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WOLFGANG

SCHADEWALDT
DER AUFBAU
DER ILIAS
Insel Verlag
Wolfgang Schadewaldt

DER AUFBAU
DER ILIAS
Strukturen und Konzeptionen

Insel Verlag
Verlag: Insel Verlag (1975)
ISBN-10: 3458158723
ISBN-13: 978-3458158721

Erste Auflage 975


© Insel Verlag Frankfurt am Main 975
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany
Inhalt

I
Die Ilias. Haupt-Aspekte der Dichtung
7

II
Homer
2

III
Die epische Tradition
26

IV
Der Hergang der Ilias
39

V
Helden und Götter
75

VI
Szenen, Gleichnisse und Mythen
80

VII
Zum Abschluß. Sänger-Kultur.
Die Ilias und ihr Jahrhundert. Apollon
88
I
DIE ILIAS. HAUPT-ASPEKTE DER DICHTUNG

Die Ilias behandelt das Gedicht vom Troischen


Krieg, und zwar Kriege und Kämpfe in fast unun-
terbrochener Folge. Sie ist aber kein kriegerisches
Epos. Die Ilias handelt von Helden und ihren
Schicksalen, ist aber kein heldisches Epos.
Der Krieg wird in der Ilias von vielen, die den
Kampf durchfechten, als schwere Mühsal (ponos)
und leidvolles Verhängnis empfunden. Und in sei-
ner brutalen grausamen Realität ist er für Homer
der Dämon Ares, den alle Olympischen Götter
und sein Vater Zeus hassen und den die Göttin
Athene im fünften wie im einundzwanzigsten Ge-
sang mit überlegener Geisteskraft zu Boden wirft.
Der Kampf in seiner anerkannten Weise ist der
Einzelkampf, in dem es auch hart, aber ›nach der
Ordnung‹ zugeht.
Was den Helden angeht, so kennt ihn zwar die
Ilias, nennt ihn auch selbst mit der Anrede ›Heros‹.
Sie meint damit den Menschen der patriarcha-
lisch-adligen Gesellschaft, der den Speer führt,
Königtum, Gefolgschaft, Sippenverbände, Treue,
Ehre und Ruhm kennt und sich vor allem im agona-
len Streben – ›immer der Beste sein‹ – durch Tat-
kraft, Mut, Entschlossenheit und Geschicklichkeit
auszeichnet. Doch kennt sie keine Glorifizierung
des Helden wie in der Renaissance und dem Elisa-
bethanischen England, sondern alle Helden der
griechischen Sage und Homers zeigen vielmehr

7
›Glanz und Elend‹ des Helden mit schweren
Schicksalen und einem früher oder später sehr dü-
steren Ausgang.
Was in der Ilias Homers den Krieg und das alte
Heldenwesen bereits in einer neuen Form aufge-
hoben hat, das ist, mit einem Wort, das Menschli-
che, das in seiner Ausgesetztheit, Gefährdung, in
seiner ganzen Problematik von dem Dichter erlebt
und erlitten ist. Es ist der »erste Schritt vom leiden-
schaftlich Unbedingten zum seelischen Zwie-
spalt … , der Schritt vom Heldisch-Über-
menschlichen zum Problematisch-Menschlichen«
(Karl Reinhardt). Und das Epos, das den Krieg und
das Heldische in dieser Problematik sieht und die
einzelnen Handlungen wie die Handlung im gan-
zen darauf zuschneidet, ist ein menschlich-tragi-
sches Epos.
In diesem Sinne hat Platon bereits Homer den er-
sten der Tragödienschreiber genannt (Staat X
607 a), und auch sonst bei den Griechen bringt ge-
legentlich die personifizierte ›Tragodia‹ dem Ho-
mer ihre Huldigung dar, wie auf dem Relief des Ar-
chelaos von Priene.

. Das Kerngeschehen: Der Zorn des Achilleus

Als den ›Zorn des Achilleus‹ hat Homer mit dem


ersten Wort das Kerngeschehen der Ilias bezeich-
net. Und diese Thematik hat er vom Anfang bis ans
Ende seiner Ilias durchaus im tragischen Sinn

8
durchgeführt: die Verstrickung eines edlen Men-
schen in ein Zuviel, das zuerst berechtigt ist, dann
aber auf ihn selbst zurückfällt: ›Den Zorn des Peli-
den, den verderblichen, der zehntausend Schmer-
zen über die Achaier brachte und viele kraftvolle
Seelen dem Hades vorwarf von Helden, sie selbst
aber zur Beute schuf den Hunden und den Vögeln
zum Mahl … ‹
Drei Momente sind es zumal, die dieses tragische
Geschehen des Epos bestimmen: einmal der Tod,
zum zweiten der Zorn und zum dritten der Aus-
gleich.
Tod und Schmerz in seiner zehntausendfachen
Form beherrscht das große Geschehen des Epos.
Der Tod erscheint in tausend Gesichtern: entsetzli-
che Verwundungen, furchtbare Verstümmelun-
gen, die ganze Fülle des Sterbens und Untergehens
in hartem Realismus in den Gesängen, die die
wechselvollen Schlachten mit Vordringen und
Rückschlägen beschreiben. Das steigt auf von un-
zähligen Toden zu dem großen Tod der beiden
Hauptgestalten des Hektor und des Achilleus: des
Hektor, der zwar um sein Ende wissend, aber
letztlich doch verblendet stirbt, und des Achilleus,
der seit dem Wort der Mutter: ›bald nach Hektor
ist auch dir der Tod bereit‹ im Wissen seines Todes
lebt.
Der Motor dieses entsetzlichen Geschehens ist
der Zorn, man kann auch sagen: die Leidenschaft,
das Getriebensein. Er kommt auf in Achilleus als
der berechtigte Zorn wegen einer Ehrenkränkung

9
durch den Heeresfürsten Agamemnon, der ihm
sein Ehrgeschenk, die Jungfrau Briseïs, fortnimmt;
worauf Achilleus die Teilnahme am Kampf absagt
und durch seine Mutter Zeus bittet, das Heer der
Achaier, das eigene Heer, zu schlagen. Als es drau-
ßen schlimm und schlimmer steht, gibt er zwar zö-
gernd nach, kann aber den Zorn in seiner Brust
nicht überwinden. Er schickt schließlich mit einer
halben Entscheidung den Freund Patroklos in sei-
nen eigenen Waffen aus, doch dieser fällt. Er er-
fährt so den tragischen Rückstoß seines zu weit ge-
triebenen Zürnens. Zeus hat ihm zwar den Wunsch
gewährt, aber er mußte dafür zahlen. Und das läßt
ihn nun kämpfen, um Hektor, den Töter seines
Freundes Patroklos, zu erschlagen und so zugleich
den eigenen Tod auf sich zu nehmen. Das ist der
›verderbliche Zorn‹, der all das Entsetzliche über
die Achaier heraufruft. Homer hat hier das Besin-
nungraubende, die Verstrickung und Beirrung der
Leidenschaft an einem großen Menschen darge-
stellt.
Wenn Zorn und Tod verbunden das furchtbare
Verhängnis schildern, so hat der Dichter aber dafür
gesorgt, daß es auch das andere geben kann, das
über die trüben Fluten des Zorns und Todes sich
erhebt: der Ausgleich, die Versöhnung. Die Göt-
ter, insbesondere Apollon, fordern (im vierund-
zwanzigsten Buch) diese Versöhnung, und auch
Achilleus ist zu ihr bereit. Er hat vorher selbst ge-
sagt (8, 07): »Daß doch der Streit aus Göttern
und aus Menschen vertilgt sei und der Zorn, der

0
aufreizt auch den Vielverständigen, daß er heftig
wird; der viel süßer als hinuntergleitender Honig in
der Männer Brust aufschwillt wie Rauch … «.
Und der Vater Peleus hat zu ihm gesprochen
(9, 255): »Du aber halte den großherzigen Mut fest
in der Brust, denn Freundlichkeit ist besser. Laß ab
von dem unheilstiftenden Streit! so werden mehr
dich die Argeier ehren … «. Und diesem folgt er,
freilich erst spät, als er den Freund verloren hat:
daß er Priamos, der nachts in seine Hütte gekom-
men ist, freundlich aufnimmt und ihn, dem er den
Sohn Hektor erschlagen hat, mit aller Sorgsamkeit
behandelt und ihm den Toten zur Bestattung her-
ausgibt.
Nachdem die Ilias die Menschen durch die Beir-
rung von Zorn und Leidenschaft getrieben und in-
folge davon durch Not und Tod hindurchgejagt
hat, endet sie schließlich in dem menschlichen Be-
wußtsein der gemeinsamen Ausgesetztheit. Dies
alles aber war der Beschluß des Zeus. Er hat es den
Menschen nicht ersparen können, nach ihrer Ver-
worrenheit zu handeln, wobei sie schließlich aber
nach unsäglichen Leiden doch zu dem gelangen,
was auch der Sinn des höchsten Gottes ist.
In seiner Ilias hat Homer in dieser Tragik zum Be-
ginn Europas ein großes Mahnmal aufgestellt. In-
dessen, Zorn und Leidenschaft haben immer wie-
der gegen besseres Wissen die Jahrhunderte hin-
durch die Menschen sinnlos aneinander leiden las-
sen. Und es scheint, daß auch das, was Homer er-
zählt hat, noch in jüngster Zeit wieder aufgelebt ist


und vorläufig, wie es scheint, noch nicht vergan-
gene Sage geworden ist.

2. Der Troische Krieg

Das Kerngeschehen vom ›Zorn des Achilleus‹ um-


faßt nur wenige Tage des letzten Kriegsjahrs des
zehnjährigen Troischen Kriegs. Doch hat der
Dichter dafür gesorgt, daß der Troische Krieg in
seinem ganzen Ausmaß von seinen allerersten An-
fängen bis zum Untergang Trojas im Zorngesche-
hen gegenwärtig wird. Dies hat schon Horaz auf-
gezeigt (Ad Pisones 47): Homer gehe in medias
res und entwickle nicht wie der kyklische Autor
vom Ei der Leda an alles am Faden ab. Dies bewirkt
Homer mit dem dichterischen Mittel der ›Spiege-
lung‹, das er vielfach anwendet. Man hat das oft
nicht verstanden.
Im zweiten Buch macht der Heerführer Aga-
memnon jene Probe vor dem schon lange kampf-
müden Heer, daß er zunächst den Kampf für aus-
sichtslos erklärt und vorschlägt, nach Hause zu
fahren. Das Heer läuft wirklich zu den Schiffen,
doch Odysseus hält es zurück, und dies gibt dem
Odysseus und dem Nestor Gelegenheit, die Ereig-
nisse vor der Ausfahrt in Aulis zu berichten: daß
damals die Vorzeichen günstig waren und man sich
mit Eiden und Verträgen dort gebunden hat. Das
ruft den Beginn des Krieges mit der Ausfahrt in
Aulis herauf. – Im dritten Buch haben wir den

2
Zweikampf der beiden Rivalen, des Menelaos und
des Paris, der ergebnislos ausgeht trotz der feierli-
chen Verpflichtungen. Der Zweikampf dieser bei-
den Gatten der Helena bringt so eine Situation her-
auf, die eigentlich an den Anfang des Krieges ge-
hört. – Im vierten Buch kommt es dann zu dem
verhängnisvollen Schuß des Pandaros auf Mene-
laos, jenem schweren Vertragsbruch, auf den hin
Agamemnon in einer gewaltigen Rede bekundet,
daß die Troer damit den Untergang ihrer Stadt be-
siegelt haben. Der Untergang Trojas wird so aktiv
in das Kerngeschehen vom Zorn des Achilleus hin-
eingespiegelt, und in der Folge geht nun immer
wieder der Blick auf das Ende des Krieges voraus.
Hektor spricht es aus im Zusammensein mit seiner
Gattin Andromache im sechsten Buch: ›Es wird
kommen der Tag, da Ilios untergeht‹ und Priamos,
Hekabe und die Brüder getötet werden und An-
dromache in die Gefangenschaft geführt wird. Im
zweiundzwanzigsten Gesang sieht Priamos gleich-
sam visionär voraus, wie er von seinen eigenen
Hunden zerfleischt wird, und ähnlich Androma-
che im vierundzwanzigsten Buch, wie der Knabe
Astyanax vom Turm herab geschmettert wird.
Zeus aber sagt es mit klaren Worten zu Here im
fünfzehnten Buch: wenn Patroklos durch Hektor
getötet wird, so wird er einen Rückstoß bewirken,
bis die Achaier die steile Ilios einnehmen nach den
Ratschlüssen der Athene.
Wenn der Troische Krieg so in seinem ganzen Ab-
lauf vom Anfang bis zum Ende in der Handlung

3
sichtbar wird und alle Kämpfe sich in diesem Hori-
zont bewegen, so greift der Haß dreier Götter: des
Poseidon, der Here und Athene, bis auf älteste
Verschuldungen Trojas zurück. Poseidon spricht
im einundzwanzigsten Gesang davon, wie er dem
älteren König Laomedon die Mauer um Troja ge-
baut hat und von ihm um seinen Lohn betrogen
wurde. Here und Athene aber grollen den Troern
unaufhörlich, daß sie im Paris-Urteil beleidigt
wurden, während Paris die Aphrodite bevorzugt
hat, die ihm Helena versprach (so im vierundzwan-
zigsten Buch). Die beiden Göttinnen wie auch Po-
seidon verlangen den Untergang der Troer. Dies
wirkt sich an vielen Stellen der Handlung aus, wo
zumal die beiden Göttinnen auf die Vernichtung
Trojas drängen.
Der Troische Krieg, der so als Hintergrund, und
nicht nur als dieser, die Zorndichtung durchwirkt,
ist aber nicht nur eine Heerfahrt erlesener Helden,
die einen Frauenraub zu ahnden suchen. Der Tro-
ische Krieg ist ein großes universales Geschehen.
Die All-Achaier haben sich in ihm unter der Füh-
rung des Mächtigsten, Agamemnon von Mykene,
zusammengetan und sich durch jene Eide und Ver-
träge gebunden. Alle Landschaften von Hellas sind
in ihm vereinigt. Und ebenso kämpfen auch die
verschiedensten Völker Asiens als Verbündete auf
Seiten der Troer. Dies Allumfassende eines Völker-
ringens macht zumal am Ende des zweiten Gesangs
der sogenannte Schiffskatalog und der Katalog der
Troer eindringlich sichtbar. Man kann diese Kon-

4
zeption zweier Welten, die hier miteinander im
Kampf stehen, nicht ernst genug nehmen. Für jenes
Hauptgeschehen, den Zorn des Achilleus, bedeutet
es, wie einmal schon Goethe gesagt hat, daß es bei
diesem Zorn des Achilleus nicht um ein »bloß per-
sönliches und Privatinteresse« geht, sondern daß
die Ilias »das Interesse der Völker, der Weltteile,
der Erde und des Himmels umschließt« (An Schil-
ler, 6. 5. 798). Die Ilias Homers führt mit dem
Zorngeschehen uns zugleich in jenen Gegensatz
von Ost und West hinein, der weiterhin für die Ge-
schichte der Griechen bis zum Alexanderzug und
weiter über die Römer bis in die nachfolgenden
Jahrhunderte für die Geschichte Europas in Mittel-
alter und Neuzeit bedeutsam geworden ist. Die
Ilias Homers hat mit dem Zorngeschehen so den
Troischen Krieg zum Prototyp eines Weltgesche-
hens gemacht, das vielleicht in den neuesten Ver-
hältnissen sich geändert – oder auch nicht geändert
hat.

3. Die Weltschau

Das Kerngeschehen des Zorns des Achilleus greift,


wie zeitlich-geschichtlich, so auch räumlich uni-
versal in die Welt hinaus und wird damit im eigent-
lichen Sinn zur Weltdichtung.
Himmel, Erde und Tartaros bilden die drei Berei-
che der Welt, wobei die Unterwelt, der Hades, zur
Erde gehört und der Tartaros sich soweit unter die

5
Erde erstreckt wie der ›eiserne Himmel‹ sich über
die Erde erhebt. Im Tartaros sind die besiegten
Götter und Titanen angesiedelt, während Himmel,
Meer und Unterwelt die drei Brüder Zeus, Posei-
don und Hades als Herrschaftsbereiche unter sich
geteilt haben und die Erde ihnen gemeinsam ist.
Oben der Luftraum ist geteilt in den glänzenden
Äther und die dunstige Luft darunter. Doch weiter
sind da oben Sonne, Mond und die Sterne und
Sternbilder, die Nacht und die Morgenröte, die
Winde, die heranblasen, dazu die Wolken und
wohl auch ein Meteor, dem gleichend Athene im
vierten Gesang herabspringt, während der Regen-
bogen im elften Gesang von Zeus in die Wolke ge-
stemmt wird. In den Himmel ragt der Olympos,
wo die Olympier wohnen; dort haben die Götter
ihre Häuser. Er ist faltenreich und hat viele Kup-
pen, und auf diesen sitzt Zeus, um Ausschau zu
halten, steht auch Here im vierzehnten Gesang und
blickt herab auf das Kampffeld vor Troja, wo Po-
seidon sich heimlich umtut; während Zeus sonst
wohl auf der schluchtenreichen Ida sitzt, dort auf
der Gargaron-Spitze. Wie die Berge, so sind auch
die Inseln deutlich sichtbar, und Poseidon, der auf
dem höchsten Gipfel der Samothrake sitzt, erreicht
von dort in vier riesigen Schritten sein Heiligtum in
Aigai, wo er ›berühmte Häuser‹ hat, und fährt wei-
ter zu einer Höhle zwischen Tenedos und Imbros,
wo er seine Pferde abstellt. Und ebenso schreitet
Here von ihrem Gemach auf dem Olympos über
Piërien und Emathie über die beschneiten Berge

6
Thrakiens zum Athos und von dort über die Insel
Lemnos, wo sie den Schlaf findet, und über Imbros
auf das Troische Festland und von dort nach dem
Ida-Gebirge und zur Gargaron-Spitze.
Die Geographie dieser Berge und Inseln ist so
richtig und augenfällig, daß man meinen könnte,
Homer habe im Luftbild gesehen, wie aus der Vo-
gelperspektive das Land dagelegen hat. Aber noch
weiter geht der Blick des Zeus im dreizehnten Ge-
sang nach Norden bis zu den Thrakern und My-
sern, den von Milch lebenden Hippomolgen und
den Abiern im Skythenland, wie auf der anderen
Seite in Ägypten auch das ›hunderttorige Theben‹
bekannt ist und die Aithiopen im Westen und
Osten, wo die Götter zum Mahl gehen.
Zumal die Troische Ebene mit Troja und der Burg
Trojas, Pergamos, mit dem Eichbaum und dem
Feigenbaum, den beiden Brunnen, aus denen kaltes
und warmes Wasser fließt, der Bodenschwelle, der
Kallikolone, mit den beiden Flüssen Skamandros
und Simoeis, mit dem Ida-Gebirge auf der einen
und dem Hellespontos auf der anderen Seite: alles
das ist so scharf und klar zu sehen, daß noch heute
diese Ebene, wo die Achaier und Troer gekämpft
haben, vor unseren Augen liegt und man meinen
muß, daß Homer es aus der Autopsie geschildert
hat. Und weiter erstreckt sich das Reich des Pria-
mos hier bis nach Lesbos und dort bis Phrygien. –
Weiter haben wir das griechische Mutterland mit
dem ›Winkel von Argos‹, mit Mykene, Pylos und
andererseits mit Theben in Boiotien, mit Aitolien

7
und überhaupt allen Landschaften, die der Schiffs-
katalog nennt mit unzähligen Orten.
Und blicken wir auf das Meer hinaus, so hüpfen
dort dem Herrn Poseidon die Ungeheuer entgegen
und wohnen in der Tiefe die Nereiden bei dem Va-
ter Nereus, von woher auch die Nereide Thetis auf-
steigend aus dem Meer ›wie ein Nebel‹ ihren Sohn
Achilleus besucht. Die großen Flüsse münden ins
Meer, der Acheloos und in Phthia der Spercheios.
Und alles das umgibt der Weltstrom Okeanos, der
der Ursprung der Götter und Menschen ist und an
dessen Fluten einst der verborgene Hephaistos
neun Jahre in den Grotten der Thetis und der Eu-
rynome, die ihn gerettet hatten, viele Geschmeide
schmiedete. Kurz, die gesamte Geographie des
griechischen Landes bis zu den Grenzen der dama-
ligen Erde liegt vor unserem Blick.
Aber auch das Getriebe auf der Erde ist in überrei-
chen Bildern sichtbar: Opferhandlungen, die
Mahlzeiten, und wie der Trank im Mischkrug des
Nestor bereitet wird, wie der Heilkundige be-
stimmte Kräuter auflegt, die Troerinnen die Wä-
sche waschen, weben, und der Sohn die Weidenru-
ten schneidet. Homer stellt diese Weltfülle aber vor
allem in den Gleichnissen dar. Als Gleichnisse be-
gleiten sie die Kampfhandlungen und die Verrich-
tungen der handelnden Menschen. Aber weit mehr
als Vergleiche, stellen sie eine vielfältige Wirklich-
keit dar. Auch sie beginnen mit den Sternen, mit
Wolken, Winden, Bergen, mit der Erde, auf der
Schnee und Regen lasten und auf die der Wetter-

8
strahl herabfährt und wo das Meer an das vorsprin-
gende Gestade brandet. Doch dann geben die
Gleichnisse die vielfältigen Beschäftigungen der
Menschen wieder, Kunst und Handwerk, den Ak-
kermann in seinem Tun, den Hirten mit seinen Tie-
ren, die Holzfäller, das Färben und Weben, bis
hinab zu der Art, wie man die Milch mit Lab an-
rührt, wie Wasser im Kessel siedet und das
Schweinefett ausgelassen wird.
Was die Weltschau Homers in alledem sichtbar
macht, das ist die große umfassende Natur bis hin
zum Menschen und seiner Kultur. Dahinter steht
eine große Klarheit des Schauens, ein Schauen und
richtiges Beobachten der Wirkungen der Natur wie
aller Verrichtungen des Menschenlebens, ganz so
wie auch in den Kämpfen der Männer aufs genau-
este das Kämpfen und alle seine Künste und beson-
ders die Art der Verwundungen beobachtet ist.
Doch diese ganze Welt-Wirklichkeit ist nicht sta-
tisch ruhend, sondern das alles bewegt sich, wirkt
aufeinander in durchgehender En-ergeia. Es ist,
mit einem Wort, die Natur und die Kultur als
Wirklichkeit, aufeinander bezogen durch Gegen-
sätze und Polaritäten, die stets das Ganze tragen
und zusammenwirken zu einem einzigen Wider-
spiel. Wie Homer die umfassende Wirklichkeit der
miteinander und gegeneinander strebenden Land-
schaften und Stämme in jenem Schiffskatalog
sichtbar gemacht hat, hat er diesem entsprechend
das Ganze auf Gegensätzen beruhende Widerspiel
der Welt in seiner Schildbeschreibung im achtzehn-

9
ten Gesang ins Bild gebracht, auch dort beginnend
mit Sonne, Mond und den Gestirnen und alles um-
faßt vom Weltstrom, dem Okeanos. Und dazwi-
schen das Menschenleben, aufsteigend in ständigen
Gegensätzen von städtischem Leben und Kampf
und Not der Kämpfenden, von allen Formen des
Ackerbaus und der Weinlese, bis hinauf zum Fest-
lichen: Reigen und Tanz und dem Sänger, der die
Leier rührt. Im Bereich der Kunst und des Musi-
schen gipfelt diese Weltschau.
II
HOMER

Über den Dichter, der dieses tragische, dieses um-


fassend geschichtliche und umfassend welthafte
Gedicht geschaffen hat, haben wir nur dürftige
biographische Angaben. Das meiste liegt in einer
legendarischen Überlieferung vor, in der Homer
als ein alter blinder Landfahrer erscheint und Lie-
bes und Leidiges erfährt. All das enthält aber doch,
wie jede Legende, auch wahre Kerne, die in recht
hohe Zeit hinaufreichen. In ihnen ergreifen wir für
Homer etwa das folgende.
Homer hat in der zweiten Hälfte des achten Jahr-
hunderts vor Christus im aiolisch-ionischen Kü-
stengebiet Kleinasiens, nicht weit entfernt von der
Stätte, wo einst Troja lag, gelebt und ist von da aus
in den Landschaften und Städten Ioniens vielfach
herumgekommen. Geboren ist er vielleicht in
Smyrna.
Sein Name ist nicht, wie man einst gemeint hat,
ein Zunftname gewesen und hat den ›Zusammen-
füger‹ bedeutet, weil er in der Ilias nur einzelne
Lieder aneinander gereiht hätte. ›Homeros‹ von
›homeron‹, ›das Pfand‹, ist ein guter Menschen-
name und meint die ›Geisel‹, den ›Bürgen‹. Homer
war also ein achtbarer Mann. Denn ganz gleich, ob
er selber oder einer seiner Vorfahren ein ›Bürge‹
gewesen war, man nimmt dafür nur angesehene
Leute. Überdies war dies nur ein Übername; als
sein eigener Name wird Melesigenes, ›Sipphold‹

2
berichtet. Danach war Homer von vornehmem
Geschlecht, und auf dies führt auch sein Gedicht,
die Ilias. Es scheint, er hat auch den Krieg nicht nur
vom Hörensagen aus der alten epischen Überliefe-
rung, sondern in seiner ganzen Furchtbarkeit sel-
ber gekannt.
Seßhaft ist er in späteren Jahren auf der Insel
Chios gewesen. Einen ›Mann von Chios‹ nennt ihn
der Jambenschreiber Semonides im siebenten
Jahrhundert, als er einen Vers aus der Ilias berichtet
(Fr. 29 D). Und hier auf Chios hat er auch eine Sän-
gerschule begründet, die noch Platon als eine Ge-
sellschaft eigener Art dem Homer nah verbunden
weiß (Ion 530 d). ›Homeriden‹ nannten sie sich
und wurden sie noch später genannt (Pindar, Ne-
meen 2), was nicht leibliche Abkunft von Homer
selbst bedeuten muß, sondern wie auch sonst auf
das Schulhaupt geht. Auf der kleinen Insel Ios mag
er auf einer Reise gestorben sein, wo man auch sein
Grab zeigte, auf dem man später eine Inschrift an-
brachte.
Mehr als alles aber spricht für die Zeit und den Le-
bensraum Homers eine Stelle in der Ilias, in der der
Dichter einmal deutlich in seine Gegenwart hinein-
spricht. Das ist die ex eventu-Verheißung, die Po-
seidon über den Dardaner Aineias gibt: ihm und
seinen Kindeskindern soll einmal, wenn Priamos
und die Seinen zugrunde gegangen seien, die Herr-
schaft in der Troas gehören. Die Dardaner saßen im
achten Jahrhundert in der Stadt Skepsis und führ-
ten ihr Geschlecht auf Aineias zurück. Es scheint,

22
der Dichter hat mit diesen dardanischen Herren in
Beziehung gestanden, und wenn er auch nicht ei-
gentlich ein höfisches Gedicht auf sie schrieb, hatte
er doch Anlaß, sie hervorzuheben. Das war in der
zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts.
In diese Zeit aber muß auch aus anderen Gründen
die Entstehung der Ilias gehören, und zwar nach
zahlreichen handgreiflichen Erwähnungen bei fast
allen folgenden Dichtern des siebenten Jahrhun-
derts: Hesiod sowie die frühesten Lyriker Kalli-
nos, Tyrtaios, Archilochos, Semonides. Und da
Archilochos uns mit astronomischer Genauigkeit
in einem Gedicht, in dem er eine Sonnenfinsternis
erwähnt, das für die griechische Literaturge-
schichte wichtige Datum, den 6. April 648, liefert,
gelangen wir über Hesiod und die Odyssee hinaus
rückrechnend etwa in die zweite Hälfte des achten
Jahrhunderts. Denn es scheint, jene ganze folgende
Dichtergeneration von Epikern und Lyrikern
wurde durch die Ilias Homers befruchtet, ja her-
vorgerufen.
Der Ruhm dieses Epos, das es in dieser Ausdeh-
nung noch nicht gegeben hatte, muß sich verhält-
nismäßig schnell verbreitet haben. Doch kann die
Ilias nicht lediglich an einem Fürstensitz in der
Troas, sondern muß bei verschiedenen Festen und
Agonen, zumal bei der allionischen Festversamm-
lung auf der Insel Delos vorgetragen worden sein.
Hier nennt der Verfasser des homerischen Deli-
schen Apollon-Hymnos sich selbst als den ›Blin-
den von Chios‹, den alle am meisten liebten: ›Seine

23
Gesänge sind alle für künftige Zeit die besten; und
er will die Kunde von den Delischen Mädchen weit
zu den Städten der Menschen, wo er einkehrt, über
die Erde tragen, diese aber werden es glauben, da es
auch wahr ist‹ (73–76). Wenn dieser Apollon-
Hymnos, wie die besondere dichterische Form na-
helegt, zusammen mit dem Aphrodite-Hymnos,
keinem anderen als dem Ilias-Dichter angehört, so
würde sich auch die allgemeine Auffassung der
Griechen bestätigen, Homer sei, wenn auch erst in
späteren Jahren, blind geworden. Für das Vortra-
gen der Ilias an diesem alle Ionier vereinigenden
Fest spricht aber schließlich eine Eigentümlichkeit
der Ilias selbst. Zweimal in dem Gedicht schließt
mit einer Nacht, die nicht nur erwähnt, sondern in
ihrer Ausdehnung beschrieben ist, ein Stück der
Handlung: einmal im neunten Buch mit der in der
Nacht stattfindenden Gesandtschaft des Aeamem-
non zu Achilleus, und dann im achtzehnten Ge-
sang, wo Thetis zu Hephaistos geht und er für
Achilleus in der Nacht den Schild schmiedet. Da-
nach mag die Ilias an drei Festtagen vorgetragen
worden sein; am ersten Tag vom ersten bis neunten
Gesang, am zweiten vom elften bis achtzehnten
Gesang, und am dritten bis zum Schluß. Wenn ein
Vortragstag zu Ende ging, war auch im Gedicht
Abend geworden; wenn man morgens wieder be-
gann, stieg auch in dem Gedicht wieder die Mor-
genröte auf.
Der Ruhm Homers wurde schon zu seinen Leb-
zeiten für alle Welt begründet. Er wirkte so im sie-

24
benten und sechsten Jahrhundert fort und wurde in
Athen unter den Peisistratiden am Ende des sech-
sten Jahrhunderts in das Fest der Panathenäen auf-
genommen, wobei sich bei vollständigem Vortrag
der Ilias mehrere Rhapsoden ablösten (Platon,
Hipparch 228 b). Bei dem Tragiker Aischylos er-
lebt er im fünften Jahrhundert in der Tragödie, die
Aischylos selber als ›Schnitten vom großen Mahl
des Homer‹ bezeichnet, seine erste große Renais-
sance. Zuvor war eine Gegenwelle gegen Homer
heraufgekommen, und hier wurde er bitter von den
Philosophen Xenophanes und Heraklit bekämpft,
nicht ohne daß auch Xenophanes von ihm sagen
mußte: Von Anfang an hätten alle Menschen von
ihm gelernt.
III
DIE EPISCHE TRADITION

Der Dichter der Ilias, der eine so weitreichende


Wirkung ausgeübt hat, ist nicht vom Himmel ge-
fallen. Zwar sein Gedicht, die Ilias, steht für uns am
Anbeginn der ganzen griechischen Dichtung und
Literatur ohne jede sichtbare Beziehung im achten
Jahrhundert. Er setzt aber eine viel weitergehende
Überlieferung voraus, die, wie Nilsson mit großer
Klarheit gezeigt hat, bis in die mykenische Zeit, die
Zeit der Fürstensitze in Mykene, Argos, Pylos,
Theben im dreizehnten bis elften Jahrhundert zu-
rückreicht. Die Verbindung der in jener mykeni-
schen Zeit entstandenen ältesten Sagenstoffe über
die Dorische Wanderung und die sogenannten
dunklen Jahrhunderte bis zu Homer im achten
Jahrhundert herab bildet die ›epische Tradition‹,
das heißt die zunächst mündlich vorgetragenen
Lieder und Gedichte der Sänger, Aoiden, wie uns
solche Homer selbst in der Odyssee in der Gestalt
des Demodokos (im 8. Gesang) und des Phemios
(im . Gesang) vorführt, während in der Ilias außer
dem in der Schildbeschreibung genannten ›göttli-
chen Sänger‹ nur einmal der Held Achilleus selbst
(im 9. Gesang) zur Leier die ›Rühme der Männer‹
singt.
Schon Friedrich August Wolff hat im Jahr 795 in
seinen ›Prolegomena ad Homerum‹ mit gelehrtem
Material (fußend auf den neu erschlossenen Ilias-
schollen) die damals aufsehenerregende Behaup-

26
tung aufgestellt, Homer habe noch nicht die
Schreibkunst gekannt, die homerischen Gedichte
seien im Gedächtnis konzipiert und Jahrhunderte
hindurch mündlich weitergegeben worden und
hätten erst spät ihre feste Form erhalten; mithin sei
die Einheit der Ilias wie ihres Urhebers fraglich.
Und schon der vorromantische Herder hatte, von
den Engländern angeregt, in Homer den Natur-
und Volksdichter gesehen, dessen »Rhapsodien
nicht in Buchläden blieben und auf den Lumpen
unseres Papiers, sondern im Ohr und im Herzen
lebendiger Sänger und Hörer, aus denen sie spät ge-
sammelt wurden«. Danach hat Karl Lachmann, der
schon 86 das Nibelungenlied in Einzellieder zer-
legt hatte, auch die Ilias in etwa sechzehn Einzellie-
der aufgelöst. Man ging in der Romantik so weit,
daß man den dichtenden Volksgeist selbst bemüh-
te, daß ›Epen sich selber dichteten‹ (Jacob Grimm),
und man nicht an den ›Individual-Dichter‹ glauben
wollte, sondern es sich analog den geselligen Tätig-
keiten der Tiere, der Bienen zum Beispiel, vorstell-
te, die ›bewußtlos dem Zuge eines Zweckes folgen,
der hernach dem Betrachter wie das Tun einer be-
wußten Intelligenz erscheine‹ (Victor Hehn, 859).
In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhun-
derts wird man auf den improvisierenden Volksge-
sang der verschiedenen Völker auf der Erde auf-
merksam. Man achtet jetzt auf die Finnen, die
großrussische Byline, die Kara-Kirgisen, die Ma-
laiischen Atjeher, wie vor allem auf das Sängertum
der gleichsam vor unserer Tür noch lebendigen ju-

27
goslavischen Volksepik. Mit ihr hatte sich schon
Goethe in den Jahren 823–27 beschäftigt, ange-
regt durch die ihm von J. Grimm empfohlene
Sammlung des Vuk Stefanović Karadžić (84) und
die Übersetzungen der Therese Albertine Luise
von Jakob (Talvj). Doch wurde jene Volksepik erst
durch das von Vatroslav Jagić 876 gegründete
›Archiv für slavische Philologie‹ allgemein zugäng-
lich gemacht. Vor allem hat Matthias Murko
92 / 3 in Bosnien und der Herzegowina diese ju-
goslavische Volksepik, teilweise mit phonographi-
schen Aufnahmen, untersucht. Seine Beobachtun-
gen zeigten, daß in der mündlichen Dichtung der
jugoslavischen Guslaren, vor allem in wiederholten
Versen, Formeln und typischen Szenen, eine Fülle
von Analogien zur homerischen Dichtung aufzu-
finden waren.
Diese Untersuchungen hat nun in neuerer Zeit
Milman Parry durch eine ungemein feinsinnige
Analyse des Formelbestands der homerischen Ge-
dichte ausgebaut. Er hat vor allem den Formelcha-
rakter der Epitheta nach allen Richtungen behan-
delt und die ganze Technik dieser Elemente im ho-
merischen Vers, im Enjambement, in Sprache und
Stil sichtbar gemacht (Jetzt in: The making of Ho-
meric Verse, Oxford 97). In den Jahren 933 und
wieder 934 / 35 hat er die südslavische Volksepik in
verschiedenen Gegenden Jugoslaviens selbst mit
mehr als zwölftausend epischen und lyrischen Ge-
sängen aufgenommen. Sein Schüler Albert B. Lord
hat nach Parrys frühem Tod (Ende 935) diese Un-

28
tersuchungen in Jugoslavien bis ins Jahr 950 / 5
weitergeführt und in seinem Buch ›The Singer of
Tales‹ (960) sowohl von Ausbildung und Vortrag,
vom Formelhaften, als auch von den Themen ge-
handelt und so ein bis dahin nicht erreichtes volles
Bild von den serbischen Sängern gegeben und ge-
zeigt, wie die Sprache des Epos ganz auf dem tradi-
tionellen Formelhaften beruhe. Hier in der serbi-
schen Volksepik hat er gleichsam ein ›episches La-
boratorium‹ entdeckt und von da die Analogie zu
Homer hergestellt. Homer ist nach ihm ein Dichter
der oral poetry, das heißt ein mündlich aus Formeln
gestaltender Dichter gewesen, der durch die Be-
wahrung der reichen Tradition vor ihm seine hohe
dichterische Kraft bewiesen hat: kein ›literarischer‹
Dichter, sondern vielmehr ein improvisierender
Dichter, bei dem das Lied in dem gleichen Rahmen
im einzelnen von Mal zu Mal immer neu wird.
Andere sind auf diesem Wege fortgeschritten, in-
dem sie mehr oder weniger abgestuft in Homer mit
Ilias und Odyssee den rein mündlichen Dichter der
oral poetry sahen, ganz ähnlich wie Homer in der
Odyssee seinen Demodokos und Phemios mit der
Leier den ›Pfad‹ (oime) seines Gedichts, überge-
hend von Stoff zu Stoff, verfolgen läßt, sei es, daß
es ein bekanntes Lied war, dessen ›Ruhm zum
Himmel reicht‹, oder daß er auch auf Aufforderung
die Geschichte vom hölzernen Pferd und dem Un-
tergang Trojas besingt.
Zu dieser heute weit verbreiteten Auffassung, die
zum Teil auf entschiedenen Widerstand gestoßen

29
ist, zum Teil Einschränkungen erfahren hat, wol-
len wir in aller Kürze unsere Meinung von Homer,
dem Iliasdichter, zusammenfassen.
Homer hat gewiß die Ilias nicht als ein literari-
schen Dichter am Schreibtisch gedichtet. Aber li-
terarischen Dichter und schriftloser, rein der
Mündlichkeit verpflichteter Stegreifdichter ist
nicht die einzige Alternative, sondern zwischen
beiden Extremen gibt es ganz verschiedene Spielar-
ten. Ob Homer lediglich die Tradition der oral
poetry befolgt oder diese Tradition auf vielfältige
Weise in neuem Sinne umgestaltet, darüber kann
einzig und allein die Betrachtung der Ilias selber
Auskunft geben.
Die Ilias zeigt einerseits die Merkmale der älteren
oral poetry in einer ganz umfassenden Weise. Da
finden wir
. die große Anzahl der wiederholten Verse und
Halbverse.
2. die Formeln aller Art und aller Grade.
3. insbesondere die Epitheta,
teils die hieratischen Götter- und Heldenna-
men, teils die schmückenden Beiwörter bei
Menschen, Tieren, Dingen, Naturerscheinun-
gen. Diese verleihen dem Stil des Epos das
Glanzvolle, Hohe und Prächtige.
4. die ›typischen Szenen‹:
die Wappnungen mit allen Formen des Kamp-
fes, wie das Ausholen mit der Waffe, das Tref-
fen oder auch Nichttreffen, die Verwundungen
und Tötungen,

30
die Bekleidungsszenen,
Herrichten und Verzehren des Mahls,
Beratungen in der Versammlung und in kleinem
Kreis,
Entsenden des Boten und Überbringen der Bot-
schaft,
Herrichten des Wagens oder Schiffs,
Gebete, Opfer und überhaupt jede Art von Be-
gehungen bis zur Bestattung des Toten und To-
tenfeier.
5. die Kataloge
von Helden, Männern und Frauen, insbeson-
dere Kataloge von Gefallenen.
6. die Vergleiche und Gleichnisse,
doch diese mit stärkster Einschränkung.
7. gewisse Handlungs-Schemata,
so im besonderen die Aristien einzelner Helden;
dazu die einzelnen ›Themen‹ wie Freundes-
treue, Opfertod, Rache für den Tod des
Freundes, Ehrverletzung usw. Ich würde statt
von ›Themen‹ lieber von ›Motiven‹ sprechen.
Sie gehören, recht besehen, weniger einer dich-
terischen Tradition an als vielmehr der Welt der
Heldenzeit und haben dort ihren ›Sitz im Le-
ben‹.
Auf der anderen Seite aber zeigt die Ilias nicht we-
niger entschieden einen Charakter, der nicht aus
der oral poetry herleitbar ist.
. Die Ilias ist ein Großepos von über fünfzehn-
tausend Versen. Niemals kann ein solches Groß-
epos durch bloße Aneinanderreihung von einzel-

3
nen Liedern und Kleinepen entstanden sein. Das
Großepos hat seinem Wesen nach eine andere
Struktur als das Lied oder Kleinepos. Das haben in
aller Deutlichkeit nach W. P. Ker (897) schon
Andreas Heusler (905) und John Meier (909)
dargetan.
2. Das Großepos der Ilias zeigt eine weitgehende
strukturelle Komposition, ja Architektonik. Man
pflegt zwar auf die zwölftausend Verse des Avdo
Mededović, dessen Gesänge bisher nur im Auszug
vorliegen, hinzuweisen (die übrigens erst auf aus-
drückliche Aufforderung Parrys entstanden sind);
aber auch hier ›bleibt der Abstand von homerischer
Kunst doch der entscheidende Eindruck‹ (Lesky).
3. Die Bedeutung der Formeln wird von den Ver-
tretern der oral poetry stark übertrieben. Die Ilias
zeigt einen großen Teil von nicht formelhaften
Elementen, die ›einen gewissen Grad von schöpfe-
rischer Tätigkeit voraussetzen, eingegeben einzig
durch den Zusammenhang‹ (Hainsworth, 968).
Hier haben wir es einfach mit dem Wortschatz der
epischen Sprache und mit Redewendungen, die es
überhaupt in jeder Sprache gibt, zu tun.
4. Es ist zwar nicht möglich, das Nichtformelhafte
in der Ilias klar von den Formeln zu unterscheiden,
weil immer damit gerechnet werden muß, daß
manches, das bei Homer nur einmal erscheint, in
älteren, nicht erhaltenen, mündlichen Gedichten
bereits vorgekommen sein mag. Hier aber halten
wir uns an die in der Ilias greifbaren Formeln. Sie
sind in der Ilias selten bloß übernommen, sondern

32
fast überall so abgewandelt und kombiniert, daß
wir mit diesen Elementen den gestaltenden Dichter
fassen. Denn die Formeln sind bei Homer zumeist
die Elemente für eine übergreifende Ausgestal-
tung. So die Kataloge, so die ausgeführten Gleich-
nisse. Unsere Übersetzung zeigt es überall, wie
auch der Urtext, daß wir beim Lesen nirgendwo
auf bloß schablonenhafte Formeln treffen. Die
Epitheta der Götter, Helden usw. stehen auf einem
anderen Blatt.
5. Übrigens schließt die Komposition der Ilias
nicht aus, daß ihr Dichter außerdem auch bei Gele-
genheit ein guter Improvisator gewesen sein mag.
So erscheint er in der Homerlegende in seinem
Wettstreit mit Hesiod als ein geradezu virtuoser
Stegreifdichter. Eine solche Improvisation kann
durchaus neben der Komposition einhergehen (wie
noch unsere neuere Musikgeschichte zeigen kann:
ein Mozart, Bach und Beethoven haben neben ih-
ren komponierten Werken auch Improvisationen
vorgetragen). Doch hat der Dichter dann in der
Ilias diese Fähigkeit den Erfordernissen seiner
Komposition dienstbar gemacht.
6. Die Ilias ist durchzogen von einem engmaschi-
gen Netz von Vor- und Rückverweisen. Insbeson-
dere gibt es die charakteristische Erscheinung der
Fernverbindung über weiteste Strecken des Epos.
Dies alles gibt der Ilias das feste Gerüst und ist so
überlegt, wie ähnliches in der oral poetry nicht vor-
kommt. Darüber später.
7. Diese reichen gegenseitigen Beziehungen ver-

33
langen schon von der Abfassung aus einen fixierten
Text. Dies schließt geradezu die oral poetry aus,
weil bei ihr das Gedicht zwar einen gegebenen
Rahmen hat, aber im einzelnen bei jedem Vortrag
wieder neu wird.
8. Ob man die Schriftlichkeit für den Dichter eines
Großepos erfordern muß? Wir sind davon über-
zeugt. Doch kommt es darauf nicht als das Ent-
scheidende an, weil man bei mündlichem Dichten
mit einem schwer vorstellbaren Gedächtnis der
Sänger und Dichter rechnen muß. Entscheidend
ist, daß man es bei der Ilias mit jener Durchgestal-
tung zu tun hat, die bisher ohne Analogien ist. Sie
verlangt daher auf alle Fälle jenen fixierten Text,
den wir auch nicht um ein oder zwei Jahrhunderte
von Homer trennen dürfen, sondern eben in jene
Zeit setzen, wo er in seiner unmittelbaren Nach-
folge bei Hesiod und den dann folgenden Lyrikern
vorausgesetzt werden muß. Mündlich erinnerte
Lieder verändern sich beim Vortrag. Außerdem
muß der Vortrag so großer Dichtungen selten ge-
wesen sein, es gab also keinen Grund, so große Ge-
bilde wörtlich auswendig zu lernen. Demnach
wäre die letzte Fassung der Ilias, das heißt die fi-
xierte Fassung, ›unsere‹ Ilias. Wir glauben, Homer
selbst hat diesen Text gemacht und ihn jenen oben
genannten Homeriden hinterlassen.
9. Die Ilias, die durch alle die bisher genannten Ei-
genschaften gekennzeichnet ist, ist eine Einheit.
Keine strenge Einheit, wie erst die Tragödie sie
zeigt, sondern eine freiere, aber doch unbezweifel-

34
bare organische Einheit. Und ferner: ihr Urheber
ist charakterisiert durch Konzeptionen, die auf das
Ganze wie auf Einzelnes gehen, und die handgreif-
lich die Individualität des Dichters und seine Ori-
ginalität erkennen lassen. Der beste Gegenbeweis
dafür ist die ganz andersartige Dolonie, die, wie
heute fast allgemein angenommen wird, die spätere
Einlage eines anderen ist. Diese Originalität darf
nicht einfach nur dem ›literarischen‹ Schreibtisch-
dichter zugesprochen werden, sondern sie gehört
jedem komponierenden Dichter zu. Auch die in
der Tradition gegebene ›typische‹ Szene ist typisch
nur in ihrem Rahmen, nicht aber in ihrer jeweiligen
Ausgestaltung (Harald Patzer, 972). Die Ilias,
wenn überhaupt ein Gedicht, zeugt in ihrer ganzen
Gestaltung von dem Dichter selbst, den wir Homer
nennen und der die Jahrhunderte hindurch so ver-
standen wurde.
0. Homer ist vielleicht, wie wir meinen, kein an-
derer als der Mann, der am Ende des Ersten Deli-
schen Apollonhymnos sich selber als den ›blinden
Mann von Chios‹ bezeichnet. Wenn er, wie die Le-
gende sagt, erblindet ist und dann seine Ilias dik-
tiert hätte – freilich komponierend diktiert –, so
hätte er ganz so wie Milton gearbeitet, der 660 als
völlig Erblindeter seine großen Epen ›Das verlo-
rene Paradies‹ und ›Das wiedergewonnene Para-
dies‹ seiner Frau und seinen Töchtern diktierte.
Im ganzen gelangen wir zu folgendem Bild von
der frühgriechischen epischen Entwicklung. Am
Anfang steht im dreizehnten und zwölften Jahr-

35
hundert die mykenische Zeit als der Quellbereich
der vielen einzelnen Sagen. Sie wurden in reiner
Mündlichkeit weitergegeben von den Aoiden, so
wie Homer sie in seinem Demodokos und Phemios
darstellt. Diese Aoiden haben in den folgenden
Jahrhunderten mündlich die Sage fortgestaltet. So
entstand einerseits der Formelschatz der epischen
Tradition; denn auch die Formel muß ja einmal von
einem Dichter eingeführt, und das heißt geschaffen
sein. Und auf der anderen Seite entstanden immer
mehr bei diesen Sängern die großen, umfassenden
Sagenkreise, darunter der vom Troischen Krieg,
den wir zwar nicht in der Weise, wie Homer ihn
darstellt, als umfassendes Völkerringen vorausset-
zen können, aber auch nicht als ein ganz unbedeu-
tendes Ereignis. Er gehört der von den Archäolo-
gen festgestellten Trojaschicht VII a an, die etwa in
das zwölfte Jahrhundert führt. Der Troische Krieg
mag sogar unter Agamemnon von Mykene, Mene-
laos von Sparta, Nestor von Pylos geführt worden
sein (nicht aber von den rein mythischen Helden
wie Achilleus und Odysseus). Diese epische Tradi-
tion ging weiter während der sogenannten dunklen
Jahrhunderte bis hinab in das achte Jahrhundert,
wo sich die Welle einer neuen Zeit erhebt. Inzwi-
schen ist im zehnten oder neunten Jahrhundert aus
dem Phoinikischen Alphabet die Schrift zu den
Griechen gekommen, die im achten Jahrhundert
bereits verbreitet ist. In dieser Zeit des achten Jahr-
hunderts tritt ein Mann auf, der die ganze Masse
der älteren Überlieferung umfaßt, sowohl das

36
Formale wie die Sagenstoffe; und eben mit Hilfe
des neuen Mittels der Schrift geht er daran, was
wahrscheinlich noch nicht da war, aus der Sage
vom Troischen Krieg ein Großepos zu gestalten.
Was er zugrunde legt, das ist der ›Zorn des Achil-
leus‹. Er hätte sich im Sinne der älteren Sängertä-
tigkeit ein Lied oder auch ein Kleinepos daraus
formen können. Die Ilias selbst enthält die Partien,
die den Zorn des Achilleus angehen, nur in verhält-
nismäßig wenigen Gesängen. Der Dichter hat den
Zorn des Achilleus durch die große Konzeption
gewaltig erweitert, die das Zorngedicht erst zur
Ilias macht. So zieht er durch Vor- und Rückblicke
und Spiegelungen den ganzen Troischen Krieg hin-
ein und erweitert diesen zum Völkerringen. Und er
erweitert durch eine umfassende Weltschau das
Gedicht vom Zorn des Achilleus und dem Tro-
ischen Krieg zum Weltgedicht.
Homer hat seine geschichtliche Stellung innerhalb
der frühen Geschichte des Epos am Ende. Im Sinne
der oral poetry ist er ein Spätling, der diese oral
poetry im Doppelsinn des Wortes ›aufgehoben‹
hat. Wir müssen diese ältere Tradition, die von den
alten Aoiden teils „weitergegeben, teils bereichert
ist, für Homer nicht gering einschätzen. Die alten
griechischen Meistersinger mögen teils wacker
nach der Tabulatur gedichtet, teils schon bedeu-
tende eigene Erfindungen gebracht und so die
Jahrhunderte hindurch an dem großen Teppich der
Sage fortgewebt haben. Homer hat seine Gestal-
tungen nicht aus der leeren Luft gegriffen, sondern

37
die Macht dieses uralten Sängertums trägt ihn und
wirkt in ihm fort. Das ist nichts Geringes. Aber wie
jede echte, lebendige Tradition bewahrt, indem sie
zugleich verwandelt, hat auch er die Tradition die-
ses alten Sängertums seinen eigenen Konzeptionen
anverwandelt. Durch die Konzeption seines Groß-
epos hat er das ganze ältere Sängertum, von dem er
doch so viel übernommen hat, in den Schatten des
Vergessens geworfen. Und auch was sich an Spät-
epik neben und nach ihm erhob, die Epen des soge-
nannten ›Kyklos‹, sind als die Epigonen Homers in
der Hauptsache verschwunden. Bereits Hesiod hat
durchweg Neues versucht und konnte sich deswe-
gen neben Homer erhalten. Dann aber folgte eine
neue Epoche der griechischen Dichtung, die durch
die Lyrik: die Elegie, den Iambos und das Lied, be-
zeichnet ist.
IV
DER HERGANG DER ILIAS

Die Grundstruktur der Ilias ist anders als die eines


Epos, wie es nach landläufiger Theorie sein soll. Sie
ist nicht überwiegend ›Schilderung‹, die dem han-
delnden Drama entgegengesetzt ist; sie hat eine
überwiegend ›dramatische‹ Struktur, und es wird
überall in ihr gehandelt. Die Ilias ist gebaut nach
›Szenen‹. Diese Szenen treten zu ›Szenengruppen‹
zusammen und bilden große Zusammenhänge, die
man durchaus als ›Akte‹ bezeichnen kann. Und
diese Szenen, die die Hauptakzente der Handlung
tragen, beruhen überwiegend auf ›direkten Reden‹
und vielfach einem ›Dialog von Reden‹. Gut zwei
Drittel der ganzen Ilias sind Reden. Diese dramati-
sche Struktur nach Szenen ist für den Hergang der
Ilias grundlegend.

Übersicht über die Ilias

I. Der Ursprung des Zorns


Der erste Gesang
Die Heeresversammlung. Der Streit der Kö-
nige. Der Gang der Thetis zu Zeus. Beginn
des Götterstreits.

II. Eröffnung des Kampfes


Die Gesänge 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7
Das Heer. Die Helden. Die früheren Verhei-

39
ßungen und Vorblick auf Trojas Fall. Zwei-
kämpfe. Die Schlacht des Diomedes. Ver-
handlungen. Bau der Mauer.

III. Die zweite, abgebrochene Schlacht


Die Gesänge 8 – 9
Die halbe Niederlage. Versuch, den Achilleus
zu versöhnen.

IV. Die dritte große Schlacht


Die Gesänge  – 2 – 3 – 4 – 5
Hektor sprengt das Mauertor. Rückschlag.
Hektor getroffen. Wiedervordringen Hek-
tors. Hektor ruft nach Feuer.
Die Gesänge 6 – 7
Auszug und Tod des Patroklos. Kampf um
seine Leiche.

V. Die Wende des Zorns


Der 8. Gesang
Der Zusammenbruch des Zorns. Thetis zu
Achilleus. Die Errettung des Leichnams des
Patroklos und erste Totenklage. Die Schild-
beschreibung.

VI. Auszug des Achilleus


Die Gesänge 9 – 20 – 2 – 22
Heeresversammlung. Beilegung des Zorns.
Kampf des Achilleus. Götterkampf. Hektors
Tod.

40
VII. Versöhnung des Zorns
Die Gesänge 23 – 24
Bestattung des Patroklos. Leichenspiele.
Hektors Lösung.

Diese Szenenfolge der Ilias ist von einem Gewebe


zahlloser Vor- und Rückverweisungen durchzo-
gen, das wir im folgenden beachten wollen.

I. Ursprung des Zorns


Der erste Gesang

Bereits der Anfang der Ilias mit der Entstehung des


Zorns führt in zwei großen Szenen zu einem Dop-
pelgipfel.
Nach einer kurzen Einleitung, in der gesagt wird,
wie Agamemnon den Priester Chryses beleidigt hat
und Apollon dafür eine Krankheit über das Heer
der Achaier schickt, beruft Achilleus eine Heeres-
versammlung, in der es zu seinem verhängnisvollen
Streit mit dem Heerkönig Agamemnon kommt,
der ihm sein Ehrgeschenk, die Frau Briseïs, neh-
men will. Das erhebt sich in drei Redepaaren mit
merkbarer Steigerung bis zu der Kampfabsage des
Achilleus, zu deren Bekräftigung er das Szepter zu
Boden wirft. In kurzen überleitenden Szenen folgt
die Ausrüstung einer Sühngesandtschaft nach
Chryse und die Fortführung der Briseïs aus der
Hütte des Achilleus durch die Herolde Agamem-

4
nons. Achilleus setzt sich weinend an den Strand
des Meeres. Seine Mutter Thetis sucht ihn auf und
verspricht ihm, für ihn zum Olymp zu gehen und
Zeus zu bitten, er möge die Achaier schlagen, bis
sie ihm den Schimpf gebüßt hätten. – Achilleus hält
sich nun vom Kampfe fern, während Odysseus die
Gesandtschaft nach Chryse führt, wo man den
Zorn des Apollon besänftigt. – Am zwölften Tag
geht Thetis dann zu Zeus, der nach langem Schwei-
gen ihre Bitte gewährt und es mit dem Nicken sei-
nes Hauptes bekräftigt, unter dem der Olymp er-
zittert. Diese Gebärde entspricht dem Niederwer-
fen des Szepters durch Achilleus. In diesen beiden
entscheidenden Szenen greift der Entschluß des
Menschen und der Beschluß des höchsten Gottes
ineinander, und von diesem Augenblick an ist für
die folgende Handlung über die Niederlage der
Achaier entschieden. Das ist die arché der Ilias als
des Zorngeschehens des Achilleus.
Zugleich aber beginnt hier eine andere Entwick-
lung, die für alles folgende wichtig ist: der Streit der
Götter. Zeus sieht es voraus: »Ja wirklich! heillose
Dinge, daß du mir auferlegst, mich mit Here zu ver-
feinden … « Und es kommt zu jenem ersten Streit
des Zeus mit Here, die sein Vorhaben durchschaut:
er habe sich von Thetis bereden lassen und ihr wahr-
haftig zugenickt, daß er den Achilleus ehren, aber
viele Achaier verderben werde. Jenes Eintreten der
Here für die Achaier und gegen die Troer spinnt sich
hier an, das später durch Poseidon und Athene un-
terstützt wird, die auch die Feinde der Troer sind.

42
II. Eröffnung des Kampfes
Der zweite bis siebente Gesang

Es folgt vom zweiten bis siebenten Gesang das


›Vorspiel‹: die ausgedehnte, handlungs- und gestal-
tenreiche Schilderung eines Tages.
Zeus schickt dem Agamemnon einen trügerischen
Traum. Das Heer, das im neunten Kriegsjahr be-
reits müde geworden ist, wird durch eine Erpro-
bungsrede Agamemnons zur Flucht bewogen und
durch Odysseus zurückgehalten, und Athene er-
füllt schließlich das Heer mit neuem Kampfeifer,
was der Dichter in einer Gleichniskette unter-
streicht. Anschließend der Schiffskatalog, der die
versammelten Führer der Stämme und Landschaf-
ten vorführt. Dazwischen werden in den Reden des
Odysseus und Nestor jene Ereignisse vom Beginn
cles Krieges: die günstigen Vorzeichen wie die ein-
gegangenen Verpflichtungen, hineingespiegelt. Im
dritten Gesang erscheinen die beiden Rivalen Me-
nelaos und Paris im Zweikampf, in dem Paris be-
siegt, aber von Aphrodite gerettet wird. Im vierten
Gesang wird durch jenen verhängnisvollen Schuß
des Pandaros auf Menelaos der Untergang Trojas
augenfällig besiegelt. Sodann erscheinen in der so-
genannten zweiten Heerschau die Helden Idome-
neus, die beiden Aias, Nestor, Odysseus und
Diomedes. Im fünften Gesang trägt Diomedes die
Schlacht. Unter Mitwirkung Athenes verwundet
er zuerst die Göttin Aphrodite und sodann auf dem
Gipfel dieses Gesangs den Ares, der wie ein

43
schwarzer Wirbel zum Olymp auffährt, wo er von
Zeus hart angelassen wird. Im sechsten Gesang se-
hen wir auf Troerseiten Hektor, wie er in Troja zu-
erst mit seiner Mutter Hekabe, mit Paris und He-
lena und dann mit seiner Frau Andromache zu-
sammentrifft. In den Ängsten der Frau um ihn, in
seiner Sorge um sie blickt man auf den Untergang
Trojas voraus, und in der Klage, die die Frauen
über ihn erheben, steht Hektor bereits im Schatten
seines viel später kommenden Todes. Im siebenten
Gesang tritt Hektor im Zweikampf dem Aias ge-
genüber, der später jener Held ist, der bei Hektors
Vordringen den schweren Rückzugskampf der
Achaier trägt. – Auch Priamos und die Ältesten
von Troja sind in diesem Vorspiel bereits aufgetre-
ten, Priamos im dritten und vierten Gesang. Vor al-
lem aber ist die Gestalt der Helena stark hervorge-
hoben, sei es, als sie im dritten Gesang auf der
Mauer Trojas die Achaierhelden – Agamemnon,
Odysseus, Idomeneus, Aias – dem Priamos zeigt
(auch dies im Grunde aus dem Beginn des Kampfes
hineingespiegelt), sei es nach dem Zweikampf in ih-
rem Beisammensein mit Paris, den sie verachtet,
aber dem sie durch Aphrodites Kraft doch erliegt.
Und endlich im sechsten Gesang ihr Wort an Hek-
tor von ihrer und des Alexandros Verblendung,
durch die sie beide noch einmal den künftigen
Menschen zum Gesang werden. Helena wird wie-
der im vierundzwanzigsten Gesang die letzte To-
tenklage an Hektors Bahre erheben.
Am Ende dieses Teils kommt es schließlich im

44
siebenten Gesang zu einem erneuten Versuch, nach
dem Schuß des Pandaros auf Menelaos sich doch
noch mit den Achaiern zu vergleichen. Paris aber
verhindert es, weil er nicht bereit ist, Helena zu-
rückzugeben. Man bestattet die Gefallenen, und
die Achaier bauen, besorgt durch die Kampfabsage
des Achilleus, zum Schutz der Schiffe eine Mauer
um das Lager. Als die Sonne untergeht, haben die
Achaier die Mauer vollendet, und man bereitet das
Nachtmahl. Schiffe sind von Lemnos gekommen
und haben Wein gebracht, und man kauft den Wein
gegen dies und das. Man speist die ganze Nacht
hindurch, doch die ganze Nacht donnert Zeus un-
heilvoll. Damit endet dieses im zweiten Gesang be-
gonnene Geschehen mit einer drohenden Voraus-
deutung auf das Schwere, das in den folgenden Ge-
sängen kommen wird.

III. Die zweite, abgebrochene Schlacht


Der achte und neunte Gesang

Im achten Gesang beginnt Zeus sein Versprechen


an Thetis wahrzumachen und die Achaier um der
Ehre des Achilleus willen zu schlagen. Er verbietet
deswegen den Göttern, auf beiden Seiten am
Kampf teilzunehmen. Dies Zeusverbot wird erst
am Beginn des zwanzigsten Gesangs wieder aufge-
hoben. Doch wird es Zeus nicht gelingen, gradlinig
die Niederlage der Achaier durchzuführen, weil
die troerfeindlichen Götter Here, Athene und Po-

45
seidon Gelegenheit finden werden, sich diesem
Verbot zu widersetzen.
Zunächst kommt es zum Kampf, in dem Nestor in
Gefahr kommt und Diomedes ihn rettet, durch den
Wetterstrahl des Zeus aber selbst zurückgetrieben
wird. Die Achaier werden zurückgeschlagen, und
die Troer biwakieren in der Mitte der Ebene. Zuvor
hatten Here und Athene den Versuch unternom-
men, doch in den Kampf einzugreifen, aber Zeus
ruft sie durch die Götterbotin Iris zurück. Der er-
zürnten Here gibt Zeus eine erste große Voraussa-
ge: nicht werde Hektor ablassen vom Kampf, be-
vor sich bei den Schiffen wieder Achilleus erhebt,
wenn man um den gefallenen Patroklos kämpft. –
Zugleich hält Hektor vor den Troern eine große
Rede, in der er siegesgewiß für morgen den Kampf
um die Schiffe der Achaier voraussagt: »Wenn ich
doch so gewiß unsterblich wäre und ohne Alter alle
Tage und geehrt würde, wie geehrt wird Athenaia
und Apollon, wie jetzt dieser Tag Unheil bringt
den Argeiern!« (538 ff.)
So nehmen in diesem achten Buch, in dem sich die
Kämpfe eines ganzen Tages zusammendrängen,
verschiedene Handlungslinien für die ganze Ilias
ihren Ausgang: die halbe Niederlage der Achaier,
das Kampfverbot des Zeus, die Widersetzlichkeit
der Götter, jene siegesgewisse Vermessenheit Hek-
tors, die in den folgenden Kämpfen weiterhin ver-
stärkt wird.
Im neunten Gesang berät man aufgrund der hal-
ben Niederlage während der Nacht, was zu tun ist,

46
und Nestor schlägt dem Agamemnon vor, eine Ge-
sandtschaft zu Achilleus zu schicken, um ihn mit
reichen Gaben wieder zu versöhnen und in den
Kampf zu bringen. Odysseus und Aias und dazu
der alte Erzieher des Achilleus Phoinix werden
damit beauftragt und freundlich von Achilleus auf-
genommen. Odysseus bietet ihm im Auftrag des
Agamemnon die reichen Gaben an, doch er lehnt
alles ab. Zu tief ist er durch Agamemnon verletzt,
was er in langer Rede, in der seine Erbitterung im-
mer wieder hochkommt, ausspricht. Er denkt dar-
an, morgen in seine Heimat zurückzukehren.
Phoinix, nicht nur als Abgesandter, sondern als der
Vertraute des Achilleus, erinnert ihn daran, wie er
sich um ihn als Kind gemüht habe, und erzählt in
einem Paradeigma von dem verderblichen Zorn des
Meleagros. Schließlich ermahnt ihn Aias als
Kampfgefährte, er möge doch nicht nur um des
Agamemnon, sondern um ihretwillen nachgeben,
die ihm die Nächsten und Liebsten sind von den
Argeiern. Das macht Eindruck auf Achilleus, aber
er kann den Zorn nicht überwinden. Doch will er
nun, anders als er zuerst gesagt hat, nicht gleich ab-
fahren, sondern warten, bis Hektor an seinen
Schiffen steht. Mit dieser Entscheidung entläßt er
die Gesandten. Es ist ein teilweises Nachgeben,
doch ein folgenreiches Nachgeben, das am näch-
sten Tag nun zu der schweren Niederlage der
Achaier führen, für Achilleus selbst aber das Ver-
hängnis bringen wird.

47
IV. Die große Schlacht
Vom elften bis siebzehnten Gesang

Mit dem elften Gesang beginnt das lang hingezo-


gene wechselvolle Ringen zwischen den Achaiern
und den Troern, das nun zur vollen Niederlage der
Achaier führt. Dieses Geschehen baut sich auf in
drei Stufen. Es führt dazu, daß Hektor erstens das
Mauertor der Achaier sprengt (im elften und
zwölften Gesang), daß er zweitens die Schiffe er-
reicht und ein Schiff in Brand setzt (im dreizehnten
und fünfzehnten Gesang), und daß er drittens den
Patroklos erschlägt (im sechzehnten und siebzehn-
ten Gesang). Innerhalb dieses Geschehens kommt
es durch Poseidons und Heres Einwirken zu dem
Rückschlag, bei dem Hektor durch einen Stein-
wurf des Aias vorübergehend kampfunfähig ge-
macht wird (im vierzehnten Gesang). Sodann wird
in diesem Dreistufenbau Patroklos neu in den
Gang der Ereignisse einbezogen (im elften Gesang)
und dann von Achilleus ausgeschickt (im sech-
zehnten Gesang), wo er nach kurzem Siegeslauf ge-
tötet wird. Dabei ist der Sieg Hektors auf seinem
Gipfel, als er die Waffen des Achilleus anlegt, be-
reits durch das Wort des Zeus über ihn mit seinem
kommenden Untergang verwoben.

Die erste Stufe


Mit aufgehendem Morgen wirft Zeus einen neuen
Kampfeifer in die Achaier. Agamemnon wappnet
sich und dringt groß vorwärts. Hier aber gibt Zeus

48
dem Hektor die Verheißung, sobald er Agamem-
non zurückweichen sähe, werde er ihm Kraft ge-
ben, bis er am Abend zu den Schiffen gelangt sei
(, 85 ff.). Dann wird Agamemnon verwundet,
und weiterhin auch Diomedes und Odysseus. Der
Dichter gibt mit überlegener dichterischer Strategie
den drei Helden solche Verwundungen, daß er
durch ihre Kampfunfähigkeit das Heer der Achaier
schwächt, sie aber später an den Leichenspielen im
dreiundzwanzigsten Gesang wieder teilnehmen läßt.
Aias trägt nun die ganze Last des Kampfes. Als
Achilleus aber von seinem Schiff aus Nestor den
verwundeten Arzt Machaon zurückführen sieht,
schickt er Patroklos zu Nestor: »Das war für ihn
des Unheils Anfang« (, 604). Nestor läßt dem
Achilleus sagen, wenn er selbst nicht kämpfen wol-
le, so solle er wenigstens den Patroklos in seinen
Waffen hinausschicken, den Achaiern Luft zu ver-
schaffen. Patroklos wird auf seinem Rückweg zu
Achilleus durch den verwundeten Eurypylos auf-
gehalten. – Von hier geht die Patroklos-Linie wei-
ter zum fünfzehnten Gesang, wo er den Eurypylos
verläßt, und zum sechzehnten, wo er wieder vor
Achilleus tritt.
Der zwölfte Gesang bringt den Kampf um die
Mauer der Achaier, die im siebenten Gesang gebaut
war. In einem besonderen Prooimion teilt der
Dichter mit, daß sie später von Poseidon und Apol-
lon ins Meer geworfen und spurlos vertilgt wird. Er
erzählt dies sichtlich, weil in seiner Zeit keine Spur
von einer Mauer dort zu sehen war. Die Mauer ist

49
also eingeführt als entscheidendes Hindernis im
Kampf um die Schiffe, und zugleich wird mit ihr in
das wechselvolle Kampfgeschehen die Situation ei-
ner Belagerung der Achaier eingeführt.
In diesem schweren Kampf um die Mauer und den
Graben kommt es zunächst zu dem Vorstoß des
Troers Asios, Hyrtakos’ Sohn, der töricht genug
trotz der Warnung des klugen Pulydamas (der auf
Troerseiten dem Odysseus entspricht) versucht,
mit Pferden und Wagen den Graben zu durchque-
ren. Dieser Versuch gelingt nicht. Auf Achaiersei-
ten bewähren sich nun vor allem am Mauertor die
beiden Lapithen. Doch dem Lykierkönig Sarpe-
don, der als Zeus-Sohn auf Seiten der Troer beson-
ders hervorgehoben wird, gelingt es, einen großen
Teil der Brustwehr einzureißen. Hektor sprengt
schließlich mit einem mächtigen Steinwurf das Tor,
springt selbst hinein, und die anderen Troer ihm
nach. – Zuvor freilich hat es beim Überschreiten
des Grabens ein ungünstiges Vogelzeichen gege-
ben, und der besonnene Pulydamas warnte Hek-
tor, nicht mit den Danaern um die Schiffe zu kämp-
fen. Hektor aber schlägt die Warnung in den Wind
mit dem fast blasphemischen Wort: »Ein Vogel ist
der beste: sich wehren um die väterliche Erde!«
(243). Zum zweitenmal hat hier der Dichter die
Vermessenheit Hektors hervorgehoben, zugleich
aber in seiner Handlung, mitten im Vordringen der
Troer, auf den späteren Rückschlag hingedeutet. –
Später wird Pulydamas noch zweimal warnen (im
dreizehnten und im achtzehnten Gesang).

50
Die zweite Stufe
Nachdem Zeus mit dem Eindringen Hektors in das
Lagertor soweit sein Versprechen an Thetis, die
Achaier zu schlagen, erfüllt hat, wendet er im drei-
zehnten Gesang die Augen vom Kampffeld ab auf
die fernen nördlichen Völker. Nun mischt sich,
entgegen dem Verbot des Zeus, Poseidon in den
Kampf vor Troja ein, um heimlich die Achaier zu
stärken. In großartig geschilderter Wagenfahrt
erreicht er das Heer, und in Gestalt des Sehers Kal-
chas ermutigt er die Achaier und flößt durch einen
Schlag mit seinem Stab den beiden Aias Kraft ein.
Hektor wird zurückgedrängt, und unter den
Achaiern tut sich vor allem der schon bejahrte Kre-
ter Idomeneus mit seinem Wagenlenker Meriones
hervor. In wechselnden Kämpfen stehen auf seiten
der Troer Aineias und Paris, auf seiten der Achaier
Menelaos. Dann begegnet Hektor dem Aias, den er
schmäht (er wird ihm wieder begegnen), und Ge-
schrei erhebt sich auf beiden Seiten.
Im vierzehnten Gesang verläßt Nestor den Ma-
chaon und berät sich mit den verwundeten Köni-
gen Agamemnon, Diomedes und Odysseus. Aga-
memnon schlägt vor, die Flucht vorzubereiten,
doch Odysseus widerrät es, und Poseidon in Ge-
stalt eines alten Kriegers stärkt ihren Mut. – Nun
versucht Here, den Poseidon zu unterstützen. Sie
macht sich schön, empfängt von Aphrodite den
Liebesgürtel, geht über die Berge und Inseln, bis sie
auf Lemnos sich der Hilfe des Schlafs versichert,
und gelangt auf dem Gargaron-Gipfel des Ida zu

5
Zeus, der von Verlangen ergriffen sich zu ihr legt
und einschläft. Poseidon stellt sich nun offen an die
Spitze der Achaier, und Aias schlägt Hektor mit ei-
nem Steinwurf nieder.
Dann erwacht Zeus im fünfzehnten Gesang und
sieht die Niederlage der Troer. Er gerät in Zorn
und gibt nun die zweite, noch umfassendere, bis
zum Fall Trojas gehende Voraussage. Durch Iris
befiehlt er dem Poseidon, aus dem Kampf zu wei-
chen, und gibt dem Apollon den Auftrag, Hektor
wieder Kraft zu geben. Es geschieht, und Apollon
dringt an der Spitze der Troer, die Aigis in Händen,
gewaltig vor, tritt Graben und Mauer ein und
schafft den Troern einen breiten Weg zu den Schif-
fen. Heftige Kämpfe. Nestor betet in höchster Not
zu Zeus und ermuntert die Achaier. Aias wehrt als
letzter, von einem Schiff auf das andere springend,
mit einem langen Speer die Troer ab, Hektor aber
erfaßt das Heck von dem Schiff des Protesilaos und
ruft nach Feuer.

Die dritte Stufe


Patroklos hat unterdessen den verwundeten Eury-
pylos verlassen. Nun tritt er im sechzehnten Ge-
sang weinend vor Achilleus, zeigt ihm an, wie
schlimm es um die Achaier steht, und bittet ihn
nach dem Rat des Nestor, ihn in seinen Waffen hin-
auszuschicken. Achilleus gibt nach. – Aias kann
draußen dem Hektor nicht mehr widerstehen. Mit
einem Musenanruf unterstreicht der Dichter, wie
das Feuer in die Schiffe fällt. Als Hektor dem Aias

52
die Spitze des Speeres kappt, werfen die Troer das
Feuer in das Schiff des Protesilaos. Mit dieser
Klammertechnik verbindet der Dichter das Ende
des fünfzehnten mit dem Beginn des sechzehnten
Gesangs. Nun ruft Achilleus selbst die Myrmido-
nen auf und treibt den Freund, sich zu wappnen,
warnt ihn aber, er solle nur die Troer zurückschla-
gen und nicht versuchen, Troja zu nehmen; und
bittet Zeus in einem Gebet, er möge dem Freund
den Sieg geben und ihn heil wieder zurückführen.
Zeus gewährt das eine, das andere versagt er. So
zieht sich das Verhängnis um Achilleus enger zu-
sammen.
Patroklos dringt vor, rettet die Schiffe und erlegt
Sarpedon. Zeus läßt von Apollon den Leichnam
des Sarpedon waschen und ihn dann durch die
Zwillinge Schlaf und Tod in seine Heimat bringen.
Patroklos aber dringt weiter vor. Gegen das Verbot
des Achilleus läßt er sich hinreißen, bis unter die
Mauern Trojas vorzustürmen. Da tritt ihm Apol-
lon entgegen, schlägt ihn in den Rücken und ent-
waffnet ihn, und er wird von Euphorbos verwun-
det und dann von Hektor getötet. Sterbend sagt er
Hektor den Tod durch Achilleus voraus.
Im siebzehnten Gesang kämpft man um den
Leichnam des Patroklos, wobei sich Menelaos her-
vortut, der auch den Euphorbos tötet. Aber Hek-
tor raubt dem toten Patroklos die Waffen (die die
Waffen des Achilleus sind) und legt sie frohlockend
an. Da bewegt Zeus sein Haupt (200 f.): »Ah, Elen-
der! und gar nicht liegt dir der Tod auf der Seele,

53
der dir schon nahe ist … « Die Voraussagen
auf den Untergang Hektors werden nun zugleich
mit seiner Vermessenheit immer deutlicher. Die
unsterblichen Rosse des Achilleus aber läßt Zeus
nicht in Hektors Hände fallen. – Nach langem
wechselvollen Ringen heben Menelaos und Merio-
nes den Leichnam auf, während die beiden Aias
den Rückzug decken. Menelaos aber hat den Anti-
lochos zu Achilleus geschickt, um diesem den Tod
des Patroklos zu melden.

V. Die Wende des Zorns


Der achtzehnte Gesang

Der bedeutende achtzehnte Gesang ist zugleich ein


Ende und ein Anfang. Hier findet der Zorn des
Achilleus in seinem Schmerz um Patroklos sein
Ende: der Zorn der durch Agamemnon verletzten
Ehre; doch wendet er sich nun auf den Rachezorn
gegen den Töter seines Freundes, Hektor, der
erst im vierundzwanzigsten Gesang zur Ruhe
kommt. Der achtzehnte Gesang hat eine Sonder-
stellung. Wie Thetis im ersten Gesang zu ihrem
Sohn trat, kommt sie auch jetzt aus der Tiefe des
Meeres zu ihm. Und wie sie dort zum Olymp ging,
um seine Bitte Zeus vorzutragen, so geht sie auch
jetzt zum Olymp, zu dem Schmiedegott Hephai-
stos, um dem Sohn neue Waffen zu erbitten. He-
phaistos aber war bisher ein einziges Mal am Ende
des ersten Gesangs aufgetreten, um die Mutter

54
Here zu versöhnen und den Göttern zu ihrer Er-
heiterung den Mundschenk zu machen. Der acht-
zehnte Gesang steht so zu dem ersten Gesang im
Verhältnis gegensätzlicher Entsprechung. –
Antilochos tritt zu Achilleus, der bereits das
Schlimme ahnt, und meldet ihm unter Tränen, daß
Patroklos durch Hektor gefallen ist und Hektor
seine Waffen hat. Gewaltiger Ausbruch des
Schmerzes bei Achilleus. Seinen Schrei hört die
Mutter in der Meerestiefe, und sie geht mit den Ne-
reiden zu ihm und tritt zu dem schwer Stöhnenden:
Nun habe Zeus ihm doch alles erfüllt. Und Achil-
leus: Ja, aber was nützt ihm das, nun er den Freund
verloren hat, und die Waffen hat Hektor ihm abge-
zogen! Er wolle nicht mehr unter den Lebenden
sein, wenn er nicht Hektor töte und ihn den Tod
des Patroklos büßen lasse. Thetis widerspricht ihm
nicht, nur soll er warten, bis sie ihm von Hephai-
stos neue Waffen bringt.
Inzwischen kämpft man draußen um des Patro-
klos Leichnam, und Hektor faßt ihn schon am Fuß.
Da tritt Iris, von Here gesandt, zu Achilleus und
befiehlt ihm, sich den Kämpfenden waffenlos zu
zeigen. Athene legt ihm die Aigis um die Schultern
und läßt Feuer auf seinem Haupt erscheinen, und
auf seinen dreimaligen Ruf weichen die Troer in
Verwirrung zurück und die Achaier tragen den
Leichnam des Patroklos zu den Schiffen. Die
Sonne geht unter. Achilleus und die Achaier klagen
um Patroklos und waschen und salben ihn, wäh-
rend unterdessen die Troer im Feld sich beraten,

55
und Pulydamas warnt zum drittenmal, man solle
zur Stadt zurückkehren. Hektor aber wider-
spricht: am nächsten Morgen wolle er dem Achil-
leus entgegentreten. Seine Siegeszuversicht ist nun
auf der dritten Stufe zur Verblendung gesteigert,
und der Dichter sagt selbst, daß den Troern, die
ihm Beifall geben, Pallas Athene die Sinne benom-
men habe.
Am Ende des Gesangs geht Thetis zu Hephaistos
und bittet ihn, für ihren Sohn neue Waffen zu
schmieden. Hier folgt jene Schildbeschreibung. Sie
bringt in der Nacht nach so vielen Kämpfen des Ta-
ges einen Ruhepunkt. Es ist der einzige wirkliche
Ruhepunkt in der Ilias: die Beschreibung eines
Kunstwerks, das ein Bild der Welt und zugleich ein
Bild des Lebens ist. Der schon im Tode stehende
Achilleus wird den Schild am folgenden Tag füh-
ren.

VI. Auszug des Achilleus, Hektors Tod


Der neunzehnte bis zweiundzwanzigste Gesang

Dieser in der ganzen Ilias entscheidendste Tag


bringt die Aristie des Achilleus, die mit seiner
Wappnung im neunzehnten Buch beginnt und im
zweiundzwanzigsten mit der Tötung Hektors en-
det. Alle anderen einzelnen Helden der Achaier
sind nun gleichsam verschwunden, und Achilleus
allein trägt diesen Kampf. Der Dichter hat mit au-
ßerordentlichen Mitteln dieses einzigartige

56
Kampfgeschehen ausgestaltet. Mit einer großen
Architektonik hat er die Gesänge zwanzig und ein-
undzwanzig und wieder den für sich stehenden Ge-
sang zweiundzwanzig mit Hektors Tod ausge-
führt. Die Gestalt des Achilleus hat er hier ins Hel-
dische, Übermenschliche gehoben und doch zu-
gleich wieder ins Menschliche und Menschlichste
hineingenommen. Das Ganze ist, wie es auch sonst
Homers Art ist, in Gegensätzen (e contrario) ent-
wickelt. Es steigt hinauf in drei deutlich voneinan-
der geschiedenen Teilen. Im zwanzigsten Gesang
die erste Begegnung mit Hektor und ein großes
Morden unter den Troern. Im einundzwanzigsten
Gesang die Tötung der Troer im Fluß und der
Flußkampf. Im zweiundzwanzigsten Gesang der
Tod Hektors.
In der Frühe bringt Thetis im neunzehnten Ge-
sang dem Achilleus die neuen Waffen von Hephai-
stos. Die Myrmidonen erschrecken vor ihnen,
Achilleus aber erfüllt der Anblick mit Kampfmut.
Er beruft eine Heeresversammlung (sie steht paral-
lel zu jener Versammlung im ersten Gesang) und
sagt seinen Zorn ab und will nun kämpfen. Aga-
memnon sieht seine Beirrung ein und bietet die
früher versprochenen Gaben. Achilleus fordert vor
allem die Schlacht, und es kommt zu jenem Streit
um das Frühmahl, in dem Odysseus realistisch ver-
langt, daß die Leute essen sollen, Achilleus aber
will dies aufschieben bis zum Abend und weist für
sich jede Speise zurück, bis der Leichnam des Pa-
troklos verbrannt sei. – In diesem Streit um das

57
Frühmahl, der in seinem nüchternen Realismus oft
nicht verstanden wurde, finden wir beispielhaft den
Gegensatz des Praktisch-Militärischen und des
menschlichen Bedürfnissen enthobenen Helden. –
Hierauf kommt es zu einer jener stillen Szenen, die
öfter bei Homer in das dramatische Geschehen ein-
gelegt sind: Achilleus ruft die Erinnerung herauf,
wie Patroklos ihm stets das Essen vorgesetzt habe.
Während die anderen essen, schickt Zeus Athene
und stärkt ihn mit Ambrosia. Dann strömt das
Heer zusammen, und Achilleus rüstet sich mit sei-
nen Waffen. Diese Wappnung ist über alle früheren
Wappnungen weit hinausgehoben (die Wappnung
des Paris im dritten Buch; die des Agamemnon im
elften, die des Patroklos im sechzehnten). Licht-
erscheinungen begleiten sie, wie im fünften Gesang
auch Licht um Haupt und Schultern des Diomedes
leuchtete. Der Helm ist wie ein Stern, der große
schöne starke Schild wie der Mond, und so tröst-
lich den Achaiern, wie ein Feuer, das in den Bergen
abgetriebenen Schiffern auf dem Meer leuchtet.
Und etwas einzigartiges: die Waffen schmiegen
sich um seinen Leib und erheben ihn wie Flügel.
Aber auch dieser Bekundung der neuen Helden-
kraft des Achilleus folgt sofort ein Gegensatz,
wenn sein Pferd Xanthos ihm den Tod voraussagt;
und er nimmt zum zweitenmal den Tod auf sich.
Im zwanzigsten Gesang hebt Zeus das Kampfver-
bot an die Götter auf, die sich nun in zwei Parteien
scheiden. Die Achaierfreunde Here, Athene, Po-
seidon, Hermes und Hephaistos gehen in das Heer

58
der Achaier, die Troerfreunde Ares, Apollon, Ar-
temis, Aphrodite und Leto unter die Troer. Es er-
hebt sich Eris, Zeus aber donnert aus der Höhe und
Poseidon erschüttert die Erde, so daß Hades auf-
springt von seinem Thron und fürchtet, daß Posei-
don die Unterwelt aufreißen könnte.
Nachdem in dieser Szene der Dichter die Götter
einander gegenübergestellt hat, läßt er sie während
der Kämpfe des Achilleus warten und erst am Ende
des einundzwanzigsten Gesangs gegeneinander
gehen. So bildet er architektonisch einen Rahmen
für die Aristie des Achilleus. Aber seltsam genug
läßt er im einundzwanzigsten Gesang zwar den
Hephaistos gewalttätig gegen Xanthos vorgehen
und die Götter gegeneinanderfahren unter dem
Krachen der Erde und dem Trompeten des Him-
mels. Dann aber läßt er sie nicht, dem grandiosen
Aufmarsch des Anfangs entsprechend, ähnlich ei-
ner Titanomachie miteinander kämpfen, sondern
erst schlägt Athene den Ares nieder und sodann
auch Aphrodite, die ihn wegführen will, so daß sie
alle beide zu Boden fallen. Dann schlägt Here der
Artemis ihre eigenen Pfeile um die Ohren, bis sie
weinend flieht. Hermes, der Schalk, aber will nicht
mit Leto kämpfen: er wolle sich nicht mit den
Frauen des Zeus balgen. Nur als der ernste Posei-
don kämpfen will, lehnt der vornehme Apollon es
ab, um der ›elenden Sterblichen‹ willen mit ihm zu
kämpfen. – Dies ist eine ganz unerwartete Konzep-
tion. Der Dichter, der den Kampf des Hephaistos
gegen den Fluß noch mit aller Ernsthaftigkeit

59
durchgeführt hat, bietet nun den eigentlichen
Kampf der Götter als eine erhabene Keilerei, die
ein Scherzwort des Hermes und ein vergnügliches
Lachen des Zeus beendet. Er eröffnet hier eine an-
dere Seite des Göttlichen, jener Götter, die er die
›Seligen‹ und die ›Leichtlebenden‹ nennt. Dies Bild
von der ›Leichtigkeit‹ der Götter braucht der Dich-
ter hier als Kontrast, da er bei den Menschen Ver-
worrenheit, Not und Tod schildert. Sie, die von
keiner Tragik Berührten, stehen gegenüber dem
tragischen Schicksal des Achilleus. Auch dies ge-
schieht nach jenem Prinzip des Gegensatzes.
Davor sind im zwanzigsten Gesang die Achaier
und die Troer aufmarschiert, und als Achilleus er-
schienen ist, ergreift die Troer ein Zittern. Er sucht
vor allem den Hektor, mit dessen Blut er Ares sät-
tigen will. Doch tritt ihm hier zuerst Aineias entge-
gen, und zwar in einer durchaus ungewöhnlichen
Weise. Um ihn als einzigen unter den Achaiern be-
kümmern sich die Götter beider Parteien. Apollon
treibt ihn dem Achilleus entgegen, und es kommt
zwischen beiden zum Kampf. Aineias nennt Achil-
leus sein Geschlecht: auch er ist Dardanide, doch
aus einer anderen Linie als Priamos. Im Kampf ver-
schießen beide ihre Speere und gehen dann, Achil-
leus mit dem Schwert, Aineias mit einem Feldstein,
gegeneinander. Da greift Poseidon ein. Er will
nicht, daß Aineias, der doch schuldlos ist, fallen
soll. Während Priamos und die Seinen dem Zeus
verhaßt sind, sollen Aineias und seine Kindeskinder
über die Troer herrschen. Selbst Here ist mit seiner

60
Rettung einverstanden, und Poseidon wirft dem
Achilleus einen Nebel über die Augen und schleu-
dert den Aineias bis zum Ende des Kampffeldes. –
Während der ganzen Ilias nimmt unter den Troern
Aineias eine Sonderstellung ein. Er zeichnet sich
aus im fünften und sechsten Buch, wo er dem Hek-
tor gleichgestellt wird, und ebenso im dreizehnten,
wo von ihm gesagt wird, daß er dem Priamos
grollt, weil dieser ihn unter den Männern nicht ehr-
te. Wie wir sagten, erklärt sich diese Sonderstel-
lung des Aineias durch eine Beziehung des Dichters
zu einem fürstlichen Herrn der Dardaner, die
im 8. Jahrhundert in der Troas herrschten und
ihren Stammbaum auf Aineias zurückführten. Der
Dichter hatte Grund, diese dardanischen Fürsten,
die sein Gedicht begünstigten, durch ihren Ahn
Aineias zu ehren. Sehr bedacht war es, diesem Ai-
neias in der Aristie des Achilleus einen Platz zu ge-
ben, wo er zwar groß gerühmt wird, doch nur in
einem Vorspiel all des Schrecklichen, das weiterhin
nun Achilleus tun wird. Aineias kommt nach dieser
seiner Erhebung in der Ilias nicht mehr vor.
Achilleus ruft nun die Achaier zum Kampf auf,
und ebenso Hektor die Troer. Aber Apollon ver-
bietet ihm den Kampf mit Achilleus. Doch als die-
ser den Priamos-Sohn Polydoros tötet, will Hektor
seinen Bruder rächen, und Achilleus springt vor
Freude in die Höhe, daß der Mann nahe ist, der ihm
den Freund getötet hat. Und auch Hektor antwor-
tet nun mit einer mutigen Rede und wirft auf Achil-
leus den Speer, den aber Athene zurückhaucht.

6
Den Hektor aber entrafft Apollon, in Nebel ver-
hüllt.
Am Ende des Buchs mordet Achilleus unter den
Troern und verwundet sie mit schrecklichen, vom
Dichter geschilderten Verwundungen. Dies ist ein
typischer Katalog von Gefallenen, wovon die Ilias
mehrere hat. Doch ist dieser unter allen der umfas-
sendste. Schließlich endet es mit dem sonst schon
gebrauchten, hier besonders eindrucksvollen Bild:
Achilleus auf dem blutbespritzten Wagen, die
Pferde über Leichen stampfend, er selbst mit
Mordblut besudelt an den Händen.
Im einundzwanzigsten Gesang gelangt Achilleus
zum Fluß, dem Skamander, springt hinein und tö-
tet die Troer in ihm. Damit beginnt der Kampf im
Fluß und mit dem Fluß, wieder dreifach gestuft.
Achilleus fängt zwölf junge Troer lebend für Pa-
troklos zum Totenopfer. Darauf, breit entwickelt,
begegnet er dem Lykaon. Er hatte ihn schon einmal
gefangen und verkauft. Doch kam er nach Troja
zurück und fällt nun wieder in Achilleus’ Hände.
Auf seine Bitte, ihn wieder zu schonen, hat er nur
das Wort: ›Stirb auch du! Starb doch Patroklos
auch und war viel besser als du … ‹, und dann
von neuem der Gedanke an den eigenen Tod:
›Kommen wird ein Morgen, ein Abend oder Mit-
tag, wo auch mir einer das Leben nehmen wird mit
einem Speer oder Pfeilschuß.‹ Und er wirft ihn in
den Fluß; dort sollen sein weißes Fett die Fische
fressen.
Sodann trifft er den Paionen Asteropaios, der ein

62
Sohn des Flusses Axios ist, und läßt ihn nach kur-
zem Kampf im Sand des Flusses liegen, wo die Fi-
sche und Aale ihm das Fett von den Nieren rupfen,
und tötet dann weiter unter den Paionen.
Hier aber tritt ihm nun der Flußgott Xanthos
selbst entgegen: er soll aus dem Fluß hinausgehen
und die schrecklichen Dinge in der Ebene tun.
Achilleus verspricht es, springt aber doch wieder
hinein, und nun erhebt sich der Fluß mit Gewalt
gegen ihn und bringt ihn mit der Wucht seiner
Strömungen in größte Not. Er verfolgt den Flie-
henden und reißt ihm den Sand weg unter den Fü-
ßen. Achilleus sieht inmitten seiner Aristie einen
elenden Tod vor Augen und betet zu Zeus: ›Hätte
ihn doch Hektor erschlagen! Jetzt muß er wie ein
Hütejunge, eingeengt im Strom, ertrinken.‹ Der
Tod im Wasser war für die Griechen der elendigste
Tod. So läßt ihm der Dichter mit seiner Kunst des
Gegensatzes auch dieses Armseligste, Menschlich-
ste von allem, was ein Mensch leiden kann, auf dem
Wege seines Siegeslaufs begegnen. Jedoch zu ihm
treten Athene und Poseidon; gegen den Fluß aber
schickt Here den Feuergott Hephaistos, und Feuer
und Wasser kämpfen nun gegeneinander, und der
Fluß muß mit einem Versprechen an Here nach-
geben. An dieser Stelle beginnt der Götterkampf,
der am Beginn des zwanzigsten Gesangs vorberei-
tet war.
Nach seinem Ende gehen die Götter zum Olymp
zurück, nur Apollon geht nach Troja, während
Achilleus weiter die Troer mordet. Priamos läßt die

63
Tore öffnen, um die Fliehenden aufzunehmen.
Apollon aber zieht in der Gestalt des Agenor
Achilleus von den Troern ab zur Ebene. Dann gibt
er sich ihm zu erkennen, und Achilleus wendet sich
unmutig zurück nach Troja, in das die fliehenden
Troer sich hineingerettet haben.
Der zweiundzwanzigste Gesang bringt mit dem
Tod Hektors die Höhe der Aristie des Achilleus,
und hier, auf der dritten Stufe, erreicht auch die
Kunst des Dichters ihre höchste Höhe. Das ganze
zweiundzwanzigste Buch ist eine einzige groß an-
gelegte Struktur, die es verstehen laßt, warum man
einstmals Homer als den Maler-Dichter und Pla-
stiker zu rühmen wußte. Es steht vor uns wie ein
großes Triptychon mit zwei Flügeln. Wir sehen in
zwei großen Bildern zu Anfang des Gesangs und an
seinem Ende die Eltern auf der Mauer, den Hektor
unten am Tor vor dem Kampf mit Achilleus angst-
voll warnend, und später, als er tot von Achilleus
geschleift wird, in furchtbarer Verzweiflung wei-
nend und klagend. Das größere Mittelteil gehört
dem Feld vor Troja, auf das die Troer von der
Mauer niederblicken und auf dem sich nun in ver-
schiedenen Phasen der Kampf des Achilleus mit
Hektor und seine Tötung abspielt.
Während Achilleus auf die Stadt zueilt, strahlend
wie ein böser Stern, steht Hektor unbewegt durch
die Klagen des Priamos und der Hekabe unten am
Vorsprung des Tors und ist jetzt aus seiner Ver-
blendung erwacht. Er sieht, Pulydamas hatte recht,
and er erwägt sogar, sich waffenlos dem Achilleus

64
zu ergeben. Und als Achilleus, wieder wie ein
Feuer oder die Sonne strahlend, ihm näher kommt,
erträgt er es nicht und flieht.
Es folgt im ersten Teil des Kampfgeschehens zwi-
schen beiden jene Flucht, die dreimal um die Mau-
ern Trojas führt; eine durchaus unheldische Flucht,
in der nun auch Hektor das tiefste Menschliche er-
fahren muß. Sie geht vorbei am Feigenbaum, an der
Warte und den beiden Quellen, aus denen die Tro-
erfrauen, ehe die Achaier kamen, das Wasser
schöpften – so spiegelt der Dichter im Augenblick
des schwersten Kampfes ein Gegenbild des Frie-
dens hinein. Die Flucht ist reich von Gleichnissen
begleitet: Falke und Taube, um die Zielmarken
kreisende Pferde, Hund und Hirschkalb, und jenes
ganz ungewöhnliche Gleichnis, wie man im Traum
vergeblich flieht oder verfolgt. Die Götter sehen
der Flucht zu von oben. Zeus erwägt ein letztes
Mal, ob er den Hektor retten soll, doch schickt er
die widersprechende Athene dann auf das Kampf-
feld. Und während Apollon noch einmal zu Hek-
tor tritt, ergreift Zeus die Schicksalswaage, wägt,
und Hektors Todeslos sinkt schwer nieder. Da ver-
läßt ihn Apollon.
Hier beginnt der Kampf im engeren Sinne.
Athene bringt beide Helden zum Stehen, wobei
sie, grausam genug, dem Hektor in Gestalt seines
Bruders Deïphobos Mut macht. Hektor versucht,
mit Achilleus zu einer Vereinbarung zu kommen,
wie sie sonst vor einem Zweikampf wohl üblich
war (so in seinem Zweikampf mit Aias im siebenten

65
Gesang): der Sieger soll dem Toten die Waffen
nehmen, den Leib aber zurückgeben. Doch Achil-
leus will nichts von Verträgen wissen. Er verschießt
seinen Speer, den ihm aber Athene heimlich zu-
rückgibt, und Hektor frohlockt hier noch einmal in
seiner alten Verblendung. Doch als auch er dann
seinen Speer verschossen hat und nach dem Speer
des Deïphobos verlangt und kein Deïphobos da ist,
da endlich sieht er, daß es sein Ende ist: ›Die Götter
haben mich zum Tod gerufen‹. Doch will er, als der
tapfere Mann, der er ist, noch etwas Großes tun. So
rennt er, geduckt mit dem Schwert gegen Achilleus
anstürmend, diesem in den Speer, der ihm durch
den Hals fährt. Auch jetzt versucht er sterbend
noch einmal, Achilleus zu bewegen, daß er seinen
Leichnam dem Vater herausgebe und nicht schän-
de. Achilleus aber: und wenn man ihn auch mit
Gold aufwiegen wollte: ihn würden die Hunde und
die Vögel fressen. Der sterbende Hektor sagt ihm
nun den Tod am Skäischen Tor von Apollons Pfeil
voraus, was Achilleus wieder damit beantwortet,
daß er den Tod von den Göttern annehmen will.
Auch hier steht Achilleus ganz in seinem Tode. –
Das Kampfgeschehen endet damit, daß die Achaier
Hektor verspotten und die Speere in seinen Leib
stoßen. Achilleus aber durchbohrt ihm die Knö-
chel – ›schmachvolle Dinge sann er‹, sagt der Dich-
ter –, bindet ihn an seinen Wagen und schleift ihn
zurück zu den Schiffen der Achaier.
Der Schlußteil führt uns wieder auf die Mauer
Trojas. Ein Heulen erhebt sich, als ob die Stadt

66
›vom Gipfel herab bereits im Feuer verschwele‹.
Der Vater Priamos ist verzweifelt, wälzt sich im
Kot und will hinaus und zu Achilleus, ob er sich
erbarme, und Hekabe fragt jammernd, warum sie
noch lebe. Hier aber bringt der Dichter wiederum
eine ganz unerwartete und ungeahnte Wendung.
Andromache, die Frau Hektors, die am tiefsten be-
troffen ist, ist noch ahnungslos. Sie sitzt im Haus,
webt bunte Blumen in einen Teppich und läßt Was-
ser aufstellen für Hektor, wenn er heimkomme.
Dann hört sie das Heulen vom Turm, erschrickt,
geht ›einer Rasenden gleich‹ dorthin, sieht, wie
Hektor geschleift wird, und fällt in Ohnmacht,
und die Frauenhaube, die ihr Aphrodite zur Hoch-
zeit geschenkt hatte, fällt weit weg von ihr zu Bo-
den. Es ist eins der so bedeutungsvollen unwillkür-
lichen Symbole, die der Dichter auch sonst kennt.
Und als sie wieder zu sich kommt, hält sie jene
Rede, die Hektors und ihr eigenes Schicksal be-
klagt.
Das zweiundzwanzigste Buch ist durch Vor- und
Rückverweise mit der übrigen Ilias vielfach ver-
bunden.
. Hektors Vermessenheit seit dem achten und
wieder dem zwölften, fünfzehnten, siebzehnten
und achtzehnten Gesang, bricht, nicht ohne ein
letztes Aufflackern, im Tod zusammen, wo er, der
sich so um Troja gemüht hatte, nun alle seine Ent-
würfe vereitelt sieht und von den Göttern verlassen
unendlich bitter stirbt, wonach er die furchtbare
Schändung durch Achilleus erwarten muß.

67
2. Die Andromache, die hier über Hektors Ende
klagt, ist sichtlich die gleiche, die in ihrer Rede im
sechsten Gesang vorausgesehen hatte, daß sein
Ungestüm ihn verderben werde. Ähnlich wie hier
wird sie wieder im vierundzwanzigsten Gesang bei
ihrer Totenklage um Hektor vom Untergang Tro-
jas und dem Tod des kleinen Sohnes sprechen.
3. Der Untergang Trojas, schon längst und zumal
seit dem vierten Gesang vorausgesehen, wird nun
in immer dichteren Voraussagen sichtbar. So hier
in der ersten Rede des Priamos an Hektor und dann
ausdrücklich, als man bei seinem Tod klagt, ›als ob
Troja schon vom Gipfel herab verschwelen würde‹.
Im ganzen bringt der zweiundzwanzigste Gesang
mit dem Tod Hektors, der allein der Schützer Tro-
jas war, auch den Fall Trojas.
4. Daß Priamos in seiner Verzweiflung aus der
Stadt gehen und Achilleus anflehen will, ist sicht-
lich ein Vorklang dessen, was er im vierundzwan-
zigsten Gesang wirklich tun wird.
5. Auch die Vorverweise auf den Tod des Achil-
leus werden immer deutlicher, zuletzt durch den
sterbenden Hektor: ›An dem Tag, wo Paris dich
und Phoibos Apollon am Skäischen Tor vernich-
ten‹.
6. Die Grausamkeit und Unerbittlichkeit, die
Achilleus zeigt, als er dem Hektor die Verträge ab-
lehnt, dem Sterbenden, wenn nicht das Verzehren
seines Fleisches, doch die Preisgabe an die Hunde
und Vögel ansagt, und ihn am Ende angebunden an
seinen Wagen durch die Ebene schleift: all das ist

68
ebenfalls e contrario so gemacht, daß es die Ver-
söhnung mit Priamos und die Herausgabe des
Leichnams im vierundzwanzigsten Gesang vorbe-
reitet.

VII. Versöhnung des Zorns


Der dreiundzwanzigste und vierundzwanzigste
Gesang

Durch Hektors Tod ist der Zorn des Achilleus an


sein Ziel gekommen, aber nicht ans Ende.
Das Zorngeschehen hat die ganze Welt ergriffen.
Was als Zorn im Innern des Achilleus aufkam und
in ihm gegen besseres Wissen fortgrollte, hat Not
und Tod über die Achaier und die Troer gebracht
und hat auch auf die olympischen Götter überge-
griffen. Dieser Zorn war nicht nur ein aufkom-
mender Affekt in einem Menschen, sondern eine
über den Menschen ausgreifende Macht. Er hat
eine Störung im Weltzustand hervorgerufen und
kann, nachdem er ein so ungeheures Geschehen in
einem Kurvengang durchmessen hat, nun mit dem
Tod Hektors nicht ohne weiteres wieder zur Ruhe
kommen. Daß der gestörte Weltzustand wieder ins
Gleiche kommt, geschieht in drei Stufen: im drei-
undzwanzigsten Gesang einmal die Besänftigung
des Toten in der Bestattung des Patroklos, sodann
die Leichenspiele und schließlich im ganzen vier-
undzwanzigsten Gesang der Ausgleich und die
Freigabe des Leichnams Hektors.

69
Die erste Stufe bringt die Bestattung des Patro-
klos, die ihm die gebührende Ehre gibt und seine
Seele besänftigt, indem sie ihr den Eingang in das
Reich der Toten verschafft. So fordert er es, als er
dem Freund in der Nacht erscheint. Er sagt dem
Achilleus den Tod voraus und bittet, daß sie, wie
sie im Leben alles miteinander geteilt haben, auch
im Tod in der gleichen Urne vereint sein sollen. Es
folgen die Vorbereitungen und alle die rituellen
Bräuche, die man dem Toten verrichtet. Man holt
Holz, fährt mit Wagen und Pferden den Toten hin-
aus, schert sich die Haare ab, die man über ihn
wirft, und auch Achilleus opfert ihm seine Mähne.
Dann schichtet man den Scheiterhaufen auf, opfert
Schafe und Rinder wie auch vier Pferde und zwei
Hunde, und Achilleus opfert jetzt die gefangenen
jungen Troer – ›Schlimme Dinge sann er im Her-
zen‹, sagt wieder der Dichter. Als der Scheiterhau-
fen nicht brennt, ruft er die Winde herbei, die ihn
dann mächtig anfachen, und an dem brennenden
Scheiterhaufen schleicht Achilleus die ganze Nacht
weinend entlang und ruft den Toten, bis gegen
Morgen das Feuer niederbrennt und er erschöpft
am Scheiterhaufen in den Schlaf sinkt. Beim Erwa-
chen laßt er den Grabhügel aufschütten und die
Gebeine des Freundes in goldener Schale aufbe-
wahren, bis er selbst in den Hades gehen werde.
Wie alles hier dem Tode dient, so sind auch die
Gedanken des Achilleus bei der Sorge für den To-
ten mit seinem eigenen Tod beschäftigt.
Die zweite Stufe bringt die Leichenspiele für Pa-

70
troklos. Wie vorher alles düster, ernst und dunkel
war, erheben sich im Gegensatz dazu die Leichen-
spiele zu Festlichkeit und Freude. Achilleus be-
stimmt die Reihenfolge der Wettspiele und setzt die
wertvollen Preise aus für Wagenrennen, Faust-
kampf, Ringen, Wettlauf, Waffenkampf, Diskus,
Bogenschießen und Speerwurf. Alle bedeutenden
Achaierhelden, die uns während der Aristie des
Achilleus aus den Augen gekommen waren, neh-
men daran teil, auch die Verwundeten. Achilleus,
der sich früher mit ihnen entzweite, erscheint hier
als der freundliche, freigebige, vornehme Gastge-
ber. Er ehrt die Sieger, zeigt sich mitleidig auch ge-
gen den, der Unglück hatte, und bezeugt dem Ne-
stor, der nun nicht mehr mitkämpft, seine Ach-
tung. Zwar erhebt sich mehrmals auch hier der
Zorn unter diesen scharf auf ihre Ehre bedachten
Männern – in Menelaos, Antilochos, Idomeneus,
dem kleinen Aias –, doch sind das jetzt in der ent-
spannten Atmosphäre nur unbedeutende Entla-
dungen, die Achilleus als Friedensstifter leicht be-
gütigt. Der Humor, der in der Ilias auch sonst nicht
ganz fehlt, kommt nun in dieser befreiten Stim-
mung mehrfach auf: im gewaltigen Boxkampf des
Epeios und seinem ungeschickten Diskuswurf und
bei dem Lauf des kleinen Aias, der im Rindermist
ausgleitet. Schließlich gibt Achilleus dem Aga-
memnon einen deutlichen Achtungsbeweis, als er
ihm kampflos im Speerwurf den ersten Preis zu-
spricht. So ist alles Dunkle und Schwere nun ins
Leichte und Heitere gewendet.

7
Im vierundzwanzigsten Gesang führt die dritte
Stufe nach der Besänftigung des toten Patroklos,
der befreiten Stimmung der Spiele, in der wir das
Heer verlassen haben, zum umfassenden Aus-
gleich, als Achilleus nun den Hektor, statt ihn den
Hunden vorzuwerfen, vielmehr dem Vater Pria-
mos zur Bestattung freigibt.
Noch ist der Rachezorn in ihm nicht überwun-
den. Achilleus hat keine Ruhe, wirft sich schlaflos
hin und her und schleift jeden Morgen von neuem
den Leichnam Hektors um das Grabmal, den aber
Apollon gegen alle Entstellung schützt. Die Götter
im Olymp erbarmen sich über ihn, und Apollon
spricht es aus, daß Achilleus wie ein wildes Tier ist:
Erbarmen und Scheu hat er verloren, wo doch die –
Moiren, die Schicksalsfrauen, den Menschen sonst
gegeben haben, daß sie sich schicken können. Zeus
sendet Thetis zu Achilleus, und Achilleus ist bereit,
nach der Weisung des Zeus den Toten herauszuge-
ben. Iris aber wird zu Priamos gesandt: er solle
furchtlos ins Lager zu Achilleus gehen, um den
Leichnam Hektors auszulösen; Achilleus sei ›nicht
unverständig noch unbedacht noch frevelmütig,
sondern werde den Schutzsuchenden sorglich
schonen‹. Priamos drängt nun in einer zornigen
Eilfertigkeit auf den Weg zu Achilleus. Man betet
vor der Fahrt zu Zeus, und dieser schickt ein gün-
stiges Vogelzeichen. Und Priamos mit dem bejahr-
ten Herold Idaios tut die Fahrt ins Achaierlager,
wobei ihnen im nächtlichen Dunkel plötzlich
Hermes begegnet, der sich für einen Myrmidonen

72
ausgibt und Priamos durch die Wachen zur Hütte
des Achilleus geleitet.
Hier beginnt die Szene einer Schutzanflehung
(Hikesie) des Priamos und seine Aufnahme durch
Achilleus. Priamos spricht von Achills eigenem
Vater, und wie er selbst noch erbarmenswürdiger
sei, der ihn, der seinen Sohn tötete, anflehen
muß. Achilleus, ergriffen, spricht von des Priamos
früherem Glück und jetzt seinem Elend und läßt
ihn aufstehen. Noch einmal flackert der Zorn in
ihm auf, als der Alte auf die Lösung Hektors
drängt, doch tut er, was er verlangt. Die Aufnahme
des Priamos bei Achilleus endet mit zwei jener für
Homer so bedeutungsvollen, unwillkürlichen
Symbole. Sie beide essen miteinander: das Symbol
der Vereinigung, und hier betrachten sie einander,
wie würdig und wie schön sie sind. Dann läßt ihn
Achilleus sich mit dem Herold zum Schlafen nie-
derlegen: das Symbol der vollen Befriedigung und
der Ruhe. Hier schlafen auch die Götter und alle
die gerüsteten Männer, und auch Achilleus, der
sich vorher schlaflos hin und her geworfen hatte,
schläft nun wieder, und neben ihm die Frau, um die
der ganze Streit sich erhoben hatte: Briseïs.
Der Schluß des Gesangs und der ganzen Ilias
bringt die Heimkehr des toten Hektor, seine Auf-
bahrung und Beklagung. In kurzen Strichen wird
dann auch die Bestattung Hektors berichtet, wie
für ihn Holz geholt wird, der Scheiterhaufen er-
richtet, wie er verbrannt wird und dann seine Ge-
beine aufgelesen werden, wie man ihm den Hügel

73
aufschüttet und sich dann zum herrlichen Toten-
mahl vereinigt ›im Haus des Priamos, des zeusge-
nährten Königs‹.
Zuvor aber haben drei Frauen in verschiedener
Abstufung über Hektor die Totenklage erhoben.
Andromache, die Gattin, sieht, nun er tot ist, die
Ermordung ihres Sohnes und ihre eigene Ver-
schleppung voraus und klagt, daß er ihr kein ›dich-
tes Wort gesagt hat, woran sie immer, Tränen ver-
gießend, denken könnte die Nächte und Tage‹. Die
Mutter Hekabe spricht davon, daß er ihr der weit
liebste von ihren Söhnen war, daß ihn Achilleus er-
schlagen und geschleift hat, er nun aber taufrisch so
daliege, als ob ihn Apollon mit seinen sanften Ge-
schossen getötet hätte. An dieser Stelle aber spricht
auch Helena noch einmal von ihrem Schicksal, und
wie alle sie geschmäht hätten, er aber habe kein bö-
ses Wort zu ihr gesagt und auch die anderen zu-
rückgehalten mit seiner Sanftmut und seinen sanf-
ten Worten. Nun aber werden sie alle vor ihr
schaudern. – In diesem Wort der Helena – es ist die
letzte Rede der Ilias – erscheint Hektor noch ein-
mal als der Gütige, Menschliche, und zugleich da-
mit erscheint auch Helena noch einmal in dem Ver-
hängnis ihres Schicksals.
V
HELDEN UND GÖTTER

Soweit der Hergang der Ilias. Doch sind am Rande


noch einige wesentliche Züge liegengeblieben, die
für den Zusammenhang des Ganzen wichtig sind.
Da hatten wir schon beobachtet, wie im Hergang
des Geschehens die Helden in überlegter Reihen-
folge nacheinander auftreten und wirksam werden.
So am Anfang Achilleus, Agamemnon und der
zum Guten redende Nestor, dann Odysseus, der
das Heer zurückhält und es mit Nestor ermuntert;
so Menelaos und Paris, die beiden Rivalen. Dann
tritt nach der Heerschau mit Idomeneus, den bei-
den Aias und Odysseus in der nun folgenden gro-
ßen Schlacht des fünften Gesangs der Verwegenste
unter den Achaiern, Diomedes, hervor. Für das
Ende des Vorspiels ist mit Bedacht Hektor in Tro-
ja, im siebenten Gesang Hektor im Zweikampf mit
Aias ausgespart. Dieser Kampf weist auf Hektors
Kampf mit Achilleus im zweiundzwanzigsten Ge-
sang voraus: hier eine Art Turnier nach aller Regel
mit gutem Ausgang, dort mit Achilleus der tödli-
che Kampf ohne alle Vereinbarung. Im achten Ge-
sang und in allen weiteren Gesängen bis zu seinem
Tod verfolgen wir die steigende Verblendung Hek-
tors. Im neunten Gesang treten für die Versöhnung
mit Achilleus ein Nestor, Odysseus, Aias und
Phoinix. Der elfte Gesang bringt dann die Eliminie-
rung des verwundeten Agamemnon, Diomedes und
Odysseus aus dem Kampfgeschehen. Weiter sahen

75
wir, wie dann Aias, Idomeneus, Teukros, Mene-
laos das weitere Geschehen tragen und Patroklos
siegt und fällt, und wie von Aias und Menelaos der
Leichnam zurückgebracht wird und der junge An-
tilochos dem Achilleus die Todesbotschaft bringt.
Wieder treten in der Heeresversammlung Aga-
memnon und zumal Odysseus auf. Von dem Aus-
zug des Achilleus an sind alle Helden zurückgetre-
ten, die dann alle in den Leichenspielen wieder da
sind. Man erkennt die überlegene Umsicht, die hier
waltet.
Diese Helden haben zwar nicht das, was wir heute
im engeren Sinne Charakter nennen. Jedoch sie ha-
ben ein unbezweifelbar deutlich gegeneinander ab-
gestuftes Gepräge. Neben dem oft kleinmütigen
Agamemnon steht der weise Ratgeber Nestor und
der vielkluge Odysseus. Dem ungestümen Diome-
des steht der schwere, wortkarge Aias gegenüber.
Daneben der bejahrte Idomeneus, der deutlich mit
unfreundlichen Zügen behaftete kleine, schnelle
Aias. Weiter die Liebenswürdigen wie Menelaos,
der ›weiche Lanzenkämpfer‹, Antilochos und Pa-
troklos, der das Liebenswürdige mit dem Unge-
stüm vereinigt. Auf Troerseiten das gegensätzliche
Brüderpaar Hektor und Paris und wieder die
mächtigen Kämpfer Sarpedon, der Zeus-Sohn, und
Aineias, und der Warner Pulydamas. In feiner Do-
sierung sind alle, teilweise in Gegensätzen, vonein-
ander abgehoben.
In einer unvergleichlichen Komposition sind Me-
nelaos und Odysseus einmal gegensätzlich als Red-

76
ner einander gegenübergestellt. Menelaos sprach
geläufig, klar und treffend; Odysseus aber stand
lange und schaute nach unten, bewegte den Stab
nicht vorwärts und rückwärts und sah in der Kon-
zentration aus wie ein Stumpfsinniger, entsandte er
aber die gewaltige Stimme aus der Brust, so ström-
ten die Worte wie Schneeflocken aus seinem Mun-
de. Es ist bemerkenswert, wie der Dichter hier
zwei spätere Redetypen charakterisiert: den glat-
ten, klaren Redetypus (apheles, tenue) und den
großen, grandiosen (megaloprepes, grandiloquum).
So sind schließlich auch die Gegner Hektor und
Achilleus deutlich gegeneinander abgesetzt. Hek-
tor, vielfach gebunden als Sohn, Bruder, Gatte und
Vater, der Verteidiger seiner Stadt, ein tüchtiger
Kämpfer, doch mild und sanftmütig gegenüber den
Seinen, besessen in seinem Kampfmut und bis zu-
letzt in seiner Verblendung: ein großer Unglückli-
cher. Achilleus von der gleichen Spannweite der
Seele, liebenswürdig und grausam, unversöhnlich,
wo es um die Ehre und die Rache geht; immer sich
mühend im Kampf für andere, doch von Anfang an
wissend um sein kurzes Dasein und bewußt den
Tod auf sich nehmend. So ist er, wie kein anderer in
dem ganzen Gedicht, vom Leid gezeichnet. Eng
verbunden ist er mit seiner göttlichen Mutter; auch
sie vom Leid geprägt. Götter haben sie geliebt,
doch in die Ehe mit dem sterblichen Mann gesto-
ßen, und nun härmt sie sich um den Sohn: »Ich
Unglücks-Heldengebärerin!« Doch versteht sie,
daß der Sohn so handelt, wie er handeln muß, und

77
hilft ihm darin. Dies einzigartige Verhältnis des
Sohnes zu der Mutter hat nur Achilleus.
Auch die sterblichen Frauen sind deutlich abge-
stuft nach ihrem Wesen: die leidenschaftliche He-
kabe, Andromache, ganz Frau und Mutter, Helena
in ihrem Zwiespalt. Briseïs, die Geliebte des Achil-
leus, ist unaufdringlich im Hintergrund gehalten.
Wir hören nur, daß sie ›widerwillig‹ den Herolden
folgt, die sie zu Agamemnon bringen, daß Achil-
leus sagt, er habe sie von Herzen geliebt, war sie
auch eine Speergefangene. Nur einmal erhebt sie
ihre Stimme, um an der Bahre des Patroklos zu-
gleich mit dem Toten ihr eigenes Schicksal zu be-
klagen.
Wie die Helden, haben auch die Götter ein im ein-
zelnen deutlich gegeneinander abgesetztes Geprä-
ge. Zeus, der Vater der Götter und Menschen, ist
der ›Höchste und Beste‹, in der Überlegenheit sei-
ner Kraft weit über alle anderen Götter hinausge-
hoben. Er ist, wenn er auch noch nicht mit diesem
Ausdruck genannt wird, sichtlich schon der ›Ge-
rechte‹ und steht so über den Parteien. Darum han-
delt er auch nicht wie die anderen Götter aus per-
sönlicher Vorliebe oder aus dem Augenblick her-
aus, sondern nach dem Ratschluß, der auf das Ende
blickt. Nur die Moiren stehen über ihm, die er in
entscheidenden Augenblicken mit der Schicksals-
waage befragt. Neben ihm steht Here, seine
Schwester und Gattin, ehrbewußt, aufbegehrend
und unbändig im Verfolg ihres Hasses, sowie Po-
seidon, der große düstere Gott, dem Bruder nur

78
wenig nachstehend an Kraft. Sodann Athene, hart
und klar und scharf, ganz die Tochter des Zeus, in
Freundschaft verbunden mit einzelnen Helden,
denen sie hilft: so Achilleus, aber auch Diomedes
und seinem Vater Tydeus wie vor allem dem Odys-
seus. Ihr Gegenspieler ist Ares, der blutige, bruta-
le, ungeschlachte Kriegsgott, dem Vater verhaßt,
doch eng verbunden mit Aphrodite, der Liebesgöt-
tin, die, wie er, zuerst von Diomedes verwundet
und dann im Götterkampf von Athene besiegt
wird. In ihrer dämonischen Macht zeigt sie der
Dichter in ihrem Gespräch mit Helena, als sie die
Widerstrebende dem Paris von neuem zuführt –
auch das eine Spiegelung jener ersten Verführung,
mit der diese Göttin das ganze Unheil über Troja
herauf geführt hatte. Ferner ist da Artemis, die ›To-
sende‹, die jungfräuliche Jägerin, die Zeus zur
›Löwin den Frauen‹ gesetzt hat; Hermes, der lie-
benswürdige Schalk wie auch der den Menschen
freundliche Geleiter; Hephaistos, als Schmied mit
breiten Schultern und riesigen Armen, aber schwa-
chen Füßen, als Künstler verbunden mit Charis,
der Göttin der Anmut, so wie er auf der anderen
Seite, als der Gott des Feuers, auch wieder in den
Bereich des Naturhaft-Elementaren hineinragt.
Und endlich Apollon, der Stolze, Strenge, Unnah-
bare, furchtbar in seiner Schrecklichkeit und sei-
nem vernichtenden Zorn.
So leben diese Göttergestalten noch bei uns, und
so haben sie die griechischen Künstler in Bildern
dargestellt.

79
VI
SZENEN, GLEICHNISSE UND MYTHEN

Von jenen ›Szenen‹, die den Haupthergang der Ilias


bilden, können wir im einzelnen jetzt zeigen, wie
sie im Innern vielfach auf Steigerung angelegt sind,
und dabei so, daß gleichsam eine lange Rampe hin-
aufführt und dann in kurzer, knapper Darstellung
das Hauptereignis folgt. So im ersten Gesang, bis
sich der Zorn entwickelt, so im achten Gesang, der
bis zu der Rede des Zeus und zu Hektors Rede hin-
aufführt, so im neunten Gesang, bis zu Achilleus’
letzter Antwort in der Rede an Aias, so im zwei-
undzwanzigsten Gesang zu dem Kampf mit Hek-
tor selbst nach langer Vorbereitung.
Die meisten dieser Szenen sind auf Reden abge-
stellt. Diese erscheinen in großer Vielfalt, wie
Zornreden, Kampfreden, Mahnreden, Versamm-
lungsreden, Beratungsreden, Erinnerungsreden,
Trauerreden, und so fort. Eine vorrhetorische Re-
dekunst waltet in dem allem, wie es ausgesprochen
wird in jener Charakterisierung der Redner Mene-
laos und Odysseus im dritten Gesang. Und daß es
auch nicht an der Ethopoiie fehlt, beweist unter
anderem die demagogische Rede des Thersites im
zweiten Gesang. Diese Reden sind in ihrer Diktion
aufs feinste menschlich differenziert. Keine kom-
pakten Wortgesten oder Spruchbänder, sondern
auch in den Zornreden naiv, menschlich und rein
natürlich. Das Großepos gibt diesen Reden breiten
Raum. Und wenn in der Ilias durchweg der einfa-

80
che, klare, bestimmte Logos waltet, so vor allem in
diesen Reden in aller ihrer Vielfalt.
In anderer Weise beobachten wir in der Abfolge
dieser Szenen eine deutliche Variatio, einen cha-
rakteristischen ›Wechsel der Töne‹. Dies verlangt
der Zuhörer beim großen Epos: er muß wechselnd
gespannt und auch wieder entspannt werden. Auf
dramatische Szenen folgen hier – wie wir schon öf-
ters sagten – die ›stillen Szenen‹, wie in den vertrau-
ten Gesprächen des Achilleus mit seiner Mutter,
des Hektor in Troja im sechsten Gesang mit der
Mutter Hekabe, Paris und Helena und mit An-
dromache; die Fahrt des Odysseus mit dem Schiff
nach Chryse im ersten Gesang, die man früher als
störende Einlage empfunden hatte; die Szene, wie
Schlaf und Tod im sechzehnten Gesang den gefal-
lenen Zeussohn Sarpedon in seine Heimat bringen,
sowie die als ›heilige Hochzeit‹ gestaltete Vereini-
gung des Zeus und der Here im vierzehnten Ge-
sang. Hierher gehören im Sinne jener Variatio auch
die festlichen Leichenspiele für Patroklos nach all
den düsteren Begehungen der Bestattung; hierher
gehört in dieser Hinsicht auch der Götterkampf. –
Daneben gibt es ausgesprochene Genre-Szenen,
wie das Frühstück bei Nestor vor den Gesprächen
im elften Gesang, der Besuch der Thetis bei He-
phaistos und seiner Gattin Charis im achtzehnten
Gesang, und wie im dreiundzwanzigsten Gesang
die Götterbotin Iris zu den wilden Gesellen, den
Winden, kommt.
Unter den Gleichnissen gehören viele der ›Ver-

8
gleiche‹ und wohl auch der konventionellen
Gleichnisse der Tradition an, insbesondere wohl
die Kurzvergleiche, wie Löwe, Pardel, Wolf, Eber
und Jagdhunde, die überwiegend in den Kampf-
szenen gebraucht werden. Doch tragen zumal die
zu einer kleinen Handlung ausgebildeten Gleich-
nisse, Dramoletten, die Handschrift Homers, wo
der Gleichnisträger, der Löwe oder Wolf, hinge-
stellt und dann gleichsam definitorisch durch addi-
tive Züge ausgeführt wird. So im sechzehnten Ge-
sang (56 ff.): » … diese, wie Wölfe, rohfressen-
de, denen um das Zwerchfell unsägliche Kraft ist,
die einen Hirsch, einen gehörnten, großen, in den
Bergen erlegten und ihn verzehren, und ihnen allen
ist die Wange von Blut gerötet, und im Rudel lau-
fen sie, um von der Quelle mit schwarzem Wasser
zu lecken mit ihren dünnen Zungen das schwarze
Wasser, das oberste, erbrechend den Mord des
Blutes, und drinnen der Mut in der Brust ist ohne
Zittern, doch rings beengt ist der Bauch … «
Oder auch, wie im vierten Gesang von dem blü-
henden Sohn des Anthemion, Simoeisios, wie bei
manchen getöteten Helden, seine Lebensumstände
kurz bezeichnet werden – seine Mutter gebar ihn
am Simoeis-Ufer, vom Ida herabgestiegen, um zu-
sammen mit den Eltern nach Schafen auszuschauen
– : ihn traf Aias in die Brust und er stürzte zu Boden
(482 ff.) »gleich einer Pappel, die in der Niederung
wächst in einem großen Sumpfland, glatt, nur ganz
oben wachsen ihr die Zweige; die aber schlug ein
Wagenbauer heraus mit dem braunroten Eisen, um

82
sie zum Radkranz zu biegen für den gar schönen
Wagen, und sie liegt nun vertrocknet an den Ufern
des Flusses«. Da ist das Schicksal des jungen, ver-
welkenden Lebens in durchaus einmaliger Weise
bezeichnet.
Ferner so überraschende Konzeptionen wie im
sechzehnten Gesang (7 ff.) ein kleines Mädchen,
das neben der Mutter herläuft und sie bittet, es auf-
zunehmen; wie der Gott Apollon die Befestigung
der Achaier wie eine Sandburg eintritt, die ein Kind
am Strand des Meeres baute (5, 362); wie ein
Mann einen mit Wasser gefüllten Graben zieht und
das Wasser ihn immer überholt (2, 257 ff.); wie
keifende Weiber auf die Straße laufen (20, 252 ff.);
wie um den Leichnam des Sarpedon die Achaier
dicht, wie Fliegen um die Milchgefäße, sind (6,
64); wie dem Menelaos Athene den Pfeil abwehrt
wie eine Mutter die Fliege von dem schlafenden
Kind verscheucht (4, 3o ff.), und ihn ein andermal
auch wieder mit dem Mut einer Stechfliege ausstat-
tet (7, 570); wie eine Rindshaut gespannt wird (7,
389), wie Fett in einem Kessel siedet (2, 362), wie
die Weberin den Webeschaft an die Brust zieht (23,
760 ff.) und wie Ringer einander anpacken wie zwei
wechselnde Dachsparren (23, 72 f.); wie im fünf-
zehnten Gesang ein Mann, der über viel Land kam,
in seinem Sinn denkt: dort möchte ich sein oder
dort (80); oder jenes Gleichnis im zweiundzwan-
zigsten Gesang (99 f.), wie man im Traum einen
Flüchtenden nicht einholen kann; weder kann der
ihm entkommen noch der ihn erreichen.

83
Es sei sodann auf die Funktion vieler Gleichnisse
im Gang der Handlung hingewiesen. Einmal gibt
es solche, die an den Hauptpunkten der Handlung
stehen, wie das Gleichnis vom Mond und den Ster-
nen für die vielen Wachtfeuer der Troer in der
Ebene am Ende des achten Gesangs (555 ff.); und
am Ende des sechsten Gesangs (506 ff.), wie Paris
einem schönen selbstgefälligen Pferd gleichend zur
Ebene eilt. Oder man beachte die besondere Funk-
tion der Doppel-Gleichnisse oder Gleichnis-Ket-
ten; so das Doppel-Gleichnis, wie Aias im elften
Gesang (546 ff.) oftmals sich umwendend langsam
zurückgeht, ›wie ein Löwe vom Pferch, den Hunde
und Männer scheuchten, und Speere und bren-
nende Bündel fliegen ihm entgegen … und er
macht sich fort, bedrückten Herzens‹ ; und gleich
darauf: einem Esel gleich, der ins Saatfeld einge-
brochen ist, und ob auch die Knaben viele Knüttel
auf ihm zerbrechen, können sie doch nichts gegen
ihn ausrichten. Oder die Gleichniskette beim
Aufmarsch des Heeres im zweiten Gesang (455 ff.):
der Feuerglanz eines Waldbrands, die Gänse und
Schwäne am Kayster-Strom, die Blüten und Blätter
im Frühling, die Fliegen, die im Viehhof um die
Milchgefäße schwirren. Oder im zweiundzwan-
zigsten Gesang, als Achilleus den Hektor ver-
folgt (39 ff.): Falke und Taube, preistragende
Pferde, Hund und Hirschkalb, Verfolger und Ver-
folgter im Traum. Hier lehnen sich die Gleichnis-
ketten an Momente der Haupthandlung an und
sind von der Handlung her konzipiert.

84
In allen diesen ausgeführten Gleichnissen lebt eine
unkonventionelle, eigenartige Sehweise, die auf
jene Wirklichkeit gerichtet ist, von der wir zu An-
fang sprachen. Eben diese Gleichnisse dürften
wohl der schwächste Punkt sein für eine Betrach-
tungsweise, nach der die Ilias mündlich und rein
traditionell entstanden sein soll. Bereits in der ›Do-
lonie‹, dem zehnten Gesang, der nicht vom Ilias-
dichter ist, wird zwar versucht, diese Gleichnisse
nachzuahmen, jedoch in einer unhomerischen,
merkwürdig barocken Weise.
Schließlich sei noch von jenen ›Einlagen‹ die
Rede, die vom Wissen um Menschenlos und
Menschenelend sprechen und die für die ganze Ilias
bedeutsam sind. So sagt der Lykier Glaukos zu
Diomedes im sechsten Gesang (45 ff.): Wie das
Geschlecht der Blätter, ist auch das Geschlecht der
Männer; die einen schüttet der Wind zu Boden,
und andere treibt der knospende Wald hervor in
der Zeit des Frühlings: »So auch der Männer Ge-
schlecht: dies sproßt hervor, das andere schwin-
det.« Das zeigt das Schicksal seines Ahnen Bellero-
phontes, der nach Lykien kam und dort große Ta-
ten tat und die Hälfte des Königtums gewann, und
der doch am Ende, allen Göttern verhaßt, schwer-
mütig über die Aleïsche Ebene irrte und men-
schenscheu sein Leben verzehrte.
Vor allem aber spricht der Dichter davon in drei
Mythen, in denen er selbst wohl der Mythenbild-
ner war. Zuerst von der Macht der ›Beirrung‹ (Ate),
die über Agamemnon und Achilleus kommt. Da

85
heißt es im neunzehnten Gesang in der Entschuldi-
gung des Agamemnon (9 ff.), daß von der ehr-
würdigen Tochter des Zeus, die alle beirrt, auch
Zeus beirrt wurde, der »verderblichen: die hat wei-
che Füße, denn nicht auf dem Boden nähert sie
sich, sondern schreitet über den Häuptern der
Männer und beschädigt die Menschen«. An dem
Tag, als Alkmene in Theben den Herakles gebären
sollte, überlistete Here den Zeus, daß vorzeitig vor
Herakles Eurystheus zur Welt kam und nun über
die Argeier herrschte. Da aber ergriff Zeus die
›Beirrung‹ am Haupt, warf sie vom Olymp und
dem Himmel herab, und nun geht sie um unter den
Menschen. Und Phoinix erzählt im neunten Ge-
sang (505 ff.) von dieser ›Beirrung‹ : sie sei stark und
habe gerade Füße, darum läuft sie allen voraus und
schadet den Menschen. Doch wenn man die ›Bit-
ten‹ scheut, die Töchter des Zeus – sie sind lahm
und runzlig und seitwärts mit den Augen blickend
und gehen immer hinter der Ate her –, so bringen
sie großes Heil. Doch wer sie schroff zurückweist,
da gehen sie zu Zeus und bitten, daß Ate ihn beglei-
te, damit er durch Schaden büße. – Von dem Un-
heil, das über die Menschen kommt, spricht
schließlich ganz umfassend auch Achilleus im vier-
undzwanzigsten Gesang (527 ff.): zwei Fässer seien
aufgestellt auf der Schwelle des Zeus, und er gibt
aus dem einen von ihnen Schlimmes und aus dem
anderen Gutes. Dem einen gibt er gemischt bald
Schlimmes und bald Gutes. Wem er aber nur
Schlimmes gibt, »den bringt er zu Schanden, und

86
ihn treibt schlimmer Heißhunger über die göttliche
Erde, und er kommt und geht, nicht vor Göttern
geehrt noch Menschen.« Hier ist es nicht Ate, son-
dern überhaupt die allgemeine Ausgesetztheit des
Menschen, Unheil zu leiden. Dies alles aber hängt
sichtlich zusammen und gehört der gleichen Kon-
zeption an über das Menschenlos. Und so sagt es
auch Achilleus, auf das allgemeine Menschen-
schicksal blickend (24, 525 f.): »Denn so haben es
zugesponnen die Götter den elenden Sterblichen,
daß sie leben in Kummer. Selbst aber sind sie unbe-
kümmert.«
VII
ZUM ABSCHLUSS
SÄNGER-KULTUR. DIE ILIAS UND IHR JAHR-
HUNDERT. APOLLON

Die Ilias ist »eine Schöpfung, doch eine Schöpfung


auf dem Untergrund einer langen Entwicklung«,
wie ich bereits in meinen Iliasstudien (938, 63)
dargestellt hatte. Oder anders ausgedrückt: die
Ilias ist eine originale Konzeption, beruht aber auf
einer langen, alten, epischen Tradition. Diese bei-
den Komponenten bestimmen die Ilias, dazu aber
als dritte die geschichtliche Situation, der Geist und
das Gepräge des achten Jahrhunderts vor Christus.
Alle drei Komponenten, die wir so auseinanderle-
gen, machen in Wahrheit das einheitliche Werk der
Ilias aus.

Die erste Komponente


Die Ilias ist nicht ein improvisiertes Epos. Sie ist
komponiert, komponiert mit großem Kunstver-
stand und weitgehendem Umblick vorwärts und
rückwärts. Sie zeigt ein engmaschiges Geflecht von
ineinandergreifenden, einander durchkreuzenden
Strukturen, und verwoben mit diesen Strukturen
eine Fülle von Konzeptionen, die sich aus dem Zu-
sammenhang ergeben und so überraschend sind,
daß nicht so bald einer darauf verfällt. Mit souverä-
ner Architektonik ist alles gebaut, gefügt und so
gemacht, daß das Einzelne unverwechselbar an sei-
nem Platz steht. ›Gemäßheit‹ (prepon), nannten die

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Griechen dieses Prinzip in der Kunst wie über-
haupt in Tun und Handeln.
Das Phänomen der Ilias bietet, mit einem Wort,
eine umfassende Komplexheit.
In dieser Komplexheit ist die Ilias ohne Beispiel
der ganzen späteren griechischen Dichtung ge-
genüber. Auch die Odyssee zeigt in ihren Haupt-
und Nebenlinien eine im wesentlichen gradlinige
Gebautheit und viele originale Konzeptionen. Je-
doch sie erreicht nicht im entferntesten mehr jene
Komplexheit der Ilias.
Diese Besonderheit der Ilias gehört dem einen
Dichter an: Homer. Doch ist sie hervorgegangen
aus einer jahrhundertelangen mündlichen Kunst-
übung, der ›oral poetry‹. Oder sagen wir besser
statt dieses recht vagen Begriffs: der alten griechi-
schen Sänger-Kultur. Sie ist die zweite Komponen-
te.
Von ihr wissen wir direkt nichts. Wir können sie
nur erschließen aus dem, was die Ilias selbst uns
zeigt an wiederholten Versen, Formeln und Moti-
ven, kombiniert mit den Analogien der Volksepen
anderer Völker aus anderen Zeiten und ganz ande-
ren geschichtlichen Voraussetzungen. Diese Ana-
logien können nur auf das Allgemeine sowie auf die
einzelnen Elemente gehen, der Fülle der individu-
ellen Gestaltungen aber nicht gerecht werden. Je-
doch wir besitzen ein unbezweifelbares Zeugnis für
die substantielle Fülle und Kraft dieser Sänger-Kul-
tur: die altgriechische Heldensage.
Die Ilias bezeugt den Troischen Krieg mit all den

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Sagen in seinem Umkreis. Sie kennt den Sagenkreis
um Theben mit Ödipus (23, 679) und dem Zug der
Sieben gegen Theben (4, 376) sowie der Epigonen
(4, 406). Die Bezeugungen der Heraklessage rei-
chen von der Geburt des Herakles (9, 98) über
manches andere, wie die frühere Eroberung Trojas
(20, 45), bis zu seinem Tod (8, 7). Dazu Ly-
kurgos, der den Dionysos verfolgt (6, 30), Belle-
rophontes (6, 55 ff.), Meleagros und die Kalydo-
nische Eberjagd (9, 527 ff.) und die verschiedenen
Sagen, die der Pylier Nestor aus der Zeit seiner Ju-
gend berichtet. Auch von Jason und Hypsipyle ist
die Rede (7, 469; 2, 40; 23, 746), was die Argonau-
tenfahrt voraussetzt, und ferner auch von Admetos
und Alkestis (2, 74). Man darf danach schließen,
daß außer nachweislich später Bezeugtem so ziem-
lich die ganze griechische Heldensage Homer vor-
lag.
Aus der alten Sänger-Kultur waren diese Sagen
und Geschichten dem Iliasdichter zu Händen. Ihr
Ursprung liegt in der großen mykenischen Vorzeit,
und sie wurden die Jahrhunderte hindurch teils
bewahrt, teils vielfach fortgebildet, wobei diese
Sängerkultur in drei bis vier Jahrhunderten man-
cherlei Wandlungen und Veränderungen durch-
gemacht hat. All diese Sagen waren nun bereits zu-
sammengeschlossen zu einer nach Generationen
geschiedenen und im ganzen tief gestaffelten Sa-
gen-Vorzeit.
Der Iliasdichter hat diese Sage übernommen, be-
wahrt und weitergebildet und aus ihr im Formalen

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wie im Substantiellen die große Kraft für sein Ge-
dicht geschöpft. Es war eine Tradition, doch war
diese keine starre, tote Weitergabe, sondern leben-
dige Tradition, d. h. erneuerndes Bewahren und
bewahrendes Erneuern. Die altgriechische Sänger-
tradition hat mit dieser Sage in ihrer Vielfalt und
Bedeutung nur wenig Ähnliches neben sich.
Als wesentliche dritte Komponente wirkt in die
Ilias formend hinein ihre einmalige geschichtliche
Situation, die Situation ihrer eigenen Zeit und ihres
eigenen, des achten Jahrhunderts. Sie steht an dem
Schnittpunkt zweier Zeiten und Welten: der ›achai-
schen‹ großen mykenischen Vorzeit, die durch den
Dorer-Einbruch im elften und zehnten Jahrhun-
dert zugrunde ging, und nun im achten Jahrhun-
dert am Beginn der eigentlich griechischen Epoche.
Das, was im achten Jahrhundert neu beginnt, ist
gekennzeichnet durch die Entdeckerfahrten nach
Westen, Norden und später auch nach Osten, die
sogenannte Kolonisation. Hier beginnt ein ausge-
dehntes Seewesen mit Handel und Geldverkehr;
das alte Königtum tritt nun zurück neben der
Adelsherrschaft mit der später so folgenreichen Po-
lis-Ordnung. Hier finden wir im Krieg statt der
Einzelkämpfer die geschlossene Phalangiten-Ord-
nung, die mehrfach bereits in der Ilias vorkommt.
Man kämpfte in Messenien wie im Lelantischen
Krieg, der schon das alte Hellas in zwei Lager
schied. Hier bereiteten sich die in Holz und später
in Stein gebauten Tempel vor, es entstand das
Kultbild aus Holz und Ton, die Statue. Hier wurde

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auf bemalten Gefäßen der Grund für die weiter gül-
tige Ornamentik gelegt und drangen die ersten
bildlichen Darstellungen der Sage ein. Die für alles
griechische Wesen so bedeutungsvolle Agonistik
bildete sich hier aus, und in Olympia, Delos, Del-
phi gelangten die großen Kultzentren zu Ansehen.
Die Olympischen Spiele wurden vom Jahr 776 an
in lückenloser Folge abgehalten, zu denen die
Umwohner und bald auch die durch die Kolonisa-
tion hinzugewonnenen Stämme zusammenkamen.
Hier kam in den Aufzeichnungen der ersten Sieger-
listen die Schrift in öffentlichen Gebrauch.
Man machte einen neuen Anfang, hatte aber
schon etwas ›hinter sich‹. Und aus den alten Erin-
nerungen an jene Vorzeit und dem Selbstbewußt-
sein eines neuen Zukunftswillens entstand für die
Dichtung eine ungemein fruchtbare Situation. Hier
war es, daß Homer sein Großepos schuf, die Ilias.
In ihr waltet ein ausgesprochen geschichtliches
Bewußtsein. Aus bewußter historischer Distanz
blickt er nun auf die alten Sagen aus der mykeni-
schen Zeit zurück. Man kennt sein Wort, ›wie ge-
ring die Sterblichen von heute sind‹ (5, 304 u. ö.).
In vielen Zügen, wie man längst weiß, schildert er
das Alte als alt und urtümlich, das heißt, er ›archai-
siert‹.
Im ganzen zeigt die Ilias am Bild des alten Helden
mit urtümlichen Sitten, grausamen Bräuchen und
blutigen Begehungen doch zugleich in der Art, wie
die Menschen miteinander umgehen, miteinander
reden, die Art und den Geist der neuen Zeit. In der

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Ilias macht sich ein neues, spezifisch menschliches
Bewußtsein, eine spezifische Menschlichkeit gel-
tend, die aufkommt gegenüber den Rückständen
jener alten Urtümlichkeit. Wir können es hier im
einzelnen nicht verfolgen. Doch ist das deutlichste
Beispiel dafür der Schluß des Gedichts, die Wende
des Achilleus von der Grausamkeit seines Zürnens
gegen Hektor zur unerwarteten Freigabe des Fein-
des zur Bestattung.
Er hat in harten Worten zu dem Sterbenden ge-
sagt, daß er selbst sein Fleisch herunterschneiden
und essen konnte. Daß er ihn den Hunden und Vö-
geln vorwerfen will, wiederholt er öfter, aber die
Götter halten dem Toten die Hunde fern. Doch
schleift er ihn täglich aufs neue, selbst dann noch,
als er den Patroklos bestattet und über ihm die Lei-
chenspiele abgehalten hat. Der Dichter sagt es
selbst, daß er dies Tun des Achilleus nicht billigt,
da, wo er den gefallenen Hektor an seinen Wagen
bindet und schleift (22, 395), und wo er am Schei-
terhaufen des Patroklos die zwölf jungen Troer
schlachtet (23, 75): ›schmachvolle Dinge tat er‹.
Entscheidend aber erhebt sich gegen diese fortge-
setzte maßlose Grausamkeit gegen den toten Hek-
tor Apollon zu Beginn des vierundzwanzigsten
Gesangs (39 ff.): Achilleus sei wie ein Löwe, der
nur Wildes weiß, er habe die Fähigkeit, sich ›rüh-
ren‹ zu lassen (eleos), wie jede ›Scheu‹ (aidos) verlo-
ren, er sei unbeugsam, starr, während doch die
Schicksalsgöttinnen dem Menschen nun einmal ge-
geben haben, sich zu fügen … ›die stumme Erde

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mißhandle er mit seinem Zürnen‹. Und hier folgt
dann, von Zeus veranlaßt, die Wende in Achilleus,
daß er nach dem Entsetzlichen und Furchtbaren,
das er getan hat, sich fügt, den Vater Priamos
freundlich aufnimmt und ihm schließlich gebadet
und gekleidet den Toten freigibt zur Bestattung.
Apollon ist unter allen griechischen Göttern, ne-
ben der Überlegenheit des Zeus, derjenige, der den
höchsten Adel, die Hoheit und Unnahbarkeit des
Göttlichen darstellt. Er sieht verächtlich auf die
›elenden Sterblichen‹ herab, die ›den Blättern gleich
bald feurig strotzen, bald wieder hinschwinden,
entseelt‹. Und er haßt vor allem, daß der Mensch
sich überhebt und in seinem Ungestüm vergißt,
daß er die Grenzen seiner Sterblichkeit einhalten
soll. So tritt er dem Diomedes entgegen: »Besinne
dich, Sohn des Tydeus! und wolle nicht gleich ge-
sonnen sein den Göttern, da niemals vom gleichen
Stamm sind die unsterblichen Götter und die am
Boden schreitenden Menschen« (5, 440). Patro-
klos hätte Troja genommen, doch Apollon stößt
ihn vom Mauervorsprung viermal zurück: ›Wei-
che, Patroklos! Dir ist es nicht bestimmt, daß die
Stadt der Troer unter deinem Speer vernichtet wer-
de, noch auch dem des Achilleus, der weit besser ist
als du!‹ (6, 707). Und er schlägt ihn dann in den
Rücken, entwaffnet ihn und läßt ihn erstarren, so
daß er durch Euphorbos und Hektor getötet wird.
Auch dem Achilleus hält er so seine Sterblichkeit
entgegen: ›Was verfolgst du mich, Sohn des Peleus,
du Sterblicher den unsterblichen Gott?‹ (22, 8).

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Und auch in der großen Rede im vierundzwanzig-
sten Gesang schilt er an ihm das Wilde, Unbeugsa-
me, daß er Erbarmen und Scheu verloren habe und
als Mensch sich nicht fügen mag.
Wie man gesehen hat, lebt in diesen Worten und
diesem Handeln des Apollon die Delphische Mah-
nung des ›Nicht zuviel!‹, des ›Erkenne dich!‹, näm-
lich ›erkenne dich als Mensch in deiner Sterblich-
keit‹. Delphi, als die ›steinerne Schwelle des Pfeil-
schützen Phoibos Apollon in der felsigen Pytho‹,
die im Innern reiche Güter einschließt (9, 404), ist
der Ilias bekannt. Und im Sinne der Delphischen
Forderung ist es, daß man als Mensch den Feind im
Tod nicht schänden darf, sondern ihm die Ehre der
Bestattung gewähren muß. Homer hat dies in seine
eigene Zeit hineingesprochen, zumal diese Pro-
blematik noch im fünften Jahrhundert die Dichter,
einen Sophokles im ›Aias‹ und der ›Antigone‹, ei-
nen Euripides in den ›Hiketiden‹, beschäftigt hat.
Hektor hat nun in der Ilias sein Recht erhalten.
Achilleus handelt im letzten Gesang gemäß der
Forderung Apollons; seine ›Versöhnung‹, die Her-
ausgabe des Leichnams des Hektor an den Vater,
entspricht in gewissem Sinn der Versöhnungsfeier
für den Gott Apollon auf Chryse im ersten Gesang.
Vergessen wir aber nicht, was Achilleus angeht,
daß die Ilias in einem noch weiteren Zusammen-
hang steht. Apollon war es, der den Gefährten des
Achilleus, Patroklos, vor den Mauern Trojas
schlug. Er hat im vierundzwanzigsten Gesang
seinen Groll über das Unmaß des Achilleus kund-

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getan. Er wird der Gott sein, der den Achilleus
bald am Skäischen Tor durch Paris mit seinen
Pfeilen töten wird. So hat es dem Achilleus seine
Mutter längst verkündet, und hat es ihm zuletzt
wieder mit bestimmtesten Worten der sterbende
Hektor vorausgesagt. Aber der Gott Apollon steht
nicht nur an der entscheidenden Wende in der
Mitte und am Schluß, sondern schon am Beginn
der Ilias. Gleich am Beginn der Ilias sagt der Dich-
ter: »Wer von den Göttern brachte sie aneinander,
im Streit zu kämpfen? Der Sohn der Leto und des
Zeus.« Und weiter ist es dann eben Apollon, der
wegen der Mißachtung seines Priesters ›der Nacht
gleich‹ vom Olymp herabkommt und die Seuche
über das Heer der Achaier bringt, was dann zum
Streit der Könige und dem Zorn des Achilleus
führt. So steht in dem kyklischen Ablauf des Ge-
dichts über dem Schicksal des Achilleus vom An-
fang der Ilias bis über ihr Ende hinaus Apollon.

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