einer dieser
Wohnungen ein, und nach ein paar Wochen bemerkten sie ein merkwürdiges
Verhalten an ihrer Tochter. Sie schien einen unsichtbaren Freund zu haben,
der immer kam, wenn sie spielte. Ihren Eltern fiel es auf, als sie im
Wohnzimmer zur offenen Terrassentür ging und winkte. Ihre Mutter fragte,
wer denn da draußen sei, und sie antwortete prompt: Skimmi Stokkur, mein
neuer Freund, der in den Felsen vor der Terrasse wohnt.
Von da an kam Skimmi öfter zu Besuch, aber die Eltern kümmerten sich
nicht besonders darum, denn ihre Tochter war in dem Alter, in dem Kinder
unsichtbare Freunde haben, und wenn Skimmi sie besuchte, war sie artiger.
Ihr jüngerer Bruder schien nichts zu sehen, doch eines Tages erzählte das
Mädchen, Skimmi habe ihm eine Krone gebastelt, so strahlend blau wie der
Himmel und mit roten Kugeln auf der Stirn, und das sei nicht gut. Die
Kleine war ganz aufgewühlt, als sie darüber sprach, und die Eltern begannen
sich Sorgen zu machen. Sie stellten ihr genauere Fragen nach Skimmi, und
die Tochter beschrieb ihn als schlank oder ›klapperdürr‹ und als ebenso groß
wie sie, seine Kleidung sei bunt, seine Augen seien strahlend hell, aber ohne
richtige Farbe, und er flüstere immer, aber nicht mit dem Mund, sondern mit
den Augen. Außerdem sei seine Nase komisch, und der Beschreibung nach
gingen die Eltern davon aus, dass er keine Nasenscheidewand hatte.«
»Und was bedeutet das?«, fragte Egill.
»Er hatte nicht zwei Nasenlöcher, sondern nur eins«, warf Anna
ungeduldig ein. »Und dann?«
»Nun, eines Tages spült die Mutter gerade das Geschirr, als ihre Tochter
aus dem Schlafzimmer kommt, an ihr zieht, etwas über die Krone und ihren
kleinen Bruder sagt und dass sie sofort ins Schlafzimmer gehen und ihm
helfen müssten. Die Mutter antwortet, sie müsse erst zu Ende spülen, und
versteht nicht, warum ihre Tochter es so eilig hat, bis das Licht in der
Wohnung anfängt zu flackern. Da weiß sie, dass etwas nicht stimmt, eilt ins
Schlafzimmer, wo ihr Sohn neben dem Bett auf dem Boden sitzt, am ganzen
Körper zittert und bebt, während schwarzer Qualm aus seinem Kopf steigt.
Plötzlich knallt in der Wohnung die Sicherung raus, Brandgeruch erfüllt das
Zimmer, die Mutter reißt den Jungen an sich und rennt mit dem kleinen Kerl
durch den Flur. Er qualmt immer weiter, bis der Krankenwagen kommt.
Und dann ist er tot.
Später, als man das Mädchen befragte, beschrieb es die Ereignisse so: Sie
war alleine im Wohnzimmer, als Skimmi Stokkur durch die Terrassentür
kam und sich neben sie setzte. Sie fingen an zu spielen, und bald kam ihr
kleiner Bruder auch dazu und hockte sich neben sie. Da setzte Skimmi ihm
die Krone auf, flüsterte ihm ganz schnell etwas Unverständliches ins Ohr und
gab ihm einen Schlüssel, den er im Schlafzimmer in die Wand stecken sollte.
Daraufhin bekam die Schwester Angst, ging in die Küche und versuchte, die
Mutter auf sich aufmerksam zu machen, doch Skimmi band ihr einen
Zauberschal um den Mund, weshalb sie sehr lange dafür brauchte. Als sie mit
der Mutter endlich ins Schlafzimmer kam, strahlte die Krone auf dem Kopf
ihres Bruders so hell, dass sie sie nicht anschauen konnte, dann wurde alles
dunkel, und Skimmi war verschwunden.
Nach der Beerdigung brachen die Eltern ihr Studium ab und zogen nach
Norwegen, aber die Geschichten von Skimmi Stokkur erzählt man sich
immer noch. Meistens kommt er über die Terrassen in die
Erdgeschosswohnungen, die nach Süden und direkt bei den Felsen liegen,
aber er geht auch in andere Wohnungen, wenn es dort Kinder gibt. Wenn es
Geschwister sind, freundet er sich mit dem älteren Kind an, und das jüngere
hat einen Unfall; wenn es ein Einzelkind ist, wird es allmählich immer
launenhafter und erkrankt schwer, oder die Eltern haben einen Unfall.«
»Oh Gott!«, stieß Anna hervor. »Als gäbe es dabei eine gewisse Logik.
Von wem hast du diese Geschichte gehört?«
»Ich habe ein paar Jahre später mit der Schwester der Mutter
zusammengearbeitet. Sie nahm ihr Studium nie wieder auf und arbeitete in
Bergen als Zimmermädchen. Nach dieser Sache trennten sich die Eltern, das
Mädchen vergaß merkwürdigerweise alles über Skimmi Stokkur … Die
Schwester der Mutter hatte selbst zwei kleine Kinder, und die Moral von der
Geschichte war ihrer Meinung nach die: Hör auf deine Kinder, und wenn sie
etwas sehen, was du nicht siehst, solltest du Angst bekommen.«
9 | »Trolle füttern verboten«
Anna kicherte, dann fingen sie alle an zu lachen, ohne zu wissen, warum.
Hrafn stand auf und verschwand in der Dunkelheit, um zu pinkeln, und
Anna zündete sich eine Zigarette an. Sie wollte gerade fragen, ob jemand die
Raumstation gesehen habe, die gerade die Erde umkreise, als Hrafn sich
wieder an den Tisch setzte und fragte: »Findet ihr das Haus nicht auch
merkwürdig?« Sie schauten rüber zum Haus, das bis auf das Küchenfenster
dunkel war. »Die Fenster im Erdgeschoss sind zugemauert«, fuhr er fort,
»aber man kann ihre Umrisse noch erkennen. Und ich bin mir ziemlich
sicher, dass der Eingang früher im Erdgeschoss war, da, wo jetzt die Treppe
ist. Man hat sie vor die ursprüngliche Tür gebaut, um den Eingang höher zu
legen.«
»Gibt es im Erdgeschoss gar keine Fenster?«, fragte Vigdís.
»Ich bin ums Haus herumgegangen, im Erdgeschoss gibt es keine einzige
Öffnung in der Wand, bis auf die Stelle, gegen die der Jeep gefahren ist. Das
alte Ehepaar scheint sich eine kleine Festung errichtet zu haben. Fehlt nur
der Wassergraben … Aber man fragt sich natürlich, warum? Was für Gräuel
da draußen in der Sandwüste haben die guten Leute dazu gebracht, sich so
zu verschanzen? Wovor haben sie Angst?« Er verstummte, und sie schauten
abwechselnd einander und das Haus an.
»Meine Güte …«, sagte Anna, entspannte ihre Bauchmuskeln und spürte,
wie wieder Leben in ihre Gliedmaßen kam. »War das deine Spukgeschichte?«
Hrafn grinste.
Sie fingen wieder an zu lachen, bis auf Egill, der von dem Witz und der
Aufmerksamkeit, die Hrafn von den Frauen bekam, genervt war, oder
vielleicht lag es auch nur am Alkohol. Seine Augen glänzten feucht und
waren blutunterlaufen, und sein Unterkiefer hing schlaff herunter.
»Ja, wär gut, hier endlich abzuhauen«, sagte Egill wie eine Art
Fortführung seiner Gedanken, die er nicht mit den anderen geteilt hatte. Er
reckte sich über den Tisch nach der Flasche und füllte sein Glas. »Hier
draußen fühlt man sich so klein …« Anna erinnerte sich dunkel, ihn das
schon mal sagen gehört zu haben, allerdings in einer anderen Situation, in
der letzten Zeit sogar schon öfter in unterschiedlichen Situationen. Seit er
seine moralischen Ansprüche verloren hatte – zumindest ihr gegenüber – und
der Meinung war, die ganze Nation folge ihm bald nach, versuchte er sich in
einem philosophischen Relativismus, meistens wenn er betrunken war.
»Ist es denn unbedingt schlimm, wenn man sich klein fühlt?«, fragte
Vigdís und blickte in den Himmel.
»Ich finde es beängstigend, in Island aufs Land zu kommen, das war
schon immer so. Hier gibt es zu viel Nichts. Das gesamte Landesinnere ist
leer, wie eine zusammengeschrumpfte Blase.«
»Vielleicht bekämen wir Klaustrophobie, wenn es anders wäre«, sagte
Vigdís.
»Klaustrophobie? Warum? Ihr in euren fünfhundert Quadratmetern?«
Egill grinste und schien es zu genießen, ihnen auf die Nerven zu gehen. Er
beneidete Hrafn um sein Haus, sein Geld, seine Autos, sein Sommerhaus in
Þingvellir, zumindest seit er selbst damit konfrontiert war, alles zu verlieren.
»Alle Isländer sind von der Weite hier oben beeinflusst, von der Einöde«,
meinte Vigdís. »Auch wir, die wir nur selten herkommen.«
»Oder nie«, warf Hrafn ein.
»Selbst wenn wir zu Hause in der Stadt vor der Glotze sitzen. Wenn es
etwas in diesem Land gibt, das uns frei macht, dann das, ob es den Leuten
nun bewusst ist oder nicht. Das Hochland ist wie ein Resonanzboden für
jeden unserer Gedanken …«
»Und deshalb darf man es nicht antasten?«, fiel Egill ihr ins Wort.
»Er möchte sich gerne streiten«, sagte Anna und lachte gekünstelt. »Wie
heißt das noch mal im Internet – Trolle füttern verboten?«
»Ich hab ja nicht gesagt, dass man es nicht antasten darf«, erwiderte
Vigdís. »Aber es muss ein Gleichgewicht herrschen zwischen dem, was wir
uns nehmen, und dem, was wir zurückgeben. Wir müssen uns mit der Natur
arrangieren und unsere Einstellung zu ihr ändern. Die isländische Landschaft
wurde seit jeher idealisiert und vergöttert oder unterdrückt und ausgenutzt
wie ein Sklave. Zum Arbeiten gezwungen. Schon seit jeher stellt man sie sich
als Frau vor.«
»Spielt es eine Rolle, was für ein Geschlecht sie hat? Hält man es nicht für
begrüßenswert, dass Frauen auf den Arbeitsmarkt kommen? Oder seid ihr
weniger fleißig als Männer?«
»Keineswegs«, sagte Vigdís, und Anna hatte sie noch nie so aufgebracht
gesehen. »Frauen arbeiten sogar mehr als Männer. Und damit die Natur ein
bisschen Ruhe hat, wäre es besser, wenn man sie als Mann ansehen würde,
am besten als einen jungen und stolzen, dynamischen, sensiblen, begabten
Mann – als einen mit Zukunft. Eine Regierung kann der Natur in einer
Amtszeit so großen Schaden zufügen, dass jahrzehntelange Etappensiege im
Vergleich dazu ein Klacks sind. Und das bedeutet, dass jeder Kampf, der
nicht mit einer grundsätzlichen Änderung unserer Einstellung zu uns selbst
einhergeht, verloren ist. Wir müssen selbst ins Gleichgewicht kommen.«
Anna klatschte in die Hände. »Völlig deiner Meinung. Yin und Yang«,
sagte sie und wusste, dass Egill erst schnauben und dann die Augen verdrehen
würde, was auch so war. »Ich will das Hochland genau so haben, wie es ist«,
fügte sie hinzu. »Kein einziger Gletscherfluss soll mehr angetastet werden,
nicht noch mehr Hochspannungsleitungen oder Straßen oder
Würstchenbuden oder Hotels. Nicht noch mehr! Immer wenn ich durch
Europa reise, werde ich traurig, weil ich nichts als Bauwerke sehe, Häuser
oder Straßen oder Reklametafeln oder Shoppingcenter, wohin man auch
schaut. In England gibt es keinen Quadratmeter, der nicht vermessen und
taxiert wurde, in Holland, Deutschland, Belgien, Frankreich genau dasselbe,
und Italien ist eine einzige lange Autobahn mit Metzgereien, Fußballplätzen
und Hotels auf beiden Seiten …«
»Bin ich der einzige Mann hier am Tisch?«, rief Egill wild gestikulierend.
»Ist es etwa falsch, ein Mann zu sein? Ich fühle mich in der Gesellschaft von
anderen Menschen äußerst wohl. In der Innenstadt, auf Flughäfen, auf einer
Autobahn in Italien. Ich kann an einer Einkaufsmeile sitzen und Kaffee
trinken, ohne zu heulen! Und auf Fußballplätzen wächst schließlich auch
Gras! Ist das Gras woanders etwa schöner? Muss das Gras hoch oben auf
einem Berggipfel wachsen? Unbesteigbar, unberührt und abgelegen?«
»Wir brauchen die Natur, um zu überleben«, sagte Hrafn. »Eine gewisse
Mischung aus Chaos und Ordnung gibt es überall, nur da nicht, wo
Menschen sich niedergelassen haben. Nimm eine Mauer oder einen
Supermarkt oder ein Kreuzfahrtschiff – jeder einzelne Zentimeter ist geplant
und viel zu regelmäßig. Der Geist ermüdet, wenn man das vor Augen hat,
man fühlt sich angespannt und gestresst, weil die eigenen Gedanken einen
anstrengen. Wir brauchen die Natur, um uns zu erneuern und kreativ zu sein.
Sobald wir den gesamten Planeten verplant haben, erlöschen wir, unsere
Fantasie verblasst, und unsere Lebenslust erstirbt.«
»Das ist doch ein Klischee!«
»Wenn in den USA oder in Großbritannien etwas kaputtgeht, hängt man
ein Schild auf«, sagte Vigdís lächelnd. »Und wisst ihr, was auf dem Schild
steht? Out of order, außer Ordnung. Wir sind schon so krank, dass wir glauben,
sobald etwas nicht viereckig und voller Lichter und Zahlen ist, ist es kaputt.«
»Zum Glück gibt es noch mehr Sprachen auf der Welt als Englisch«,
entgegnete Egill und streckte sich auf seinem Stuhl. »Die Leute sind viel zu
empfindlich. Oder irgendwie perfektionistisch. Und ich würde das hier nicht
als Natur bezeichnen. Wenn Natur die Balance zwischen Chaos und
Ordnung ist, dann hat sie sich hier definitiv überanstrengt, die Kontrolle
verloren und sich selbst die Haare vom Kopf gefressen. Was wir hier sehen,
ist der Kadaver der Natur, das vom Sand abgeschmirgelte Skelett, das einen
anödet. Weiß, schwarz, kalt und minimalistisch, wie eine hippe Wohnung in
Manhattan, alles andere reimt man sich nur im Kopf zusammen, das ist
Romantik, Gefühlsduselei.«
»Genau. So ist es«, sagte Anna und spürte die Wut über Egill und seine
negativen Ansichten in sich hochsteigen, die immer nur ein Ausdruck seiner
eigenen Gemütslage waren. »Aber wie wäre es, wenn wir in Gottes Namen
mal über was anderes sprechen würden. Wir sind uns doch zumindest
darüber einig, dass die Natur hier unvergleichlich ist, ob nun auf schöne oder
widerwärtige Weise …«
»Ich begreife einfach nicht«, machte Egill weiter und redete sich immer
mehr in Rage, »warum ihr Umweltfreunde partout wollt, dass sich alle
darüber einig sind, alles sei gut und schön. Warum? Es ist doch überhaupt
nicht selbstverständlich, dass die Natur gut ist! Es gäbe viel bessere
Argumente dafür, dass sie es nicht ist.«
»Wenn man die Argumente an den Haaren herbeizieht, vielleicht«,
erwiderte Hrafn und grinste Egill an. »An der Natur sehen wir, dass alles sich
permanent verändert und wieder zusammenfügt. Dass die einzigen
Schranken sich in unseren eigenen Köpfen befinden. Was gut ist. Wie sollte
es auch anders sein?«
»Das lehrt uns Demut«, warf Anna aus der Luft gegriffen ein, nur um
Hrafn beizupflichten.
Egill verdrehte die Augen. »Klingt wie bei einer Sekte, oder?
Therapiefloskeln von den Müllhalden des New-Age-Gelabers. Alles fügt sich
mit allem zusammen? Nee, einer wird vom anderen gefressen, der dann
wieder von einem anderen und immer so weiter. So läuft das Leben, nach
festen Mustern, nicht einvernehmlich und nicht gut …«
»An was glaubst du eigentlich, Egill?«, fragte Hrafn immer noch grinsend,
wirkte aber auch leicht genervt. »Glaubst du an Gandhi? An etwas anderes
als an dich selbst?«
Egill zog seinen versilberten Flachmann aus der Tasche, trank einen
Schluck, schraubte ihn zu und stellte ihn auf den Tisch. »Zumindest bin ich
da, wo ich mich jetzt befinde, aus eigenem Verdienst hingekommen«,
entgegnete er grinsend. »Mir wurde nichts geschenkt.«
»Du bist also gut, höre ich da heraus. Und die Natur nicht«, sagte Hrafn,
und Anna hatte das Gefühl, dass sie sich über etwas ganz anderes stritten.
»Nie was von anderen geklaut, nie gelogen, nie ein Gebot gebrochen …«
»Die Gebote! Und das sagt der Mann, der Stühle auf anderer Leute
Köpfen zertrümmert! Sich brutal durchs Leben schlägt, ohne Rücksicht auf
andere, magisches Pulver in der Stadt verteilt …« Er verstummte. Hrafn
schaute ihn ausdruckslos an, jedoch mit dem Hauch eines Lächelns, was
Anna Angst machte. »Nee, da machst du wohl Witze, ihr macht alle Witze,
das kaufe ich euch nicht ab«, murmelte Egill vor sich hin und verstummte
schließlich ganz, als vom Haus her ein Klopfen ertönte.
Die Alte stand in der Küche und klopfte gegen die Fensterscheibe, ihre
Silhouette zeichnete sich dunkel vor dem Licht ab. Sie rief etwas, das man
durchs Fenster nicht richtig hören konnte, aber wie eine Aufforderung klang,
ins Haus zu kommen. Dann wich sie vom Fenster zurück, hörte auf zu
klopfen und starrte zu ihnen heraus.
»Ja, klar doch!«, rief Egill, zeigte mit erhobenem Daumen zum Haus,
lallte etwas über »diesen hässlichen Drachen«, führte sich auf wie der letzte
Pöbel, und Anna versuchte nicht länger, sich zu beherrschen, lehnte sich über
den Tisch und zischte ihn an: »Kannst du dich mal benehmen, ich schäme
mich!« Sie sah einen Hauch von Verwunderung und Scham in seinen Augen,
doch dann verhärtete sich sein Gesicht wieder.
»Ich glaube, wir sollten alle ein bisschen runterkommen«, beschwichtigte
Vigdís. »Lasst uns doch höflich zueinander sein, trotz der stressigen Situation.
Wir sind doch alle Freunde, Egill.«
»Ich weiß es nicht, liebe Vigdís. Das lassen wir mal besser, das ist schwer
einzuschätzen … Oder glauben alle hier am Tisch wirklich, dass wir uns
etwas zu sagen haben? Ihr könnt ja Freunde sein. Wäre das nicht genug? Ihr
seid alle gut, ihr seid euch einig und wollt für alle nur das Beste …«
Der Streit am Tisch kochte wieder hoch, aber Anna nahm nicht daran
teil, sondern beobachtete einen Schatten, der an der Ecke des Hauses
aufgetaucht war, reglos dort stand und zu ihnen herüberschaute. Annas
Finger wurden taub, sie hatte einen Kloß im Hals, der nicht mehr wegging,
und ihr lief ein Schauer über den Rücken, so ähnlich wie kurz vorm
Orgasmus. Auf einmal wusste sie, dass sie sich seit langer, langer Zeit nichts
sehnlicher wünschte, als loszulassen, gab dem Drang nach und stieß einen
schrillen, hysterischen Schrei aus. Am Tisch verstummten alle und folgten
ihrem Blick zum Haus.
Der Schatten stand schweigend da und tastete sich dann in ihre Richtung.
Im Haus hörte man Tryggur bellen, aufgeregt und laut.
Als er in den Lichtschein des Küchenfensters trat, erkannten sie den
Alten, ihren Gastgeber. Er blieb am Ende des Tisches stehen, mit
flackerndem Blick und leicht hängendem Unterkiefer, fast so als sei er
betrunken.
»Guten Abend«, sagte jemand. Der Mann bewegte den Mund, gab aber
keinen Laut von sich. Dann runzelte er wütend die Stirn, und sein Kopf fing
an zu wackeln. Wieder wurde ans Fenster geklopft, die Alte rief etwas und
verschwand dann im Haus.
Bevor sie erkannten, was er vorhatte, griff der Alte unter den Tisch und
kippte ihn um. Das Geschirr, die Essensreste und Gläser landeten im Sand
oder auf Egills und Vigdís’ Schoß.
Sie sprangen auf, Anna verstauchte sich den Fuß und wäre fast gestürzt,
konnte sich aber gerade noch am Tisch abstützen, der auf der Seite lag.
Hrafn packte den Mann und schüttelte ihn ein paarmal heftig, sodass sein
Kopf hin- und herschlenkerte.
»Scheiße, was machst du da, Mann?«, rief Hrafn. Der Alte versuchte, sich
zu befreien, aber Hrafn ließ ihn erst los, als Vigdís dazwischenging. Sie fragte
den Mann, ob es ihm gut gehe, aber er antwortete nicht, stand nur
vornübergebeugt da, seine Arme hingen schlaff an den Seiten herunter, und
lächelte dumpf.
»Die Natur!«, tönte Egill hämisch und zündete sich eine Zigarette an.
»Die edle Natur, wenn man ein Gehirn wie eine gekochte Rübe hat!«
»Hör auf, Egill! Geh schlafen und halt verdammt noch mal das Maul!«,
brüllte Anna, warf ihm einen vernichtenden Blick zu, hüpfte dann jammernd
auf einem Bein im Sand und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Die Alte tauchte im Dunkeln auf und ging geradewegs zu dem Mann,
strich ihm sanft über den Rücken und fragte, was passiert sei. Anna fühlte
sich völlig leer, ihr Fuß pochte, und ihr Knöchel schwoll sofort an.
Als sie wieder aufschaute, entschuldigte sich die Alte gerade für den
Übergriff, und Egill war verschwunden. Tryggur hatte aufgehört zu bellen.
Am Ende bat die Alte, sie sollten ins Haus kommen, es sei zu dunkel, um
noch länger draußen zu sein, und führte den Mann weg.
»Ich sollte mich wohl auch für meinen Mann entschuldigen«, sagte Anna,
sah ihnen nach, wie sie um die Ecke gingen, und tastete nach einer letzten
Zigarette. Hrafn öffnete den Mund, doch Anna kam ihm zuvor. »Aber ich
tue es nicht. Ich trage nicht die geringste Verantwortung dafür, was er macht
oder nicht macht … Ich gehe ins Bett.« Sie hätte gerne noch mehr gesagt,
aber das hätte alles zu verbittert geklungen, und am nächsten Tag würde sie
es bestimmt bereuen. Sie wollte nur noch schlafen.
Sie stand auf. Vigdís umarmte sie und sagte, morgen werde alles besser,
sie seien alle gereizt und müde.
»Da hast du wohl recht«, sagte Anna und ließ den Blick von Hrafn zum
Haus wandern. »Dieses Haus hat etwas Abstoßendes.« Dann wünschte sie
Gute Nacht und humpelte durch den Sand.
HRAFN – 10 | Der Zaun
Als Hrafn aufwachte, war es hell. Sein Mund war trocken, seine Zunge
aufgedunsen, und wenn er die Zähne aufeinanderbiss, erklang ein mahlendes
Geräusch. Er setzte sich auf, rieb sich mit den Händen fest übers Gesicht und
konnte sich nur vage an die Ereignisse des vergangenen Tages erinnern.
Nachdem er sich angezogen und die Zähne geputzt hatte, ging er runter
in die Küche, wo die drei anderen schweigend saßen. Vigdís beugte sich über
eine Landkarte, während Anna und Egill rauchten und Kaffee tranken. Das
alte Ehepaar war nirgends zu sehen.
»Guten Morgen zusammen«, sagte er, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein
und setzte sich. Anna und Egill schienen ihren gestrigen Streit beigelegt zu
haben. Egill sah zerknirscht aus, blass und mit dunklen Ringen unter den
Augen, er war wohl ziemlich verkatert. Nachdem er etwas vor sich hin
gebrummt und verlegen mit dem Feuerzeug herumgespielt hatte, sagte er, er
wolle sich bei ihnen entschuldigen.
»Wenn wir schon mal alle hier sind … Ich erinnere mich nicht an alles
von gestern Abend, aber Anna hat es mir erzählt, ausführlich. Ich hab mich
wohl danebenbenommen und schäme mich. Bitte entschuldigt, das tut mir
sehr leid. Ich bin ein Schwein.« Er zog eine Grimasse und versuchte, sich das
Grinsen zu verkneifen.
»Er lag nicht im Bett, als ich aufgewacht bin. Er hat unter dem
Laternenpfahl draußen im Sand gepennt«, erzählte Anna kopfschüttelnd und
lachte dann kurz auf.
»Das war bescheuert«, sagte Egill. »Aber das Wetter war gut, und jetzt
wissen wir wenigstens, dass die Laterne nachts an ist.«
Vigdís vertiefte sich wieder in die Karte, und kurz darauf kam das
Gespräch auf die Heimreise. »Wir verfolgen denselben Plan wie gestern«,
erklärte sie. »Nur dass wir nicht fahren, sondern laufen. Und Anna bleibt hier
und bewacht die Festung. Wir gehen Richtung Askja und finden hoffentlich
unterwegs eine Schutzhütte mit einem Funkgerät. Es ist noch früh, wir haben
genug Zeit, einen Kompass und eine Karte.«
»Warum bleibt Anna hier?«, fragte Hrafn und nippte an seinem Kaffee.
»Ich kann nicht laufen.« Sie hob den Fuß an, der am Knöchel mit einer
Mullbinde umwickelt war, und sagte, sie habe sich gestern Abend den Fuß
verstaucht, als der Alte den Tisch umgeworfen habe. »Außerdem ist Tryggur
verschwunden.« Sie stand vom Tisch auf, humpelte zum Küchenfenster und
blickte hinaus. »Es ist besser, wenn ich hier bin, falls er zurückkommt. Wenn
er in der Nacht in Panik weggerannt ist, streunt er hier vielleicht irgendwo
herum.«
»Wann ist er denn verschwunden?«, fragte Hrafn.
»Ich hab ihn in unser Zimmer gesperrt, als wir gegessen haben. Als ich ins
Bett gehen wollte, stand die Tür offen.«
»Hat ihn jemand rausgelassen?«
»Er ist schon mal an die Türklinke gekommen und hat sie selbst
aufgemacht, und ich dachte, er sei mit Egill raus in die Sandwüste gelaufen,
weil Egill ja auch weg war. Ich hätte direkt nach ihm suchen sollen … Was,
wenn die Füchse ihn angegriffen haben? Sie haben doch das Rentier
gefressen …«
»Ach Schatz«, fiel Egill ihr ins Wort. Anna verstummte und kuschelte sich
an ihn.
»Und du hast ihn auch nicht gesehen?«, fragte Hrafn, und Egill schüttelte
den Kopf. »Komisch. Aber vielleicht ist es besser, wenn einer von uns
hierbleibt. Ich bin ich mir nicht sicher, dass die Alten Bescheid geben, falls
uns etwas zustößt. Die vergessen uns, sobald wir weg sind. Wenn wir
innerhalb einer bestimmten Zeit nichts von uns hören lassen, kann Anna
Hilfe holen, falls hier jemand vorbeikommt.«
»Was soll uns denn zustoßen?«, sagte Vigdís. »Wenn wir keine
Schutzhütte mit einem Funkgerät finden, treffen wir bestimmt irgendwelche
Jeepfahrer. Außerdem ist es nur eine zwölfstündige Wanderung bis zur Askja,
mit dem Auto ein paar Stunden.«
»Genau«, pflichtete Egill ihr bei. »Der erste Jeepfahrer, den wir treffen,
bringt uns her, um die kleine Annamaus abzuholen.« Sie küssten sich, und
Anna kicherte.
»Ihr seid schnell wieder hier«, sagte sie und schien nichts dagegen zu
haben, zurückzubleiben. »Macht euch um mich keine Sorgen. Ich schreibe
ein bisschen, während ihr weg seid, hier gibt es ja genug Anregungen.«
Vigdís hatte die Stelle, an der sie sich vermutlich befanden, auf der Karte
eingekreist. Sie planten die Wanderung mithilfe von charakteristischen
Merkmalen entlang der Strecke, packten dann ein paar Sachen in ihre
Rucksäcke und zogen sich an. Hrafn begnügte sich mit einem Schal, ein paar
Riegeln Schokolade und Nüssen, steckte den Kompass ein und nahm das
neue Fernglas mit. Jeder hatte eine Flasche Wasser dabei, und Vigdís nahm
zwei Signalraketen mit. Als sie den Fotoapparat ihrer Mutter im Auto nicht
fand, war sie beunruhigt.
Ein warmer Wind blies von Süden, und der Himmel war wolkenlos. Der
Gletscher war nirgends zu sehen. Sie verabschiedeten sich, und Anna
umarmte sie, küsste Egill und verdrückte ein paar Tränen.
Sie gingen nach Nordwesten über die Sandfläche, in Richtung Askja. Als sie
an den Außengebäuden vorbeikamen, sahen sie den Mann alleine dastehen
und winken. Sie winkten zurück. Nicht weit von ihm hockten die beiden
Füchse. Der eine stieß ein schrilles Bellen aus und fing dann an, sich mit dem
anderen zu balgen.
Zunächst folgten sie der Piste, über die sie am Vortag gefahren waren,
verließen sie jedoch, als sie einen Hügel sahen, der sich etwas weiter westlich
sanft aus dem Sand erhob. Der Hügel war auf der Karte nicht eingezeichnet,
aber sie beschlossen, ihn zu besteigen, um den Handyempfang zu prüfen und
einen besseren Rundumblick zu haben.
Schon bald merkten sie, dass der Hügel weiter entfernt war, als sie
angenommen hatten. Schweigend gingen sie voran, und Vigdís holte Die Flora
Islands heraus. Vor der Abreise hatte sie sich ein paar Nachschlagewerke
gekauft, weil sie auf der Reise mehr über die Natur lernen wollte, von der sie
behauptete, rein gar nichts zu wissen.
Hrafn dachte an die Weite und wie sie sich auszudehnen oder
zusammenzuschrumpfen schien, wenn es so viel davon gab. Egill lief vor den
anderen her, zweifellos um zu demonstrieren, dass er die Wanderung trotz
seines gestrigen Besäufnisses problemlos bewältigen würde. Er hatte schon
immer krampfhaft versucht sich zu beweisen. Mit das Erste, was Hrafn in der
Zeit, als sie keinen Kontakt zueinander hatten, über ihn hörte, war, dass er
mit der Tochter des Präsidenten liiert sei. Es gab ein Fest, bei der ihre
Verlobung bekannt gegeben werden sollte, und der Präsident und seine
Familie betonten, Journalisten seien nicht willkommen. Das Fest begann, und
es wimmelte nur so von Journalisten, die Egill heimlich eingeladen hatte, und
als die Sache später aufflog, wurde die Verlobung wieder aufgelöst. Als
Nächstes hörte man, er habe die Hälfte seiner Abschlussarbeit an der
Universität Island abgeschrieben, habe bereits während seines Studiums bei
der Landsbanki gearbeitet und sei an den Aktienverkäufen für die Firma
deCODE genetics beteiligt gewesen. Die Aktien wurden hoch gehandelt mit
der Behauptung, die Firma sei bald an der New Yorker Börse, wo sich der
Aktienwert vervielfachen werde, und die Politiker sowie ein Großteil der
Isländer hielten das für eine vernünftige Schlussfolgerung. Doch Egill machte
mehr, als nur an Leute zu verkaufen, die kaufen wollten. Er hatte die Idee zu
der aggressivsten Marketingkampagne der Bank, die es je gegeben hatte,
organisierte Anrufe bei den Kunden und vergrößerte dadurch das
Kontaktnetz, um auch Studenten, Sozialhilfeempfänger und Rentner zu
erreichen, alle, die Geld besaßen, und de facto auch alle anderen – die keins
besaßen, aber für die Aktien einen Kredit aufnehmen konnten.
Nachdem sie sich wieder miteinander versöhnt hatten, traf Hrafn Egills
Eltern bei Annas Geburtstagsfeier sowie bei einem Empfang der Stadt
Reykjavík und bemühte sich, sie kennenzulernen. Egill hatte seine Freunde
nie in die Nähe seiner Familie gelassen. Egills Eltern wollten ebenfalls
aufsteigen und versuchten es auf ihre Weise, waren aber zu alt für die nötige
Skrupellosigkeit und wohl auch zu anständig. Stattdessen nahmen sie
bereitwillig die Ratschläge ihres Sohnes an und investierten mit dessen Hilfe,
ließen ihr Geld für sich arbeiten. Egills Vater war Gymnasiallehrer und seine
Mutter Biologin, sie untersuchte irgendetwas mit Schalentieren in einem
Labor. Hrafn hielt sie nicht wirklich für naiv oder unmoralisch, eher
desinteressiert an dem, was sie da eigentlich machten – möglicherweise eine
Art intellektueller Faulheit, die wiederum von der felsenfesten Überzeugung
von der eigenen Brillanz untermauert wurde. Sie waren brave Leute, hatten
nichts Böses im Sinn, und dreißig Prozent Zinsen pro Jahr klangen gut. Sie
legten ihre Eier in ein paar Firmen, die gerade florierten, dann kam diese
riesengroße Überzeugung – oder war es Ideologie? – ihres Sohnes und
befruchtete sie, und ein Jahr später kam die Fischbrut zur Welt. Und
niemand verlor dabei, das war die tollste Idee überhaupt. Den
Wahlergebnissen nach zu urteilen, waren sie nicht die Einzigen, die so
dachten. Die Leute wählten Aufsteiger, brachten Aufsteiger nach oben und
beklatschten sie, sahen zu, wie sie übereinander und über Ministerien und
Institutionen und Rentenversicherungen kletterten und sogar über die, die
nicht mitklettern wollten. Und sie kletterten über andere Nationen und
Wohltätigkeitsorganisationen und Kommunen und Interessenverbände in
den entlegensten Teilen der Welt, weit, weit entfernt.
Sie erreichten den Hügel. An seinem Fuß war eine kleine Erhöhung, die
Hrafns Interesse weckte. Künstlich errichtet, dachte er und ging um den
Höcker herum. An der Nordseite war ein großes, wuchtiges Eisentor, fast in
derselben Farbe wie der Sand. Das Tor bestand aus zwei Teilen, war zehn
Meter breit und nicht ganz so hoch. Ein Schloss war nirgends zu sehen.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Egill, der nach ihm kam, und stieß
gegen das Tor, das sich jedoch nicht bewegte. Als er dagegen klopfte, war
kaum etwas zu hören, was darauf schließen ließ, dass das Metall sehr dick
und stabil war.
Schweigend standen sie vor dem Tor und musterten es.
»Das ist ein Tunnel, der in die Erde führt«, sagte Vigdís. »Sieht jedenfalls
so aus. Die Erhöhung ist zu klein für irgendeine Behausung, aber das Tor ist
groß genug, dass ein Lkw runter in die Erde fahren kann.«
»Warum sollte es hier einen Tunnel geben?«, fragte Egill.
»Vielleicht finden wir es ja heraus«, entgegnete Hrafn, und sie gingen
weiter. Beim Aufstieg auf den Hügel hielt Vigdís Ausschau nach Gletscher-
Hahnenfuß und zeigte Hrafn ein Bild davon in ihrem Buch. Gemeinsam
suchten sie nach der Blume und versuchten, die paar Pflanzen zu bestimmen,
die es dort gab.
Von dem Hügel hatten sie eine gute Sicht. Die Sandflächen breiteten sich
düster und ebenmäßig aus, und der Horizont wurde nur im Südwesten
durchbrochen, wo das Land anstieg und sich zu einem Berg erhob. An
beiden Seiten des Bergs wölbten sich Ausbuchtungen, sodass er aussah wie
eine Zelle kurz vor der Teilung.
»Müssten wir den Gletscher nicht sehen?«, fragte Hrafn, bekam jedoch
keine Antwort. Sie holten ihre Handys heraus, aber niemand hatte Empfang.
»Ob uns jemand vermisst?«, sagte Egill gedankenverloren, aber mit einem
Hauch Dramatik in der Stimme. Vigdís fragte ihn, was er meine. »Wenn
man ein paar Tage lang nichts von uns hört. Was glaubst du, wer das als
Erster bemerkt? Meine Mutter ist es nicht gewohnt, dass ich regelmäßig
anrufe, und meine Freunde auch nicht. Keiner von uns hat Kinder. Wir
befinden uns alle jenseits der Zivilisation, haben alle Urlaub, es könnten
Wochen vergehen.«
»Planst du schon deine Beerdigung?«, fragte Hrafn, hob das Fernglas und
schaute damit nach Süden über die Sandebene, richtete es dann nach Westen
auf den Zellenberg, an dem etwas heller leuchtete als der umliegende Sand.
»Das ist kein Berg dort drüben. Da ist eine Mauer … Zwischen zwei
Hügeln.«
»Eine Mauer?«, erwiderte Vigdís. »Das ist ja wohl das
Unwahrscheinlichste, was man hier bauen würde.«
»Lang und grau.« Er hob wieder das Fernglas, führte es an der Mauer
entlang und versuchte, sich zu orientieren. »Sieht aus wie ein Staudamm …
Keine Ahnung, wie groß der ist.«
»Siehst du da jemanden?«
»Nein, keine Menschenseele.« Der Damm befand sich zwischen den
Hügeln, aber ihr Blickwinkel lag schräg zu ihm, sodass es schwer war, seine
Höhe oder Länge auszumachen. Auf der Staumauer gab es einen Fahrweg,
den Hrafn durchs Fernglas näher heranzoomte. Quer über dem Weg stand
ein Zaun, der oben mit gerolltem Stacheldraht abschloss.
»Bemerkenswert …«, murmelte er und senkte das Fernglas ein wenig, auf
einen Riss, der sich in der Mitte der Staumauer nach unten zog.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass es hier in der Gegend einen
Staudamm gibt«, sagte Vigdís. »Der ist nicht auf der Karte eingezeichnet und
schon gar nicht in der Gegend, in der wir uns laut Ása befinden.« Hrafn gab
ihr das Fernglas.
»Tatsächlich«, sagte sie kurz darauf. »Warum ist da ein Zaun, mit
Stacheldraht?«
»Vielleicht wegen der Schafe.« Hrafn wusste nicht, ob er das witzig
gemeint hatte, merkte aber sofort, dass der Zaun durchaus mit ansteckenden
Tierkrankheiten zu tun haben konnte. »Hast du noch nie von
Schutzmaßnahmen wegen Schafkrankheiten gehört?«
»Doch, diese Schafgitter, über die man auf der Nationalstraße fährt. Und
Zäune, die normalerweise aber nicht auf Staumauern stehen«, antwortete
Vigdís und reichte das Fernglas an Egill weiter. »Der Damm scheint verlassen
zu sein. Sieht so aus, als wäre er ziemlich alt, eingerissen und vom Sand
abgeschmirgelt … Ich glaube, da ist niemand.«
Sie schauten durch das Fernglas, und Egill sagte, er habe noch nie was
von verlassenen Staudämmen gehört.
»Das erklärt zumindest das Tor, das wir gesehen haben«, sagte Hrafn.
»Wenn es hier in der Gegend einen Staudamm gibt, dann sind da auch
Tunnel. Der Überlauf aus dem Stausee wird durch Tunnel und Auslaufrohre
abgeleitet. Außerdem braucht man bestimmt auch Tunnel, um die anderen
Tunnel zu bohren, den Schutt wegzufahren und so.«
Bevor sie von dem Hügel stiegen, holte Vigdís die Karte heraus und
studierte sie.
»Wenn das ein Staudamm ist, müsste es dann nicht irgendwo einen Fluss
geben?« Sie zeigte auf die Karte. »Der Strich hier könnte ein Fluss sein.«
»Ist der Damm nicht eingezeichnet?«, fragte Hrafn.
»Ich sehe keinen … Wenn das hier die Hügel mit der Staumauer sind,
dann befinden wir uns wesentlich weiter südlich, als wir dachten, viel näher
beim Gletscher. Was den Weg zur Askja um ein paar Stunden verlängern
würde … Allerdings wären wir dann so nah am Gletscher, dass wir ihn
eigentlich sehen müssten.«
Sie nahm das Fernglas und richtete es nach Süden. Obwohl sie nirgendwo
Wasser sah, sagte sie, die Sandwüste müsse in ein oder zwei Kilometern
Entfernung enden. Sie beschlossen, sich nach dem Fluss umzuschauen, dann
zu dem Staudamm zu gehen und nachzusehen ob dort jemand war –
beispielsweise Jeepfahrer –, und anderenfalls der Piste zu folgen, die von dem
Damm aus nach Norden wieder auf den Weg führte, den sie kurz zuvor
verlassen hatten.
»Das ist zu weit«, sagte Egill. »Wenn wir weiter südlich sind, als wir
dachten, brauchen wir länger, oder? Ich habe nicht vor, hier draußen zu
übernachten.«
»Mal sehen, wie lange wir bis zum Damm brauchen«, erwiderte Vigdís.
Sie stiegen den Hügel hinunter, erst Vigdís, dann Egill und Hrafn, und
gingen von dort nach Süden über die Sandflächen. Ab und zu fiel Egills Blick
auf Vigdís’ Hintern, und sein Mund stand leicht offen, ohne dass er selbst es
merkte. Das hatte er schon immer gemacht, ein bisschen zu lange
hingeschaut, Frauen etwas zu auffällig auf Brüste, Hintern und Schritt
geglotzt wie ein räudiger Köter.
11 |
Sie marschierten über den Sand, bis sie ein leises Rauschen hörten, und dann
öffnete sich vor ihnen eine große, tiefe Schlucht.
»Aha, endlich passiert was!«, rief Egill, und das Dröhnen wurde mit jedem
Schritt lauter. Sie stellten sich nebeneinander an den Rand und schauten
andächtig in die Schlucht, auf das gelbgraue Schmelzwasser des Gletschers,
das vom Hochland nach Osten floss. Die Felsen am gegenüberliegenden Ufer
waren grau mit schwarzen Flecken, und das Wasser war weiß, wenn es vom
Strudel hin- und hergeschleudert wurde oder an der Felswand aufschäumte.
Nach der Ruhe der Sandwüste wirkte die heftige Bewegung chaotisch und
schwindelerregend.
Hrafn fühlte sich immer unwohl, wenn er zu lange auf fließendes Wasser
schaute. Er wich zurück, krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und setzte
sich auf eine Sanddüne in der Nähe der Schlucht. Die Temperatur war
inzwischen fast unangenehm hoch.
»Es ist richtig warm geworden«, sagte Egill und setzte sich neben ihn.
»Föhnwind.« Hrafn holte seine Zigarettenpackung heraus und gab ihm
eine. »Der Wind erwärmt sich über dem Berg und kühlt auf dem Weg nach
unten nicht so sehr ab.«
»Welcher Berg?«
»Der Gletscher. Der hier irgendwo sein soll.«
Sie rauchten schweigend und betrachteten Vigdís von hinten, die immer
noch an der Schlucht stand. Unter ihnen bebte die Erde, nicht stark, aber
genug, um es zu spüren.
Egill griff in seine Tasche und holte etwas Glänzendes heraus. »Habt ihr
einen Schlüssel verloren?«, fragte er.
Hrafn nahm den Schlüssel und musterte ihn, er war versilbert und hatte
einen roten Reflektor an der Seite. Er war nicht gekennzeichnet. »Den kenne
ich nicht. Wo hast du den gefunden?«
»Unter dem Laternenpfahl, als ich heute Morgen aufgewacht bin. War
sogar das Erste, was ich gesehen hab, als ich die Augen aufschlug.«
»Hast du Anna schon gefragt?«
»Ich wollte sie nicht ängstigen.«
»Ängstigen? Wovor sollte sie Angst haben?«
Egill druckste herum. »Ich weiß nicht … Als ich eingeschlafen bin, war er
noch nicht da. Ich hätte ihn ja bemerkt, direkt vor meiner Nase im Sand,
verstehst du?«
»Oder du hast dich in der Nacht rumgewälzt und bist an einer anderen
Stelle wieder aufgewacht.« Das Rot des Reflektors wurde immer intensiver
und dunkler, je länger er den Schlüssel anschaute. »Das löst zumindest das
Rätsel um den Laternenpfahl. Da geht man also hin, wenn man im Hochland
Schlüssel verloren hat.« Er hielt Egill den Schlüssel hin, doch der winkte ab
und sagte, er wolle ihn nicht haben.
Vigdís kam von der Schlucht zu ihnen, musterte den Schlüssel, sagte aber
nichts. Sie schien ganz in Gedanken und bat um das Fernglas, spähte damit
über die Schlucht und ging ein paar Schritte weiter. Die Männer folgten ihr,
bis sie stehen blieb und das Fernglas sinken ließ.
»Da ist was.« Sie zeigte über die Schlucht. Am anderen Ufer zeichneten
sich Häuser ab, ein Komplex von langen, einstöckigen Gebäuden, die nicht
weit von der Schlucht im Sand verteilt standen.
»Arbeiterschuppen?«, fragte Egill.
»Ein ganzes Dorf«, sagte Hrafn und verstand nicht, wie sie das von dem
Hügel aus hatten übersehen können. Sie wanderten an der Schlucht entlang,
bis sie zu einem Schild mit der Aufschrift Achtung – Lebensgefahr kamen. Auf
der gegenüberliegenden Seite baumelte eine Hängebrücke, die man über die
Schlucht spannen konnte. Sie war an einem Seil befestigt, das auf ihrer Seite
mit einem Strick an einem von drei in den Boden gerammten Holzpfosten
festgebunden war.
Richtung Nordosten sah man das Haus des alten Ehepaars, grau auf
schwarz. Die Sonne spiegelte sich in ihrem Auto, das halb in der Wand
steckte, ansonsten verschmolz das Gebäude fast mit der Landschaft.
»Sind wir so nah?«, fragte Hrafn, der gedacht hatte, das Haus müsse
weiter weg sein. Er hatte das Gefühl, sie wären im Kreis gelaufen, allerdings
ohne wieder zur selben Stelle gelangt zu sein. Als sie auf dem Hof gestanden
und sich umgeschaut hatten, hatten sie die Schlucht nicht gesehen und auch
nicht das Containerdorf auf der anderen Seite. »Warum haben wir das alles
vom Haus aus nicht gesehen?«
»Weil wir nicht danach gesucht haben?«, meinte Vigdís.
Hrafn hob den Strick auf, der über der Schlucht hing, und begann, das
lose Ende der Brücke herüberzuziehen. Sie war relativ leicht und bestand aus
Holz und Seilen. Sie packten das Ende der Brücke mit vereinten Kräften,
und es stellte sich heraus, dass sie drei Ösen hatte, die man über die
Holzpfosten stülpen und mit speziellen Haken befestigen konnte.
»Raffiniert!«, sagte Egill begeistert. Hrafn und er entwirrten die Brücke,
die sich verdreht hatte, und stülpten dann die Ösen über die Holzpfosten.
»Aber warum so kompliziert? Warum lässt man sie nicht einfach über der
Schlucht hängen?«
»Um zu verhindern, dass etwas rüberkommt, das nicht rüberkommen
darf«, sagte Vigdís und blickte wie entrückt über die Schlucht. »Wie der Zaun
auf der Staumauer und der Stacheldraht.«
»Was meinst du?«, fragte Egill.
»Dadurch kann man steuern, wer von hier nach drüben kommt«, erklärte
Hrafn. »Man kann Füchse, Rentiere oder was auch immer fernhalten –
Schafe daran hindern, von einem Gebiet zum anderen zu laufen.«
Sie befestigten die Brücke, die nun V-förmig über der Schlucht hing; die
oberen und unteren Seile waren mit Stricken zusammengebunden, und der
Boden des Vs war mit Holzplanken belegt und mit doppelten Seilen
festgezurrt.
»Was soll eigentlich dieses Achtung – Lebensgefahr?«, fragte Egill und klopfte
gegen das Schild. »Falls die Brücke instabil ist, müsste es generell verboten
sein, drüberzugehen. Oder bedeutet Achtung, dass man zwar drübergehen
darf, die Brücke aber reißen könnte?« Hrafn zog an einem der Seile, um die
Festigkeit der Knoten am gegenüberliebenden Ufer zu testen. Die Planken
waren nass und glänzten von der Gischt.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Vigdís und schien wieder zu sich zu
kommen. »Abgesehen von allem anderen.«
»Nein, dass die Brücke überhaupt noch hier ist, ist doch ein gutes
Zeichen«, entgegnete Hrafn. »Wenn sie gefährlich wäre, hätte man sie
abgerissen.« Er nahm Vigdís das Fernglas ab und richtete es auf die
Holzpfosten am anderen Ufer. Von der Brücke aus konnte man die
Schuppen nicht mehr sehen, da sich zwischen ihnen und der Schlucht ein
Hügel erhob.
»Das ist keineswegs gesagt«, entgegnete Vigdís. »Wer sollte sie denn
abreißen, das alte Ehepaar?«
»Wäre diese Brücke gefährlich, könnte man sie ganz leicht entfernen.
Man müsste nur ein kleines Seil lösen oder drei durchschneiden …«
»Drei verrottete Seile, genau! Ich will mich echt nicht anstellen, aber das
ist doch hirnrissig. Die Planken sind alt und morsch. Siehst du die Gischt, die
vom Fluss hochweht?«
»Die Straße, die zum Staudamm führt, ist da drüben, nehme ich an. Wir
werfen einen Blick auf die Schuppen und gehen dann weiter.«
»Vielleicht finden wir ja was«, warf Egill ein, der an den Seilen zog und
Anstalten machte, über die Brücke zu gehen. Oder so tat, als wolle er
rübergehen, und insgeheim hoffte, dass Vigdís ihn davon abhielt.
»Was denn finden? Ein Flugzeug, das jemand vergessen hat?«, herrschte
Vigdís Hrafn an. »Das ist doch bescheuert. Wir sollten zusehen, dass wir nach
Hause kommen, anstatt solche Spielchen zu veranstalten.«
»Was ist das Problem?«, fauchte Hrafn zurück und spürte eine Riesenwut,
als ob er ihr am liebsten den Kopf abreißen würde. »Warum willst du immer
über alles bestimmen? Das macht von der Strecke her überhaupt keinen
Unterschied. Wenn wir nichts Brauchbares finden, haben wir zumindest mal
was Spannendes erlebt! Vielleicht gibt es ja ein Telefon«, fügte er grinsend
hinzu, um sie noch mehr zu provozieren.
»Und vielleicht sterben wir«, erwiderte sie und stieg auf die Brücke. »Mal
sehen, ob ihr euch traut.« Sie hielt sich rechts und links an den Seilen fest und
ging schnell los, rutschte einmal aus, als sie schon ein paar Meter über der
Schlucht war, kam aber ansonsten problemlos rüber, drehte sich auf der
anderen Seite um und winkte.
»Himmel!«, stieß Egill hervor und schaute Hrafn erschrocken an. Dann
fingen sie beide an zu lachen.
12 | Das Dorf
Sie setzten ihre Rucksäcke bei einer großen Lagerhalle am Rand des Dorfes
ab. Vigdís wanderte mit Die Flora Islands in der Hand an der Schlucht entlang,
weil sie nicht ins Dorf wollte, sagte aber nicht, warum. Hrafn spürte, dass sie
Angst hatte, vielleicht nachdem sie über die Brücke gehastet war – er hatte sie
noch nie so unbeherrscht gesehen, noch nie so mutig, und je länger er
darüber nachdachte, desto seltsamer kam es ihm vor.
Der Wind nahm weiter zu und wirbelte hier und da Sand auf, aber die
Sicht war immer noch gut genug, um sich zurechtzufinden.
Die Lagerhalle stand einige Meter von der Brücke entfernt, war höher
und länger als die Schuppen im Dorf und erinnerte an einen Hangar. An der
Westseite der Halle, wo sich die eintönige Ebene erstreckte, so weit das Auge
reichte, befand sich eine riesige Tür, in die eine kleinere Tür integriert war.
»Ein Eingang für Menschen«, murmelte Egill einfältig. Vor beiden Türen
hingen glänzende Ketten mit Vorhängeschlössern. Die Lagerhalle hatte viele
rostige Stellen, während die Ketten und Schlösser ziemlich neu aussahen.
Hrafn spähte durch die Löcher, in denen die Ketten in den Türen
verschwanden, aber in der Halle war alles dunkel. Durch die Löcher drang
ein schwacher Geruch nach Feuchtigkeit und Erde mit einem Hauch von Öl.
»Die Lagerhalle war bestimmt für Arbeitsmaschinen, Bagger und
Traktoren«, sagte er. »Sie muss leer geräumt worden sein, als das Dorf
verlassen wurde.«
»Trotzdem ist sie abgeschlossen«, entgegnete Egill. »Man würde die Halle
doch nicht so sorgfältig abschließen, wenn da nichts drin wäre.«
Hrafn ging weiter, vorbei an dem Hügel, der sich neben der Schlucht
erhob, und blieb am Rand des Dorfes stehen. Es sah aus wie ein Testbild,
eine Miniatur in einer Glaskugel, die lange nicht mehr geschüttelt worden
war.
Es gab dreißig oder vierzig Schuppen aus Spanplatten, wahrscheinlich als
Unterkünfte für die Arbeiter errichtet. Sie standen in zwei Halbkreisen um
ein großes Gebäude in der Mitte des Komplexes, den Hrafn im Geiste sofort
als Dorf bezeichnet hatte, obwohl das vielleicht ein bisschen ungenau war –
»Arbeitscamp« käme auch infrage oder »Siedlung«, eine Ansammlung von
Arbeiterschuppen, für einen bestimmten Zweck gebaut, um ein bestimmtes
Projekt abzuschließen. Die Schuppen sahen alle identisch aus und waren
gleich groß, manchmal waren zwei oder drei L- oder U-förmig
aneinandergebaut.
»Mann, ist das schön«, frotzelte Egill.
»Ein hübsches kleines Dorf«, sagte Hrafn und seufzte. »Sieht genauso aus
wie andere isländische Arbeiterdörfer! Fehlt nur die Videothek.« Es fühlte
sich zweifellos besser an, »Dorf« zu sagen, denn der Ort war viel zu hässlich,
um keinen Namen zu haben – ein Name milderte diese Wirkung.
»Wie lange hier wohl niemand mehr gewohnt hat?«, fragte Egill, holte
seine Kamera heraus und richtete sie auf das Dorf.
»Bist du dir so sicher, dass hier niemand mehr wohnt?«
Um das Dorf führte eine Schotterstraße, die von Südwesten kam und
dann Richtung Norden an der Lagerhalle vorbei direkt zu dem großen
Gebäude in der Mitte führte. Sie folgten der Straße, steuerten auf die
Dorfmitte zu und blieben vor einem der Schuppen stehen. An der Längsseite
hatte er fünf Fenster und am Ende eine Tür. Die Farbreste an der Wand
ließen darauf schließen, dass der Schuppen einmal blau gewesen war, doch
der Sand und der Wind hatten fast den gesamten Anstrich abgeschliffen.
Sie gingen um den Schuppen herum und betrachteten ihn. Hrafn drückte
die Nase an eines der Fenster und versuchte, durch die Vorhänge zu schauen,
die überall zugezogen waren.
»Warum sind die Vorhänge zugezogen?«, fragte Egill. Hrafn antwortete
nicht und griff nach der Türklinke. Die Tür war abgeschlossen. Er ging zum
nächsten Schuppen, dessen Tür ebenfalls verriegelt war. Anschließend
wanderten sie weiter in das Dorf hinein.
Das Gebäude in der Mitte war einstöckig, genau wie die
Arbeiterschuppen, aber wesentlich größer. Die Fenster waren ebenfalls
größer, und nicht alle Vorhänge waren zugezogen. Das Gebäude schien
mehrere Eingänge zu haben, an jeder Seite einen. Hrafn ging zur
nächstliegenden Tür, die nicht abgeschlossen war, und spähte in einen hellen,
großen Raum. Überall standen Tische und Stühle herum, und am Ende des
Saals war ein Tresen.
»Der Speisesaal«, sagte er und trat ein. Angesichts der Größe des
Gebäudes war der Saal kleiner, als er erwartet hatte. Sie schlängelten sich
zwischen den Tischen hindurch bis zu dem Tresen und warfen einen Blick in
die Küche, die bis auf einen Kühlschrank leer war. Im Spülbecken standen
ein grünlich schimmernder Teller und ein Bierglas mit schwarzen,
eingetrockneten Resten. Der Kühlschrank war leer.
Sie verließen das Gebäude wieder, gingen um die Ecke und kamen zu
einer Tür, die in einen weiteren Saal führte, der genauso groß wie der
Speiseraum war. Man hatte sämtliche Möbel ausgeräumt, bis auf einen
Schreibtisch und einen grauen, zerbeulten Aktenschrank in einer Ecke, was
vermuten ließ, dass sich hier Büros befunden hatten.
An einer Wand waren Fenster, die zu einem quadratischen Innenhof
wiesen; im Sand standen mehrere Sitzbänke und zwei Tonkrüge –
wahrscheinlich für Zigarettenkippen. Von außen wirkte das Gebäude wie
eine Einheit, aber es bestand aus vier quadratisch angeordneten
Arbeiterschuppen, die miteinander verbunden waren und sich um einen
Innenhof gruppierten.
Als Hrafn durch den Saal schlenderte, bemerkte er an einer Wand braune
Spritzer, direkt neben einer angelehnten Tür. Auf der Seite, an der sich das
Türschloss befand, ragten Splitter aus dem Türrahmen in ein kleines
Zimmer, als hätte jemand die Tür eingetreten. Er stieß die Tür vorsichtig an
und spähte in den Raum. Im Halbdunkel zeichneten sich die Umrisse eines
weiteren Schreibtischs, eines Aktenschranks und von mehreren Regalen mit
Aktenordnern ab. Dunkelblaues Licht drang durch die zugezogenen
Vorhänge, und es roch modrig.
Als Erstes zog er die Vorhänge auf. Das Fenster war zerbrochen und das
Parkett darunter dunkel und aufgequollen, aber es waren keine Glasscherben
zu sehen. Der Boden war voll mit Papieren und Akten, die aus den Regalen
gefallen waren. Die Schreibtischschubladen standen offen, und darin lagen
noch mehr Papiere mit Zahlenreihen und Zeichen, irgendwelchen
Berechnungen, die er nicht verstand.
Hrafn hatte das dumpfe Gefühl, dass dieses Chaos im Raum nicht zufällig
war, es wirkte, als hätte jemand nach etwas Wertvollem gesucht. Nein, als
hätte ein Reisender in Not dort Zuflucht gefunden, auf der Suche nach
Lebensmitteln, Streichhölzern oder Kerzen die Tür aufgebrochen und sich in
diesem kleinen Raum eingerichtet, um sich aufzuwärmen. Warum hatte er
dann das Fenster eingeschlagen? Unter dem Fenster lagen keine
Glasscherben, also musste es von innen eingeschlagen worden sein. Jemand
rannte in das Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und schloss ab, und als gegen die Tür
getrommelt wurde, versuchte er, durchs Fenster zu fliehen …
Hrafn verließ den Raum wieder und ging zurück zur Tür, an der Egill
stand und rauchte. Das Dorf wirkte noch stiller als die umliegende Wüste, wo
man wenigstens den Sand knirschen hörte. Vielleicht hatte er ja auch nur ein
Problem mit den vielen Vorhängen und den düsteren Zimmern dahinter.
»Suchen wir eigentlich was Bestimmtes?«, fragte Egill.
»Nicht dass ich wüsste. Suchst du was?« Hrafn hätte am liebsten
geflüstert, als fürchtete er, jemanden zu wecken.
»Kommt mir so vor, als wollten wir einen Verdacht ausräumen.«
»Einen Verdacht? Was meinst du?«
»Oder besser gesagt, als würdest du nach etwas suchen und ich dir
folgen …«
»Nach etwas suchen!«, stieß Hrafn hervor und lachte gekünstelt. »Ich? Du
warst doch da drinnen total beschäftigt!«
»Vielleicht ist es auch nur die Landschaft … der Sand«, sagte Egill,
räusperte sich und spuckte auf den Boden. Hrafn nervte seine Anwesenheit,
er fand es anstrengend, ihn den ganzen Tag um sich zu haben, jeden Tag seit
Beginn der Reise, und er wusste, dass es Vigdís ähnlich erging, trotz der
Blicke, die sie sich am Abend zuvor zugeworfen hatten.
Hrafn ging von draußen zu dem Fenster des kleinen Raums, den er
gerade inspiziert hatte. Unter dem Fenster lagen Glasscherben, also war die
Scheibe wirklich von innen eingeschlagen worden – und das konnte alles
Mögliche bedeuten. Als er eine Scherbe aufhob, wurde seine Aufmerksamkeit
von etwas anderem gefesselt. Im Sand lag ein Skelett, winzig klein und weiß.
Er beugte sich vor und stieß es mit dem Finger an. Es war ganz leicht.
Egill kniete sich neben ihn, und Hrafn zeigte auf das Skelett. Ganz in der
Nähe entdeckten sie ein zweites und daneben noch eins.
»Siehst du das?«, fragte Hrafn, und Egill murmelte zustimmend. Im Sand,
an der endlos langen Wand des Gebäudes, lagen Hunderte kleiner Skelette.
Hrafn hob eins hoch, es war so leicht, dass er sein Gewicht kaum spürte. Als
er es losließ, schien es auf den Boden zu schweben. »Vögel, oder?«
»Ja, sieht so aus. Wobei ich auf dem Gebiet kein Experte bin.«
»Natürlich sind das Vögel, die Knochen sind so leicht. Von innen hohl.«
Hrafn ging an der Wand entlang, hob einen Schnabel hoch und hielt ihn vor
sein Gesicht, er mutmaßte, dass die Vögel gegen die Fenster geflogen und
gestorben waren. »Ich glaube, das ist am gefährlichsten bei
Sonnenuntergang, wenn die Sonne sich in den Fenstern spiegelt.«
Sie liefen um das Gebäude herum. An einigen Stellen, wo sich sowohl an
der äußeren als auch an der inneren Wand Fenster befanden, konnte man
durch das Gebäude hindurchsehen, und unter diesen Fenstern lagen die
meisten Skelette. An der Wand des Speisesaals, an dem es weniger Fenster
gab, lagen auch weniger Skelette, was Hrafns Theorie zu bestätigen schien.
Aber so einfach war es nicht. Etwas über weißen Sand ging Hrafn durch
den Kopf – etwas, das er vorher schon bemerkt, aber verdrängt hatte.
Er ging zurück zu den Büros, fand die Tür, die in den Innenhof führte,
und blieb auf der Türschwelle stehen. Der Sand war mit Skeletten übersät, so
viele, dass sie an einigen Stellen aufeinanderlagen, unabhängig davon, wie
weit sie von den Wänden, die den Innenhof umgaben, entfernt waren.
Er trat in den Sand, tastete sich vorsichtig durch die Skelette, wobei er
manchmal auf sie trat und sie knacken und zerbrechen hörte. Egill folgte ihm,
und sie bewegten sich schweigend durch den Innenhof. Einige Knochen
schienen von größeren Tieren zu sein. Obwohl sie nicht besonders lang
waren, wirkten sie zu dick und schwer für Vögel.
»Sieh mal, ein Geweih, oder?«, sagte Egill und zeigte auf eine
Ansammlung von Knochen, die an einigen Stellen zerbrochen waren, aber
an ein Rentiergeweih erinnerten. Neben dem Geweih lagen Knochen, die
wie Rippen aussahen, und einer ähnelte einem dicken Oberschenkelknochen,
der in der Mitte durchgebrochen war und in eine Kugel mündete, wie beim
Hüftknochen eines Säugetiers.
»Sind das Rentierknochen? Wie können die so durchbrechen?« Hrafns
Blick fiel auf eine Bank, er stützte sich an ihr ab und setzte sich. Neben der
Bank stand ein Tonkrug. Er war leer.
Er schaute wieder auf und merkte, dass die Zigarette zwischen seinen
Fingern bis zum Filter heruntergebrannt war. Er warf sie in den Krug, spürte
Übelkeit in seiner Kehle aufsteigen und verstand nicht, was sie eigentlich hier
machten. »Mir ist noch nicht mal klar, ob wir hier draußen oder drinnen
sind … Was ist das für ein Ort? Das Tal der Elefanten? Woher kommen diese
ganzen Kadaver? Sieht so aus, als wären die Tiere hergekommen, um zu
sterben.«
»Die beiden Alten füttern damit die Füchse?«, schlug Egill vor, und Hrafn
lachte.
»Ja, jede Menge Füchse. Zehntausend Füchse! Und sie haben das Futter
bis ins Dorf geschleppt, um diese kultivierten Füchse anzulocken. Deshalb
sind auch keine Fleischreste an den Knochen und keine Bissspuren – sie
haben nämlich Messer und Gabel benutzt.«
»War ja nur so eine dumme Idee«, sagte Egill, holte seinen Flachmann
heraus und trank noch einen Schluck. »Vielleicht haben sich hier vor einiger
Zeit Geächtete niedergelassen und sich ein paar Monate lang was zu essen
gejagt. Ich hätte auch nichts dagegen, geächtet zu sein und auf dem Land ein
bisschen zu relaxen …«
»Man nannte es auch ›jemanden für vogelfrei erklären‹«, sagte Hrafn und
schaute zum Himmel, in die grauen, vorbeijagenden Wolken, die er bisher
gar nicht bemerkt hatte. Das Wetter schlug um. »Man wurde von der
Gesellschaft ausgestoßen und durfte von jedem getötet werden.« Er erhob
sich von der Bank.
»Klingt jedenfalls besser als Insiderhandel oder Verstöße gegen das
Aktiengesetz.«
Hrafn wanderte langsam durch den Garten und versuchte, dabei nicht auf
die Knochen zu treten, weil er das knackende Geräusch nicht mehr ertragen
konnte; er spürte seine eigene Schwere, Steifheit und Robustheit – das, was
ihn auf gewisse Weise zu einem aufrecht gehenden Menschen machte, der
von einem komplizierten System aus Gelenken, Muskeln und Nerven
gesteuert wurde. Wenn er sich einfach hier hinlegen und lange genug liegen
bleiben würde, würde er sterben, seine Gestalt würde sich auflösen und mit
der Erde verschmelzen. Mit dem allmählichen Tod würden sämtliche Spuren
seiner Existenz ausgelöscht und zu Staub werden, der sich auf den
Sandflächen verteilte.
»Zwischen den Sandkörnern«, murmelte er vor sich hin und sah, wie Egill
in der Mitte des Gartens vor etwas hockte. »Was machst du da?«, fragte er
und ging auf ihn zu.
Egill warf einen hastigen Blick über die Schulter. »Nichts«, sagte er und
stand auf. Als er sich umdrehte, hielt er die Hand hinter dem Rücken und
schob etwas in seine Hosentasche.
»Doch. Was machst du da?«, wiederholte Hrafn und blieb kurz vor ihm
stehen.
»Das ist doch idiotisch … alles völliger Schwachsinn. Wir sollten zusehen,
dass wir nach Hause kommen …«
»Hast du da was gefunden?«, fragte Hrafn und nickte mit dem Kopf zu
der Stelle, an der Egill sich zu schaffen gemacht hatte. Im Sand lag ein Stapel
Knochen, nicht besonders groß, aber doch größer, als dass er vom Wind
dorthin geweht worden sein konnte.
»Ich weiß nicht, was das ist«, antwortete Egill. »Das lag da schon.« Hrafn
musterte die Knochen, die wie zu einer Pyramide im Sand aufgestapelt
waren, während der Boden um sie herum leer war. Die Knochen hatten die
Größe von Fingern. Unten in der Pyramide war eine Öffnung, die aussah wie
eine kleine Tür, wie als Bestätigung, dass die Knochen nicht zufällig vom
Wind dorthin geweht worden waren.
»Was war da drin?«, fragte Hrafn und wusste, dass er recht hatte. Egill
hatte etwas in die Tasche gesteckt. »Was versteckst du?« Egill trat von einem
Bein aufs andere, schaute auf die Knochenpyramide und dann zu Hrafn.
Diesen Gesichtsausdruck hatte Hrafn noch nie an ihm gesehen, eine
Mischung aus Angst, Ratlosigkeit und noch etwas, das er nicht einordnen
konnte.
»Ich verstecke nichts. Warum glaubst du das?«
»Du lügst. Ich hab gesehen, wie du was in die Tasche gesteckt hast. Zeig
es mir!«
»Ich hab mir nur den Stapel Knochen angeschaut …«
»Red nicht solchen Scheiß, Mann! Ich sehe doch, dass du lügst. Glaubst
du etwa, ich kriege Angst? Hast du eine alte Wikingeraxt gefunden? Eine
ägyptische Totenmaske? Was war da?«
Egill schüttelte den Kopf. »Komm, lass gut sein.« Hrafn streckte die Hand
aus, bis Egill in seiner hinteren Hosentasche nach dem Gegenstand tastete,
den er hineingesteckt hatte. »Keine Ahnung, was das soll«, sagte er. »Ich hab
den Knochenstapel gesehen, und das war da drin … in der Öffnung.«
Er hielt ihm ein Foto hin. Hrafn sah sofort, dass es von der
Sofortbildkamera war, die Vigdís von ihrer Mutter geerbt hatte – dieselbe
Größe und dasselbe Papier. Das Bild war dunkel und grobkörnig, trotzdem
war klar, dass es Vigdís zeigte. Sie hatte die Augen geschlossen, eine
Gesichtshälfte lag im Schatten, und auf die andere fiel schwaches Licht. Ihr
Mund stand etwas offen, sodass ihre Zähne aufblitzten, und in der Mitte des
Bildes prangten ihre Brüste, rund und weiß mit dunklen Brustwarzen. Sie lag
auf dem Rücken, schlief oder sah zumindest so aus.
»Das …«, setzte Hrafn an und wusste nicht, was er sagen sollte. Er drehte
das Foto um und schaute auf die Rückseite, als fände er dort eine Erklärung.
»Ich weiß nicht, warum das da drin war«, sagte Egill. »Wann wurde es
gemacht?«
»Was gemacht?«
»Das Foto … Das ist doch Vigdís auf dem Foto, oder?«
»Natürlich ist das Vigdís. Das ist doch offensichtlich. Ich hab dieses Foto
noch nie gesehen.«
»Hast du es nicht gemacht?«
»Natürlich habe ich es nicht gemacht, ich weiß nichts von diesem Bild.
Ich hab noch nie ein Foto mit dieser Kamera gemacht, schon gar nicht von
Vigdís – jedenfalls nicht, um es dann in diese Knochenpyramide zu stecken!
Warum wolltest du es mir nicht zeigen?«
»Mir war klar, dass du erschrocken oder sauer sein würdest, ich weiß
nicht. Ich glaube, ich wollte erst darüber nachdenken … Ich weiß auch nicht
mehr über das Foto als du.«
Hrafn schwieg. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Brüste und
Brustwarzen, hart und deutlich abgegrenzt in dem vielen Weiß, Egill, der sich
nachts alleine in der Sandwüste herumtrieb, Egill, der Knochen aufhäufte,
Vigdís’ halb geöffneter Mund, ihr glattes Gesicht, das lang gezogene Stöhnen,
das sie zwischen den Lippen hervorpresste …
Egill machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in dem Gebäude.
Hrafn blieb noch lange stehen und betrachtete das Bild, blickte dann nach
unten auf den Sand, sah zwei kleine Knochen, die vielleicht von einem Vogel
oder einer Maus, einer Ratte, einem Fuchs oder was auch immer stammten.
Sie mussten zusehen, dass sie wegkamen.
ANNA – 13 | Isländischer Journalismus
Nachdem Anna alleine im Haus zurückgeblieben war, schloss sie sich in
ihrem Zimmer ein, fläzte sich aufs Bett und blätterte in ihrem Notizbuch. Sie
hatte sich für die Reise drei neue Kladden gekauft, und die erste war halb
voll.
»Die isländische Natur ist einzigartig«, hatte sie an ihrem ersten Tag im
Hochland geschrieben, nachdem sie das Goldene Dreieck hinter sich gelassen
hatten. Das reichte natürlich nicht, danach sollte eigentlich eine genauere
Beschreibung kommen, warum die Natur so einzigartig war, doch als sie
durch die Einöde fuhren, ließ ihr Interesse schnell nach. Isländische Berge
waren nicht besonders hoch, und selbst an die Gletscher gewöhnte man sich
relativ schnell. Aber das lag nur an ihr, da war sie sich ganz sicher. Dennoch
fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, wie sie sich ändern sollte, was passieren
musste, damit sie sich für diese Eintönigkeit begeistern konnte, ihr vielleicht
sogar der Atem stockte.
»Faszinierend, atemberaubend. Eine Frechheit?«, schrieb sie mitten auf
die Seite. »Ist Landschaft dasselbe wie Natur?«, fügte sie hinzu.
Sie notierte ein paar Ideen und Fragen zu dem alten Ehepaar und dem
Haus und begann mit einer Personenbeschreibung des Mannes: »Zwinkert
mit den Augen wie jemand, der sein ganzes Leben lang gegen Sturm und
Kälte ankämpft, die Haut ledrig und grob von der gnadenlosen Sonne im
Hochland«. Sie verspürte ein brennendes Interesse an diesen Menschen,
warum sie dort lebten, und an ihrer womöglich abenteuerlichen
Vergangenheit. Sie waren geheimnisvoll und wären ein ideales Thema für
einen Artikel, aber sie brauchte einen Aufhänger. Musste es immer einen
speziellen Aufhänger geben? Oder hatte das neue Nationalbewusstsein keinen
Platz für Einsiedler als solche? Konnte man Einsiedler bei Bedarf aufpeppen?
Oder galten die beiden gar nicht als Einsiedler, weil sie zu zweit waren?
Zweisiedler? Waren sie überhaupt verheiratet? Und wenn ja, wie hatten sie
sich kennengelernt? Wie war das Rentier gestorben, das die Füchse gefressen
hatten?
Anna gähnte, klappte dann das Notizbuch zu, drehte sich auf den Rücken
und blätterte in dem alten Theaterstück über den Geächteten Fjalla-Eyvindur
und seine Frau Halla, konnte sich aber nicht richtig konzentrieren. Als sie
zurück ins Haus gekommen war, hatte sie diesen Geruch bemerkt und sich
gewundert, dass er ihr nicht schon früher aufgefallen war: Es roch nach
Jacken, alten Schuhen, fettigem Essen, Schimmel und noch etwas, das an
Eisen oder Kupfer erinnerte, nicht so intensiv wie die anderen Gerüche, aber
trotzdem aufdringlich – wie der Geruch von Blut.
Annas früheste Erinnerung war, wie die Sonne in Ísafjörður am Ende des
Winters über den Bergkamm lugte. Sie bekam Angst und rief »das böse
Auge«, woraus ihre Mutter später eine lustige Geschichte machte. Als
Nächstes erinnert sie sich daran, wie ihre Eltern sich in der Küche anschrien.
Sie lag hinter dem Sofa im Wohnzimmer, spähte um die Ecke und sah, wie
ihre Mutter geohrfeigt wurde, zweifellos von ihrem Vater – sonst war
niemand da. Doch in ihrer Erinnerung sieht sie das nicht, sondern hört nur
das Geräusch. Später, unter der Bettdecke, kam der Schmerz. Die Welt
drehte sich langsam um die kleine Anna, und das Weinen ihrer Mutter
dröhnte in ihrem Kopf, was sie unendlich ängstigte und traurig machte.
Seitdem meinte Anna immer, wenn das Licht auf eine bestimmte Weise auf
ihre Mutter fiel, einen Handabdruck auf ihrer Wange leuchten zu sehen. Als
sie mit zwanzig an einer Kreuzung in London stand, erschien eine rote Hand
in der Ampel, und sie erinnerte sich plötzlich wieder an den Vorfall in der
Küche.
Ihr Vater war ein Zugezogener, unterrichtete ein paar Jahre im
Gymnasium, verließ die Stadt aber nach der Scheidung und wurde nie
wieder gesehen. Später bezeichnete ihre Mutter ihn manchmal ironisch als
»den Intellektuellen«. Mutter und Tochter zogen in die Kellerwohnung im
Haus der Großeltern, aßen morgens und abends gemeinsam mit ihnen und
machten manchmal zu viert Ausflüge mit dem Auto nach Flateyri oder
Bolungarvík. Manchmal tranken ihre Mutter und ihr Großvater zusammen
Schnaps, immer in der oberen Wohnung, und sie konnte durch die
Kellerdecke hören, wie sie sich stritten.
Sie erinnert sich an ihren Großvater als einen rothaarigen, großen Mann,
der in ihrem Zimmer stand, sich über sie beugte und ihr einen Kuss gab.
Einmal schenkte er ihr eine Rose, nachdem ihre Mutter den ganzen Tag im
Wohnzimmer geheult hatte. Kurz darauf verließen sie Ísafjörður, ihre Mutter
holte sie von der Schule ab, hatte schon alle Sachen in den Kofferraum
gepackt und heulte fast während der gesamten Fahrt nach Sauðárkrókur, wo
sie bei einer Freundin übernachteten. Anna kam auf eine neue Schule, sah
ihre Großeltern nie wieder, und ihre Mutter zerriss sämtliche Fotos von
ihnen.
Als Nächstes erinnert sie sich daran, wie sie Käsebrote in der neuen
Wohnung schmiert, die Pixies hört und einen Brief an Ye Mimi schreibt, ihre
Brieffreundin in Taiwan, die in der Kinderzeitschrift Æskan inseriert hatte.
Sie wollten beide ihr Englisch verbessern und fremde Kulturen kennenlernen,
hatten ihre Mütter gefragt, ob sie einander besuchen dürften, und ihnen
versprochen, sich gut zu benehmen, durften aber nicht fahren. Annas Mutter
traf sich zu dieser Zeit mit einem Mann, der aus feineren Flaschen trank als
Annas Vater und Großvater – allerdings auch aus mehr Flaschen, und Anna
wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis ihre Mutter heulend auf dem
Fußboden läge. Oder sie selbst. »Ye« im Namen ihrer Brieffreundin
bedeutete auf Taiwanesisch »Laub«, und »Mimi« »auf der Suche nach
etwas«.
Sie hatte keine Freunde, die diese Erinnerungen mit ihr teilten. In jenen
Jahren wechselte sie oft die Schule und folgte ihrer Mutter von einem Ort
zum nächsten. Ihre Mutter tat ihr Bestes, aber manchmal war kein Essen im
Haus – jedenfalls nicht, bevor Anna sie daran erinnerte. Anna knüpfte leicht
Kontakte und lernte schnell, dass es in einer neuen Klasse am besten war,
nicht zu süß oder zu lustig zu sein, damit die anderen Mädchen nicht
eifersüchtig wurden, nicht zu viel und nicht zu wenig zu sagen, nicht zu
schlau und nicht zu dumm zu sein – nicht zu viel von irgendwas. Man musste
nur auf die richtige Gelegenheit warten. Es machte ihr Spaß, Tagebuch zu
schreiben, ihr Leben nach Lust und Laune umzuschreiben und über andere
nachzugrübeln – jene Menschen, die in ihrem oder im Leben ihrer Mutter
auftauchten und genauso schnell wieder verschwanden. Sie schrieb gerne
Aufsätze, was ihr anscheinend leichter fiel als anderen, behielt das aber für
sich, bis sie aufs Gymnasium kam und begann, für die Schülerzeitung
Kurzgeschichten und das eine oder andere Gedicht zu verfassen.
Als Jugendliche lebte sie in Reykjavík und hatte ihre erste richtige
Freundin, Heiða. Sie trafen sich jeden Tag, unabhängig davon, wo in der
Stadt sie gerade wohnten. Heiða war auch oft umgezogen, sogar schon kreuz
und quer im ganzen Land mit ihren Eltern, die Wanderlehrer und eine Art
Hippies waren. Die Mädchen lasen beide gerne, konnten gut zusammen
schweigen und fingen an zu rauchen und im Café Mokka oder Hressó
rumzuhängen. Sobald sie alt genug waren, zogen sie gemeinsam in eine
Kellerwohnung in der Ránargata. Annas Mutter plante, nach Akureyri zu
ziehen, mit einem Mann, der ihrer Aussage nach anders war als alle seine
Vorgänger, wobei Anna nicht dieser Meinung war. Sie hatte nie genau
verstanden, warum ihre Mutter so war, wie sie nun mal war, aber seit sie
denken konnte, wusste sie, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Ihre Mutter
sorgte sich entweder um alles und oder um nichts, lachte bei Partys am
lautesten von allen, weinte oft im Kino, selbst bei Filmen, die nicht besonders
traurig waren, redete schnell und viel über alles, was gerade geschah, oder
alles, was sie gerade dachte, oder lag alleine bei ausgeschaltetem Licht in
ihrem Zimmer. Früher oder später ging sie den Männern, mit denen sie
zusammen war, meistens auf die Nerven, so kam es Anna zumindest vor. Die
meisten versuchten, sie zu ändern oder ihr Leben zu gestalten, aber wenn sie
merkten, dass es nicht gelang, stritten sie sich mit ihr, schlugen sie oder
verließen sie mit großem Trara und beschimpften sie als Zicke oder
Schlampe. Es war schwer, sich daran zu gewöhnen. Einmal fragte Anna ihre
Mutter, warum sie so sprunghaft sei, und sie antwortete, sie könne nichts
daran ändern.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Du wirst das mal viel besser
hinkriegen als ich, mein Herzchen.« Manchmal drohte sie damit, sich
umzubringen, schrie die Männer an, bewarf sie mit Gegenständen und
zerschlug Möbel. Einmal verschwand sie für ein paar Tage, und Anna zog zu
ihrem Onkel und ihrer Tante, die ordentlich und nett war. Ihre Mutter wollte
immer nur ihr Bestes, aber es war unangenehm, sie um sich zu haben, alles
drehte sich nur um sie und ihre Gefühle, und auch wenn sie sich manchmal
dafür entschuldigte, dass sie so anstrengend war, half das nicht viel. Als
Jugendliche hatte Anna das starke Bedürfnis, sie zu retten, genau wie die
Männer, die kamen und gingen, wusste aber, dass sie das nicht konnte.
Das Zusammenwohnen mit Heiða war die schönste Zeit in ihrem Leben.
Sie hatten viele Freunde und machten oft nichts anderes, als sich zu
amüsieren, konnten sich aber auch gut zurückziehen, wenn sie lernen oder
früh zur Arbeit mussten. Anna kam auf den humanistischen Zweig des
Gymnasiums in Reykjavík und arbeitete in den Sommerferien an der Kasse
im Hagkaup-Supermarkt am Eiðistorg, schrieb, wenn sie Zeit hatte,
unternahm aber auch Bergtouren mit ihrer Freundin und joggte, fing als
Sängerin in einer Band an, gewann einen Kurzgeschichtenwettbewerb der
Schülerzeitung und moderierte im letzten Jahr auf dem Gymnasium
gemeinsam mit Heiða eine wöchentliche Radiosendung auf Rás 2. Während
all dieser Zeit hatte Anna das Gefühl, vor Energie nur so zu strotzen, von
einer mysteriösen Anspannung erfüllt zu sein, die ständig nach neuen Wegen
suchte, um hervorzubrechen. Und wenn sie diese Energie nicht nutzte, war
es, als richte sie sich gegen sie selbst und verwandle sich in eine tiefe,
schwindelerregende Hoffnungslosigkeit – nicht unähnlich der Gewissheit,
dass man ihre Mutter nicht retten konnte.
In dem Sommer, als sie Abitur machte, bekam sie einen Vertretungsjob
bei einer Tageszeitung, wo sie kleine Meldungen und kurze Interviews
schrieb, die auf Telefonaten mit diversen Showgrößen beruhten und davon
handelten, was der Betreffende gerade in der Tasche hatte oder wie seine
Meinung zu diesem oder jenem war. Nach einer Betriebsfeier, die aus dem
Ruder lief, begann sie, sich mit dem Chefredakteur zu treffen und nach der
Arbeit in seinem Büro oder in einem Hotel irgendwo in der Stadt mit ihm zu
vögeln. Der Chefredakteur war ein verheirateter dreifacher Vater aus dem
Hlíðar-Viertel, glühender Anhänger der Unabhängigkeitspartei und ständig
zu Gast in Nachrichtensendungen und Talkshows im Fernsehen. Anna war
nicht in ihn verliebt, fand den Sex aber aufregend. Er schlug sie mit einem
Gürtel, klemmte ihr Wäscheklammern in die Haut, nahm sie manchmal in
den Würgegriff und fickte sie anal, was sie zum ersten Mal ausprobierte.
Manchmal schickte er ihr Instruktionen, kurze Anweisungen, was sie beim
nächsten Mal machen oder tragen sollte, was für eine Weile ein netter
Zeitvertreib war.
Durch die Vermittlung des Chefredakteurs bekam sie einen Auftrag für
ein Hochglanzmagazin und begann anschließend, dort in Vollzeit zu
arbeiten. Sie schmiss das Literaturwissenschaftsstudium an der Uni, das
ohnehin immer nur ein Aufschubmanöver gewesen war – sie hatte es als
sinnlos betrachtet, Isländisch zu studieren, obwohl ihr Aufsatzschreiben
leichtfiel –, und machte Exklusivinterviews für das Magazin. Der Erfolg war
sowohl größer als auch kleiner, als sie erwartet hatte; kleiner weil sie parallel
zu den Interviews mit prominenten Damen der Gesellschaft als Artikel
getarnte Werbetexte für Kosmetikartikel umschreiben musste, mit denen
Grossisten sich in das Magazin einkauften.
Doch das war nun mal die Realität, und am Ende fühlte sie sich immer
am besten, wenn sie mit beiden Beinen auf festem Boden stand oder
zumindest wusste, dass die Realität sich nicht weit unter ihr befand. Nachdem
sie mit dem Chefredakteur Schluss gemacht hatte, war sie in einem Sommer
in Reykjavík mit fast fünfzehn Männern zusammen – mit manchen nur eine
Nacht lang oder sogar nur eine Stunde, mit anderen ein paar Tage. Sie
versuchte es auch mal mit einer Frau, was interessant war, aber nicht viel
mehr. Gegen Ende des Sommers traf sie sich mit einem reichen Typen aus
Garðabær, der gut zehn Jahre älter war als sie, und war ein paar Monate mit
ihm zusammen. Er wollte sich fesseln und erniedrigen lassen, sie sollte sich
auf sein Gesicht setzen und ihn ersticken, einmal pinkelte sie ihm in den
Mund und sah zu, wie er gierig schluckte. Sie war gut im Bett, es machte ihr
Spaß, zu geben und zu nehmen, die Dominante oder die Unterwürfige zu
sein, und sie stellte fest, dass die Anspannung, die seit ihrer Jugend in ihr
brodelte, zu einem großen Teil aus Sexualtrieb bestand. Schon mit zwölf
Jahren hatte sie regelmäßig masturbiert und tat das immer öfter, je älter sie
wurde. Sie war noch keinem Mann begegnet, der genauso viel Spaß an Sex
hatte wie sie oder es gerne auf so viele unterschiedliche Weisen machte. In
den Zeitschriften, für die sie arbeitete, schrieb sie Artikel über Sexualität,
interviewte Frauen über ihre sexuellen Vorlieben, und einmal endete ein
Gespräch über Selbstbefriedigung mit vier Frauen aus dem Geschäfts-,
Kultur- und Medienbereich mit einer Gruppenmasturbation in der Sauna
eines Spas, bei der sie so oft kam, dass sie es nicht mehr zählen konnte.
In der Regel hielt sie das vor den Männern, mit denen sie zusammen war,
geheim. Wenn die Männer das Ausmaß ihrer Lust gekannt hätten, die im
Lauf der Jahre immer mehr zugenommen hatte, hätte sie das sicher
abgeschreckt. Der Mythos der weiblichen Frigidität war nämlich nie etwas
anderes gewesen als die Angst vor dem unersättlichen und allumfassenden
Hunger der Vagina, die jeden Kerl verschlingen konnte, Massen von Kerlen,
und dann wieder ausspucken, schlaff und verwirrt, was letztendlich
unpersönlicher und männlicher war als deren eigene Lust. Anna verliebte
sich schnell, konnte aber genauso schnell die Männer wechseln. Sie wollte
umworben werden, hatte aber auch den starken Drang, den Männern, mit
denen sie zusammen war – und im Grunde Männern generell –, zu gefallen.
Sie hatte eine unklare Vorstellung von ihrem eigenen Wert, fühlte sich wohl,
wenn sie das Aufnahmegerät herausholen, den Stift zücken und ein Gespräch
führen konnte, und empfand sich am ehesten als eigenständiges Individuum,
wenn sie ihren gedruckten Namen sah.
Ihr Ansehen wuchs stetig, und sie bekam eine Stelle bei einer beliebten
Zeitschrift, die zudem sehr ambitioniert war, wenn auch nicht unbedingt
kritisch – ihr Inhalt setzte sich aus opportunistischen Interviews, bestellten
Rezensionen und Imagepflege zusammen, wodurch sie gänzlich dem
isländischen Journalismus der damaligen Zeit entsprach, außer dass ihre
Leserschaft wählerischer war als das Gesindel aus den Vororten. Anna zog in
eine Wohnung in der Bergstaðastræti, nicht zu groß, aber mit Aussicht auf
den Stadtteich, bekam mehr und mehr Einladungen zu Vernissagen und
Theaterpremieren, ging mit ihren Banker-Freunden zu Cocktailpartys,
vögelte mit ihrem ersten Politiker, ihrem ersten Aktienmakler, probierte
Kokain, bekam ein Freiabo für die Zeitung der konservativen Feministinnen,
interviewte den Unternehmer Björgólfur Thor Björgólfsson in Cannes, flog
mit dem Bankmanager Ólafur Ólafsson im Privatjet von Oslo nach London,
hielt einen Vortrag über isländischen Journalismus an der Universität in
Bifröst, behauptete, die Links-Grünen seien out und Gartenzwerge in, ließ
sich über Refinanzierungen, Währungskörbe und den Immobilienmarkt
beraten und verstand von alldem nichts.
Es lief also alles gut, doch zum Monatsanfang rief regelmäßig ihre Mutter
an – nachdem sie Annas Namen in der Zeitschrift gesehen hatte – und heulte
oder beschimpfte sie aus irgendwelchen Gründen, meistens weil ihre Tochter
sie nicht mehr lieb habe und nie zu Besuch komme. Ihre Mutter arbeitete an
der Kasse eines Supermarkts in Akureyri und hatte keine Ahnung, was in der
Gesellschaft los war, was auf dem Land los war, in Akureyri, wo auch immer.
Anna ließ sich davon nicht irritieren. Sie verschaffte sich mehrere Aufträge in
Nordeuropa, was wegen der zunehmenden Internationalisierung Islands
leicht war, und bekam dadurch die Gelegenheit, längere Zeit in Berlin zu
leben, anschließend in Paris, wo sie bei einem Empfang in der Botschaft den
Fernsehmoderator und konservativen Politiker Gísli Marteinn Baldursson
kennenlernte, bei dem sie eine Zeit lang in Edinburgh wohnte.
Nachdem sie sich getrennt hatten, zog sie zurück nach Island und fühlte
sich verändert. Sie ging auf die Dreißig zu, hatte keine Kinder, war alleine
und ohne fremde Hilfe im Leben vorangekommen, hatte einen Job, der
einigermaßen erfüllend war, ohne dabei zu anstrengend oder zu zeitintensiv
zu sein. Doch das Tempo in ihrem Leben veränderte sich, alles lief ein
bisschen langsamer, kaum etwas überraschte oder verwunderte oder ängstigte
sie mehr. Sogar ihr Sexualtrieb schien sich stabilisiert zu haben und war von
einer gewissen Sanftheit geprägt, die sie zuvor nicht besessen hatte. Sie testete
ihre Chancen auf den Chefsessel bei der Zeitschrift aus, war dabei aber
vermutlich zu eifrig, streckte ihre Fühler zu früh zu weit aus und wurde von
der amtierenden Chefredakteurin abgekanzelt – einer Frau, die sich von einer
Investmentfirma in ein Sanatorium in der Schweiz zu einem Facelifting hatte
einladen lassen.
Die ersten Gedanken an Fehler machten sich bemerkbar, daran, wie
angreifbar sie im Grunde war, dass sie alles auf ein Pferd gesetzt hatte, wie
blauäugig und naiv sie immer gewesen war, warum sie keine bessere
Ausbildung gemacht oder mehr Geld zur Seite gelegt hatte. Sie war
Journalistin, aber wenn sie keine Journalistin mehr wäre – wenn die Leute das
Vertrauen in sie verlören –, dann wäre sie nichts. Sie fürchtete, als Bedürftige
angesehen zu werden, dass man in ihr Herz schauen und sehen könnte, wie
wenig sie tatsächlich gelernt hatte. So verlor sie allmählich ihr
Selbstbewusstsein, und die Leute schienen es zu spüren.
Doch am meisten Kummer bereitete ihr, als sie eines Tages feststellte,
dass sie seit fast zehn Jahren keine einzige Zeile mehr für sich selbst
geschrieben hatte, nichts Literarisches, keine Kurzgeschichte oder
Gedichtzeile, kein Tagebuch, nur ein paar Anmerkungen über das Wetter
und die Gesundheit, bis sie auch damit ganz aufgehört hatte. Fast zehn Jahre
hatte sie nichts Kreatives in ihrem Leben gemacht, bis auf das, was in die
Verkaufsvorgaben der Zeitschriften passte und durchschnittliche Artikel- und
Interviewlänge hatte. »Das Einzige, was einen nie verrät: das Schreiben« –
dieses Motto von ihr war vor den Karren irgendwelcher Finanzhaie gespannt
worden und sollte die Beliebtheit der Unabhängigkeitspartei bei Frauen
mittleren Alters steigern, sollte den Finanzminister interessanter machen, den
Wirtschaftswikinger Hannes Smárason menschlicher, die Unternehmergattin
Kristín Ólafsdóttir kreativer, den Premierminister Geir Haarde humorvoller.
Sie hatte noch nicht einmal mehr einen politischen Standpunkt, um sich zu
rechtfertigen.
Sie trennte sich von einem Mann, den sie geliebt hatte, und brauchte
länger als sonst, um einen neuen zu finden, fing an, sich genussvoll die Haare
auszureißen, sich in die Brustwarzen und Schamlippen zu kneifen, bis ihr die
Tränen kamen, und stürzte eines Nachts in die Küche und schnitt sich mit
einem Messer in den Ellbogen, ins Knie, in die Wade, wurde von einem
unbeschreiblich großen Schuldgefühl gepackt und schlief erst gegen Mittag
am nächsten Tag ein, nahm das Telefon, um jemanden anzurufen, sich Hilfe
zu holen, ließ es dann aber bleiben.
Ungefähr zur selben Zeit nahm ihr Großvater Kontakt zu ihr auf. Er rief
mitten in der Nacht betrunken an und sagte, er sei gerade an Land
gekommen, habe nicht mehr »viel Zeit« und wolle sie treffen. Sie sah das
Klischeebild eines alten Seemanns vor sich, wollte ihr Leben nicht noch
komplizierter machen und sagte ihm, er solle sie in Ruhe lassen – so wie er es
immer getan hatte –, außerdem könne er zur Hölle fahren. Dann legte sie
auf, fing sofort an zu heulen und konnte nicht mehr aufhören, wollte sich
selbst mit einem Nudelholz erschlagen, wurde aber nicht ohnmächtig,
klemmte sich Wäscheklammern ins Gesicht, bis sie das Gefühl hatte, in
Sicherheit zu sein, und kauerte sich vor einer roten Wand auf den Boden. Am
nächsten Tag brachte Heiða, die gerade vom Studium aus Schweden
zurückgekehrt war, sie in die psychiatrische Abteilung des
Landeskrankenhauses, wo sie für ein paar Tage aufgenommen wurde, um
»sich auszuruhen«.
Anna hatte den dumpfen Verdacht, dass sie stellvertretend für ihre Mutter
in der Psychiatrie war, aber das spielte keine Rolle. Sie hatte sich schon
immer gut anpassen können und erholte sich schnell. Nach einer Woche
wurde sie mit einem Rezept für Tabletten entlassen und ging anschließend
jede Woche zu einem Psychotherapeuten. Sie ließ sich von ihrer Mutter am
Telefon nicht mehr zum Weinen bringen und erkannte, dass sie es genoss zu
leiden, zumindest in gewissen Grenzen – setzte es mit leben gleich und auch
damit, interessant zu sein.
Nach dieser ganzen Geschichte schien sie ihr Gleichgewicht
wiedergefunden zu haben. Sie arbeitete weiter bei der Zeitschrift, aber
plötzlich sprach sich herum, dass sie »erkrankt« und in die Psychiatrie
eingewiesen worden war. Das versperrte ihr jegliche Chance auf den
Chefsessel, wie interessant sie dadurch auch geworden sein mochte. Sie
machte noch mehr Interviews, schrieb noch mehr Kolumnen über alles
Mögliche und gab sich damit zufrieden, die Grenzen ihres Könnens so
schnell erreicht zu haben; alles in allem war sie rasant aufgestiegen, aber nicht
besonders weit gekommen. Es waren die Menschen um sie herum, ihre
Interviewpartner, die Großtaten vollbrachten, sie selbst war die Chronistin,
flink und erfinderisch, wusste aber tief in ihrem Herzen, dass sie niemals
rücksichtslos und ignorant genug wäre, um es zu mehr zu bringen. Sie war
eine einfache Journalistin, ein einfacher Mensch sogar, und ihr Leben würde
sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr grundlegend ändern.
14 |
Das Haus war still, bis auf ein gelegentliches Knarren und das Heulen des
Windes, der immer stärker wurde. Am Horizont stieg dunkler Dunst von den
Sandflächen auf und bewegte sich mal auf das Haus zu, mal von ihm weg.
Anna spähte zu den Außengebäuden und sah weder die Frau noch den
Mann. Wenn sie nicht alles täuschte, war sie alleine im Haus. Das stachelte
ihre Schnüffellust an, die sie manchmal überfiel und dem Sexualtrieb ähnelte,
sich aber längere Zeit nicht mehr bemerkbar gemacht hatte.
Sie musste an ihre Freunde im Nebel denken, wollte sich aber keine
Sorgen machen, sie vertraute Vigdís und Hrafn, sie würden schon den
richtigen Weg finden, und außerdem war es draußen warm.
Sie ging in den Flur. Neben Hrafns und Vigdís’ Zimmer befand sich am
Flur noch ein Badezimmer ohne warmes Wasser, in dem sie das Klo mit
einem Eimer Wasser ausspülen mussten. Gegenüber der Treppe zum
Erdgeschoss war eine Tür, die den gesamten Flur abschloss. Der Teil des
Flurs, an dem ihre Zimmer lagen, zog sich gerade mal über ein Drittel der
Länge des Hauses, sodass es hinter dieser Tür noch ein ganzes Stück
weitergehen musste.
Anna schlich sich am Treppenaufgang vorbei und blieb vor der Tür
stehen. Der Flur war dunkel, aber durch das Schlüsselloch fiel ein gräulicher
Lichtschein. Sie spähte hindurch und sah Regale voller Bücher. Am liebsten
wäre sie schnell zurück zu ihrem Bett gerannt, hätte sich unter der Bettdecke
verkrochen, doch stattdessen drückte sie die Türklinke herunter. Nur wegen
ihrer Schnüffellust.
Die Tür ging mit einem leisen Knarren auf.
Vor ihr lag eine Art Arbeitsraum. In den Regalen, die sich vom Boden bis
zur Decke zogen, waren Bücher, neben den beiden Fenstern stand ein großer
Eichenschreibtisch, und an der Wand dahinter hingen Schwarz-Weiß-
Fotografien. Zwei Bücherschränke standen mitten im Raum und waren voller
Zeitungen, Zeitschriften und Aktenordner. An einer Wand befand sich ein
Kamin, aus hellroten Backsteinen gemauert.
Annas erster Gedanke war, dass das alte Ehepaar Geld hatte oder
zumindest früher gut betucht gewesen sein musste. Viele Bücher waren in
Leder eingebunden und sahen alt und wertvoll aus, die Boden- und
Deckenleisten waren geschnitzt und die Gardinen vor den Fenstern aus rotem
Samt.
Als sie genauer hinschaute, sah sie, dass die Wände und der Fußboden an
einigen Stellen von Nässe aufgequollen waren, die Regale waren mit einem
Sandschleier überzogen, der zwischen die Bücher drang, und der
Schimmelgeruch ließ darauf schließen, dass die Bücher bereits
Feuchtigkeitsschäden davongetragen hatten. Falls das Haus im Wohlstand
gebaut worden war, hatte sich die Situation offenbar geändert, es sei denn,
die Besitzer hatten keine Lust mehr, es instand zu halten. Der Raum war
höher als die übrigen Zimmer des Hauses, und unter der Decke sah man
morsche Holzbalken, die die Wellblechverkleidung trugen. Zwischen den
beiden Bücherschränken in der Zimmermitte stand ein Eimer, dessen Boden
mit Wasser bedeckt war, das von der Decke getropft sein musste. Auf dem
Fußboden lag kein Sand, also musste hier drinnen jemand putzen, aber vor
dem Kamin waren Rußspuren, als sei er erst kürzlich benutzt worden. Anna
hockte sich neben den Kamin, strich mit dem Finger über den Ruß und
spähte in den Schornstein, sah aber nur Dunkelheit.
Sie ging zum Schreibtisch und ließ den Blick über die Fotografien
dahinter schweifen. In der Mitte der Wand hingen gerahmte Urkunden, ein
Diplom aus Princeton in den USA attestierte, dass Kjartan Aðalsteinsson sein
Medizinexamen mit Bestnote abgeschlossen hatte, eine andere Universität in
Boston zeichnete ihn für hervorragende Examensleistungen aus. Außerdem
war da noch eine Urkunde vom Gymnasium in Reykjavík, in der er als
Jahrgangsbester des naturwissenschaftlichen Zweigs beglückwunscht wurde,
und zuunterst an der Wand hing eine leicht vergilbte Urkunde für die
landesbeste mittlere Reife.
Es fiel Anna schwer, diese Dokumente mit dem grinsenden,
kopfnickenden Mann in Zusammenhang zu bringen, doch sie bestätigten
ihren Verdacht, dass er kein Bauer war. Auf einem der Fotos sah man ihn als
ungefähr Dreißigjährigen eine Auszeichnung entgegennehmen – vielleicht
eine weitere Urkunde – aus den Händen eines Mannes, den Anna für einen
ehemaligen Minister hielt. Auf einem anderen saß Kjartan mit dem
Finanzmagnaten Björgólfur Guðmundsson und dessen damaliger Frau Þóra
an einem Tisch, hielt eine dicke Zigarre in der Hand und lachte so breit, dass
seine Backenzähne aufblitzten. Ein weiteres Foto, das der Gestaltung nach
aus einer Tageszeitung hätte sein können, zeigte Kjartan mit erhobener Faust
an einem Rednerpult, möglicherweise als Sieger eines Debattierwettbewerbs,
und auf einem anderen stand er mit einem Passagierschiff im Hintergrund an
einem Kai, etwa zwanzig Jahre alt, in einem schwarzen Mantel, sicherlich auf
dem Weg zum Studium in die USA.
Anna fiel auf, dass die Frau auf keinem der Fotos auftauchte, obwohl
Kjartan auf vielen von ihnen offenbar im Urlaub war – in kurzen Hosen im
Wald mit einem Fernglas um den Hals, grinsend neben einem Lama, auf
Skiern vor einem Blockhaus. Auf allen Bildern war er relativ jung,
wahrscheinlich unter vierzig, was bedeutete, dass seit dreißig bis vierzig
Jahren kein Foto mehr von ihm gemacht worden war, zumindest keins, das er
aufhängen wollte.
Sie wandte sich von der Wand ab, schaute sich um und setzte sich dann
an den Schreibtisch. In einem Rahmen auf dem Tisch stand das einzige Foto
mit Kindern. Ein Junge und ein Mädchen, etwa zehn Jahre alt, saßen
kerzengerade auf Stühlen vor einem Mann und einer Frau, die aussahen wie
ihre Eltern. Der Mann stand hinter dem Jungen und hatte seine Hand auf
dessen Schulter gelegt, während er mit der anderen einen Gehstock umfasste;
sein Gesichtsausdruck wirkte streng, während das Gesicht der Frau sanft
aussah, obwohl es fast gänzlich durch eine weiße Trübung verdeckt war, die
sich über das Bild gelegt hatte. Sie trug ein langes Kleid, ihr dunkles Haar
war geflochten, und an ihrem Hals und an ihrem Handgelenk glitzerten
Schmuckstücke.
Der Junge war Kjartan, und Anna sah sofort, dass das Mädchen neben
ihm wahrscheinlich dasselbe war wie auf der Fotografie unten im
Wohnzimmer. Also waren sie Geschwister, wenn sie nicht alles täuschte,
zumal sie sich sehr ähnelten: außergewöhnlich hübsch, blond und zart,
Kinder aus einer gut betuchten Oberschichtsfamilie, was man an der
Kleidung der Eltern erkannte, dem Gehstock, dem Schmuck, und das warf
wiederum die Frage auf, was sie hier in der Sandwüste machten.
Anna durchwühlte einen Stapel Blätter in der Schreibtischschublade, die
aus einem Heft gerissen worden waren, das aber nirgends zu sehen war. Die
meisten Blätter waren leer, nur auf einem stand etwas mit schlecht lesbarer
Schrift, die Anna zu entziffern versuchte. Ein Wort war »Hochland«, und
dahinter stand eine Zahlenreihe. Weitere Wörter waren »Keller« und
»Schlüssel«, und darunter standen noch mehr, wie etwa »Stall«,
»Laternenpfahl« und »Haustür«. Die Wörter standen untereinander, in der
Regel nur eins pro Zeile. Es sah aus wie eine Erinnerungsliste, die der Mann
vielleicht geschrieben hatte, bevor er erkrankt war. Sie las, was ganz unten
auf dem Blatt stand: »Es hat keine Seele.« Der Satz war zweimal
unterstrichen.
Auf anderen Blättern standen ausführliche Wetterbeschreibungen in
derselben Handschrift. Es reizte sie, die Blätter einfach einzustecken, obwohl
sie nicht wusste, welchen Sinn das haben sollte.
Was hatte keine Seele?
Sie schloss die Schublade und stand auf, hörte das Haus im immer
heftiger werdenden Wind knacken. Dann ging sie an den Regalen vorbei und
las die Buchrücken. Viele Bücher waren wissenschaftlicher Art, Biologie,
Geologie, Chemie, Physik und das Fachgebiet des alten Mannes: Medizin.
Die meisten waren auf Englisch, aber ein paar auch auf Deutsch, Französisch
und in skandinavischen Sprachen. Viele Regale waren mit Nummern
gekennzeichnet, was darauf hinwies, dass die Bücher thematisch sortiert
waren.
In einem Regal standen isländische Bücher von Dr. Helgi Pjeturss,
Sigurður Nordal, Alexander Jóhannesson, Übersetzungen der Epen Homers
sowie Romane von Einar H. Kvaran und Gunnar Gunnarsson. Anna ließ
den Blick über die Buchrücken schweifen und blieb an einer Reihe hängen,
die Isländische Geschäftsleute hieß und aus drei Bänden bestand. Sie zog den
ersten Band heraus, der 1955 erschienen war, und suchte im Namensregister
nach Kjartan Aðalsteinsson.
Er war im letzten Band. Dem Buch nach gehörte seine Familie seit vielen
Generationen der privilegierten Schicht des Landes an: erst als Großbauern
und Bezirksamtmänner, dann sattelten sie um und wurden Politiker und
Geschäftsleute, vor allem im Fischexport. Sein Großvater, dessen Namen
Anna noch nie gehört hatte, war Minister, und sein Vater besaß einen
Großhandel und Läden in Reykjavík und Akureyri. Er wurde als
»wagemutiger Geschäftsmann« bezeichnet und seine Verbindung zur Familie
Thor besonders hervorgehoben – »ein guter Freund von Richard Thor« –, er
sei durch Devisenhandel zu Geld gekommen. Kjartan hatte eine Schwester,
deren Name nicht genannt wurde, und sie und ihre Mutter trugen beide die
Bezeichnung Hausfrau.
Kjartan wurde als äußerst begabter Student dargestellt, der sich schon
früh für die Wissenschaften interessiert hatte. Darauf folgte eine Auflistung
seines Bildungswegs, den man auch an den Urkunden an der Wand
nachverfolgen konnte, sowie seiner umfangreichen Aktivitäten in der
medizinischen Forschung an der Universitätsklinik in Boston, wo er seine
Ideen zur »Lebensenergie« entwickelte, eine Art elektrische Kraft, die allen
Lebewesen innewohne und die man nutzen könne, um ihr Wachstum zu
steuern und Krankheiten wie Krebs zu bekämpfen. Nach einem »plötzlichen
Aufbruch« aus den USA, wie es im Buch hieß, zog er zurück nach Island. Im
Hafengebiet von Reykjavík ließ er ein Forschungszentrum bauen, doch die
gesetzlichen Grundlagen des Betriebs wurden als fragwürdig angesehen, nicht
zuletzt aufgrund seiner persönlichen Verbindung zu diversen Politikern. Es
gab Gerüchte, die Firma missbrauche ihren Zugang zur Datenbank des
Landeskrankenhauses und zu den ärztlichen Berichten Zehntausender
Isländer und nehme zudem Untersuchungen an Menschen vor, die gegen die
»wissenschaftliche Ethik« verstießen. Später ging die Firma pleite, der
isländische Staat übernahm die Schulden, und im Anschluss schien Kjartan
noch größere Probleme bekommen zu haben: Er wurde vor dem Amtsgericht
Reykjavík wegen des Verstoßes gegen »das bürgerliche Anstandsgefühl«
angeklagt, wobei das Buch von »Freizügigkeit im privaten Bereich« sprach.
Das Ganze endete mit der Information, dass er einen Sohn habe, der jedoch
nicht namentlich genannt wurde – ebenso wenig wie dessen Mutter.
Das war alles. Anna schaute sich noch ein paar Einträge über andere
Personen an und schob das Buch dann zurück ins Regal. Am meisten
interessierte sie sich für den Verstoß gegen das Anstandsgefühl und hätte
gerne gewusst, warum Kjartans Kind und dessen Mutter nicht namentlich
genannt wurden, so wie bei anderen Personen in dem Buch auch. Womöglich
war der Kerl ein Schuft und Casanova gewesen und hatte mindestens ein
uneheliches Kind gehabt, aber das kam ihr eher unwahrscheinlich vor. So
etwas gab es zu oft, als dass man es besonders hätte erwähnen müssen.
Und warum wurde seine Schwester nicht namentlich genannt?
Anna wollte den Raum gerade verlassen, als sie ein vertrautes Wort vor
sich im Regal sah, dasselbe, das auf dem Blatt in der Schreibtischschublade
stand: Das Hochland. Es war der Titel eines Buches. Anna griff nach dem
Buch, versuchte es herauszuziehen, aber es ging nicht, stattdessen wurde es
von hinten angehoben, hinter dem Regal klackte es, und dann schob sich das
Regal mit leisem Quietschen von der Wand.
15 | Der Mann mit den Fühlern auf dem Kopf
Anna wich verwirrt zurück und glaubte, das Regal würde umkippen, sah
dann aber, dass es sich auf Scharnieren drehte.
Magie, dachte sie, und das Regal kam zum Halt. Nach kurzem Zögern
beschloss sie, einen Blick durch die Tür zu werfen, die hinter dem Regal zum
Vorschein gekommen war, aber alles war dunkel. Kälte und modriger
Geruch schlugen ihr aus der Dunkelheit entgegen, die Stille schien zum
Zerreißen gespannt, als könnte sie jeden Moment von einem Knall
durchbrochen werden.
Zögernd blieb sie in der Türöffnung stehen, holte dann eine Kerze vom
Schreibtisch, zündete sie an und hielt sie ins Dunkle. Die Flamme war
beständig und senkrecht, und Anna sah die Umrisse eines Betts, eines kleinen
Schreibtischs und eines Regals. Der Raum war nur zwei oder drei Meter lang
und ungefähr genauso breit.
Direkt neben der Tür war ein Schalter an der Wand. Über dem Schalter
stand in deutlichen Druckbuchstaben: SIEH MICH AN. Der Schalter wirkte
keineswegs ungewöhnlich, aber was sollte sie ansehen? Den Bewohner des
Zimmers? Sie streckte die Hand aus, um die Deckenlampe einzuschalten,
hielt jedoch im letzten Moment inne. Irgendetwas war seltsam.
Sie blickte sich suchend um, bis sie sicher war, dass sich dort niemand
versteckte, tastete sich dann langsam durch den Raum und blieb neben dem
Bett stehen. Auf dem Bett lag eine braune, muffige Decke. Gedankenlos zog
sie an einer Ecke, hörte aber sofort damit auf, weil ihr ein Geruch in die Nase
stieg, der sie zum Würgen brachte und an verdorbenen Fisch oder an den
Obdachlosen erinnerte, der sich in New York mal in der U-Bahn neben sie
gesetzt hatte.
Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie oberhalb
des Kopfendes eine etwas grauere Stelle an der Wand. Nach und nach
konnte sie die Konturen eines Fensters in derselben Größe wie die Fenster im
Arbeitszimmer ausmachen. Das Fensterglas war mit dicker schwarzer Farbe
übermalt, sodass das Tageslicht nahezu vollständig ausgesperrt blieb, bis auf
eine Stelle, an der ein Strich in das Schwarz geritzt worden war und ein
dünner Lichtstrahl ins Zimmer drang.
Anna spähte durch den Riss und sah den dunklen Sand über die Erde
wirbeln. Durch das Gestöber waren die Außengebäude schemenhaft zu
erkennen, sodass sie an die beiden Alten denken musste. Obwohl sie nirgends
zu sehen waren, befürchtete Anna, auf frischer Tat ertappt zu werden. Sie
suchte nach einem Gegenstand zum Mitnehmen, etwas, das die Geheimnisse
des Hauses in der Sandwüste enthüllen würde.
Beim Schreibtisch hing ein gerahmtes Foto, auf dem Anna zuerst die Alte
zu erkennen meinte, dann aber Zweifel bekam. Die Person war mittleren
Alters, ihre Haare waren dunkel und standen senkrecht vom Kopf ab, so als
tauche sie unter Wasser. Anna hielt die Kerze näher an das Bild und änderte
erneut ihre Meinung. Es handelte sich nicht um ein Foto, sondern um eine
Zeichnung im fotorealistischen Stil von einem Mann, dessen Augen sich zu
Schlitzen verengten und aus dessen Kopf eine Art Arme oder Fühler ragten.
Auf dem Schreibtisch, der niedriger und kleiner war als der in der
Bibliothek, standen eine Kerze, die bis zum Kerzenständer runtergebrannt
war, und eine Kiste aus poliertem Holz. Die Kiste war nicht beschriftet.
Bevor Anna der Mut verließ, öffnete sie eilig den Verschluss, klappte den
Deckel der Kiste hoch, schlug das dunkle Seidentuch auf, und ein Revolver
kam zum Vorschein. Er war nicht besonders groß, hatte aber einen langen
Lauf und glänzte im Schein des Kerzenlichts. Anna streckte die Hand aus,
berührte den Lauf und strich vorsichtig darüber. Nach kurzem Zögern hob
sie die Waffe hoch, drehte die Trommel und sah, dass sich in vier von sechs
Kammern Patronen befanden.
Sie legte den Revolver auf den Tisch und musterte ihn. Sie konnte ihn
nicht zurücklassen, er war ein Beweisstück – nicht nur dafür, dass sie hier
gewesen waren, sondern auch für ein Geheimnis, das noch nicht enthüllt war.
Warum fehlten zwei Patronen? War jemand damit erschossen worden? Sie
hatte einen Bekannten bei der Polizei, der ihr helfen konnte, das zu
untersuchen.
Anna wickelte den Revolver wieder in das Seidentuch, steckte ihn in ihren
Hosenbund und klappte die Kiste auf dem Tisch zu.
Bevor sie rausging, drehte sie sich in der Türöffnung noch einmal um und
betrachtete den Raum und die Wand mit der Aufschrift SIEH MICH AN. Sie
hatte etwas übersehen. Sie nahm die Kerze in die linke Hand, streckte die
rechte aus und drückte den Schalter nach oben. Alles wurde blendend hell,
ein Stromschlag fuhr aus dem Schalter in ihren Arm und durch ihren
gesamten Körper. Sie biss die Zähne zusammen, spürte, wie sie sich versteifte
und ihr Körper taub wurde. Irgendwo in weiter Ferne hörte sie die Kerze auf
den Boden fallen, starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Raum und sah,
wurde für ein paar Sekunden oder eine Ewigkeit durchgeschüttelt und wich
dann von der Wand zurück.
Sie machte ein paar Schritte, die Hände auf die Oberschenkel gestützt,
fiel auf die Knie und dann auf alle viere. In ihrem Kopf drehte sich alles, und
ihr Herz schlug schnell und unregelmäßig. Sie versuchte, sich nicht zu
übergeben, schluckte den Speichel, der sich in ihrem Mund angesammelt
hatte, und schüttelte die Hände, um wieder Gefühl hineinzubekommen.
Völlig panisch glaubte sie, sie sterbe oder sei schon tot, in ihrem Inneren sei
etwas zerrissen, aber dann ließ die Taubheit nach, ihr Herz schlug wieder
langsamer, und sie hob den Blick vom Boden.
Die Tür war wie ein weißer Rahmen an der Wand. Im Erdgeschoss war
jemand hereingekommen und lief herum. Anna spürte das gesamte Haus,
jede Bewegung und jedes Geräusch. Sie war alleine in der Dunkelheit mit
einem Wesen, das in der Mitte des Lichtblitzes erschienen war, spürte es ganz
nah bei sich, seine Gestalt unbegreiflich, so kalt und groß, dass sie sich
zusammenkauerte und meinte, ihr eigenes Leben nicht mehr zu lenken, eine
erbärmliche Kreatur vor dem Herrn; sein Auftreten hatte etwas Brutales,
ohne jegliches Verständnis oder Mitgefühl, es war vermutlich nicht
menschlich, obwohl es ihr so erschienen war: wie ein Mann mit großem, klobigem
Kopf, offenem Mund und zusammengekniffenen Augen, die Haut schlaff und scheinbar zu
groß, als hätte man sie ihm übergeworfen. Aus seinem Kopf ragte ein Haufen sich
schlängelnder schwarzer Fühler, die sich nach ihr reckten …
Sie kroch auf allen vieren aus dem Raum, versetzte dem Bücherregal
hinter sich einen Stoß und presste den Rücken dagegen, bis es klackte. Dann
kroch sie aus dem Arbeitszimmer und durch den Flur, spürte, wie der
Revolver in ihren Oberschenkel stach, kroch dennoch weiter und erreichte
ihr Zimmer, wo sie würgte und sich auf den Boden erbrach. Schließlich
hievte sie sich aufs Bett und schlief sofort ein, als hätte man sie ausgeschaltet.
EGILL – 16 | »Dachtest du, du wärst noch mal davongekommen?«
»Ein unterirdischer Tunnel also …«, sagte Egill, der eigentlich etwas ganz
anderes hatte sagen wollen, etwas über die Sandflächen und das Dorf. Die
drei saßen am Rand des Dorfs auf dem Boden und lehnten sich an die
Lagerhalle. Egill hätte den Ort am liebsten so weit wie möglich hinter sich
gelassen, aber der Sandsturm war zu stark. Von der Lagerhalle aus konnte
man die Brückenpfosten auf ihrer Flussseite gerade noch erkennen, was
bedeutete, dass die Sicht nur zwanzig, dreißig Meter weit reichte und immer
schlechter wurde.
An dem Hügel zwischen dem Dorf und der Schlucht hatte Vigdís ein
weiteres Tor entdeckt – noch einen unterirdischen Tunnel, falls ihre Theorie
über den Staudamm stimmte. Das Tor war von innen abgeschlossen.
Hrafn hatte die Augen zugemacht, und Vigdís betrachtete die Karte. Sie
wirkte beunruhigt. Wenn sie nur wüsste. Die Männer hatten ihr nicht erzählt,
was sie im Dorf gesehen hatten.
Es war immer noch so warm, dass Egill in seinem Hemd schwitzte. Das
Wasser in der Schlucht war angestiegen und das Rauschen lauter geworden,
vermischte sich jedoch mit dem Heulen des Windes. Er nahm die Kamera,
richtete sie auf die Schlucht, verlor dann aber die Lust, stand auf und
verkündete, er gehe mal pinkeln. Hrafn und Vigdís schauten nicht auf.
Egill lief um die Ecke zur Vorderseite der Lagerhalle, wo es nicht so
windgeschützt war, aber immer noch windstill genug, um die »Geheimwaffe«
anzuzünden, die er aus seiner Brusttasche fischte. Während er pinkelte,
inhalierte er den Rauch, behielt ihn in der Lunge und blies ihn dann als
blauen, schnurgeraden Strich aus.
Er nahm deutlich wahr, wie sich seine Körperhaare aufrichteten. Wenn er
ein alter, verletzter Soldat gewesen wäre, hätte er zweifellos die Kugel im
Kopf zischen gehört, den Schmerz in den Stirnlappen gespürt,
wahrscheinlich die Beherrschung verloren und alle um sich herum
erschossen. Ja, wenn er jetzt darüber nachdachte, lag das bei einem so
nervenzerreißenden Wetter doch auf der Hand.
Er zog den Reißverschluss zu, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand
und rauchte weiter, sah, wie der Sandsturm nachließ und die Luft rötlich
schimmerte, wie die Sandkörner umeinander wirbelten und sich ihre
Geheimnisse über die Sonne in der Mitte der Erde zuraunten, wie die
Kontinentalplatten übereinander glitten wie rastlose Drachen. Wenn er
zurückkam, würde Hrafn ihm einen forschenden Blick zuwerfen und es ihm
ansehen – und ihn beneiden, sich dann noch mehr abkapseln, die Fassung
verlieren. Das war unausweichlich.
Nach dem Examen arbeitete Egill in einer Anwaltskanzlei im Þingholt-
Viertel, bis er genug Erfahrung gesammelt hatte, um sich selbstständig zu
machen. Er eröffnete mit zwei Kommilitonen eine eigene Kanzlei, sie
mieteten ein Büro in der Suðurgata und akquirierten Mandanten. Bei einem
der ersten Cocktailempfänge, die sie veranstalteten, traf er Hrafn. Über all die
Jahre hatten sie es vermieden, sich zu begegnen, aber Egill hörte den Namen
seines alten Freundes immer öfter, wenn es um Geschäfte ging.
»Dachtest du, du wärst noch mal davongekommen?«, sagte Hrafn und
reichte ihm die Hand. Sie begrüßten sich, und es stellte sich heraus, dass
Hrafns Bruder, ein Anwalt, eine Einladung bekommen hatte, aber verhindert
war und Hrafn hingeschickt hatte.
Hrafn behauptete, nicht gewusst zu haben, dass Egill einer der
Eigentümer der Kanzlei sei, aber Egill hatte das Gefühl, dass das gelogen
war – wie absurd es auch klingen mochte –, und verstand nicht, warum er ihn
anlog. Sie sprachen darüber, sich bald mal wieder zu treffen, um in
Erinnerungen an die »guten alten Zeiten« zu schwelgen, und angesichts
dessen, wie weit Hrafn es gebracht hatte, war Egill ziemlich neugierig, wollte
aber selbst nicht den ersten Schritt machen.
Kurz darauf trafen sie sich zufällig wieder, bei einem Ereignis, das sie
angeblich beide zutiefst verabscheuten, aber nicht umgehen konnten: beim
Junggesellenabschied eines gemeinsamen Bekannten. Am Abend landeten sie
betrunken im Vegas, einem Striplokal auf dem Laugavegur, wo Hrafn ihm
erzählte, seine Freundin habe ihn vor einer Woche rausgeschmissen, weil er
sie betrogen habe, und nun wohne er in einem Hotel und habe keine
Ahnung, was als Nächstes geschehen werde, bereue aber alles. Seinen
Bekannten stellte er Egill als seinen ältesten und besten Freund vor, später in
der Nacht sagte er, er liebe ihn und verzeihe ihm diese Sache, die »damals«
zwischen ihnen gestanden habe. Egill wusste nicht mehr, was er entgegnet
hatte, aber irgendwie endete der Abend zu Hause bei ihm und Anna, die
damals gerade bei ihm eingezogen war, und Hrafn schlief auf dem Sofa ein.
In den darauffolgenden Monaten trafen sie sich immer zu zweit, ohne ihre
Freundinnen, meistens donnerstags, und machten lange Spaziergänge
draußen am Leuchtturm, bei denen sie sich unterhielten und Zigarren
rauchten. Anschließend gingen sie essen, spendierten manchmal Mädchen an
Nachbartischen Drinks und landeten im Rex, wo sie Whisky bestellten und
sich volllaufen ließen.
Irgendwann konnte Egill sich ungefähr die Ereignisse zusammenreimen,
die in Hrafns Leben passiert waren, nachdem ihr Kontakt abgebrochen war.
Nach seinem ersten Entzug mit etwa zwanzig kehrte Hrafn der Unterwelt
den Rücken zu, kroch nach Hause ins elterliche Nest und wurde vom
Sicherheitsnetz aufgefangen, versprach das Blaue vom Himmel, und man
verzieh ihm alles – unter gewissen Bedingungen. Er hatte kein Abitur, was
zwar unvorteilhaft, aber keineswegs ein Einzelfall in der Familie war. Mit
seinem Drogenhandel-Hintergrund verstand er die Grundzüge des neuen
Marktdenkens, das zu jener Zeit das Land überrollte, besser als manch
anderer. Mit der Hilfe seines Vaters bekam er die Chance, sich in der
Reederei hochzuarbeiten, begann, Anzüge zu tragen, bei Einladungen die
Freunde seines Vaters zu treffen, deren Söhne zu treffen, das Kontaktnetz der
Familie zu nutzen, die anderen Familien neu kennenzulernen, und danach
ging alles sehr schnell.
Mit sechsundzwanzig kümmerte er sich vor allem um das Tagesgeschäft
der Firma, die mehrere Milliarden Kronen Umsatz im Jahr machte, und
obwohl sein Vater auf dem Papier immer noch Direktor war, mischte er sich
fast gar nicht in die Geschäfte ein. Hrafns älterer Bruder Geir kehrte nach
dem Jurastudium in Boston zurück nach Island, wurde Anwalt der Reederei,
hielt Meetings mit Parlamentsabgeordneten und Bankern ab und erledigte
die Formalitäten, als der Vater die Firma in die Hände seiner Söhne übergab
und immer mehr Zeit in Florida verbrachte. Obwohl die Brüder sich nicht
gut verstanden, florierte das Unternehmen, und sie verhielten sich endlich
standesgemäß: Sie besuchten Sitzungen bei der Handelskammer, beim
Exportrat, beim Reederverband, beim Arbeitgeberverband, nahmen am
Parteitag teil – allerdings nicht betrunken wie ihr Vater, obwohl sie nichts
gegen rauchgeschwängerte Hinterzimmer hatten und Geir ab und zu ein
Glas Cognac trank – und erfüllten damit die wichtigsten Anforderungen, die
man an isländische Unternehmer stellte.
Im Hinblick auf die Männer der Familie war das natürlich nicht
überraschend, dennoch hatte Hrafn etwas an sich, das wachsam blieb,
Abstand hielt und sich beruflich nicht komplett verausgabte, wie er Egill eines
Abends erzählte, ein knappes Jahr nachdem sie wieder angefangen hatten,
sich zu treffen, und betrunkener waren als je zuvor. Er sagte, er habe zwar nie
an sich gezweifelt, wisse aber, dass er auch mit etwas anderem als mit
Geschäften und Investitionen glücklich werden könne. Etwas in ihm zweifelte
am Geld, verachtete es sogar, war unendlich rastlos, und manchmal spielte er
mit dem Gedanken – wie früher bei den Fischerschuppen an der Ægisíða –,
doch noch Künstler zu werden.
»Fehlt dir nicht nur einfach was?«, scherzte Egill und klopfte ihm auf den
Rücken. »Vielleicht solltest du mal zur See fahren, die Angel auswerfen und
einen Fisch an Bord ziehen. Dich mit der Wirklichkeit verbinden.«
Doch es herrschten andere Zeiten; noch nie war es günstiger gewesen,
Kredite zu bekommen, und die Idee, das Geld für sich arbeiten zu lassen, war
Hrafn nicht fremd. Er wusste schon lange, wie viel sein Vater jährlich allein
an Zinsen bezahlte, aber die Größe der Kredite, die man ihm für geringe
Sicherheiten anbot, überraschte ihn. Hrafn und Geir setzten in Absprache
mit einem Steuerberater und einem Wirtschaftsexperten, die sie in der Firma
einstellten, Kapital frei und nahmen gegen die Sicherheit zukünftiger
Fangquoten Kredite auf, oder besser gesagt gegen die Sicherheit der Schiffe,
die die Quoten einholten, da Ersteres illegal war. Sie investierten in
isländische Banken und Holdinggesellschaften, in Immobilien in den
ehemaligen Ostblockstaaten, Telekommunikationsunternehmen, Transport,
Energie, gründeten ihre eigenen Holdings und sahen die entfernten Konturen
von etwas, das sie noch nicht richtig verstanden, das jedoch das neue
Marktdenken aussehen ließ wie einen Toaster neben einem Düsenjäger.
Indem sie Geld von einem Ort zum anderen transferierten, zwischen Konten,
zwischen Aktien, lernten sie, dessen Wert zu steigern; die Kunst bestand
darin, einen Geldteig anzurühren, ihn ruhen zu lassen und aufgehen zu
sehen, was so lange gut ging, wie niemand mit einer Tür knallte.
In jener Zeit wurde Egill selbst reich, aber obwohl er viel verdiente, schien
Hrafn immer zehnmal mehr zu besitzen. Er sagte, er ertrinke in Geld, habe
keinen Überblick mehr über seine Konten, träume von Wäldern aus Gold,
dass er Dagobert heiße, eine rote Rubinmütze trage und diamantene Hirsche
vor sein Auto spanne. Doch dann hörte er eines Tages auf, darüber zu reden,
wenn Egill ihn nicht mit Fragen löcherte. Plötzlich interessierte er sich nicht
mehr für Geld, erzählte, er habe eine Frau kennengelernt, was noch nicht
offiziell sei, aber sie sei die große Liebe seines Lebens. An einem
Donnerstagabend verkündete er schließlich, er mache einen Entzug –
nachdem er sich mit seiner heimlichen Freundin beratschlagt habe.
»Ich bin Alkoholiker, ein unkontrollierter Alki«, lallte er nach einem
Empfang in der kanadischen Botschaft bei einem Cocktail im 101 Hotel. Er
erzählte, er sei schon betrunken aufgewacht, erinnere sich nicht mehr, welche
Aktien er am Morgen in New York gekauft und verkauft habe, wäre aber
wahrscheinlich besser wieder ins Bett gegangen. »Vertrau mir niemals,
vertrau mir … niemals«, fügte er hinzu und sagte, er sei auf dem Weg zu
einer Therapie in Schweden.
Als Hrafn zurückkehrte, war alles anders. Er war mit Vigdís zusammen,
und Egill glaubte zu wissen, dass sie die heimliche Freundin von vorher war.
Der Leuchtturm und das Rex waren Geschichte, aber weil Egill ihn weiter
treffen wollte, seinen Freund sogar noch nie so dringend gebraucht hatte,
schlug er vor, Bergtouren zu machen. Hrafn war einverstanden. Sie bestiegen
die Esja, nahmen die Frauen mit, und bei einer dieser Wanderungen entstand
die Idee zu dem Hochlandtrip. Bei einer Firma, an der Hrafn beteiligt war,
konnte man sehr gute Geländejeeps leasen, und Hrafn schlug vor, sie sollten
alle gemeinsam eine Reise ins Hochland machen. Sie würden Verpflegung,
Zelte und Schlafsäcke mitnehmen, relaxen und nach dem Winter, der ihnen
allen zugesetzt hatte, neue Kräfte tanken.
Egills erste Reaktion war, zu sagen, er sei beschäftigt; er wollte
verhindern, dass Anna und Hrafn sich näher kennenlernten, und außerdem
fand er den Zeitpunkt merkwürdig. Alles in seinem Leben hatte sich
urplötzlich verändert, nicht zuletzt das Verhältnis zu Hrafn. Kurz zuvor hatte
er Hrafn um einen Kredit gebeten, der ihm helfen würde, diverse
Untersuchungen zu verhindern und ihn zumindest vorübergehend vor dem
Abgrund zu retten. Als Hrafn ablehnte, war Egill sich sicher, dass der
Verdacht, den er seit Hrafns Therapie hegte, richtig war: Er hatte alles
verloren, sie saßen beide im selben Boot, nur dass Hrafn es besser vertuschen
konnte. Andererseits war es durchaus möglich, dass Hrafn doch noch Geld
besaß, aber nur auf eins aus war: Rache.
Anna wollte unbedingt fahren. Sie sagte, sie habe genug davon, dass sie
sich abschotteten, genug von dem Neid auf Hrafn und alle, die nicht schon
komplett am Boden waren, genug von der Selbstzerstörung, dem Frust, dem
Trinken, und Egill hatte zunehmend das Gefühl, dass sich die ganze Sache
nicht vermeiden ließ. Einen Monat später verließen sie die Stadt, aber diese
Reise hätte nie stattfinden sollen, das wussten sie alle.
17 |
Er zerkrümelte den Joint zwischen den Fingern und sah die Glut über den
Sand fegen. Der umherwirbelnde Sand war wieder dunkler geworden, doch
die Röte und Weichheit setzten sich in seiner eigenen Brust fest, sein Herz
schlug schwer, aber nicht zu schnell.
Als er an der kleineren Tür der Lagerhalle vorbeiging – jener, die für
Menschen bestimmt war –, hatte er das Gefühl, dass sich etwas verändert
hatte. Lange blieb er vor der Tür stehen, stieß sie dann an und sah, wie die
Kette durch das Loch glitt und auf den Boden fiel. Wenn ihn nicht alles
täuschte …
Er ging zurück zu Hrafn und Vigdís, hatte sich eigentlich vorgenommen,
nichts zu sagen, machte aber sofort den Mund auf. »Die Lagerhalle ist offen«,
sagte er und versicherte ihnen, dass er sich nicht irrte. Sie standen auf und
folgten ihm zur Tür. Sie war offen. Hrafn beachtete die Tür kaum, sondern
bückte sich nach der Kette, die im Sand lag.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte er und musterte das Vorhängeschloss,
das sich nur um ein Ende der Kette schloss und nicht um beide, wie sie zuvor
gedacht hatten. »Das war vorher anders, ich hatte mir die Kette angeschaut.
Ich bin mir ganz sicher, dass das nicht so gewesen war.« Egill zuckte mit den
Achseln und sagte, er wisse es auch nicht.
Vigdís betrat die Lagerhalle, und Egill folgte ihr.
»Dürfen wir das?«, fragte sie, und Egill hörte sich selbst eine Ansicht
äußern, die ihm vernünftig vorkam, wie sehr sie auch seiner grundlegenden
Lebenseinstellung widersprach: dass Privatbesitz auf diesem Gelände ziemlich
lächerlich sei, oder jedenfalls unrealistisch, wenn jemand in Not gerate und
zu einem Haus komme, lasse er sich natürlich nicht davon abhalten, es zu
betreten, sonst würde er vielleicht vor der Tür erfrieren, was den Besitzer
bestimmt mehr stören würde als der Schaden durch einen Einbruch. Das war
nur so eine spontane Idee, doch sie hatte etwas zutiefst Menschliches, das ihn
zum Lächeln brachte.
In der Lagerhalle war es dunkel, nur hoch oben an einer Wand gab es ein
Fenster, durch das ein Lichtstrahl fiel. An der Decke zeichneten sich dicke
Querbalken ab, aber das Dach selbst konnte man nicht erkennen. Der Boden
war aus Sand, derselbe, der draußen gegen die Wand fegte. Egill trat in die
Mitte der Halle, die leer zu sein schien, zumindest stolperte er nicht und stieß
sich nicht den Kopf an einem Flugzeug oder einem Traktor oder einem
meterlangen, lackschwarzen Rennboot. Er kicherte leise.
Dank Hrafns Forscherdrang stellte sich heraus, dass die größere Tür der
Lagerhalle ebenfalls offen war, und dort war alles genauso: Das
Vorhängeschloss war nur am einen Ende der Kette befestigt. Mit
gemeinsamen Kräften öffneten sie die größere Tür, sodass mehr Licht in die
Halle fiel, obwohl es entlang der Wände immer noch dunkel war. Sie
vergewisserten sich, dass die Lagerhalle leer und außer ihnen niemand dort
war, setzten sich dann in die Türöffnung und warteten darauf, dass der Sturm
nachließ. Es war schon viel zu spät, um noch vor Einbruch der Dunkelheit
zur Askja zu gelangen, und sie hatten beschlossen, den weiteren Weg auf den
nächsten Tag zu verschieben.
»Der Wind wird sich bald legen«, sagte Egill, zog die Schuhe aus und
massierte seine Zehen. »Spätestens heute Abend, oder? Abends ist es immer
windstill.«
Vigdís bejahte. »Und wenn nicht, sollten wir zumindest mit Kompass und
Uhr den Weg zurück zum Haus finden. Ich will auf keinen Fall die Nacht
hier verbringen, egal, was passiert.« Sie holte die Signalraketen aus dem
Rucksack, und Egill und sie überlegten, ob sie wohl noch funktionierten.
Hrafn zog sich zurück und legte sich an der Wand in den Schatten. Er
murmelte etwas von Schlafen und wirkte leicht beleidigt.
Vigdís holte ihre Verpflegung heraus und fing an zu essen. Egill war es
unangenehm, so nah bei ihr zu sitzen, umgeben vom Brausen des Windes,
das einen geradezu nach der Nähe eines anderen Menschen lechzen ließ. Er
malte sich nicht zum ersten Mal aus, wie Vigdís wohl im Bett war; etwas
bedächtiger als Anna, der kleine Schmetterling, mit Brüsten, schweren
Brüsten, wie man so sagte, und bestimmt weinte sie manchmal vor Lust,
stöhnte tief und theatralisch, mit Schluchzern, sie ejakulierte vielleicht sogar
beim Orgasmus – sie spritzte.
Er konnte sich nicht erinnern, wann Spritzen zum ersten Mal thematisiert
worden war; mit Pornokategorien im Internet war es meistens so, dass er erst
auf etwas aufmerksam wurde, wenn er schon keine Lust mehr dazu hatte.
Vielleicht ging das allen so, und zweifellos sagte es etwas über den Sexualtrieb
aus. Spritzen hatte etwas Erotisches. Er erinnerte sich, zum ersten Mal
darüber gelesen zu haben, als er ungefähr zwanzig war, in einer erotischen
Schilderung aus dem achtzehnten Jahrhundert aus England, Fanny Hill,
Memoiren eines Freudenmädchens, und einmal hatte er betrunken mit einer Frau
geschlafen, die sich auf diese Weise ergoss. Bis dahin hatte er nicht richtig
geglaubt, dass das körperlich möglich wäre, und sich nie wirklich getraut, es
anzusprechen. Er las Feimnismál (auf Deutsch: Tabu) von Sigrún Davíðsdóttir,
der Korrespondentin des isländischen Fernsehens in London, das von einem
jungen isländischen Fotografen in New York handelte, der sich in eine ältere
Frau verliebte, eine Witwe, die auch Isländerin war. Egill las normalerweise
keine zeitgenössische isländische Literatur und wusste nicht mehr, wie er auf
das Buch gestoßen war, aber die Hauptperson »ejakulierte«, wie es in dem
Buch hieß. Er verstand nicht, woher die Flüssigkeit kam, sammelte sie sich in
den Eierstöcken? Und schoss dann beim Orgasmus durch den
Gebärmutterhals und die Vagina? Gab es ein Organ, das die Medizin
verschwieg, vielleicht sogar übersehen hatte – irgendein unentdecktes
Shangri-La, das sich unter normalen Umständen verbarg und sich auf dem
Höhepunkt der Befriedigung plötzlich zeigte?
Vigdís war fertig mit Essen, packte die Reste wieder ein und sagte, sie
wolle sich einen Moment »hinlegen«. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den
Türrahmen und schloss die Augen, ihre Bluse war am Hals aufgeknöpft,
sodass der Schatten zwischen ihren Brüsten zu erahnen war. Auf ihrer Stirn
und in ihrem Ausschnitt glänzten Schweißperlen.
Egill stand hastig auf, ging nach draußen und ließ den Blick über die
nähere Umgebung der Lagerhalle schweifen, bis zu dem Hügel, der das Dorf
wahrscheinlich im Winter vor dem kalten Nordwind schützte, und der
Brücke, die manchmal durch den wirbelnden Sand schimmerte. Ihm fiel auf,
dass auf ihrer Seite der Brücke kein Warnschild aufgestellt worden war, kein
Achtung – Lebensgefahr. Warum nicht?
Und wer türmte Knochen zu einer Pyramide auf? Die Antwort war
offensichtlich: dieselben Leute, die auch die Gänse, Schwäne und Rentiere,
Mäuse, Spatzen und Ratten und wer weiß was noch alles getötet hatten. Die
Geächteten. Danach hatten sie die Tiere entbeint, die Knochen zu einer
Pyramide aufgetürmt – wie Kohle auf einem Grill, sie konnten sich ja
schließlich nicht in einem Laden Grillkohle besorgen – und das Fleisch darauf
gegrillt.
Das Fleisch auf den Knochen gegrillt?
Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Er mochte dieses gruselige Gefühl
nicht, konnte es aber nicht verdrängen. Als er den Blick senkte, sah er, dass er
barfuß war, ging zurück in die Lagerhalle und holte die Kamera aus dem
Rucksack. Er warf einen verstohlenen Blick auf Vigdís’ Brüste und
schlenderte dann durch die Halle.
»Mal sehen«, murmelte er grinsend, drückte auf Aufnahme und überlegte
sich, dass der Film vielleicht, ganz vielleicht eines fernen Tages spannend sein
könnte, wenn alles überstanden und in der Erinnerung wie ein schlechter
Traum wäre.
Er ging tief in die Lagerhalle hinein, lehnte sich mit dem Rücken an die
Wand und spürte, wie breit er noch von dem Joint war. Dann richtete er die
Kamera auf die Tür, wo sich ein Häufchen abzeichnete, das Vigdís war.
»Ich befinde mich in einer Lagerhalle am nördlichen Rand des
Vatnajökull«, sagte er ins Mikrofon, »in einer der menschenfeindlichsten,
kargsten Gegenden der Welt. Und ja, genau, hier ist es anders als irgendwo
sonst. Wir kennen alle solche Adjektive wie sauer, die man manchmal für
eingelegte Innereien oder den Geruch in Bordellen benutzt, wo die Leute sich
länger nicht gewaschen haben, aber warum immer das andere Ende der pH-
Skala vermeiden? Die isländische Natur ist basisch, sie bewirkt, dass man die
Heldensagas gewissermaßen in sich aufsaugt …« Er sah etwas über den
Boden huschen und kurz vor ihm anhalten. Eine kleine Maus. Sie
schnupperte misstrauisch.
Er zoomte die Kamera von Vigdís nach unten auf die Maus. »Trotz allem
gibt es hier eine kleine Maus …«, machte er weiter, ohne eine Pointe zu
finden, mit kindlichem Erstaunen in der Stimme, für das er sich schämte.
Die Maus verschwand, und Egill ging wieder zur Tür, wo Vigdís den
Versuch zu schlafen aufgegeben hatte und in der Flora Islands blätterte.
»Und hier sitzt sie, die nicht schlafen kann. Was hältst du von einem
kurzen Interview zur Dokumentation für die Nachwelt, für die Zukunft? Sag
mir, Vigdís, wie lässt sich dein Job als Therapeutin damit vereinbaren, dass
du Mitglied bei den Naturfreunden bist, die umstritten sind, weil sie nackt
durchs Hochland reisen und während ihrer abendlichen Zusammenkünfte
der Freizügigkeit frönen?«
Vigdís schaute von ihrem Buch auf. »Wir sind natürlich alle gute
Freunde.« Sie grinste. »Hier in der Wüste sind wir frei und laufen mit
nackten Hintern herum. Hier können wir alle so sein, wie es uns bestimmt ist,
ungezähmt und frei.«
»Ich höre einen Hauch von Sarkasmus in der Stimme der Therapeutin,
gar eine unterdrückte Wut auf die Natur, nicht wahr?« Sie kicherten, und es
überraschte ihn, wie locker sie war, sie flirtete fast mit ihm. Vielleicht wegen
der Kamera.
»Sag mal, ich denke oft darüber nach, was mit dieser Nation nicht stimmt,
was glaubst du? Was läuft schief?«
»Ich weiß es nicht.« Sie klappte das Buch zu und wirkte nachdenklich.
»Ich habe letztens eine Statistik darüber gesehen, wie viele Isländerinnen sich
jedes Jahr nach einer Vergewaltigung an die Notaufnahme wenden. Um die
hundertfünfzig, in einem Gebiet mit dreihunderttausend Einwohnern. Das ist
proportional gesehen ungefähr dreimal so viel wie in den anderen nordischen
Ländern. Und Reykjavík steht bei einer Untersuchung der UN über
unmotivierte Gewalt auf städtischen Straßen an dritter Stelle, hinter zwei
Hafenstädten in der Dritten Welt.«
»Ich verstehe. Genau dazu habe ich eine Theorie, warum die Gesellschaft
so verkommen ist, warum Frauen hier wie in irgendeiner
heruntergekommenen Hafenstadt vergewaltigt werden und niemand sich
darum kümmert, weder die Politiker noch die Medien. Möchtest du meine
Erklärung hören?« Vigdís nickte. »Ich hab das auch nie verstanden, bis ich
eines Nachts durch die Stadt lief. Wenn du nachts am Wochenende über den
Laugavegur gehst, siehst du die Erklärung für alles, was in Island passiert –
der Suff. Stell dich um drei Uhr samstagnachts an die Ecke Laugavegur und
Skólavörðustígur und sieh dich mal um: Das ist wie in einem Zoo, in dem
man alle Käfige aufgesperrt hat, den Tieren einen Klaps auf den Hintern
gegeben und sie rausgetrieben hat, damit sie irgendeinen Scheiß anstellen
können – sie haben keine Ahnung, was, sehen aber so aus, als würden sie das
ganz bestimmt noch herausfinden.«
»Ich war selbst schon dabei«, entgegnete sie lächelnd, sodass ihre geraden
weißen Zähne aufblitzten. »Und was hast du da gemacht, einen
Spaziergang?«
»Jedenfalls hab ich niemanden vergewaltigt! In jeder kultivierten
Gesellschaft würde man einen solchen Zustand als Unruhen bezeichnen, da
ständen an jeder Ecke Polizisten und würden die Straßen mit Wasserwerfern
und Tränengas räumen. Die isländische Nation ist in der Gewalt von
Säufern – die Verwaltung, die Banken, die Politik, die Tankwarte sind
entweder verkatert oder planen gerade das nächste Besäufnis, die Kassiererin
im Supermarkt, der Kundenberater, dein Rechtsanwalt, der Kerl an der
Kasse im Baumarkt, der Typ von der Hotdog-Bude, die Verkäuferin im
Buchladen, alle besoffen oder gerade kurz davor. Und diejenigen, die es nicht
sind, wollen die Weltherrschaft übernehmen, schwafeln im Internet oder bei
Treffen der Jungen Konservativen oder bei den Jungen Sozialdemokraten
dummes Zeug. Dann gibt es noch zwei, drei, die in einem verschlafenen
Vorort wie Mosfellsbær wohnen und chillen, basteln, Steine bemalen und so.
Und nie was über unsere Gesellschaft sagen werden.«
Vigdís lachte und fragte, ob er über sich selbst spreche. »Weißt du, worin
der Unterschied zwischen den Geschlechtern besteht?«, fügte sie hinzu.
»Wenn ein Mann sein Glas auf den Boden fallen lässt, verflucht er das Glas,
und wenn einer Frau genau dasselbe passiert, verflucht sie sich selbst.«
»Eben! Wie soll man das nur begreifen?«, konterte Egill. Ein Geräusch
drang aus der Lagerhalle, und kurz darauf tauchte Hrafn in der Dunkelheit
auf. Egill schwenkte die Kamera von Vigdís weg, überlegte, sie auszuschalten,
richtete sie aber stattdessen auf Hrafn.
»Hallo«, sagte Vigdís.
Hrafn antwortete nicht, ging zu ihnen und spähte hinaus in den
Sandsturm. »Sollen wir uns mal aufmachen?«, fragte er und holte seine
Zigarettenschachtel heraus.
»Die Sicht ist zu schlecht«, antwortete Vigdís. »Wie du zweifellos selbst
siehst … Hast du gut geschlafen?«
Er schüttelte den Kopf und stieß mit dem Zeh gegen die Tüte, in der
Vigdís die Signalraketen aufbewahrte. »Ich konnte nicht schlafen.« Er
zündete sich eine Zigarette an, und Egill zoomte ihn näher heran, ohne zu
wissen, warum, vielleicht wollte er ihn einfach nerven. »Nimm die
Scheißkamera aus meinem Gesicht«, sagte Hrafn, ohne ihn anzusehen.
»Sei doch nicht so miesepetrig, Hrafn«, maulte Vigdís, und Egill
schwenkte die Kamera wieder auf sie. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, geht schon. Sollen wir nicht mal eine von diesen Signalraketen testen?
Wäre besser, wenn wir wüssten, ob sie funktionieren«, sagte er, wobei er und
versuchte, sich zusammenzureißen. Doch die altvertraute Verbitterung war
immer noch da, was Egill instinktiv wusste – nur besser getarnt, nachdem sie
das Zwölf-Schritte-Programm durchlaufen hatte, die Höhere Macht, oder wie
das hieß.
»Damit die Alte kommt und uns rettet?«, fragte Egill, und Vigdís grinste.
Sie hatte offenbar beschlossen, sich auf seine Seite zu stellen.
»Mann, seid ihr ätzend«, sagte Hrafn. »Ich würde halt lieber was machen,
als nur hier rumzusitzen und Löcher in die Luft zu starren. Ich will
zurück …«
»Na, dann geh doch«, konterte Vigdís wütend. Sie stand auf. »Wir
bleiben jedenfalls noch hier! Oder meinst du etwa, wir würden dich
begleiten … nachdem du uns vorgeworfen hast, wie ätzend wir sind? Was
hast du denn erwartet?«
»Du hast mich doch als Miesepeter bezeichnet! Ich konnte nicht schlafen.
Es nervt, euch zuzuhören. Ihr lacht die ganze Zeit, ihr seid wie Kinder bei
einem Pseudobesäufnis.«
Egill blickte von einem zum anderen und bemühte sich, die Kamera ruhig
zu halten. Von der Decke der Lagerhalle hallte das gedämpfte Echo ihrer
Worte.
»Haben wir das nicht schon diskutiert, bevor wir losgefahren sind?«, sagte
Vigdís. »Du gehst dir selbst auf die Nerven und gibst uns die Schuld daran.
Du bist ein erwachsener Mann, also benimm dich nicht wie ein kleines
Kind!«
Hrafn stapfte ein Stück in die Halle hinein, biss die Zähne zusammen und
stürmte dann wieder zurück. »Ich benehme mich wie ein kleines Kind? Ich
sitze schließlich nicht hier und flirte mit der Freundin meines Kumpels! So
geht das schon während der gesamten verfluchten Reise! Was erwartest du
denn? Was soll ich eurer Meinung nach tun?«
»Liebling …«, setzte Vigdís an, verstummte jedoch, als Hrafn ihr ins Wort
fiel.
»Ja, ich weiß, ich bin müde. Vielleicht bilde ich mir das auch alles nur ein,
aber ich glaube nicht. Zumindest nicht, was dich betrifft, wie du sie
anschaust.« Er hatte sich zu Egill gedreht. »Warum gaffst du sie so an?
Denkst du etwa, ich merke das nicht? Bist du schon so dumpf vor
Selbstmitleid, vor Angst um dein kleines Leben …«
»Wovon redest du?«, fragte Egill und ließ die Kamera sinken, doch Hrafn
riss sie ihm aus der Hand und schleuderte sie durch die Tür, wo sie
geräuschlos vom Sandsturm verschluckt wurde.
»Und hör auf, über meine Freundin zu reden, als wolltest du was von ihr.
Als wüsstest du sie zu schätzen und ich nicht, als hättest du sie verdient und
ich nicht! Hör auf, um sie herumzuscharwenzeln und ihr die Ohren
vollzuheulen, als wäre sie die Mutter, die du nie hattest, hör auf, alles zu
missbrauchen, was in deine Nähe kommt …«
»Jetzt reicht’s aber echt, Mann.« Egill hob resigniert die Arme und musste
dabei an die Maus und ihr kleines, sicheres Loch denken.
»Du weißt genau, wovon ich rede. Typisch, dass du so tust, als wüsstest du
es nicht. Oder besser gesagt: als wäre es dir egal. Du hast doch so viel
Selbstmitleid, dass du gar nicht begreifen kannst, dass andere vielleicht auch
leiden oder Schwierigkeiten haben …«
»Natürlich ist mir das nicht egal! Wenn du das nicht weißt, dann kennst
du mich aber schlecht. Es tut mir leid, was damals passiert ist, mit dem
Mädchen. Ich hab mich dafür entschuldigt. Und es tut mir leid, wenn ich
irgendwas gemacht habe oder – wie soll ich sagen: zu viel mit deiner
Freundin geredet habe? Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?«
»Wovon sprecht ihr eigentlich?«, fragte Vigdís und schaute sie
abwechselnd an.
»Zu viel mit meiner Freundin geredet?«, sagte Hrafn ironisch und ließ Egill
nicht aus den Augen. »Wann hab ich das denn gesagt? Du kapierst nichts, du
kannst überhaupt nicht mit anderen kommunizieren. Du schlurfst die ganze
Woche durch die Gegend, jammerst rum, du wärst total am Boden, und
machst alle anderen fertig oder stehst vor lauter Selbstgefälligkeit über den
Dingen …«
»Du hast ja offenbar zu allem eine Meinung. Aber ich sag dir eins, so was
hab ich noch nie gemacht … ich hab noch nie über jemanden so hässlich
geredet wie du gerade über mich. Über niemanden. Du sprichst nicht gerade
freundlich über den Mann, der dein ältester Freund ist, aber anscheinend
nicht dein bester …«
»Och nö«, lachte Hrafn. »Du Armer, alle reden so schlecht über dich.
Wer hat denn seine Freunde beleidigt und ist beim Laternenpfahl
eingepennt? Wer hat sich denn gestern Abend beim Essen wie der letzte Idiot
benommen? Und vorgestern und vorvorgestern? Der kleine, liebe Egill?«
»Du kapierst nichts, Hrafn, du kapierst gar nichts«, setzte Egill an, spürte
die Wut wie eine Maske auf seinem Gesicht und ein Feuer, das aus ihr
hervorbrechen und in seine geballten Fäuste schießen wollte.
»Und was hast du letzte Nacht gemacht? Wo ist der Fotoapparat, Egill?
Hast du ihn im Wagen gefunden, bevor du besoffen eingepennt bist? Hast du
sie fotografiert? Wolltest du dir was holen, von dem du wusstest, dass du es
nur kriegst, wenn du es stiehlst?«
»Ich weiß nichts über dieses Foto. Das ist Unsinn, und das weißt du
auch …«
»Warum hast du versucht, es zu verstecken?«
»Um dich zu schützen! Und weil ich wusste, dass du mir nicht glauben
würdest.«
»Du lügst. Wer soll es denn sonst gewesen sein? Hier ist niemand außer
dir«, erwiderte Hrafn, hob den Finger und bohrte ihn in Egills Brustkorb,
einmal, zweimal. »Kein Feigling außer dir. Du bist ein Feigling, Egill, schon
immer gewesen …«
»Du bist auch nicht viel besser«, entgegnete Egill und wich vor ihm
zurück, spürte, wie die Wut zu Taubheit wurde, seine Muskeln waren schwer,
und seine Haut hing dick und feucht an ihm. »Schließlich hab ich den Wagen
nicht zu Schrott gefahren. Und apropos gestern, da war ich ja wohl nicht der
Einzige, der die Beherrschung verloren hat! Wie viel Gras hast du eigentlich
geraucht? Du klingst jedenfalls verdammt breit. Behauptest einfach, ich
würde meine Freunde schlecht behandeln, dabei entschuldige ich mich
wenigstens, wenn ich jemandem unrecht getan habe! Und ich lüge meine
Freundin nicht an.«
»Jetzt kommt mal wieder runter«, beschwichtigte Vigdís. Ihre Stimme
klang so, als wäre sie sehr weit entfernt.
»Noch ein Wort, du Schwein«, zischte Hrafn, packte Egill am Hals und
drückte den Kragen seines Hemdes zusammen. »Das sagst du nicht noch
mal, so redest du nicht mit mir vor ihren Augen, du mieses Arschloch …«
Egill tastete nach Hrafns Händen, zerrte und kratzte daran, doch bei
jeder Bewegung fühlte er sich noch tauber. Vigdís versuchte, sich zwischen sie
zu drängen, er vernahm ihren Geruch, leicht und feminin, sah, wie sich
Hrafns Mund bewegte, seine Worte schrill und dröhnend, während zugleich
alles hell und glänzend wurde. Er war nicht gut in Form, dachte er, hatte sich
in letzter Zeit zu sehr gehen lassen, sein Körper war benommen …
Dann löste Hrafn seinen Griff. Egill würgte, saugte rasselnd Luft in die
Lungen, und die Geräusche waren wieder da, das Echo vom Dachstuhl, der
Wind. Vigdís umfasste seine Schultern, fragte ihn, ob es ihm gut gehe, er
richtete sich auf und lachte; meistens lachte er, wenn alles schiefging, konnte
sich nicht erinnern, je aus einem anderen Grund gelacht zu haben, zumindest
nicht so herzlich wie jetzt, tief aus dem Bauch heraus. Er sah, wie Hrafn die
Lagerhalle verließ, durch die große Tür, die nicht für Menschen bestimmt
war. Vigdís rief ihm etwas hinterher, drehte sich dann zu Egill und fragte, ob
sie ihn für einen Moment allein lassen könne. Er bejahte und sah, wie sie im
wirbelnden Sand verschwand und auf die Brücke zusteuerte.
Egill ließ sich auf den Boden fallen, zündete sich eine Zigarette an und
wurde von einem starken und intensiven Überdruss gepackt, er selbst zu sein,
in diesem Charakter festzustecken, den er nicht mehr verstand und mit dem
er nichts gemein hatte. Aber hatte das alles nicht auch etwas Edles, Kühnes,
Wikingerhaftes? Sie waren durch seine Schwächen aneinandergekettet,
wussten zu viel voneinander, um es ausposaunen zu können, hatten zu viel zu
verlieren. Bis vor Kurzem zumindest.
Er legte sich auf den Rücken, schloss die Augen und hörte das Getöse
eines unvorstellbar großen Ungetüms, das über die Sandflächen kreiste, sie
beobachtete und abwartete.
VIGDÍS – 18 | Der Minotaurus
Sie tastete sich über die Brücke, mit dem Wind im Rücken, und rannte dann
in das Sandgestöber. Zwanzig, dreißig Meter vor ihr, wo der wirbelnde Sand
zu einer schwarzen Wand wurde, sah sie einen Schimmer von Hrafn. Mal
verschmolz er mit der Wand, mal befand er sich nur halb in ihr.
»Hrafn! Warte!« Der Sand rauschte in ihren Ohren und flog und wirbelte
um sie herum. Zügig näherte sie sich Hrafn, doch selbst als sie nur noch ein
paar Meter von ihm entfernt war, schien er weder ihre Rufe zu hören, noch
wurden seine Umrisse schärfer.
Sie rannte das letzte Stück, streckte die Hand aus und wollte ihn gerade
berühren, als er sich auflöste und verschwand. »Na, so was«, murmelte sie,
blieb stehen und fasste sich an den Kopf, als wolle sie sich vergewissern, dass
sie selbst auch wirklich da war. Nach kurzer Überlegung beschloss sie, nicht
zur Lagerhalle zurückzugehen, obwohl das relativ einfach wäre: Wenn sie
direkt gegen den Wind liefe, käme sie wieder zur Schlucht und nach ein paar
Minuten flussauf- oder flussabwärts zurück zur Brücke und von dort zur
Lagerhalle. Aber sie wollte nicht mit Egill alleine sein.
Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und wickelte sich das Halstuch um Mund
und Nase. Ohne die Brille brannte der Sand in den Augen, sodass sie nur ein
paar Meter weit sehen konnte.
Nach ihren Berechnungen brauchte man vom Haus bis zur Schlucht
ungefähr eine halbe Stunde. Wenn sie auf die Uhr schaute und nach
Nordosten ging, musste sie auf das Haus treffen, und mit ein bisschen Glück
begegnete sie unterwegs Hrafn – um ihn zu beschimpfen oder zu retten,
darüber war sie sich noch nicht ganz im Klaren.
Sie machte sich auf den Weg, fand schnell ihren eigenen Gehrhythmus
und versuchte, nicht weiter nachzugrübeln. Der Sand kroch in ihren Kragen,
ihre Ärmel und Hosenbeine und juckte an den von ihrem gestrigen
Toilettenexperiment geröteten Stellen an den Schenkeln.
Bruchstücke des Streits gingen ihr durch den Kopf. Wenn Hrafn etwas
geraucht hatte, war das ein Rückfall, was sie nicht wirklich überraschte nach
dem Ärger zu Hause in den letzten Monaten. Egills Worte über »das
Mädchen« bezogen sich wahrscheinlich auf ein Ereignis aus Egills und
Hrafns Jugendzeit. Hrafn hatte ihr mal von seiner ersten großen Liebe
erzählt, einem Mädchen, mit dem er im Alter von siebzehn oder achtzehn
Jahren zusammen war. Für die Männer, die in ihre Praxis kamen, war es
nicht ungewöhnlich, dass sie ihre erste große Liebe wie ein kleines
Schoßhündchen mit den Defiziten ihrer jetzigen Partnerinnen fütterten, sich
in Selbstmitleid suhlten und spürten, wie die Nostalgie mit dem Schwanz
wedelte, schmerzlich und schön zugleich jaulte, wie das Mädchen immer
reiner, ihre Liebe immer unbefleckter und schöner wurde und mythische
Dimensionen annahm. Und die Rolle der Partnerin, genau wie bei Vigdís,
war die des Abbilds: nicht unbedingt schlecht, aber minderwertiger,
bodenständiger, mütterlicher. Hrafn hatte durchblicken lassen, dass die
Beziehung ernst gewesen, aber zu Ende gegangen sei, weil er nicht mit dem
Mädchen schlafen konnte, woraufhin er versucht hatte, seine Scham durch
erhöhten Drogenkonsum und das Vergessen ihres Namens zu kompensieren.
Doch er hatte nie etwas über Egills Rolle bei der ganzen Geschichte erwähnt.
Etwas tauchte im Sandgestöber auf, grau und stromlinienförmig. Als
Vigdís näher kam, sah sie, dass es ein Auto war. Sie war froh, den Blick auf
etwas heften zu können, das nicht in ständiger Bewegung war. Als sie mit den
Fingern über die Karosserie strich, blätterte der Lack ab, vom Sand
geschliffenes Blech, dessen Formen ihr vertraut waren. Alle Fensterscheiben
schienen heil zu sein.
Sie spähte auf der Fahrerseite durchs Fenster, sah aber nichts Besonderes,
öffnete die Tür, stieg schnell ein, damit der Wagen sich nicht mit Sand füllte,
und knallte die Tür hinter sich zu. Sie keuchte vom Laufen und atmete laut in
der Stille des Wagens. Dann setzte sie die Brille ab und wickelte das Tuch
vom Gesicht, knöpfte ihre Bluse auf und wischte sich den gröbsten Sand ab.
Aus alter Gewohnheit blickte sie in den Spiegel, aber die Fassung des
Rückspiegels war leer, und die beiden Seitenspiegel fehlten ebenfalls.
Sie zündete sich eine Zigarette an und öffnete das Handschuhfach, damit
sie sich nicht länger ausmalen musste, was darin lag. Es war leer, bis auf das
Wartungsheft, das nicht ausgefüllt war. Der Wind prallte frontal gegen das
Auto und schaukelte es sanft. Die Sicht war noch genauso schlecht wie
vorher, und wenn man direkt in den Wind schaute, sah man keine
Sandkörner mehr, sondern nur noch ihre Andeutung. Als Vigdís den Mund
bewegte, knirschte der Sand zwischen ihren Zähnen.
Sie rauchte die Zigarette bis zum Filter und legte die Kippe auf das
Armaturenbrett. Das Auto war fünfzehntausend Kilometer gefahren, was
nicht besonders viel war. Nicht genug, um es einfach in der Sandwüste stehen
zu lassen, oder?
Das meiste, was sie über Hrafn wusste, über sein Innenleben, hatte sie bereits
während der ersten Monate ihrer Beziehung erfahren, als er noch bei ihr in
Therapie gewesen war. Er erklärte damals, er sei Alkoholiker, habe kürzlich
wieder angefangen zu trinken und könne nicht schlafen; der Alkohol
verschlimmere alles in seinem Leben, aber da sei noch mehr, tief im Inneren
verspüre er ein Unbehagen oder eine Unruhe, die ihn schon lange begleite
und vermutlich auf einer Erinnerung beruhe, einem Ereignis, das vor langer
Zeit passiert sei, dem er sich aber nicht annähern könne.
»Es könnte gefährlich sein, sich diesem Ereignis eigenständig
anzunähern«, gab Vigdís zu bedenken, und sie begannen, sich einmal in der
Woche zu treffen. In der darauffolgenden Zeit beschrieb er ihr sein Leben:
wie er schon als Kind heftige Wutanfälle hatte und Fernsteuerungen gegen
die Wand schleuderte, Elektrogeräte kaputt machte, Bücher zerriss,
Seitenspiegel von Autos trat und – nachdem er angefangen hatte zu dealen –
manchmal brutal zuschlug, einem Jungen ein Bierglas ins Gesicht knallte,
wonach dieser völlig entstellt war, Leuten ins Gesicht trat, ihnen die Knochen
brach, sie bewusstlos schlug, mit dem Messer auf sie einstach. Mit den Jahren
war er zwar ruhiger geworden, glaubte aber, dass er die Wut jetzt nur besser
gegen sich selbst richten oder unterdrücken konnte. Manchmal erging er sich
in erbitterten politischen Tiraden über die unfähige isländische Elite, ihre
Gier und Unmoral – wobei Letztere für ihn eine neue und zerstörerische
Dimension erreicht hatten – und manchmal sagte er, das treffe auch alles auf
ihn selbst zu, die Wut und die Scham über seinen eigenen Job gingen
ineinander über.
Er schien einen Widerwillen gegen enge Räume zu haben und klagte auf
ihrem Sofa häufig über Platzangst, setzte sich auf und riss sich abrupt die
Krawatte vom Hals, einmal schleuderte er sie auf den Boden und öffnete den
obersten Knopf seines Hemdes. Nach einem Monat gab es einen
tiefgreifenden Einschnitt, als ihm einfiel, dass er lange Zeit Bettnässer
gewesen war, ab seinem elften Geburtstag. Er erinnerte sich an die Scham
und wie er mitten in der Nacht aufgewacht war, das Bettzeug abzogen und in
die Waschküche gebracht hatte, und an die Wut seines Vaters, als es zum
ersten Mal herauskam, eine Riesenwut, die Hrafn mit dem Bettnässen in
Verbindung brachte, wobei er sich aber nicht ganz sicher war.
Vigdís war davon überzeugt, dass sie auf der richtigen Spur waren und
dass Hrafn wahrscheinlich recht hatte: Etwas hatte sich tief in ihn
eingegraben, verspritzte Gift und manifestierte sich am deutlichsten in seiner
Sexualität, die von Anfang an gestört gewesen war. Sein erstes Mal fand »in
einem kleinen, dunklen Raum« statt, wie er es formulierte, und obwohl er
betrunken war, bekam er Panik und Platzangst, wodurch er seine Erektion
verlor. Trotz vieler Versuche erlebte er offenbar erst mit weit über zwanzig
mit einer Frau einen Orgasmus. Sex weckte in ihm eine tiefsitzende Angst,
die er bei Männern für normal hielt und als »Leistungsdruck« bezeichnete. Es
stellte sich heraus, dass er, bevor er sich Hilfe suchte, zahlreiche Beziehungen
zu Frauen gehabt hatte, die meist nach ein paar Wochen endeten, wenn er
das Gefühl hatte, dass sie ihn unter Druck setzten, mit ihnen ins Bett zu
gehen. Er sagte, er könne sich nicht vorstellen, regelmäßig über einen
längeren Zeitraum mit demselben Menschen Sex zu haben. Er hatte eine
Abneigung gegen Sex im Dunkeln oder bei zu hellem Licht, am Morgen, spät
in der Nacht oder direkt nach den Nachrichten, in einem zu kleinen oder zu
großen Bett, im Keller, im Parterre, in einem fensterlosen Raum oder im
Dachgeschoss, mit einer Frau, die zu große oder zu kleine Brüste hatte, zu
leidenschaftlich oder zu kühl war. Manchmal empfand er eine nahezu
unerträgliche Angst, wenn er mit jemandem schlief, als sei er ganz allein auf
der Welt, die Wände kamen auf ihn zu und schlossen sich über seinem Kopf.
Er sagte, Sex habe ihn immer von Menschen isoliert, von allen, die er liebte.
Obwohl die Impotenz mit den Jahren nachließ, war sie immer präsent,
was dazu führte, dass er sich Entschuldigungen ausdachte, bevor er mit einer
Frau ins Bett ging, ihr sogar die unglaublichsten Dinge vorlog, beispielsweise
dass er auf der Toilette in der Bar, in der sie sich getroffen hatten, onaniert
habe, noch am selben Morgen mit seiner Exfreundin geschlafen oder sich
tagsüber körperlich beim Sport verausgabt habe, wobei es ihm egal war,
wenn die betreffende Frau ihn daraufhin verließ.
Als er das gestand, war er völlig aufgelöst und brach in Tränen aus, wurde
dann furchtbar wütend, und die restliche Zeit der Therapiesitzung
verbrachten sie damit, ihn zu beruhigen. Zu Beginn der nächsten Stunde
sagte er, er habe »über die Sache nachgedacht«, also warum sein Leben so
»angstbesetzt« und »missglückt« sei. Er sprach mit distanzierter Stimme und
schaute Vigdís nicht ins Gesicht, als wolle er nicht Gefahr laufen, erneut
zusammenzubrechen. Dann erzählte er ihr von den epileptischen Anfällen,
die mit etwa elf Jahren angefangen hatten und deren Ursache er nicht
verstand. Seine Eltern konnten sich nicht daran erinnern, aber ein Arzt, den
er mal bei einer Einladung kennengelernt hatte, erzählte ihm, Epilepsie bei
Kindern sei manchmal eine körperliche Reaktion auf einen Schock. Er hatte
ein oder zwei Jahre lang epileptische Anfälle, bis er anfing zu trinken und der
Alkohol sie zu dämpfen schien. Als er dem Alkohol entsagte, kamen die
Anfälle nicht wieder, als hätten sie sich irgendwo in seinem Inneren verloren.
Einmal verglich er sie mit dem Minotaurus, halb Mensch, halb Tier,
eingesperrt in ein Labyrinth, das König Minos gebaut hatte, um seine
Schande zu kaschieren.
Das Gespräch über die epileptischen Anfälle war jedoch nur die Vorrede
zu seinem Geständnis, er sei vor ein paar Tagen bei Stígamót gewesen, einer
Beratungsstelle für Opfer von sexueller Gewalt. Er erzählte, er habe in einem
Café vor dem Zeitungsregal gestanden, sei auf eine Broschüre der
Beratungsstelle gestoßen, habe sie durchgeblättert und prompt sein Handy
herausgeholt, die Nummer eingetippt und einen Gesprächstermin vereinbart.
In der Nacht vor dem Termin wurde er krank, erbrach sich und bekam
Fieber, konnte nicht selbst zu Stígamót fahren, zwang sich aber, ein Taxi zu
nehmen. Auf dem letzten Stück zur Tür blieb er bei jedem Schritt stehen,
und seine Muskeln erschlafften, so als könne er – oder sein anderes Ich –
nicht durch diese Tür gehen. Im Büro im ersten Stock stand er vor einer
Frau, die um die fünfzig und »in keiner Weise ungewöhnlich« war, aber er
nahm sie als Erwachsene und sich selbst als Kind oder Kranken wahr. Er
sagte ihr, er sei sich nicht sicher über den Grund für den Termin, äußerte
diverse Vorbehalte gegenüber »dem, was geschehen sei«, doch die Frau
versicherte ihm, dieses Zögern sei normal und sie hätten genug Zeit. Darauf
fiel er ihr ins Wort und sagte, er sei nicht da, um jemanden zu beschuldigen.
Sie entgegnete, das verstehe sie gut, und bat ihn, ihr zu erzählen, was passiert
sei, und falls er damit Schwierigkeiten habe, könne er einfach raten, das sei
oft der erste Schritt – was er irgendwie lustig fand, aber er lachte nicht laut
auf.
Dies war zwar nicht der eigentliche Kern der Geschichte, aber der
Rahmen, die Einleitung, die anscheinend eine gewisse Rolle spielte, die
Vigdís nicht sofort verstand. Unter dem Vorbehalt, das beruhe alles auf
Vermutungen, die er gegenüber »der anderen Frau« geäußert habe, erzählte
er Vigdís schließlich, was passiert war.
Hrafn war elf Jahre alt. Eines Tages nach der Schule trennte er sich auf
dem Schulhof von seinem Freund und ging hinüber zum Kiosk, wo er sich
manchmal Süßigkeiten kaufte. Danach lief er nach Hause, bis er zwei älteren
Jungen begegnete, die er kannte – sogenannte Randalierer, die bei den
jüngeren Kindern im Viertel berüchtigt waren. Sie hingen an der
Bushaltestelle herum und rauchten. Der eine, der ihn mal verprügelt und ihm
die Mütze geklaut hatte, als sie jünger gewesen waren, sprach ihn jetzt
lächelnd an, als wären sie Freunde. Von dem anderen Jungen hieß es, er
habe mal jemandem eine Zigarette auf dem Handrücken ausgedrückt. Er
hatte eine hässliche, verzerrte Visage und redete nicht viel, doch als er etwas
sagte, wurde es Hrafn mulmig, denn er sprach über ihn, ohne ihn dabei
anzuschauen, richtete seine Worte immer an seinen Freund und lachte
ständig, fand irgendwas furchtbar witzig, das Hrafn nicht begriff.
Der Erste, der Hjalti hieß, bat Hrafn, sie ins Viertel zu begleiten und
ihnen bei etwas zu helfen, das Hrafn vergessen hatte, er bekomme auch etwas
dafür bezahlt. Hrafn zögerte, gab dann aber klein bei und ging mit. Hjalti
redete viel, während der andere nur lachte und Worte einwarf, die Hrafn
nicht verstand. Wahrscheinlich wirkte er verschüchtert oder sagte, er habe
Angst, jedenfalls legte Hjalti ihm die Hand auf die Schulter und erklärte
ihm – nicht unfreundlich – etwas, was der hässliche Junge gesagt hatte.
Sie erreichten den Hinterhof unterhalb des Kiosks und durchquerten ihn.
Hrafn sah einen Jungen aus seiner Klasse mit einem jüngeren Fußball spielen
und hatte das Gefühl, sie wären in weiter Ferne und er könnte nicht zu ihnen
gelangen, wie sehr er es auch versuchte. Er stellte eine Frage, woraufhin man
ihm versicherte, es sei nicht mehr weit. Der nächste Hinterhof war leer und
hatte keinen Fußballplatz in der Mitte. Sie gingen zu einer Ecke, zu einem
Treppenhaus, dessen Tür offen stand, und stiegen die Treppe hinauf, Hjalti
voran und die anderen ihm nach. Hrafn hatte Angst, wollte aber nicht, dass
sie es merkten, dann würden sie ihn auslachen und etwas Schlimmes würde
geschehen. Stattdessen wollte er ihnen gehorchen und machen, was sie
verlangten, und dann schnell wieder raus und nach Hause. Sie kamen zu
einer Tür, vermutlich im ersten Stock, die nicht abgeschlossen war, gingen
rein und zogen die Tür hinter sich zu. Im selben Moment fing Hrafn leise an
zu weinen, sagte, er wolle raus, aber die Jungen lachten und versperrten ihm
den Weg zur Tür.
Die Wohnung war leer und still, doch der böse Junge rief etwas, führte
Hrafn dann in einen Flur und zu einer Tür an dessen Ende. Hinter der Tür
hörte man ein Wummern wie von einem Bass, gleichmäßig und tief, und
Schritte, die sich der Tür näherten.
Dort endete die Geschichte. Hrafn entschuldigte sich bei der Frau, sagte,
er wisse nicht, was danach passiert sei, und wolle ihre Zeit nicht mit
Vermutungen vergeuden. Dann eilte er hinaus, lief die Hverfisgata hinunter
und stand plötzlich auf den Felsblöcken an der Sólfarið-Skulptur und sah zu,
wie die Wellen mit beruhigendem Flüstern auf- und abrollten.
In den darauffolgenden Wochen wiederholte Hrafn die Geschichte bei
seinen Gesprächen mit Vigdís, jedoch stets mit dem Vorbehalt, so habe er sie
»der anderen Frau« erzählt. Trotz aller Warnhinweise über Vermutungen
veränderte sich die Geschichte im Lauf der Zeit fast gar nicht; von Anfang an
war sie wie in Stein gemeißelt, und trotz diverser Ermunterungen von Vigdís
kamen sie am Ende nie durch die Tür. Aus dem Zusammenhang ging
deutlich hervor, dass der Grund für seinen Besuch bei Stígamót hinter dieser
geschlossenen Tür lag, und Hrafn hielt es für »wahrscheinlich«, dass sich der
Ursprung seiner sexuellen Probleme, seiner Angst und alles, wofür er »sich
schämte«, dahinter befand. Selbst bei einer Entspannungshypnose bekam
Vigdís nicht mehr aus ihm heraus als vages Gerede über Dunkelheit und rote
Glut, aus der nie mehr wurde. Nichts nahm Gestalt an, nichts kam hinzu,
und wenn sie ihn bedrängte, griff Hrafn zum letzten Ausweichmanöver, das
immer dasselbe war: Letztendlich sei er sich nicht sicher, ob überhaupt etwas
passiert sei.
Immerhin schien dieses Erinnern einen guten Einfluss auf sein Leben zu
haben, seine Gefühlsschwankungen ließen nach, und er meldete sich zu
einem Alkoholentzug an. Doch Vigdís war nicht überzeugt. Unter der
Oberfläche gab es etwas, das sie an der ganzen Sache störte. Sie wurden ein
Paar und brachen die Therapie ab, aber manchmal dachte sie an das,
worüber sie gesprochen hatten. Während all der Jahre in ihrer Praxis war ihr
nie eine so starke Abwehr begegnet, die am Ende nicht gebröckelt war;
normalerweise brachen Erinnerungen hervor, nicht unähnlich einer Pflanze,
die aus der Erde emporwuchs, eine mehr oder weniger endgültige Gestalt
annahm und erblühte. Und obwohl viele Menschen Probleme mit der
Gewissheit hatten, dass alles genau so geschehen war, manifestierte sich die
Erinnerung meistens in einem klar definierten Anfang und Ende. Bei Hrafn
war die Geschichte hingegen von Anfang an fertig, ihr Wahrheitsgehalt
wurde betont und angezweifelt, und von da an änderte sie sich nicht mehr –
rund und glatt und nicht greifbar, sodass man sie immer nur im Kreis drehen
konnte.
Außerdem kam es Vigdís merkwürdig vor, dass die Erzählung immer bei
Stígamót anfing. Erst dachte sie, er distanziere sich nur von dem Ereignis,
aber später war sie der Meinung, er wolle die Geschichte dadurch
glaubwürdiger machen. Sie überlegte, ob er das, was in Árbær »passiert war«,
erfunden hatte, nicht weil Hrafn sie oder andere täuschen wollte, sondern
sich selbst; eine Lüge, die ihm selbst gar nicht bewusst war, den
Widersprüchen seines Charakters entsprungen, die er nicht länger ignorieren
konnte. Durch die Geschichte versuchte er, Kräfte zu bändigen, die kurz
davor waren, sein Leben zu sprengen, und als er alleine nicht mehr damit
klarkam, musste er sich Hilfe holen.
Vigdís stellte eine eigene Theorie auf: Nach einer Reihe missglückter
sexueller Erlebnisse als Jugendlicher – zurückzuführen auf sein Desinteresse
an Mädchen, den Erfolgsdruck durch seinen Vater und die
Unberechenbarkeit seiner Mutter, die ihn vor emotionalen Frauen
zurückschrecken ließ – geriet Hrafn in einen Teufelskreis, der sein Verhältnis
zu Frauen stetig verschlechterte. Er sagte, er habe nie verstanden, wie er so
»durcheinander« sein könne, in einem Leben, das im Großen und Ganzen
glücklich und von Eigeninitiative, Konkurrenzdenken und einer nahezu
permanenten Härte gekennzeichnet war. Eine Vorstellung von sich selbst als
Opfer hatte er nie gehabt, bis diese »Erinnerung« wieder hochkam.
Und was war dann ihre Rolle? Alles, was in seinem Alltag keinen Platz
hatte, sammelte sich in einer einzigen, urplötzlichen Erinnerung; die Scham,
der Selbsthass, die Weichheit – alle seine weiblichen Seiten – wurden durch
diese eine Geschichte gerechtfertigt und kontrolliert. Doch obwohl die
Geschichte funktionierte, dachte Vigdís, war damit nicht gesagt, dass sie der
Wahrheit entsprach.
19 | Mary Poppins
Sie trat die Zigarette auf dem Boden aus und legte die Kippe auf das
Armaturenbrett. Vier Kippen, dabei wusste sie nicht, wie lange sie schon in
dem Auto gesessen hatte, ihr Zeitgefühl war abhandengekommen.
Vorne auf der Motorhaube prangte ein wohlbekanntes Zeichen, das sie
immer an das Kreuz im Zielfernrohr eines Gewehrs erinnerte: das Mercedes-
Benz-Logo. Sie saß in einem fünfsitzigen, mit Leder ausgekleideten
Automatikwagen, den jemand in der Einöde hatte stehen lassen – nach
fünfzehntausend Kilometern. Rasch blickte sie zum Rücksitz, dann wieder
zur Motorhaube und war sich sicher, dass sie den Mercedesstern nicht
gesehen hatte, als sie in den Wagen gestiegen war.
Sie spähte zu den seitlichen Spiegelfassungen, die immer noch leer waren.
Es kam ihr so vor, als stünde das Auto schief. Umständlich rutschte sie auf
den Beifahrersitz, zur niedrigeren Seite des Wagens, und schaute aus dem
Fenster. Der Vorderreifen war platt oder steckte, wie ihr schien, in einem
Loch im Sand. Es war nicht tief, aber offenbar tief genug, um den Wagen
zum Halten zu bringen – genau wie bei dem Auto, das sie sich von dem alten
Ehepaar geliehen hatten. Vigdís traute sich nicht auszusteigen, um die Sache
genauer unter die Lupe zu nehmen.
Ein Benz hatte schon einmal in ihrem Leben eine Rolle gespielt, aber sie
wusste nicht mehr wie, nur dass es kurz und nicht besonders erfreulich
gewesen war.
Sie traute sich nicht auszusteigen?
Ihr Atem ging schneller, ohne ersichtlichen Grund. Draußen gab es
nichts, wovor sie sich fürchtete. Sie hatte eine Uhr, einen Kompass und eine
Karte dabei. Es war nur unangenehm, keine Seitenspiegel zu haben und
nicht hinter den Wagen schauen zu können – vielleicht waren sie bei einem
kräftigen Windstoß zerbrochen, durch umherfliegende Schottersteine, aber
das erklärte nicht, was mit dem Spiegel über dem Armaturenbrett passiert
war.
Das Auto hatte elektrische Fensterheber, sodass sie die Fenster nicht
öffnen und frische Luft schnappen konnte. Stattdessen schloss sie die Augen,
konzentrierte sich auf ihren Scheitel und wanderte dann im Geist durch ihren
gesamten Körper, entspannte ihre Muskeln, entspannte ihre Gedanken und
spürte, wie ihr Atem ruhiger wurde. Sie hörte den Sand am Wagen
vorbeifegen und stellte sich vor, sie wäre auf dem Weg zur Arbeit, säße
frühmorgens in Reykjavík in ihrem Auto, vor und hinter sich lange Schlangen
ähnlicher Autos – designt in Windkanälen in Deutschland, wie Hrafn immer
sagte – mit Leuten wie sie, die auch auf dem Weg zur Arbeit waren und nun
an der Ampel warteten, alle Autos im Leerlauf, und die Leute starrten durch
die Windschutzscheiben und lauschten dem Schnurren der Motoren.
Wenn sie zurückdachte, wunderte sie sich darüber, wie sehr sie sich im
Leben aufgerieben und wie wichtig sie ihr Leid und Glück genommen hatte.
Warum? Bilder aus der Vergangenheit gingen ihr durch den Kopf, die sie
früher sehr aufgewühlt hatten, aber sie ließ sich nicht mehr von ihnen
runterziehen, nahm sie nicht mehr so persönlich wie früher. Woher kam diese
ablehnende Haltung gegenüber der Welt? Sie war ganz ruhig. Sie befand sich
im Garten des Hauses ihrer Eltern, nachdem ihre Mutter gestorben war. Das
Gras war seit Jahren nicht mehr gemäht worden, das Unkraut hatte die
Kräuterbeete überwuchert, keine Blumen mehr zu sehen, und die
Fensterscheibe des Geräteschuppens war zerbrochen. Sie saß im Schuppen,
vergrub das Gesicht in den Händen und weinte, spürte die Nähe von
jemandem, was sie nicht verstand.
»Vigdís …«, sagte sie und öffnete die Augen. Als sie auf ihre Hände
blickte, umfassten sie das Lenkrad. Sie ließ nicht los und hatte das Gefühl, es
gleichzeitig zu wollen und nicht zu wollen. Das Lenkrad steckte in einem
braunen Lederüberzug mit winzigen Löchern, damit das Leder atmen konnte
und besser in der Hand lag.
Sie schloss die Augen. Hinter sich hörte sie das Klacken einer sich
öffnenden Tür, das Heulen des Windes und dann einen Knall, als die Tür
wieder geschlossen wurde. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, etwas
drängte sich zwischen sie und verschmolz dann ebenso schnell wieder mit
ihnen. Als sie darüber nachdachte, war es, als hätte sie sich verändert – von
Grund auf. Sie verstand nicht wie, nur dass es noch nicht lange her war. Ihr
Selbst war undeutlicher und schärfer zugleich, sie erkannte ihre eigenen
Konturen, all das, was sie ausmachte, fast so als sei sie eine Person in ihrem
eigenen Leben, sowohl in als auch außerhalb von sich selbst.
Das war noch nicht so gewesen, als sie in den Wagen gestiegen war, es
geschah zu schnell. Die Angst kehrte zurück, sie schlug die Augen auf und
wusste, dass sie nicht mehr alleine im Auto war. Sie hatte es schon vorher
gewusst, aber da hatte es keine Rolle gespielt. Jemand saß auf dem Platz
hinter ihr, aber sie konnte nichts sehen, weil die Spiegel weg waren, und
traute sich nicht, nachzuschauen, denn wenn sie sich umdrehte, würde sie
sterben, ihr Herz würde zu einem eisenharten roten Punkt
zusammenschrumpfen und erstarren.
Der Mann saß hinter ihr, und das Auto fuhr, sie spürte, wie das Lenkrad
sich in ihren Händen bewegte und das Auto seitlich schaukelte. Durch die
Windschutzscheibe sah sie die Sandkörner auf sich zurasen, und der Wagen
pflügte sich schnell und sicher durch den Sandsturm. Ihre Hände packten das
Lenkrad fester, und an den Seiten tauchten die Umrisse von Gebäuden auf.
Am Armaturenbrett leuchteten Lämpchen, die sie vorher nicht bemerkt
hatte, und aus dem Radio drang leises Gemurmel. Das Auto raste vorwärts,
aber der Mann auf dem Platz hinter ihr rührte sich nicht, saß still wie ein
Schatten und schaute nicht aus dem Fenster, sondern direkt in ihren Nacken.
Vor ihnen war ein Gebäude, das hoch in den Himmel ragte, und rechts und
links am Wagen rauschten Häuser vorbei, die vertraut aussahen,
Sandsteinhäuser in der Nähe der Hringbraut, und sie wusste, was passieren
würde. Gleich kam eine Kurve, und hinter der Kurve, sobald die Straße
wieder gerade wurde, würde es geschehen, sie konnte es nicht verhindern,
und all ihre Bemühungen, genau das zu tun, würden misslingen. Sie wollte
die Augen zumachen, konnte es aber nicht, versuchte ihre Hände zu lösen,
doch sie krallten sich nur noch fester ums Lenkrad.
Sie fuhr zu schnell in die Kurve, hörte die Reifen quietschen und sah auf
der rechten Seite die Kirche aus dem Gras schießen – einen schwarzen
Schatten vor dem hellen Himmel. In der Mitte der Straße tauchte jemand
auf, die Haare schwarz und am Scheitel gräulich, Einkaufstüten in beiden
Händen und die Augen erstaunt aufgerissen: ihre Mutter. Ein schwerer
Schlag erschütterte den Wagen, Vigdís knallte gegen das Lenkrad und sah
ihre Mutter in einem langen, steilen Bogen hochfliegen. Vigdís schrie, tastete
nach dem Türgriff und rollte sich aus dem Auto.
Der Sturm hatte sich gelegt. Der Sand lag still auf der Erde, als hätte er
nie etwas anderes getan. Vigdís stand auf und schaute sich um. Am Horizont
erkannte sie die Silhouette des Hauses, die sich schwarz vom grauen Himmel
abhob.
ANNA – 20 | Die Tür in der Küche
Anna schlief bis spät in den Tag hinein und erwachte mit Kopfschmerzen
und trockenem Mund. Als ihr wieder einfiel, wo sie war, vergrub sie sich tief
unter der Bettdecke, jammerte leise und wünschte sich, Egill wäre da, um sie
zu trösten und in den Arm zu nehmen.
Auf einmal war sie so durstig, dass sie das Aufstehen nicht länger
hinauszögern konnte. Sie nahm ihren Kulturbeutel und ging ins Bad, ihr
Körper war steif, wie von einer Muschel umschlossen, und es bestand keine
Hoffnung, in absehbarer Zeit unter eine Dusche zu kommen. Der
Wasserhahn war rostig und spuckte braunes Wasser aus. Sie wartete, bis die
Leitung durchgespült war, nippte vorsichtig an dem Wasser und trank dann
in großen Schlucken, trug anschließend Gesichtscreme und Deo auf,
schluckte ihre Tabletten und beließ es fürs Erste dabei.
Als sie den Kulturbeutel zurück in ihr Zimmer brachte, entdeckte sie
einen kleinen, eingetrockneten Fleck Erbrochenes auf dem Fußboden neben
dem Bett. Schlagartig erinnerte sie sich an das Arbeitszimmer des Alten und
an etwas, das dort passiert war – einen Stromschlag, den sie an einer Lampe
oder beim Einschalten einer Lampe bekommen hatte. Sie wollte nicht daran
denken, auf den ersten Blick verstand sie überhaupt nicht, was geschehen
war, beeilte sich aber, im Bad ein Handtuch nass zu machen und den Fleck
wegzuwischen.
Es war kurz vor sieben. Sie wollte sich etwas zu essen holen, ging raus
zum Auto und wühlte in der Kühlbox im Kofferraum herum. Dabei fiel ihr
Blick auf eine in Plastik eingeschweißte Pizza mit vier Käsesorten, auf die sie
großen Appetit hatte – etwas Warmes, das nicht allzu viel Arbeit bereitete,
und dazu nahm sie noch eine halb volle Flasche Rotwein mit.
In der Küche stand die Alte, Ása.
»Ach, Sie sind hier!«, rief Anna.
»Warum denn nicht?« Die Alte beugte sich über eine Schüssel auf dem
Tisch und knetete Teig.
»Ich hab Sie vorhin gar nicht gesehen, als ich rausgegangen bin … Es ist
ganz schön stürmisch«, fügte sie hinzu und drehte die gefrorene Pizza in den
Händen.
»Der Wind hat schon nachgelassen«, entgegnete die Alte.
»Gut. Hoffentlich sind meine Freunde nicht in Schwierigkeiten.« Die Alte
antwortete nicht. Anna hob die Pizza hoch und fragte, ob sie sie warm
machen dürfe.
»Natürlich, meine Liebe. Ich kümmere mich darum«, sagte die Alte und
schaute vom Kneten auf. »Setzen Sie sich ruhig ins Wohnzimmer, dann
können wir nachher ein bisschen plaudern.«
Anna setzte sich ins Wohnzimmer, holte den blauen Nagellack aus der
Tasche und lackierte sich die Fingernägel. Ab und zu trank sie einen Schluck
Rotwein, lieber direkt aus der Flasche als aus dem Milchglas, das die Alte ihr
gegeben hatte, weil der Boden mit einem Sandschleier überzogen war. Ihre
Zehen waren zu schmutzig, um sie zu lackieren, obwohl sie das sicher
beruhigt hätte.
Ihr Knöchel war wieder in Ordnung. Sie musterte ihn und sah, dass die
Schwellung abgeklungen war. Vielleicht war das ja auch alles nur Einbildung
gewesen, ihre alte Abneigung gegen lange Fußmärsche. Oder hatte der
Stromschlag die Schwellung gelindert? Es war gar keine Lampe, sondern ein
Schalter an der Wand gewesen, der sie zu Boden geschleudert hatte, und
über ihm hatte etwas gestanden. Sie erinnerte sich jetzt auch an das Fenster
in dem Raum, das übermalt gewesen war, und an den Revolver. Hatte sie
den Revolver mitgenommen? Wenn sie nicht alles täuschte, lag er in ein
Seidentuch gehüllt unter dem Bett oder unter ihrem Kissen. Sie musste ihn
zurückbringen, sofort.
Der Wein stieg ihr in den Kopf, und sie ging hinaus auf die Treppe, um
frische Luft zu schnappen. Der Wind hatte nachgelassen. Am Horizont
wehten Sandfahnen, und der Nebel waberte wie ein Schleier und tilgte die
Grenzen zwischen Himmel und Erde.
Da schoss etwas über den Hof. Erst dachte sie, Tryggur sei zurück, sah
dann aber, dass es einer der Füchse war. Ein ekelhaftes Vieh.
Warum wollte die Alte nachher mit ihr plaudern? Falls sie in der
Bibliothek Spuren hinterlassen hatte, würde sie sagen, sie habe einen Magen-
Darm-Infekt gehabt, sei im Halbschlaf durch die Gegend geirrt, habe die
Toilette gesucht und eine falsche Tür aufgemacht. Falls das Gespräch auf
ihren Beruf käme, würde sie sagen, sie sei Lehrerin – Journalisten waren hier
bestimmt nicht gerne gesehen.
Sie hörte Ása aus der Küche etwas rufen, das wie »Mädchen!« klang.
Anna holte noch einen Rotwein aus dem Kofferraum und nahm sich auf dem
Rückweg vor, auf keinen Fall noch einmal im Dunkeln das Arbeitszimmer zu
betreten. Vielleicht war es am besten, den Revolver einfach zu vergessen, die
Alte würde ihn unter dem Bett finden, wenn sie weg waren.
Ása hatte aufgehört zu kneten und trank Kaffee, während der Teig in der
Schüssel aufging. Sie sagte, das Essen sei fertig, und zeigte auf einen Teller
mit einer dampfenden Plastikhülle, voll mit brauner Pampe. Anna brauchte
einen Moment, um die Pizza wiederzuerkennen. Die Alte hatte sie offenbar
in der Plastikhülle gekocht.
»Gut«, sagte sie und nickte, so hastig, dass ihre Halswirbel knackten.
»Sehr gut.« Sie setzte sich, und Ása fragte, ob sie eine Schere oder ein Messer
brauche. Anna verstand zuerst gar nicht, was sie meinte, und stellte sich dann
vor, wie sie die Plastikhülle aufschnitt und deren Inhalt auf den Teller kippte.
Bei der Vorstellung wurde ihr übel, sie nahm die Pizza vom Teller und legte
sie neben sich auf den Stuhl.
»Ich warte noch ein bisschen«, erklärte sie und rieb sich das Gesicht,
spürte Lachen in sich aufwallen, unterdrückte es aber.
»Haben Sie keinen Appetit mehr?«, fragte Ása und wirkte erstaunt.
»Ich bekomme bestimmt bald wieder Hunger.« Anna lehnte einen Kaffee
dankend ab, änderte dann aber ihre Meinung. »Obwohl, doch, ein Kaffee
wäre gut. Ich muss erst mal richtig wach werden.«
Ása schenkte ihnen beiden Kaffee ein, schloss die Küchentür, setzte sich
dann Anna gegenüber und fragte, ob sie gut geschlafen habe. »Sie haben
doch heute ausgeschlafen, oder?«
Anna nickte. »Ja, ich habe sehr gut geschlafen. Ich wollte mich nur kurz
hinlegen und hab dann viel zu lange geschlafen. Sie denken bestimmt, ich
wäre ein Faulpelz.« Sie spähte zur Tür und versuchte zu begreifen, warum
die Alte sie zugemacht hatte.
»Ich denke gar nichts über Sie«, erwiderte die Alte scharf und schüttelte
den Kopf. »Aber Sie sind ein bisschen blass. Sie werden mir doch nicht
krank?«
»Es geht mir gut … Ich hab einen Fuchs auf dem Hof gesehen«, fügte sie
hinzu, um das Thema zu wechseln. Der Kaffee schmeckte bitter und roch
nach Jauche.
»Die halten die Mäuse ab, die Armen. Sie sind fleißig.«
»Verstehe. Woher kommen die eigentlich, die Füchse?« Die Alte schaute
ihr nicht in die Augen, aber Anna empfand das nicht unbedingt als
abweisend, sondern eher als eine Art altmodische Höflichkeit.
»Die kommen ja wohl aus der Erde, wie wir alle. Und dann gleitet einfach
einer aus dem anderen raus.« Die Alte warf Anna einen schnellen Blick zu,
als erwarte sie eine Reaktion. Interessante Ausdrucksweise, dachte Anna, »aus
der Erde«, und merkte es sich.
»Dumme Frage«, sagte Anna lächelnd. »Ich wollte eigentlich fragen, ob
sie zahm oder wild sind. Glauben Sie, dass sie meinen Hund angegriffen
haben? Er ist verschwunden.«
»Das tut mir leid.«
»Nein, nein, Tryggur kommt schon zurecht. Ich mache mir keine Sorgen
um ihn.« Anna merkte, dass ihre Stimme sich so anhörte, als spräche sie mit
einem kleinen Kind oder einem Schwachkopf. Sie lenkte das Gespräch lieber
auf Kjartan, als ihr wieder einfiel, was sie über ihn gelesen hatte. »Ist Ihr
Mann irgendwo draußen?«
»Der findet sich hier überall zurecht, keine Sorge«, antwortete die Alte
teilnahmslos.
»Mir ist das Bild da hinten aufgefallen. Von Kjartan und der Frau … Ein
schönes Paar. Sie sehen aus wie …« Sie verstummte, hatte »Filmstars« sagen
wollen, aber das fände die Alte vielleicht unverschämt oder verletzend,
angesichts dessen, wie sie selbst aussah. Sie war nicht besonders hübsch, das
ließ sich schwer verleugnen.
»Was für ein Bild?«
»Im Wohnzimmer. Von Kjartan und der Frau. Ich habe überlegt, wer sie
wohl ist.«
»Darüber weiß ich nicht viel …« Sie murmelte etwas, das Anna kaum
verstehen konnte, obwohl sie meinte, das Wort »Haushälterin«
herauszuhören.
»Ist die Haushälterin mit ihm auf dem Foto?«
»Kann sein.« Ása nickte, lächelte dumpf und schaute aus dem Fenster.
»Verstehe … Vielleicht die Frau von dem, der die Rentiere für Sie tötet?
Mit denen Sie die Füchse füttern?«
Ása antwortete nicht. Anna musste über diesen Hausherrn grinsen, der
sich mit einer Bediensteten ablichten ließ und das Foto im Wohnzimmer
aufhängte. Die Alte war keine besonders gute Lügnerin.
»Wie lange sind Kjartan und Sie eigentlich schon verheiratet?« Anna war
davon überzeugt, dass ihre Gastgeber kein Paar waren, wollte aber von der
Alten selbst hören, welche Stellung sie in diesem Haus hatte. Haushälterin
wahrscheinlich, was vielleicht der Grund dafür war, warum sie einer anderen
diesen Job andichtete. Warum log sie? »Sie kennen sich bestimmt schon viele
Jahre, oder?«, machte Anna weiter.
»Wo arbeiten Sie?«, entgegnete die Alte und schaute sie endlich an. Ihre
Augenwinkel waren aufgeraut und gerötet, und die roten Stellen zogen sich
wie Pfeile bis zu den Mundwinkeln. Ihre Beschaffenheit und ihr Glanz
erinnerten Anna an das vergrößerte Bild einer Klitoris, auf das sie mal
irgendwo gestoßen war – sie schob den Gedanken von sich.
»Ich bin Lehrerin. Ich unterrichte Isländisch in einer Grundschule.«
Plötzlich bemerkte sie, dass die Küchentür von innen keine Türklinke hatte,
nur ein kleines, viereckiges Loch. Sie versuchte vergeblich, sich die Frage zu
verkneifen. »Hat die Tür da keine Türklinke?«
»Warum fragen Sie das?«, sagte die Alte, ohne sie aus den Augen zu
lassen.
»Aus reiner Neugier.«
»Neugier, genau. Sie sind ziemlich neugierig, junge Frau. Das ist mir
schon aufgefallen. Sie schauen sich alles an. Und stellen Fragen. Neugier
kann gefährlich sein.«
»Was meinen Sie?«
»Das, was ich sage.«
»Ich interessiere mich eben für meine Umgebung.« Anna nippte an dem
Kaffee, ließ den Blick durch die Küche schweifen und entdeckte in der Ecke
noch eine Tür, die sie zuvor nicht bemerkt hatte. Obwohl sie sich mehr für
die andere Tür und dafür interessierte, rauszukommen, fiel ihr auf, dass diese
ins Erdgeschoss führen musste – wo die Fenster zugemauert waren.
»Hier gibt es viele Türen«, fuhr die Alte fort, als könne sie Annas
Gedanken lesen. »Und ich kann Ihre Neugier befriedigen und Ihnen alles
beantworten, was Sie wissen wollen. Wenn Sie mir vorher auch eine Frage
beantworten.«
Sie sahen sich in die Augen.
»Welche?«, fragte Anna und zwang sich, dem Blick der Alten
standzuhalten.
»Waren Sie in dem Raum im Obergeschoss? Heute, als Sie angeblich
geschlafen haben?«
»Welcher Raum?«
»Welcher Raum?«, echote die Alte. »Waren Sie vielleicht in mehreren
Räumen?«
Anna lächelte. »Ich war nirgendwo. Ich war in meinem Zimmer und hab
gelesen, dann hab ich ein bisschen geschlafen und wieder gelesen.«
»Ich weiß, was Sie gemacht haben«, flüsterte die Alte, lehnte sich über
den Tisch und kniff die Augen zusammen. »Sie waren in dem Raum und
haben was mitgenommen. Ich weiß nicht, was, das kann ich leider nicht
wissen. Sie müssen es mir selbst sagen. Was haben Sie aus dem Raum
mitgenommen?«
»Ich hab nichts aus irgendeinem Raum mitgenommen!«
»Es ist wichtig, dass Sie es mir sagen, ich muss es wissen, damit ich …«
»Und es ist wichtig, dass Sie mich jetzt rauslassen«, entgegnete Anna, die
es nicht länger in der Küche aushielt, und sprang auf. Sie durchquerte den
Raum mit großen Schritten und drückte gegen die Tür. Sie ging nicht auf.
»Wo ist die Türklinke? Geben Sie sie mir!« Sie ging zu der Alten und streckte
die Hand aus.
»Wenn Sie meine Frage beantworten«, sagte die Alte und rührte sich
nicht.
»Ich muss Ihnen nicht antworten!«, schrie Anna und spürte Panik in sich
aufsteigen. »Ich bin in diesem Haus zu Gast. Nicht, weil ich es möchte,
sondern weil ich dazu gezwungen bin! Und es interessiert mich nicht, was es
hier gibt oder nicht gibt, ich will raus …« Im selben Moment bemerkte sie
eine Bewegung vor dem Fenster: ein Schatten, der in der Dämmerung über
den Hof huschte.
Die anderen waren zurück.
»Meine Freunde sind da. Machen Sie die Tür auf!«, schrie sie, und die
Alte schob die Hand in ihre Tasche und holte die Türklinke heraus. Anna riss
sie an sich, steckte sie in das Loch und öffnete die Tür, stürzte hinaus und
rannte die Treppe hinunter zu Egill, der auf dem Hof stand. Sie warf sich um
seinen Hals und konnte vor Aufregung nicht sprechen. Obwohl sein Gesicht
voller Sand war, bedeckte sie es mit Küssen, klammerte sich an ihn und
merkte, dass sie nicht damit gerechnet hatte, ihn jemals wiederzusehen.
21 | Der Alte gräbt
Es stellte sich heraus, dass Egill alleine war. Er erzählte, Vigdís und Hrafn
hätten sich vor ihm auf den Rückweg gemacht.
»Sie sind noch nicht hier«, sagte Anna. »Was ist passiert? Warum hast du
zwei Rucksäcke dabei?«
»Vigdís hatte ihren vergessen.« Er sagte, er werde es ihr später erklären,
er war völlig erschöpft und stolperte die Treppe hinauf Richtung
Schlafzimmer. Sie stützte ihn und brachte ihn ins Bett.
Eine Viertelstunde später erschien Hrafn und kurz darauf Vigdís. Anna
kochte unten in der Küche gerade Wasser, als Hrafn durch die Tür kam und
sofort ins Obergeschoss verschwand. Vigdís erzählte, sie hätten sich auf dem
Rückweg im Sturm verlaufen. Sie war schmutzig und voller Sand und sagte,
sie komme gleich wieder runter. Dann folgte sie Hrafn nach oben.
Anna brachte Egill einen Eimer mit heißem Wasser, tunkte ein Handtuch
hinein und wischte ihm das Gesicht ab. Überall, wo es feuchte Stellen im
Gesicht gab, war der Sand zu schwarzen Striemen zusammengeklumpt: in
den Augenwinkeln, in den Mundwinkeln, an den Nasenlöchern. Sein Körper
war mit einer grauen Sandschicht bedeckt, die sich weit die Arme hinauf und
bis hinunter zum Bauch zog, obwohl er noch nicht einmal sein Hemd
aufgeknöpft hatte.
»Ich will nach Hause … nach Hause, nach Hause«, sagte er leise und
stützte sich mit geschlossenen Augen auf die Bettkante. Sie fragte ihn nach
der Wanderung, und er erzählte, sie hätten wegen des Sturms am Rand eines
Dorfes festgesessen, das wahrscheinlich zu einem Staudamm gehöre, den sie
weiter westlich gesehen hätten. »Wir mussten die Wanderung wegen des
Sturms abbrechen. Die Askja liegt weiter nördlich, als wir dachten, das sagt
jedenfalls Vigdís.«
»Warum sind die beiden nach dir gekommen? Hast du nicht gesagt, sie
wären vor dir losgegangen?«
»Sie haben sich verlaufen … Ich wollte noch warten, bis es weniger
stürmt.«
»Was war denn in diesem Dorf?«
»Nichts Besonderes, leere Schuppen. Ein alter Kühlschrank.« Er fasste
sich an den Kopf, lehnte sich noch weiter vor, und sie strich ihm über den
Rücken.
»Willst du den Schal nicht ausziehen?«
»Mir ist kalt.«
»Morgen gehen wir nach Hause, Liebling«, sagte sie, tunkte das
Handtuch noch ein paarmal in den Eimer, wrang die hellbraune Flüssigkeit
aus, spülte es noch einmal und wrang es aus, strich ihm dann über die
Schultern und massierte seinen Rücken. »Sofort morgen früh.«
»Ich weiß nicht, ob ich aufwache.«
»Natürlich wachst du auf.« Er legte sich ins Bett und trank gierig aus der
Flasche, die sie ihm aus dem Auto geholt hatte. Trotz aller Bemühungen
hatte sie den Eindruck, dass seine Haut immer noch grau vom Sand war. Das
Bettlaken war voller Sandkörner, die jedes Mal, wenn er sich bewegte, von
ihm rieselten. Sie erwog kurz, ihn zu verführen, wollte aber keinen Sand in
sich haben. Am Anfang ihrer Beziehung war er im Bett leidenschaftlich
gewesen und hatte sich bemüht, sie zufriedenzustellen, aber sie wusste nie,
was er selbst schön fand, und er sprach auch nie darüber. Im Grunde schien
er kein großes Interesse an Sex zu haben und steckte die meiste Energie in
seine Arbeit.
»Wir können ja jetzt gehen, nur wir beide«, sagte er und starrte an die
Decke. »Heute Nacht gibt es keinen Sturm. Und morgen früh sind wir schon
bei der Askja.«
»Wir gehen nicht jetzt, Egill. Was ist los mit dir?«
»Ich hab keinen Bock mehr … Ich wünschte, wir wären nur zu zweit.« Sie
fragte, ob etwas zwischen Hrafn und ihm vorgefallen sei, aber er antwortete
nicht. Bedankte sich auch nicht für ihre Fürsorge, fragte nicht nach ihrem
Knöchel und sagte ihr nicht, dass er sie liebe, was doch wohl nicht zu viel
verlangt wäre, oder? Etwas Nettes zu ihr zu sagen, obwohl er müde war,
dieser egoistische Jammerlappen.
Sie ballte die Fäuste und wurde von einer Wut gepackt, die so heftig und
klar war, dass sie das Gefühl hatte, erst jetzt richtig wach zu werden. Dieser
Mann hatte ihr Leben zerstört, ihr das Einzige genommen, was man als
Journalistin besaß: den guten Ruf. Sie konnte nichts anderes, im Gegensatz
zu ihm hatte sie keine Rücklagen, versteckt in irgendeiner Scheißkiste auf
irgendeiner Scheißinsel, auch wenn er das leugnete. Sie hatte sich mitschuldig
gemacht, zwar nicht vor dem Gesetz, aber vor der Gesellschaft, und die
Medien würden sie zerreißen, ihr Name würde im Internet durch den Dreck
gezogen, in den Zeitungen, in den Nachrichten, in den Cafés und Kantinen,
bei Konfirmationsfeiern, in Mails und SMS, überall. Er hatte ihr seine Gier
aufgezwungen. Als alles auseinanderzufallen drohte, hatte sie ihm erlaubt,
Eigentum auf sie zu überschreiben, so viel wie möglich. Sie hatte zugestimmt
und sich vorgestellt – unter Schock –, dass sie eines Tages abhauen, alleine
eine Rucksackreise machen, in Dreisternehotels absteigen und einen
spirituellen Ratgeber von Eckhart Tolle lesen würde, und wenn sie
zurückkäme, säße er im Knast, so wie er es verdient hatte. Aber natürlich
würde sie das nicht machen. Sie war ein Schisser. Und die Feigheit würde ihr
alles nehmen, was sie sich aufgebaut hatte.
»Ich hab den alten Mann gesehen, diesen Verrückten«, sagte Egill und
trank weiter aus der Flasche, ohne sich aufzusetzen.
»Was hat er gemacht?«
»Das willst du nicht wissen.« Er grinste infantil, und sie setzte sich zu ihm
auf die Bettkante und nahm auch einen Schluck. »Als ich auf das Haus
zuging, da hab ich ihn gesehen – an dem Laternenpfahl. Er hatte eine
Schaufel, stand in einer Grube und schaufelte Erde raus.«
»Im Sturm? Er hat ein Loch in den Sand gegraben?«
»Es war nicht mehr so windig. Aber er stand bis zur Taille in dem Loch,
also hat er wahrscheinlich während des Sturms angefangen.«
»Hat er dich gesehen?«
»Ich glaube nicht. Ich hatte es eilig und keine Lust, mit ihm zu reden.«
»Keine Lust! Willst du denn nicht wissen, warum der Mann eine Grube
gräbt? Du hättest ihn vielleicht davon abhalten sollen. Was, wenn er ein Grab
aushebt?« Egill reagierte nicht. »Warum gräbt er denn da?«
»Was weiß denn ich! Vielleicht spürt er, dass er bald sterben wird.«
»War die Laterne an?«
»Ja. Ist ja auch praktisch, beim Graben Licht zu haben.«
»Hier stimmt doch irgendwas nicht …« Anna trank wieder aus der
Flasche und beschloss dann endlich, ihm den Revolver zu zeigen. Es brachte
nichts, ihn vor Egill zu verheimlichen. Sie griff unters Bett, wollte nicht um
den heißen Brei herumreden, warf das Bündel einfach auf die Bettdecke und
sagte, den habe sie im Nachbarzimmer gefunden.
»Was ist das?«, sagte er und rührte sich nicht.
»Ich glaube, der gehört dem Alten …« Da Egill nichts machte, schlug sie
das Seidentuch auf und legte den Revolver zwischen ihnen aufs Bett. »Er ist
geladen.«
»Spinnst du, Anna? Was willst du mit einer geladenen Waffe? Wo hast du
die her?«
»Hab ich doch gerade gesagt. Aus dem Nachbarzimmer. Dem
Arbeitszimmer des Alten. Ich traue mich nicht, ihn zurückzulegen. Sollen wir
ihn mitnehmen? Ich würde ihn gerne behalten, aber ob das so eine gute Idee
ist …?«
»Ich fasse das Ding nicht an«, erwiderte Egill, schüttete mehr Alkohol in
sich hinein und legte sich auf den Rücken.
»Was meinst du damit? Willst du mir nicht helfen?«
»Ich kann nicht mehr, Anna. Ich verstehe das nicht. Ich will nicht darüber
nachdenken …«
»Dann schlaf jetzt endlich, ruh dich aus«, sagte sie, riss den Revolver an
sich, wickelte ihn wieder in das Seidentuch und schob ihn unters Bett. Dann
stand sie auf, sagte, sie müsse aufs Klo, und Egill murmelte etwas von
Schlafen.
Vor der Toilette stieß sie auf Vigdís und gab ihr den Eimer. Vigdís wirkte
noch erschöpfter als vorhin, als sie durch die Tür gekommen war, und Anna
fragte, ob es ihr gut gehe.
»Hast du dich irgendwie aufgeregt, Liebes?«, fragte sie. Vigdís nickte und
schlug vor, dass sie sich gleich auf einen »Schlaftrunk« treffen sollten.
»Ich muss hier weg, ich halte es da drinnen nicht länger aus«, sagte sie,
und Anna vermutete, dass sie Hrafns und ihr Zimmer meinte.
»Natürlich«, entgegnete Anna und wurde wieder munter. »Ein oder zwei
Absacker.« Sie verabredeten sich im Wohnzimmer, und Anna ging schon
wieder zum Kofferraum, um Alkohol zu holen. Auf dem Weg durch die Diele
sah sie oben in Vigdís’ Rucksack eine Kiste mit Signalraketen. Sie musterte
eine der Signalraketen, einen roten Zylinder aus Plastik mit einem dünnen
Holzgriff. Auf dem Plastik standen Anweisungen, wie man die
Sicherheitsvorrichtung lösen, die Rakete vom Gesicht weghalten und
vorsichtig an der Schnur ziehen sollte, die aus dem Plastikzylinder hing.
An der Schnur ziehen, dachte sie und erschauerte, ohne zu wissen,
warum. Sie musste unbedingt den Revolver loswerden, bevor sie ins Bett
ging.
22 | Das Kind
Während Anna im Wohnzimmer wartete, musterte sie die Fotografie von
dem Mann und der Frau an der Wand. Dem schönen Paar. Sie wanderte
durch den Raum, betrachtete das Bild aus unterschiedlichen Perspektiven
und begriff allmählich, was sie daran störte.
»Nicht sie«, murmelte sie, ging dicht an das Bild heran, trat wieder zurück
und schüttelte den Kopf. »Ihr Kind …« Sie zündete sich eine Zigarette an,
dachte an die Isländischen Geschäftsleute, das Arbeitszimmer und den
Geheimraum, sah nun alles mit ganz anderen Augen und hatte das Gefühl,
dass das Puzzle sich endlich zusammenfügte.
Die Alte hatte sich nach dem »Vorfall« in der Küche nicht mehr blicken
lassen. Vielleicht hätte Anna sich dafür schämen sollen, sie so anzuschreien,
aber die Alte hatte kein Recht, sie einzusperren – selbst wenn sie
herumspioniert hatte.
Vigdís kam die Treppe herunter, und Anna machte eine ausladende
Handbewegung zu den Flaschen, die sie auf dem Tisch aufgereiht hatte:
»Willst du weißen oder roten?«
»Rotbraun wäre gut«, antwortete Vigdís und zeigte auf den Whisky. »Ein
Glas. Und danach den roten?«
»Klar doch.« Anna bot ihr einen Platz auf dem Sofa an, goss ihr einen
Whisky ein, den sie in einem Zug austrank, und reichte ihr dann ein
randvolles Glas mit Rotwein. Das Glas hatte sie eigenhändig gespült, es sogar
desinfiziert, als sie in der Küche Wasser heiß gemacht hatte.
Vigdís seufzte und lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Das tut gut«, sagte
sie. Sie roch intensiv nach Shampoo, und Anna sah, dass ihr Gesicht glühte,
als hätte sie Feuchtigkeitscreme in die Haut einmassiert.
»Du riechst so gut.«
»Danke. Ich hab das Zeug, so gut es ging, abgeschrubbt, aber ich war zu
faul, Wasser heiß zu machen. Ich wusste echt nicht, dass warmes Wasser ein
so unverzichtbarer Teil meines Lebens ist. Meine Haut spannt total.«
»Du sagst es. Ich hab eben genau dasselbe gedacht.« Anna spähte in die
Küche, um sich zu vergewissern, dass sie alleine waren, und fragte dann, ob
bei der Wanderung etwas vorgefallen sei. »Ihr wirkt alle so durcheinander.«
»Ich weiß nicht … Hat Egill nichts gesagt?«
»Er hat was von einem Staudamm und einem Dorf erzählt, und von einer
Brücke. Er war noch merkwürdiger als sonst. Was ist mit diesem Dorf?
Deponiert die US-Armee da Atommüll? Oder führen sie Experimente in
einem Luftschutzbunker durch?«
»Ich bin nicht mit den Männern ins Dorf gegangen. Hat er nichts
erzählt?«
»Was sollte er denn erzählen?«
Vigdís zögerte, berichtete dann aber, dass Hrafn und Egill sich über etwas
gestritten hätten, das sie nicht verstanden habe, über die Vergangenheit.
Dann habe sie sich mit Hrafn gestritten, er sei aus der Lagerhalle gestürmt
und sie ihm hinterher. »Deshalb sind wir getrennt zurückgekommen …
Deshalb hab ich irgendwo in einem Autowrack gesessen und gewartet, bis der
Sturm vorbeigeht … Ich hab keine Ahnung, was hier los ist.« Sie leerte ihr
Glas, und Anna füllte es erneut.
»Ach, Liebes. Und wo war Hrafn, während du in dem Auto saßt?«
»Ich weiß es nicht, er meinte, er hätte hinter einem Hügel Schutz vor dem
Wind gesucht. Ich hab jetzt keine Lust, mit ihm zu sprechen, ich hoffe, wir
kommen morgen nach Hause, dann können wir versuchen, wieder wie
vernünftige Menschen miteinander zu reden.«
»Und du weißt nicht, worüber sie sich gestritten haben?« Vigdís schüttelte
den Kopf und starrte mit leerem Blick vor sich hin, als hätte sie die Frage
nicht gehört, was gar nicht zu der stets wachsamen, klarsichtigen Vigdís
passte. Wobei sie alle ein bisschen anders waren als sonst, leerer und
schwerfälliger und distanzierter, und als Anna darüber nachdachte, fiel ihr
auf, dass man das vielleicht auch über sie sagen konnte. Sollte sie
beispielsweise nicht größere Angst haben, nach allem, was ihr in dem Haus
widerfahren war?
Wie ein Zombie, dachte sie und rief sich einen Vers eines alten Dichters
in Erinnerung, wie ging der noch mal? Ich bin die Wiege eines Wechselbalgs? Ihre
Freunde wanderten durch die Sandwüste und kehrten verändert zurück –
kam das nicht in den Volksmärchen vor?
Sie wollte versuchen, Vigdís ein bisschen aufzumuntern. »Mir ist auch so
einiges passiert«, bemerkte sie vielsagend und spürte eine freudige Erregung,
eine kindliche Spiellust und vor allem Erleichterung darüber, dass die
Männer nicht dabei waren – als könnten die beiden Frauen sich ohne sie
besser amüsieren, zumindest wenn es um rätselhafte geheime Räume in alten
Häusern ging. Wobei das alles ziemlich unrealistisch klang, wenn sie jetzt
darüber nachdachte, wie aus einem Abenteuerbuch für Jungs. »Was die
beiden Alten auf keinen Fall wissen dürfen«, fügte sie mit gesenkter Stimme
hinzu.
»Wovon sprichst du?«, fragte Vigdís, und endlich kam wieder Leben in
ihre Augen. Anna fing ganz am Anfang an und erzählte, wie sie alleine im
Haus gewesen war, von ihrer Lust am Schnüffeln und der Tür am Ende des
Flurs. Sie beschrieb das Arbeitszimmer des Alten, die Bücher, die Urkunden,
die Fotos an der Wand von ihm und den reichen Leuten, den Ministern, und
berichtete von dem, was sie in Isländische Geschäftsleute gelesen hatte.
»Dieser Mann ist kein Bauer und war nie einer. Er hat früher Versuche
mit Menschen gemacht, ich erinnere mich nicht mehr genau an die
Formulierung, aber sie verstießen gegen das Gesetz, vielleicht hat er
Obdachlose oder Behinderte dafür bezahlt, dass sie Medikamente einnahmen
oder sich operieren ließen. Damals waren die Leute ärmer. Aber dann ist
noch was passiert. Ich hab mir die Bücher im Regal angeschaut, und als ich
eins rausziehen wollte, hörte ich ein Klacken.« Sie beschrieb, wie sich das
Regal von der Wand geschoben hatte, und den kleinen, dunklen Raum
dahinter, den Schreibtisch, das Bett und die Aufschrift an der Wand: SIEH
MICH AN.
»Sieh mich an?«, fragte Vigdís staunend und saß reglos auf dem Sofa.
Anna erzählte ihr von dem Schalter und was passiert war, als sie ihn berührt
hatte, wie sie auf den Boden gefallen war, am ganzen Körper taub, es aber
wieder rausgeschafft und den Raum hinter sich zugemacht hatte.
»Dann bin ich in den Flur gekrochen und in mein Zimmer und hab auf
den Boden gekotzt.«
»Du hast gekotzt? Ich glaub’s nicht. Hast du Kopfschmerzen oder taube
Finger?«
»Jetzt geht’s mir wieder gut. Aber warum stand dieser Satz über dem
Schalter? Total unheimlich, als wäre es eine Falle, oder?«
»Das ist eine ernste Sache, ein Stromschlag ist nicht ungefährlich. Wir
müssen dich untersuchen lassen, wenn wir zurück in der Stadt sind.« Vigdís
war in heller Aufregung, und Anna bat sie, leiser zu sprechen.
»Aber ich hätte da nicht rumspionieren dürfen, verstehst du? Ich hatte
keine Erlaubnis.« Sie füllte erneut ihre Gläser.
»Und in dem Raum war niemand?«
Anna schüttelte den Kopf. »Ich begreife nicht, wer in so einem Zimmer
wohnen soll. Mit Bett, Schreibtisch und übermaltem Fenster. Das ergab
einfach keinen Sinn. Bis vorhin. Ich stand hier und wartete auf dich und hatte
plötzlich das Gefühl, einiges besser zu verstehen.« Sie stand auf und
bedeutete Vigdís, mit ihr zu der Fotografie zu kommen.
»Mir ist dieses Bild schon aufgefallen, als wir ankamen«, erklärte Anna.
»Es kam mir immer merkwürdiger vor, je länger ich es mir anschaute.« Sie
betrachteten das Bild. Es befand sich hinter einem glänzenden Rahmen aus
Glas. »Fällt dir irgendwas Besonderes daran auf?«
Vigdís schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … Sind sie das? Ása und ihr
Mann? Ihn erkenne ich eindeutig, er ist auf dem Foto nur jünger.«
Anna nickte. »Stimmt … Aber die Frau ist nicht Ása. Sie ist nicht nur
jung, sondern auch, wie soll man sagen, schön«, flüsterte sie. »Alle beide. Sie
haben ähnliche Gesichtszüge, ähnliche Wirbel im Haar, ähnliche Augen. Sie
sehen beide ganz anders aus als Ása.«
Vigdís nickte und musterte das Bild genauer. »Könnte sein. Aber warum
hängt hier ein Foto von ihm mit einer anderen Frau?«
»Weil er und Ása kein Paar sind, das dachten wir nur automatisch. Ich
weiß nicht, welche Stellung sie hier im Haus hat, wahrscheinlich ist sie die
Haushälterin … Nein, ich glaube, die Frau auf dem Bild ist seine Schwester.
Was auch erklärt, warum sie sich so ähnlich sehen.«
»Aha, Geschwister … Aber könnten sie nicht auch ein Ehepaar sein?
Wenn Ása und der Alte nicht verheiratet sind, wie wir dachten – könnte er
dann nicht mit dieser Frau verheiratet sein?«
»Vielleicht. Wenn ich heute nicht noch ein anderes Bild von den beiden
oben in seinem Arbeitszimmer gesehen hätte, ein altes Familienfoto aus der
Mitte des letzten Jahrhunderts. Ich erkannte ihn sofort, dann fiel mir die
Ähnlichkeit zwischen ihm und den Erwachsenen auf – und dem kleinen
Mädchen neben ihm.«
»Diese Frau hier?«
Anna nickte. »Nehmen wir mal an, sie wären Geschwister, und schauen
uns das Bild genauer an. Siehst du den stolzen Blick des Mannes, wie er das
Kinn reckt, wie seine Augen blitzen, als wolle er auf sein Recht beharren,
jemanden herausfordern …? Und dann die Frau neben ihm mit einem ganz
anderen Ausdruck, sie befindet sich in einer anderen Welt, hat keine
Meinung, provoziert niemanden, kennt keine anderen Menschen. Sie strahlt
vor Schönheit, sie ist glücklich. Siehst du, wie sie dasteht? Seine Haltung ist
verschlossen, abwehrend oder angriffslustig, während ihre offen ist und etwas
in sich birgt … tja, was birgt sie in sich?«
Vigdís starrte das Bild an und sagte, sie nehme etwas wahr, könne es aber
nicht richtig greifen. »Wie die beiden stehen, oder wie sie steht, wie sie sich
vorbeugt? Sie scheinen sich beide über etwas zu beugen …«
»Das Foto wurde retuschiert«, sagte Anna schnell und sah Vigdís an.
»Eine Person wurde rausgeschnitten. Ich hab es eben gemerkt, als ich durchs
Wohnzimmer ging, plötzlich wurde es ganz deutlich, ich sah das Bild aus
dem Augenwinkel, so, und mir fiel etwas ein, das ich heute gelesen hatte, über
den Mann … Und ich sah, was auf dem Bild fehlt. Warum die Frau so steht,
die Hand ausstreckt, mit diesem Gesichtsausdruck. Warum die
Bildkomposition so schief ist, die Wand hinter ihnen so hoch – sie sind zu weit
unten, als hätte man unten ein Stück weggeschnitten … Das, was aus dem
Bild geschnitten wurde, ist eine Wiege – und in der Wiege liegt ein Kind.«
»Ein Kind?« Vigdís starrte das Bild an.
»Und das ist der Grund dafür, dass die Frau den Kopf neigt, diesen
mütterlich-liebevollen Ausdruck im Gesicht hat und die Hand ausstreckt: um
die Wiege oder den Kopf des Kindes zu berühren. Es könnte auch vor ihnen
stehen, wenn es schon groß genug ist. Als mir wieder einfiel, was ich über den
Mann gelesen hatte, dass er ein Kind hatte, war ich mir sicher, dass es
stimmt … Da war ein Kind auf dem Foto.«
»Aber warum sollte man es rausschneiden …«
»Ihr Kind«, fiel Anna ihr ins Wort. »Das Kind der Geschwister.«
Vigdís riss die Augen auf, sagte aber nichts. »Mir ist aufgefallen«, fuhr
Anna fort, »dass in Isländische Geschäftsleute nirgendwo von einer Ehe des
Mannes die Rede ist. Warum nicht? In dem Buch steht aber, er habe gegen
›das bürgerliche Anstandsgefühl‹ verstoßen, und etwas über ›Freizügigkeit im
privaten Bereich‹. Ist damit gemeint, dass er ein Casanova war? Würde man
bei einem gewöhnlichen Frauenschwarm so harte Worte wählen? Ich glaube
nicht.
Da steht, er hatte ein Kind, aber der Name wird nicht genannt und auch
nicht der Name der Mutter. Tja, der Grund dafür könnte sein, dass dieses
Kind unehelich und eine Schande war, aber warum wird es überhaupt
erwähnt? Bei anderen Leuten in dem Buch macht man das nicht. Und
warum wird in der Genealogie eine Schwester erwähnt, aber nirgendwo
gesagt, wie sie heißt? Der Grund ist einfach der, dass die Kindsmutter und die
Schwester ein und dieselbe Person sind, aber indem das Buch das so sorgfältig
verschleiert, verrät es sich auch und enthüllt das Geheimnis. Und was könnte
ein größerer Verstoß gegen ›das bürgerliche Anstandsgefühl‹ sein, als ein
Kind mit seiner eigenen Schwester zu bekommen?«
»Ich fasse es nicht.«
»Und wann wurde das Foto gemacht? Als der Mann auf die vierzig
zuging, seine Schwester war ein bisschen jünger. Wahrscheinlich war er
gerade aus den USA heimgekehrt, wo er zehn, fünfzehn Jahre lang versucht
hatte, sich von der verbotenen Liebe loszusagen. Doch nach der Rückkehr
hatte er sich nicht mehr im Griff, und sie auch nicht. Eines Tages kam dann
ein Kind zur Welt – kurz bevor sie hierherzogen und nicht allzu lange bevor
dieses Foto von ihnen gemacht wurde … Danach gab es keine Fotos mehr,
aber dieses hier sagt alles: Die trotzige Haltung des Mannes, der Stolz und die
Provokation in seinem Blick zeigen, dass er eine Entscheidung getroffen hat,
er fordert die Gesellschaft heraus, bekennt sich zu seiner Familie.
Wahrscheinlich hat er die Fotografie selbst in Auftrag gegeben, weil er der
Mutter des Kindes eine Freude machen wollte, bevor er aufgab …«
»Falls da wirklich ein Kind war«, fiel Vigdís ihr ins Wort und trat von
dem Bild zurück.
»Da war ein Kind. Wenn nicht, warum sollte der Alte dann hier sein?
Warum sollte hier jemand wohnen, wenn er nicht dazu gezwungen ist?«
»Aber wo ist dann seine Schwester? Die, die das Kind zur Welt gebracht
hat?«
»Tot, draußen in der Sandwüste beerdigt. Oder ausgesetzt, von dem
Alten ermordet, und jetzt irrt sie rastlos über die Sandflächen, im zerrissenen
Morgenrock, und klagt nachts draußen vor den Fenstern! Was weiß ich? !«
Vigdís schüttelte den Kopf und zündete sich eine Zigarette an, als
versuche sie krampfhaft, die gruselige Stimmung abzuschütteln. »Du spinnst
doch«, sagte sie grinsend. »Und das Kind? Wo ist das Kind?«
»Ich weiß nicht, wo es jetzt ist, aber ich weiß, wo es war. Du vergisst
nämlich was.«
»Was denn?«
»Ich bin davon überzeugt, dass das Kind hier war – und das hat nichts
mit dem Foto zu tun. Was glaubst du wohl, was man in dem Raum hinter
dem Arbeitszimmer des Alten versteckt hat? Weggesperrt wie Abschaum?«
23 |
Anna nippte an ihrem Glas. Vigdís schüttelte den Kopf und hatte wieder
diesen leeren Gesichtsausdruck.
»Ja, die beiden können ganz schön die Fantasie anregen«, sagte Anna und
setzte sich wieder aufs Sofa. Sie spürte, wie durcheinander sie war, auch ein
bisschen betrunken, aber nicht so sehr, dass sie nicht mehr klar denken
konnte.
»Wenigstens machen wir uns so lange keine Gedanken über unser eigenes
Leben«, meinte Vigdís und setzte sich neben sie. »Aber wir vergessen was,
oder? Warum fragen wir sie nicht einfach?«
»Ich hab gefragt. Die Alte hat mich angelogen.«
Vigdís sagte, sie sei müde, und Anna spürte, wie auch sie die Müdigkeit
überkam, vermischt mit Scham, als hätte sie zu viel erzählt.
Aber da war noch etwas. Sie griff nach der Plastiktüte neben sich, holte
das Seidentuchbündel heraus und schlug es auf, wobei es ihr plötzlich egal
war, ob die beiden Alten sahen, was sie da hatte. Sie ließ Vigdís genug Zeit,
um die Augen aufzureißen und den Revolver anzustarren, und erklärte ihr
dann, wo sie ihn gefunden hatte.
»Antik … Hat der Alte zum Andenken an seinen Aufenthalt in Boston
oder Princeton, oder wo auch immer er war, gekauft, auf irgendeinem
Campusgelände in Neuengland.«
»Ist der geladen?«
Anna nickte. »Ich glaube, die Alte weiß, dass ich ihn mitgenommen hab.
Sie haben nämlich danach das Arbeitszimmer abgeschlossen.«
»Warum hast du ihn mitgenommen?«
»Ich weiß es nicht. Ich wollte was zum Vorzeigen haben … als Beweis
dafür, dass wir hier waren oder so.« Anna wickelte den Revolver wieder in
das Seidentuch und steckte ihn in die Tüte.
»Und wie passt das zu deiner Theorie?«
»Was meinst du?«
»Warum liegt ein geladener Revolver in einem geheimen Raum, in dem
jemand gefangen gehalten wird?« Anna antwortete nicht. »Ich nehme ihn an
mich«, erklärte Vigdís nach einer kurzen Pause, griff nach der Tüte und stand
auf.
»Bist du dir sicher?«
»Wolltest du mich nicht sowieso darum bitten?«
»Nur für heute Nacht … Egill trinkt. Ein Säufer und eine geladene Waffe
sollten lieber nicht im selben Raum sein.« Sie kicherte. »Es sind noch vier
Kugeln drin, verstehst du …«
»Wir entsorgen ihn morgen früh«, sagte Vigdís, »wenn wir losgehen …
Jetzt reicht’s aber, wir müssen schlafen.« Sie beschlossen, erst am nächsten
Morgen aufzuräumen, gingen in die Küche und holten sich jeweils noch ein
Glas Wasser für die Nacht. Als sie wieder rausgehen wollten, fiel Annas Blick
auf die Tür in der Ecke, die ihr vorhin schon aufgefallen war. Ohne dass
Vigdís es mitbekam, ging sie schnell hin und drückte die Klinke herunter.
Abgeschlossen.
Sie folgte Vigdís die Treppe hinauf, wünschte ihr Gute Nacht und sah ihr
hinterher, wie sie mit der Plastiktüte in der Hand in ihr Zimmer ging. Anna
suchte an ihrer Zimmertür vergeblich nach einem Schloss oder einem Riegel
und schob stattdessen einen Stuhl unter die Türklinke. Das musste reichen.
Dann zog sie sich aus, huschte leise kichernd über den Fußboden und kroch
unter die Decke. Sie schmiegte sich eng an Egill, der etwas murmelte und
dann weiterschnarchte.
Wenn sie das Foto aus dem Rahmen genommen hätten, hätten sie
überprüfen können, ob es manipuliert war. Das zeigte mal wieder, dass man
viel zu viel vor Bildschirmen saß.
Kurz darauf hörte sie, wie es im ganzen Haus knackte und knirschte,
besonders auf dem Dach, als würden dort unsichtbare, dämonenhafte Riesen
spielen, hinaufklettern und sich jauchzend vom Dach rollen lassen, leicht und
schwer wie der Wind.
Das war eine absurde Vorstellung, und danach kamen weitere Bilder und
undeutliche Sätze, schwirrten durch ihren Kopf, als wollten sie ihr etwas
Wichtiges mitteilen, das sie unbedingt festhalten müsse, doch einen
Augenblick später waren sie vergessen, schienen nur etwas Wirbelndes,
Formloses gewesen zu sein, das leichte Panik in ihr hervorrief sowie weitere
plappernde Gedanken: dass jemand kopfüber vor dem Fenster hing und
hineinschaute oder draußen in der Dunkelheit auf sie wartete, weit draußen
in der Dunkelheit ihren Namen flüsterte …
Sie holte sich eine Schlaftablette und schluckte sie, kauerte sich im
Halbdunkel unter die Bettdecke, presste die Hand zwischen ihre Beine und
ließ sie dann ruhig dort liegen. Manchmal glaubte sie kurz vorm Einschlafen,
dass alles auf irgendeine Weise falsch sei, dass sie mitten in ihrem eigenen
Leben etwas übersehen oder sich nicht genug um etwas gekümmert habe und
dass alles auf einem Missverständnis beruhe. Manchmal verwirrte sie das so,
dass sie nicht mehr einschlafen konnte, die ganze Nacht wach lag und Kette
rauchte oder las oder spazieren ging und darüber nachgrübelte, wie sie ihr
Leben besser organisieren, ihren Seelenfrieden finden konnte.
Sie erwog, zu onanieren, obwohl sie neben Egill lag. Er wachte nicht auf,
sie hatte das schon öfter gemacht, seit sie keinen Sex mehr hatten. Es hatte
schon immer ein Ungleichgewicht zwischen ihnen geherrscht, sie hatte mehr
Lust – wie die meisten Frauen, die sie kannte, ganz im Gegensatz zu den
Behauptungen über die unersättliche Lust der Männer, all den Witzen über
Frauen mit Kopfschmerzen.
Sie sah Egill vor sich, wie er nachts vor dem Computer saß und auf den
Bildschirm starrte, mit offenem Mund, die Schultern seltsam eingesunken
und vorgeschoben, eine Körperhaltung, die sie an einen Skispringer
erinnerte, der gerade von der Sprungschanze abhob. Sie war aufgewacht,
alleine im Bett, und aufgestanden, um nachzusehen, wo er war – und da saß
er. Als sie zurück ins Schlafzimmer ging, knarrte der Fußboden, und er folgte
ihr, blieb auf der Türschwelle stehen und fragte, was sie da mache. Sie stand
am Fußende des Bettes und drehte ihm den Rücken zu, sagte, sie suche ihre
Hausschuhe. Er fragte, ob sie im Wohnzimmer gewesen sei, aber sie
antwortete nicht. Nach einer Weile drehte sie sich um, sah ihn am
Türrahmen lehnen und starr auf den Boden schauen, sah geradewegs in
seinen Schmerz, sah, wie ängstlich und armselig sein Geist war, und
bemitleidete ihn.
Später fing sie an, ihm nachzuspionieren, obwohl sie eigentlich nicht die
geringste Lust dazu hatte. Aber sie konnte es einfach nicht lassen. Egill ging
zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr ins Büro, und Anna kannte das Passwort
für seinen Laptop. Meistens ließ er den Laptop zu Hause, und Anna
gewöhnte es sich an, wenn sie kurz vor dem Abendessen von der Arbeit nach
Hause kam, die Webseiten durchzusehen, die er tagsüber angeklickt hatte,
bevor er rausgegangen war, um sich in einem Restaurant oder einer Kneipe
mit jemandem zu treffen. Meistens begann er mit Nachrichtenseiten und ein
paar Blogs und wechselte dann zu Pornoseiten. Mit der Zeit wurde die Liste
der Pornoseiten immer länger, und Anna stellte ein Muster fest. Meist schaute
er sich über mehrere Tage hinweg bestimmte Arten von Pornografie öfter an
als andere, in der Regel eher Fotos als Filme – vielleicht brauchte er Zeit, um
sich auf jedes einzelne Foto zu konzentrieren. Sie stellte fest, dass die
Pornoseiten in unterschiedliche Kategorien unterteilt waren, manchmal mit
bis zu hundert Themenbereichen, die an Speisekarten erinnerten oder ihr wie
eine Art Newsletter aus dem Unterbewusstsein ihres Mannes erschienen. Sie
verfolgte seinen Browserverlauf über Hintern, Beine, Anal lecken, Teenies,
Asiatinnen, junge Asiatinnen, Indonesierinnen, Italienerinnen, Französinnen,
Schlafende, Strumpfhosen, Transen, Tiere.
Sie konnte nicht aufhören – obwohl es sie traurig machte, das alles zu
sehen –, aber nachdem sie auf einen Pudel gestoßen war, der ein junges
Mädchen leckte, beide mit Schleifchen im Haar, gab sie auf. Sie legte sich ins
Bett und weinte, bis sie völlig gefühllos war, machte anschließend einen
langen Spaziergang am Meer und versuchte, sich dazu durchzuringen, ihn
anzurufen und zu schreien und zu heulen und Schluss zu machen.
Am Ende sagte sie gar nichts, wollte nicht zugeben, seinen Computer
ausspioniert zu haben, und richtete ihre Wut nicht mehr gegen ihn, sondern
gegen eine Welt, die solche Abartigkeiten als Wahlmöglichkeiten darbot, als
sei das alles ganz normal – nicht nur der Hundeporno, sondern diese ganzen
Bilder, die eher nach Anatomieunterricht oder nach den Fantasien eines
Massenmörders aussahen als nach dem, was sie sich unter Pornografie
vorgestellt hatte. Sie diskutierte mit ihren Freundinnen über das Thema und
erfuhr, dass viele ihre Männer in Verdacht hatten, Pornos anzuschauen und
diese sogar manchmal dem Sex mit ihnen vorzuziehen. Sie erzählte nichts
über Egill und seine Kategorien, las aber einiges über das Phänomen.
Schließlich schrieb sie einen Artikel mit dem Titel Die lautlose Epidemie über
den zunehmenden Pornokonsum von Männern in westlichen Ländern und
die Probleme der Forschung auf diesem Gebiet, beispielsweise in Kanada.
Dort hatten Wissenschaftler für eine Vergleichsgruppe nach jungen Männern
gesucht, die nicht bei Internetpornos onanierten, aber keinen einzigen
zwischen 18 und 25 Jahren gefunden, auf den dies zutraf. Die meisten
Menschen schien das Thema kaltzulassen; die Debatte bewegte sich nach wie
vor auf den ausgetretenen Pfaden der Geschlechterpolitik und nicht etwa des
Suchtverhaltens – jener Epidemie, auf die sie sich im Titel ihres Artikels
bezog und die an den Grundfesten der meisten Beziehungen junger Leute
rüttelte, nicht nur in Bezug auf Sexualität und Vertrauen. Ärzte hatten
festgestellt, dass sich das Dopamin-Vorkommen im Nervensystem des
Süchtigen veränderte, was tiefgreifende Wesensveränderungen nach sich zog.
Kurz darauf hörte Egill mit dem Pornogucken auf, hatte entweder den
kümmerlichen Rest seines Sexualtriebs weggesoffen oder war auf ihren
Artikel gestoßen und wieder zur Vernunft gekommen. Sie spielte mit dem
Gedanken, ein Buch mit dem Titel Das letzte Bild herauszugeben – eine
Sammlung jener Bilder, die er jeweils am Ende einer Internetsitzung
betrachtet und bei denen er vermutlich einen Orgasmus bekommen hatte –
und es ihrem Mann zu widmen. Manchmal war sie so wütend auf ihn, allem
Anschein nach völlig grundlos, dass sie sich zusammenreißen musste, ihn
nicht zu schlagen. Stattdessen erlaubte sie ihm, sein Diebesgut auf sie zu
überschreiben, träumte weiter davon, ihn zu verlassen, hatte aber gleichzeitig
dieses rührselige Mitleid, das der Liebe so ähnlich oder sogar besser war – ein
schwindelerregend edles Gefühl, das sie weit über sich selbst hinaustrug.
Oder ging es um etwas ganz anderes? Durfte der Mann denn nicht
onanieren? Sie spürte, wie die Wirkung der Schlaftablette einsetzte, alles
wurde weich und warm und wundervoll. Das war nicht das erste Mal
gewesen, dass sie mitten in der Nacht jemanden bei etwas Verbotenem
überrascht hatte. Als sie klein war und in Ísafjörður wohnte, in der
Kellerwohnung bei ihren Großeltern, wurde sie eines Nachts von Geräuschen
in der Wohnung wach. Sie stand auf, spähte in das düstere Wohnzimmer und
schaltete das Licht ein. Ihre Mutter und ihr Großvater lagen auf dem Boden,
sie lag auf ihm, doch als das Licht anging, sprang sie auf.
Anna schloss die Augen.
EGILL – 24 | Kein Fell
Er beugte sich über Anna und schüttelte sie, bis sie wach wurde.
»Du musst aufwachen … Jetzt wach schon auf, Anna«, sagte er. Sie riss
die Augen auf und schnappte nach Luft, ihr Gesicht glänzend vor Schweiß.
»Wir müssen reden.«
»Was machst du da?«, jammerte sie und setzte sich im Bett auf. Er legte
ihre Kleider auf die Bettkante und sagte, er werde es ihr erklären, sobald sie
runter in die Küche käme, und eilte aus dem Zimmer.
Auf dem Weg nach unten ging er noch einmal ins Bad, zog den Schal aus
und betrachtete den Abdruck im Spiegel: eine dunkelblaue Linie am Hals, wo
das Hemd eingeschnitten hatte, und ein runder blauer Fleck unter dem
Kehlkopf.
»Scheiß Memme …«, murmelte er, ohne genau zu wissen, wen er meinte,
und empfand eine verwirrende Mischung aus Scham und Wut, wobei das
vielleicht gar nicht so schlecht zusammenpasste. Wenn Anna nicht
mitkommen wollte, musste er ihr die Abdrücke am Hals zeigen.
Beim Aufwachen war sein erster Gedanke gewesen, wegzukommen, so
schnell wie möglich, bevor wieder ein Sturm aufzog. Er machte Frühstück,
kochte Kaffee und packte ihre beiden Rucksäcke, so konzentriert wie lange
nicht mehr.
»Wie spät ist es?«, fragte Anna, als sie in die Küche kam, und setzte sich
an den Tisch. Er schob ihr das Frühstück zu, Toastbrot mit Käse und eine
Schale Joghurt. »Warum bist du schon wach?«
»Hab gestern nicht so viel Whisky getrunken, bin aufgewacht, als es hell
wurde.« Er sagte, er habe für sie beide gepackt. »Es ist alles vorbereitet. Wir
können losgehen, sobald du gefrühstückt hast. Ich habe Klamotten für uns
eingepackt, deine Feigenkekse, Nüsse, Wasser, Kompass, Karte,
Taschenlampe …«
»Wo sind Hrafn und Vigdís?«
»Die schlafen noch … Liebling«, setzte er an, »wir müssen hier weg.
Vigdís ist in Ordnung, aber ich gehe nicht zusammen mit Hrafn nach Hause.
Es ist vorbei.« Er erzählte ihr von dem Streit in der Lagerhalle, wie Hrafn
über ihn hergefallen war, ihn am Hals gepackt und versucht hatte, ihn zu
würgen, er ihn jedoch hatte abwehren können. »Dann ist er abgehauen und
Vigdís ihm nach. Er ist völlig durchgedreht …«
»Warum hast du mir das nicht gestern erzählt?«
»Ich weiß es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht mehr klar
denken. Erst als ich aufgewacht bin, hab ich verstanden, wie ernst die Sache
ist.«
»Liebling«, sagte Anna, stand auf, setzte sich neben ihn, legte ihre Hand
auf seinen Oberschenkel und küsste ihn.
»Ich kann mit so jemandem nicht befreundet sein, so spricht man nicht
mit seinen Freunden … Wir gehen zur Askja, wie wir es die ganze Zeit
vorhatten. Aber nur wir beide. Wir beginnen bei dem Staudamm, den wir
gesehen haben, und folgen von dort der Piste nach Norden. Wenn Vigdís bei
der Askja ankommt, können wir uns immer noch von ihr verabschieden, falls
wir bis dahin noch keine Mitfahrgelegenheit in die Stadt gefunden haben.
Sonst kontaktieren wir sie, wenn wir zu Hause sind, und ich erkläre es ihr.«
»Was ist mit Tryggur?«
»Tryggur ist längst in der Zivilisation und wartet dort auf uns, bei der
Polizei oder bei irgendeinem Bauern in Egilsstaðir. Ist ja ein schlauer Hund.
Wir können nicht länger hierbleiben.« Er stand auf und lief hin und her.
»Aber sollen wir ihnen nicht Bescheid sagen? Soll ich mit ihr reden, dann
kann sie sich anschließend wieder hinlegen …«
»Wir lassen ihnen einen Zettel da. Ich spreche nicht mehr mit Hrafn.«
»Hast du Angst vor ihm? War es so schlimm?«
»Natürlich habe ich keine Angst, Anna. Ich habe vor niemandem Angst,
nur Angst um ihn, wenn er sich so gehen lässt. Ich weiß nicht, was er da
draußen gemacht hat … Aber ich unternehme sicher keine halbtägige
Wanderung mit ihm über die Sandwüste, kommt überhaupt nicht infrage.«
Anna zündete sich eine Zigarette an. Nach kurzem Nachdenken sagte sie,
sie sei froh, so schnell wie möglich von diesem Haus wegzukommen, und
Egill besorgte Papier und Stift. Er schrieb auf den Zettel, sie seien früh wach
geworden, hätten beschlossen, sich auf den Weg zur Askja zu machen, und
würden sich vielleicht dort treffen. Vielleicht. Darunter schrieb er ihre
Namen, aber Anna verlangte, dass er auch den Grund für ihr frühes
Losgehen nannte, woraufhin er noch ein paar Worte über »die gestrige
Auseinandersetzung« hinzufügte.
Anna musste aufs Klo, und unterdessen ging er raus, stellte die Rucksäcke
vors Haus und versuchte sich zu beruhigen. Über der Einöde lagen tiefe Stille
und dieses grelle Licht, das gleichzeitig so mild war.
Er beschloss, einen Joint mitzunehmen, und kramte im Kofferraum des
Jeeps herum, bis er die Angeltasche fand. Das Gras war in der Würmerdose
versteckt. Das, was er Hrafn über den Joint erzählt hatte – er habe ihn
vergessen und zufällig in der Angelweste wiedergefunden –, war Unsinn, wie
jeder sehen konnte, der nicht ganz blind war. Das Gras, das sie geraucht
hatten, war keineswegs staubtrocken gewesen, denn der Joint war erst am
Morgen gedreht worden, aber Hrafn hatte das ignoriert, was Egill schon
vorher klar gewesen war – weil es ihm in den Kram passte, weil er unbedingt
rauchen wollte.
Egill nahm eine Prise von dem Gras, vermischte es in seiner Handfläche
mit Tabak, drehte einen Joint und steckte ihn ein, um ihn später zu rauchen.
Als er den Kofferraum wieder zumachte, sah er, dass die Angelruten nicht
an ihrem Platz waren. Das Gepäcknetz auf dem Dach, in dem sie aufbewahrt
wurden, war leer, und die Gummibänder, mit denen er die Rutenfutterale
befestigt hatte, waren lose. Er warf einen Blick auf den Rücksitz und unter
den Wagen, aber da war nichts. Es handelte sich um seine Angeln, zwei
Stück, und wahrscheinlich das Einzige von dem ganzen Zeug, das er
mitgenommen hatte, das ihm wichtig war.
»Fertig«, rief Anna und trat auf die Treppe. Sie setzten ihre Rucksäcke
auf und marschierten los.
Schweigend liefen sie über die Sandflächen und steuerten auf den Hügel
zu, der Egill vom gestrigen Tag noch in Erinnerung war. Von dort würden
sie den Staudamm sehen. Anna knabberte an ihrer Unterlippe und schien
über etwas nachzugrübeln.
»Ich hatte gestern das Gefühl, dass Vigdís mir was verschweigt«, sagte sie
schließlich. »Wie hat der Streit eigentlich angefangen?«
»Hrafn konnte nicht schlafen und war genervt und hat es an uns
ausgelassen.«
»An euch beiden? Hattet ihr denn irgendwas Bestimmtes gemacht?«
Er merkte, worauf die Sache hinauslief. »Nicht doch, Liebling … Das hat
er sich alles nur eingebildet, er kommt mit der Natur hier draußen nicht klar.
So ein Unsinn. Wir sollten uns da in nichts hineinsteigern.«
»Ich hab ja nur gefragt.«
»Alles wird gut«, fuhr er fort. »Sie sehen den Zettel und schaffen es schon
alleine in die Stadt. Mehr kann ich nicht für ihn tun.«
Als sie bei dem Hügel angelangt waren, schien Anna Vigdís und Hrafn
völlig vergessen zu haben. Sie wollte unbedingt an der Schlucht
entlanggehen. »Ich will den Gletscherfluss sehen. Weißt du, wie er heißt?« Sie
hantierte mit der Karte, auf der sie vergeblich versucht hatte, den Hügel zu
finden. »Auf der Karte sind überall Linien, die Flüsse kennzeichnen sollen.
Als befänden wir uns mitten in einem Seengebiet.« Sie hörten den Fluss
rauschen und sahen ihn kurz darauf durch die Schlucht stürzen. Hier und
dort wälzten sich gräuliche und weiße Eisschollen durchs Wasser, die durch
die Wärme vom Gletscher abgebrochen waren, und kühle Gischt spritzte aus
der Schlucht zu ihnen hoch. Anna klatschte in die Hände und rieb sich die
Wassertropfen ins Gesicht.
Sie gingen an der Schlucht entlang und unterhielten sich nicht weiter,
denn bei dem Dröhnen, das Egill vorkam wie Verkehrslärm, konnte man
kaum ein Wort verstehen. Der Lärm tut gut, dachte er, das Knirschen des
Sandes konnte einen in den Wahnsinn treiben, und die Stille war noch
schlimmer.
Hrafn war schon immer verrückt gewesen. Wenn er jetzt darüber
nachdachte, fand Egill, er hätte die Freundschaft schon längst beenden sollen.
Er wusste, dass er zu gutherzig und unbeständig war – deshalb spielte er auch
nie die erste Geige; sobald er eine Falle aufstellte, tappte er selbst hinein.
Nach und nach erhob sich die Staumauer aus der Ebene, erstreckte sich
zwischen zwei Hügeln und war größer, als er erwartet hatte, viele Meter hoch
und sehr breit. Sie hielten sich weiter neben der Schlucht, die plötzlich einen
weiten, abschüssigen Bogen nach Süden machte und dann direkt auf die
Staumauer zulief.
Dort, wo die Schlucht wieder gerade wurde, sahen sie eine große Öffnung
in der Felswand, und man konnte einen Pfad erkennen, der steil nach unten
in die Schlucht zu der Öffnung führte.
»Das muss was mit dem Staudamm zu tun haben«, meinte Egill. »Ein
Ablauftunnel oder wie man das nennt.«
Kurz darauf erreichten sie die Stelle, wo der Pfad den Hang hinabführte.
Anna ging ein paar Schritte den Pfad hinunter und kniete sich neben etwas,
das auf dem Schotter lag.
»Das Halsband … Was macht das denn hier?«, sagte sie und hielt ein
blaues Hundehalsband hoch. Sie klappte die Plastiklasche vorne an dem
Halsband auf. Darunter stand »Tryggur«, in ihrer eigenen Handschrift, samt
ihrer Adresse.
Egill schaute sich suchend um. Weiter unten auf dem Pfad, nur wenige
Meter von dem Halsband entfernt, sah er ein paar Steinchen, die zu einem
Pfeil gelegt worden waren.
»Hast du die Steine dahin gelegt?«, fragte er, als er Anna neben sich
spürte. Der Pfeil zeigte den Pfad hinunter. »Das bilde ich mir doch nicht ein,
oder? Bitte sag mir …«
»Ist das ein Hinweis, dass wir da runtergehen sollen?«, entgegnete Anna.
»Sind Hrafn und Vigdís rausgegangen, während wir geschlafen haben?
Vielleicht haben sie Tryggur gesehen und sind ihm hierher gefolgt … Waren
sie vorhin in ihrem Zimmer?«
»Natürlich waren sie in ihrem Zimmer«, antwortete er und verstand
nicht, warum sie solche Fragen stellte.
»Hast du sie gesehen?«
»Hrafn und Vigdís haben nichts damit zu tun.« Er betrachtete den Pfad,
der unten am Fluss zu enden schien.
»Wer soll das denn sonst gewesen sein? Da ist bestimmt was passiert.«
Anna marschierte los, drehte sich dann auf dem Pfad noch einmal um und
schaute ihn fragend an.
Egill schüttelte wieder den Kopf und lachte gekünstelt. »Sie sind nicht da
runtergegangen!«
»Aber jemand muss es gewesen sein, Egill! Und er hat das Halsband und
den Pfeil hinterlassen, um es uns mitzuteilen. Jedenfalls wüsste ich nicht, wo
Tryggur sonst sein könnte. Ich seh mal nach.« Sie setzte ihren Rucksack ab
und lief den Pfad entlang. Egill zögerte, stellte dann aber auch seinen
Rucksack auf den Boden, nahm die Taschenlampe heraus, um damit in den
Tunnel leuchten zu können, und folgte ihr.
Das Dröhnen wurde schnell lauter, und Egill merkte, dass es ihm Angst
einjagte, aber gleichzeitig auf eine primitive Weise suggestiv und faszinierend
war, wie wenn jemand laut trommelte oder Mantras sang.
Der Pfad führte bis zu der Öffnung, aber kurz davor war er ausgewaschen
und holprig und kippte steil nach unten zum Fluss hin ab, als wäre er schon
des Öfteren von Wasser überflutet worden. Die Öffnung war rund, mehrere
Meter breit und sah aus wie das Ende eines Rohrs, das zum Staudamm
hinaufführte.
Egill pfiff leise, was beim Dröhnen des Flusses nicht zu hören war. Das
Wasser floss nur einen knappen Meter unterhalb der Kante des Pfads vorbei
und ähnelte nassem Zement. Es toste, riss und zerrte an dem Erdboden unter
ihren Füßen und roch nach etwas, das er nicht definieren konnte – eine graue
Ödnis, die von einem Ort zum anderen floss.
Anna hielt sich möglichst weit vom Fluss entfernt, drückte sich an die
Felswand, die von der Gischt glänzte, und hatte noch nie kleiner und hilfloser
ausgesehen. Aber bei diesem Getöse wirkte alles klein.
Für einen Augenblick hatte Egill Lust zu lachen, er ging zu der Öffnung
und spürte eine merkwürdige Gleichgültigkeit. In der Mitte des Rohrs
sickerte ein rotbraunes Rinnsal aus der Dunkelheit. Daneben war trockener
Schlamm, und die Wände waren trocken. Egill spürte einen leichten
Windhauch, also musste der Tunnel am anderen Ende offen sein. In dem
Matsch waren keine Fußabdrücke zu sehen.
Er drehte sich zu Anna und brüllte, er werde einen Blick in den Tunnel
werfen. Sie schüttelte den Kopf und rief etwas, das er nicht verstand, ging
zurück zu dem Pfad und winkte ihm, ihr zu folgen.
»Nur zwei Minuten!«, brüllte er, hob zwei Finger und kletterte in den
Tunnel, ohne auf die Böschung davor zu treten. Augenblicklich wurde das
Dröhnen leiser, und nach ein paar Schritten verstummte es ganz. Egill
schaltete die Taschenlampe ein und tastete sich Schritt für Schritt in die
Dunkelheit. Der Tunnel führte bergauf, war aber nicht besonders steil. Er
ging weiter, bis das Licht von draußen verschwunden war und er keine
Ahnung mehr hatte, was er da eigentlich machte. Anna hatte runter in die
Schlucht gewollt, und jetzt wollte sie wieder rauf. Was wahrscheinlich keine
so dumme Idee war. Trotzdem ging er weiter.
Irgendwann wurde das Rohr von glänzenden schwarzen Felswänden
abgelöst, metallischem Geruch und dem Geräusch tropfenden Wassers. Egill
summte leise und spürte das Echo mehr, als dass er es hörte. Der Tunnel war
immer noch ziemlich rund, mit einem Bohrer ausgeschachtet, der sich
trillionenmal so schnell durch den Fels grub wie Wasser, selbst wenn es
schäumte und vorwärtsschoss wie der Fluss da draußen.
Er richtete die Taschenlampe tief ins Dunkle und schwenkte den lautlosen
Lichtstrahl hin und her. Wenn er die Öffnung nicht mehr sah, musste der
Tunnel dann nicht eine Biegung gemacht haben?
Ein Stück weiter lag etwas auf dem Boden.
Egill hatte einen metallischen Geschmack im Mund und atmete die kühle
Luft tief ein, sodass ihm innerlich ganz kalt wurde. Weit entfernt meinte er
Anna seinen Namen rufen zu hören, war sich aber nicht sicher, aus welcher
Richtung.
Er kam zu der Stelle und richtete die Taschenlampe auf das, was auf dem
Boden lag. Als Erstes sah er den Schwanz und die glänzend weißen
Körperfalten, die ihn an ein mit Öl eingepinseltes Hähnchen denken ließen.
Der Schwanz ragte wie ein Phallus in die Luft, erigiert und lächerlich.
Kein Fell, dachte er, schaute in flehende schwarze Augen und wusste, dass
es Tryggur war. Die kleine Zunge hing aus dem Maul, er hechelte schnell
und flach und versuchte vergeblich, auf die Beine zu kommen. Blutstropfen
so groß wie Nadelöhre erschienen überall auf seinem haarlosen Körper, und
sein Schwanz ringelte und streckte sich dann wieder. Man hatte ihn gehäutet.
Egill wich zurück, entfernte sich rückwärts von dem Tier, schwenkte den
Lichtkegel hastig über die Wände, hörte ein Geräusch hinter sich und drehte
sich um.
HRAFN – 25 | Konkurrenz
Vigdís legte den Zettel beiseite und trommelte hektisch mit den Fingern auf
den Tisch, wie immer, wenn sie aufgewühlt war.
»Was ist?«, fragte Hrafn.
»Sie sind vor uns losgegangen.«
Er griff nach dem Zettel und las. »Ich fasse es nicht … Er hat sich nicht
getraut, mir gegenüberzutreten, und sie einfach mitgeschleift. Dieser Idiot.«
»Er hat ja auch allen Grund, Schiss zu haben, oder?« Hrafn antwortete
nicht, ging zum Herd und setzte Wasser für den Kaffee auf. Er rieb sich die
Augen, die vom Schlaf ganz verquollen waren. »Wie lange sie wohl schon
weg sind? Seit Sonnenaufgang?« Er drehte sich wieder zu Vigdís. »Egill ist
doch gestern früh ins Bett gegangen, oder?« Er fand das alles plötzlich so
albern, dass er sich kaum beherrschen konnte. »Er ist frisch und erholt
aufgewacht und wollte los!«
»Du hättest dich sofort bei ihm entschuldigen sollen, als du zurück warst.
Aber das ist eine bescheuerte Entscheidung, das muss ich zugeben«, sagte
Vigdís. »Hoffentlich warten sie irgendwo auf uns. Anna bringt ihn bestimmt
dazu, anzuhalten und zu warten oder umzukehren.«
Das Wasser kochte, und sie tranken Kaffee. Vigdís schmierte mit den
Zutaten aus ihrer kleinen Frühstückstasche Brote, und sie aßen schweigend.
Die beiden Alten waren nirgends zu sehen. Sie waren bestimmt draußen und
versorgten ihre unsichtbaren Kühe oder unsichtbaren Schafe oder Hühner,
dachte Hrafn. Die Füchse waren die einzigen Tiere, die sie hier gesehen
hatten. Vielleicht melkten sie ja die Füchse.
Als sie zu Ende gefrühstückt hatten, zündete Hrafn sich eine Zigarette an.
Gestern Abend, als Vigdís zum Schlafen raufgekommen war, hatte er sich für
den Vorfall in der Lagerhalle entschuldigt. Sie fragte ihn, ob er gekifft habe,
wie Egill erzählt hatte, doch er verneinte und sagte, er habe nur kurz den
Joint in der Hand gehabt und daran gerochen – zur Auffrischung des
Gedächtnisses –, aber Egill habe das aufgebauscht, der sei ja auch schon seit
Beginn der Reise dauerbreit. Vigdís wollte nicht weiter darüber reden, drehte
sich auf die Seite und schlief sofort ein, wie üblich. Er erzählte ihr nichts von
dem Foto und den Knochen in dem Dorf, damit käme sie nicht klar,
zumindest nicht bevor sie zurück in der Stadt wären. Er selbst schlief in dieser
Nacht so gut wie gar nicht.
Sie spülten das Geschirr und räumten das Essen weg, und Vigdís schrieb
der Alten einen Zettel und bedankte sich für die Übernachtung.
Währenddessen packte Hrafn alles Unnötige aus den Rucksäcken, damit sie
leichter waren, nahm jedoch mehrere Päckchen Zigaretten und drei
Signalraketen pro Person mit. Dann verließen sie das Haus.
Von Süden wehte eine leichte, aber warme Brise, also konnte der Wind
jederzeit stärker werden. Sie liefen über den Hof, bis sie Annas und Egills
Spuren fanden. Sie führten nach Westen.
»Zum Staudamm«, sagte Vigdís und holte die Karte heraus, auf der sie
den Weg eingezeichnet hatte, den sie gestern vereinbart hatten. »Dann
nehmen sie von dort die Piste nach Norden.«
»Haben sie eine Karte dabei?«
»Anna hatte eine Karte und einen Kompass.«
»Die kann doch nicht mit einem Kompass umgehen. Und er genauso
wenig, egal, was er dir erzählt oder Anna vorgelogen hat.«
»Sie finden bestimmt die ungefähre Richtung, auch wenn sie nicht mit
dem Kompass umgehen können. Wenn wir uns beeilen, holen wir sie ein.«
»Wollen wir das denn wirklich?«
»Selbstverständlich, Hrafn. Wir müssen gemeinsam gehen, ob ihr nun
miteinander redet oder nicht, alles andere ist für uns alle zu gefährlich.« Er
richtete den Kompass auf den Hügel aus, von dem aus sie den Damm
gesehen hatten, und dann marschierten sie los. Vigdís nahm das Fernglas und
schaute sich suchend um. Als Hrafn nachfragte, sagte sie, sie suche das Auto,
in dem sie gestern Zuflucht gefunden hatte.
»Ich bin mir sicher, dass es hier irgendwo war. Als der Sturm nachließ,
konnte ich das Haus sehen.«
»Wir könnten draufstehen, ohne es zu sehen, wenn es dieselbe Farbe hat
wie der Sand.«
»Das ist schon seltsam«, sagte sie nach einer kurzen Pause.
»Was?«
»Meine Freundin Ólöf war hier in der Gegend Reiseleiterin, ist mit
Touristen über den Sprengisandur zum Langjökull gefahren. Sie meinte, die
erste Reaktion auf die Sandflächen sei meistens Erstaunen, man würde die
Schönheit und die Ruhe bewundern, aber dann kämen Fragen über Meter
und Kilometer, Höhen, Längen und Breiten. Die Leute wollen Tatsachen
über das Gebiet hören, etwas Konkretes, weil sie nichts mehr sehen und
hören, unsere Gedanken bekommen hier draußen keine Nahrung. Weil man
über eine solche Landschaft nichts denkt. Das ist nicht möglich und
verursacht Schwindel, alles dreht sich um einen.«
»Aber die meisten werden ganz ruhig, oder? Der Großstadtstress fällt von
ihnen ab.«
»Ja, wahrscheinlich … Was meinst du, zu welcher Gruppe wir gehören?«
Der Wind wurde stärker, ohne dass der Sand hochwirbelte. Vigdís
schaute sich weiter verstohlen um, und als Hrafn fragte, was los sei,
antwortete sie, sie verstehe gewisse Dinge nicht, die gestern geschehen seien.
»Warum hat Egill Anna nichts von eurem Streit erzählt?«, fragte sie. »Als
ich gestern Abend mit ihr geredet habe, wusste sie nichts davon.«
»Er hat ihr zumindest heute Morgen davon erzählt. Vielleicht wollte er sie
damit verschonen … Außerdem redet er nie über solche Sachen, das ist ihm
zu persönlich. Alles, was mit der Vergangenheit zu tun hat, ist ihm zu
persönlich, er betrachtet es als Waffe, etwas über andere Leute zu wissen.
Außerdem ist er zu stolz, um sich über mich zu beklagen.«
»Und du, bist du auch zu stolz, um über eine bestimmte Sache zu reden?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Egill hat ein Mädchen erwähnt. Er meinte, er hätte sich wegen ›des
Mädchens‹ bei dir entschuldigt. Worum ging es denn da?«
»Das hab ich dir doch schon erzählt.«
»Ja, von dem Mädchen, falls es sich um die handelt, die ich meine. Aber
nicht von Egill … Ich möchte es wissen, Hrafn. Das schuldest du mir nach
gestern.«
»Ich schulde es dir …? Na schön.« Er überlegte und erzählte ihr dann von
dem Abend, als er zum zweiten Mal in der Schule sitzengeblieben war. Auf
dem Weg zu einer Party war er noch einmal zu Hause vorbeigegangen, um
etwas zu holen, und es hatte damit geendet, dass er sich mit seinem Vater
geprügelt und der ihn niedergeschlagen hatte. »Wir waren beide betrunken.
In derselben Nacht zog ich in eine Wohnung in der Hringbraut, in der mein
Dealer mit zwei anderen Typen wohnte … Ich fing an, Gras zu verkaufen,
das hab ich dir ja schon mal erzählt, ging dann zu Speed über, vergrub am
Stadtrand Pakete und verkaufte sie.«
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Ich war es gewohnt, Geld zu haben, verstehst du? Ich bin mit Geld
aufgewachsen … Als die Bullen anfingen, mein Telefon abzuhören und mich
in der Stadt zu verfolgen, was schon innerhalb eines Jahres geschah, hörte ich
mit dem Dealen auf und kümmerte mich um einen Nachtclub in der
Hafnarstræti, wo Geld gewaschen wurde, machte dieses und jenes.«
»Was war mit Egill?«
»Er ließ sich da nicht mit reinziehen. Zumindest nicht so sehr, dass er sich
unter der Woche nicht davon hätte fernhalten können … Er ging weiter zur
Schule, paukte und wohnte bei seinen Eltern. Wir trafen uns am
Wochenende zum Feiern … Nach meinem Auszug zu Hause war er die
einzige Verbindung zu meiner Vergangenheit, eine Art Bezugspunkt. Ich
vertraute ihm. Dann veränderte er sich, und ich hatte das Gefühl, dass er
einen Unterschied zwischen uns machte: Er hielt sich für was Besseres.«
»Wie kamst du darauf?«
»Wegen allem Möglichen, was er sagte, wie er mich anschaute … Erst
reagierte ich nicht darauf und dachte, es läge an den Drogen. Aber ich
merkte, wie er mich zum Konsum drängte und sich selbst zurückhielt; er hat
nie versucht, mich daran zu hindern, dass ich mein Leben zerstöre, mich nie
davon abgehalten, egal, was ich tat … Ich wollte keine guten Ratschläge,
aber es ist so eine Sache, wenn man von anderen profitiert – sich besser fühlt,
je tiefer andere sinken … Ich war immer beliebter als er, schlagfertiger,
schloss schnell Freundschaften, ohne mir groß Gedanken darüber zu machen,
und das Lernen fiel mir leicht. Er hatte sich nie um irgendwas besonders
bemüht, aber das änderte sich, das merkte ich schon, als ich noch in der
Schule war. Im zweiten Jahr der Oberstufe kam er nach den
Weihnachtsferien verändert zurück, als hätte er beschlossen, dass er jetzt an
der Reihe wäre, das sah man sofort – wie er sich verhielt, wie er sich
ausdrückte, wie er die Leute in den Fluren grüßte, welche Klamotten er trug
oder welche Bücher er las, von Autoren, deren Initialen länger waren als ihre
Namen. Über Gruppenpsychologie, Führungstechniken, Körpersprache,
Werbung. Er trank auch weniger, nahm an Schnelllese- und Rhetorikkursen
teil, erwähnte zum ersten Mal die Chicagoer Schule und ging zu Treffen der
konservativen Studentenvereinigung, wo er Freunde fand. Als ich nicht mehr
dabei war, kandidierte er für den Vorstand der Schülervereinigung und
bekam einen Posten als Schriftführer oder so was.«
»Es ist doch nicht ungewöhnlich, sich zu verändern, besonders auf dem
Gymnasium, oder? Man misst sich ständig mit anderen. Sucht seine Rolle im
Leben …«
»Ja, natürlich. Und Egills Darbietung war großartig, wie nach einem
Drehbuch, das jemand anders für ihn geschrieben hatte, jedenfalls jemand,
den ich nicht kannte. Ein schönes Wort dafür wäre Ehrgeiz, er hatte den
Aufsteiger in sich entdeckt, und es fiel mir schwer, das zu ignorieren. Von
seinem Standpunkt aus gab es zwischen uns keine Brüderlichkeit oder das
Bedürfnis, sich zu helfen oder zusammenzuhalten, sondern wir waren
Konkurrenten.«
»Haben andere diese Veränderung auch wahrgenommen?« Vigdís klang
zögernd, sogar zweifelnd, was ihm auf die Nerven ging.
»Nicht so stark wie ich. Er hatte sonst keine Freunde aus der Kindheit, ein
paar gemeinsame Bekannte, aber so gesehen niemanden, der ihn schon
länger kannte. Ich übertreibe nicht … Und ich hab nichts gegen Konkurrenz,
das weißt du, aber er ging zu weit. Einmal verlor ich die Beherrschung,
beschimpfte ihn und machte ihm Vorwürfe, ich würde den Menschen
vermissen, der er früher mal gewesen war. Danach war er eine ganze Woche
lang beleidigt – vielleicht schrieb er währenddessen neue Szenen für seine
Rolle, definierte seinen Charakter neu. Zur selben Zeit lernte ich ein
Mädchen kennen, die, über die wir schon mal gesprochen haben und auf die
er sich bei dem Streit bezogen hat.«
»In die du verliebt warst?«
Er nickte. »Auf meine verquere Weise. Ich wusste nie, was sie in mir sah,
aber ich wollte sie auf keinen Fall enttäuschen. Sie nahm keine Drogen und
war anders als alle, mit denen ich sonst zu tun hatte, warmherzig und
fröhlich, wunderschön, all das. Ich benutzte sie als Ansporn, um aus dem
Sumpf rauszukommen und ein besserer Mensch zu werden. Was ich Egill
auch anvertraute. Er sagte, er habe mich noch nie so reden hören, wünschte
mir viel Glück und umarmte mich.
Einen Monat später, am Tag nachdem das Mädchen mit mir Schluss
gemacht hatte – sie meinte, sie könne es nicht mit ihrem Gewissen
vereinbaren, mit einem Dealer zusammen zu sein –, rief Egill an und wollte
mich treffen. Während wir um den Stadtteich spazierten, das machten wir
manchmal, sagte Egill, er und das Mädchen seien ineinander verliebt, sie
hätten viel Zeit miteinander verbracht, während ich beschäftigt gewesen
wäre, mich um den Club gekümmert hätte und so. Sie würden sich schämen,
das sei ganz plötzlich passiert, bei einem Besäufnis, und ich müsse verstehen,
dass er das alles nicht gewollt hätte, aber jetzt sei es nun mal so.
Ich hörte, wie er redete, wie er sagte, es tue ihm leid, und glaubte ihm
nicht. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob er sich selbst glaubte. Er
versuchte es gar nicht erst, spulte seine Rede runter wie eine halbherzige
Imageaufbesserung, gut für das Selbstbild aller Beteiligten und unseren
zukünftigen freundschaftlichen Umgang miteinander, erwartete anscheinend
eine Standardreaktion – einen Emotionsausbruch, ein paar aufs Maul oder
noch Schlimmeres –, aber im Grunde ging ihn das alles nichts an … Und ich
war total frustriert, weil es Egill überhaupt nicht leidtat, sondern er ganz im
Gegenteil der Meinung war, er habe das Recht, mir dieses Mädchen
wegzunehmen, weil mein Leben kaputt war, hässlich und schmutzig und nah
am Abgrund, weil ich sie nicht richtig schätzen würde und kein Recht auf
meine Gefühle hätte, falls ich überhaupt welche empfinden könnte. Freundin
weg, jetzt kann das arme Schwein weiter Drogen nehmen und hat am
nächsten Tag alles vergessen.
Das war das, was er sagte oder was ich heraushörte, und mitten in seinem
Vortrag ging ich einfach weg. Er rief mir hinterher, aber ich drehte mich
nicht um, lief raus nach Vatnsmýri und legte mich an den Teich beim
Nordischen Haus. Es war eiskalt, das Gras gefroren und weiß und der
Himmel sternenklar, sehr dramatisch … Dann schnupfte ich was und bereute
es, weggerannt zu sein, stand eine Stunde vor Egills Haus und wusste nicht,
ob ich ihm nachspionieren oder etwas antun wollte. Am Ende ging ich zu
einer Party bei einem Freund, die ein paar Monate lang andauerte, und als
ich wieder zu mir kam, hatte ich vergessen, wie das Mädchen hieß.«
Sie erreichten den Hügel, auf dem sie am ersten Tag versucht hatten,
Handyempfang zu bekommen, und blieben stehen, um etwas zu trinken.
Hrafn hatte den Eindruck, dass er künstlich aufgeschichtet war, ebenso wie
der kleine Höcker an seinem Fuß und die anderen Hügel beim Barackendorf
und vielleicht alle Anhöhen in dieser Gegend – im Gestein tief unten in der
Erde geboren, das man gesprengt, zermahlen und mit Lastwagen
rauftransportiert hatte. Machte das einen Unterschied? War nicht unsere
gesamte Wahrnehmung künstlich?
Er nahm die Wasserflasche und spritzte sich Wasser in den Mund. Das
Tor in dem Höcker war immer noch geschlossen.
»Reicht dir das?«, fragte er dann und lächelte Vigdís zu.
»Was?«
»Die Rechtfertigung?«
»Du musst dich mir gegenüber nicht rechtfertigen«, entgegnete sie, wobei
sie merkte, dass sie das nicht ehrlich meinte. »Waren Egill und das Mädchen
lange zusammen?«
»Ein paar Monate. Genauso lange, wie ich brauchte, um in meiner
persönlichen Hölle unterzugehen, könnte man sagen … Als ich später über
die Geschichte nachdachte, meinte ich, etwas Niederträchtiges an ihm
wahrgenommen zu haben, eine Gleichgültigkeit und Grausamkeit, die ich
nicht verstehen konnte. Aber ich denke nicht mehr oft daran.«
»Als du zu mir in die Praxis kamst, sagtest du, du hättest nie mit dem
Mädchen geschlafen … Stimmt das?«
Er nickte. »Wahrscheinlich schon, aber irgendwas werden wir wohl
gemacht haben.«
»Glaubst du, dass Egill mit ihr geschlafen hat?«
»Selbstverständlich … Der kann doch nicht länger als eine Stunde mit
einer Frau verbringen, ohne es zumindest zu versuchen. Und wenn es nicht
klappt, trollt er sich wie ein Köter. Sie waren zusammen, bis sie für ihn
langweilig wurde, nehme ich an – bis sie alles über mich erfahren hatte.«
»Alles über dich?«
»Meine Versuche.«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Ich weiß nicht … eine große.«
»Und warum kommt das jetzt alles hoch?«
Er zuckte die Achseln, spritzte sich mehr Wasser in den Mund und
versuchte, sich an die Vorgeschichte des Streits in der Lagerhalle zu erinnern,
aber ihm fielen nur die Knochen ein, über die er nicht sprechen konnte.
»Weil hier so viel Platz ist vielleicht?« Er lächelte, dann lachten sie beide, und
er wusste, dass sie ihm verziehen hatte. Was gut war.
Der Wind wurde immer stärker, und kurz nachdem sie den Hügel hinter sich
gelassen hatten, schien der Sand sich plötzlich komplett vom Boden zu
heben. Um sie herum wurde es düster, und Hrafn wickelte sich schnell ein
Halstuch vor den Mund und sah aus dem Augenwinkel, dass Vigdís dasselbe
tat.
Anstatt sich blindlings auf den Kompass zu verlassen, beschlossen sie,
nach Südwesten zur Schlucht und an ihr entlang bis zum Staudamm zu
laufen. Da Vigdís eine Sonnenbrille aufhatte und besser sehen konnte, ging
sie voran. Als sie die Schlucht erreichten, sahen sie, dass der Fluss seit gestern
immens angestiegen war.
Bei der Schlucht war die Sicht etwas besser, und der Sand brannte nicht
so in den Augen, weil weniger herübergeweht wurde. Hrafn suchte nach
Fußspuren, was zwar albern war, aber er musste einfach irgendwas machen.
Dann wanderten sie weiter, obwohl er unsicher war, ob das sinnvoll wäre. Sie
durften sich keine Fehler erlauben, schon einer wäre zu viel, zum Beispiel
wenn sie davon ausgingen, dass der Sturm sich gegen Abend legte, was dann
womöglich nicht geschah, oder dass der Wind innerhalb von einer Stunde
nicht nach Nordosten drehen, kälter werden, sich in strömenden Regen oder
sogar Schneeschauer verwandeln könnte. Sie wussten gar nichts.
Die Schlucht machte einen weiten, abschüssigen Bogen nach Süden.
Hrafn schaute durchs Fernglas, konnte den Staudamm aber nirgends
entdecken. Sie folgten weiter der Schlucht, bis sie an einem Pfad, der an der
Felswand entlang in die Schlucht führte, auf zwei Rucksäcke stießen. Sie
öffneten die Rucksäcke, um sich zu vergewissern, dass sie Egill und Anna
gehörten. Egills Rucksack war voller Alkohol.
Vigdís riss sich das Tuch und die Sonnenbrille vom Kopf, gestikulierte
wild und brabbelte etwas, das Hrafn nicht hören konnte. Sie war so aufgelöst,
dass es ihm unangenehm war, sie anzuschauen. Das Heulen des Windes
machte eine Unterhaltung nahezu unmöglich. Er tat so, als sähe er den Pfad
nicht, der in die Schlucht führte, und wollte nicht runtergehen. Vigdís
drängte sich dicht an ihn und schrie: »… da runter?«
Sie hatte einen fragenden Gesichtsausdruck und zeigte auf den Pfad. An
dessen Ende sah man das Schmelzwasser des Gletschers. Hrafn setzte seinen
Rucksack ab und stellte ihn neben die anderen, blieb zögernd oben am Pfad
stehen und dachte an die Flaschen und den behaglichen Rausch und an den
unsichtbaren Gletscher, der schmolz und grau und tosend in die Welt
hineinbrach. Schließlich sagte er, er werde runtergehen, und wies Vigdís an,
zu warten.
»Du siehst mich!«, rief er, um ihr zu verstehen zu geben, dass er immer in
Sichtweite bleiben würde, und eilte dann den Pfad hinunter.
In der Schlucht war es windstill, aber der Lärm war ohrenbetäubend, das
Wasser reichte dicht an den Rand des Pfads heran und stieg mit jeder
Minute. Hrafn erreichte die Stelle, wo der Pfad endete und ein großes Rohr
in der Erde verschwand. Auf dem Boden im Matsch vor dem Rohr waren die
Fußspuren von zwei Menschen. Sie führten hinein, aber nicht wieder heraus.
VIGDÍS – 26 | »Noch jemand?«
Vigdís sah ihm nach, wie er den Pfad hinunterging. Sie war schon in
schwierigeren Situationen als dieser gewesen, trotzdem traute sie ihren
eigenen Reaktionen nicht – sie wusste nicht mehr, wie sie reagieren würde,
selbst wenn Anna blutüberströmt vom Himmel fallen oder lachend aus ihrem
Rucksack springen würde oder Egill auf einer Ziege über den Sand geritten
käme.
Hrafn stand am Ende des Pfads, was so aussah, als würde der graue
Gletscherfluss über seinen Kopf fließen, und starrte in die Felswand. Vigdís
rechnete damit, Anna oder Egill jeden Moment zu sehen, aber nichts
geschah, niemand kletterte lachend aus dem Felsen oder steckte den Kopf aus
dem Fluss und winkte. Hrafn kehrte um und stieg wieder zu ihr den Abhang
herauf. Sie schaute ihn fragend an, aber er schüttelte nur den Kopf. Sein
Gesicht war ganz nass von der Gischt.
Er setzte den Rucksack auf, und dann stellten sie sich ganz dicht
nebeneinander, damit sie sich verstehen konnten. Er sagte, er habe da unten
keine menschlichen Spuren gefunden, und sie schlossen daraus, dass Anna
und Egill umgekehrt und zurück zum Haus gegangen sein mussten, weil sie
etwas vergessen hatten, oder noch wahrscheinlicher: Anna hatte Egill gut
zugeredet, sie hatten beschlossen, doch mit ihnen gemeinsam zu gehen, und
die Rucksäcke stehen lassen, weil sie denselben Weg zurückkommen wollten.
Vigdís zog die Rucksäcke etwas vom Rand der Schlucht weg für den Fall,
dass sich der Wind drehen sollte, und anschließend gingen sie den Weg an
der Schlucht entlang zurück.
Ihre Theorie hatte ein paar Haken, das musste sie zugeben. Egill hätte es
bei der schlechten Sicht beispielsweise nie gewagt, sich von der Schlucht zu
entfernen, dafür war er zu ängstlich und vorsichtig. Sobald sich die Sicht
verschlechtert hatte, wäre er zur Schlucht gegangen und ihr bis zur Brücke
gefolgt, weil er wusste, dass es von dort nicht mehr weit zum Haus war. Dann
hätten sie sich getroffen.
Aber wie gut kannte sie Egill und Anna eigentlich? Sie hatte ein paarmal
mit ihnen zu Abend gegessen, sich an einem Abend fast volllaufen lassen,
Egills forschende Blicke registriert und Hrafns Schweigen im Auto auf dem
Heimweg.
Ihr erster Kontakt zu Egill, unbekannterweise, war durch einen seiner
Kundenberater zustande gekommen, »jemanden von der Bank«, der eines
Tages ihren Vater anrief und sagte, er betreue »gute Kunden« und habe
gesehen, dass der reelle Wert seines inflationsbereinigten Vermögens von Jahr
zu Jahr gesunken sei. Er riet ihm, einen Großteil des Geldes in deCODE-
Aktien zu investieren. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater eine
größere Versicherungssumme erhalten, Vigdís ein Auto gekauft, ansonsten
aber ihres Wissens kaum etwas ausgegeben, noch nicht einmal seine eigenen
Einkünfte. Ohne Vigdís zu fragen, und anscheinend auch keinen anderen
außer diesem Schwein von der Bank, kaufte er für das ganze Geld Aktien,
und am Tag nach dem Börsengang der Firma war das Geld weg, jede
einzelne Krone. Später erklärte ihr Hrafn, wie Egill seine ersten Millionen
gemacht hatte: durch die Entwicklung eines Marketingkonzepts für den
Verkauf von deCODE-Aktien, die weggingen wie warme Semmeln, und den
Rest konnte sie sich selbst zusammenreimen. Aber sie sagte nie etwas, weder
zu Egill noch zu Hrafn, wartete auf die richtige Gelegenheit oder war sich
einfach nicht im Klaren darüber, was sie tun sollte.
Waren Freunde, auf gewisse Weise, nicht wie eine Bekundung des eigenen
Selbst? Mindestens einmal hatte sie eine Nähe zwischen Hrafn und Egill
festgestellt, die sie eifersüchtig machte. Sie kannten sich schon seit
Kindertagen, und das schweißte zusammen, unabhängig davon, wie man das
selbst sah.
Sie erreichten die Brücke. Sie hing an ihrem Seil in der Schlucht, was
bedeutete, dass Egill sie am Tag zuvor eingeholt hatte, nachdem er sie
überquert hatte. Gut, dachte Vigdís, dann gab es wenigstens einen Grund für
den Zustand der Brücke. Das Dorf war vor lauter Sand nicht zu sehen.
Von der Brücke aus gingen sie mit dem Wind im Rücken nach Norden,
aber die Sicht war schlechter als gestern und reichte nur wenige Meter weit.
Vigdís stoppte die Zeit und nahm den Kompass zu Hilfe. Wenn sie nicht in
einer halben Stunde zurück beim Haus wären, sollten sie in einem Kreis
laufen und diesen stetig verkleinern, schlimmstenfalls zur Schlucht
zurückkehren und noch mal von vorne anfangen. Um sie herum wirbelte und
fegte der Sand wie dunkle Wolken über die Erde, wurde von Süden nach
Norden getragen, und vielleicht würde der Wind eines Tages im Dunkel des
Januars die Richtung ändern und die Sandkörner zurück an ihren Platz
befördern.
»Ganz ruhig, ganz ruhig«, murmelte sie in ihre Kapuze und wusste nicht,
ob das Tosen des Sturms laut oder leise war. Vermutlich ziemlich laut. Nach
und nach schienen das Rauschen und Flüstern auch in ihr zu sein, in ihren
Knochen und Muskeln und ihrem kleinen Gehirn, dem feuchten grauen
Klumpen, den sie durch die Sandwüste trug. Eine Zeit lang hatte sie das
Gefühl, als liefen sie durch ein aufgewühltes Meer, der Sand wogte, und ihr
wurde schwindlig vom rauschenden Wind in den Ohren, der Sand verstopfte
ihre Nase und klebte in Mund und Augenwinkeln.
Sie ging weiter in ihrem Rhythmus, und Hrafn folgte ihr dicht auf den
Fersen. Auf einmal erkannten sie die Umrisse des Hauses im Sandgestöber.
Es ähnelte einem Felsen, der über ihnen aufragte. Auf dem Hof und in den
Fenstern war niemand zu sehen.
»Sie sind nicht hier«, murmelte Vigdís, stützte sich auf das Geländer, stieg
dann die Treppe hinauf und öffnete die Tür. In der Diele wickelte sie sich das
Tuch vom Kopf, setzte die Brille ab und rief, ob jemand zu Hause sei. Sie
ging nach oben und sah sich um. Egills und Annas Zimmer war leer, es gab
keine Anzeichen, dass sie sich dort aufgehalten hatten.
»Hier ist niemand«, sagte sie und ging ins Wohnzimmer, wo Hrafn saß
und rauchte. »Da muss was passiert sein. Sie sind umgekehrt, um uns zu
holen, und haben sich in der Sandwüste verlaufen. Ich kann nicht glauben,
dass Egill so dumm ist.«
»Hier kommen und gehen die Leute ständig«, sagte Hrafn und
betrachtete ein paar Bücher in einem Regal. »Genauso wie das Dorf und der
Staudamm – erst war da nichts, dann tauchte es auf, und jetzt ist wieder
nichts.«
»Jedenfalls müssen wir hier warten«, sagte Vigdís und zündete sich eine
Zigarette an. »Wenn sie nicht bald kommen, spätestens wenn der Sturm
vorbei ist, machen wir uns zu zweit auf den Weg.« Hrafn nickte und blätterte
in einem Buch, das er aus dem Regal gezogen hatte. Er war ungewöhnlich
still und schaute ihr nicht ins Gesicht, als schäme er sich. »Ist alles in
Ordnung?«, fügte sie hinzu. »Ich vertraue dir, Liebling … Du verheimlichst
mir doch nichts, oder?«
»Natürlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab dir alles gesagt, was
ich weiß.«
Sie musterte die Fotografie an der Wand, die Annas »schönes Paar«
zeigte. Es fühlte sich überhaupt nicht so an, als hätten sie erst gestern Abend
hier gesessen, ein paar Gläser getrunken und sich alles Mögliche
zurechtgesponnen. Die Probleme, über die sie gestern nachgegrübelt hatten,
wirkten belanglos im Vergleich dazu, wie es jetzt war.
Bevor sie sich versah, hatte sie Hrafn auf das Bild hingewiesen und
erzählte ihm von Annas Theorien, dass die Frau auf dem Bild nicht Ása,
sondern die Geliebte des Mannes und zu allem Überfluss seine Schwester sei,
zumindest gebe es gute Argumente dafür, und dass die beiden ein Kind
bekommen hätten, das in einem geheimen Raum hinter dem Arbeitszimmer
des Alten im ersten Stock gewohnt habe, und dass sie es aus dem Bild an der
Wand herausgeschnitten hätten.
»Im Arbeitszimmer gibt es Tausende Bücher und Fotos von dem Alten
mit Politikern und allen möglichen Prominenten. Diese Leute sind keine
Bauern, zumindest nicht er …«
»Sprichst du von Inzest?«, fragte Hrafn, der sich aufs Sofa gelegt hatte
und an die Decke starrte.
»Ja, glaubt Anna jedenfalls, ich weiß es nicht. Warum sollten diese Leute
sonst hier sein? Wenn sie nicht vor etwas geflohen sind, in Schande …«
»Und ein geheimer Raum hinter einem Bücherregal?«
»Sie hat oben im Arbeitszimmer ein altes Familienfoto von ihnen gesehen,
von denselben Leuten, die hier unten als Erwachsene abgelichtet sind.
Außerdem hat sie einen Lebenslauf des Alten gelesen, in dem einiges
angedeutet wird. Das lässt sich bestimmt überprüfen, wenn wir uns den
Raum anschauen, von dem sie gesprochen hat. Wenn ich mich recht
erinnere, hat sie ein Buch aus dem Regal gezogen, um ihn zu öffnen, aber sie
hat nicht gesagt, welches. Und ich hab nicht gefragt … Sie hat behauptet, die
Frau auf dem Foto sei hier draußen beerdigt.«
»Verstehe … Und das Kind? Die Frucht der verbotenen Beziehung? Wo
ist das?« Vigdís hatte plötzlich das Gefühl, dass er sich über sie lustig machte.
»Es ist jedenfalls kein Kind mehr und schon erwachsen, nehme ich an. Ich
weiß, wie das klingt, Hrafn, aber du solltest es nicht so leichtfertig abtun. Es
gibt so viele einleuchtende Erklärungen …« Sie holte tief Luft. »Ich weiß, wir
hatten was getrunken, aber das klingt jetzt alles schon viel wahrscheinlicher
als gestern.«
»Du glaubst also, dass da oben jemand ist. Noch jemand?«
»Hab ich das gesagt?« Hrafn antwortete nicht, stand vom Sofa auf und
ging zu der Fotografie an der Wand.
Hatte sie das gesagt? Dass sich da oben jemand aufhielt, von dem sie
nichts wussten?
Hrafn löste seinen Blick von dem Bild und setzte sich wieder. »Was
meintest du, wo dieses Arbeitszimmer ist?«
»Am Ende des Flurs im ersten Stock.«
Er legte sich aufs Sofa und breitete eine Decke über sich. »Ich liebe dich«,
sagte er plötzlich und schaute sie an.
Sie lächelte und setzte sich zu ihm. »Ich liebe dich auch … Warum sagst
du das jetzt?«
»Gibt es einen schlechteren Moment als jetzt?« Er zog die Decke bis zur
Nase hoch und schloss die Augen – es fehlten nur Notizblock und Stift, um
die Ähnlichkeit mit dem Anfang ihrer Beziehung zu perfektionieren: die
Ärztin und der Patient.
Sie ließ ihren Blick durchs Wohnzimmer schweifen und lauschte auf
Hrafns tiefer werdende Atemzüge. In dem Regal neben dem Sofa standen
mehrere Romane und eine hübsch eingebundenen Ausgabe der Volksmärchen
von Jón Árnason. Sie griff nach dem Buch, in dem Hrafn gelesen oder hinter
dem er sich versteckt hatte – Geschichten von Teufeln und Dämonen, eine
Sammlung »neuer Volksmärchen«, von der Vigdís noch nie etwas gehört
hatte. In einem kurzen Vorwort von einer Person, die sich Gehz Höll nannte,
stand, alle Geschichten in dem Buch hätten im zwanzigsten Jahrhundert
unter den Leuten kursiert und seien nicht erfunden, sondern »wirklich
passiert«.
Falls Letzteres ein Scherz war, wurde das nicht deutlich. Vigdís blätterte
in dem Buch und blieb an einer Geschichte mit dem Titel »Es hat so schöne
Kleider« hängen.
Die Geschichte handelte von einem Mann, der sich bei Schneesturm auf
dem Hofsjökull verirrte und von seinen Reisegefährten getrennt wurde, einer
Wandergruppe aus der Stadt. Als es wieder aufklarte, stieg der Mann vom
Gletscher, ohne Angst zu haben, denn er war gut ausgerüstet. Plötzlich
erreichte er ein tiefes, grasbewachsenes Tal am Rande des Gletschers, von
dem er noch nie gehört hatte. Das Tal war fruchtbar, und durch seine Mitte
floss ein Fluss.
Der Mann folgte dem Fluss, bis er an einen Bauernhof kam, wo er
anklopfte. Zwei abgemagerte Kinder öffneten ihm die Tür und führten ihn
ins Wohnzimmer, wo ein noch abgemagerteres Ehepaar mit einem kleinen
Wesen saß, das einen riesigen Fleischberg auf einem Teller vertilgte. Das
Ehepaar hieß den Mann willkommen, setzte ihm einen Teller mit einer
wässrigen Suppe vor, die es selbst und die Kinder auch aßen und die sich sehr
von der Portion unterschied, die das Wesen vor sich hatte.
Das Wesen war merkwürdig in Aussehen und Gebaren, es war nicht viel
größer als die Kinder, hatte aber einen krummen Rücken und ein Gesicht
wie ein Greis. Es schaute kein einziges Mal von seinem Teller auf, dennoch
schien es alles um sich herum zu sehen, da seine Augen ungewöhnlich weit
oben auf der Stirn saßen. Es trug bunte Kleider, rot, gelb und blau, so grell,
dass es unangenehm war. Wenn man genau hinschaute, sah man, dass die
Haut schlaff an dem Wesen herunterhing, fast so als hätte man sie ihm in Eile
übergeworfen, und hier und da blitzte rotes, glänzendes Fleisch auf, das
aufriss und aus der Haut drang, wenn das Wesen sich bewegte. Sein Geruch
war streng, wie eine Mischung aus Exkrementen und vergammeltem Fisch,
und zog sich durchs gesamte Haus.
Der Mann aß seine Suppe und versuchte herauszufinden, wo er sich
befand, doch seine Augen wurden immer wieder von diesem kleinen,
abstoßenden Wesen am Tischende angezogen, so wie die Augen der
gesamten Familie, die hypnotisiert zuschaute, wie es aß. Nachdem es seinen
Teller leer gegessen hatte, verschwand es nach draußen, und der Mann
fragte, wer das sei. Das Ehepaar sagte, »der kleine Mann«, wie sie ihn
nannten, sei vor ein paar Wochen zu ihnen gekommen, er sei ein
willkommener Gast und sie wollten alles für ihn tun. Der Mann war empört
und zog eines der Kinder zu sich, umfasste seinen Arm, der nur aus Knochen
bestand, und fragte, ob sie nicht sähen, dass ihre Kinder Hunger litten,
genauso wie sie selbst, und warum sie dem Wesen den Vortritt ließen. Da
antworteten sie einstimmig: »Es hat so schöne Kleider.«
Am nächsten Tag zur Abendessenszeit wiederholte sich das Spiel: Das
Wesen erschien auf dem Hof, setzte sich in die Stube und verlangte wortlos
nach Essen. Ein vollgeladener Teller mit fettem Fleisch wurde ihm vorgesetzt,
während die Familie und der Mann Suppe aßen. Nun konnte der Mann nicht
länger stillhalten und machte dem Wesen Vorwürfe, doch es antwortete
nicht, und als es seinen Teller leer gegessen hatte, verschwand es.
Der Mann begann zu ahnen, wie es um die Sache bestellt war, und nahm
sich vor, erst zu gehen, wenn die Familie von dem Bann erlöst wäre. Ein paar
Tage später war das Fleisch im Tal aufgebraucht, denn das Wesen hatte alles
aufgegessen. Am Abend, als kein Fleisch auf seinem Teller lag – zur großen
Verzweiflung der Familie –, begann das Wesen laut zu brüllen. Im
Handumdrehen hatte es die beiden Kinder an sich gerissen, erst den Jungen,
dann das Mädchen, und sich durch deren Bäuche gefressen, durch die Lunge
und das Herz, und beschmierte seine Kleider mit Blut, sodass sie leuchteten
wie nie zuvor. Anschließend verschwand es durch die Tür.
Als der Mann seine Sprache wiederfand, forderte er den Hausherrn auf,
sich zu bewaffnen und mit ihm gemeinsam das Wesen aufzuspüren, doch der
Hausherr und die Hausherrin sagten: »Es hat so schöne Kleider«, und
weigerten sich, irgendetwas zu unternehmen.
Am folgenden Abend erschien das Wesen erneut, setzte sich an den Tisch
und verlangte Essen. Als kein Fleisch auf seinem Teller lag, fing es an zu
brüllen, kletterte auf den Tisch und lief geradewegs zu der Hausherrin, führte
den Mund dicht an ihre Augen und saugte. Ein schmatzendes Geräusch
erklang, als die Augen aus den Höhlen glitten, erst das eine und dann das
andere. Als Nächstes entblößte es die Brüste der Frau und aß sie, bis nichts
mehr von ihnen übrig war, und beschmierte seine Kleider mit Blut, sodass sie
grell leuchteten. Anschließend verschwand es. Als der Mann aufsprang und
verlangte, dass sie das Wesen verfolgten und töteten, sagte der Hausherr wie
immer: »Es hat so schöne Kleider.«
Der Mann sah ein, dass es so nicht weitergehen konnte. Vor dem
Abendessen am nächsten Tag träufelte er sich Wachs in die Ohren und ließ
es hart werden, damit der Zauber nicht auf ihn wirkte. Als das Wesen sich
setzte und mit dem Gebrüll anfing, sprang der Mann auf die Füße und hieb
mit einem Messer nach ihm, woraufhin es verschwand. Als er genauer
hinschaute, sah er, dass es sich in eine kleine schwarze Fliege verwandelt
hatte, die er viele Male ums Haus und wieder hineinjagte, bis er erschöpft zu
Boden stürzte. Da kreiste die Fliege über dem Tisch, wo der Hausherr saß
und seine wässrige Suppe aß, landete auf dem Suppenlöffel und verschwand
mit ihm in seinem Mund, wo das Wesen wieder seine ursprüngliche Größe
annahm. Dabei platzte der Kopf des Bauern, und das Wesen erschien wieder,
saß rittlings auf seinen Schultern und badete sich in heißem Blut, mit
Kleidern so strahlend hell, dass der Mann gezwungen war, wegzuschauen.
Danach ging der Mann fort, zumal nun niemand mehr in dem Tal am
Leben war. Er folgte dem Fluss und lief lange, bis er in eine bewohnte
Gegend kam, wo er die Geschichte von dem kleinen Teufel erzählte, der sich
eine Menschenhaut übergeworfen hatte und sich in Farben hüllte, die heller
waren als alles andere auf dieser Welt.
27 |
Vigdís wusste nicht, wie lange sie dort gesessen hatte, sie schloss die Augen
und sah Ereignisse aus der Geschichte des Hauses vor sich; seinen Bau mit
Felsgestein aus der Umgebung, den Transport der Bibliothek über die
Sandflächen in einem Anhänger, eine Frau, die ihr Haar kämmte, schwarzes
Haar vor einem Spiegel, ein Auge, das sich an einen Spalt drückte und
hinausschaute, und einen Schatten, der sich auf alle viere fallen ließ und
durch die Dunkelheit rannte. Die Bilder erschienen und lösten sich fast
gleichzeitig wieder auf. Sie meinte, alles zu verstehen, ohne es in Worte fassen
zu können, genau wie letztens, als sie in dem Autowrack gesessen und
eingeschlafen war.
Als die Haustür zuknallte, zuckte sie zusammen. Aus der Diele drangen
Geräusche, die Alte kam herein, schleppte einen Eimer, der überschwappte,
und verschwand in der Küche, wo sie den Eimer scheppernd auf den Boden
stellte.
Vigdís stand vom Sofa auf, ging in die Küche, wünschte Guten Tag,
obwohl das dumm klang, aber ihr fiel nichts anderes ein.
Ása grüßte zurück. Sie schien sich überhaupt nicht zu wundern, dass sie
wieder da waren.
»Wie Sie sehen, sind wir immer noch hier«, sagte Vigdís. »Eigentlich
wollten wir heute Morgen weg. Ich glaube, Anna, unsere Freundin, hat Ihnen
gestern von unseren Plänen erzählt, oder?«
»Ja, daran erinnere ich mich gut«, sagte Ása. »Ist was passiert?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, antwortete Vigdís, lächelte, hörte aber
sofort wieder auf. »Unsere Freunde sind verschwunden, alle beide. Ich und
Hrafn, mein Mann, der Dunkelhaarige, suchen sie. Haben Sie sie gesehen?«
Ása schüttelte den Kopf und holte Kaffee aus einem Schrank.
»Würden Sie es mir sagen, wenn Sie sie gesehen hätten? Oder etwas
wissen, das wir nicht wissen?«
Die Alte kam zu ihr und schaute sie mit großen Augen an. »Es wird alles
wieder gut, meine Liebe. Machen Sie sich keine Sorgen, es kann gefährlich
sein, zu viel nachzudenken.« Sie strich ihr über den Arm, als wollte sie sie
beruhigen. »Wir sind hier alle Freunde. Jetzt mache ich Ihnen erst mal einen
guten Kaffee.«
Vigdís hatte so viele Fragen, die sie beschäftigten, zwang sich aber zu
schweigen. Sie lehnte den Kaffee dankend ab, ging raus zum Auto und trank
ein paar Schlucke Whisky.
Der Wind ließ nach. Während sie rauchte, schaute sie sich um und nahm
überdeutlich wahr, was es da draußen alles gab: diverse Arten und Größen
von Steinen, Wasser, verschiedene Pflanzensorten, Moose, Flechten, nur
wenige Tierarten, hauptsächlich Vögel und Insekten. Nicht besonders
kompliziert. Das einzig Komplizierte befand sich in ihren eigenen Köpfen.
Etwas an diesem Gedanken machte sie optimistisch.
Auf dem Weg ins Haus warf sie einen Blick in den Rucksack und
vergewisserte sich, dass der Revolver noch da war. Sie hatte am Morgen
beschlossen, ihn mitzunehmen, ohne etwas Bestimmtes damit vorzuhaben,
wollte ihn nur loswerden – ein Loch in den Sand graben, damit ihn niemand
fände. Warum hatte sie das noch nicht gemacht?
Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, war Hrafn aufgewacht. Sie
schmiegte sich in seinen Arm und strich ihm über den Kopf. Er fragte nicht
nach Egill und Anna, aber Vigdís spürte, dass er tief in Gedanken war.
»Woran denkst du?«, fragte sie schließlich.
»An nichts Besonderes … Weißt du noch, kurz bevor wir das Auto zu
Schrott gefahren haben? Wir haben ein Spiel gespielt.«
»Ein Spiel?«
»Ja, um die Zeit totzuschlagen. Ein Spiel. Wir sollten uns eine Sache
ausdenken, etwas aus der Umgebung …«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Wie ging es aus?«
»Das Spiel? Warum denkst du darüber nach?«
»Ich weiß es nicht.« Er strich mit dem Finger an der Wand über dem Sofa
entlang. »Vielleicht weil alles, was danach kommt, irgendwie so undeutlich
ist, als hätte ich es geträumt. Aber ich weiß noch, was ich dachte, in dem
Moment, bevor der Schlag kam: dass wir in einen Felsen fahren.«
»Und?«
Er antwortete nicht.
Vigdís holte die Karten, die sie aus dem Wagen mitgenommen hatte, und
sie spielten Mau-Mau. Sie sprachen nicht darüber, was sie nun tun sollten,
aber Vigdís ging davon aus, dass sie eine weitere Nacht in dem Haus
verbringen und bei Sonnenaufgang losgehen würden.
Die Alte schloss die Haustür ab, obwohl es noch nicht dunkel war, und
ging wieder in die Küche. Vigdís beobachtete sie über den Rand ihrer
Spielkarten hinweg und sah, dass sie häufig aus dem Fenster schaute.
Der Sandsturm hatte sich gelegt, aber die Wolken standen tief am
Himmel, dicke graue Polster, die still dahingen, als warteten sie auf etwas,
ineinanderglitten und sich wieder trennten, ohne dass man sah, wie sie sich
bewegten. Wahrscheinlich war es schon Abendessenszeit. Die Lichter des
Hauses waren weit über die Sandebene zu sehen, falls jemand es suchen
sollte.
Hrafn ging auf die Toilette. Vigdís blieb sitzen und lauschte auf das
Geräusch des Radios aus der Küche. Die Alte hatte den Wetterbericht
eingeschaltet, der wie unzusammenhängendes Gebrabbel klang, eine kodierte
Mitteilung über etwas ganz anderes.
Kurz darauf ging das Licht im Haus aus, und das Radio verstummte. Ása
trat in die Türöffnung zum Wohnzimmer und räusperte sich. »Der Strom«,
sagte sie.
»Ist der Strom ausgefallen?«, fragte Vigdís, als hätte sie es nicht schon
gewusst. Hrafn kam eilig die Treppe herunter, und Vigdís sagte ihm, was
passiert war.
»Unglaublich!« Er gestikulierte wild und wirkte erbost, fragte nach dem
Stromkasten und folgte der Alten in die Küche, wo sie einen der Schränke
öffnete. Hrafn steckte den Kopf hinein und mühte sich ein paar Minuten mit
den Sicherungen ab.
»Ist das schon mal passiert?«, fragte Vigdís, und Ása bejahte.
»Woher kommt euer Strom? Vom Fluss?«, fragte Hrafn und klappte den
Schrank wieder zu. Ása nickte. »Hat der Fluss jetzt bei der Schneeschmelze
vielleicht eine zu starke Strömung? Sodass es einen Kurzschluss gibt?«
»Das könnte sein …«, antwortete Ása. »Das klingt nicht
unwahrscheinlich.«
»Ja, tolle Lösung, tolle Erklärung«, konterte Hrafn ironisch. »Der Strom
ist weg, und das hat was mit dem Fluss zu tun, mit dem Schmelzwasser im
Fluss, wie ich gesagt habe.« Er nickte eifrig, ging ins Wohnzimmer, und
Vigdís folgte ihm. Sie zündete Kerzen an, die die Alte ihnen gebracht hatte,
und sie spielten weiter Karten. Egill und Anna hatten die Taschenlampen
mitgenommen, aber Hrafn und sie besaßen wenigstens noch die
Signalraketen.
Zum Abendessen aßen sie Butterbrote, und Hrafn holte Teelichter aus dem
Wagen, obwohl die Alte es ihm verbieten wollte. Vigdís versuchte, es ihnen
im Wohnzimmer gemütlich zu machen, und trank Bier zum Essen, aber
Hrafn schien es gar nicht richtig wahrzunehmen.
Später, in der Abenddämmerung, hörten sie Geräusche von der
Sandwüste. Es klang wie Motorenlärm oder ein heiseres Knurren. Hrafn
mutmaßte, es sei eine Motorsäge und das Geräusch komme aus dem Dorf,
von der anderen Seite der Schlucht.
Sie fragten die Alte, die in der Küche saß und strickte, was das sei, und sie
sagte, sie glaube, es sei das Dröhnen aus der Schlucht, vom Schmelzwasser
des Gletschers.
»Warum haben wir das dann nicht schon vorher gehört?«, fragte Hrafn.
»Es hat erst angefangen, als es dunkel wurde.«
»Manches bemerkt man erst im Dunkeln, mein Lieber«, entgegnete die
Alte und lächelte ihn freundlich an.
Sie gingen zurück ins Wohnzimmer. Vigdís vermutete, das Wasser in der
Schlucht sei vielleicht so stark angestiegen, dass man es erst jetzt hörte. »Oder
nachdem der Wind sich gelegt hat.«
Im selben Moment hörten die Geräusche auf. Sie setzten sich aufs Sofa,
redeten darüber, gleich nach oben in ihr Zimmer zu gehen und sich schlafen
zu legen, aber keiner von ihnen ergriff die Initiative. Hrafn ging rauf und
sagte, er müsse pinkeln, nicht zum ersten Mal, obwohl sie ihn nicht besonders
viel hatte trinken sehen – bei den vielen Klogängen hätte er die ganze Zeit
trinken müssen. Sie versuchte loszulassen, ihn nicht weiter zu beobachten,
konnte es aber nicht. Ihre Sinne waren zum Zerreißen gespannt, wachsam.
Das schöne Paar an der Wand blickte tadelnd, aber auch erwartungsvoll auf
sie herunter – wie die Wolken.
Zehn Minuten später kam Hrafn zurück, und sie beherrschte sich, um ihn
nicht zu fragen, was er so lange gemacht habe. Er stellte sich ans Fenster und
winkte sie kurz darauf zu sich.
Draußen in der Dunkelheit brannten Feuer.
»Im Dorf«, sagte Hrafn und holte das Fernglas, richtete es in die Ferne
und gab es anschließend Vigdís. Die Feuer waren kurz hinter der Brücke.
Falls im Dorf noch mehr Feuer brannten, waren sie wegen des Hügels
zwischen der Schlucht und dem Dorf nicht zu sehen.
Sie gab ihm das Fernglas zurück.
»Glaubst du, dass sie das sind?«, fragte sie und spürte, wie ihr Herz
schlug.
»Anna und Egill?«
»Ja.«
»Ich weiß es nicht.«
»Wenn sie auf der anderen Seite der Schlucht festsitzen«, sagte Vigdís,
»würden sie uns dann Zeichen geben, damit wir kommen und die Brücke
aufhängen? Damit sie rüberkönnen?«
»Sie wären gar nicht über die Schlucht gekommen, wenn sie die Brücke
nicht aufgehängt hätten. Und dann könnten sie auch zurück, oder?«
»Sie könnte hinter ihnen gerissen sein … Wenn sie es sind, zählt jede
Minute.« Er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. »Was denkst du, Hrafn?
Sag doch was, du bist so schweigsam …«
»Ich bin nicht schweigsam, hör auf, dich so auf mich zu fixieren!«, blaffte
er. Sie nahm eine Kerze, ging in die Diele und wusste erst, als sie dort war,
was sie vorhatte: zu überprüfen, ob die Haustür abgeschlossen war.
Sie begriff allmählich etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte, warum
das Haus abends abgeschlossen war, warum die Brücke an einem Seil hing,
warum ein Zaun quer über die Staumauer lief und sie absperrte.
Sie ging in die Küche, ließ Wasser laufen und musterte die Alte: den
Ausschlag in ihrem Gesicht, die unablässigen Schulterbewegungen beim
Stricken. Ihr wurde klar, dass die Alte – nach Annas Theorie – das jüngere
Kind derselben Eltern sein konnte, die Schwester desjenigen, das eingesperrt
worden war. Es gab kein Foto von ihr, weil sie erst geboren wurde, als ihre
Eltern aufs Land geflohen waren.
»Was passiert da draußen?«, fragte sie die Alte. »Haben Sie die Feuer
gesehen?«
»Die Feuer?« Die Alte strickte weiter. Auf dem Tisch vor ihr stand eine
brennende Kerze.
»Auf der anderen Seite der Schlucht.«
Hrafn kam in die Küche. »Da draußen ist jemand«, sagte er und warf der
Alten einen besorgten Blick zu. Keiner sagte etwas, bis Ása endlich den Mund
aufmachte. »Ihre Freunde?«, flüsterte sie.
Hrafn lachte. »Hier stimmt doch irgendwas nicht … Was zum Teufel
macht ihr hier, ihr betreibt keine Landwirtschaft! Wo sind die Tiere? Habt
ihr unsichtbare Kühe und unsichtbare Schafe?«
»Hrafn, beruhige dich«, sagte Vigdís, aber er beugte sich über den Tisch,
an dem die Alte saß, und klopfte fest mit den Knöcheln auf die Tischplatte,
um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Das Telefon geht kaputt, das Auto geht kaputt, der Strom fällt aus.
Wann wurde die Telefonverbindung gekappt? Hier gibt es keine
Telefonmasten, also liegen die Leitungen unter der Erde. Wer hat sie
gekappt? Eine unterirdische Telefonleitung reißt nicht von alleine. Da
draußen ist jemand, oder? Noch jemand, wie meine Frau sagt?«
Die Alte rührte sich nicht. »Sie haben nicht viel Glück«, sagte sie
schließlich und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Ich glaube nicht an Glück, gute Frau«, entgegnete er. »Ich glaube an
mich selbst, und ich möchte, dass Sie uns sagen, warum wir hier nicht
wegkommen …« Er klopfte weiter mit den Knöcheln auf den Tisch, bis
Vigdís genug hatte und ihn am Arm packte, was an die Szene erinnerte, als
Hrafn den Alten zurechtgewiesen hatte, nachdem der ihren Tisch
umgestoßen hatte. Hrafn riss sich los, und Vigdís befahl ihm, nach oben ins
Bett zu gehen.
»Ohne dich ist es leichter!«, schrie sie, lauter als beabsichtigt. »Besauf dich
ruhig und hör auf, es zu verstecken! Es ist mir scheißegal, was du machst, es
spielt keine Rolle mehr!«
Hrafn stand auf der Schwelle zur Küche, mit glasigem Blick. »Glaubst du
etwa, ich hätte wieder angefangen?«
»Natürlich hast du wieder angefangen. Ich glaube es nicht, ich weiß es.
Ich kenne dich …« Er machte auf dem Absatz kehrt, und Vigdís hörte ihn die
Treppe hinaufgehen.
Sie ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen, gegenüber der Alten.
»Seien Sie vorsichtig, meine Liebe«, sagte die Alte nach einer kurzen
Pause.
»Vorsichtig … Warum? Gibt es etwas Bestimmtes, wovor ich mich hüten
sollte?«
»Er ist markiert.«
»Was meinen Sie?«
»Sie wissen es, meine Liebe. Das sehen alle, die es sehen wollen.«
»Markiert, was zum Teufel bedeutet das? Haben Sie die Marke in seinem
Ohr gesehen, ins rechte Ohrläppchen geschnitten? Er hat ein Ohrloch, seit er
vierzehn ist. Oder beunruhigt Sie das kleine Krokodil auf seinem Lacoste-
Pulli? Den hat seine Mutter ihm geschenkt …« Sie verstummte, fasste sich
mit beiden Händen an den Kopf und versuchte sich zu beherrschen, sie war
gut darin, sich zu beherrschen, meinte, das Motorengeräusch wieder aus der
Dunkelheit zu hören, und presste die Hände auf die Ohren. Die Alte setzte
sich neben sie und strich ihr über den Rücken.
»Wir müssen hier weg«, sagte Vigdís und straffte sich. »Aber ich bin mir
über gar nichts mehr sicher …« Sie sah, dass das Wasser immer noch aus
dem Hahn lief. Das, was sie für ein Motorengeräusch gehalten hatte, war das
Rauschen des Wassers.
Als sie aufstand und ins Wohnzimmer ging, um sich eine Zigarette zu
holen, fiel ihr Blick auf das Bild von dem schönen Paar, sie schlug mit der
Hand dagegen, und es fiel krachend zu Boden. Das Glas zerbrach, Vigdís
bückte sich nach dem Foto und sah, dass es in der Mitte zerrissen und auf der
Rückseite mit Klebeband wieder zusammengeklebt worden war.
»Warum wurde dieses Foto zerrissen?«, schrie sie und ließ endlich los, ließ
die Tränen zu, lehnte sich an die Wand und schrie weiter, ließ sich auf den
Boden fallen, und es war ihr egal, dass sie sich an den Glasscherben schnitt.
Sie hörte die Alte aus der Küche näher kommen, dachte an die Wüste, an das
Kind, das Haus, das abgeriegelt und bewacht war wie eine Festung, an den
Zaun auf der Staumauer und die Brücke, die in die Schlucht hing – weil
etwas aus der Dunkelheit ins Haus wollte, von der anderen Uferseite.
HRAFN – 28 | In Entwicklung
Hrafn stand reglos im ersten Stock im Dunkeln, überlegte, ob er wieder
runtergehen und eine Kerze holen sollte, fand das aber nach dem Streit
lächerlich.
Im Erdgeschoss zerbrach etwas, bestimmt Vigdís’ berühmte
Selbstbeherrschung, und ein Schrei ertönte. Wenn sie Angst hatte, sollte sie
doch zu ihm kommen, nach allem, was sie gesagt hatte, konnte sie sich ruhig
bei ihm entschuldigen.
Am Ende des Flurs sah er einen schwachen Lichtstreifen unter einer Tür
hindurchschimmern. Er schlich sich hin, legte das Ohr an die Tür, hörte aber
nichts, drückte vorsichtig die Klinke nach unten und öffnete die Tür. In dem
Raum war es schummrig, aber an den Wänden erkannte er Hunderte oder
Tausende von Büchern, die in Leder eingebunden waren.
Er huschte hinein und sah sofort, dass es das Arbeitszimmer war, von dem
Vigdís gesprochen hatte. In einem Lehnstuhl am Fenster, am Ende des
großen Schreibtischs, saß der Alte mit einem aufgeschlagenen Buch auf den
Knien und las bei Kerzenlicht. Hrafn machte sich nicht sofort bemerkbar
und war sich im Grunde nicht sicher, ob er es überhaupt tun sollte. Als die
Kerze anfing zu rußen, nahm der Alte eine Schere von der Fensterbank und
schnitt den Docht ab, legte sie dann wieder weg und las weiter.
Hrafn räusperte sich. Der Alte schaute auf, ein Lächeln zog sich über sein
Gesicht und seine Augen funkelten, als hätte er einen alten Freund erblickt.
Hrafn spürte, dass er sich auch freute.
»Hallo«, sagte er. »Störe ich?« Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich wollte
gerade ins Bett gehen, da habe ich hier Licht gesehen. Ein schönes
Arbeitszimmer … Du hast ja jede Menge Bücher, war bestimmt ganz schön
aufwendig, sie herzubringen.« Das Gesicht des Alten verzerrte sich, als er
versuchte, etwas zu entgegnen, aber er lächelte dabei weiter. Der Smiley,
dachte Hrafn und musste selbst grinsen. Das war sein Name: Smiley.
Hrafn schwieg und betrachtete das Zimmer. Wenn er schon mal da war,
konnte er sich ja ruhig ein bisschen umschauen. Zwischen zwei
Bücherregalen befand sich der aus braunroten Ziegelsteinen gemauerte
Kamin. Davor standen ein leerer Eimer und ein Feuerhaken, um die Glut zu
schüren. An der Wand hinter dem Alten hingen die Fotos, die die Frauen als
Beweis für ihre merkwürdige Inzesttheorie ansahen.
»Ja, ja«, sagte Hrafn und merkte, wie er die Situation plötzlich lustig fand.
Der Alte schaute ihn lächelnd an, und Hrafn setzte sich auf den Schreibtisch,
gegenüber der Wand mit den Fotos. »Du hast ja Fotos hier, wie ich sehe,
ganz schön viele Fotos. Von der Familie, nehme ich an?« Der Alte sagte
nichts, stand aber auf, nahm eine gerahmte Urkunde von der Wand und hielt
sie Hrafn hin.
»Princeton, sagst du. Toll. Gut gemacht«, lobte Hrafn und unterdrückte
ein Lachen. Doktor in Physiologie steht hier. Das war bestimmt ein interessantes
Studium. Ich wollte auch immer studieren, aber mein Vater war dagegen.
Würde zu lange dauern, meinte er. In unserer Familie gibt es keine Tradition
zu studieren. Wir sind Unternehmer, musst du wissen.«
Der Alte nickte und wirkte zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt
hatten, ernst, was Hrafn noch witziger fand. Der Alte ging zu einem Regal
mit Ordnern, zog einen heraus und legte ihn auf den Tisch.
»Das Familienalbum?«, fragte Hrafn und legte die Urkunde beiseite. Er
hätte sie gerne geklaut, mit in die Stadt genommen und als Gag in sein Büro
gehängt. Es überraschte ihn, wie ruppig er mit dem alten Mann umging,
nicht wie mit einem Kranken. »Tut mir übrigens leid, was letztens zwischen
uns vorgefallen ist«, setzte er an, verstummte aber wieder, weil er keine Lust
dazu hatte. Er musste sich für nichts schämen, er belästigte niemanden und
war lediglich aus purer Notwendigkeit in diesem Haus. Seine Kiefermuskeln
und seine Fäuste verkrampften sich vor Wut, weil Vigdís ihm nicht traute,
seinen guten Vorsätzen. Offensichtlich kam sie nicht mit der Situation
zurecht, was dieses Gerede über Inzest deutlich zeigte. Und es war mal
wieder typisch für sie, sich so aufzuregen – nicht wegen ihrer Lage an sich,
sondern weil jemand anders sauer war, sie empörte sich darüber, wie jemand
anders reagierte, machte ihn zum Schuldigen und bagatellisierte damit das
Problem.
Der Alte zog sich wieder zum Fenster zurück, und Hrafn blätterte in dem
Album. Es war eindeutig, dass der Mann es seinerzeit weit gebracht hatte, ein
einflussreiches Mitglied der Gesellschaft gewesen war, was schlussendlich
nicht besonders spannend war, oder?
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Er klappte das Album zu, nahm die brennende Kerze vom Tisch,
schlenderte an den Regalen entlang und musterte die Bücher. Die meisten
waren naturwissenschaftlicher Art, es gab aber auch Titel über Philosophie,
Anthropologie, Psychologie, Geschichte und ein paar über Magie. Er musste
an den geheimen Raum denken, berührte ab und zu ein Buch und zog es
halb aus der Reihe, aber dann reichte es ihm, und er nahm sich vor, den
ganzen Quatsch über Inzest und Schande und Geheimräume zu vergessen,
was sowieso nur eine verschlüsselte Umschreibung für Annas Möse war, klein
und verschrumpelt wie ein ängstliches Ferkel, nachdem Egill monatelang
nicht mehr drin gewesen war.
Plötzlich wusste er, was ihn an dem Zimmer störte. Nicht der muffige
Geruch, der über allem hing, sondern der Gestank nach Ruß oder
verbrannten Haaren, der ihn daran erinnerte, wie er als Jugendlicher
Mülltonnen angezündet und mit einem Feuerzeug Körperhaare abgeflämmt
hatte.
Der Gestank kam aus dem Kamin.
Hrafn hockte sich vor den Kamin und strich mit dem Finger über den
Boden. Die Backsteine waren leicht verrußt, aber es gab keine Hinweise auf
Holz oder Kohle oder etwas, das kürzlich verbrannt worden wäre. Er reckte
den Hals und spähte in den Schornstein. Der Gestank wurde stärker. Wenn
die Klappe offen war, würde man den nächtlichen Himmel sehen können,
ein helleres Viereck in der Dunkelheit, oder sogar einen Luftzug spüren.
Er fand den Hebel, mit dem man die Klappe auf- und zumachte, zog
daran und steckte noch einmal den Kopf in den Kamin, aber es hatte sich
nichts verändert.
»Da ist doch was«, murmelte Hrafn. Er nahm den Feuerhaken und stieß
damit nach oben ins Dunkle, spürte einen Widerstand und das Gewicht von
etwas, das jeden Moment auf ihn herabstürzen konnte. Feiner Ruß rieselte
ihm ins Gesicht, und lange schwarze Haare schwebten aus der Dunkelheit
nach unten. Er wurde ungeduldig und stocherte weiter, rammte den
Feuerhaken, so fest er konnte, in den Schornstein, bis er ein Geräusch hörte
wie bei einem Ballon, aus dem die Luft entwich. Etwas Schweres krachte auf
den Boden des Kamins, und Ruß wirbelte in den Raum. Hrafn wandte sich
hustend ab. Scharfer Brand- und Verwesungsgeruch stieg von der Feuerstelle
auf, und er hielt sich das Hemd vor die Nase.
Als sich der Ruß etwas gelegt hatte, nahm er die Kerze und spähte in den
Kamin. Auf dem Boden lag ein Tierkadaver. Er war von Gasen aufgedunsen,
die durch einen Schlitz zwischen den grotesk abstehenden Hinterbeinen
entwichen. Aus dem Kopf ragten kurze, gebogene Hörner, die Augen waren
schwarz, die Augenhöhlen verbrannt, und an den Beinen waren Klauen.
Hrafn betrachtete den Kadaver eine Weile, wischte sich den Ruß aus dem
Gesicht und versuchte, den Gestank auszuspucken, dachte an die Kraft, die
man brauchte, um das Tier so weit nach oben zu schieben, die Größe des
Mannes, seine Armlänge …
Der Alte saß noch immer mit seinem Buch am Fenster und schien
überhaupt nichts mitgekriegt zu haben. Hrafn ging zu ihm und setzte sich vor
ihm auf den Stuhl.
»Da war etwas im Schornstein.« Er nickte in Richtung Kamin und
zündete sich eine Zigarette an. »Wie kriegt man ein Schaf in den
Schornstein?«, fügte er lachend hinzu und hatte das Gefühl, als sei das der
Anfang eines Witzes, dessen Fortsetzung er vergessen hatte. »Dafür habt ihr
bestimmt eine gute Erklärung. Der Weihnachtsmann kommt durch den
Schornstein. Schafe grillt man. Also ist der Weihnachtsmann ein Schaf. Ist
das hier oben so?«
Weit draußen in der Sandwüste sah er den Schein der Feuer. Das war
nicht Egill, der wäre zu feige für ein solches Schauspiel und könnte niemals
solche Feuer entzünden. Nein, das wies alles auf etwas anderes hin. Aber es
war kompliziert, und zugleich auch nicht. Hrafn wunderte sich über seine
Fähigkeit, gleichzeitig zwei gegensätzliche Meinungen zu haben, was er nicht
zum ersten Mal feststellte – manches wusste er beispielsweise schon lange,
ohne es zu wissen, etwas war passiert, als er klein war, und zugleich auch
nicht. »Etwas anderes«, murmelte er, hievte sich vom Stuhl und suchte in
seiner Tasche nach dem Foto von Vigdís, dem aus der Knochenpyramide im
Dorf. Das Foto war nicht mehr so grobkörnig, nicht mehr so dunkel, als
befände es sich noch in Entwicklung. Vigdís’ Arme lagen an den Seiten, und
ihre eine Gesichtshälfte war schwach beleuchtet, als falle Licht durch eine
halb geöffnete Tür. Jemand auf dem Weg in das Zimmer auf der
gegenüberliegenden Seite des Flurs hätte einen Spalt in der Tür bemerken
oder sie selbst aufmachen können, sich im Zimmer geirrt haben können oder
auch nicht, sie dort liegen sehen, den Schlafsack ein Stück runterziehen
können, um ihre Brüste zu entblößen, und auf den Auslöser drücken können.
Die Brüste erinnerten an einen Kopf ohne Augen, tote Sonnen, die durchs
Weltall flogen.
Oder war das Foto schon früher entstanden, vor einer Woche oder einem
Monat? Woher sollte er wissen, dass das ihr Schlafsack war und keine
Bettdecke in der Stadt, oder dass Egill das Bild in dem Dorf gefunden und es
ihm nicht etwa aus der Hemdtasche gefallen war, als er sich über die
Knochen gebeugt hatte? Lagen ihre Hände an den Seiten oder zwischen
ihren Beinen, während sie sich vor demjenigen streichelte, der zusah und das
Foto knipste, als ihr Mund sich öffnete, ihre Gesichtszüge sich beim
Orgasmus glätteten?
Hrafn blickte von dem Foto zu dem Alten. Die Kerze neben ihm hatte
wieder angefangen zu rußen, doch er rührte sich nicht, das Buch lag auf
seinen Knien, und Hrafn begriff endlich, was er machte: Der Alte las nicht,
hatte die ganze Zeit keine einzige Seite umgeblättert, sondern saß da und
lauschte.
»Wartest du auf etwas, von da draußen?«, fragte Hrafn. Der Alte schaute
ihn an, zuckte mit dem Kopf, und sein Lächeln war verschwunden.
»Nicht aufmachen«, sagte er, streckte die Hand aus und legte sie auf
Hrafns Knie, beugte sich zu ihm, und in seinem Blick lag eine Schärfe, die
zuvor nicht da gewesen war. »Nicht die Tür aufmachen.«
VIGDÍS – 29 | Das, was auftaucht
Vigdís warf einen kurzen Blick in ihr kleines Schlafzimmer, sah aber sofort,
dass es leer war. Zur Sicherheit hob sie die Kerze an und leuchtete damit in
die düsteren Ecken, schaute durch den langen Flur, konnte aber nirgendwo
einen Lichtschein entdecken. Bestimmt hockte Hrafn irgendwo beleidigt
herum und mied sie, jedenfalls war er nicht wieder runtergekommen.
Sie schloss die Tür und ließ sich auf die Matratze fallen, nahm noch einen
Schluck aus dem Flachmann und wünschte sich, sie könnte schlafen. Sie
stritten sich nur selten. Trotz allem war sie ruhiger geworden, der
Whiskynebel im Kopf reichte, um ihren Zorn zu dämpfen.
Sie drehte sich auf den Bauch und massierte ihr Gesicht. Als sie das letzte
Mal aus dem Fenster geschaut hatte, waren die Feuer erloschen. Alle
Veränderungen waren schlecht, hatte sie beschlossen, ihr Leben würde von
jetzt an noch beständiger und ruhiger sein, als es gewesen war, bevor sie
hergekommen waren.
Irgendwo im Haus klopfte es. Vigdís lag reglos da und lauschte, spürte,
wie ihre Haut kalt wurde und sich zusammenzog. Sie rappelte sich auf, ging
zum Fenster und schaute hinaus. Es war zu dunkel, um sehen zu können, ob
jemand vor der Tür stand.
Sie eilte in den Flur, wo sie sofort Hrafn erblickte. Seinem Gebaren nach
schien er das Klopfen auch gehört zu haben, er stand wie angewurzelt mit
einer Kerze in der Hand da und schaute durch den Treppenaufgang nach
unten.
»Pst«, machte sie und winkte ihn zu sich. »Glaubst du, das sind Anna und
Egill?«, flüsterte sie.
»Sie würden nach uns rufen und nicht nur klopfen«, flüsterte er zurück.
Sein Gesicht war merkwürdig dunkel, als wäre es mit Ruß beschmiert, und
verschmolz mit den Schatten. Sie fragte nicht, was passiert war, sondern ging
zurück in ihr Zimmer, und sie schauten gemeinsam aus dem Fenster. Aus der
Küche fiel ein schwacher Lichtschein auf die Außentreppe, der eigentlich
gereicht hätte, um die Umrisse eines Menschen zu erkennen, aber da war
nichts. Ein Stück von der Tür entfernt, am Treppenabsatz, meinte Hrafn
etwas zu erkennen, das aussah wie ein Stock.
»Ein Stock?«, fragte Vigdís und spähte verstohlen zu dem Revolver unter
dem Bett. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn Hrafn anvertrauen konnte,
hatte selbst aber noch nie geschossen. Sie lauschten angestrengt, hörten
nichts, gingen dann wieder in den Flur und die Treppe hinunter in die Diele,
wo die Alte stand. Sie hielt einen Kerzenleuchter in der Hand, ihre Augen
waren weit aufgerissen und glänzten.
»Warum klopft es nicht noch mal?«, fragte Vigdís.
»Nicht aufmachen«, sagte die Alte und ließ die Tür nicht aus den Augen.
»Warum klopft es nur einmal? Es ist Nacht, man klopft nicht nur einmal
und bleibt dann vor der Tür stehen und schweigt …«, fuhr Vigdís fort, doch
die Alte ermahnte sie zur Ruhe und sagte, sie sollten wieder nach oben
gehen.
Als Hrafn auf die Tür zuging, packte die Alte ihn an der Schulter und
beschwor ihn, das nicht zu tun. Er schüttelte sie ab, ihr Kerzenleuchter fiel
auf den Boden, und die Kerze ging aus.
»Sollen wir das wirklich machen?«, sagte Vigdís kraftlos, obwohl sie
wusste, dass sie ihn nicht davon abhalten konnte. Die Alte drehte sich auf
dem Absatz um und verschwand die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Hrafn
schob den Riegel zur Seite, öffnete die Tür einen Spalt, spähte hinaus und
machte die Tür dann weit auf. Er trat auf den Treppenabsatz und schaute
auf beiden Seiten nach unten, während Vigdís ihm folgte. Der Wind hatte
sich gelegt, aber die Dunkelheit um das Haus herum war dicht und schwarz,
am Himmel zeigten sich kein Mond und keine Sterne.
Am Ende des Treppenabsatzes ragte ein dünner Stock senkrecht in die
Luft. An seinem oberen Ende hing eine feine Schnur, die aussah wie ein
Lichtstrahl oder der Faden eines Spinnennetzes und in der Dunkelheit
verschwand.
»Eine Angel?«, sagte Hrafn, und Vigdís sah die Rolle unten an der Angel,
die Ösen und die Schnur, die in sie eingefädelt war und oben wieder
hinauslief. Als sie das obere Ende der Angel musterte, ruckelte es plötzlich,
schnell und nur ein Mal. Sie streckte den Arm aus, wollte sich auf Hrafn
stützen und etwas sagen, bekam den Mund aber nicht auf. Hrafn bückte sich
nach der Angel, zog sie aus dem Spalt, in dem sie klemmte, und drehte an der
Rolle. Vigdís’ Blick wanderte zwischen der Angel und der Dunkelheit vor
dem Haus hin und her. Die Angel ruckelte erneut, und jetzt bog sie sich,
wurde aber sofort wieder gerade.
Vigdís spürte etwas Heißes an ihrem Handrücken, schaute nach unten
und sah, dass ihre Hand mit der Kerze so stark zitterte, dass Wachs auf sie
spritzte.
»Es bewegt sich«, sagte Hrafn, und draußen in der Dunkelheit zeichnete
sich ein dunkler Schatten ab, der nach und nach die Form einer Person
annahm. Sie näherte sich dem Lichtschein aus dem Küchenfenster, und
Vigdís erkannte sie, obwohl alles an ihr verändert war.
Hrafn holte die Schnur weiter ein, starrte wie hypnotisiert geradeaus, bis
Vigdís ihn berührte und ihn bat, aufzuhören. Dann stieg sie die Treppe
hinunter auf den Sand.
Ihr Körper war in der Dunkelheit auffallend weiß, die Augen schwarz und
rund, und das Gesicht fast unkenntlich. Kinn, Hals und Brüste waren mit
braunem Schlamm oder halb getrocknetem Blut bedeckt, das an ihr
heruntergelaufen war, an ihrem nackten Körper. Die Hände waren mit
weißen Lappen umwickelt, und beim Gehen hielt sie die Arme ausgestreckt
vor sich, als könne sie nichts sehen. Die Angelschnur steckte in ihrem Mund,
und wenn man an dem Rad drehte, stieß sie ein leises Wimmern aus, einen
schmerzlichen und hohlen Klang, der tief aus ihrem Bauch zu kommen
schien. Ihre Haare waren nicht mehr blond, sondern weiß. Aber es bestand
kein Zweifel, dass sie es war: Anna.
30 | »Bin ich schmutzig im Gesicht?«
Sie führten sie zwischen sich zum Haus. Wenn sie sie berührten, schlug sie
um sich, war aber zu schwach, um sie wegzustoßen. Auf der obersten
Treppenstufe wurde sie ohnmächtig, und sie trugen sie das letzte Stück ins
Wohnzimmer, ohne dass sie einen Laut von sich gab.
Sie legten sie auf eine Decke auf den Boden, wo sie wieder zu sich kam.
Vigdís beschloss, dass etwas unternommen werden musste, holte den
Verbandskasten aus Hrafns Rucksack in der Diele, knallte die Haustür zu,
schob den Riegel vor und kam mit dem Verbandskasten ins Wohnzimmer.
Hrafn kniete neben Anna und hielt sie fest. Aus Annas Mund hing immer
noch die Angelschnur, aber Hrafn beugte sich über sie und biss die Schnur
entzwei. Vigdís starrte auf das zurückbleibende Ende – den Lichtstrahl –, bis
Hrafn ihr etwas zurief. Sie holte Schmerztabletten aus dem Verbandskasten,
zerkleinerte sie und schob sie in Annas Mund, während Hrafn ihren
Unterkiefer umfasste und sie zwang, zu schlucken. Ihre Zungenspitze schien
abgeschnitten worden zu sein, was das Blut an ihrem Kinn und auf ihren
Brüsten erklärte.
Sie stieß weiter dieses herzzerreißende Wimmern aus, wurde von
Krämpfen geschüttelt, sodass ihre Beine und Arme zuckten und sie sie
festhalten mussten, damit sie sich nicht verletzte.
Als sie sich wieder beruhigte, hielt Vigdís die Kerze an ihr Gesicht, spähte
in ihren halb offenen Mund und sah tief in der Kehle einen Haken aufblitzen.
»Den lassen wir lieber«, murmelte sie. Annas Augen waren noch offen,
aber etwas war hineingestochen worden, Blut war ins Weiße gelaufen und
geronnen, und in ihren Ohren steckten braune Erdklumpen. Vigdís rief ihr
etwas ins Ohr, aber sie reagierte nicht, und ebenso wenig, als sie mit der
Hand vor ihren Augen herumwedelte und sie bat, zu blinzeln, falls sie etwas
hörte. An ihren Brüsten, auf ihrem Bauch und an ihrer Vagina waren
zahlreiche kleine Schwellungen und Verletzungen, die aussahen wie
Bissspuren.
Vigdís wandte sich ab und würgte. Als sie sich wieder umdrehte, hatte
Hrafn die Lappen von Annas Händen gewickelt, und dunkle Stümpfe kamen
zum Vorschein; die Finger waren oberhalb der Handteller abgeschnitten
worden, und die Handgelenke waren mit Plastikschnüren abgebunden, um
den Blutfluss zu stoppen.
Sie desinfizierten die Wunden mit Jod, wickelten Mull um die Stümpfe,
hoben Anna dann aufs Sofa und breiteten eine Decke über sie. Vigdís würgte
wieder, zwang sich aber, weiterzumachen, kippte Whisky in sich hinein, holte
eine Schere aus dem Verbandskasten und schnitt damit das Schnurende ab,
das aus dem Mund ragte, so nah an den Lippen, wie sie sich traute. An Annas
Hals entdeckte sie ein kleines Röhrchen oder eine Kapsel, die mit einem
Stück Schnur festgebunden und mit getrocknetem Blut verklebt war. Sie
schnitt die Schnur durch und wischte das Blut von dem Gegenstand, der sich
als weißer, glatter Knochen entpuppte.
»Ein Knochen«, sagte sie und drehte ihn zwischen den Fingern. Hrafn
nahm ihr den Knochen ab und musterte ihn. Er war innen hohl, und am
einen Ende blitzte ein Papierschnipsel auf. Hrafn holte ein Messer aus der
Küche, sie pulten an einer Ecke des Papierschnipsels und zogen eine
festgedrehte Rolle in der Größe einer Zigarette heraus. Sie strichen das
Papier auf dem Boden glatt, und eine mit rotem Stift angefertigte Zeichnung
kam ans Licht: Längliche Vierecke reihten sich um eine Kiste, die wiederum
aus vier Vierecken bestand, in der Mitte war mit Blut ein Kreuz
eingezeichnet, und unten auf der Karte stand, ebenfalls mit Blut, in plumpen
Buchstaben: HILFE.
Vigdís nahm noch einen Schluck aus der Flasche, es gelang ihr nicht, sich
mit dem Alkohol zu betäuben, aber ihre Gedanken verdichteten sich und
hoben sich wie die Rücken von Walen aus einer dunklen, glänzenden Fläche.
»Das ist eine Karte von dem Dorf«, sagte Hrafn und beugte sich über das
Papier. »Die Schuppen stehen in zwei Halbkreisen um das Hauptgebäude
herum, das aus vier Schuppen besteht, die sich um das Kreuz herum
aneinanderreihen.«
»Was bedeutet das Kreuz?«
»Egill … Mir fällt nichts anderes ein. Jedenfalls ist es unwahrscheinlich,
wenn Anna schon so aussieht … dass es ihm gut geht. Er bittet um Hilfe, oder
jemand lässt ihn um Hilfe bitten.«
»Was, wenn er das war?« Vigdís senkte ihre Stimme und blickte zu Anna
auf dem Sofa. »Und will, dass wir glauben, dass es jemand anders war?«
»Warum steht dann da Hilfe?«
»Damit wir ins Dorf gehen.« Sie dachte an die Feuer und die
Motorengeräusche, die sie am Abend gehört hatten, und konnte es kaum
noch ertragen, Anna vor Augen zu haben – ihre verstümmelten Hände, ihr
weißes Haar wie bei einer Hexe. Ihre Zehen sind in Ordnung, dachte sie in
einem verzweifelten Versuch, optimistisch zu sein. Annas Zehen lugten unter
der Decke hervor. Zehen waren gut, wenn es etwas Ermutigendes auf dieser
Welt gab, dann mussten es Zehen sein.
Hrafn saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf dem Fußboden.
Vigdís setzte sich neben ihn. Ab und zu trank sie einen Schluck aus der
Flasche, hätte sie fast an Hrafn weitergereicht, tat es aber nicht und spielte bei
dem Theaterstück mit.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte sie.
»Was meinst du?«
»Es ist schmutzig.«
Er strich sich über die Wange und betrachtete den Ruß an seinen
Fingerspitzen. »Ich weiß nicht … Vom Sand?«
»Bin ich auch schmutzig im Gesicht?« Er schaute sie an und schüttelte
den Kopf.
»Dann ist es nicht vom Sand.«
Im ersten Stock fiel etwas auf den Boden. Vigdís schaute an die Decke
und dann zu Hrafn. Sie saßen still da und lauschten auf weitere Geräusche,
die nicht kamen. Der Knall war vom anderen Ende des Hauses gekommen,
oberhalb der Küche.
»Die beiden Alten«, sagte Vigdís. Sie hatte die Frau völlig vergessen,
wurde plötzlich wütend und ballte die Fäuste, als sie sie vor sich sah, wie sie
die Treppe hinaufgeeilt war. Sie wusste etwas, das sie nicht wussten, und zwar
schon die ganze Zeit, wusste haargenau, was hier los war, sagte aber nichts.
Sie vergewisserten sich, dass Anna schlief, nahmen jeder eine Kerze und
stiegen die Treppe hinauf. »Lass uns mit ihnen reden«, sagte Vigdís und ging
geradewegs auf die Tür am Ende des Flurs zu, von wo das Geräusch
gekommen war. Hrafn wollte protestieren, aber sie verstand nicht, warum,
und öffnete die Tür, trat in ein finsteres, modrig riechendes Zimmer voller
Bücher. »Glaubst du, sie verstecken sich?«, flüsterte sie, hob die Kerze, tastete
sich in den Raum und hörte Hrafn hinter sich. Sie ging an den Regalen
entlang, musterte alles genau, die Decke und die Ecken, aber da war
niemand. Sie besah sich die Fotos an den Wänden und auf dem Schreibtisch
und entdeckte plötzlich das schwarz-weiße Familienporträt, von dem Anna
gesprochen hatte: ein erwachsenes Paar und davor zwei Kinder. Das eine
Kind ähnelte dem Mann, das andere war ein junges Mädchen, aber das Foto
war alt und das Gesicht schwer zu erkennen.
»Natürlich«, zischte Vigdís und wusste instinktiv, wo sich die beiden
befanden: in dem geheimen Raum, von dem Anna gesprochen hatte. »Ich
gebe auf!«, brüllte sie, trat in die Mitte des Zimmers und rief, sie wisse von
dem Raum und dass sie sich versteckten. »Wir sind nicht sauer auf euch, wir
haben Angst! Wir wollen nur wissen, was hier los ist!« Sie rief noch, es
bestehe keine Gefahr, die Haustür sei abgeschlossen, und sie bräuchten ihren
Rat wegen ihrer verletzten Freundin.
An einer Wand war ein Fenster, in dem sich zwei unendlich kleine
Kerzenflammen spiegelten und dahinter die dunklen Silhouetten von Hrafn
und ihr. Sie standen wie erstarrt da, und Vigdís lauschte auf die alten Leute,
hörte aber nichts. Sie überlegte, was es zu bedeuten hatte, dass sie sich
versteckten. Vermutlich kamen nur drei Wände für irgendeine Art von
Geheimkammer infrage, wahrscheinlich sogar nur zwei. Sie erklärte Hrafn,
was sie vorhatte, ging zum nächstliegenden Regal und schleuderte die Bücher
auf den Boden, woraufhin Hrafn es ihr nachtat. Sie gingen an den Regalen
entlang und rissen alles heraus, versuchten, die Regale umzuwerfen, was sie
nicht schafften, da sie an der Wand befestigt waren, wollten sie dann kaputt
treten, und Vigdís schmiss ein Regal in der Mitte des Zimmers um, fiel
keuchend auf die Knie und hatte für einen Moment das Gefühl, stockbesoffen
zu sein, was jedoch vorüberging.
Ich muss etwas unternehmen, dachte sie und rang nach Atem. Alle
Regale waren leer und kein Geheimraum zu sehen.
»Das reicht«, sagte sie und meinte, Anna im Erdgeschoss zu hören, hatte
sich aber bestimmt geirrt. Anna war nun wie die Natur, stellte sie fest: blind,
taub und stumm.
Sie verließen das Zimmer, zogen die Tür hinter sich zu und stellten einen
Kerzenständer auf die Türklinke, damit sie es hörten, falls die Tür von innen
geöffnet wurde. Bevor sie runtergingen, warfen sie einen Blick ins Bad und in
die Schlafzimmer, aber dort war auch niemand.
Anna lag noch immer auf dem Sofa. Vigdís kontrollierte ihren Puls und
erwog, etwas mit ihr zu machen, bevor sie losgingen – alles wäre besser, als so
zu leben –, aber sie besaß nicht genug Bosheit. Oder Güte.
Sie trank einen Schluck aus der Flasche, ihre Brust wurde warm, ihre
Arme auch, und ihre Nasenspitze fühlte sich ebenfalls gut an. Sie hockte sich
neben Hrafn auf den Boden.
»Egill lebt noch«, sagte er und betrachtete die Karte, die in dem Knochen
gesteckt hatte.
»Das ist eine Falle«, entgegnete Vigdís. »Deshalb haben wir diese Karte
bekommen.«
»Ist doch egal … Wenn er das war«, er nickte in Richtung Anna, »dann
haben wir allen Grund, ihn zu finden. Wenn du willst, gehe ich alleine.«
Sie lehnte sich an ihn und hatte das Gefühl, dass er vor Angst kaum
sprechen konnte. »Wir gehen zusammen«, sagte sie und spürte, dass er recht
hatte, das einzig Richtige, was sie tun konnten, war: Egill finden, ihn retten
oder ihm die Finger abschneiden, ihm Nadeln in die Augen stechen. Oder
ihn erschießen.
Sie stand auf, um den Revolver zu holen.
31 | Die Schönheit
Als es im Wohnzimmer hell wurde, hatte sie kein bisschen geschlafen, trotz
des vielen Alkohols. Wahrscheinlich war sie ruhiger, als man hätte meinen
sollen. Hrafn hatte eine halbe Stunde geschlafen, ohne es selbst zu merken.
Von den beiden Alten keine Spur.
Der Himmel war klar, und es war windstill, jedenfalls noch. Wohin man
auch schaute, lag der Sand still und schwarz. Anna brabbelte und bekam
einen Krampf, woraufhin Vigdís weitere Schmerztabletten zerkleinerte und
ihr in den Mund schob. Anschließend schrieben sie der Alten einen Zettel
über die Medikamentengabe und wie sie sich um Anna kümmern sollte, samt
einer drohenden Anmerkung über ihre Verantwortung, falls etwas
schiefgehen sollte.
»Wenn wir weg sind, könnt ihr endlich aus eurem Versteck kriechen«,
sagte Vigdís und legte den Zettel in die Küche.
Hrafn schob den Riegel zur Seite und öffnete die Tür. Sie setzten ihre
Rucksäcke auf und gingen gemeinsam die Treppe hinunter, zogen die Tür
hinter sich zu, schlossen aber nicht ab, falls sie noch einmal umkehren und
etwas holen mussten.
Die Sonne stieg schnell am Himmel auf, sie schien gleichzeitig über ihnen
zu hängen und unendlich weit entfernt zu sein. Hrafn hatte den Revolver im
Hosenbund, unter seinem Hemd. Er erzählte ihr, wie er mit zwanzig in seiner
selbst gewählten Isolation in Suðurnes nichts anderes getan hatte, als in der
Firma seines Vaters zu arbeiten, auf einem Schießplatz außerhalb von
Gríndavík mit einem Gewehr rumzuballern und am Strand mit einer
Schrotflinte auf Möwen zu schießen.
Sie schwiegen, und Vigdís zwang sich, nicht zu denken, ihre Lage nicht zu
analysieren, nichts zu planen. Das hatte sie in ihrem Leben viel zu oft
gemacht. Sie hätte sich mehr Spontaneität erlauben sollen. Wovor musste
man Angst haben? Im Tod geschah alles von alleine, so wie damals, als sie als
kleines Mädchen einen Purzelbaum vom Fahrrad gemacht hatte, ganz
langsam über das Lenkrad geflogen war, in den blauen Himmel geschaut und
sich über die Stille gewundert hatte, oder als sie sich als Jugendliche mit dem
Auto überschlagen hatte, als die Welt sich langsam und ruhig vor dem
Fenster gedreht und sie sich auf allen vieren am Straßenrand wiedergefunden
hatte.
Der Schmerz kam erst danach. Aber im Tod gab es kein Danach, keinen
Schmerz und keine Alternative. Der Körper wurde taub, presste das
Bewusstsein oder die Seele oder was auch immer aus sich heraus, und im
Rückspiegel blieb das Leben zurück – all die Alltagsnöte und Sehnsüchte –,
wie ein Tramper, an dem man im Regen vorbeifuhr, wobei man Scham,
Mitleid oder Bedauern empfand, ihn aber sofort wieder vergaß.
Sie hörte den Fluss, und sie erreichten die Brücke, die nicht in die
Schlucht hing, sondern aufgespannt und an beiden Uferseiten an den
Holzpfosten befestigt war. Sie fragte Hrafn, ob er am Tag zuvor über die
Brücke gegangen sei, doch er verneinte.
Sie gingen einzeln rüber, Hrafn zuerst. Als er am anderen Ufer angelangt
war, marschierte Vigdís los. Die Brücke wippte, und sie vermied es, in den
tosenden Fluss zu schauen, der noch weiter angestiegen war, und wusste auf
einmal die Antwort auf die Frage, die sie sich kurz zuvor gestellt hatte: Nein,
sie wollte nicht sterben, sie wollte noch so vieles machen, sie wollte zum
Beispiel ein Kind, und bei dem Gedanken bekam sie feuchte Augen.
Sie stieg von der Brücke. Rechts und links von ihr standen rußige
Eisentonnen, in denen, dem Geruch nach zu schließen, in der Nacht Öl
gebrannt hatte. Sie erklommen den Hügel bei der Schlucht, von dem man
das Dorf überblicken konnte, und schauten abwechselnd durchs Fernglas.
Vigdís richtete es auf die Schuppen und das Gebäude in der Dorfmitte, das
auf der Karte angekreuzt war, sah aber nichts Verdächtiges. Hrafn nahm den
Revolver heraus und strich über den Lauf, mit einem Gesichtsausdruck, als
halte er eine Zauberlampe in der Hand und wolle den Geist hervorzaubern.
Der Lauf war lang und dünn. Er entsicherte den Revolver und drehte ein
paarmal die Trommel, spannte den Hahn und entspannte ihn wieder.
Ganz unten an dem Hügel befand sich das Tor, das Vigdís entdeckt hatte,
als Hrafn und Egill im Dorf gewesen waren, jetzt stand es offen. Ein breiter,
asphaltierter Weg führte schräg in die Erde. Vigdís rief in den Tunnel hinein,
machte dann auf dem Absatz kehrt und folgte Hrafn ins Dorf. Sie
vereinbarten, in Sichtweite des anderen zu bleiben.
Als sie an einem der Schuppen vorbeigingen, blieb Hrafn stehen, hob die
Hand und signalisierte ihr, anzuhalten.
»Was ist?«, flüsterte Vigdís, aber er antwortete nicht und starrte auf den
Schuppen. Die Farbe war abgeblättert. Es war so still, die Luft so scharf und
klar, dass sie plötzlich das Gefühl hatte, die ganze Welt wäre transparent.
»Was ist?«, wiederholte sie. »Hast du was gehört?« Hrafn war immer noch
wie paralysiert, ließ dann die Hand sinken, ohne den Blick von dem
Schuppen abzuwenden, so grotesk dramatisch, dass sie den Eindruck hatte, er
spiele ihr etwas vor.
»Im Schuppen«, flüsterte er. »Ein Knall, wie wenn etwas gegen eine
Wand geschlagen wird.«
»Bist du dir sicher?«
»Die Tür ist offen … Die war zu, als ich das letzte Mal hier war.« Sie
schaute zu dem Schuppen und wollte schon protestieren, war sich sicher, dass
die Tür zu war, sah sie dann aber zu ihrer Verwunderung weit offen stehen.
Aus irgendeinem Grund fiel ihr der kleine Geräteschuppen im Garten ihrer
Mutter ein.
Sie gingen zur Tür. Hrafn umfasste den Schaft des Revolvers, presste den
Rücken gegen die Wand und spähte in den Schuppen. Vigdís folgte ihm
schweigend, und sie traten in einen Flur, der durch die Mitte des Schuppens
führte. Von ihm gingen neun Räume ab. Am nächsten zu ihnen lag eine Art
Küche, mit Spülbecken, Schränken und einem Tisch.
Hrafn betrat die Küche und hielt den Schaft des Revolvers so, als wolle er
sich den Penis abschießen. Vigdís unterdrückte ein Kichern, hielt sich die
Hand vor den Mund und wich zurück in den Flur.
Es gab mehr Räume, als sie erwartet hatte. Vorsichtig setzte sie einen Fuß
vor den anderen und tastete sich durch den Flur, obwohl sie wusste, dass das
albern war.
Bis zum Ende.
Vor allen Fenstern hingen Gardinen, aber das hindurchscheinende Licht
genügte, um die Umrisse von Möbeln erkennen zu können: ein Einzelbett,
einen Nachttisch und einen Schrank.
Schon bevor Vigdís dort angelangt war, sah sie, dass die Türen der beiden
Zimmer am Ende des Flurs geschlossen waren, und sie wusste sofort, dass sie
nicht alleine waren. Sie warf einen Blick über die Schulter, konnte Hrafn aber
nicht sehen. Sie blieb vor der einen Tür stehen, griff nach der Klinke und
drückte sie herunter. Die Gardinen waren zugezogen, und das Zimmer war
leer.
Da drehte sie sich um, ging zu der anderen Tür, öffnete sie und erblickte
einen Raum, der im Sonnenschein blendend weiß war. In der Mitte stand ein
Rentier und schaute sie mit seinen runden, warmen Augen an. An seinem
Kopf waren zwei rote Stellen, an denen das Geweih ausgerissen worden war.
Blut spritzte schnell und rhythmisch aus seinem Kopf und floss an der Wand
hinab, doch das Tier rührte sich nicht. Sein Fell leuchtete golden in der
Sonne, und die Schönheit war so ergreifend und brutal, dass Vigdís spürte,
wie etwas in ihr kapitulierte, sie konnte das nicht länger ertragen. Sie sah, wie
das Tier allmählich weiß wurde und mit dem Licht verschmolz, auf die Knie
fiel und sich schließlich seitlich auf den Boden legte.
HRAFN – 32 | Bewegung der Augen
Auf dem Küchentisch stand ein Campingkocher mit einem schmutzigen
Topf. Hrafn hob ihn hoch und sah, dass der obere Rand des Topfes
eingeritzt und der Boden herausgeschnitten worden war.
Kurz darauf hörte er aus dem Inneren des Schuppens einen schrillen
Schrei. Er steckte den Kopf durch die Küchentür und sah Vigdís am Ende
des Flurs stehen und mit herunterhängenden Armen in einen der Räume
schauen.
»Vigdís …?«, sagte er und ging auf sie zu. Sie sah ihn nicht an, ihr Gesicht
war sonderbar ausdruckslos, ihre Augen starrten in den Raum, und sie schien
den Schrei selbst ausgestoßen zu haben, zwischen zusammengebissenen
Zähnen.
Da hörte er hinter sich ein Geräusch, wie wenn jemand über Sand läuft,
und sah an der Tür des Schuppens etwas vorbeihuschen. Er hob den
Revolver, stürmte hinaus, sah etwas gerade noch um die Ecke verschwinden
und brüllte laut, was sowohl ein Befehl zum Stehenbleiben als auch eine
Warnung für Vigdís sein sollte. Er entsicherte den Revolver und rannte um
die Ecke. Die Verfolgungsjagd führte zwischen den Schuppen hindurch
Richtung Schlucht, und immer wieder erhaschte Hrafn einen Schimmer
dessen, was er verfolgte: einen kleinen, kurzbeinigen Menschen mit grotesk
von den Schultern herabbaumelnden Armen. Er war schnell, aber das konnte
auch eine Täuschung sein wegen der merkwürdig ruckhaften Bewegungen,
die es Hrafn erschwerten, zu erkennen, wohin er lief oder wie er aussah.
Hrafns Blick irrte umher, um das Wesen auszumachen – es war bestimmt
kein Mensch, entschied er schnell –, und wenn er es direkt anschaute, hatte er
das merkwürdige Gefühl, es aus dem Augenwinkel zu sehen. Das Einzige,
dessen er sich einigermaßen sicher wähnte, war, dass ihm dickes weißes Haar
wie eine Mähne über den Rücken hing und dass sein Rumpf mit feinen roten
Härchen bedeckt war.
Das Wesen verschwand hinter der großen Lagerhalle bei der Schlucht.
Hrafn stürmte um die Ecke und sah gerade noch, wie es auf einen der
Holzpfosten kletterte und den Strick losmachte. Er stieß einen Schrei aus,
hob den Revolver und drückte ab. Der Knall war so laut, dass er nichts mehr
hören konnte, in völliger Stille zur Brücke rannte und das Wesen wie einen
Blitz darüberschießen sah. Zwei der Stricke waren lose, er befestigte sie
wieder und bemerkte, dass das Wesen es fast bis auf die andere Seite geschafft
hatte – wo es keinen Platz gab, an dem man sich verstecken konnte. Es sah
verändert aus, als wäre es geschrumpft. Hrafn steckte den Revolver weg, hielt
sich mit beiden Händen an den Seilen fest und eilte über die Brücke, das
Wesen zögerte, rannte aber wieder los, als er näher kam.
Nach einer kurzen Jagd über die Sandebene blieb das Wesen stehen,
drehte sich zu ihm um und setzte sich auf sein Hinterteil. Hrafn blieb
ebenfalls stehen, rang nach Luft und sah, was er verfolgt hatte. Einen Fuchs,
einen der beiden, die es sich auf dem Hof bequem gemacht hatten.
Er hob den Revolver und zielte auf das Tier, direkt auf seinen kleinen
rotbraunen Kopf, entsicherte die Waffe, berührte mit dem Zeigefinger den
Abzug und ergötzte sich an der Vorstellung, wie der Kopf in kleinen Fetzen
über den Sand flog, in der Hitze steif wurde und ein paar Sandkörner
zusammenpappte, die sonst bis in alle Ewigkeit voneinander getrennt
geblieben wären, und somit käme dem Tod des Fuchses in der größten Wüste
Europas keinerlei Bedeutung zu.
Das Tier blickte ihn ausdruckslos an, die Ohren über den schwarzen
Augen gespitzt, und Hrafn senkte den Revolver und stieß ein langes,
herzliches Lachen aus, das er selbst nicht hörte. Als er aufschaute, war das
Tier weg.
Er kehrte zur Schlucht zurück und sah Vigdís am anderen Ufer. Sie stand
vor den Holzpfosten, und alles war verändert. Die Brücke war nicht mehr
über die Schlucht gespannt, sondern hing auf Hrafns Uferseite senkrecht
nach unten. Vigdís rief und winkte, und er winkte zurück. Er konnte wieder
hören.
Da die Brücke auf seiner Seite noch an den Pfosten hing, war sie
anscheinend von der anderen Seite gelöst worden. Intuitiv wollte er alles
gleichzeitig machen, in den Fluss springen und versuchen,
hinüberzuschwimmen, Vigdís die Waffe zuwerfen oder sie an die eigene Stirn
legen und abdrücken. Er rief etwas zurück, das man wegen des Dröhnens
nicht hören konnte, zeigte dann mit übertriebenen Gesten entlang der
Schlucht flussaufwärts und ging los. Vigdís schwenkte einmal kurz die Hand
über den Kopf, wie um zu signalisieren, dass sie verstanden hatte, und ging
dann auf ihrer Seite der Schlucht ebenfalls los. Er wäre gerne gerannt,
bremste sich aber, denn wenn er zu müde wurde, konnte er nicht mehr mit
dem Revolver zielen. Ab und an richtete er den Blick nach vorne,
konzentrierte sich aber ansonsten auf das gegenüberliegende Ufer, falls Vigdís
in Schwierigkeiten geriet.
Die Sonne stieg immer höher und war schon bald so grell, dass er kaum
mehr über die Schlucht schauen konnte und der Schweiß in seinen Augen
juckte. In Lebendige Wissenschaft hatte er mal gelesen, dass Augen, obwohl sie
ganz ruhig aussahen, sich normalerweise dreimal in der Sekunde bewegten,
nur um Dinge besser zu fokussieren, so ähnlich wie ein Mensch in einem
düsteren Tunnel, der auf alles eine Taschenlampe richtete, um besser sehen
zu können. Diese Bewegung hieß Sakkade, und währenddessen war es
zwanzig bis zweihundert Millisekunden »dunkel«, was das Gehirn zu
vertuschen versuchte. Es füllte diese Lücke in der Sinneswahrnehmung und
verwob vage Informationen zu einem zusammenhängenden Film, der unsere
Sicht der Wirklichkeit war. Doch manchmal schlug dies fehl, und die Zeit
schien »einzufrieren« – als verlangsame sich das Leben für einen Moment
oder halte sogar an:
Wenn Person X den Blick ganz kurz von ihrem Buch hebt und auf die Uhr schaut,
meint sie, dass der Sekundenzeiger länger anhält, bevor er weiterläuft. Der Grund dafür ist
eine Sakkade. Um die vorübergehende Blindheit während der Sakkade zu kompensieren,
»rät« das Gehirn, was es gesehen hat, allerdings rückwärtsgerichtet: Die Augen bewegen sich,
erblinden während der Sakkade für ungefähr hundert Millisekunden, und das, was sie kurz
nach der Sakkade sehen, hält das Gehirn für dasselbe wie in dem Sekundenbruchteil davor.
Wenn die Sakkade im selben Augenblick stattfand, in dem sich der
Sekundenzeiger bewegte, dauerte die Sekunde ungefähr zehn Prozent
länger – so schien es jedenfalls –, und infolgedessen war ein Drittel von allem,
was wir mit den Augen sahen, Mutmaßung, mal richtig und mal falsch.
Aber für Hrafn war das Wichtigste, wenn er jetzt darüber nachdachte,
nicht diese Ungenauigkeit, die das Gehirn in die Bearbeitung von Eindrücken
eingebaut hatte, sondern dass man solche Details, wie etwa dass eine Sekunde
ein paar Millisekunden länger oder kürzer war, als sie sein sollte, überhaupt
registrieren konnte. Was für eine höhere empfindende Macht war das, so nah
an der innersten Arbeitsweise des Gehirns und doch kein Teil von ihr? Sie
nahm die Informationen auf, die einem durch die Sinnesorgane mitgeteilt
wurden, ließ sich aber nicht »mitreißen« und wusste sofort, wenn etwas falsch
war, wenn das Resultat der Bearbeitung den zuvor gemachten Erfahrungen
widersprach, unseren wiederholten und gesammelten Erfahrungen bezüglich
der Gesetze der Zeit: der Länge von Sekunden, zum Beispiel, in unserem
fünfunddreißig Jahre langen Leben.
Was bedeutete das? Dass ein Teil des Gehirns imstande war, sich selbst
wahrzunehmen, und es demnach sechs Sinnesorgane gab: Sehen,
Schmecken, Hören, Riechen, Fühlen – und? Na, die Intuition natürlich:
stumm, unfundiert, aber exakt umfasste sie all unsere Erfahrungen und
seelischen Prozesse der Vergangenheit und verglich sie mit Erfahrungen und
Prozessen im Jetzt. Was konnte die Intuition sonst noch? War sie in
irgendeiner Form begrenzt? Wie? Was war mit der Vergangenheit, wusste sie
etwas über die Vergangenheit?
Er lachte und beschleunigte seinen Schritt. Sie erreichten die
Flussbiegung, und er sah, dass das Wasser bis über das Rohr angestiegen war,
als sei es nie da gewesen.
Das Land führte zum Staudamm hin bergauf. Während er den Hang
hinaufstieg, verlor er Vigdís für ein paar Minuten aus dem Blick, doch dann
tauchte sie wieder auf und winkte. Mitten in der Staumauer zog sich ein Riss
nach unten, wie ein gezeichneter Blitz; die Mauer war mit einer dünnen
Sandschicht bedeckt, aber darunter kamen große Flächen mit
abgebröckeltem Putz zum Vorschein. Auf der anderen Seite der Schlucht
schlängelte sich eine Schotterstraße zum Damm, zweifellos dieselbe, die sie
beim Dorf gesehen hatten.
Je näher sie dem Staudamm kamen, desto weiter entfernten sie sich
voneinander, und als Hrafn oben angelangt war, hatte er Vigdís erneut aus
dem Blick verloren. Er rannte das letzte Stück bis zur Straße, die über die
gesamte Staumauer führte. Oberhalb des Damms gab es keinen Stausee,
sondern ein Labyrinth aus getrocknetem Schlamm und Matsch, das sich so
weit erstreckte, wie das Auge reichte. Der Schlamm zog sich bis zur Mitte der
Mauer und war von Furchen, Rissen und Spalten durchzogen, die größte in
der Mitte, durch die der Fluss floss. Längs dieser Mittelspalte türmten sich
hohe Schlammblöcke auf, von denen einige über den Fluss ragten und jeden
Moment umzukippen drohten.
Hrafn rannte über die Staumauer und erreichte den Zaun, der den Weg
in der Mitte versperrte und über den er nicht hatte nachdenken wollen. Er
warf sich dagegen und rüttelte daran, ohne etwas zu bewirken. Der
Maschendraht war dicht und bis über den Rand der Staumauer hinaus an
Stangen gespannt. Oben schloss der Zaun mit Stacheldraht ab und war unten
mit Bodenhülsen im Beton verankert.
Am anderen Ende der Staumauer erschien Vigdís und näherte sich über
die Straße. Hrafn nahm den Revolver und richtete den Lauf auf den Draht;
mit ein bisschen Glück konnte er ein Loch hineinschießen, durch das sie ihre
Köpfe zwängen konnten. Was nicht reichte. Er konnte auch seine Schuhe
ausziehen und bis zum Stacheldraht an dem Zaun hochklettern, aber das
wäre es dann, die Stacheldrahtrolle war zu dicht und hoch, als dass er über
sie hätte springen können. Er zerrte noch fester an dem Draht, warf sich
immer wieder dagegen, hörte aber auf, als Vigdís beim Zaun angelangt war.
Sie verschränkten ihre Finger.
»Wir sind zusammen, Liebling. Wir finden einen Weg«, sagte er, und sie
küssten sich durch den Maschendraht. Vigdís versuchte zu sprechen, aber es
ging nicht, sie weinte nur und drückte sich fest an den Zaun. Er hatte sie noch
nie so weinen sehen, sagte etwas Ermunterndes, und sie nickte. »Ich komme
zu dir«, versprach er und löste sich von ihr. »Warte hier … Ich komme
zurück. Rühr dich nicht von der Stelle, Liebling.« Bevor er über die
Staumauer zurückging, drehte er sich noch einmal um, nahm den Revolver
und sagte Vigdís, sie solle ihn zur Sicherheit nehmen. Er versuchte, ihn durch
den Zaun zu schieben, aber er passte nicht durch. Da zog er sein T-Shirt aus,
wickelte es um die Waffe, warf sie über den Zaun und erklärte ihr, wie man
sie entsicherte, mit beiden Händen festhielt und zielte.
»Ich liebe dich«, sagte sie, und ihr Gesicht verzerrte sich wieder, ihre
Mundwinkel verzogen sich nach unten, und Hrafn konnte sie nicht länger
anschauen. Er rannte zu dem Haus am Ende der Staumauer, wo er hoffte,
einen Gegenstand oder ein Werkzeug zu finden, um den Zaun zu zerstören.
Ein Fußweg führte zu dem Haus, das viereckig, grau und fensterlos und von
einem gepflasterten Weg umgeben war. Die Tür war abgeschlossen.
An der Staumauer selbst, auf der Seite des Stausees, entdeckte er eine
weitere Tür mit einem Schild mit der Aufschrift Nur für Personal. Er ging hin,
griff nach der Klinke und öffnete sie. Wärme und ein metallischer Geruch
nach Maschinen und Petroleum schlugen ihm entgegen. In dem Lichtschein,
der durch die Tür fiel, konnte er einen langen, weiß gestrichenen Gang
ausmachen, der in die Dunkelheit führte.
Er setzte den Rucksack ab, holte die Signalraketen heraus und las die
Anleitung. Dann betrat er den Gang und tastete sich weiter, bis er nichts
mehr sehen konnte. Die Signalraketen sollten jeweils für ein paar Minuten
reichen, und er hoffte, dass der Gang durch die Staumauer zu einer
ebensolchen grauen Tür auf der anderen Seite der Schlucht führte. Er löste
den Metalldraht von einer Leuchtrakete, zog am Auslöser und hielt sie von
seinem Gesicht weg. Der Gang wurde von einer grellroten Flamme und von
Funken, die seinen Handrücken verbrannten, erhellt. Er eilte weiter und sah
Mäuse über den Boden huschen, kleine quiekende Feldmäuse, die in der
Wand verschwanden, obwohl er keine Löcher sah. Kurz darauf machte der
Gang eine scharfe Kurve und ging in eine steile Treppe über, die nach unten
in die Staumauer führte. Er hielt sich mit einer Hand am Geländer fest,
umkrallte mit der anderen die Signalrakete und rannte die Stufen hinunter.
An deren Ende öffnete sich eine Halle mit Tanks und dicken Rohren, die sich
an den Wänden entlangwanden. Hrafn prägte sich die Richtungen ein,
wandte sich nach rechts und folgte der Wand bis zu einer Ecke und dann der
nächsten Wand bis zu einer Tür, die in eine weitere Halle führte.
In der zweiten Halle entdeckte er eine Tür, die in die richtige Richtung
zeigte und zu einer ebensolchen Treppe führen musste wie die, die er
hinuntergestiegen war. Er ging quer durch die Halle, blieb aber in der Mitte
stehen, zwischen zwei Tanks, die ihm bis zum Bauchnabel reichten. Die Stille
hier drinnen war allumfassend. Er spähte nach oben, konnte die Decke aber
nicht erkennen. Das Wasser in den Tanks war still und düster, und er begriff,
dass sie tief in den Damm hineinführten, wahrscheinlich sogar bis zu den
Tunneln, wo der Fluss in den Beton hineintoste und am anderen Ende wieder
herauskam.
Das Licht der Signalrakete wurde schwächer, was Hrafn nicht an der
Flamme selbst bemerkte, sondern an der Dunkelheit, die um ihn herum
immer dichter wurde, die Wände waren nicht mehr zu sehen und die
Umrisse der Tanks neben ihm verblassten. Er zog eine neue Signalrakete aus
dem Hosenbund, als sein Blick auf die Tür fiel, die zu der Treppe und zu
Vigdís führte. Wenn ihn nicht alles täuschte, hörte er Schritte und einen
Knall von der Tür oben in der Staumauer. Dann ertönte ein Ruf oder
vielmehr ein Schrei. Hrafn spürte, wie ihm plötzlich eiskalt wurde, und fast
im selben Moment erklang ein weiterer Schrei, noch schriller als der erste,
direkt gefolgt von einem Knall, laut und scharf wie von einer Schusswaffe.
Danach hörte er nichts mehr.
33 |
Die Flamme war erloschen, und Hrafn hielt nichts mehr in der Hand. Seine
Arme hingen schlaff an seinem Körper herunter, sein Herz hämmerte in der
Brust, und weiße und rote Punkte schwirrten vor seinen Augen. Er meinte,
nicht mehr richtig atmen zu können, und riss die Augen auf, obwohl er in der
Dunkelheit nichts sehen konnte.
Er kniete sich hin, und während er nach Luft rang, tastete er auf dem
Boden nach der Signalrakete, wimmerte leise, als er die alte Rakete berührte,
die noch heiß war, und schleuderte sie weg.
Jemand betrat die Halle. Hrafn hielt sich die Hand vor den Mund, damit
man ihn nicht hören konnte, und starrte reglos in die Dunkelheit Richtung
Tür. Er hörte ein leises Geräusch, wie von Fußsohlen, die über den Boden
schleiften. Dann verstummte das Geräusch.
Aus der Dunkelheit drang kein Laut mehr, aber Hrafn wusste, dass er
nicht allein war, dicht bei ihm stand jemand und lauschte, reglos wie er selbst.
Mit der freien Hand tastete er vorsichtig über den Boden, schloss die Augen
und hörte ein Gluckern aus einem der Tanks, als bewege sich das Wasser
darin. Er wusste schon nicht mehr, in welche Richtung er sich gerade drehte,
und konnte oben und unten nicht mehr unterscheiden, als seine Hand auf
etwas stieß.
Er sprang auf, hielt die Signalrakete von seinem Gesicht weg und zog am
Auslöser. Rotes Licht erfüllte die Halle, die Wände und die Decke wurden
sichtbar, die Rohre zogen sich an der Wand entlang, und das Wasser in den
Tanks schimmerte wie bei einem Sonnenuntergang. Hrafn schirmte die
Augen vor der Flamme ab, schaute sich in der Halle um, sah aber
niemanden. Vor ihm auf dem Boden war eine Pfütze, und das Wasser in
einem der Tanks kräuselte sich leicht, als sei etwas hinein- oder
herausgetaucht.
Von der Pfütze führten nasse Spuren zu einer der Türen. Wie hypnotisiert
folgte er den Spuren und kam in eine weitere Halle, genau wie die anderen,
also musste es entweder drei Hallen geben, oder er ging zurück. Die Spuren
führten quer durch die Halle, und Hrafn folgte ihnen, rief nach Vigdís und
sah kleine rote Augen in der Dunkelheit glänzen. Die Mäuse. Er kam zu einer
Tür, und dahinter war eine Treppe, die nicht nach oben, sondern nach unten
führte. Er eilte die Treppe hinunter, meinte Vigdís nicht weit entfernt
schluchzen zu hören und lief schneller, kam in einen langen Gang, in dem
Rohre an der Wand entlangliefen. Während er rannte, sah er aus dem
Augenwinkel, wie sie hoch und runter liefen, sich verzweigten und wieder
miteinander verbanden.
Der Gang endete in einer Halle, die kleiner war als die anderen weiter
oben in der Staumauer, und die Hitze in ihr war erstickend. In ihrer Mitte
befand sich ein Tank, an der Wand brummte eine Maschine, die deckenhoch
war und an eine Kirchenorgel erinnerte. Vor der Maschine waren drei
kegelförmige Stapel, die ihm bis zur Brust reichten. Sie bestanden aus
aufgetürmten Knochen und hatten vorne eine Öffnung, genau wie die
Pyramide im Dorf, in der sie das Foto von Vigdís gefunden hatten. Auf dem
Boden lagen überall Knochen, trocken und fragil, die zerbröselten, wenn
Hrafn auf sie trat.
Das Licht der Signalrakete wurde schon wieder schwächer. Er ging zu
einer der Pyramiden und sah, dass die Knochen mit irgendeiner Flüssigkeit
oder Schleim zusammengeklebt waren. In der ersten Pyramide lagen ein
Werkzeug, das aussah wie ein Drahtschneider, sowie Schmuck und
Kleidungsstücke, die Anna gehörten und in Fetzen gerissen waren. Von der
nächsten Pyramide führte eine blutige Spur über den Boden, als sei etwas
gekrochen oder gezogen worden. In der dritten Pyramide sah er die
Silhouette einer Person, die ihm den Rücken zudrehte, sie saß im
Schneidersitz und ihr Kopf war vor lauter Knochen nicht zu sehen.
»Vigdís?«, sagte er leise und hockte sich neben die Pyramide. »Bist du
das?« Die Leuchtrakete ging aus, und alles wurde dunkel. Hrafn lauschte auf
eine Antwort, streckte die Hand aus und spürte, wie sie in Wasser tauchte,
fast so, als zöge jemand an ihr. Das Wasser war verdorben und dickflüssig wie
Speichel, und er wurde langsam hineingezogen, bis der Speichel sein Gesicht
bedeckte und er begann, dagegen anzukämpfen; er strampelte mit den
Beinen und wand sich. Da hörte er, wie es in der Pyramide knackte, die
Knochen auf den Boden fielen und das, was sich darin befand, an ihm
vorbeistürmte.
Er nahm die letzte Signalrakete, zog am Auslöser und sah etwas in dem
Tank in der Mitte der Halle verschwinden. Er rannte dorthin. Auf dem
Boden rings um den Tank lagen blutige Finger und Zähne. Der Tank war
leer, aber eine Leiter führte hinein. Hrafn schob sich die Signalrakete in den
Mund, klemmte sie zwischen die Zähne und kletterte die Leiter hinunter, bis
er in einem schmalen Rohr stand. Es war aus Metall und gerade hoch genug,
dass er aufrecht darin gehen konnte. In die eine Richtung führte das Rohr
steil nach oben zum Damm und in die andere Richtung nach unten, von wo
man die dumpfen Fußtritte von jemandem, der wegrannte, hörte. Hrafn
folgte dem Geräusch und eilte durch das Rohr, bis mehrere Rohre zu einem
zusammenliefen und es nicht weiter abwärts ging, was bedeutete, dass die
Hügel hinter ihm lagen. Die Metallwände gingen in dunkles, glänzendes
Gestein über. Hrafn rutschte auf dem glitschigen Felsboden aus, und ihm
wurde bewusst, dass derjenige, den er verfolgte, gar kein Licht hatte, um den
Weg zwischen den Felswänden zu beleuchten, was ihm undenkbar schien.
Der Tunnel teilte sich. Der rechte Teil führte nach unten und war voller
Wasser. Hrafn konnte die Farbe des Wassers nicht erkennen, war sich aber
sicher, dass es aus dem Fluss kam und es sich um denselben Tunnel handelte,
in dem Egill und Anna verschwunden waren. Die Tunnelöffnung war von
einem dicken Stahlrahmen eingefasst, und man konnte die Rückseite einer
Luke erkennen, die sich nach innen öffnen ließ, bestimmt um den Wasserfluss
aus dem Stausee zu regulieren.
Hrafn hatte keine Angst. Die Leuchtrakete würde innerhalb der nächsten
Minute wertlos sein, und dann würde er nichts mehr sehen, sich aber
bestimmt daran gewöhnen – wie an eine lange, dunkle Sakkade! Hastig zog es
ihn weiter, und plötzlich registrierte er eine Bewegung ganz in seiner Nähe;
jemand presste sich an die Wand und verschwand dann in ihr. Hrafn hob die
Leuchtrakete und erblickte einen weiteren Nebentunnel, einen Stahlrahmen
und eine Luke, die sich just in diesem Moment vor die Öffnung schob. Er
versuchte, die Luke festzuhalten, aber es war zu spät, der Tunnel war
verschlossen, und kurz darauf erlosch die Signalrakete.
Er starrte in die Dunkelheit und sah nichts anderes als Vigdís’ Gesicht,
ausdruckslos und blass, als sie im Tunnel verschwand. Keine Hand, die ihr
den Mund zuhielt, keine Pistole an ihrem Kopf. Nur sie. Allein.
34 | Wer hat ein Schaf in den Kamin geschoben?
Er spürte das Gewicht des Gesteins um sich herum, die intensive Stille, die
nicht ruhig war, sondern in seinem Kopf summte. Plötzlich fiel ihm ein, dass
sie das Spiel, das sie kurz vor dem Unfall im Auto gespielt hatten, nie zu Ende
gebracht hatten: Ich sehe was, was du nicht siehst. Es war nie
herausgekommen, was Anna sich ausgedacht hatte. Den Regeln nach wäre
Skimmi, der kleine Mann in den Felsen beim Studentenwohnheim, jedenfalls
nicht zulässig gewesen: weil er unsichtbar war. Und Hrafn und die anderen
auch nicht! Sie waren nicht mehr zulässig in der materiellen Welt, sondern
steckten in einer Art Limbo zwischen Leben und Tod und fanden nicht mehr
heraus.
Er zwang sich zum Weitergehen, tastete sich mit den Füßen über den
Boden und streckte die Arme aus, damit er nicht gegen die Wände stieß, aber
dann hörte er damit auf, steuerte geradewegs auf die Mitte zu, wo die
Dunkelheit am undurchdringlichsten war, und konzentrierte sich darauf,
aufrecht zu gehen, mit geradem Rücken, anstatt sich voranzutasten wie ein
Insekt. Das hatte ihn schon immer von anderen unterschieden, er ließ sich
nicht von seiner Umgebung lenken und hatte ein starkes Gefühl für sich selbst
und seinen eigenen Wert: Selbstbeherrschung.
Mit der Zeit schien sich die Dunkelheit rechts und links von ihm noch zu
verdichten, Tunnel öffneten und teilten sich in weitere Tunnel, die tief in die
Erde oder an die Oberfläche führten, sich zu einem Nichts verengten oder zu
himmelhohen Gewölben anwuchsen. Hrafn war es völlig egal, wo er landete:
ob er wieder in der Staumauer, im Nasenloch des Alten oder in einer
Kloschüssel in Egilsstaðir herauskam. Er dachte an den Minotaurus und an
den Bohrer, der diese Tunnel gegraben hatte, die Diamantspitzen, die sich
vorne auf einem stählernen Phallus in die eine Richtung drehten, während
dieser in die entgegengesetzte Richtung rotierte, unermüdlich um sich kreiste
wie ein verwundetes Tier und durch den Fels zwängte, sah sich selbst ganz
ruhig mitten in der Maschine in einer kleinen Steuerkabine auf Knöpfe
drücken, an Hebeln ziehen, auf Bildschirme schauen, auf denen der Fels
ohne Unterlass unter den glühenden Diamanten zerbröckelte; er fuhr durch
die Erde und bohrte Leerräume hinein, damit die Leute sich in ihnen
verliefen, Runde um Runde, bis die Erde in der Mitte einstürzte.
Nach einem langen Marsch in der Dunkelheit spürte er einen Lufthauch;
frischer Sauerstoff strömte ihm in einem Tunnel entgegen, der die anderen
kreuzte, der Boden war glatt und nicht gewölbt und führte aufwärts.
Er ging zur Erdoberfläche, und allmählich wurde es heller. Als seine
Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, trat er hinaus auf den Sand, an den
Fuß des Hügels, von dem sie den Staudamm zum ersten Mal gesehen hatten.
Am Horizont sah er den Stall und die Scheune, und dahinter war das Haus.
Er schlug den Weg zum Haus ein und war sich nicht mehr sicher, was
eigentlich passiert war. Er stellte sich Vigdís vor – immer noch – an dem
Zaun auf der Staumauer, wo sie stand und auf ihn wartete, oder besser noch:
wie sie sich in die Staumauer locken ließ, überfallen wurde und eine behaarte
Pranke ihr Gesicht verdunkelte, sie zum Gehorsam zwang. Wer?
Wer hatte das Foto in die Knochenpyramide gesteckt? Wer hatte das Schaf in den
Kamin geschoben? Wer hatte sich in der Staumauer die Finger abgeschnitten, das Auto gegen
das Haus gefahren?
Er hastete los, und je näher er dem Haus kam, desto mehr hatte er das
Gefühl, gezogen zu werden. Er schien so schnell und so lange laufen zu
können, wie er wollte, sprang hoch und schwenkte eine unsichtbare Axt,
schlug sie von der Seite tief in einen Kopf, täuschte Seitenschritte vor, sprang
und schwang die Axt so, dass sie geradewegs im Kopf des Gegners landen
und ihn spalten würde, und einmal blieb er stehen, verfolgte den Schlag der
Axt durch den Kopf, durch den Rumpf und tief in die Erde.
Er ließ die Axt im Sand liegen und rannte weiter, sah aus dem
Augenwinkel noch mehr Menschen in dieselbe Richtung laufen, mit Äxten in
den Händen große Sätze machen, Speere werfen, mit roten Augen und
Messern zwischen den Zähnen von Felsen springen, in Schilde beißen, mit
Steinen Köpfe einschlagen, Streitkolben schwenken, mit Schwertern und
Äxten Hiebe austeilen. Rote Wellen rollten über die Sandflächen, und er
hatte das Gefühl, zu schweben oder zu treiben.
Er erreichte den Stall und die Scheune und zwang sich, nicht mehr zu
laufen. Vor der Scheune stand das alte Ehepaar, fast so als hätten sie ihn
erwartet, der Mann idiotisch grinsend und die Alte mit ausdruckslosem
Gesicht. Hrafn ging zu der Alten, zeigte mit dem Finger auf sie und sagte, sie
beide seien dafür verantwortlich, was mit Vigdís passiere, die er »meine
Frau« nannte.
Dann wandte er sich lachend an den Alten. »Und wo ist deine Frau,
Smiley?«, fragte er, sich an Annas und Vigdís’ Theorie über den Inzest
erinnernd. »Wer war in dem Raum hinter dem Arbeitszimmer? Wo ist das
Kind?«
Sie antworteten nicht, und er sagte, er wisse, wie er sie zum Sprechen
bringen könne, ging zu der silbergrauen Tonne mit dem Sprit und kippte sie
um. Der Hahn brach ab, die durchsichtige Flüssigkeit floss heraus und durch
die Tür, wo die Alte stand. Der Mann war verschwunden.
»Kein Smiley mehr!«, sagte Hrafn und sah, dass sie rüber zum Stall
spähte. »Ist er in eine Box geflüchtet, um sich bei den unsichtbaren Kühen zu
verstecken?« Die Alte schwieg weiter, und er packte sie an der Schulter, zog
sie zu der Pfütze und stieß sie hinein, holte ein Feuerzeug heraus und zündete
sich eine Zigarette an.
»Was hast du gemacht?«, fragte die Alte leise, die keine Angst vor ihm zu
haben schien. »Wo sind deine Freunde?«
»Ich stelle hier die Fragen«, entgegnete er, und sie schüttelte den Kopf.
»Nicht den Kopf schütteln!«, schrie er und zeigte mit der Zigarette auf sie. Er
fragte nach dem Staudamm, dem Dorf, nach Vigdís und Egill und was mit
Anna passiert sei, hörte sich all diese Fragen stellen und hatte das Gefühl, sich
dem Kern der Sache zu nähern, aber er verstand nicht wie. »Hier sind noch
mehr als wir, oder? Wer ist da draußen?«
»Da draußen ist nichts«, antwortete die Alte und schüttelte weiter den
Kopf. »Es ist hier.« Sie streckte den Arm aus, legte sich die Hand auf die
Brust und klopfte leicht dagegen. Er packte ihr Handgelenk und drehte es auf
den Boden. »Schau dir das Bild an«, sagte sie und lag immer noch in der
Pfütze. Aus der Tonne floss keine Flüssigkeit mehr, dennoch wurde die Pfütze
immer größer.
»Welches Bild?«
»Das du in der Tasche hast. Von deiner Frau.« Er schob die Hand in die
Gesäßtasche seiner Hose und zog das Foto von Vigdís heraus. Aus ihrem
Kopf ragten undeutliche Linien, die mit jeder Sekunde weißer und dicker zu
werden schienen und Tierhörnern ähnelten. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich
ebenfalls verändert, die Augen waren offen, doch nur das Weiße war zu
sehen, der Mund war aufgesperrt, während sie ihre eigenen Brüste in rot-
gelbe Fetzen riss.
»Was ist das?«, fragte er und löste den Blick von dem Foto. »Was macht
ihr mit ihr?«
»Wir haben nichts gemacht«, entgegnete sie und lächelte noch breiter, als
spüre sie seine Unsicherheit. »Ihr habt das alles selbst gemacht.«
Er kniete sich neben sie, zog an der Zigarette und blies ihr den Rauch ins
Gesicht. »Ich werde dich anzünden, wie gefällt dir das, du alte Hexe? Dann
zünde ich deinen Mann an und die unsichtbaren Kühe und das Heu und das
Haus. Da bleibt nichts übrig, keine Spuren, dass hier mal jemand war.«
Er blickte auf und sah den Alten durch die Stalltür kommen. In der Hand
hielt er einen Stock mit einer langen, scharfen Sichel. Sein Grinsen war wie
weggewischt, und der Ausschlag in seinem Gesicht bildete von der
Nasenwurzel bis zu den Mundwinkeln ein Dreieck, unter dem rosa Fleisch
aufblitzte, als schäle sich seine Haut ab.
»Na was haben wir denn da?«, sagte Hrafn und richtete sich auf. »Hast
du deine Sense gefunden, wird jetzt gemäht? Wo ist die Wiese?« Der Alte
schwenkte die Sense einmal kurz und schnell, machte dann einen Schritt auf
ihn zu und schwenkte sie erneut, ließ sie in der Mitte los, hielt aber das Ende
fest, sodass sie an Hrafn vorbeischnellte, hinter seinem Kopf vorbei, und auf
dem Rückweg an seinem Hals entlangstrich.
Hrafn schnippte die Asche von seiner Zigarette und warf die Kippe in die
Pfütze, in der die Alte saß. Er wandte sich ab, hörte einen Knall, wie wenn
ein Laken im Wind flattert, und rannte von der Scheune weg, spürte die
Hitze im Rücken und hörte die Alte aufheulen.
»Bist du wütend, Alter?«, rief er über die Schulter und lachte über den
Alten, der hinter ihm hertapste, nicht besonders schnell, und immer noch die
Sense festhielt.
Als Hrafn die halbe Strecke zum Haus zurückgelegt hatte, blieb er stehen,
hörte das brennende Holz der Scheune knacken, das Feuer schlug durch die
Tür. Bei dem Laternenpfahl waren drei Gruben im Sand, lang und tief.
Das Heulen der Alten verstummte, und stattdessen erklang das schrille
Bellen der Füchse, die aus der Scheune strömten, nicht mehr zwei, sondern
ein ganzes Rudel, hundert oder tausend Tiere. Sie jagten über den Sand wie
dunkelrotes Feuer, an dem Alten vorbei und um die Ecke des Hauses, als
Hrafn gerade den Hof erreichte. Sie schnappten nach seinen Waden,
sprangen bellend auf seinen Rücken und krallten sich fest, kletterten auf seine
Schultern und rammten ihre kleinen, scharfen Zähne in sein Fleisch. Er fiel
auf die Knie, erklomm auf allen vieren die Treppe zum Haus; Blut spritzte
aus seinem Hals und Gesicht und floss die Stufen hinunter. Er kroch das
letzte Stück zum Haus und öffnete die Tür, zwängte sich durch den Schlitz
und knallte sie hinter sich zu.
35 | Dimensionen in dieser Welt
Er presste den Rücken gegen die Tür, schnappte nach Luft, tastete in seiner
Tasche nach einer Zigarette und zündete sie an.
»Anna!«, rief er. »Ich bin wieder da!« Er griff nach dem Türriegel und
schob ihn zu.
Ein Schlag prallte gegen die Tür, und die Sense stach kurz über seinem
Kopf durch sie hindurch. Hrafn rollte sich von der Tür weg, stand auf und
sah, dass nicht nur der Boden mit Blut bedeckt war, sondern dass auch Blut
von der Decke tropfte und unablässig von den Wänden floss. Die Sense sah
aus wie ein langer, scharfer Vogelschnabel, rein und raus, rein und raus, der
sich überall durch die Tür hackte.
Er eilte weiter ins Haus hinein und sah Anna auf dem Küchenfußboden
liegen. Als er die Küche betrat, schien sie ihn zu spüren und krümmte sich.
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und seufzte, massierte mit den
Handflächen sein Gesicht und versuchte, die plötzliche Müdigkeit zu
vertreiben.
»Ich gebe dir ein paar Tabletten, Anna. Damit du keine Schmerzen hast«,
sagte er und erkannte seine eigene Stimme nicht mehr. »Anschließend hole
ich einen Drahtschneider für den Zaun. Vigdís ist am Staudamm, ich fürchte,
dass es zu spät ist, ich glaube nicht mehr daran … Alles ist weg, Anna. Aber
da war nie was, und jetzt ist es weg … Nichts ist weg.« Er schnippte die
Zigarette auf den Boden und trat sie aus.
Es gibt Dimensionen in dieser Welt, die wir nicht sehen können.
Er stampfte ein paarmal mit den Füßen auf den Boden, und Anna rollte
sich noch mehr zusammen. »Ich weiß es nicht, Anna … Kennst du die
Geschichte von Jónas in der Fotze des Wals? Es waren mal ein paar Männer,
die in den Westfjorden am Strand entlangwanderten und auf einen
gestrandeten Wal stießen. Sie kletterten auf das Tier, doch urplötzlich
versank ein Mann namens Jónas in dem Wal, nur seine Schultern und sein
Kopf ragten noch heraus. Er war prompt in die Scheide des Wals getreten,
und die Männer mussten all ihre Kräfte aufbringen, um ihn wieder
rauszuziehen. Danach wurde er nur noch Jónas Walfotze genannt.«
Er stand auf, schloss die Küchentür, ging dann zum Fenster und schaute
hinaus in die grellweiße Landschaft. Er hatte nie ein besonderes Gefühl für
sich selbst gehabt, nur dass er einsam war. Und dasselbe galt auch für die
anderen. Sie sahen sich selbst in allem, fanden sich aber in nichts wieder. Auf
der Fensterbank lagen das Bild, das Vigdís von der Wand gefegt hatte, ein
paar Glasscherben und ein zerbrochener Rahmen. Die Frau auf dem Bild
war schön, aber mit leblosem Blick, fürchtete sich vor dem Mann an ihrer
Seite, was sie mit Shoppingtrips nach New York und London kompensierte,
mit Kindermädchen, Freundinnen und dem einen oder anderen
Seitensprung; sie hatte keine Kraft für andere als sich selbst, war immer ein
Teenager geblieben, ihr Gesicht eine Maske, die nichts verbarg. Und der
Mann war eine miese Ratte, schleppte einen Sack Eiter hinter sich her und
brauchte von der Gesellschaft nichts anderes als eine Kugel in den Kopf.
Seine Eltern.
Alles war ihre Schuld, alles. Anderer Leute Schuld.
Er beugte sich über Anna, hob ihren sich windenden Körper hoch und
legte sie auf den Küchentisch. Sie schlug mit den Armstümpfen um sich,
sodass sich die Mullbinde von den Händen löste. Er holte die
Tablettenpackung, zerstieß ein paar Tabletten in einem Glas und befahl ihr,
nicht weiter um sich zu schlagen, obwohl sie wahrscheinlich nichts hören
konnte. Dann band er ihr die Arme mit den Resten ihres T-Shirts auf den
Rücken und hielt ihren Unterkiefer fest, bis sie das Pulver geschluckt hatte,
wobei ihr Mund sich weit öffnete, sodass man tief in ihren Rachen schauen
konnte.
Als sie sich beruhigt hatte und ihre Muskeln entspannte, besah er sich die
blutigen Stümpfe und wie ihre Finger abgeschnitten worden waren: mit
einem sauberen, glatten Schnitt. Er strich ihr mit der Hand über den Bauch,
der feucht und warm war, strich sanft über die Wunden auf ihrem Körper,
die geschwollener und bläulicher waren als vorher, und spürte, wie sie die
Berührung sowohl begehrte, als auch mied. Ihr Körper war feucht und offen,
jede einzelne Pore gedehnt wie ein kleiner Mund, ihr Atem schnell, und sie
verströmte einen schweren und heißen Geruch nach Schlamm und Blut. Er
streichelte ihre Brüste und ließ den Blick zwischen ihre Beine gleiten, wo sich
ein helles, feines Haarbüschel abzeichnete, spürte, wie sie auf die Berührung
reagierte, am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam und sich leicht von der
Tischplatte hob, dann schnell den Rücken krümmte wie bei einem Krampf.
Das Bellen war ein ohrenbetäubender Lärm vor dem Haus. Die Wände in
der Küche wurden rot, Blut strömte die Wände hinab und quoll aus einem
Topf auf dem Herd.
Mein eigenes Blut, dachte er und sah die Konturen von etwas, das er
noch nicht verstand. Er musste an die alten Geschichten über das verborgene
Volk denken, das in Steinen und Felsen wohnte, mit hellen Lichtern verirrte
Reisende anlockte, bis der Fels sie umschloss und man nie wieder etwas von
ihnen hörte.
Eine heftige Klaustrophobie befiel ihn, er sah sich suchend nach etwas
Beruhigendem um und entdeckte eine Tür in der Wand, die er zuvor nicht
bemerkt hatte.
Vielleicht kam er da raus.
Er ging zu der Tür, öffnete sie und blickte durch ein schmales
Treppenhaus in den Keller. Die Treppe war steil, mit vielen schmalen
Stufen – oder war die Treppe einfach länger, als er zunächst gedacht hatte?
Er zündete einen Kerzenstummel an, den er in der Küche fand, und tastete
sich vorsichtig die Treppe hinunter.
An ihrem Ende lag ein Korridor, der tiefer ins Haus führte. An beiden
Seiten waren Zimmer, und am anderen Ende des Korridors befand sich,
genau wie im Obergeschoss, eine Tür. Der erste Raum war voller
Pappkartons, die auseinandergefallen waren und deren Inhalt auf den Boden
gerutscht war – Fotos von im Sand verstreuten Kadavern, von einem Kalb
mit zwei Köpfen, einem angebundenen Schaf, das seine eigenen,
heraushängenden Eingeweide fraß, einem Fuchs mit geschorenem Körper
und einem Vogel, der auf einem Kopf festgebunden war. Im nächsten Raum
standen Pflanzen, strahlend grün und rot, die einen starken, schweren
Geruch nach verfaultem Obst ausströmten. Auf den Zweigen saßen Vögel
mit großen Schnäbeln und winzigen, zusammengekniffenen Augen. Es
herrschte ein Stimmengewirr in dem Raum wie Jubel bei einem Wettkampf
oder Regen, der auf ein Dach trommelt.
Hrafn war sich nicht mehr sicher, wo er sich befand. Die Tür am Ende
des Korridors war mit Brettern zugenagelt, die schlecht befestigt und von der
Feuchtigkeit morsch waren, und dahinter hörte man ein rhythmisches
Wummern. Er streckte den Arm aus und riss die Bretter ab, spürte, wie sie
sich zwischen seinen Fingern auflösten, und öffnete die Tür. Der Luftzug, der
in den Raum wehte, löschte die Kerze, und das Wummern verstummte.
Hrafn blickte in ein dunkles Zimmer. Am anderen Ende stand ein großes
und breites Bett, und darüber zeichnete sich ein Fenster ab. Durch die
zugezogenen Vorhänge drang schwaches Licht. Er machte ein paar zögernde
Schritte in den Raum und blieb vor einem Haufen Steine und Kies stehen,
die den Boden bedeckten. Da bemerkte er neben sich in der Wand ein Loch,
durch das die eine Seite der Motorhaube des Jeeps ragte, den er vor langer
Zeit gegen das Haus gefahren hatte. Der Scheinwerfer war zerbrochen,
blinkte aber ab und zu schwach, und hinter der Wand hörte man ein leises
Rieseln, wie von Öl, das auf den Sand tropfte.
Er ging weiter in den Raum hinein, stieg vorsichtig über die Steine auf
dem Boden und hörte den Kies unter seinen Schuhen knirschen. Das Bett vor
dem Fenster quietschte, etwas bewegte sich, und Hrafn wusste, wo er war.
Einmal nach der Schule war er diesen beiden Jungen begegnet – den
Randalierern – und ihnen in einen Hinterhof in Hraunbær gefolgt, hatte sich
von ihnen in eines der Treppenhäuser und in eine leere, kalte Wohnung in
der obersten Etage bringen lassen. Obwohl er immer größere Angst bekam,
sagte er nichts, wollte nicht, dass sie wütend wurden und etwas Schlimmes
machten, doch jetzt konnte er sich nicht länger beherrschen, jammerte, er
wolle nach Hause, und fing an zu schluchzen. Die Randalierer lachten und
stießen ihn vor sich her zu einer Tür in der Wohnung. Der eine machte die
Tür auf, stieß ihn in einen Raum und zog die Tür wieder zu. In dem Zimmer
war es düster, aber durch die Vorhänge am anderen Ende zeichnete sich der
Hof ab, wo man eine Schaukel quietschen hörte. Das Tageslicht versuchte
hereinzudringen, aber es gelang ihm nicht, der Abstand war zu groß. Die
Luft in dem Zimmer war stickig und abgestanden, und im Dunkeln leuchtete
rote Glut wie von einer Zigarette. Jemand sagte etwas, und Hrafn presste den
Rücken gegen die Tür.
Eine Wandlampe ging an, und der Schatten eines Mannes tauchte auf,
setzte sich auf das Bett und begann leise und seltsam zu sprechen. Seine
Augen waren zwei Schlitze in einem viel zu großen Kopf, der auf seinen
Schultern kreiste, das schwarze, lockige Haar war wie Rauch und stand
senkrecht in die Luft, sein Körper war verkrustet, und seine Haut hing schlaff
herunter, sodass das darunterliegende Fleisch durchschien.
Hrafn drehte sich um und zerrte an der Klinke, aber die Tür war von
außen abgeschlossen. Sein Körper war taub und schwer, und etwas in ihm
zerbrach; er spürte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen, und hörte
sich um Hilfe rufen, nach seiner Mutter, dass er nach Hause wolle, aber er
konnte sich nicht bewegen und spürte, wie das Loch in ihm größer wurde
und alles verschlang.
Der Schatten erhob sich, zog ihn zu sich und legte ihn aufs Bett, und das
Wummern setzte wieder ein. Hrafn hatte das Gefühl, auf das Bett
hinunterzuschauen, auf den Schatten, der sich auf ihm bewegte und sich mal
auflöste, mal verdichtete und einem dunklen Loch ähnelte, einem schwarzen
Felsen, einem Haus, das in Nebel gehüllt war. Danach gab es nichts mehr zu
sagen, zumindest konnte er selbst es nicht.
Später war er zu Hause in ihrem Haus in Selás. Er lag auf dem Bett und
blickte aus dem Fenster auf einen Baum, den er zuvor nicht bemerkt hatte.
Die Äste waren schwarz und glänzend. Sein Vater kam zur Tür herein, war
wütend und schimpfte mit ihm. Sie gingen ins Bad, wo sein Vater das Blut
zwischen seinen Beinen abspülte. Danach redeten sie über das, was passiert
war, sein Vater zog ihm einen Schlafanzug an, und er legte sich wieder ins
Bett. Das Licht im Zimmer war grellweiß. Sein Vater saß auf dem Fußboden
neben der Bettkante und weinte. Hrafn wandte den Blick von ihm ab und
schaute durchs Fenster auf den Baum. Seine Umrisse verblassten, lösten sich
auf und verschwanden schließlich im Nebel.
36 |
»Lasst uns was spielen«, sagte jemand, und alles war in Nebel gehüllt. Durch
die Windschutzscheibe sah der Nebel an den Seiten gelb und in der Mitte
weiß aus, als führen sie durch einen Tunnel. Hrafn holte hastig Luft und
hatte das Gefühl, auf dem Kopf zu stehen, durch die Luft zu fliegen, an vielen
Orten gleichzeitig zu sein. Dennoch spürte er eine innere Ruhe, als könne
nichts, was er tat, etwas ändern.
Er blinzelte und sah Hände vor sich, die sich ums Lenkrad krallten. In der
Mitte des Lenkrads war ein Loch, und ein weißer Ballon hing schlaff heraus.
Ein ebensolcher Ballon baumelte am Armaturenbrett vor dem Beifahrersitz.
Er war im Auto.
Über die Windschutzscheibe zogen sich Risse, von denen zu den Seiten
hin feine Linien ausgingen, die immer größer wurden und sich dann zu
weiteren Linien verzweigten, bis die ganze Scheibe ein einziges dichtes
Liniennetz war. Hinter dem Netz war es dunkel, ein düsteres Haus oder eine
Felswand, die immer tiefer in den Wagen eindrang.
Das war kein Haus.
Ohne etwas durch die Windschutzscheibe sehen zu können, spürte Hrafn,
wie der düstere Fels über ihm aufragte, wie sich das Auto immer tiefer in das
Gestein drückte und das Metall der Motorhaube zerfetzte und verbeulte, wie
Kabel zerrissen und der stählerne Motor Funken sprühte, als er auf den Stein
prallte.
Wie lange waren sie schon dort?
Beim verborgenen Volk, das in Steinen und Felsen wohnte? Und verirrte Reisende mit
hellen Lichtern anlockte und im Felsen einschloss, sodass man nie wieder etwas von ihnen
hörte?
Grauer Rauch füllte den Wagen. Weiße Teilchen flogen durch die Luft,
drehten sich unglaublich langsam und leuchteten schwach.
Einmal, als Hrafn noch jung und vieles im Leben noch gut gewesen war,
auch zwischen Vigdís und ihm, trafen sie sich in einem Haus in der
Innenstadt mit einem Immobilienmakler. Sie suchten ihr erstes gemeinsames
Haus, und Hrafn wusste, dass der Markt eine Blase war, hatte bisher aber
noch nicht richtig darüber nachgedacht, was das bedeutete.
Eine Blase?
Vigdís ging mit dem Makler in den ersten Stock, während Hrafn im
Erdgeschoss im Wohnzimmer blieb. Sein Blick fiel auf einen Nagel in der
Wand, wo mal ein Gemälde gehangen hatte, und auf einen weiteren Nagel
daneben; sein Blick fiel auf die Heizung – ungefähr fünfundzwanzig Kilo
Stahl –, und er sah, wo das Rohr in der Wand verschwand. Er stellte sich vor,
wie das Rohr weiter durch die Wand lief, durch zwei Zwischenwände aus
Hartholz mit Isoliermaterial und in den Abwasserkanal. Er dachte an das
Hausdach, das mit Wellblech verkleidet war, vierzig Platten Wellblech, mit
schätzungsweise dreihundert Eisennägeln auf Holzbalken genagelt, und an
die vier Hauswände aus achtzig Platten Wellblech, mit achthundert billigen
Nägeln aus dem Baumarkt festgenagelt. Er stand in einem Haus, das aus
Brettern, Nägeln, Wellblech, Stahlrohren und etwa fünfzig Metern
gummiisoliertem, stromführendem Kupfer bestand. Was ist der materielle
Wert eines solchen Hauses?, überlegte er und starrte auf den Boden zwischen
seinen Füßen. Schätzungsweise vier Millionen Kronen, aber warum nannte
der Makler dann eine Summe von dreißig Millionen Kronen? Worin lag der
Unterschied zwischen diesen beiden Zahlen?
Sie kauften das Haus nicht.
Über die Windschutzscheibe zogen sich die Risse weiter, verhakten sich
miteinander, wurden tiefer, lösten sich auf, und mit einem Mal war die
Scheibe weg. Hrafn sah den schwarzen, leicht schimmernden Fels und
näherte sich ihm in diesem langsamen, nahezu einschläfernden Tempo.
Er war nicht alleine im Wagen.
Er drehte den Kopf zur Seite, ganz sachte, so als wäre er gezwungen, die
Bewegung hinauszuzögern, und zugleich fühlte er sich nur als Zuschauer der
Ereignisse. Jemand saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und röchelte leise.
Nach und nach erschien Egill, oder vielmehr das, was noch von ihm übrig
war. Der untere Teil seines Gesichts bestand aus einer einzigen roten Wunde,
ohne Unterkiefer und Zunge, als hätte ihn ein Raubtier angefallen und sein
Gesicht angefressen. Egill begegnete Hrafns Blick und wirkte belustigt, als
spiele das alles keine Rolle mehr. Sie fingen an zu lachen, und Hrafn nickte
und nickte und konnte nicht mehr aufhören, sein Kiefer baumelte plötzlich so
stark hin und her, dass er Angst hatte, ihn sich abzubeißen und wie Egill
auszusehen.
Wo sind die Frauen?, fragte Hrafn oder dachte es nur und wusste
zugleich, dass sie auf der Rückbank sitzen mussten, so wie schon die ganze
Zeit. Er wollte sich umdrehen, aber es überstieg seine Kräfte, irgendeine
Macht drückte ihn unaufhörlich nach vorne, und sein Körper begann sich
langsam aus dem Sitz zu heben. Im Rückspiegel sah er die Umrisse eines
Häufleins, das Anna sein musste, und neben ihr saß Vigdís. Aus ihrem Kopf
ragten weiße Hörner, verzweigten sich fein und zaghaft in der Luft, fast so als
wären sie geschliffen worden. Ihre Augen waren rund und glänzend und
starrten an die Decke, ihr Gesichtsausdruck voller Unschuld und Sinnlichkeit.
Wo zuvor ihre Brüste gewesen waren, schimmerten die weißen Knochen
ihres Brustkorbs, hier und da glänzten gelbe Fettperlen, und eine klare
Flüssigkeit floss aus ihrer aufgerissenen Brust.
Hrafn blinzelte und schwebte immer höher über dem Sitz. Aus dem
Augenwinkel registrierte er eine Bewegung und wusste, dass Anna auch
aufgestiegen war. Ihr Kopf berührte die Rückseite des Beifahrersitzes, von
dem Egill in die Luft gestiegen war und schräg durch den leeren Rahmen
flog, wo zuvor die Windschutzscheibe gewesen war. Seine Arme lagen flach
an den Seiten, und sein Oberkiefer stach aus seinem Gesicht wie ein
umgedrehter Balkon und verlieh ihm einen komischen Anstrich. Hrafn fiel
auf, dass der einzige Mensch im Auto, dessen Verletzungen er nicht sehen
konnte, er selbst war, und für die anderen galt dasselbe, was eine Art Gnade
sein musste. Er brauchte alles, was zu ihm gehörte. Wie die letzten Tage,
Monate, Jahre oder Sekunden gezeigt hatten, war er nicht stark genug, um
weiterzumachen; er war ein Gemisch aus unterschiedlichen Bestandteilen, die
gegeneinanderstießen, eine unbegreifliche Collage aus Lügen und
Wahrheiten, die überdeckt werden musste. Mit jeder Bewegung, die er im
Leben machte, verstärkte er sein Leiden und das seiner Mitmenschen. Die
Welt wäre besser ohne ihn.
Er spürte, wie sich etwas Warmes zwischen seinen Beinen ausbreitete, und
hatte das undeutliche Gefühl, dass die Welt schrumpfte, dass seine Gedanken
und Empfindungen zusammenrückten und dass alles ineinandergleiten
wollte. Ohne etwas anderes zu sehen als den Felsen vor sich, wusste Hrafn,
dass die umliegende Landschaft merkwürdig flach und ruhig war, wie zu
Anbeginn der Zeit, als es noch keine Bewegung gegeben hatte.
Er schüttelte den Kopf, wie um etwas abzustreiten, über das er sich gar
nicht sicher war. Sein Körper war seltsam taub, fast so als gehöre er nicht
mehr zu ihm. Er sah, wie die Felswand näher kam, das Metall verbeulte und
am Felsen platt gedrückt wurde, hörte Glas splittern und heißes Öl auf den
Sand tropfen. Am Ende schloss er die Augen, spürte, wie der Fels auf seinen
Kopf traf, sich in ihn hineindrückte und seinen ganzen Körper durchbohrte.
VIGDÍS – 37 |
Erst war es dunkel, doch dann erschien der Hauch einer Linie, die den
Himmel von der Erde abgrenzte, eine dunkelgraue Borte, die langsam
auseinandergezogen wurde. Der Wind legte sich, die Sandkörner kauerten
sich dicht aneinander, und für einen Moment sah es so aus, als nähme die
Erde eine dunklere Farbe an. Im selben Augenblick senkte sich eine tiefe
Stille über die Welt, nicht voller Erwartung, sondern eher so, wie wenn
gerade jemand heftig die Tür zugeknallt hat und das ganze Haus wackelt.
Doch wenn man genau hinhörte, konnte man ein leises Rauschen oder einen
Ton ausmachen, etwas so Entscheidendes und Verzweifeltes, dass die Materie
es offenbar nicht aufnehmen konnte, und die Sinnesorgane richteten sich auf
die Ränder, wo dieses Etwas wie ein rauschender Fluss über die Klippe der
Welt floss.
Das Erste, was man von ihr sah, war ihr Gesicht, glänzend und
verschmiert, als spähe es durch ein Loch in der Finsternis. Dann folgte ihr
Körper, bewegte sich ruckartig über den Sand, als bestimme allein der Zufall,
ob ihre Beine in dieselbe Richtung gingen. Sie blickte nicht nach unten,
sondern starr geradeaus, dorthin, wo die Konturen des Gletschers sich vom
Himmel abhoben. Der Gipfel glühte, obwohl es unten auf der Erde noch
dunkel war, und sie streckte die Hand aus, als wollte sie ihn berühren.
Ein Rauschen erklang in der Luft, und zwei Schwäne flogen vorbei,
streckten die Hälse nach vorne und die Flügel nach hinten und verschwanden
im Gletscher. Die Welt war flach und eben, porös wie Leder, aber trotzdem
ging sie weiter. Sie wusste nicht mehr, wann sie ihre Kleider ausgezogen
hatte.
Die Sonne schwebte über den Himmel, und Vigdís folgte ihr. Wenn sie
auftrat, wirbelte feiner, funkelnder Staub auf und blieb wie ein Strich hinter
einem Auto hängen, das nicht weit von ihr anhielt. Sie wurde von Leuten
umringt, die sich über sie beugten, nach Benzin rochen und versprachen, ihr
zu helfen. Kurz darauf erschien ein schwarzer Punkt am Himmel und
näherte sich, bis der Lärm ohrenbetäubend war. Sie wurde hochgehoben,
eine Maske wurde über ihr Gesicht gelegt, und dann flog sie hoch über einer
weißen Fläche, die der Gletscher war oder das, was einst ihr Leben gewesen
war.
Wenn sie zurückdachte, wunderte sie sich darüber, wie sehr sie sich im
Leben aufgerieben und wie wichtig sie ihr Leid und Glück genommen hatte.
Warum? Bilder aus der Vergangenheit gingen ihr durch den Kopf, die sie
früher sehr aufgewühlt hatten, aber sie ließ sich nicht mehr von ihnen
runterziehen, nahm sie nicht mehr so persönlich wie früher. Sie war ganz
ruhig. Ihre Atemzüge waren langsam und tief. All das, was sie war, entfernte
sich, und die Vorstellung von Individuen wurde immer unwahrscheinlicher.
Woher kam diese ablehnende Haltung gegenüber der Welt?
Sie sah die Städte, die Häuser, all diese Kästen entlang der Straßen, die
die Leute ihr ganzes Leben lang mit Glück, Bedauern, Sorge, Dingen zu
füllen suchten, mit allem außer sich selbst – weil es keinen anderen Weg gab.
Der Weg führte hinaus und hinein, und dafür gab es die Materie, um sich
loszureißen, sich zu überanstrengen, alles abzuschütteln, das sich in Flaschen,
Dosen, auf Bildschirmen und Rädern befand, Dinge, die glänzten und sich
bewegten, die Körper anderer, Musik, Ideen, Worte – verschlossene,
imaginäre Taschen in dem, was eine untrennbare Einheit war.
»Natur«, sagte sie und schaute sich um, saß in einem weißen Bett, und
jemand leuchtete mit einem Stift in ihre Augen. Eine Mullbinde war um ihre
Brust gewickelt bis weit hinauf zum Hals. Sie schwebte wieder vom Gletscher
hinunter und sah einen Mann mit einer leuchtend weißen Krone; er reckte
sich nach ihr, doch sie entkam ihm, floss weg wie ein Bach.
Etwas in ihrem Inneren hatte sich verändert, vereinfacht.
Sie schreckte hoch und sah sich um. Die ganze Nacht war sie über die
Sandflächen geirrt, aber jetzt befand sie sich in einem hellen Raum. Ihre
Handgelenke waren mit Riemen an den Seiten des Bettes befestigt, in dem sie
lag. Das Atmen fiel ihr schwer, sie versuchte sich loszumachen, und eines der
Geräte an der Wand piepte laut. Zwei weiß gekleidete Frauen kamen ins
Zimmer gerannt, die eine strich ihr mit einem Tuch über die Stirn und sagte,
sie sei im Krankenhaus.
Vigdís schloss die Augen und öffnete sie wieder.
»Die anderen sind weg, aber Sie sind noch hier«, erklärte ein Mann mit
Hemdkragen, der neben ihr saß und Worte sagte, die sie trösten sollten.
Später kam ein anderer Mann im Anzug, der ihr Fragen stellte, die sie nicht
beantworten konnte, und ihr Fotos zeigte – von einem Jeep, der gegen einen
Felsen gefahren war, von einem Absperrband der Polizei rund um den
Felsen, von blau gekleideten Männern auf allen vieren, die Sand in Bechern
einsammelten. Der Mann fragte, ob sie sich erinnere, was passiert sei, aber sie
antwortete nicht.
»Wo sind Ihre Freunde hingegangen? Wann haben Sie sie zuletzt
gesehen?«, fragte er. Und: »Was haben Sie nach dem Unfall gemacht?« Als
sie nicht antwortete, sagte er, sie sei in schlechtem Zustand weit von dem
Felsen entfernt aufgegriffen worden, zufällig vorbeifahrende Touristen hätten
Hilfe gerufen, und sie könne froh sein, noch am Leben zu sein. Er fragte noch
einmal, ob sie sich an den Unfall erinnern könne, aber Vigdís schüttelte den
Kopf, und der Mann ging wieder.
Sie hätte gerne erklärt, was geschehen war, aber ihr Mund gehorchte ihr
nicht, und es fiel ihr schwer, ihre Hand zu steuern und sich darauf zu
konzentrieren, Worte auf ein Blatt Papier zu schreiben. Bevor sie alleine über
die Sandflächen geirrt war, war sie vor etwas geflohen, hatte versucht, etwas
zu verfolgen oder etwas zu finden, das sie verloren hatte. Dann hatte sie sich
in dem Felsen verirrt, war immer tiefer hineingegangen, bis ihr der Atem
stockte und sie begann, den Fels um sich zu zerkratzen und zu zerfetzen.
Sie wusste nicht, was passiert war, aber manchmal ahnte sie es, ein
schreckliches Rätsel, das ihr die Antwort ins Ohr flüsterte oder ganz kurz im
Licht des Fensters auftauchte. Dann verschwand es wieder. Wenn sie
zurückdachte, spürte sie eine Atmosphäre von Bedrohung, Angst oder Wut,
als hätte einer von ihnen ein Verbrechen begangen, die anderen betrogen,
aber sie wusste nicht, wer das sein sollte. Sie versuchte, sich die Gesichtszüge
der anderen vorzustellen, die bei ihr gewesen waren, konnte es aber nicht
mehr, rief sich ihre Worte ins Gedächtnis, doch sie wurden zu Körnern, die
über die Sandebene fegten. Es ermüdete sie, darüber nachzudenken, und
nach und nach hörte sie damit auf.
Sie wischte sich übers Gesicht und merkte, dass sie schweißgebadet war.
Morgens und abends wurde sie mit einem Löffel gefüttert und erkannte den
warmen, süßen Geruch des Essens, schon bevor es im Zimmer war. Ihre
Freundin saß an ihrem Bett und weinte, jemand rief etwas, und ihre
Handgelenke wurden von den Bettkanten gelöst. Ihre Mutter kam zu Besuch,
schwebte mit gelben Einkaufstüten in den Händen über dem Bett, und Vigdís
wusste, dass alles gut werden würde.
Sie wurde in ein anderes Krankenhaus verlegt, wo das Essen besser war.
Gäste kamen zu Besuch und brachten ihr manchmal Schokolade mit, ganze
Kisten mit Schokolade, die sie sich in den Mund steckte, wenn es niemand
sah. Tagsüber saß sie am Fenster und schaute hinaus. Ein leises Lächeln
umspielte ihre Lippen, und ihr Gesichtsausdruck war friedlich. Sie verfolgte,
wie die Sonne am Himmel aufstieg, Schatten sich langsam auf den
Bürgersteig legten und in der Wand verschwanden.
Vor dem Fenster des neuen Krankenhauses waren die Straßen voller
Autos, vor allem bevor es morgens hell wurde und nachdem es wieder dunkel
geworden war. Von ihnen drang ein ständiges, einschläferndes Rauschen zu
ihr, und selbst wenn nachts keine Autos zu sehen waren, konnte man ihr
schwaches Gemurmel im Himmel über der Stadt hören. An den Straßen
standen Gebäude voller Waren, Leute strömten mit leeren Händen hinein
und kamen mit Tüten beladen wieder heraus. Auf dem Dach eines Gebäudes
prangte eine Abbildung von einem rosa Schwein, dasselbe wie auf den Tüten
ihrer Mutter, als sie starb. Neben dem Schwein waren die einzigen Farben in
der Umgebung die der Ampeln an den Kreuzungen, die entweder grün, gelb
oder rot waren. Wenn die Schokoladenkiste auf Vigdís’ Fensterbank stand,
reckte sie sich danach, schob sich ein Stück nach dem anderen in den Mund
und sah zu, wie die Ampeln umschalteten.
Ihre Freunde waren immer noch in dem Felsen, würden aber bald wieder
herauskommen.
Eines Tages entdeckte sie einen grünen Baum, er stand weit entfernt auf
der anderen Seite der breitesten Straße und war ganz allein, wie Vigdís. Es
gab keine anderen Bäume in der Nähe, keine Büsche und keine Blumen. Von
da an ließ sie den Baum nicht mehr aus den Augen, er war schön, und tage-
und nächtelang beobachtete sie, wie er sich im Wind bewegte oder ganz still
stand, obwohl alles andere um ihn herum in Hast und Eile war. Manchmal
verschmolz er fast gänzlich mit der Umgebung, erstrahlte dann in Grün,
schrumpfte zusammen, erstrahlte wieder, und die Blätter wogten im Wind,
ganz sanft und alle an ihrem Platz.
Impressum
Originaltitel: Hálendið
Originalverlag: Forlagið, Reykjavík
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Gesetzt aus der Baskerville
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