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KLINIKlüneburgerheide

Kompetenz Zentrum Für Essstörungen

ADHS-Schwerpunkt
für Erwachsene

Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizitstörung (ADHS)

Stationäre Therapie bei ADHS


und komorbiden Störungen
im Jugend- und Erwachsenenalter
Inhalt

Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizitstörung (ADHS)
Stationäre Therapie bei ADHS und komorbiden Störungen im Jugend- und Erwachsenenalter

■ Einleitung (seite 4)

■ Ursachen und psychosomatisches Störungsmodell (seite 6)

■ Komorbiditäten bei ADHS (seite 11)

■ Diagnostik von ADHS (seite 13)


Diagnosekriterien im Erwachsenenalter (seite 16)
Testpsychologische Untersuchungsverfahren (seite 17)
Neuropsychologische Testverfahren (seite 18)
Verhaltensbeobachtung / Fremdbeurteilung (seite 18)

■ Behandlung von ADHS (seite 19)


Ziele der stationären Behandlung (seite 19)
Psychotherapie bei ADHS (seite 21)
Fertigkeitstraining (seite 23)
Pharmakotherapie (seite 24)
sonstige Hilfen (seite 25)
einleitung

Einleitung

W ährend bisher in Deutschland die Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitätsstörung


(ADHS) primär als eine auf das Kindes- und Jugendalter beschränkte Erkrankung
einleitung
angesehen wurde, zeigen wissenschaftliche Erkenntnisse eine lebenslange Beein-
trächtigung durch die syndromtypischen Auswirkungen in verschiedenen Lebensbereichen.
Dabei findet sich, dass bei Kenntnis der typischen Symptome bei zahlreichen ambulant wie
stationär behandlungsbedürftigen Patienten zumindest zusätzlich die Diagnose einer bis ins
Erwachsenenalter persistierenden ADHS gestellt werden kann. Die Berücksichtigung dieser
Diagnose ist deshalb so entscheidend, weil sich hieraus sowohl medikamentöse wie psycho-
therapeutische Behandlungsalternativen ergeben, die für die Betroffenen die Aussicht auf
eine bessere Lebensqualität und in etlichen Fällen eine wirkungsvolle Mitbehandlung von
häufig bestehenden Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen,
Persönlichkeitsstörungen, etc. überhaupt erst ermöglichen. Ausgehend von den aktuellen
Behandlungsleitlinien der Fachgesellschaften (DGPPN) zur ADHS im Erwachsenenalter bie-
ten wir daher ein hieraus abgeleitetes Behandlungskonzept an.

Der Schwerpunkt liegt in der Schaffung eines therapeutischen Settings, das die
syndromtypischen Besonderheiten von ADHS »versteht« und gemeinsam in der Gruppe von
Gleichbetroffenen neue Bewältigungskompetenzen vermittelt und hierzu einen multimodalen
Behandlungsansatz wählt.

Das Behandlungsangebot der Klinik Lüneburger Heide für Patienten mit ADHS richtet sich
an folgende Zielgruppen:

1) Patienten, bei denen neben der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung im Sinne


einer Komorbidität (Begleiterkrankung) eine weitere stationär behandlungsbedürftige
seelische Erkrankung besteht, wie z.B. Depressionen, ggf auch Erschöpfungssyndrome,
Angst- und Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen oder Schmerz-
syndrome etc., die für sich allein bereits eine stationäre Behandlungsbedürftigkeit recht-
fertigen.

2) Patienten mit einer so schweren Ausprägung des ADHS, dass ambulante Maßnahmen
nicht mehr ausreichen.

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Eine stationäre Behandlung bei ADHS-Patienten ist weiterhin gerade dann angezeigt, wenn
Probleme im sozialen Umfeld der Familie und erschöpfte oder fehlende Therapieressourcen
zu einer drohenden oder bereits eingetretenen krisenhaften Zuspitzung im familiären oder
beruflichen Kontext führen. Gerade bei lang anhaltenden schweren Störungen, allein erzie-
henden Elternteilen mit ADHS-Kindern oder anderen belastenden Familienverhältnissen
sind häufig die Möglichkeiten im ambulanten Bereich begrenzt und eine räumliche Distan-
zierung u.a. zur Einleitung einer Autonomieentwicklung oder Entspannung von chronischen
Konfliktsituationen notwendig. ■
ursachen

Ursachen und psychosomatisches Störungsmodell

D as ADHS-Syndrom ist durch eine lebenslange dynamische Regulationsstörung und


hierdurch bestimmte Entwicklungsbesonderheiten gekennzeichnet. Dabei bestimmt
eine neurobiologische Prädisposition (=Veranlagung) im Zusammenwirken mit
Erziehungs- und Sozialisationsbedingungen und Lernerfahrungen die Ausprägung der Symp-
tomatik. Neurobiologische Erklärungsmodelle der ADHS beschreiben Funktionsabweichun-
gen in der Regulation und Verfügbarkeit von Botenstoffen (z.B. Dopamin und Noradrenalin)
und deren Transportern und Rezeptoren im Gehirn. Dabei sind wesentliche (höhere)
Handlungsfunktionen (Exekutivfunktionen), die für die Alltagsbewältigung und -Planung
erforderlich sind, beeinträchtigt. Hierzu gehören u.a. Reizfilterung und -verarbeitung,
Daueraufmerksamkeit, Handlungsplanung und Organisation, Arbeitsgedächtnis, Vigilanz-
steuerung sowie Regulation von Gefühlen und Impulskontrolle.

Aufgrund der hohen genetischen Bedingtheit des ADHS sind häufig (aber nicht
immer) ein oder beide Elternteile ebenfalls Merkmalsträger; nicht selten lässt sich dies über
mehrere Generationen zurückverfolgen. Dies prägt bereits frühkindliche Beziehungserfah-
rungen und Bindungsstrukturen. Dabei reagieren Kleinkinder mit ADHS-Veranlagung häufi-
ger ungewöhnlich auf Berührung und Nähe, sind schwieriger zu beruhigen (»Schreibaby«)
oder reagieren beim Stillen und Füttern auffälliger und weisen gelegentlich erhebliche
Entwicklungsverzögerungen und zusätzliche Wahrnehmungs- und Motorikprobleme auf. Diese
Auffälligkeiten der frühkindlichen Entwicklung können auftreten – sind aber weder beweisend
noch zwingend vorhanden.

Störung der Risikofaktoren für Defizite


Selbstwahrnehmung der Selbstregulation

Wiederholte Selbst- Entwicklungs- Impulsivität Emotionale Biologische


Frustrationen betroffene verzögerung Instabilität Prädisposition
Eltern

Negatives
Selbstkonzept Erhöhte affektive Labilität

ADHS-
Beeinträchtigungen

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Ein Individuum reguliert (vereinfacht) seine Anpassung an sein soziales Lebens-
umfeld dadurch, dass es den Erfolg und die Wirkung seines Verhaltens und den Fortschritt
seiner Fähigkeiten ständig anhand der eigenen Wahrnehmung überprüft und anpasst, so dass
ein fortlaufend rückgekoppelter Entwicklungs- und Lernprozess stattfindet. ADHS-Kinder
erleben in verstärktem Maß eine Instabilität in ihrem eigenen Erleben, leiden vermehrt unter
sozialen und emotionalen Entwicklungsstörungen, gestörten Wahrnehmungsfunktionen und
wachsen häufig in einem entsprechend instabilen Umfeld mit selber betroffenen ADHS-
Elternteilen auf. Es muss ihnen so ungleich schwerer fallen eine verlässliche Bindung zu
Bezugspersonen aufzubauen oder höhere Lernprozesse (z.B. Lernen am Modell oder auch
sprachlich vermittelte Regeln und Rollenerwartungen, etc) situationsadäquat anzuwenden.
Häufig ist eine chronische Fehlanpassung die Regel, so dass eher ein Lernen über Versuch und
Irrtum oder aber eine dysfunktionale Anpassung an äußere Rollenmodelle erfolgt bzw. es zu
Fehlverhalten mit aggressivem oder oppositionellem Verhalten kommt. Es gelingt den Kindern
so nicht in einem sicheren Bezugssystem stabile Ressourcen zur Alltagsbewältigung und selbst-
bestimmten Handlungssteuerung zu erwerben.

Neuropsychatrische
Kernsymptome
Negative Aufmerksamkeit Mangel /
Vorerfahrungen Impulsivität Versagen
Schul- und Selbstregulation von
Ausbildung Kompensations-
Versagen strategien
Beziehungs- Organisation
Probleme Stimmungs- Planung
probleme Umgang mit
Dysphorie Aufschieben
Scham Vermeidung
Negative (Versagens-)Angst Ablenkbarkeit
Gedanken Frustration / Wut
Selbstwert-
Probleme
Funktionelle
Beeinträchtigung
ursachen

F ehlen oder verändern sich wichtige günstige (protektive) Faktoren, wie strukturiertes
und stabiles familiäres Umfeld, stabiler Freundesreis, Förderung individueller
Interessen und Herausforderungen, günstige Lehrer-Kind-Interaktion, so kann die
Persönlichkeitsentwicklung des ADHS-Kindes damit zusätzlich nachhaltig gestört werden.
Für viele Menschen mit ADHS sind insbesondere negative Lernerfahrungen (bei häufig
gleichzeitig bestehenden Lern- und Teilleistungsstörungen) und negative Rückmeldungen
der Familie und des sozialen Umfeldes mit ständiger Ermahnung hemmend in der Ent-
wicklung einer eigenen Identität. Nicht Anerkennung und Erfolge, sondern wiederholte
Misserfolge in der Bewältigung scheinbar trivialer Alltagsanforderungen kennzeichnen häufig
ihre Entwicklung und tragen zu einer negativen Selbststeuerung und fehlender Selbst-
wirksamkeitserwartung bei.

Hohe Reizoffenheit und emotionale Empfindsamkeit führen gerade in Gruppen-


situationen zu einem Überforderungsgefühl, sozialem Rückzugsverhalten und häufig zu
sekundären sozialen Ängsten.

Häufig besteht dabei zusätzlich eine Intoleranz für Langeweile oder Situationen
ohne Anreizcharakter. Dies erleben ADHS-Patienten entweder als starke innere Unruhe,
Stimmungseinbruch oder aber als Drang durch impulsive Handlungen oder Bewegung eine
Änderung des Zustandes herbeizuführen – notfalls auch durch Provokation oder selbstschädi-
gende Verhaltensweisen. Sie werden leicht unruhig, zappelig, unkonzentriert, sind innerlich
und äußerlich ständig auf dem Sprung, suchen den »Kick«, das Interessante, das Spannungs-
geladene oder den Streit. Indem diese Menschen sich in diese für sie anregenden Situationen
begeben und sich mental (z.B. Geschwisterrivalität, Eifersucht, Streit) bzw. physisch (z.B.
exzessiver Sport, Drogen, autoaggressives Verhalten) stimulieren, bewirken sie, dass durch
diese Außenstimulation eine neuronale Aktivierung des Gehirns erfolgt und damit der für sie
stark belastende innerliche Druck- bzw. Unruhezustand zumindest kurzzeitig beendet wird.
Solch expansives (störendes) Verhalten verstärkt naturgemäß ungünstige Umfeldbedingungen
und soziale Ausgrenzung oder macht zumindest erhebliche Integrationsprobleme, so dass
z.B. bei Kindern zusätzliche soziale Lerndefizite die Regel sind.

ursachen

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Impulsives Verhalten und Wutausbrüche (mangelhafte Impulskontrolle) bei hoher Reizbar-
keit und instabiler Emotionsregulation (z.B. intermittierende Dysphorie) fallen für Außen-
stehende häufig durch kurzzeitige 1-5 Tage anhaltende depressive Verstimmungen auf, die im
Gegensatz zur klassischen Depression oder dysthymen Störungen durch rasche Stimmungs-
aufhellungen bei herausfordernden Aktivitäten gekennzeichnet sind. Die fehlende Überzeu-
gung – und auch real fehlende Kompetenzen – durch eigene Anstrengung eine positive und
stabile Änderung der Problematik herbeiführen zu können, führt zu schweren Selbstwert-
problemen und Selbstabwertungen. Die Patienten erleben sich selbst als »anders«, »faul«
oder »dumm« und fallen durch zunehmende Resignation und Rückzugsverhalten, u.a. in der
Schule oder Ausbildung auf oder nehmen eine Außenseiterrolle als Nonkonformist ein.

Typisch für Problemsituationen ist es dabei, dass einerseits eine sehr hohe Sen-
sitivität für Konflikt- und Spannungssituationen besteht, andererseits aber nur eine geringe
Stressempfindlichkeit. Die Umstellung auf neue Situationen ist für diese Patienten erschwert
und löst häufig dysfunktionale (weil extreme) Verhaltensmuster aus. So versuchen sie zwar
pseudokompetent für sich eine Lösung zu entwickeln, indem sie sich in eine Aufgabe impul-
siv hineinstürzen oder aber die erste beste Lösung als »einzig richtige« Wahl sehen. Im näch-
sten Moment werden dann aber wiederum verschiedene Sichtweisen und Wahlmöglichkeiten
ohne sinnvolle Prioritätensetzung und situationsangemessene Abwägung parallel verfolgt und
so keine Aufgabe wirklich abgeschlossen, da sie den eigenen subjektiven Ansprüchen an
»innere Stimmigkeit« noch nicht entspricht. Erst in buchstäblich letzter Sekunde werden
dann Entscheidungen tatsächlich getroffen und ausgeführt.
ursachen

Typisch für die Berichte von Erwachsenen mit ADHS ist aber auch, dass sie lange Zeit über
Kompensationsstrategien, wie Perfektionismus, häufigen Arbeitsplatzwechsel oder aber unter-
stützende Partner scheinbar unauffällig zu Recht kommen. Vielfach gelten sie an ihrem
Arbeitsplatz aufgrund hohen Einsatzwillens und kreativer Lösungsideen als sehr kompetent,
fallen aber durch nicht abgeschlossene Projekte oder inkonstante Arbeitsleistungen gerade bei
Routineanforderungen auf.

Andere ADHS-Patienten nehmen im Berufsleben Führungspositionen ein. Ihr schnel-


ler Denkstil und ihre Fähigkeiten zu instinktiven Entscheidungen sowie ihre Kreativität befä-
higen sie zu schnellen Einschätzungen von Situationen, wie sie auch bei anregenden Aufgaben
eine überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit zeigen. So finden sich beispielsweise überhäufig
Menschen mit einer ADHS Veranlagung auf höheren Managementpositionen, in der Kunst-
und Werbebranche, im Wissenschaftsbereich, bei Börsenmaklern, in Notfalldiensten etc.
Diese Karrieren verlaufen meist solange ungestört wie diese Betroffenen durch einen
Partner/in, Sekretär/in oder Untergebende von lästiger Alltagsroutine befreit sind. Bricht
dieses Unterstützungssystem zusammen, kommt es meist zu erheblichen beruflichen
Problemen. Unabhängig davon bestehen nicht selten erhebliche interaktionelle Konflikte
durch überemotionalisiertes und impulsives Auftreten und einen unzureichenden Kom-
munikationsstil, sowie der zumindest partielle Unfähigkeit sich durch einen Perspektivwechsel
in das Erleben des Gegenübers hineinzuversetzen. ■

Seiten 10+11
Komorbiditäten

ADHS ist häufig – kommt aber selten allein

I m Gegensatz zu früheren Vorstellungen, dass sich die ADHS-Problematik mit der Puber-
tät »auswachsen« würde, geht man heute davon aus, dass bei 60-70% der Betroffenen
auch im Erwachsenalter relevante Einschränkungen der Lebensqualität und insbesondere
der Alltagsorganisation fortbestehen. Weiter wissen wir heute, dass ein Symptomwandel mit
Abnahme der auffälligen (weil störenden)Hyperaktivität und Impulsivität in der Pubertät
erfolgen kann, dagegen Probleme der Selbstorganisation und begleitende affektive Probleme,
zumeist erst bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen symptomatisch werden können. Es ist
wahrscheinlich, dass sich allenfalls 10-15% der Betroffenen der Diagnose oder möglicher
Zusammenhänge dieser Problematik bewusst sind. Selbst in Fällen, bei denen in der Kindheit
wegen Hyperaktivität oder komplexen Entwicklungs- und Wahrnehmungsstörungen bereits
eine Behandlung eingeleitet wurde, ist nur selten eine gezielte Behandlung bis nach der
Pubertät fortgesetzt worden. Dies gilt besonders für Mädchen bzw. Frauen, deren Sympto-
matik noch viel seltener in der Kindheit oder im Jugendlichenalter im Hinblick auf eine
mögliche ADHS-Veranlagung untersucht wird.

Die lebenslange Erfahrung von ADHS bedingten Selbstregulations- und Verhaltens-


störungen und damit verbundenen Problemen kann zu ernsthaften Selbstwertproblemen und
Spannungen in den familiären und sozialen Beziehungen führen. In der klinischen Praxis
fallen besonders Patienten (18 bis 40 Jahre) auf, die u.a. wegen affektiver Störungen und
Überforderungssymptomen (z.B. »Burn-out«, Erschöpfungssymptomatik) auf übliche medi-
kamentöse und psychotherapeutische Behandlungsangebote nicht ansprechen.

begleiterscheinungen
Komorbiditäten
komorbidität Häufig ist bei Vorliegen einer ADHS-Veranlagung ein »atypisches« buntes Beschwerdemuster
mit einem raschen Wechsel von Symptomen der Depression, Ängsten oder Zwangssymp-
tomen, Suchtproblemen und exzessiven Verhaltensmustern, einschließlich Essstörungen oder
Impulskontrollstörungen zu finden. Die Abgrenzung zu Persönlichkeitsstörungen, besonders
zur emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung, zu narzisstischen, dependenten und infanti-
len Störungen ist aufgrund überlappender diagnostischer Kriterien schwierig. Nicht selten
liegt eine Komorbidität vor, d.h. mehrere seelische Erkrankungen bestehen nebeneinander.

Untypische somatische Beschwerden (unklarer morgendlicher Schwindel und


Müdigkeit oder »paradoxe« Medikamenteneffekte) sind häufig. Viele ADHS-Patienten (über
50%) klagen zudem über Ein- und Durchschlafstörungen. Sie geben an, eigentlich erst früh-
morgens müde zu sein und dann aber am Tag nicht ausreichend wach und leistungsfähig wer-
den zu können. Gerade bei fremdbestimmten Anforderungssituationen (z.B. berufliche
Mehrbelastung oder Konflikten) reagieren sie vermehrt mit Vermeidungsverhalten oder kör-
perlichen Beschwerden und ziehen sich von Belastungen scheinbar unerklärlich zurück. Diese
starken Schwankungen (oft mit wiederholten Krankschreibungen) führen bei vielen
Betroffenen zu Ausfällen im Beruf bis hin zu Kündigung und sozialem Abstieg.

ADHS beeinflusst nachhaltig die Partnerschaft, was u.a. zu einer deutlich erhöh-
ten Scheidungsrate beiträgt. Sexuelle Probleme sind häufig und können zu Beziehungs-
störungen führen. Dabei kann einerseits eine verstärkte Appetenz mit hypersexualisiertem
Verhalten bestehen und zu Paarproblemen führen, andererseits kann die Sexualität wegen der
bestehenden Aufmerksamkeitsprobleme durch Erektions- oder Orgasmusstörungen negativ
beeinflusst werden.

Vielfach fallen im stationären Rahmen auch chronische Schmerzsyndrome bzw.


Fibromyalgie und Restless-Leg-Syndrome bei diesen Patienten als komorbide Störungen auf.
Atypische migräneartige Kopfschmerzen und Spannungskopfschmerzen in relativen
Ruhephasen (an Sonntagen oder bei Urlaubsbeginn) sind gehäuft zu finden. ■

Seiten 12+13
verhalten

Diagnostisches Vorgehen

A llgemein gilt, dass ADHS weniger als isolierte Fehlfunktion oder Defizit objektiviert
werden kann, sondern als ein Störungskontinuum einer dynamischen Anpassungs-
problematik für scheinbar einfache Alltagsaufgaben und Routineanforderungen.
Nicht eine einzelne messbare Funktion ist also primär gestört, sondern vielmehr deren
Regulation und Handlungsausführung im Alltag und deren soziale Integration. Die hohe the-
rapeutische Bedeutung einer validen Diagnosestellung schafft verständlicherweise im klini-
schen Alltag das berechtigte Bedürfnis, die Diagnostik der ADHS zu »objektivieren«. Leider
existiert aber – ähnlich wie für die meisten anderen psychischen Störungen – kein Testver-
fahren für den objektiven Beweis einer ADHS. Es handelt sich vielmehr um eine klinische
Diagnose, die anhand der typischen Lebensgeschichte mit Beginn in der frühen Kindheit
anhand von Eigen- und Fremdanamnese sowie einer Verhaltensbeobachtung im klinischen
Alltag gestellt wird.

Bei jedem Patienten findet deshalb eine eingehende psychiatrische und psycho-
logische Aufnahmeuntersuchung statt. Hier wird eine biographische Anamnese mit sozialer
Entwicklung erhoben, sowie nach Stärken (Ressourcen) und besonderen Belastungsfaktoren
gefragt. Selbstverständlich müssen fremdanamnestische Informationen (z.B. Eltern, Partner)
und Vorberichte mit in diese Befragung einbezogen werden, wobei wir ausdrücklich Lebens-
partner zu diagnostischen und therapeutischen Gesprächen in den Behandlungsprozess inte-
grieren.

Anhand einer Screening-Diagnostik mit Fragebögen versuchen wir zunächst einen


ersten Überblick über die Behandlungsrelevanz zu ermitteln und erheben dann anhand von
Symptomlisten zur Selbst- und Fremdbeurteilung zusätzliche Informationen.

Im Einzelnen wird erfragt,

■ welche aktuelle Symptomatik Anlass für die Behandlung ist und in welchen verschiedenen
Lebensbereichen Probleme bestehen

■ welche Stärken und Ressourcen bestehen und bisher geholfen, die für die Behandlung
möglicherweise genutzt und ausgebaut werden könnten

■ ob Auffälligkeiten in der Schwangerschaft oder frühkindlichen Entwicklung


(Entwicklungsverzögerungen wie Stottern, Bettnässen, motorische Störungen
z.B. beim Laufen lernen oder Wahrnehmungsstörungen) bestehen oder bereits
früher zu Diagnostik- oder Behandlungsempfehlungen geführt haben

verhalten
Verhalten

■ ob körperliche Beschwerden, insbesondere Hinweise auf eine autonome Regulations-


störung des vegetativen Nervensystems in den Bereichen Essen und Trinken, Schlaf,
Temperatur und Schmerzempfinden, Berührung bzw. Nähe- und Distanzregulation
vorliegen

■ wie die Entwicklung der Problematik über die Jahre verlaufen ist. Hierbei interessiert uns,
ob fortlaufend in verschiedenen Lebensbereichen relevante Auffälligkeiten bestanden
haben und welche Ausgleichsmöglichkeiten möglicherweise unbewusst als Reaktion auf die
Grundproblematik eine Rolle gespielt haben (z.B. rigide Leistungserfüllung in der Schule,
Perfektionismus, frühzeitiger Abbruch von Ausbildungen, häufiger Arbeitsplatzwechsel,
Überspielen der eigenen Notlage)

■ ob weitere seelische Erkrankungen, insbesondere bei Geschwistern oder Familienan-


gehörigen auch im Sinne eines hyperkinetischen Syndroms, Impulskontrollstörungen
oder Suchtprobleme, chronische Depressionen etc. vorhanden sind

■ wie die Berufsanamnese aussieht, da sich bei ADHS-Patienten oft erhebliche Probleme in
der Ausbildung ergeben, was aber ein Studium nicht ausschließt. Vielfach fallen jedoch
wiederholte Arbeitsplatzwechsel oder erhebliche interaktionelle Probleme mit Vorgesetzten
und Kollegen auf. Kennzeichnend für die Schilderung des Berufsweges vieler ADHS-
Patienten ist, dass sie ihr volles Leistungspotential nicht nutzen konnten. Gerade
Aufgaben, die mehr Mitarbeiterverantwortung und Organisation beinhalten, führen
häufig zu Problemen, nicht selten auch zur Kündigung.

■ nach zusätzlichen psychischen Problemen und Erkrankungen, die häufig erst auf Nach-
frage berichtet werden. Hierzu gehören neben depressiven Symptomen und Ängsten,
soziale Schwierigkeiten, Störungen der Impulskontrolle, Zwänge, Aggressivität und
insbesondere Probleme im Umgang mit wichtigen Bezugspersonen (Interaktions-
problematik). Häufig finden sich Patienten mit zusätzlicher Persönlichkeitsstörung
(z.B. emotional-instabile Persönlichkeit). Aber auch der Verlauf anderer psychiatrischer
Erkrankungen (z.B. manisch-depressive Erkrankungen, Psychosen) kann durch das
Vorliegen einer ADHS-Veranlagung negativ beeinflusst sein.

■ nach einer Medikamenten- und Drogenanamnese, die einerseits Hinweise auf häufig
vorkommende ungewöhnliche (»paradoxe«) Medikamentenwirkungen ergibt. Andererseits
setzen jugendliche ADHS-Patienten oft Drogen als ungeeignete Selbstmedikation zur
Stimulation und / oder Beruhigung des Gehirns ein.

Seiten 14+15
Typische Beschwerdeschilderungen von ADHS-Patienten sind u.a. :

■ als Leitsymptom im Erwachsenenalter imponiert häufig ein Gefühl von Leistungsschwäche


und Unfähigkeit gesetzte Ziele auch erreichen zu können

■ stark schwankender Antrieb und Ausdauerfähigkeit, rasches Nachlassen der


Anstrengungsbereitschaft

■ neuropsychologische Auffälligkeiten im Bereich der Aufmerksamkeitssteuerung, im


Zeitgefühl, in der Handlungsplanung und im Arbeitsgedächtnis (Exekutivfunktionen)

■ Reizbarkeit, geringe Frustrationstoleranz, innere Ambivalenz und Probleme im Umgang


mit Spannungen und Konflikten

■ Schwarz-Weiß-Denken (dichotome Denkmuster)

■ erhebliche Probleme bei Alltagsaufgaben und Routineabläufen

■ Intoleranz von Langeweile, häufig auch als »Müdigkeit« oder scheinbare gedankliche
Abwesenheit oder Minderbegabung gedeutet

■ Gedankenrasen / »Chaos im Kopf«

■ unklare vegetative Beschwerden, z.B. morgendliche Antriebsminderung, Kopfschmerzen,


funktionelle Beschwerden

■ Reizüberflutung und leichte Erschöpfbarkeit bei Licht, Lärm, Stress

■ Müdigkeit / Apathie und sehr geringes Grunderregungsniveau bei häufiger Komorbidität


mit weiteren Schlafstörungen

verhalten

Diagnostische Kriterien der ADHS im Erwachsenenalter

N ach den deutschen Leitlinienempfehlungen wird entweder eine Diagnoseerstellung


nach ICD 10, nach DSM-IV Kriterien oder über die Wender-Utah Kriterien
empfohlen. Lediglich über DSM-IV lässt sich auch der unaufmerksame Subtypus
diagnostizieren.

Zu den geforderten Kriterien gehören

■ Entweder sechs oder mehr Symptome der Aufmerksamkeitsstörung (für über sechs Monate
fortbestehend, störend und nicht dem Entwicklungsstand entsprechend) oder sechs oder
mehr Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität (für mindestens sechs Monate fortbe-
stehend, störend und nicht dem Entwicklungsstand entsprechend)

■ Einzelne Symptome bereits vor dem 7. Lebensjahr vorhanden

■ Beeinträchtigung durch Symptome der ADHS in mindestens zwei Lebensbereichen

■ Klare Hinweise auf Beeinträchtigung im sozialen Bereich, in der Schule oder im Rahmen
der beruflichen Tätigkeit

■ Keine Erklärung durch andere psychische Störungen

Bei Vorliegen der Kriterien der Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität / Impulsivität


spricht man von einem kombinierten oder gemischten Typus der ADHS. Bei Vorliegen von
sechs von neun Symptomen der Aufmerksamkeitsstörung, jedoch fehlenden Symptomen der
Hyperaktivität oder Impulsivität wird ein primär unaufmerksamer Typ diagnostiziert.
Seltener wird bei alleinigem Vorherrschen von Symptomen der Hyperaktivität und
Impulsivität von einem primär hyperaktiv-impulsiven Typus gesprochen. ■

Kriterien
Seiten16+17
Testpsychologische Untersuchungsverfahren

V ielfach haben Patienten selbst bereits über Symptomlisten aus Büchern oder dem
Internet selbst eine Verdachtsdiagnose auf ein ADHS-Syndrom gestellt. Dabei sollte
jedoch berücksichtigt werden, dass diese Fragebögen zwar relativ spezifisch typische
Merkmale der ADHS abbilden können, jedoch weder beweisend noch ausschließend sind.
Besonders problematisch ist dabei, dass aufgrund der in den diagnostischen Kriterien gefor-
derten lebenslangen Beeinträchtigung gerade aus der eigenen Kindheit und Jugend Infor-
mationen benötigt werden, jedoch nur selten wirklich gute Erinnerungen an diese Zeit beste-
hen. Hier können Screeninginstrumente, wie der ASRS-Fragebogen (ADHS-Selbstein-
schätzungsbogen für Erwachsene der WHO) eine erste Orientierung bieten, müssen aber
unbedingt durch weitere Fremdbeurteilungsskalen, Fremdanamnesen oder aber Zeugnisse/
Gutachten aus der Kindheit gestützt werden.

Syndromtypisch ist die Selbstbeurteilung von ADHS-Patienten nicht besonders


gut. Entweder werden aufgrund der lebenslangen Symptomatik die bestehenden Auffällig-
keiten als normal angesehen oder aber durch defizitäre Selbstbeurteilungskompetenzen
geprägt; oft fehlen aufgrund der Desorganisation und häufiger Wohnortwechsel zudem valide
Unterlagen zur eigenen Kindheit und Ausbildung. Hier kann die international häufig einge-
setzte Wender-Utah-Rating-Scale ein nur ansatzweise ausreichendes Hilfsmittel zur Erhebung
einer entsprechenden retrospektiven Erhebung von Symptomen in der Kindheit sein.

Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen für das Erwachsenenalter (z.B. Brown-


ADD-Skala, Symptomliste für ADHS bei Frauen oder der CAARS-Fragebogen für ADHS bei
Erwachsenen) helfen jedoch vielfach den Betroffenen syndromtypische Merkmale genauer zu
hinterfragen oder im Zusammenhang mit der neurobiologischen Grundproblematik zu
sehen. ■
verhalten

Neuropsychologische Testverfahren

W ie zuvor dargelegt, handelt es sich bei ADHS primär um eine Folge von Funktions-
störungen im Bereich der höheren Handlungsfunktionen (sog. Exekutivfunk-
tionen). Man sollte daher davon ausgehen können, dass es möglich sein muss,
diese Störungen in neuropsychologischen Testverfahren abbilden zu können. Leider ist dem
nicht so. Zwar geht man bezüglich der Pathogenese der ADHS derzeit von einer komplexen
Dysfunktion der Neurotransmitter im Bereich bestimmter Hirnabschnitte aus, welche eine
inadäquate Reizverarbeitung und Handlungskoordination bedingen. Hierzu besteht offenbar
eine besondere biologische Veranlagung und Reaktionsbereitschaft. Bei der klinischen
Ausprägung der ADHS (Störungsbild-Phänotyp) stehen aber primär eine defizitäre und über-
schießende Anpassungsdynamik und nicht ein zeitstabiles Funktionsdefizit wie bei organisch
bedingten Hirnerkrankungen im Vordergrund. Die Bedeutung der Neuropsychologie liegt
also weniger in der Objektivierung von ADHS-Symptomen als vielmehr in einer Leistungs-
diagnostik (z.B. Intelligenztestung) und Ausschluss von Teilleistungs- und Wahrnehmungs-
störungen (z.B. Dyslexie, Dyskalkulie oder auditiven und visuellen Wahrnehmungs-
störungen). ■

Verhaltensbeobachtung / Fremdbeurteilungen

D er stationäre Aufenthalt bietet uns die Möglichkeit den klinischen Verdacht auf
ADHS durch eine Verhaltensbeobachtung in verschiedenen Bereichen zu über-
prüfen. Hierzu bietet sich unsere ADHS-Gruppentherapie an, die den Erfahrungs-
austausch über typische ADHS-Symptome und Einschränkungen im Alltag oder Auswir-
kungen auf das Selbstwertgefühl beleuchtet und damit die eigene Auseinandersetzung mit der
Thematik im Sinne einer verbesserten Selbstreflektion fördert.

Zudem bieten wir Paar- und Familiengespräche an, um einerseits eine weitere Fremdbeur-
teilung zu erhalten, andererseits aber auch syndromtypische Konfliktbereiche im häuslichen
Umfeld gezielt ansprechen zu können und Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. ■

verhalten
Seiten 18+19
ziele

Ziele der stationären Behandlung bei ADHS und komorbiden Störungen

D as Ziel der ADHS-Therapie liegt darin, das vorhandene persönliche Potential


bestmöglichst auszuschöpfen, die oft unzureichenden sozialen Fertigkeiten der
Betroffenen (z.B. in der Kommunikation und im Umgang mit Konflikten) zu
verbessern und das Selbstwertgefühl zu stärken.

Wie auch im Kindes- und Jugendalter erfordert die komplexe Problematik der
ADHS und begleitender Störungen eine störungsspezifische Therapie, die individuell ausge-
richtete Begleitung und Hilfestellung zur eigenständigen Bewältigung der Problemsituationen
bietet. Dieser multimodal vernetzte Behandlungsansatz aus Medikation, Informationsver-
mittlung, Psychotherapie, Hilfe zur Selbsthilfe und Sozialberatung schließt auch die weitere
häusliche ärztliche und psychotherapeutische Betreuung oder Anbindung an Selbsthilfe-
gruppen vorausschauend ein. Wichtig erscheint uns dabei, dass der Patient eine aktive Rolle
am Therapieprozess einnimmt, klare Zielsetzungen und Strukturvorgaben bestehen und er/sie
transparent an allen Therapieschritten und geplanten Maßnahmen beteiligt ist.

Integratives Therapiekonzept

Spezifischer Pharmakotherapie
Psychotherapieprozess Stimulantien / Atomoxetin
für ADHS und
komorbide Störungen

Training von Therapeutisch geführtes


Unterstützungssystem
Alltagsfertigkeiten und die ADHS-Besonder-
heiten verstehende
Bezugsperson

ziele
ziele

Als wesentliche Grundlage für eine Veränderung hat sich in den bisherigen Erfahrungen der
Aufbau eines zunächst therapeutisch geführten Unterstützungssystems erwiesen. Die
Neuerfahrung von gegenseitigem Verständnis und Unterstützung (statt Rechtfertigung und
Erklärungsversuchen) ist für viele Betroffene eine grundlegend neue Erfahrung. Statt unsy-
stematischer – nicht durchführbarer – »guter Ratschläge« geht es zu Beginn der Behandlung
um die gemeinsame Erarbeitung eines Behandlungsplanes, der vorhersehbare und kontinu-
ierlich aufeinander abgestimmte Behandlungsoptionen verknüpft.
Für viele Betroffene ist dann die Neueinstellung oder Therapieüberprüfung
einer medikamentösen Behandlung ein weiterer Grundbestandteil der stationären Therapie.
Hierbei geht es nicht allein um die Auswahl und Dosierung einer Medikation, sondern um
eine bestmögliche Anpassung an die situativen Anforderungen im Alltag, einschließlich der
Förderung einer ausreichenden Medikamentencompliance.

Die Medikation ist für viele Betroffene überhaupt erst die Grundlage an einer gruppen-
orientierten Psychotherapie für ADHS und komorbide Störungen teilzunehmen. ■

Seiten20+21
behandlung

Psychotherapie

A DHS-Patienten haben häufig ein sehr geringes Selbstwertgefühl und haben es nicht
(oder nicht mehr) geschafft, ihr Leben allein in den Griff zu bekommen. Erwartun-
gen, die an sie gestellt wurden, konnten sie häufig trotz größter Anstrengungen nicht
erfüllen. Dies gilt auch im Hinblick auf vielfältige gute Ratschläge zur Verbesserung der
Situation oder frustrierende Therapievorerfahrungen. Daher ist eine von gegenseitiger Wert-
schätzung und Akzeptanz gekennzeichnete Atmosphäre in der Klinik gerade für diese Patien-
tengruppe die Grundvoraussetzung dafür, den Mut aufzubringen, über Gefühle, Ent-
täuschungen, traumatisierende Erlebnisse und Kränkungen zu sprechen und eine realistische
Zukunftsperspektive mit einem möglichst konkreten Handlungsplan für schrittweise
Veränderungen zu entwickeln.

Das stationäre Behandlungskonzept ermöglicht dabei einerseits eine Verarbeitung


und Neubewertung der erfahrenen emotionalen Verletzungen, andererseits aber auch durch
Bestätigung und Anleitung zur Veränderung der aktuellen Situation eine konkrete Hilfe-
stellung. Dabei sind Stimmungsschwankungen und niedriges Selbstwertgefühl mit teilweise
extremen Selbstabwertungen häufige Themen in der Therapie. Andererseits verfügen diese
Patienten oft über enorme Ressourcen und Kompensationsfertigkeiten, die sie in der
Vergangenheit häufig nicht frei entfalten oder nutzen konnten.

Unser Behandlungskonzept ist gruppentherapeutisch orientiert. Dies ermög-


licht den Patienten einerseits soziale Unterstützung und gegenseitige Hilfestellung, insbeson-
dere aber auch den Erfahrungsaustausch über ADHS und damit verbundene Probleme im
Alltag. Allein das Wissen um ADHS führt bei vielen Patienten bereits zu einer Entlastung und
Reaktivierung von Ressourcen, die dann im stationären Setting optimiert und trainiert wer-
den können.

Definitionsgemäß handelt es sich bei ADHS um eine lebenslang bestehende


Grundproblematik, die zu nachhaltigen Beeinträchtigungen der täglichen Lebensorgani-
sation, im Selbstbild, in der Identität und im zwischenmenschlichen Verhalten (z.B. gegen-
über eigenen Kindern, Partner, Arbeitskollegen) führen kann. Eine zeitlich begrenzte
stationäre Therapie kann eine neue Sichtweise auf bisher als eigenes Versagen, mangelnde
Anstrengung oder schlechte Erziehung bezeichnete Probleme bringen und damit eine Ände-
rung dysfunktionaler Verhaltens- und Interaktionsmuster (z.B. Perfektionismus und
Selbstüberforderung, wiederholte Konflikte und Eskalationen in Partnerschaft oder Beruf,
Verhaltensexzesse).

therapie
Behandlung

Im Rahmen einer stationären Therapie wird thematisch eine Begrenzung auf einige wenige
Problemfelder erfolgen. Diese Themen werden zu Beginn gemeinsam in einem Therapieplan
definiert. Erfahrungsgemäß fällt es gerade ADHS-Patienten schwer, eine solche Fokussierung
auf einen definierten Behandlungsauftrag anzunehmen und sich nicht im therapeutischen
Angebot einer Klinik mit immer neuen Themengebieten im Sinne eines Abschweifens zu
beschäftigen.

Weiterhin berücksichtigt das psychotherapeutische Behandlungskonzept des


ADHS-Schwerpunktes das gleichzeitige Vorliegen von Begleitstörungen, also zusätzlich beste-
henden Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen
etc.. Diese werden in Rahmen des gruppentherapeutischen Prozesses in gleicher Güte und in
üblicher Form mitbehandelt. Die gleichzeitige Behandlung von AHDS und dieser bestehen-
den Begleiterkrankungen eröffnet für viele Patienten erst die Möglichkeit einer dauerhaften
Stabilisierung. Dies gilt besonders für chronifizierte Patienten, d.h. Menschen mit wieder-
holten ambulanten und stationären Behandlungsversuchen, die trotz kombinierter medika-
mentöser und verschiedener psychotherapeutischer Interventionsversuche keine dauerhafte
Stabilisierung erreichten, da ein gleichzeitig parallel bestehendes ADHS unerkannt und unbe-
rücksichtigt blieb. ■

Seiten 22+23
ADHS-Gruppe

I n einer parallel laufenden psychoedukativen Indikationsgruppe werden ausführlich all-


tagsrelevante Fertigkeiten zur Selbst- und Alltagsstrukturierung und zur Bewältigung von
täglichen Anforderungen im Rahmen der Therapie erworben und trainiert.

Thematische Schwerpunkte sind u.a.

■ Vermittlung eines Störungsmodells (neurobiologische Grundlagen Erregung/Hemmung)


anhand von Beispielen der Patienten

■ Vermittlung eines funktionellen Verstehens der Symptomatik (»Syndrom der Extreme«)

■ ADHS-Besonderheiten in der Wahrnehmung und im Erleben

■ ADHS-spezifische Problembereiche (Handlungsfunktionen) definieren und neu bewerten


(kognitive Neubewertung/Coping)

■ ADHS-gerechtes Umfeld schaffen (Fenster zwischen Überreizung und Unterforderung /


Selbststimulation)

■ Umgang mit emotionellen Schwankungen u.a. in Paarbeziehungen

■ Hilfen im Umgang mit Stress und Frustration

■ Strategien im Umgang mit ADHS / Selbstmanagement und Aufgabenmanagement

fertigkeitstraining
Behandlung

Pharmakotherapie

A uch im Erwachsenenalter kann eine Therapie mit Psychostimulanzien eine Voraus-


setzung zur Stabilisierung sein und durch verbesserte Aufmerksamkeit und Selbst-
kontrolle die Mitwirkung im psychotherapeutischen Prozess wesentlich erleichtern.
Wir sehen die Kombination von Pharmakotherapie mit Stimulanzien häufig als Grundlage für
unsere psychotherapeutische Arbeit, da die hierfür notwendige Aufmerksamkeitsleistung und
Reflektionsfähigkeit durch die Medikation deutlich verbessert und so zunächst überhaupt eine
Therapiefähigkeit (z.B. für Gruppensituationen) erreicht wird.

In der Klinik ist bei entsprechender Indikation auch eine Ersteinstellung auf ein
Psychostimulans (Methylphenidat oder Amphetamin) möglich oder aber auch eine Um-
stellung der Medikation (auf ein modernes länger wirkendes Psychostimulans (z.B. Medikinet
retard, Concerta, Ritalin LA). Nach ausführlicher Aufklärung über Möglichkeiten, Grenzen
und Nebenwirkungen der Medikation erfolgt dann eine schrittweise Aufdosierung nach der
Titrationsmethode unter fortlaufender Selbst- und Fremdbeurteilung des Therapieeffektes.
Die Ermittlung der individuellen Dosierung unter Berücksichtigung der Wirkdauer und
etwaiger Rebound-Effekte (Wiederauftreten von Unruhe oder aggressivem Verhalten bei
nachlassender Wirkung) erfolgen in enger Abstimmung mit unseren Patienten, um eine best-
mögliche Adaptation an Alltagsanforderungen und soziale Integration zu ermöglichen.

Auch bestimmte antriebssteigernde Antidepressiva (Noradrenalin-Wiederauf-


nahme-Hemmer wie Atomoxetin = Strattera) können bei ADHS-Patienten indiziert sein.
Selterner werden auch ältere (tricyclische) Antidepressiva als Therapiemöglichkeit diskutiert,
wenn relevante Gegenanzeigen gegen die Mittel der ersten Wahl bestehen.

Wegen der vielfältigen Komorbidität mit anderen Erkrankungen kann auch eine
Kombinationsbehandlung mit weiteren Medikamenten (z.B. Antidepressiva) notwendig
werden. Dies richtet sich auch danach, welche klinische Symptomatik (z.B. ADHS oder
Depressionen) klinisch führend ist. Vor allem neuere Antidepressiva (z.B. Mirtazapin) oder
Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) lassen sich gut mit Stimulanzien kombinieren.

therapien
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Kreativtherapie (Kunsttherapie)

D a sich Kreativität als eine wichtige Ressource bei vielen ADHS-Patienten erweist,
spielt die Kreativtherapie, bei uns im Besonderen die Kunsttherapie zum Wieder-
entdecken von Fähigkeiten und dem nonverbalen Ausdruck von Gefühlen eine
große Rolle. Über dieses Therapiemedium kann begleitend zum Gesprächspsychotherapie-
prozess eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit erzielt werden.

Sporttherapie und Entspannungsverfahren

B ewegung und sportliche Therapieangebote eignen sich besonders für ADHSler; ein-
erseits zur körperlichen Betätigung, da sich dadurch die Stressbelastung reduzieren
lässt, andererseits können in der Gruppe soziale Neuerfahrungen vermittelt werden.
Entspannungsverfahren (Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung) haben sich
bisher bei den meisten ADHS-Patienten als nicht zielführend erwiesen. Hier erweisen sich
übungs- und handlungsorientierte Maßnahmen zur Reduktion eines erhöhten Stressniveaus
als hilfreicher. Bei positiven Vorerfahrungen unterstützen wir jedoch das Wiedererlernen/
Auffrischen entsprechender Entspannungsverfahren.

Sozialberatung / Berufsförderung

V iele Patienten mit ADHS-typischen Problemen befinden sich in sozialen Pro-


blemlagen. Unser Sozialdienst bietet Informationen und konkrete Beratung (z.B.
Schuldenberatung, Hilfen bei Anträgen, Umschulungsmöglichkeiten bzw. der
beruflichen Reintegration) an. Dies schließt Hilfestellungen für die nachstationäre Weiter-
betreuung oder Informationen über Selbsthilfemöglichkeiten am Heimatort ein.
Kontakt

Kontaktaufnahme mit weiterbehandelnden Kollegen / Vernetzung

B ereits während des stationären Aufenthaltes nehmen wir mit den für die Nachsorge
zuständigen Ärzten, Psychologen und ggf. weiteren an der Nachsorge beteiligten
Berufsgruppen am Heimatort, sozialen Leistungserbringern und Sozialleistungs-
trägern Kontakt auf und stellen die kontinuierliche Weiterbehandlung und den Informations-
transfer sicher. Dies bezieht sich sowohl auf die etwaige Fortführung einer medikamentösen
Behandlung, wie auch auf psychotherapeutische Hilfsangebote oder eine berufliche Um-
orientierung bzw. entsprechenden Fördermaßnahmen. Idealerweise kann dabei eine
Zusammenarbeit mit bereits bestehenden regionalen Kompetenznetzwerken und -zentren
benutzt werden.

Das Behandlungskonzept der Klinik unterliegt einem kontinuierlichen


kontakt
Qualitätsmanagement und einer Evaluation des Behandlungseffektes. ■

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Ansprechpartner

Dr. med. Andreas Leiteritz


Chefarzt
Facharzt für Psychotherapeutische Medizin
Facharzt für Innere Medizin
Psychotherapie / Rehabilitationsmedizin
leiteritz@klinik-lueneburger-heide.de

Dr. Martin Winkler


winkler@klinik-lueneburger-heide.de

Tel. 05821.960-0

Für weitere Informationen

Rufen Sie uns gern an, wenn Sie ein persönliches Gespräch wünschen.

Anfahrt per PKW

Anfahrt per Bahn

Der Bahnhof Bad Bevensen (auch IC-Halt)


liegt an der Bahnstrecke Hamburg – Hannover

Stand: Oktober 2006

Visuelles Konzept und Gestaltung: Sabine Panse, stilfrei grafikatelier Hannover


Kompetenzzentrum für die
Behandlung von Essstörungen / ADHS
in Bad Bevensen

KLINIKlüneburgerheide
Kompetenz Zentrum Für Essstörungen

am klaubusch 21
29549 bad bevensen
tel. 05821. 960 -0
fax 05821. 960 -180
info@klinik-lueneburger-heide.de
www.klinik-lueneburger-heide.de

chefarzt dr. med. andreas leiteritz


facharzt für psychotherapeutische medizin
facharzt für innere medizin
psychotherapie / rehabilitationswesen

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