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3.0.

Allgemeines

Wir haben bereits festgestellt, dass für den Textbegriff die kommunikative Funktion
entscheidend und die semantisch-syntaktischen Textualitätsmerkmale erst von nach
nachgeordneter Bedeutung sind. Sowohl semantisch inkohärente Äußerungen als auch
Äußerungen ohne syntaktische Kohäsionsmerkmale werden von den Rezipienten als Texte
aufgefasst, wenn sie eine kommunikative Funktion erfüllen. Auch die Ausgangstexte, mit denen
es Übersetzer/innen in der Praxis zu tun haben, sind sehr häufig semantisch und/oder
syntaktisch defekt (vgl. dazu auch das Textbeispiel bei Holz-Mänttäri 1984a: 139ff.), und
dennoch haben sie eine kommunikative Funktion, die sie auch in der Regel erfüllen, und sie
müssen übersetzt werden. Wie andere Rezipienten wird TRL in solchen Fällen die Defekte
erkennen und sowohl beim Verstehen als auch beim Übersetzen durch
Textrezeptionskompetenz und Weltwissen kompensieren.

Daher kommt der kommunikativen Funktion des Ausgangstextes bzw. den Faktoren der
kommunikativen Situation, in der er diese Funktion erfüllt, auch für die Textanalyse
entscheidende Bedeutung zu. Ich bezeichne diese Faktoren als „textexterne Faktoren“ im
Gegensatz zu den „textinternen Faktoren“, die sich auf das Kommunikationsinstrument Text (im
weiten Sinne unserer Begriffsbestimmung, die auch die nonverbalen Textteile umfasst) selbst
beziehen.1 Wenn die textexternen Faktoren textintern thematisiert werden (vgl. Gülich & Raible
1977: 46f.), sprechen wir von „Metakommunikation“.

Das Zusammenspiel textexterner und textinterner Faktoren wird durch die sogennanten „W-
Fragen“ auf eine griffige Formel gebracht.2 Je nach ihrem Bezug auf die
Kommunikationssituation bzw. auf den Text können sie den textexternen und den textinternen
Faktoren zugeordnet werden.

Wer übermittelt?

wem

wozu

über welches Medium

wo

wann

warum einen Text

mit welcher Funktion?

1
Die Termini stammen von Schmidt (1976: 114), der in seinem „idealisierten kommunikativen
Handlungsspiel“ ebenfalls textexterne und textexterne Faktoren vorsieht.
2
Die Fragenkette basiert auf der so gennanten Lasswell-Formel (vg. Kalverkämper 1981: 69), von
Mentrup (1982: 9) zur „pragmatischen W-Kette“ erweitert, die bereits auf Hermagoras von Temnos (2.
Jh. v. Chr.) zurück geht. Mit ihrer Verwendbarkeit für die übersetzungsrelevante Textanalyse haben sich
bereits Reiss (984), Bühler (1984) und Hönig (1986) beschäftigt. Die W-Fragen wurden von mir im
Hinblick auf ihre Relevanz für die Translation zum Teil restriktiver interpretiert, zum Teil uminterpretiert.
Die hier vorweg genommene Spezifizierung der textinternen Faktoren wird in 3.2.0. ausführlich
begründet. Vor allem lege ich Wert auf die deutliche Trennung von Senderintention, Textfunktion und
Wirkung (siehe 3.1.2.a).
Worüber sagt er/sie

was

(was nicht)

in welcher Reihenfolge

unter Einsatz welcher nonverbalen Elemente

in welchen Worten

in was für Sätzen

in welchem Ton

mit welcher Wirkung?

Textexterne Faktoren werden durch die Fragen nach Textproduzent bzw. Sender (wer?),
Senderintention (wozu?), Adressat (wem?), Medium bzw. Kanal (über welches Medium?) sowie
Ort, Zeit und Anlass (wo? wann? warum?) erfasst. Wenn sie beantwortet sind, ergibt sich daraus
auch die Antwort auf die Frage nach der möglichen Textfunktion (mit welcher Funktion?).

Auf die textinternen Faktoren beziehen sich die Fragen nach Thematik (worüber?), Textinhalt
(was?), Präsuppositionen (was nicht?), Textaufbau (in welcher Reihenfolge?), nonverbalen
Elementen, Lexik (in welchen Worten?), Syntax (in was für Sätzen?) und suprasegmentalen
Merkmalen (in welchem Ton?). Die Wirkung schließlich ist ein übergreifender Faktor, durch den
das Zusammen„spiel“ zwischen textexternen und textinternen Faktoren erfasst wird.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Situation gewissermaßen vor dem Text da ist und den
Einsatz der textinternen Mittel steuert, ist es meiner Ansicht nach sinnvoll, zuerst die
textexternen Merkmale und dann die textinternen Merkmale zu analysieren. Man nennt das ein
„Top-down“-Verfahren. Sofern sich Informationen über die textexternen Merkmale bereits aus
dem Textumfeld (Titel und Titelkontext, also Autorenname, bibliographische Angaben wie
Erscheinungsort und –jahr oder Auflagenzahl, Textsortenbezeichnungen wie Roman oder
Protokoll etc.) erschließen lassen, ergibt sich nämlich daraus sowohl für die A-Rezipienten als
auch für den Translator-als-Rezipienten ein Erwartungshorizont, der bei der Lektüre des Textes
bestätigt oder widerlegt wird. Wenn keine solchen Informationen aus dem Textumfeld zu
erschließen sind (z. B. bei älteren Texten, über deren Entstehungs- und originale
Rezeptionssituation wenig oder nichts bekannt ist), lässt sich allerdings das Verfahren ebensogut
umkehren („Bottom up“): Mit Hilfe der Analyse der textinternen Merkmale kann man, ebenfalls
in einem rekursiven Verfahren, mehr oder weniger gesicherte Annahmen über die textexternen
Merkmale eines Textes aufstellen.3

Bei der praktischen Anwendung des Modells wird sich zeigen, dass meist beide
Vorgehensweisen kombiniert anzuwenden sind, so dass auch hier die Rekursivität des Prozesses
deutlich wird.

3
Crystal und Davy (1969: 81f.) stellen für ein solches Vorgehen der stilistischen Analyse zu der Frage
Apart from the messsage communicated, what other kind of information does the utteance give us?
einen Katalog von dreizehn sub-questions nach dem folgenden Muster auf: Does it tell us which specific
person used it? (Individuality); Does it tell us where in the country he is from (Regionality); Does it tell us
which social class he belongs to? (Class dialect), etc. (vgl. auch House 1981a: 39).
Im Folgenden sollen nun zuerst die textexternen und dann die textinternen Faktoren der
übersetzungsrelevanten Textanalyse jeweils kurz dargestellt werden, um danach mit Hilfe
schematischer Darstellungen die Interdependenz der textexternen und der textinternen
Merkmale jeweils unter sich und miteinander zu illustrieren. Jeder Abschnitt beginnt mit einer
kurzen Darstellung der Problemlage anhand der bisherigen Ansätze zu einer Methodologie der
übersetzungsrelevanten Textanalyse.

Quelle:

Nord, Christiane (20094): Textanalyse und Übersetzen. Tübingen: Julius Groos Verlag, 39-41.

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