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Fasse das Unfassbare!

Erkennen in den paulischen Gebetstexten

Cla Gleiser

Autor: Cla Gleiser


Art: Abschlussarbeit
Version: -
Datum Erstellung: Juli 2003
Seiten: 62 (inkl. Deckblatt)
Copyright: IGW International

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Theologische Arbeit ist Dienst an der Gemeinde, sie ist Hirtendienst. Die enge Verknüpfung von
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Beschäftigung mit einem Thema ist eine gewinnbringende Erfahrung, bei der die Studierenden
durch überraschende Entdeckungen und neue Erkenntnisse ihren Horizont erweitern.

Auch die Gemeinde soll und darf von diesem Ertrag profitieren. Die Schulleitung von IGW
begrüsst darum die Veröffentlichung der vorliegenden Arbeit.

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Seit Herbst 2008 macht IGW alle Abschlussarbeiten online zugänglich, welche die Beurteilung
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Für die Schulleitung

Dr. Fritz Peyer-Müller, Rektor IGW International


Fasse das Unfassbare!
Erkennen in den paulinischen Gebetstexten

Di ploma rbei t · J uli 2003

Cla Gleis er · Sä ntisstra sse 5 · 8800 Tha lwi l


c la@ gle ise r .ch

Fachmentor: Dr . Peter H. Davids

© I G W I n t e r n a t i o n a l

Institut für Gemeindebau


und Weltmission
Inhalt

Einführung ........................................................................ 1

1. Das Wortfeld Erkennen ...................................................... 3


1.1. Methode und Philosophie............................................... 3
1.1.1. Bedeutungsbestimmung: Die Corpus-Methode ......................... 3
1.1.2. Wortfelder ................................................................... 5
1.2. Wortstudien und Definitionen ......................................... 6
1.2.1. Einleitung .................................................................... 6
1.2.2. Definitionen.................................................................. 7
1.2.3. Rückblickende Anmerkungen zu den Definitionen .................... 17
1.2.4. Das Wortfeld Erkennen im Überblick ................................... 17

2. Vier Gebete.................................................................. 20
2.1. Epheser 1,15-19: Der Geist der Weisheit und Offenbarung......20
2.2. Epheser 3,14-19: Erfasst die Breite, Länge, Höhe und Tiefe! ...26
2.3. Philipper 1,9-11: Liebe in Erkenntnis und aller Einsicht .........31
2.4. Kolosser 1,9-11: Erfüllt mit der Erkenntnis Seines Willens ...... 37
3. Erkennen in den paulinischen Gebetstexten ......................... 44
3.1. Ermöglichung und Befähigung ........................................44
3.1.1. Gott: Der Nicht-Wahrnehmbare wird wahrnehmbar.................. 44
3.1.2. Mensch: Der Nicht-Fähige wird fähig. .................................. 46
3.2. Auseinandersetzung ....................................................47
3.2.1. Gott: Immer noch grösser ................................................ 47
3.2.2. Mensch: Abhängig in Verantwortung .................................... 47
3.3. Resultat ..................................................................47
3.3.1. Gott: Das Unfassbare erfasst ............................................. 48
3.3.2. Mensch: Vertrauter Gottes ............................................... 48
3.4. Ein erkenntnistheoretischer Anlauf in 7 Thesen ...................49
These 1: Biblische Erkenntnis ist von Gott gefordert......................... 49
These 2: Biblische Erkenntnis braucht Kraft. .................................. 49
These 3: Biblische Erkenntnis schaut auf Gott, den Anfänger und
Vollender. ............................................................................... 50
These 4: Biblische Erkenntnis versöhnt Theorie und Praxis. ................ 50
These 5: Biblische Erkenntnis ist echte Erkenntnis. .......................... 51
These 6: Biblische Erkenntnis ist bruchstückhaft. ............................ 53
These 7: Biblische Erkenntnis geschieht in der Selbstauslieferung des
Menschen. ............................................................................... 53

Schluss ........................................................................... 55

Literaturverzeichnis .......................................................... 57

i
Einführung
»Es gibt nur wenige Menschen, bei denen sich die
Wörter mit der Wirklichkeit ihres Lebens völlig
decken.«
Sándor Márai. Die Glut.

Der Gedanke war ganz plötzlich da – während eines Spazierganges im verregneten


Winterthur: Inzwischen gibt es eine unüberschaubare Zahl von Modellen, Strate-
gien und Prinzipien für natürliches, multiplikatives, organisches, zielorientiertes
oder einfach schnelles Gemeindewachstum. Warum aber hat sich bisher niemand
ähnlich strategisch der Pflege und dem Bau der persönlichen Gottesbeziehung
gewidmet; oder – falls es doch schon jemand getan hat (was anzunehmen ist):
Warum spricht man nicht auch ein bisschen darüber?
Darauf fiel mir im Moment keine Antwort ein, dafür aber etwas anderes: Ich
musste mir eingestehen, dass zumindest ich selbst ein beachtliches Nachholbedürf-
nis habe, was mein Verständnis in diesen Dingen betrifft. Heisst: Ich hatte mir
bisher wenig geordnete Gedanken darüber gemacht, welche Grundzutaten für mein
geistliches Wachstum entscheidend oder gar unerlässlich sind. Das wiederum warf
die Frage auf, wie ich die nötigen Informationen in der Bibel aufspüren und
zusammenstellen konnte. Und die Idee, die diese Frage beantwortete, war: Mal
sehen, worum Paulus gebetet hat, wenn es ihm um das Wachstum seiner Gemein-
den ging.
Als ich die verschiedenen Gebetstexte zusammenstellte und vor mir ausbreitete,
staunte ich nicht schlecht: Immer wieder war da von Erkenntnis die Rede. Paulus
verwendete wohl nicht immer dasselbe Wort, aber was ich da vor mir sah, war
eindeutig eine Häufung von Begriffen, die für mich weitgehend in den Bereich der
Hirnleistung gehören – und die ich deshalb nicht unbedingt in Gebeten für
geistliches Wachstum erwartet hätte; und schon gar nicht in so dominanten und
zentralen Positionen. Das machte mich neugierig und warf Fragen auf: Was ist
diese Erkenntnis? Und warum gibt Paulus ihr solches Gewicht? – Diese Arbeit
widmet sich der ersten dieser beiden Fragen (wobei sich hoffentlich auch der eine
oder andere Ansatz zur Auseinandersetzung mit der zweiten ergibt).
Der Umfang der Arbeit verlangt eine Begrenzung des untersuchten Materials.
Ich habe mich für vier Gebetstexte aus dem Epheser-, dem Philipper- und dem
Kolosserbrief entschieden. Paulus hat diese Schriften im Abstand von wenigen
Jahren verfasst und unter ähnlichen Umständen (nämlich im Gefängnis), so dass sie

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ein zusammenhängendes Bild seiner Gedanken versprechen. Auf das – an sich


naheliegende – Einschliessen von Philemon 4-7 musste ich verzichten. Es hätte
den vorgegebenen Rahmen gesprengt.
Der erste Teil dieser Arbeit widmet sich der Untersuchung jener Begriffe aus
den vier Texten, die dem Bereich der Erkenntnis zuzuordnen sind. Bei der Suche
nach einem geeigneten Werkzeug für die Analyse bin ich auf die sogenannte
»Corpus-Methode« gestossen, die ich später erläutere. Ich habe mich nicht zuletzt
deshalb für diesen Ansatz entschieden, weil ich der Überzeugung bin, dass er auf-
grund seines Anders-Seins eine frische und unvoreingenommene Sicht ermöglicht.
Die Ergebnisse der Begriffsanalysen fliessen im zweiten Teil in die Auslegung der
Bibeltexte ein. Im letzten Teil schliesslich werde ich die Resultate systematisch
darstellen und einen Anlauf in Richtung einer biblischen Erkenntnistheorie wagen.
Die Bibeltexte folgen mit Ausnahme geringfügiger Anpassungen der revidierten
Elberfelder Übersetzung.

Übrigens, geschätzter Leser: Hast du gewusst, dass die Wörter glauben und wissen im
Neuen Testament fast gleich oft vorkommen?

2
1. Das Wortfeld Erkennen

1.1. Methode und Philosophie

1.1.1. Bedeutungsbestimmung: Die Corpus-Methode

In Praxis der englischen Semantik1 präsentiert Ernst Leisi einen Ansatz zur Bedeu-
tungsbestimmung von Einzelbegriffen innerhalb einer definierten Textmenge. Die
sogenannte »Corpus-Methode«2 verspricht auch für die Bibelauslegung grossen
Nutzen. Das Vorgehen umfasst folgende Schritte:
Vorbereitend werden sämtliche Vorkommen (»Belege«) des Wortes im Korpus
gesammelt.
Die Analyse geht von jener Vorstellung der Bedeutung aus, über die wir
aufgrund unserer Sprachkenntnis bereits verfügen. Die eigentliche Bestimmung der
Bedeutung besteht darin, diese Vorstellung schrittweise anzupassen, »bis sie
stimmt« (Leisi 136). Dies geschieht mittels Gruppierung derjenigen Belege, die sich
gegenseitig durch Ähnlichkeit stützen (wobei man am besten mit den klarsten und
konkretesten Textstellen beginnt).
Ziel dieser Analyse ist eine Definition des untersuchten Begriffes. Dies
entspricht der von Leisi vertretenen Annahme, dass jedes sprachliche Zeichen (in
unserem Fall ein Wort) Ausdruck eines Inhaltes (einer Bedeutung) ist (144). Ein
wichtiger Aspekt der Corpus-Methode liegt deshalb in der Integration von Bedeutung,
deren Ziel es ist, so wenig Bedeutungen wie möglich zu unterscheiden. »Mehr-
deutigkeit ist in vielen Fällen nur scheinbar oder konstruiert«, was das Beispiel des
Wortes Uhr illustriert, welches niemand als mehrdeutig bezeichnen würde, obwohl
es die Bedeutung der englischen Begriffe clock (Wand-, Standuhr etc., auch für die
Zeitangabe verwendet) und watch (Armbanduhr) abdeckt (137f).
Da die Bedeutung eines Wortes den Bedingungen für seinen Gebrauch
entspricht, muss eine Definition alle für den Gebrauch des betreffenden Wortes
gültigen Bedingungen nennen und andererseits nichts als diese Bedingungen (Leisi
134). »Die Definition ist also stets zugleich ein Minimum und ein Maximum«
(ebd.).

1 Semantik ist jener Zweig der Sprachwissenschaft, der sich mit der Bedeutung
sprachlicher Ausdrücke beschäftigt.
2 »Corpus« – oder auch »Korpus« – bedeutet eine solche begrenzte Textmenge, wie
sie etwa im Neuen Testament vorliegt.

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Zur Verdeutlichung möchte ich die Corpus-Methode anhand eines Beispieles


demonstieren. Stellen wir uns vor, wir müssten eine Definition des Begriffes Feld
erarbeiten – und zwar auf der Basis folgender Belege:
(a) Der Bauer pflügt sein Feld.
(b) Wütend trat der Torwart den Ball über den Rand des Feldes in den
Zuschauerraum hinaus.
Der gemeinsame Nenner lässt sich relativ leicht ermitteln. Daraus ergibt sich ein
erster Definitionsversuch:

Feld bezeichnet eine Bodenfläche, welche durch Grenzen definiert ist.

Nehmen wir nun noch folgenden Beleg dazu, verändert sich die Situation jedoch
merklich:
(c) In einem kräfteraubenden Spurt gelang es ihm schliesslich, das Feld hinter sich
zu lassen.
Das hier gemeinte Feld hat nichts mehr mit einer Bodenfläche zu tun. Die
Definition muss deshalb angepasst, unser Verständnis von Feld erweitert werden.
Ein zweiter Versuch:

(A) Feld bezeichnet einen räumlichen Bereich, welcher sich von seiner direkten
Umgebung unterscheidet, wobei
(B) irrelevant ist, ob zwischen Feld und Umgebung Grenzbezeichnungen
irgendwelcher Art sichtbar sind;
(C) irrelevant ist, in welchen oder wievielen Bereichen das Feld sich von seiner
Umgebung unterscheidet.

Ein erster gemeinsamer Nenner der drei Belege ist die Tatsache, dass alle drei
Felder eine räumliche Dimension haben. Das trifft auch jetzt noch zu, nachdem der
Begriff Bodenfläche sich als zu eng erwiesen hat. Zu Bedingung (B): Beim Acker
wie beim Spielfeld sind Grenzen sichtbar, beim Feld im Rennen jedoch nicht. Das
lässt vermuten, dass die Begrenzung des Feldes gegenüber seiner Umgebung mehr
mit seiner Beschaffenheit zu tun hat als mit geometrischen Linien (Bedingung (C)):
Der Acker könnte sich von seiner direkten Umgebung etwa im Bezug auf seinen
Besitzer unterscheiden oder das Saatgut; das Spielfeld in erster Linie durch den
Umstand, dass es in einer Vereinbarung eben als Spielfeld festgelegt wurde, was für
seine Umgebung nicht zutrifft; das Feld im sportlichen Wettkampf schliesslich
zeichnet sich durch eine besondere Dichte von Sportlern aus.
Doch es gibt noch mehr Felder:
(d) Nach eineinhalb Tagen zäher Verhandlungen blieb ihnen schliesslich nichts
anderes übrig, als das Feld zu räumen und den Auftrag der Konkurrenz zu
überlassen.
Hier liegt etwas vor, was wir als »übertragene Bedeutung« bezeichnen. Es geht
nicht mehr um räumliche Verhältnisse und in Metern messbare Grenzen. Es sieht
also ganz so aus, als müssten wir uns vom Wort räumlich in der ersten Zeile unserer
Definition verabschieden. Und doch kann auch dieses Feld geräumt werden . . . .
Soviel zu diesem Beispiel.
Ein wichtiges Werkzeug auf dem Weg zur treffenden Definition ist das Gefühl,
das C. S. Lewis semantisches Unbehagen3, genannt hat (Leisi 123; 137). Dieses Empfin-
den weist darauf hin, dass mit der Bedeutung bzw. der Definition »etwas nicht
stimmt« und lässt den Forscher solange nicht zur Ruhe kommen, bis sich die

3 Übersetzung des von Lewis in Studies in Words verwendeten Begriffs semantic


discomfort durch Ernst Leisi.

4
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Definition ohne Gefühl des Unbehagens in sämtliche Belege einsetzen lässt. Der
Ansatz des semantischen Unbehagens zeigt, dass der Kampf um die treffende
Definition nicht primär mit dem Durchexerzieren eines festgelegten Programmes
zu tun hat, sondern eher einem Wachstumsprozess ähnelt – und sich entsprechend
bei jedem Begriff wieder etwas anders gestaltet.
Für die Analyse der zehn Begriffe aus dem Wortfeld Erkennen (mehr zum
Thema Wortfeld im nächsten Abschnitt), die in den untersuchten Texten vorkom-
men, habe ich alle Belege dieser Begriffe aus dem Corpus Paulinum4 beigezogen.
Wo die Zahl der Belege sehr gering war, habe ich den Rahmen auf das gesamte
Neue Testament erweitert, worauf ich an den betreffenden Stellen hinweise.

1.1.2. Wortfelder

Die so genannte Wortfeldtheorie bemüht sich darum, dem komplexen Wesen der
Sprache gerecht zu werden, indem sie Wortbedeutungen nicht isoliert an einzelnen
Begriffen untersucht, sondern bedeutungsmässig verwandte Wörter in Beziehung
zueinander betrachtet und darstellt. Unter einem Wortfeld versteht man eine
Gruppe von Wörtern, die sich einem gemeinsamen Oberbegriff zuordnen lassen.
Das Wortfeld Garen von Speisen würde demnach Begriffe wie dünsten, kochen, braten,
frittieren, backen, dämpfen etc. beinhalten.
Das Anliegen der Wortfeldtheorie trägt einem wichtigen Aspekt des Wesens
unserer Sprache Rechnung: Sie ist mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Ihre
Bausteine dürfen nicht künstlich voneinander getrennt werden; jedenfalls nicht,
solange wir daran interessiert sind, wirklich zu verstehen, also zum beabsichtigten
Inhalt zu gelangen. Dies gilt für Sätze und ganze Texte (jeder Bibelausleger weiss,
dass er zum rechten Verständnis eines Verses auch dessen Kontext zu beachten
hat) wie auch für einzelne Begriffe. Heiss kann ganz unterschiedlichen Temperatur-
werten entsprechen, abhängig davon, ob mir jemand die aktuelle Wettersituation
schildert oder mich davor warnt, mit der Hand die Herdplatte zu berühren. Ein
Wort ist nicht mit einer »Bedeutung« gleichzusetzen, wie es in einer mathema-
tischen Gleichung möglich ist, in der sich zwei Werte dies- und jenseits des
Gleichheitszeichens gegenüberstehen. Heiss erhält als Aussage oder Warnung für
mich erst dann einen Wert, wenn ich es zum einen in seinen (Wetter- oder Herd-
platten-) Kontext setzen kann und zum anderen über eine Gruppe von verwandten
Begriffen verfüge, aufgrund derer ich heiss einen Wert zuordnen kann. Solche
Begriffe wären hier kalt, warm etc. – das Wortfeld der Temperaturbegriffe.
In den meisten Fällen allerdings sind Wortfelder nicht so klar zu überblicken
oder abzugrenzen wie in diesem Beispiel. Dies wird sich auch in der Arbeit am
Wortfeld Erkennen zeigen. Schon die Begriffsgruppe kalt, warm, heiss zeigt, dass die
Grenzen zwischen den Einzelbegriffen nicht mit dem Lineal zu ziehen sind. Wo
hört warm auf, wo fängt heiss an? – Immerhin lassen diese Wörter sich in einer logi-
schen Reihe anordnen, was bei den meisten Wortfeldern nicht möglich ist. Bedeu-

4 »Corpus Paulinum« steht für alle von Paulus verfassten Schriften des Neuen
Testaments (Römer bis Philemon). Diese Schriften variieren stilistisch teilweise
beträchtlich, was besonders für die Pastoralbriefe (1Tim, 2Tim, Tit) gilt. Dies trifft
allerdings auf jede Art von Textkorpus zu, da die Umstände der Entstehung eines
einzelnen Textes immer einzigartig sind. Unterschiede sind besonders dann zu
erwarten, wenn die Texte über einen längeren Zeitraum verteilt entstanden sind.
Dennoch verspricht eine Definition, die sich an allen Belegen des Korpus orientiert,
ein zuverlässiges Bild der Verwendungsweise des Begriffs durch den Autor.

5
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tungen überschneiden sich, Felder enthalten Lücken5. Auch sind Wortfelder nicht
allgemeingültig festgelegt und abgegrenzt. Das Erkennen und Benennen der Felder
ist vielmehr Teil der jeweiligen Untersuchung. Ich ordne hier also jene Begriffe
dem Wortfeld Erkennen zu, die meinem Empfinden gemäss dazu gehören sollten.6
Dennoch vermag die parallele Betrachtung der Begriffe eines Wortfeldes der
sprachlichen Realität eher gerecht zu werden als die isolierte Analyse eines einzel-
nen Wortes.
Dieser Behauptung liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Art, wie wir uns
sprachlich ausdrücken, fest mit unserer Sicht der Dinge, unserer Weltanschauung
verbunden ist. Die breite Perspektive auf ein Wortfeld, der Blick auf die Begriffe,
die innerhalb eines Textkorpus in verwandtschaftlicher Beziehung zueinander ste-
hen, bringt deshalb Einsicht in die Vorstellungen des Autors. Mit der Überzeugung,
dass der Verfasser mit seinen Texten – und damit der Verwendung bestimmter
Wörter und Gruppen von Wörtern – ein klares Ziel verfolgte, machen wir uns des-
halb daran, seinen grundlegenden Ideen auf die Spur zu kommen.

1.2. Wortstudien und Definitionen

1.2.1. Einleitung

Im Folgenden nun lege ich nacheinander Definitionen der zehn Begriffe aus den
paulinischen Gebetstexten vor, die ich dem Wortfeld Erkennen zuordne. Die Defi-
nitionen basieren auf der oben beschriebenen Corpus-Methode und nennen die Be-
dingungen für den Gebrauch des jeweiligen Begriffes, die für alle Belege aus dem
Corpus Paulinum (oder dem Neuen Testament, wo angemerkt) gelten. Sie entspre-
chen nicht einem Wörterbucheintrag und bieten ganz bewusst keine Auswahl an
möglichen Übersetzungen oder Bedeutungsvarianten, wie sie etwa zu verschiede-
nen Zeiten oder in verschiedenen Kontexten üblich waren.
Folgende Tabelle zeigt eine Übersicht der definierten Begriffe.

Anzahl Belege
Roh-
Begriff
übersetzung Total Corpus
Gebetstexte übriges NT
Paulinum

avpoka,luyij »Offenbarung« 1 13 5
(apokalypsis)
ginw,skw »wissen« 1 50 172
(ginosko)

gnw,sij »Wissen« 1 23 6
(gnosis)

5 Linke u. a. weisen auf die Löcher in der Gruppe der Adjektive hin, welche den
Mangel an Fähigkeit zur Sinneswahrnemung bezeichnen: Neben blind oder stumm
fehlen uns Begriffe für nicht schmecken können oder nicht riechen können (156).
6 Mit dem Greek-English Lexicon of the New Testament Based on Semantic Domains haben
Johannes P. Louw und Eugene A. Nida ein Wörterbuch zum Neuen Testament ver-
fasst, das seine Einträge nach Wortfeldern geordnet präsentiert. Viele Einträge er-
scheinen dabei in zwei oder mehreren Feldern. Sieben der zehn von mir gewählten
Begriffe ordnen Louw und Nida unter anderem dem Wortfeld Wissen zu (welches
insgesamt 83 Begriffe umfasst), zwei dem Wortfeld Verstehen und einen Lernen und
Denken.

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Anzahl Belege
Roh-
Begriff
übersetzung Total Corpus
Gebetstexte übriges NT
Paulinum

dokima,zw »beurteilen« 1 17 5
(dokimazo)

evpi,gnwsij »Erkenntnis« 4 15 5
(epignosis)

katalamba,nw »erfassen« 1 7 8
(katalambano)

oi,vda »wissen« 1 103 215


(oida)

sofi,a »Weisheit« 2 28 23
(sophia)

su,nesij »Verständnis« 1 5 2
(synesis)

fwti,zw »erhellen« 1 4 7
(photizo)

Ebenfalls dem Wortfeld Erkennen zuzuordnen ist der Begriff aiv,sqhsij (aisthe-
sis), den Paulus in Phil 1,9 verwendet – und leider nur dort: »Und um dieses bete
ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr überreich werde in Erkenntnis und aller
Einsicht (aiv,sqhsij) . . . .« Da auch die übrigen Autoren der neutestamentlichen
Schriften auf die Verwendung dieses Begriffes verzichtet haben, werde ich bezüg-
lich einer Definition dasselbe tun: verzichten. Es liegt auf der Hand, dass aufgrund
eines einzelnen Beleges keine Definition erarbeitet werden kann, die den Bedin-
gungen für den Gebrauch dieses Wortes gerecht wird.
Die bewusst knapp formulierten Definitionen teile ich in einzelne Sätze auf,
von denen jeder eine Bedingung für den Gebrauch beschreibt. Ihnen folgen einige
Abschnitte, welche die einzelnen Sätze erläutern und anhand der Vorkommen im
Text illustrieren. Bei einigen Begriffen wird die Definition durch den Hinweis auf
problematische Belege oder andere Fragen abgeschlossen.

1.2.2. Definitionen

1.2.2.1. avpoka,luyij (apokalypsis – »Offenbarung«)

13 Belege im Corpus Paulinum: Röm 2,5; 8,19; 16,25; 1Kor 1,7; 14,6.26;
2Kor 12,1.7; Gal 1,12; 2,2; Eph 1,17; 3,3; 2Thes 1,7.

(A) Das Substantiv avpoka,luyij (apokalypsis) bedeutet das Wahrnehmbarwerden


Gottes oder dessen, was Gottes ist, wobei
(B) der Vorgang ganz auf der Initiative Gottes beruht;
(C) der Mensch Ziel dieser Initiative ist.

(A) Zunächst geht es darum, dass der an sich nicht wahrnehmbare Gott wahr-
nehmbar wird, bzw. einen Teil Seines Wesens, Denkens oder Handelns wahrnehm-
bar macht. Wenn Paulus davon berichtet, wie er die Botschaft der Versöhnung mit
Gott empfangen hat, nämlich durch »Offenbarung (avpoka,luyij, apokalypsis) Jesu
Christi« (Gal 1,12), dann wird deutlich: Gott selbst hat dem Apostel Einblick in

7
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Seine Pläne zur Rettung der Menschen geschenkt. Weder durch intellektuelle noch
irgendwelche andere Anstrengungen wäre es Paulus möglich gewesen, zu diesen
Einsichten zu gelangen. Auch die Verwendung von avpoka,luyij für die Wiederkehr
Jesu unterstreicht diesen Aspekt: Während die Herrschaft Jesu jetzt noch
weitgehend verborgen ist, wird sie am Tag Seiner Rückkehr offenbar sein
(2Thes 1,7; 1Kor 1,7).
(B) Jede Initiative, die Distanz zu überbrücken, die den Menschen von Gott
trennt, muss von Gott kommen. Auch diese Bedingung wird im Kontext der
Wiederkehr Jesu deutlich: Gott allein legt das Wann oder Wie dieses Ereignisses
fest (Mt 24,36; Apg 1,7). Seine Souveränität bleibt unangetastet. Er ist es, der sich
offenbart und nicht der Mensch, der Ihn aus dem Verborgenen hervorzerrt.
(C) Dass Gottes Wesen (und damit auch sein Denken und Handeln) ganz auf
den Menschen ausgerichtet ist, bleibt von der ersten Seite der Bibel an sichtbar.
Naheliegend deshalb, dass Gott sich nicht dem leeren Raum wahrnehmbar macht
und Seine Offenbarungen ins All schiesst, sondern dass das Ziel Seines Redens das
zur Gemeinschaft erschaffene Gegenüber ist. Die Offenbarung des Evangeliums,
die Paulus empfing (Gal 1,12), schwebte nicht als orientierungslose Botschaft durch
den Äther, sondern hatte eine klare Bestimmung, und die hiess – Paulus.
Die Wertung des Begriffs als positiv oder negativ (bzw. das Ausbleiben dieser
Wertung), wie sie bei den folgenden Definitionen eine Rolle spielt, schliesse ich hier
aus. Da der Vorgang seinen Ursprung in Gott hat, gibt es für eine solche Wertung
keinen Massstab.
In 1Kor 14,26, 2Kor 12,1.7 und Gal 2,2 bezieht avpoka,luyij (apokalypsis) sich
auf den Inhalt, der auf der Basis eines Wahrnehmbarwerdens Gottes empfangen
wurde. Die Verwendung der Pluralform in zwei der vier Belege verdeutlicht das: Es
geht um Offenbarungen, einzelne Wahrheiten also; ähnlich einzelnen gelernten
Wörtern einer Fremdsprache. Ich vermute, dass es sich bei diesem Gebrauch von
avpoka,luyij um eine übertragene Verwendung handelt, bei dem das »Gefäss«
stellvertretend für seinen »Inhalt« genannt wird7 – wie im Deutschen in der
Wendung ein Glas trinken oder ein gutes Buch lesen.

1.2.2.2. ginw,skw (ginosko – »wissen«)

50 Belege im Corpus Paulinum: Röm 1,21; 2,18; 3,17; 6,6; 7,1.7.15; 10,19; 11,34;
1Kor 1,21; 2,8 (2 Belege); 2,11.14.16; 3,20; 4,19; 8,2 (3 Belege); 8,3; 13,9.12; 14,7.9;
2Kor 2,4.9; 3,2; 5,16 (2 Belege); 5,21; 8,9 13,6; Gal 2,9; 3,7; 4,9 (2 Belege);
Eph 3,19; 5,5; 6,22; Phil 1,12; 2,19.22; 3,10; 4,5; Kol 4,8; 1Thes 3,5; 2Tim 1,18;
2,19; 3,1

(D) Das Verb ginw,skw (ginosko) bedeutet, ein Objekt8 zu erkennen und dann zu
kennen, wobei
(A) das Resultat (und nicht der Erkenntnisprozess) im Vordergrund steht (auch
wenn es noch nicht eingetroffen bzw. erreicht ist), während
(B) der Grad oder die Natur des Vertrautseins irrelevant sind;
(C) irrelevant ist, ob es sich bei dem Objekt um einen Sachverhalt oder eine
Person handelt;
(D) der Begriff wertneutral verwendet wird.

7 Diese verbreitete sprachliche Erscheinung wird Metonymie genannt.


8 Mit Objekt und Subjekt meine ich die am Vorgang der Wahrnehmung, des Erken-
nens etc. beteiligten Parteien. Die Begriffe beziehen sich nicht auf Satzglieder.

8
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(A) (B) Wer sich um Erkennen bemüht, bzw. sich darauf einlässt, der verfolgt als
Ziel im Normalfall die Kenntnis oder das Wissen um eine Sache oder eine Person.
Auch hier steht entsprechend das erreichte oder angestrebte Wissen im Zentrum.
Wenn Paulus den Korinthern mitteilt, er habe ihnen geschrieben, »dass ich eure
Bewährung kennenlerne« (2Kor 2,9), dann drückt die deutsche Übersetzung wohl
einen Vorgang aus; worum es dem Apostel aber eigentlich geht, ist doch, über die
geistlichen Qualitäten seiner Kinder informiert zu sein. Sein Ziel ist es, mit einem
Sachverhalt vertraut zu sein.9
(C) Die Texte, in denen Paulus ginw,skw (ginosko) verwendet, weisen auf sehr
unterschiedliche Stärken dieses Vertrautseins hin. Der Vorwurf an alle Menschen,
Gott nicht verherrlicht zu haben, obwohl sie Ihn doch kannten (Röm 1,21), bezieht
sich auf ein wohl eher oberflächliches Bescheidwissen. Ruft der Apostel hingegen
dazu auf, Christus »und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner
Leiden zu erkennen« (Phil 3,10), ist zu spüren, dass hier der Kern der menschlichen
Existenz berührt wird. Auch der Weg dorthin, nämlich »seinem Tod gleichgestal-
tet« zu werden, lässt keinen Zweifel daran, dass es hier um mehr geht als um blosse
Sachkenntnis. Genau darauf bezieht sich auch die Frage nach der Natur der Kennt-
nis: Ginw,skw kann sowohl für intellektuelles Wissen (etwa was die Umstände des
Paulus betrifft, Eph 6,22) wie auch für jene Art von Vertrautsein stehen, die wir
unserer Vorstellung gemäss eher im Herzen ansiedeln würden (wenn es beispiels-
weise um die »die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus« geht, Eph 3,19).
(D) Ob oberflächliche Kenntnis oder tiefes Vertrautsein – Objekt kann auf
jeden Fall eine Person oder eine Sache sein. Es ist also nicht so, dass sächliche
Objekte mit niedrigen Graden des Vertrautseins verbunden wären – und persön-
liche entsprechend mit höheren. Eine solche Regelmässigkeit ist nicht feststellbar.
So heisst es in 2Kor 5,21 von Christus, dass Er die Sünde nicht kannte, womit na-
türlich nicht die theoretische Kenntnis, sondern vielmehr das wesensmässige
Anteilhaben gemeint ist.
(E) Die Verwendung von ginw,skw (ginosko) geschieht sowohl im positiv wie
auch im negativ zu wertenden Kontext. Der Begriff selbst trägt also keine
Wertung10.

1.2.2.3. gnw,sij (gnosis – »Wissen«)

23 Belege im Corpus Paulinum: Röm 2,20; 11,33; 15,14; 1Kor 1,5; 8,1 (2 Belege);
8,7.10.11; 12,8; 13,2.8; 14,6; 2Kor 2,14; 4,6; 6,6; 8,7; 10,5; 11,6; Eph 3,19; Phil 3,8;
Kol 2,3; 1Tim 6,20.

(A) Das Substantiv gnw,sij (gnosis) bedeutet das, was jemand gesehen, erkannt,
verstanden hat und jetzt weiss, wobei
(B) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt des Wissens um einen
Sachverhalt/abstrakten Gegenstand oder eine Person (im Korpus Gott oder
Christus) handelt;
(C) dieses Wissen nicht bewertet wird.

9 Wenn Paulus in 1Kor 13,9 und 13,12 sein Erkennen als stückweise bezeichnet, steht
das in keinem Widerspruch zu Bedingung (B). Das Bild eines Mosaiks verdeutlicht,
worum es hier geht: Wird ein weiterer Stein ins Mosaik eingesetzt, ist dieses
deswegen noch lange nicht fertig, der Stein jedoch ist als vollständiges Stück eingefügt.
Was Paulus also erkennt, ist immer nur ein Teil; doch der Teil, den er jetzt kennt,
den kennt er tatsächlich.
10 Wie eine solche Wertung aussehen kann, zeigt sich etwa in Bedingung (E) der
Definition des Begriffs evpi,gnwsij (epignosis, S. 11).

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(A) Wie im vorausgehenden Abschnitt beim Verb ginw,skw (ginosko), liegt auch
beim verwandten Substantiv gnw,sij (gnosis) auf der Hand, dass hinter dem beste-
henden Wissen ein Prozess des Erkennens steht. Oft sind diese beiden Ebenen nur
schwer auseinander zu halten, und die deutsche Übersetzung macht das in vielen
Fällen nicht leichter. Wenn Paulus aber behauptet, zwar ein »Unkundiger in der
Rede« zu sein, jedoch »nicht in der Erkenntnis« (2Kor 11,6), dann geht es ihm
offensichtlich um erworbenes Verständnis, das ihm jetzt in seiner Position zur
Verfügung steht.
Was diesen Aspekt der Abgeschlossenheit betrifft, kann die Verwendung von
gnw,sij (gnosis) mit Gott als Objekt Fragen aufwerfen: »Wie können wir Gott
gesehen, erkannt, verstanden haben und Ihn jetzt kennen?« Klingt nach Schubladi-
sierung, nach der Kontrollierbarkeit Gottes. – Darum geht es selbstverständlich
nicht. Worum es aber geht, ist die Selbstfassbarmachung Gottes; darum, dass wir
Gott tatsächlich erkennen können. Das Gebet des Paulus um Erkenntnis Gottes
für seine Gemeinden wäre eine Farce, wenn es ihm dabei um ein zielloses Bemü-
hen um Erkenntnis ginge, ein Unterwegssein ohne Hoffnung auf Ankommen. Das
jedoch meint der Apostel sicher nicht, wenn er alles für einen Verlust ansieht, »um
der unübertrefflichen Grösse der Erkenntnis (gnw,sij) Christi Jesu« willen
(Phil 3,8).
(B) Das Objekt dieses Verständnisses kann persönlich sein und sich entweder
auf Gott oder auf Christus beziehen (2Kor 10,5; Phil 3,8 u. a.), oder aber es be-
zeichnet einen Sachverhalt. Dieser wird oft gar nicht genannt, der Kontext macht
aber deutlich, dass gnw,sij sich auf erkannte Inhalte bezieht (s. etwa 1Tim 6,20).
(C) Der Anspruch, dass jede Bedingung für jeden einzelnen Beleg gültig sein
muss, führt hier zum Schluss: Paulus wertet gnw,sij (gnosis) nicht. Dieses Wissen
ist für ihn weder an sich gut noch grundsätzlich schlecht. Grund für dieses Resultat
ist ein einziger Beleg, 1Kor 8,1, in dem gnw,sij zweimal vorkommt, das zweite Mal
mit eindeutig negativem Beigeschmack: »Erkenntnis bläht auf.« Würde dieser Beleg
fehlen, könnte man davon ausgehen, dass Paulus diesen Begriff konsequent mit
einem positiven Unterton verwendet. Jetzt aber muss die Bedingung lauten: Keine
Wertung.

1.2.2.4. dokima,zw (dokimazo – »beurteilen«)

17 Belege im Corpus Paulinum: Röm 1,28; 2,18; 12,12; 14,22; 1Kor 3,13; 11,28;
16,3; 2Kor 8,8.22; 13,5; Gal 6,4; Eph 5,10; Phil 1,10; 1Thes 2,4 (2 Belege); 5,21;
1Tim 3,10.

(A) Das Verb dokima,zw (dokimazo) bedeutet, die Beschaffenheit eines Objektes
erkennbar zu machen und zu beurteilen, wobei
(B) die Beurteilung (die Einordnung in ein Wertesystem) das Ziel des Vorganges
darstellt;
(C) die Erwartung eines positiven Resultates vorherrscht;
(D) der Vorgang positiv bewertet wird;
(E) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt um eine Person (einen Menschen), ihre
Eigenschaften oder einen Sachverhalt handelt.

(A) Die Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit dem »Feuer der
Prüfung« (1Kor 3,13) verdeutlicht diesen Aspekt: Die Hitze zeigt die Beschaffen-
heit des Materials und »beurteilt« es, indem nur die qualitativ guten Bestandteile den
Prozess überhaupt überstehen.
(B) Das Erkennbarmachen, die Entblössung dessen, was sonst verborgen ist,
geschieht nicht um seiner selbst willen, sondern ist fest mit einem Ziel verknüpft:

10
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der Beurteilung der Beschaffenheit. Der Mensch, der sich selbst prüft, bevor er am
Mahl des Herrn teilnimmt, will zum Ergebnis kommen, dass der Befund den
Anforderungen entspricht (1Kor 11,28). Und auch bei den Mitarbeitern, die ge-
prüft werden sollen, geht es darum, zu erkennen, ob sie untadelig und damit
tauglich für den Dienst sind (1Tim 3,10).
(C) Offensichtlich erwartet Paulus, dass die Beurteilung ein positives Resultat
mit sich bringt. Was die Korinther betrifft, die er zur Selbstprüfung auffordert
(2Kor 13,5), geht er jedenfalls davon aus, dass sie so erkennen werden, »dass Jesus
in euch ist«. Wenn das kein positives Ergebnis ist! Das bedeutet freilich nicht, dass
immer nur Positives zum Vorschein kommt. Nachdem aufgrund der Prüfung
jedoch das Schlechte vom Guten unterschieden werden kann, wird dieses (das
Gute eben) hervorgehoben und dient dann als Grundlage für weiteres Gutes. Dies
ist beim Dienst jener der Fall, die als »tauglich« oder »eifrig« beurteilt worden sind
(1Thes 2,4; 2Kor 8,22).
(D) Es gibt keine Belege, die dieser grundsätzlich positiven Wertung von
dokima,zw (dokimazo) widersprechen.
(E) Die Beurteilung eines Menschen bezieht sich jeweils auf Aspekte seines
Wesens oder Handelns, so zum Beispiel auf das menschliche Herz (1Thes 2,4) oder
das Werk des Menschen (1Kor 13,3; Gal 6,4) ganz allgemein. Auch Sachverhalte
werden geprüft: Die Echtheit der Liebe der Korinther (2Kor 8,8) oder der Wille
Gottes. Die Prüfung von Gottes Willen durch den Menschen geschieht dabei auf
einer anderen Ebene. Hier geht es nicht darum, die guten Bestandteile innerhalb
der Absichten Gottes zu finden, sondern diese grundsätzlich guten Absichten von
denjenigen Elementen zu trennen, die sie im Denken des Menschen konkurrenzie-
ren (Röm 12,2; Eph 5,10).

1.2.2.5. evpi,gnwsij (epignosis – »Erkenntnis«)

15 Belege im Corpus Paulinum: Röm 1,28; 3,20; 10,2; Eph 1,17; 4,13; Phil 1,9;
Kol 1,9.10; 2,2; 3,10; 1Tim 2,4; 2Tim 2,25; 3,7; Tit 1,1; Phim 1,6

(A) Das Substantiv evpi,gnwsij (epignosis) bedeutet das Erfassen oder Erfassthaben
eines Objektes mittels Wahrnehmung, wobei
(B) Inhalt und Wesen des Objektes im Vordergrund stehen (nicht seine Form);
(C) das Objekt eine geistliche Komponente hat;
(D) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt des Erfassens um einen
Sachverhalt/abstrakten Gegenstand oder eine Person (im Korpus Gott oder
Christus) handelt;
(E) der Vorgang positiv bewertet wird.

(A) (B) Wahrnehmung ist es, die es überhaupt erst möglich macht, ein Objekt seinem
Wesen nach zu erfassen. Und wenn Paulus von der »Erkenntnis alles Guten«
(Phim 1,6) oder der »Erkenntnis der Wahrheit« (2Tim 2,25; 3,7 u. a.) spricht, dann
wird klar, dass es ihm gerade darum geht. Nicht das fachkundige Begriffenhaben ist
für ihn von Bedeutung, sondern das echte Erfassthaben, das dem Wesen der Sache
gerecht wird.
(C) Paulus bezieht evpi,gnwsij (epignosis) ausschliesslich auf Objekte, die eine
klare geistliche Komponente beinhalten. Negativ formuliert: Es geht ihm nie um
die Kenntnis rein menschlicher Sachverhalte, wie etwa das Wohlergehen der
Briefempfänger oder Ähnliches. Das mit evpi,gnwsij bezeichnete Erkennen verfolgt
ein besonders hohes Ziel.

11
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(D) Paulus bezieht evpi,gnwsij (epignosis) sowohl auf Inhalte (etwa den Willen
Gottes oder das Gute, das in uns im Hinblick auf Christus ist, Phim 6) wie auch auf
Gott oder Christus persönlich11.
(E) Diese Bedingung wird durch die wiederholte Verbindung von evpi,gnwsij
(epignosis) mit Gott oder Christus und mit Wahrheit12 gestützt. Auch die in
Röm 3,20 erwähnte »Erkenntnis der Sünde« stellt einen positiven Wachstumsschritt
dar.

1.2.2.6. katalamba,nw (katalambano – »erfassen«)

Aufgrund der geringen Zahl der Belege im Corpus Paulinum (7), basiert diese Defi-
nition auf den Vorkommen im gesamten Neuen Testament (15): Mk 9,18; Joh 1,5;
8,3.4; 12,35; Apg 4,13; 10,34; 25,25; Röm 9,30; 1Kor 9,24; Eph 3,18; Phil 3,12 (2
Belege); 3,13; 1Thes 5,4.

(A) Das Verb katalamba,nw (katalambano) bedeutet, sich etwas zu eigen zu


machen, wobei
(B) ein Objekt in (durch das Subjekt) definierte Besitz- oder Kontrollverhältnisse
übergeht;
(C) irrelevant ist, in welchem Mass der neue Besitzer aktiv an diesem Vorgang
beteiligt ist;
(D) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt um eine Person, einen (konkreten oder
abstrakten) Gegenstand oder einen Sachverhalt handelt;
(E) die Dauer des neuen Besitz- oder Kontrollverhältnisses irrelevant ist;
(F) dieser Vorgang nicht gewertet wird.

(A) Das Objekt des Vorganges wird ins eigene Leben hereingeholt, hereingetragen
und zu einem Teil dieses Lebens gemacht. Was sich dramatisch liest, kann jedoch
ganz undramatisch sein, etwa dann, wenn es um das Feststellen eines Sachverhaltes
geht: »Als sie aber die Freimütigkeit des Petrus und Johannes sahen und bemerkten
(katalamba,nw, katalambano), dass es ungelehrte und ungebildete Leute seien . . . .«
(Apg 4,13).13
(B) Besitz ist hier natürlich im weitesten Sinn zu verstehen, so weit eben, dass
auch eine gewonnene Erkenntnis darin Platz hat – oder eine Frau, die beim Ehe-
bruch ergriffen (katalamba,nw, katalambano) wurde und jetzt zwar nicht den Schrift-
gelehrten und Pharisäern gehört, mindestens aber unter ihrer Kontrolle steht
(Joh 8,3.4).14

11 Röm 1,28; Eph 1,17; 4,13; Kol 1,10; 2,2


12 1Tim 2,4; 2Tim 2,25; 3,7; Tit 1,1
13 In Eph 3,18 und den Belegen, die inhaltsmässig dieser Stelle am nächsten stehen
(Apg 4,13; 10,34; 25,25), steht das Verb katalamba,nw in der Form des Mediums.
Inhaltlich geht es hier immer um das Verstehen eines Sachverhaltes. Das Medium
hat im Allgemeinen die Funktion, die bezeichnete Tätigkeit enger mit dem Subjekt
zu verbinden. Je nachdem kann es zu wesentlichen Bedeutungsunterschieden
gegenüber den Aktiv- oder Passivformen kommen. Diese wären bei der
Erarbeitung einer Definition zu berücksichtigen. Hoffmann/Siebenthal weisen
jedoch darauf hin, dass die Verwendung des Mediums von katalamba,nw an Stellen
auftritt, an denen eigentlich die aktive Form erwartet werden müsste, weshalb ich
diese Beobachtung hier ausser Acht lasse.
14 Dieser spezielle Kontext legt im Deutschen den Begriff ertappt nahe, der in
verschiedenen Übersetzungen verwendet wird. Man kann sich deshalb fragen, ob
katalamba,nw (katalambano) an dieser Stelle auch dann stehen könnte, wenn die
Frau zwar in flagranti überrascht, dann jedoch geflohen und nicht erfasst worden

12
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(C) Der neue Besitzer oder Kontrollinhaber kann das Objekt aktiv ergriffen
haben, wie es bei der Ehebrecherin aus Joh 8 der Fall ist, oder aber es in eher passi-
ver Haltung empfangen haben. Dies gilt sicher für die Nationen, die Gerechtigkeit
erlangt haben, obwohl sie nicht danach strebten (Röm 9,30).
(D) Diese Bedingung wurde durch verschiedene Beispiele bereits illustriert.
(E) Auch hier ist es die Ehebrecherin, die klar macht, dass es nicht um einen
anhaltenden Kontrollwechsel gehen muss (Joh 8). Paulus hingegen scheint mit der
Verwendung von katalamba,nw (katalambano) immer einen dauerhaften Wechsel
zu meinen, so etwa, wenn er davon spricht, »von Jesus Christus ergriffen zu sein«
(Phil 3,12) oder den »Siegespreis zu empfangen« (1Kor 9,24).
(F) Zwei Belege von den gegenüberliegenden Enden der Werteskala machen
diesen Punkt deutlich: Am einen Ende steht das oben zitierte Ergriffensein von
Christus, am anderen die Klage eines Vaters in Mk 9,18, sein Sohn sei von einem
Dämon ergriffen.

1.2.2.7. oiv,da (oida – »wissen«)

103 Belege im Corpus Paulinum: Röm 2,2; 3,19; 5,3; 6,9.16; 7,7.14.18;
8,22.26.27.28; 11,2; 13,11; 14,14; 15,29; 1Kor 1,16; 2,2.11.12; 3,16; 5,6;
6,2.3.9.15.16.19; 7,16 (2 Belege); 1Kor 8,1.4; 9,13.24; 11,3; 12,2; 13,2; 14,11.16;
15,58; 16,15; 2Kor 1,7; 4,14; 5,1.6.11.16; 9,2; 11,11.31; 12,2 (4 Belege); 2Kor 12,3 (3
Belege); Gal 2,16; 4,8.13; Eph 1,18; 5,5; 6,8.9.21; Phil 1,16.19.25; 4,12 (2 Belege);
Phil 4,15; Kol 2,1; 3,24; 4,1.6; 1Thes 1,4.5; 2,1.2.5.11; 3,3.4; 4,2.4.5; 5,2.12; 2Thes
1,8; 2,6; 3,7; 1Tim 1,8.9; 3,5.15; 2Tim 1,12.15; 2,23; 3,14.15; Tit 1,16; 3,11; Phim
1,21

(A) Das Verb oiv,da (oida) bedeutet, mit einem Objekt vertraut zu sein, wobei
(B) irrelevant ist, ob es sich bei diesem Objekt um einen Sachverhalt oder eine
Person handelt;
(C) der Grad und die Natur der Vertrautheit irrelevant sind;
(D) diese Vertrautheit nicht gewertet wird.

(A) Schon die erste Bedingung zeigt, dass oiv,da nicht scharf von ginw,skw (ginosko,
S. 8) getrennt werden kann. Immerhin ist festzustellen, dass hier der Aspekt des
Wahrnehmungsvorganges noch weiter in den Hintergrund gerückt ist – so dass ich
ihn in der Definition gar nicht mehr erwähne. Die Verwendung des Begriffes in
Verbindung mit dass als Einleitung zu einem Nebensatz stellt die typische Formel
dar, welche die Kenntnis eines Sachverhaltes bezeichnet: »Oder wisst ihr nicht, dass
euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes in euch ist?« (1Kor 6,19).15

wäre. In einem solchen Fall könnte man nur sehr begrenzt von Kontrolle sprechen
(höchstens im Sinne eines Kontrollverlustes der Frau, deren Vergehen nicht mehr
geheim ist). Anstelle der Verhaftung würde dann eher das Wissen um das Vergehen
ins Zentrum der Aussage rücken. – Aufgrund der anderen NT-Belege würde ich die
Verwendung von katalamba,nw im Sinne von ertappen jedoch als eher unwahr-
scheinlich betrachten.
15 Im Versuch, oiv,da (oida) gegnüber ginw,skw (ginosko) abzugrenzen, wird einem be-
wusst, wie stark das Verständnis des griechischen Grundtextes von der vertrauteren
deutschen Übersetzung geprägt wird. So wird oi,dv a in der revidierten Elberfelder
Übersetzung fast durchgehend mit wissen übersetzt, während bei ginw,skw auch
immer wieder von kennen oder erkennen die Rede ist. Es ist daher wichtig, sich zu-
mindest zu bemühen, aufgrund dieser Vorprägung keinen Bedeutungsunterschied
hineinzulesen, wo der eigentliche Gebrauch der Begriffe keinen erkennen lässt. Die
parallele Verwendung der beiden Verben in ein und demselben Vers ohne er-

13
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(B) Oiv,da (oida) wird jedoch auch auf Personen bezogen – auf Gott wie auf
Menschen. In erster Linie geht es dabei um das Kennen dieser Person im eigentli-
chen Sinn. Nicht ganz einfach nachzuvollziehen ist die Verwendung in 1Thes 5,12:
»Wir bitten euch aber, Brüder, dass ihr die anerkennt (oivd, a), die unter euch arbeiten
und euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen.« Wenn wir unser Ver-
ständnis vom Kennen einer Person jedoch etwas erweitern, findet auch diese Ver-
wendung problemlos Platz darin. Eine Person zu kennen heisst schliesslich, ihre
Eigenschaften wahrzunehmen – und anzunehmen. Dies ist nicht unbedingt mit
Gutheissen gleichzusetzen. Den Leiter zu kennen, bedeutet also zu wissen, dass er
nicht nur blond, Rechtshänder, Fussballfan, analytisch, manchmal etwas aufbrau-
send, grundsätzlich optimistisch und von der Farbe blau fasziniert, sondern eben
auch Leiter ist. Damit ist ein wesentlicher Schritt zu dem, was wir als Anerkennen
bezeichnen, getan.
(C) Zu den sächlichen Objekten, die oiv,da (oida) begleiten, gehören die Umstän-
de von Paulus (Eph 6,21), die Schrift (2Tim 3,15), der Schrecken des Herrn
(2Kor 5,11), eine Sprache (1Kor 14,11), die Auserwählung der Brüder (1Thes 1,4)
und andere. Schon diese Vielfalt zeigt, wie unterschiedlich die Beschaffenheit bzw.
die Intensität der Vertrautheit den, der weiss und sein Objekt verbindet. Eine
Verwendung, die oivd, a von ginw,skw (ginosko) unterscheidet, bezeichnet das
Verfügen über eine Fertigkeit – wie es beispielsweise die Kenntnis einer Sprache
darstellt.16
(D) Oiv,da (oida) wird sowohl in positiver (1Kor 11,3) wie in negativer
(1Kor 13,2) Bedeutung verwendet. Der Begriff trägt deshalb keine Wertung.

1.2.2.8. sofi,a (sophia – »Weisheit«)

28 Belege im Corpus Paulinum: Röm 11,33; 1Kor 1,17.19.20.21 (2 Belege);


1,22.24.30; 2,1.4.5.6 (2 Belege); 2,7.13; 3,19; 12,8; 2Kor 1,12; Eph 1,8.17; 3,10;
Kol 1,9.28; 2,3.23; 3,16; 4,5

(A) Das Substantiv sofi,a (sophia) bezieht sich auf ein System theoretischer
Vorstellungen einer Person (Gott oder Mensch), wobei
(B) diese Vorstellungen ihren konkreten Ausdruck im Handeln ihres Besitzers
finden;
(C) irrelevant ist, ob diese praktische Umsetzung ausgeführt wird oder nur in
einer Absicht besteht;
(D) diese Vorstellungen nicht als positiv oder negativ gewertet werden.

(A) (B) Mehr als für einen einzelnen Sachverhalt oder eine Idee steht sofi,a (so-
phia) für eine Gruppe – oder eben ein System – von Vorstellungen. Der Aspekt,
welcher die sofi,a dann aber tatsächlich zur sofi,a macht, ist ihre Verbundenheit
mit dem Leben. Die häufige Verknüpfung des Begriffs mit Verben, die mehr oder
weniger handfeste Handlungen bezeichnen zeigt das: Diese Weisheit steht in
engem Zusammenhang mit Reden, Predigen, Gott Erkennen, Wandeln (womit das
Leben selbst gemeint ist), Lehren, Ermahnen. All dies geschieht in, mit oder durch

kennbare Absicht gegenseitiger Ergänzung oder Abgrenzung unterstreicht dies


(Röm 7,7; 1Kor 2,11; 2Kor 5,16; Eph 5,5).
16 Eine entsprechende Verwendung von wissen ist uns auch im Deutschen bekannt:
»Er weiss sich nicht zu helfen.« Bzgl. Sprachkompetenz zeigt das Französische mit
savoir (wissen) dasselbe Muster: »Savoir le chinois.« (»Chinesisch können.«)

14
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Weisheit (s. etwa Kol 3,16; 1Kor 1,17 u. a.).17 Das gilt selbst für Gott. Denn wo
Paulus von der Weisheit Gottes spricht, geht es stets um dessen Handeln: ». . . wir
reden Gottes Weisheit (sofi,a) in einem Geheimnis, die verborgene, die Gott
vorherbestimmt hat, vor den Zeitaltern, zu unserer Herrlichkeit« (1Kor 2,7). Bei
dem, was Gott »vorherbestimmt hat«, kann es sich hier nur um die Umsetzung
Seines Vorhabens zur Rettung der Menschen handeln. Auch Eph 1,7f zeigt diese
Verbindung zwischen der Weisheit Gottes und Seinem (Heils-) Handeln: »In ihm
haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach
dem Reichtum seiner Gnade, die er uns reichlich gegeben hat in aller Weisheit und
Einsicht.«18
(C) Während Gottes Weisheit in Seinem Handeln klar zum Ausdruck gekom-
men ist und weiterhin kommt, kann dies von der Weisheit der Menschen nicht
immer gesagt werden. In 1Kor 1,21 spricht Paulus davon, dass »die Welt durch die
Weisheit Gott nicht erkannte.« Der Kern der Aussage liegt also gerade darin, dass
diese Weisheit sich als untauglich für die Praxis (der Gotteserkenntnis) erwiesen hat
– allen guten Absichten zum Trotz.
(D) Dieses Negativbeispiel von Weisheit (1Kor 1,21) macht gleichzeitig klar,
dass der Begriff an sich nicht gewertet wird. Stattdessen mutet Paulus uns die
zweimalige Verwendung desselben Wortes in einem Satz zu, einmal positiv und
einmal in negativer Bedeutung: »Denn weil in der Weisheit Gottes die Welt durch
die Weisheit Gott nicht erkannte, hat es Gott wohlgefallen, durch die Torheit der
Predigt die Glaubenden zu erretten« (1Kor 1,21).

1.2.2.9. su,nesij (synesis – »Verständnis«)

Aufgrund der geringen Zahl der Belege im Corpus Paulinum (5), basiert diese Defi-
nition auf den Vorkommen im gesamten Neuen Testament (7): Mk 12,33; Lk 2,47;
1Kor 1,19; Eph 3,4; Kol 1,9; 2,2; 2Tim 2,7.

(A) Das Subtantiv su,nesij (synesis) bezeichnet das Vertrautsein mit


Sachverhalten, wobei
(B) weder das Vertrautsein noch dessen Inhalte als positiv oder negativ
gewertet werden.

(A) Die Objekte dieses Vertrautseins sind immer sächlich. Sie stellen Sachverhalte
dar, also Vorstellungen, Ideen, die das Subjekt erfasst, verstanden hat. »Beim Lesen
könnt ihr meine Einsicht (su,nesij, synesis) in das Geheimnis des Christus merken«
(Eph 3,4); und während man sich über den Mangel an Bescheidenheit, den Paulus
hier an den Tag legt, streiten kann, liegt doch auf der Hand, dass es dem Apostel
um diejenigen Aspekte geht, die er an diesem »Geheimnis des Christus« begriffen
hat.

17 In diesen Rahmen gehört auch 1Kor 12,8, wo Paulus vom Wort der Weisheit spricht.
Interessant ist, dass diese Wortverbindung im ganzen NT nur hier vorkommt – eine
etwas dürftige Basis für die Systematisierungs- und Schubladisierungsversuche die
im Bezug auf dieses spezielle Wirken des Heiligen Geistes immer wieder unternom-
men werden – gerade auch in Abgrenzung zum an derselben Stelle erwähnten Wort
der Erkenntnis (für welches das Neue Testament ebenfalls keine weiteren Belege bie-
tet).
18 Zu Bedingung (B) ist noch anzumerken, dass die Bindung an die Handlungen des
Subjekts nicht für den Ursprung der sofi,a (sophia) gilt. Es geht also nicht einfach
um Lebenserfahrung, die wir ja oft als »Weisheit« bezeichnen. Für den Christ ist der
Ursprung seiner Weisheit Gott (1Kor 1,30; Kol 2,2f). Darüber hinaus scheint
Paulus an der Quelle der sofi,a nicht interessiert zu sein.

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(B) Wenn Paulus mit demselben Begriff, den er für seine Einsichten in das
»Geheimnis des Christus« verwendet, auch das »Verständnis der Verständigen«
bezeichnet, den Gott verwerfen wird, dann ist offensichtlich, dass su,nesij (synesis)
an sich keine Wertung trägt.
Die deutschen Übersetzungen Verständnis oder Verstand können in einzelnen
Kontexten den Eindruck erwecken, su,nesij bezeichne die Fähigkeit zu verstehen und
nicht das Vertrautsein mit einem Sachverhalt, das auf bereits abgeschlossenem Ver-
stehen beruht: »Alle aber, die ihn hörten, gerieten ausser sich über sein Verständnis
und seine Antwort« (Lk 2,47). Hier könnte tatsächlich gemeint sein, dass die Menge
sich über die intellektuelle Potenz des jungen Jesus wunderte. Diese Sicht ist aber
keineswegs zwingend. (Mindestens) ebenso gut nachvollziehbar ist, dass sie in
Erstaunen geriet darüber, was dieser Junge bereits erfasst, verstanden und zu einem
Teil seines Denkens und seiner Vorstellungen gemacht hatte – und jetzt in der
geeigneten Situation zum Besten gab.

1.2.2.10. fwti,zw (photizo – »erhellen«)

Aufgrund der geringen Zahl der Belege im Corpus Paulinum (4), basiert diese Defi-
nition auf den Vorkommen im gesamten Neuen Testament (11): Lk 11,36; Joh 1,9;
1Kor 4,5; Eph 1,18; 3,9; 2Tim 1,10; Hebr 6,4; 10,32; Offb 18,1; 21,23; 22,5.

(A) Das Verb fwti,zw (photizo) bedeutet, Wahrnehmung zu ermöglichen, wobei


(B) ein Objekt in einen Zustand versetzt wird, in welchem diese Wahrnehmung
möglich ist;
(C) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt um den Wahrnehmenden oder das
Wahrgenommene handelt;
(D) der Vorgang positiv gewertet wird.

(A) Ohne Licht können wir nichts sehen. Und die Ermöglichung des Sehens ist das
Ziel von fwti,zw (photizo) in dessen Wurzel das griechische fw,j (phos) zu erken-
nen ist – Licht. Sehen ist hier allerdings in einem weiteren Sinn zu verstehen, wie wir
es auch im Deutschen tun, wenn wir davon sprechen, dass blinde Menschen »mit
ihren Händen sehen« oder unserer Freude über die plötzliche »Erleuchtung« mit
den Worten kommentieren: »Jetzt sehe ich's!«
(B) Durch diesen Vorgang wird also etwas sichtbar oder erkennbar – und zwar
dort, wo vorher nichts sichtbar oder erkennbar war: ». . . den Nationen den unaus-
forschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen und ans Licht zu bringen
(fwti,zw, photizo), was die Verwaltung des Geheimnisses sei, das von den Zeit-
altern her in Gott, der alle Dinge geschaffen hat, verborgen war« (Eph 3,8b-9).
(C) Diese Bedingung fordert unser Sprachgefühl etwas heraus, wird anhand von
zwei Beispielen aber klar (also gewissermassen hell): »Das war das wahrhaftige
Licht, das, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet« (Joh 1,9). Und dann:
». . . durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus, der den Tod zunichte
gemacht, aber Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evange-
lium« (2Tim 1,10). Zu einem Wahrnehmungsvorgang gehören zwei Elemente: Et-
was, das wahrgenommen wird und einer, der wahrnimmt. Fwti,zw (photizo) nun
kann sich auf das eine wie auch auf das andere Element beziehen und bedeutet im
einen wie im anderen Fall dasselbe, nämlich das Ermöglichen der Wahrnehmung.
(D) Sämtliche Belege stellen diesen Vorgang als etwas Erstrebenswertes und
damit Positives dar.

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1.2.3. Rückblickende Anmerkungen zu den Definitionen

Ich schliesse meine Ausführungen zu den Begriffsdefinitionen mit zwei Beobach-


tungen.
Zunächst fällt auf, wie stark die Bedeutungsbedingungen der einzelnen Begriffe
reduziert werden können. Knapp ausgedrückt: Immer wieder entsteht der Ein-
druck, dass in den Begriffen an sich weniger enthalten ist, als man erwarten würde
– oder als man gemeinhin in ihnen sieht. Ich vermute, dass dies mit unserer christli-
chen Liebe dazu zu tun hat, ein Wort (und damit das eigene Reden) geistlicher und
bedeutungsvoller erscheinen zu lassen, indem man ihm grössere Inhalte zuschreibt,
mehr Gewicht, mehr Wucht. Vielleicht würde es uns gut tun, wieder neu darüber
staunen zu lernen, dass Gott sich uns in den kleinen Wörtern, unseren Menschen-
wörtern offenbart. Die exegetische Arbeit an den paulinischen Gebetstexten in
Eph 1,15-19; 3,14-19; Phil 1,9-11 und Kol 1,9-11 wird Näheres zeigen. Vielleicht
würde es uns auch gut tun, zu lernen, unser Reden über den grossen Gott mit unse-
ren kleinen Wörtern zu gestalten und dazu zu stehen, dass es kleine Wörter sind.
Unsere Wörter.
Die zweite Beobachtung steht in einiger Spannung zur ersten. Anstatt um
Einfachheit geht es hier um schwer fassbare Nuancen, um die Komplexität der
Bedeutung eines Begriffes. In der Definition von avpoka,luysij (apokalypsis) habe
ich auf die »Metonymie« genannte Erscheinung hingewiesen. Dabei wird das Ge-
fäss genannt, obwohl der Inhalt gemeint ist: ein Glas trinken oder ein gutes Buch lesen.
Es scheint nun, als ob diese Unschärfe der Bezeichnung bei verschiedenen Begrif-
fen eine Rolle spielt, so etwa bei su,nesij (synesis) in der Spannung zwischen dem
verstandenen Inhalt und der Kapazität zu verstehen. Bei sofi,a (sophia) treffen der
Vorsatz des Handelns und das Handeln selbst aufeinander. Wir können uns die
Frage stellen, was die Gemeinde den »Gewalten und Mächten in der Himmelswelt«
zu erkennen gibt: Den Plan oder das Handeln Gottes (Eph 3,10)? Auch die in Be-
griffsanalysen fast allgegenwärtige Spannung zwischen Erkannthaben und fort-
schreitendem Erkennen lässt sich nicht einfach auflösen oder wegdefinieren.
Deshalb müssen wir uns fragen, inwiefern es sinnvoll ist, sich hier überhaupt um
eine scharfe Abgrenzung zu bemühen, eine neue Ebene von Fragen aufzuwerfen,
um eine Unschärfe zu beseitigen, welche offenbar sowohl die griechische wie auch
die deutsche Sprache zulassen können. Vermutlich tun auch wir gut daran, diese
Unebenheiten auszuhalten und Abstand von unserem Verlangen zu nehmen, alles
auf Gleichheit zu hobeln.

1.2.4. Das Wortfeld Erkennen im Überblick

Eine der Stärken der Wortfeldtheorie besteht in der Möglichkeit, die Bedeutungs-
beziehungen auch in der optischen Darstellung der Resultate auszudrücken. Fol-
gende Grafik zeigt die untersuchten Begriffe in ihren Beziehungen zueinander. (Zur
Erinnerung: Bei den eingefügten deutschen Begriffen handelt es sich nicht um die
treffendste Übersetzung für das jeweilige griechische Wort, sondern vielmehr um
Orientierungshilfen, welche den Überblick erleichtern sollen.) Die Grafik zeigt drei
Elemente eines erfolgreichen Wahrnehmungsprozesses – und um einen solchen
geht es Paulus ja, wenn er für seine Gemeinden betet. Im linken Oval sind jene
Begriffe zu finden, die mit der Ermöglichung von Wahrnehmung oder der Befähigung
dazu zu tun haben. Das mittlere Oval bezieht sich auf den Vorgang der Wahr-
nehmung selbst. Hier geht es also um die Auseinandersetzung des Wahrnehmenden
mit seinem Objekt. Ganz rechts schliesslich folgen diejenigen Begriffe, die das
Resultat dieses Vorganges bezeichnen. Die Anordnung der Begriffe innerhalb der
jeweiligen Bereiche ist ohne Bedeutung. Die in den Schnittbereichen platzierten

17
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Begriffe verbinden Aspekte zweier Elemente in sich. So umfasst dokima,zw


(dokimazo) sowohl das Sichtbarmachen der Beschaffenheit wie auch deren
Beurteilung. Und wie wir bereits gesehen haben, tragen ginw,skw (ginosko), gnw,sij
(gnosis) und evpi,gnwsij (epignosis) sowohl den Aspekt des Vorganges wie auch den
des Resultates in sich. Sofi,a (sophia) erscheint in der Grafik zweimal. Unter
Ermöglichung und Befähigung bezeichnet es die erfahrbar gewordenen Pläne Gottes,
Bestandteile Seiner Offenbarung. Unter Resultat steht es für die aus der Erkenntnis
entstandene menschliche Weisheit, die theoretische Basis für ein entsprechendes
Handeln.

Elemente eines erfolgreichen Wahrnehmungsprozesses


Ermöglichung Resultat
Befähigung Auseinandersetzung
su,nesij
synesis
»Verständnis«
avpoka,luyij ginw,skw
apokalypsis ginosko
»Offenbarung« »wissen« sofi,a
sophia
sofi,a dokima,zw evpi,gnwsij »Weisheit«
sophia katalamba,nw epignosis
dokimazo
»Weisheit« katalambano »Erkenntnis«
»beurteilen«
»erfassen«
gnw,sij
fwti,zw gnosis oiv,da
photizo »Wissen« oida
»erhellen« »wissen«

Dass diese Schnittmengen überhaupt nötig sind, zeigt die Grenzen, welche auch
dieser Darstellungsform gesteckt sind. Und genau sie sind das Problem: Die
Grenzen. Die Linie der einzelnen Bereich wecken die Illusion von eindeutiger
Abgrenzung, die so aber kaum mehr dem Wesen der Sprache entsprechen als die
herkömmliche lineare Darstellung. Dennoch vermittelt diese Optik durchaus einen
Blick in tatsächliche Bedeutungszusammenhänge, und um dem Wesen der Sprache
noch einen Schritt näher zu kommen, kann die Grafik durch das Weglassen der
Linien angepasst werden:

Elemente eines erfolgreichen Wahrnehmungsprozesses


Ermöglichung Resultat
Befähigung Auseinandersetzung
su,nesij
synesis
»Verständnis«
avpoka,luyij ginw,skw
apokalypsis ginosko
»Offenbarung« »wissen« sofi,a
sophia
sofi,a dokima,zw evpi,gnwsij »Weisheit«
sophia katalamba,nw epignosis
dokimazo
»Weisheit« katalambano »Erkenntnis«
»beurteilen«
»erfassen«
gnw,sij
fwti,zw gnosis oiv,da
photizo »Wissen« oida
»erhellen« »wissen«

18
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Von hier aus folgt nun der Sprung in die biblischen Texte. Die erarbeiteten Be-
griffsdefinitionen müssen der Prüfung im jeweiligen Kontext standhalten und sich
dort als hilfreiche Ergänzung erweisen.

19
2. Vier Gebete

2.1. Epheser 1,15-19: Der Geist der Weisheit und


Offenbarung
»15 Deshalb höre auch ich, nachdem ich von eurer Treue zum Herrn Jesus und von eurer Liebe zu
allen Heiligen gehört habe, nicht auf, 16 für euch zu danken, und ich gedenke eurer in meinen
Gebeten, 17 dass der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Herrlichkeit, euch gebe
den Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis seiner selbst. 18 Er erleuchte die
Augen eures Herzens, damit ihr wisst, was die Hoffnung seiner Berufung, was der Reichtum der
Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen 19 und was die überragende Grösse seiner Kraft an uns,
den Glaubenden, ist, nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke.«

15 Deshalb höre auch ich, nachdem ich von eurer Treue zum Herrn Jesus
und von eurer Liebe zu allen Heiligen gehört habe, nicht auf . . . Paulus setzt
in einer Weise zum Gebet für die Briefempfänger an, welche die verbreitete Sicht,
Gebet wachse in den meisten Fällen aus einer Not heraus, Lügen straft. Es ist das
Gute, welches er im Leben der Gemeinde19 bereits sieht, das den Apostel zur
Fürbitte bewegt. Offensichtlich ist sein Ziel, dass auch hier denen, die haben, noch
mehr gegeben wird (vgl. Lk 19,26). Zwei Begriffe bilden den Kern dieses Aus-
gangspunktes: Glaube und Liebe, und über beide ist viel diskutiert worden. Das
griechische pi,stij (pistis), das hier mit Glaube übersetzt wird, kann auch Treue
bedeuten. Ausserdem gibt es zahlreiche Handschriften, in denen von eurer Liebe
fehlt. Möglicherweise geht es Paulus hier also um Treue in zwei Richtungen: Jesus
und der Gemeinde gegenüber (Barth 146)20. Diese Sichtweise leuchtet ein, da
Glaube ja auf jeden Fall einen konkreten und von aussen wahrnehmbaren Aus-
druck finden muss, ansonsten hätte nicht nur Paulus gar keine Möglichkeit gehabt,
sich darüber zu freuen. Der Ausdruck des Glaubens, auf den er sich hier bezieht,
ist anhaltender Gehorsam – der sich natürlich in den Beziehungen innerhalb der
Gemeinde auswirkt.21 Dies gilt unabhängig davon, ob die auf alle Heiligen zu

19 Mit grosser Wahrscheinlichkeit handelt es sich beim Epheserbrief um ein Rund-


schreiben, das an verschiedene Gemeinden Kleinasiens gerichtet war.
20 Wo ich im Rahmen der Auslegung Autoren zitiere, die im Literaturverzeichnis mit
mehreren Werken vertreten sind, ist – sofern nicht anders vermerkt – immer
derjenige Band gemeint, der sich mit dem jeweiligen biblischen Buch befasst.
21 Lincoln (54) schlägt vor, dass der Zusatz an den Herrn Jesus, der ohne weiteres auch
mit im Herrn Jesus wiedergegeben werden könnte, hier den »Ort« des Vertrauens be-
zeichnet. In diesem Fall ginge es Paulus um die Treue der Leser zu allen Heiligen,
Treue, die so nur in Christus möglich ist.

20
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beziehende Tugend ebenfalls Treue oder aber Liebe ist. Paulus hat auf jeden Fall
allen Grund, sich über ein stabiles Fundament zu freuen. Und da ein Fundament
ohne Aufbau wenig sinnvoll ist, wendet er sich nun diesem zu.
16 . . . für euch zu danken, und ich gedenke eurer in meinen Gebeten.
Seiner Begeisterung gibt der Apostel auch dadurch Ausdruck, dass er nicht nur
betet, sondern auch dankt. Beides tut er offenbar mit viel Ausdauer. Dass er zu den
Christen in Ephesus ein besonders herzliches Verhältnis hatte, zeigt der in
Apg 20,17-38 geschilderte Abschied von den Gemeindeältesten. Da der Ephe-
serbrief aber als Rundschreiben betrachtet werden muss, lässt sich schliessen, dass
Paulus offenbar auch für die anderen, ihm nicht persönlich bekannten Christen
Kleinasiens konsequent gebetet hat. Sein Anliegen dabei: Erkenntnis.
17 . . . dass der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der
Herrlichkeit, euch gebe den Geist der Weisheit und Offenbarung in der
Erkenntnis seiner selbst. Paulus erbittet für seine Leser den Geist der Weisheit
und Offenbarung. Der, von dem er dies erwartet, ist der Gott unseres Herrn Jesus
Christus. Dass es Jesus nicht an Weisheit und Offenbarung gemangelt hat, ist
hinlänglich bekannt22 – sicher auch in Kleinasien. Derselbe Gott, dieser Vater der
Herrlichkeit, soll nun auch die Briefempfänger ausrüsten und inspirieren. Dass Pau-
lus hier von der Herrlichkeit Gottes spricht, könnte ein Hinweis darauf sein, dass es
ihm nicht nur um ein Wirken Gottes, sondern vielmehr um Sein Wesen geht (Gnil-
ka 88).23 Und dieses Wesen ist das Ziel oder der Gehalt der Erkenntnis, die er sei-
nen Lesern ans Herz legt. Ob er mit dem Geist der Weisheit und Offenbarung den
Heiligen Geist meint, ist eine weitere Frage, die schon zu allerlei Kopfzerbrechen
geführt hat. Lincoln (57), Hübner (147) und Best (162-63) argumentieren dafür.
Möglicherweise meint Paulus hier aber auch den menschlichen Geist, der in
zunehmender Weise für die Kommunikation mit dem Geist Gottes begabt werden
soll.24 Für diese Sichtweise würde Eph 1,13 sprechen, wo davon die Rede ist, dass
die Leser den Geist Gottes bereits empfangen haben. Das griechische pneu,ma
(pneuma), das in unserem Text für Geist steht, lässt jedenfalls beides zu. Paulus
verwendet es sogar im selben Vers mit zwei verschiedenen Bedeutungen: »Der
Geist (pneu,ma) selbst bezeugt zusammen mit unserem Geist (pneu,ma), dass wir
Kinder Gottes sind« (Röm 8,16). Dieser Nähe der beiden »Geister« entsprechend
argumentiert Gnilka, dass Paulus hier gar keine klare Linie ziehen will, weil »gött-
liches und menschliches Wirken ineinander [greifen]« (90). Entscheidend ist viel-
mehr das Resultat im Leben der Gläubigen, das in erster Linie aus Weisheit, Offen-
barung und Erkenntnis besteht. Gnilka weist auf die zahlreichen Beispiele hin, die
zeigen, dass Begriffe des Erkennens gehäuft werden, ohne dass ihre Bedeutungsun-
terschiede wesentlich sind,25 und mahnt deshalb zur Zurückhaltung in ihrer
näheren Bestimmung (89-90). Jedenfalls liegt auf der Hand, dass Paulus sich hier
nicht auf spezielle Offenbarungen, also Detailinformationen bezieht, die sich einer

22 Mt 13,54; Mk 6,2; Lk 2,40.52; Joh 8,28; 14,31


23 Hübner weist darauf hin, dass das Alte Testament (eine wichtige Basis für die Per-
spektive des Apostels Paulus) sich nicht mit dem Wesen Gottes auseinandersetzt.
Gott ist vielmehr, was Er tut. Seine Herrlichkeit ist entsprechend »de[r] sich in seiner
›Herrlichkeit‹ offenbarende . . . Gott.« (146)
24 Barth meint, dass die Verwendung von Geist an dieser Stelle dann derjenigen in
Gal 6,1 entsprechen würde, wo vom »Geist der Sanftheit« die Rede ist (148). Dieser
Vergleich hat jedoch seine Grenzen, da Offenbarung ihren Ursprung immer in Gott
hat und es hier also um die Empfänglichkeit des menschlichen Geistes für diese
Offenbarung geht – während »Geist der Sanftheit« sich auf den aktiven Ausdruck
einer inneren Haltung des Menschen bezieht.
25 Gnilka führt 2Mo 31,1; 35,31 und verschiedene ausserbiblische Quellen an (89).

21
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geistlichen Elite erschliessen sollen. Ihm ist daran gelegen, dass die gesamte Ge-
meinde Gott besser kennen lernt. Besonders die Verwendung von Weisheit (sofi,a,
sophia) macht deutlich, dass es ihm hier um mehr geht als um abstrakte Infor-
mationen. (Mehr zu sofi,a S. 14. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wiederhole ich
die Definitionen im Rahmen der Auslegungen.)

(A) Das Substantiv sofi,a (sophia) bezieht sich auf ein System theoretischer
Vorstellungen einer Person (Gott oder Mensch), wobei
(B) diese Vorstellungen ihren konkreten Ausdruck im Handeln ihres Besitzers
finden;
(C) irrelevant ist, ob diese praktische Umsetzung ausgeführt wird oder nur in
einer Absicht besteht;
(D) diese Vorstellungen nicht als positiv oder negativ gewertet werden.

Bedingung (B) enthält die Verknüpfung des »Wissens« mit der Praxis des Lebens.
Barth charakterisiert den Geist der Weisheit als nicht nur lern-, sondern auch lehrbe-
reit (148). Die Offenbarung muss nicht nur empfangen, sondern auch weiterge-
reicht werden (vgl. 2Tim 2,2). Gnilka sieht hier nicht den Intellekt herausgefordert,
sondern vielmehr »die Fähigkeit, Gottes Willen zu tun« (90). Dazu aber ist Offen-
barung (avpoka,luyij, apokalypsis) nötig – und die kommt vom Gott unseres Herrn
Jesus Christus (Bedingung (B), mehr zu avpoka,luyij S.7).

(A) Das Substantiv avpoka,luyij (apokalypsis) bedeutet das Wahrnehmbarwerden


Gottes oder dessen, was Gottes ist, wobei
(B) der Vorgang ganz auf der Initiative Gottes beruht;
(C) der Mensch Ziel dieser Initiative ist.

Das Miteinander der beiden Begriffe zeigt, worum es hier im Kern geht: Gott
schenkt Einsicht, einen »Erkenntnisfortschritt« (Gnilka 88), der Ausdruck im
Leben der Briefempfänger finden soll und muss. Der Inhalt der Offenbarung wird
nicht näher bezeichnet, und man bekommt den Eindruck, Paulus würde Gott
diesbezüglich weitgehend freie Hand lassen wollen. Dem Apostel liegt daran, dass
Offenbarung geschieht, das göttliche Reden gehört, zu einem Teil des Lebens und
schliesslich zum fassbaren Ausdruck der Gottesbeziehung wird. – All dies in
engster Verbindung mit der Erkenntnis26 seiner selbst (mehr zu evpi,gnwsij S.11).

(A) Das Substantiv evpi,gnwsij (epignosis) bedeutet das Erfassen oder Erfassthaben
eines Objektes mittels Wahrnehmung, wobei
(B) Inhalt und Wesen des Objektes im Vordergrund stehen (nicht seine Form);
(C) das Objekt eine geistliche Komponente hat;
(D) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt des Erfassens um einen
Sachverhalt/abstrakten Gegenstand oder eine Person (im Korpus Gott oder
Christus) handelt;
(E) der Vorgang positiv bewertet wird.

26 Lincoln merkt an, dass Paulus mit der Verwendung von evpi,gnwsij (epignosis) eine
bewusste Abgrenzung gegenüber synkretistischer (vermischender) hellenistischer
Religion bezwecken könnte, in welcher gnw,sij (gnosis) als Bezeichnung für das Er-
kenntnisideal gebräuchlich war. Damit kommuniziert der Apostel: »Hier geht es um
die echte Sache!« (58).

22
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Hier stellt sich die Frage, wie diese Verbindung zwischen Geist der Weisheit und
Offenbarung einerseits und Erkenntnis andererseits beschaffen ist. Zwei Lösungen
bieten sich an:
(a) . . . den Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis Gottes.
(b) . . . den Geist der Weisheit und Offenbarung zur Erkenntnis Gottes.
Variante (a) bezeichnet dann entweder den Ort der Offenbarung oder aber de-
ren Inhalt (Abbott 28). Wenn wir vorgehen wie im Ringen um die Begriffsde-
finitionen, einen Schritt zurücktreten und uns fragen, wo der gemeinsame Nenner
beider Ansätze liegt, wird klar: Weisheit und Offenbarung wachsen gemeinsam mit
der Erkenntnis Gottes. Selbst wenn wir uns für Variante (b) entscheiden, haben wir
keinen Grund anzunehmen, dass nach Weisheit und Offenbarung schliesslich noch
Erkenntnis erreicht wird und der Prozess damit abgeschlossen ist. Hier geht es um
eine praktische und erfahrungsorientierte Erkenntnis, die ihren Ausdruck im
Gehorsam und in der Liebe Gott gegenüber finden muss – und damit in der
Fürsorge für die Unterdrückten und Niedergebeugten (Best 164).
Der nächste Teilsatz bringt die nächste Frage. Vom griechischen Text ausge-
hend wäre es nämlich möglich, in der Erkenntnis seiner selbst auf die darauf folgende
Erleuchtung zu beziehen. Gnilka argumentiert dafür und weist auf Kol 1,10 hin, wo
die Erkenntnis Gottes als Grund für weiteres Wachstum dargestellt wird (90).
Entsprechend ergäbe sich dann hier die Reihe Erkenntnis – Erleuchtung – Wissen.
Sachlich ist nichts gegen die Vorstellung vorzubringen, dass die Erleuchtung der
Herzen in der Erkenntnis Gottes geschieht. Wie die Auslegung von Kol 1,10 aber
zeigen wird, ist die von Gnilka vertretene Sichtweise keineswegs zwingend (S. 41).
Entsprechend scheint hier der Bezug von in der Erkentnis seiner selbst auf Geist der
Weisheit und Offenbarung naheliegender.
18 Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr wisst, was die
Hoffnung seiner Berufung, was der Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes
in den Heiligen [ist]. Dies ändert selbstverständlich nichts daran, dass Gott allein
die Augen eures Herzens zu erhellen vermag – und dass dieses Erhellen wiederum
in enger Verbindung zur Erkenntnis seiner selbst steht (mehr zu fwti,zw S.16).

(A) Das Verb fwti,zw (photizo) bedeutet, Wahrnehmung zu ermöglichen, wobei


(B) ein Objekt in einen Zustand versetzt wird, in welchem diese Wahrnehmung
möglich ist;
(C) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt um den Wahrnehmenden oder das
Wahrgenommene handelt;
(D) der Vorgang positiv gewertet wird.

Im Griechischen besteht der Nebensatz über das Erleuchten der Augen des Herzens aus
einer Partizipialkonstruktion, für deren Einbindung in den Zusammenhang es
verschiedene Möglichkeiten gibt. Einerseits kann die Aussage als vom Verb geben
abhängig gesehen werden. Die erleuchteten Herzen stünden dann parallel zum Geist
der Weisheit und Offenbarung.27 Möglicherweise bezieht das Partizip erleuchtet
(pefwtisme,noj, pephotismenos) sich aber auf das Personalpronomen euch (Lincoln
47). Dann wäre folgende Übersetzung treffender: ». . . euch gebe den Geist der Of-
fenbarung und Weisheit, nachdem (oder weil) ihr in den Augen eures Herzens
erleuchtet worden seid.« Besonders interessant an dieser Variante ist, dass die
Form, die Paulus hier für das Wort erleuchtet verwendet (ein Partizip Perfekt Passiv),
darauf hinweist, dass er den Vorgang als bereits abgeschlossen betrachtet. Er unter-
lässt es jedoch, den Leser darüber zu informieren, wann und bei welcher Gelegen-

27 Diese Sicht vertreten Abbott (28), Best (164), Bruce (270), Gnilka (90) und Schna-
ckenburg (73).

23
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heit die Erleuchtung geschehen sein soll. Geht er davon aus, dass jeder Christ sein
persönliches »Damaskuserlebnis« gemacht hat?28 Lincoln vertritt diese Sicht (54),
und auch der Hebräerbrief zeigt einen direkten Zusammenhang zwischen Umkehr
und Erleuchtung (6,4; 10,32). Einleuchtender jedoch erscheint die Sicht, dass das
Abgeschlossensein des Vorganges durch das Verb gebe relativiert wird, das ja den
Kern des Satzes darstellt: Natürlich bittet Paulus um vollkommen erleuchtete
Herzen, die Gott den Lesern schenken möge. Er wird dies jedoch kaum in einem
Augenblick tun, sondern vielmehr im Rahmen eines anhaltenden Prozesses.
Das Herz, das Ziel der Erleuchtung, ist hier nicht etwa als Sitz der Emotionen
zu verstehen, sondern vielmehr als eigentliche Schaltzentrale der menschlichen
Existenz. »Mehr als alles, was man sonst bewahrt, behüte dein Herz! Denn in ihm
entspringt die Quelle des Lebens« (Spr 4,23). Diese Warnung kommt nicht von
ungefähr. Best bezeichnet das Herz als Zentrum der Persönlichkeit, warnt aber
gleichzeitig davor, es in einen simplen Kontrast zum Verstand zu setzen und des-
sen Bedeutung damit zu schmälern (165). Ebenfalls wäre es falsch, Herz und Ver-
stand als ein und dasselbe zu betrachten und zu behaupten, die Erkenntnis spiele
sich nur auf der Ebene des Intellekts ab (ebd.). Dieses Zentrum des Seins soll nun
fähig gemacht werden, Gott zu erkennen. Dazu ist Licht nötig, Erhellung, die nur
Gott schenken kann. Fwti,zw (photizo) bezieht sich hier auf das Wahrnehmungs-
organ, die Augen des Herzens. Sie haben Licht nötig, um die Offenbarung Gottes
empfangen zu können – ein oft verwendetes biblisches Bild. Jesus hat sich als das
Licht der Welt bezeichnet, das jenen den Weg hell macht, die Ihm folgen wollen
(Joh 8,12). Paulus seinerseits spricht im Bezug auf die Gottlosigkeit der Menschen
von »Verfinsterung des Herzens« (Röm 1,21, vgl. Eph 4,18). Die Notwendigkeit
göttlicher Erleuchtung steht ihm schmerzhaft vor Augen. Vielleicht denkt er auch
an sein Erlebnis auf der Strasse nach Damaskus, als Christus ihm in einem über-
wältigenden Licht erschien und in sein Innerstes hineinleuchtete (Apg 9,1-9).
Der Erleuchtung folgt das Wissen (mehr zu oiv,da S.13).

(A) Das Verb oiv,da (oida) bedeutet, mit einem Objekt vertraut zu sein, wobei
(B) irrelevant ist, ob es sich bei diesem Objekt um einen Sachverhalt oder eine
Person handelt;
(C) der Grad und die Natur der Vertrautheit irrelevant sind;
(D) diese Vertrautheit nicht gewertet wird.

Der Grad und die Natur der Vertrautheit (Bedingung (C)) sind hier keine Frage.
Um der Zeitung die aktuellen Börsenkurse zu entnehmen, benötigt man keine
erleuchteten Augen des Herzens. Hier jedoch geht es um mehr als Sachkenntnis.
Gnilka beschreibt dieses Wissen: »[Es] umgreift den menschlichen Personenkern,
ist tiefinnerliches Entschlossensein für das, was im folgenden angegeben wird: der
Ruf, das Erbe, die Macht« (91). Die klar definierten Objekte zeigen, dass dieses
Wissen keineswegs verschwommen, sondern durchaus griffig ist.
Mit der Hoffnung lenkt Paulus den Blick seiner Leser in die Zukunft. Die
Verbindung mit der Berufung Gottes betont jedoch ihre Gültigkeit und Festigkeit
durch alle Zeiten hindurch. Ihr Ursprung ist zeitlich vor der Grundlegung der Welt
anzusetzen (Eph 1,4; 2Tim 1,9). In einer Zeit also, zu der es noch gar keine Zeit
gab. Diese Hoffnung beruht auf dem ewig gültigen und unveränderlichen Be-
schluss Gottes (Röm 11,29). Im Mittelpunkt steht hier nicht der Vorgang des
Hoffens, sondern das Objekt, das Ziel der Hoffnung (Best 166, Lincoln 59).
Letztlich wird die Berufung Gottes erst in der Ewigkeit uneingeschränkt Realität,

28 Im 2. Jh. wurde Erleuchtung in enge Beziehung zur Taufe gesetzt. Bei Paulus gibt es
jedoch keine Hinweise auf eine solche Verknüpfung (Best 165, Barth 149).

24
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doch ihre Auswirkungen zeigen sich schon in diesem Leben. Ausdrücklich ermahnt
Paulus die Briefempfänger, ein Leben zu führen, das dieser hohen Berufung Gottes
entspricht (Eph 4,1f; Barth 151). Es ist ein Leben, das von Demut, Sanftmut und
Geduld geprägt ist. Gnilka sieht die Gemeinde als den »Bezirk, in dem diese
Hoffnung möglich ist« (91). Die Ermahnung aus Eph 4,1 zeigt auch, dass die
Berufung Gottes trotz ihrer Ewigkeitsdimension nicht mit dem Gedanken der
Vorherbestimmung zu vereinbaren ist (Lincoln 59). Die Briefempfänger sind keine
willenlosen Subjekte, sondern eingeladen, ihre Entscheidungen nach dem Ruf
Gottes auszurichten – wenn sie das wollen.
So wie die Hoffnung ihre völlige Verwirklichung erst in der Ewigkeit sieht, ist
auch das Vollerbe Gottes nicht für diese Zeit gedacht. Dennoch malt Paulus den
Lesern hier den Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen mit farbigen
Worten vor Augen. Das Erbe Gottes, das er bereits in Vers 11 angesprochen hat,
ist die Vollendung des Heils. Als Anzahlung dafür haben die Gläubigen ja bereits
den Heiligen Geist empfangen (Eph 1,13f). Eigentlich ist geistlich schon gesche-
hen, was körperlich noch aussteht: Gott hat sie mit Christus auferweckt und mit
Ihm in den Himmel versetzt (Eph 2,6). Jetzt gilt es zu warten, dass diese geistliche
Wirklichkeit, die ihren Platz in den Heiligen29 – also im Leben der Gläubigen – hat,
auch auf der physischen Ebene Gestalt annimmt.
Eine interessante Variante schlägt Lincoln vor: Er versteht sein Erbe als Gottes
Erbe (59-60). Als Begründung führt er die Verwendung dieses Ausdrucks als
Bezeichnung für Israel im Alten Testament an.30 Sein Erbe wäre demnach hier die
Gemeinde der Gegenwart und der Reichtum der Herrlichkeit würde sich auf sie
beziehen, was im Sprachgebrauch des Paulus gar nicht so aussergwöhnlich wäre. Er
verwendet den Begriff Herrlichkeit (do,xa, doxa, auch mit Ehre zu übersetzen) an
verschiedenen Stellen auch in Verbindung mit lebenden Menschen.31 Bruce inter-
pretiert ähnlich (270-1) und weist auf Eph 1,14 hin, wo von der Erlösung von Got-
tes Eigentum die Rede ist. Eph 1,11 könnte ausserdem auch übersetzt werden:
»Von ihm sind wir als Erbteil erwählt worden« (ebd.). Auch Gott erscheint dann
plötzlich als ein Wartender, der sich in der Zeit des Unvollkommenen nach der
Vollendung sehnt. Das bedeutet, dass Paulus seine Leser zur Anerkennung des
unermesslichen Wertes aufruft, den Gott in ihnen, Seinem Erbteil, sieht.
Die Entscheidung zwischen den beiden Auslegungen ist schwierig. Im Rahmen
der Perspektive, die Paulus hier erzeugt, scheint sich die erste Sicht etwas glatter in
den Kontext einzufügen. Betrachtet man Sein Erbe parallel zu Seine Berufung und
Seine Kraft, zeigt sich, dass Seine bei diesen beiden Elementen auf den Ursprung hin-
weist und nicht ein Besitzverhältnis bezeichnet. Ausserdem weist das Sprechen von
Hoffnung der Berufung und der Kraft Gottes in den Gläubigen auf einen nach vorne
gerichteten Blick hin. Paulus spricht den Briefempfängern zu, dass Gott sie zum
Ziel führen wird (vgl. Phil 1,6).

29 Best (168) und Schnackenburg (74) sind der Meinung, dass Paulus in den Heiligen
hier auf Engel bezieht. Diese Vorstellung wird von der alttestamentlichen Verwen-
dung des Begriffes Heilige als Bezeichnung für Engel gestützt sowie von der klar auf
die Ewigkeit gerichtete Perspektive in diesem Nebensatz. Barth hält dieses
Verständnis für möglich. Lincoln betrachtet es als falsch. Nachdem Paulus die
Briefempfänger in Eph 1,1 als Heilige angesprochen hat, erscheint es tatsächlich
unwahrscheinlich, dass er sich hier mit demselben Wort auf Engel bezieht, ohne
dies näher zu erläutern (s. auch Eph 1,15; 3,8.18; 4,12; 5,3; 6,18, wo »Heilige« sich
eindeutig auf Menschen bezieht. Ein Bezug auf Engel ist nur für Eph 2,19 in
Erwägung zu ziehen).
30 2Sam 14,16; Jes 19,25; 47,6; Jer 12,7
31 2Kor 3,18; Eph 3,13; 1Thes 2,20

25
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19 . . . und was die überragende Grösse seiner Kraft an uns, den


Glaubenden, ist, nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke. Dazu müs-
sen sie auch die Kraft Gottes kennen, die über alle Massen geht. Die Aneinander-
reihung von Substantiven zeigt den Versuch, der unermesslichen Grösse der Kraft
Gottes mittels begrenzter sprachlicher Möglichkeiten Ausdruck zu verleihen. Dass
es Paulus hier um Bedeutungsnuancen der verschiedenen Kraftbegriffe geht, ist
unwahrscheinlich (Gnilka 88, Hübner 150, Lincoln 60).
Weiterer Kontext. Typischerweise lässt Paulus seinen Gebetsbericht im Lob
Gottes ausklingen. In Eph 1,20 bezeichnet er die im Gläubigen bereits jetzt
wirksame Kraft als dieselbe, die Christus von den Toten auferweckt hat. Es ist die
Kraft jenes Gottes, der alles zu tun vermag, ȟber die Massen mehr, als wir erbitten
oder erdenken, gemäss der Kraft, die in uns wirkt« (Eph 3,20); die Kraft jenes Got-
tes, der die Bitte Jakobs, seinen Sohn wiederzusehen, mehr als erfüllte, indem Er
ihn auch noch seinem Enkel begegnen liess (1Mo 48,11). Wir können wohl davon
ausgehen, dass schon die ersten Leser diesen Zuspruch mit grosser Freude ange-
nommen haben: Gott führt euch mit gleicher Kraft zum Ziel wie Christus (Schna-
ckenburg 75). Er, dessen Beschlüsse ganz von Liebe bestimmt sind (Eph 1,4.6; 2,4),
ist auch fähig, diese Beschlüsse in die Tat umzusetzen (Barth 152).

2.2. Epheser 3,14-19: Erfasst die Breite, Länge,


Höhe und Tiefe!
»14 Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, 15 von dem jede Sippe in den Himmeln und auf
Erden benannt wird: 16 Er gebe euch nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, mit Kraft gestärkt
zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen; 17 dass der Christus durch den Glauben
in euren Herzen wohne und ihr in Liebe gewurzelt und gegründet seid, 18 damit ihr imstande seid,
mit allen Heiligen völlig zu erfassen, was die Breite und Länge und Höhe und Tiefe ist, 19 und zu
erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, damit ihr erfüllt werdet zur ganzen
Fülle Gottes.«

Drei Anliegen stehen hier im Zentrum: (a) Mehr Kraft, (b) Mehr Erkenntnis und
(c) die Erfüllung mit der Fülle Gottes. Der grammatische Aufbau des Abschnittes
im Griechischen präsentiert die drei Punkte als parallel, inhaltlich ist jedoch eine
Steigerung festzustellen (Gnilka 182).
14/15 Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, von dem jede Sippe
in den Himmeln und auf Erden benannt wird. Dass Paulus sein Gebet mit dem
Hinweis einleitet, er beuge seine Knie vor dem Vater, ist nicht nur aussergewöhn-
lich, sondern gleichzeitig eine Programmansage. Juden wie auch die Christen der
ersten Gemeinden beteten normalerweise im Stehen (Lincoln 14). Das Beugen der
Knie ist hier als Ausdruck besonderer Ehrfurcht zu verstehen und steht in einem
gewissen Kontrast zum vertraulichen Vater. Dieser Kontrast, diese Doppelsicht
Gottes ist für das vorliegende Gebet entscheidend, denn Paulus hat Grosses auf
dem Herzen. So nähert er sich Gott in erwartungsvollem Vertrauen, wie ein Kind
seinem Vater, gleichzeitig jedoch im Bewusstsein, dass diesem Gott, dem eben
nichts unmöglich ist, alle Ehrerbietung gebührt. Die Anrede Vater umfasst hier eine
Dimension, die über den Ausdruck der Vertrautheit hinausgeht, denn von diesem
Vater, wird jede Sippe in den Himmeln und auf Erden benannt. Das hier verwendete
griechische patri,a (patria) wird im Deutschen oft mit Vaterschaft wiedergegeben,
das ein abstraktes Konzept, die Bezeichnung einer Beziehung darstellt. Patri,a
steht im Neuen Testament und in der griechischen Fassung des Alten Testaments
jedoch immer für eine konkrete Gruppe von Menschen (Barth 368). Paulus rückt
hier also den Gedanken der Abhängigkeit aller »Gruppen« von diesem einen Gott
ins Zentrum. Dass Gott sie benannt hat, weist auf Ihn als Schöpfer hin und betont
die Position der Autorität, die Er ihnen gegenüber innehat (Best 338-39) . Sie alle –

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himmlische wie irdische Wesen – haben ihren Ursprung in Ihm, sie alle sind von
Ihm »ins Leben gerufen und mit Kraft ausgestattet« (Schnackenburg 149).
16 Er gebe euch nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, mit Kraft
gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen. Das ist die
erste Bitte. Dem griechischen do,xa (doxa) sind wir schon in Eph 1,18 begegnet.
Dort ging es um den Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes. Hier nun ist die
Herrlichkeit eindeutig Gott zugeschrieben. In diesem Sinn ist sie die Essenz Seines
Wesens, die Summe all Seiner Eigenschaften (Bruce 325). Röm 6,4 zeigt eine
Facette dieser Herrlichkeit und spricht davon, dass Christus »durch die Herrlichkeit
des Vaters« von den Toten auferweckt worden ist. In Kol 1,11 (Auslegung von
Kol 1,9-11 ab S. 37) gibt Paulus seinem Wunsch Ausdruck, dass die Gläubigen
gestärkt werden sollen – »nach der Macht seiner Herrlichkeit«. Die offensichtlichen
Parallelen zwischen diesem Vers (»gekräftigt mit aller Kraft nach der Macht seiner
Herrlichkeit«) und Eph 3,16 (er gebe euch nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, mit Kraft
gestärkt zu werden) stützen die Vermutung, dass Paulus auch hier, in Eph 3,16 an die
wirksame Kraft Gottes denkt. Die Passage fügt sich so auch nahtlos in den
Kontext ein, in dem weiterhin von Kraft die Rede ist.
Während Paulus die Kraft Gottes als Quelle der Erfüllung seiner Anliegen sieht,
steht diejenige seiner Leser in ihrem Zentrum. Sie sollen mit Kraft gestärkt werden
durch seinen Geist an dem inneren Menschen. Später wird Paulus sie ganz direkt zum
Starksein herausfordern (Eph 6,10), hier jedoch konzentriert er sich auf das kräfti-
gende Wirken Gottes. Es geschieht durch den Heiligen Geist, den die Gläubigen
bereits empfangen haben (Eph 1,13f).32 Er ist als Garantie für die Vollendung von
Gottes Plan in der Gemeinde gegenwärtig (Eph 2,22) – und stärkt die Gläubigen an
dem inneren Menschen. Diese etwas rätselhafte Formulierung hat Anlass zu Spekulati-
onen gegeben. Wer ist der innere Mensch? Die meisten Ausleger sind sich einig
darüber, dass er nicht mit dem neuen Menschen gleichzusetzen ist, den die Gläubigen
bei ihrer Bekehrung angezogen haben (Eph 4,24). Stattdessen scheint er denjenigen
Aspekt des Menschseins zu bezeichnen, an dem der Heilige Geist Sein Wirken
entfalten kann (Best 341). Rienecker bezeichnet den inneren Menschen als den »Rest
des ursprünglich von Gott zu Seinem Bilde geschaffenen Menschen« (118). Er ist
also schon im unerlösten Menschen vorhanden (auch Abbott 95). Belege aus
verschiedenen Quellen weisen jedoch auf eine so breite Verwendbarkeit des
Begriffs hin,33 dass es wenig sinnvoll scheint, ihn als klar definierte Grösse, einen
Terminus technicus, zu betrachten. Es geht hier nicht um »Teile, in den man den
Menschen zerlegen könnte« (Gnilka 184). Das Anliegen von Paulus ist eine innere
Stärkung, eine vom Geist gewirkte Kräftigung des Gläubigen, die nicht dem Zerfall
der natürlichen Dinge unterworfen ist. Es ist die Erneuerung des inneren
Menschen, die dem ständigen Aufreiben des äusseren entgegensteht (1Kor 4,16).
Die Briefleser befinden sich in einem Prozess, in dem Paulus sie mit seiner Fürbitte
unterstützen will. Best unterstreicht diesen Aspekt mit dem Hinweis, dass das Verb
erstarken in Lk 1,80 und 2,40 ausdrücklich mit Wachstum verbunden ist (339).
Ebenfalls in diese Richtung könnte die Verknüpfung deuten, mit der Paulus die
Stärkung an den inneren Menschen bindet. Hier steht das griechische eivj (eis), das
Bewegung auf einen Ort zu ausdrückt. Allerdings gilt es zu beachten, dass diese
Präposition durchaus auch an Stellen vorkommt, wo man eigentlich evn (en)
erwarten würde, welches einen statischen örtlichen Aspekt bezeichnet.34

32 Lincoln weist auf die wiederholte Verknüpfung von Kraft und Geist bei Paulus hin
(205): 1Thes 1,5; 1Kor 2,4; Röm 1,4; 15,13.
33 Ausführliche Hinweise auf diese Quellen bei Best (340) und Lincoln (205).
34 In örtlicher Bedeutung: Mk 10,10; Lk 9,61; Apg 21,13 u. a., in übertragener Bedeu-
tung: Mk 5,34; Lk 7,50; 8,48; Apg 7,53;

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17 . . . dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und
ihr in Liebe gewurzelt und gegründet seid. Die Bitte, dass der Christus durch den
Glauben in euren Herzen wohne, steht parallel zum ersten Anliegen und beleuchtet
denselben Sachverhalt aus einer etwas anderen Perspektive. Hier steht die
anhaltende Gemeinschaft im Vordergrund, eine Art Hausgenossenschaft, wie sie
schon in Eph 2,19 angedeutet wurde. Christus soll in den Herzen der Gläubigen
wohnen (und sicher entspricht es nicht der Absicht des Verfassers, dass die Leser
sich den Kopf über der chirurgischen Trennung von Herz und dem vorher genann-
ten inneren Menschen zerbrechen). Beachtenswert ist die Einfügung der Formel durch
den Glauben. Die tiefe Lebensgemeinschaft zwischen dem Christen und seinem
Herrn bedeutet kein mystisches Zusammenfliessen der beiden (Gnilka 184). Gott
bleibt Gott und Mensch bleibt Mensch. Auch in der gelebten Beziehung behält der
Glaube seinen Stellenwert, ist Ausdruck der bleibenden Abhängigkeit und des
Gehorsams. Dieses Leben mit Christus bleibt darum durchaus handfest. In
Gal 2,20 betont Paulus zunächst, dass er eigentlich gar nicht mehr lebe, sondern
vielmehr Christus in ihm. Und dann: »Was ich aber jetzt im Fleisch lebe, lebe ich
im Glauben, und zwar im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich
selbst für mich hingegeben hat.« Der Apostel sieht sich auch in seiner neuen
Existenz nach wie vor zur Unterordnung und zum Gehorsam berufen.
Wie die Wendung in Liebe gewurzelt und gegründet in den Abschnitt einzufügen ist,
ist nicht leicht festzustellen. Die grammatische Konstruktion ist aussergewöhnlich
und lässt verschiedene Sichtweisen zu. So kann das Gewurzelt- und Gegründetsein als
Resultat des gerade geäusserten Wohnens Christi in den Herzen der Leser gelten
(Abbott 96-97, Bruce 327). Möglicherweise handelt es sich dabei auch um ein
weiteres eigenständiges Anliegen (Barth 371, Gnilka 185, Lincoln 201). Best
betrachtet den Satz als Einschub, der mehr eine Feststellung als einen Wunsch
wiedergibt (342) und den Grund für die folgende dritte Bitte legt. Der Umstand,
dass die drei anderen Anliegen dieses Abschnittes alle mit derselben Präposition
eingeleitet werden, macht es schwer, diesen Teilsatz gleichwertig in ihre Reihe
einzuordnen. Ein Blick auf den engsten Kontext zeigt ausserdem, dass er sich
leichter mit dem vorhergehenden Anliegen (dass der Christus durch den Glauben in euren
Herzen wohne) verbinden lässt als mit dem nachfolgenden (damit ihr imstande seid, mit
allen Heiligen völlig zu erfassen . . . .). Um jedoch eine Entscheidung treffen zu können,
muss die Frage beantwortet werden, wessen Liebe hier den Wachstums- und
Baugrund darstellt; und es überrascht nicht, dass auch diesbezüglich die Meinungen
auseinandergehen. Während einige Ausleger hier die Liebe Jesu sehen (Barth 371,
Best 342, Schnackenburg 146), glauben andere, dass Paulus sich auf die Beziehung
unter den Gemeindegliedern bezieht (Gnilka 185, Hübner 194, Rienecker 115).
Best ergänzt seine Entscheidung für die erste Interpretation mit der Bemerkung,
dass die Unterscheidung oft unnötig sei, wenn nämlich die menschliche Liebe
Ausdruck der im Menschen wohnenden göttlichen Liebe ist (343, s. Röm 5,5).
Lincoln ist ähnlicher Meinung und spekuliert, dass der Autor hier gar keine scharfe
Trennung im Sinn gehabt habe (207). Das starke Bild des Gewurzelt- und
Gegründetseins scheint jedoch schwer mit menschlicher Liebe als Basis vereinbar,
selbst wenn diese als Ausdruck göttlichen Wirkens gesehen wird. Eine ähnliche
Metapher in Kol 2,7 (»gewurzelt und auferbaut«) bezieht sich ausserdem eindeutig
auf Christus. Wenn die hier genannte Liebe also diejenige Gottes oder Jesu ist, liegt
eine engere Verbindung des Einschubs mit der vorangehenden Bitte auf der Hand.
(Wäre die Liebe der Gemeindeglieder zueinander gemeint, läge hingegen die
Verbindung zu mit allen Heiligen im folgenden Teilsatz näher.) Das Gewurzelt- und
Gegründetsein ist dann Resultat des Wohnens Jesu im Herzen.
18 . . . damit ihr imstande seid, mit allen Heiligen völlig zu erfassen, was
die Breite und Länge und Höhe und Tiefe ist. Paulus wendet sich der zweiten

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zentralen Bitte zu und gibt seinem Gebet um mehr Kraft ein Ziel: Die Leser sollen
imstande sein völlig zu erfassen (mehr zu katalamba,nw S. 12).

(A) Das Verb katalamba,nw (katalambano) bedeutet, sich etwas zu eigen zu


machen, wobei
(B) ein Objekt in (durch das Subjekt) definierte Besitz- oder Kontrollverhältnisse
übergeht;
(C) irrelevant ist, in welchem Mass der neue Besitzer aktiv an diesem Vorgang
beteiligt ist;
(D) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt um eine Person, einen (konkreten oder
abstrakten) Gegenstand oder einen Sachverhalt handelt;
(E) die Dauer des neuen Besitz- oder Kontrollverhältnisses irrelevant ist;
(F) dieser Vorgang nicht gewertet wird.

Im Abschnitt, der diesem Gebet unmittelbar vorausgeht, hat Paulus bereits


ausgiebig geschildert, wie er selbst göttliche Offenbarung empfangen und erfasst
hat. Solche Erkenntnis geschieht jedoch nicht automatisch, sie muss erkämpft wer-
den und wird erst jetzt durch die Stärkung des Heiligen Geistes möglich (Barth 372,
Best 344). Jetzt aber ist sie möglich. Dass Paulus hier katalamba,nw (katalambano)
verwendet, unterstreicht, wie real, wie fassbar diese Erkenntnis in seinen Augen ist.
Fast ironisch erscheint demgegenüber die Rätselhaftigkeit des Objekts, das die
Leser erfassen sollen: was die Breite und Länge und Höhe und Tiefe ist. Aufbauend auf
verschiedenen Quellen wird eine grosse Zahl von Erklärungsmöglichkeiten ange-
boten.35 Sicher ist immerhin, dass es sich bei dem Ausdruck um eine feste Wen-
dung handelt, es also falsch wäre, den einzelnen Dimensionen separate Bedeutun-
gen zuzuordnen (Best 344). Ein Problem stellt sich ja nur deswegen, weil Paulus
auf eine nähere Bestimmung der Dimensionen verzichtet. Wir wissen also nicht,
um wessen Breite, Länge, Höhe und Tiefe es geht. Bruce weist auf Hi 11,7-9 hin und
folgert daraus, dass Paulus sich hier auf die Weisheit Gottes bezieht (328): »Kannst
du die Tiefen Gottes erreichen oder die Vollkommenheit des Allmächtigen ergrün-
den? Himmelhoch sind sie – was kannst du tun? – tiefer als der Scheol – was
kannst du erkennen? Länger als die Erde ist ihr Mass und breiter als das Meer.«
Tatsächlich werden hier dieselben Dimensionen genannt wie in Eph 3,18. Dennoch
ist dieser Ansatz alles andere als unbestritten. Schnackenburg sieht in Breite und
Länge und Höhe und Tiefe einen Hinweis auf »das von Gott offenbarte Heilsmys-
terium« (154). Rienecker dagegen deutet ihn auf das »Gebäude, welches die Leser
mit allen Heiligen umschliesst«: die Gemeinde (123-24, s. auch Gnilka 189). Dieser
Ansicht nahe steht die Interpretation der Angaben als Hinweis auf die Dimensi-
onen des himmlischen Jerusalem, entsprechend den Ausführungen in Offb 21,16,
wo die himmlische Stadt als würfelförmig beschrieben wird. Abbott (100), Lincoln
(212), Best (346) schliesslich beziehen die Dimensionen auf die Liebe Christi. Diese
Interpretation wird vom direkten Kontext gestützt, der im nächsten Teilsatz genau
diese Liebe zum Objekt der Erkenntnis macht: und zu erkennen die die Erkenntnis
übersteigende Liebe des Christus. Dass diese Liebe den menschlichen Horizont sprengt,
passt ebenfalls ausgezeichnet zum Bild der vier Dimensionen, das ja nicht etwa die
Vollständigkeit des Erkennens, sondern vielmehr die überwältigende Grösse ihres
Gegenstandes vor Augen führen soll (Abbott 99).
Breite, Länge, Höhe und Tiefe der Liebe Jesu werden in der Gemeinschaft mit
allen Heiligen erfasst. Paulus propagiert keine einsiedlerische Suche nach geistlicher
Erleuchtung, sondern das gemeinschaftliche Ausstrecken nach dem Herrn. Wenn

35 Ausführlichere Diskussionen der verschiedenen Ansätze bei Barth (395-7), Best


(344-6), Gnilka (186-8), Lincoln (208-13).

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er den Gläubigen in Eph 4,15 ans Herz legt, »die Wahrheit in Liebe zu reden und in
allem hinzuwachsen zu ihm, der das Haupt ist, Christus,« dann ist dieselbe Dyna-
mik zu erkennen. Diese Gemeinschaft steht wohl fest in ihrem Grund verankert,
sie ist aber gleichzeitig voll göttlicher Wachstumskraft und strebt ihrem Herrn,
ihrem Haupt entgegen. Ausserdem stellt die von gegenseitiger Liebe geprägte Ge-
meinschaft der Gläubigen eine wichtige Ausdrucksform der Liebe des Einzelnen zu
Christus dar (Joh 13,35).
19 . . . und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des
Christus, damit ihr erfüllt werdet zur ganzen Fülle Gottes. Die Liebe Jesu
vermag in ihrer Grösse menschliche Vorstellungen und die Grenzen bereits existie-
render Erkenntnis immer wieder zu sprengen. Das ändert jedoch nichts daran, dass
auch unsere beschränkte Kapazität ganz darauf ausgerichtet sein soll, das
Unfassbare zu fassen. Bruce hält fest, dass es bei dieser Erkenntnis nicht in erster
Linie um eine intellektuelle Leistung geht, dass aber dennoch alle zur Verfügung
stehenden intellektuellen Ressourcen dafür ausgeschöpft werden müssen (329).
Derselbe Heilige Geist, der die Liebe Gottes in menschliche Herzen auszugiessen
vermag (Röm 5,5), macht die Leser dann fähig, die Liebe ihres Herrn immer mehr
zu erkennen (mehr zu ginw,skw S. 8, zu gnw,sij S. 9)

(A) Das Verb ginw,skw (ginosko) bedeutet, ein Objekt zu erkennen und dann zu
kennen, wobei
(B) das Resultat (und nicht der Erkenntnisprozess) im Vordergrund steht (auch
wenn es noch nicht eingetroffen bzw. erreicht ist), während
(C) der Grad oder die Natur des Vertrautseins irrelevant sind;
(D) irrelevant ist, ob es sich bei dem Objekt um einen Sachverhalt oder eine
Person handelt;
(E) der Begriff wertneutral verwendet wird.

(A) Das Substantiv gnw,sij (gnosis) bedeutet das, was jemand gesehen, erkannt,
verstanden hat und jetzt weiss, wobei
(B) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt des Wissens um einen
Sachverhalt/abstrakten Gegenstand oder eine Person (im Korpus Gott oder
Christus) handelt;
(C) dieses Wissen nicht bewertet wird.

Dass die menschliche Erkenntnis sich immer wieder neuen Dimensionen stellen
muss, schmälert in keiner Weise ihren Wert. Wäre alles Erkennen von Anfang an
zum Scheitern verurteilt und nicht mehr als ein anhaltendes Tasten im Dunkeln,
dann wäre die Mitteilung dieser unfassbaren Liebe, von der Paulus hier schwärmt,
völlig vergebens (Best 347). Die Offenbarung Gottes ist jedoch keineswegs verge-
bens oder ziellos, wie Paulus bereits in Eph 1,9f betont hat. Und in Eph 3,8
bezeichnet er seinen Auftrag als die Verkündigung »des unausforschlichen Reich-
tums des Christus«. Unausforschlich und doch offenbart und von Paulus erkannt –
und von all jenen, die wie er diesen Reichtum empfangen haben. Der Apostel führt
den Briefempfängern einen Grad der Vertrautheit mit der Liebe Jesu vor Augen,
den sie noch nicht kennen, der für sie aber durchaus erreichbar ist (Bedingung (B)
von ginw,skw, ginosko). In welchem Bereich sich dieses Mass der Vertrautheit
bewegt (Bedingung (C)), wird spätestens mit der abschliessenden Bitte um die
Erfüllung zur ganzen Fülle Gottes klar. Dass im Laufe dieses Prozesses die Grenzen
dessen, was sie bereits erkannt haben, immer wieder erweitert werden, soll sie nicht
in Resignation, sondern vielmehr in die Anbetung führen (Gnilka 189).
Das Erkennen der Liebe Jesu ist jedoch nicht das Endziel. Sie führt Paulus zu
seiner dritten und letzten Bitte: damit ihr erfüllt werdet zur ganzen Fülle Gottes. Einmal

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mehr wird die menschliche Vorstellungskraft an ihre Grenzen geführt. In Eph 1,23
hat Paulus die Gemeinde als die Fülle dessen, der alles in allen erfüllt bezeichnet (s. auch
Kol 2,10). Hier nun stellt er diese Fülle erst für die Zukunft in Aussicht und
berührt damit ein zentrales Spannungsfeld des Christseins: schon jetzt und doch
noch nicht. Es ist die Spannung, die jeder Christ kennt, wenn er die Stärkung des
Heiligen Geistes am inneren Menschen wahrnimmt und sich gleichzeitig mit der
aufreibenden Schwäche seiner Existenz konfrontiert sieht. Viel Gutes und Schönes
ist bereits geschehen, viel Wertvolles ist bereits herangewachsen (Eph 1,15), weit
mehr jedoch steht noch aus. Das Erfülltsein zur Fülle Gottes stellt damit den
Endpunkt des Heilsprozesses dar (Gnilka 190), der natürlich bereits im Gange ist
und auch jetzt, während die Leser sich den Zeilen von Paulus widmen, seinen Lauf
nimmt. Dieser Prozess hat nicht nur sein Ziel, sondern auch seinen Ursprung in
Gott, der die Gläubigen vor Grundlegung der Welt auserwählt hat (Eph 1,4).
Schliesslich sollen sie Teilhaber des ganzen göttlichen Reichtums werden.36 Dass
Gott selbst ihnen dies schenken muss, liegt auf der Hand. Der Nachdruck, mit dem
Paulus für sie um Kraft bittet, zeigt jedoch, dass er sie keineswegs aus der
Verantwortung entlässt (s. auch Eph 5,18 und 6,10ff).37
Weiterer Kontext. Dennoch schliesst er sein Gebet auch hier mit einem Lob,
welches das Wirken Gottes über alle menschlichen Erwartungen hinaus preist. Wie
die Liebe Jesu, so sprengt auch die Kraft Gottes jeden Rahmen. »Gott tut es«, ruft
Paulus den Briefempfängern zu und ergänzt: gemäss der Kraft, die in uns wirkt (vgl.
2Thes 1,11). Deshalb soll Er verherrlicht werden und zwar in der Gemeinde und in
Christus Jesus. Diese aussergewöhnliche Formulierung erinnert daran, dass Körper
und Kopf zusammengehören, dass jeder Gottesdienst nur Dank in Seinem Namen
sein kann (Eph 5,20; Schnackenburg 159).

2.3. Philipper 1,9-11: Liebe in Erkenntnis und


aller Einsicht
»9 Und darum bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller
Einsicht, 10 damit ihr prüft, worauf es ankommt, damit ihr lauter und unanstössig seid auf den
Tag Christi hin, 11 erfüllt mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus gewirkt wird
– zur Herrlichkeit und zum Lobpreis Gottes.«

9 Und darum bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr überströme in
Erkenntnis und aller Einsicht. Schon im ersten Satz seines Gebetsberichtes
verknüpft Paulus Liebe ganz direkt mit Erkenntnis (evpi,gnwsij, epignosis) und
Einsicht (ai,vsqhsij, aisthesis). De Boor geht davon aus, dass die Präposition evn (en)
vor Erkenntnis und Einsicht instrumentale Funktion hat (47). Die Liebe wird also
überströmend durch Erkenntnis und Einsicht. Fee dagegen meint, dass Erkenntnis
und Einsicht genauso wie Liebe direkt von beten abhängig sind und deshalb parallel
zueinander stehen (100).38 Die neutestamentliche Verwendung von perisseu,w

36 Unwahrscheinlich ist, dass Paulus hier an moralische Vollkommenheit gedacht hat.


Seine Ausführungen zu einem gottesfürchtigen Lebenswandel folgen in der zweiten
Hälfte des Briefes.
37 . . . und auch sich selbst nicht, was 1Thes 3,9f zeigt: »Denn was für Dank können
wir Gott eurethalben abstatten für all die Freude, womit wir uns euretwegen freuen
vor unserem Gott, wobei wir Nacht und Tag aufs inständigste bitten, euer Ange-
sicht zu sehen und das zu vollenden, was an eurem Glauben mangelt?« Die Gebets-
haltung von Paulus umfasst auch die Bereitschaft, selbst einen konkreten Beitrag
zum Wachstum zu leisten.
38 Diese Sicht teilen auch Bruce (36) und Hawthorne (26).

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(perisseuo, überfliessen) in direkter Verbindung mit evn hingegen scheint die Sicht-
weise zu stützen, dass Erkenntnis und Einsicht als Ausdruck der überströmenden Lie-
be zu sehen sind.39 Die Diskussion gibt jedoch Grund zur Annahme, dass es kaum
sinnvoll ist, die drei Elemente hier in eine starre und mechanische Beziehung zuein-
ander pressen zu wollen. Wichtig ist, dass Paulus mit der gemeinsamen Nennung
auf so engem Raum die Verbundenheit seiner drei Anliegen betonen wollte.
Wenn er von Liebe spricht, geht es Paulus natürlich nicht um ein Gefühl. Ganz
allgemein gilt das Interesse der neutestamentlichen Autoren zuerst der Art, wie wir
leben und der Basis, auf der wir unsere Entscheidungen fällen.40 Paulus spricht hier
von jener Qualität, die wir gemeinhin als »Nächstenliebe« bezeichnen; tätige Liebe,
Liebe, die erfahrbar ist. Dieses Anliegen zieht sich durch den gesamten Philipper-
brief: Die von Paulus so nachdrücklich ans Herz gelegte »Gesinnung, die auch in
Christus Jesus war« (Phil 2,5; s. auch 2,1-4) besteht letztlich darin, sich einander
unterzuordnen, sich nicht an den eigenen Rechten und Privilegien festzuklammern,
sondern die Bedürfnisse des anderen höher einzuschätzen als die eigenen (oder
mindestens gleich hoch – alle haben mal klein angefangen). Und dann sind auch
folgende Empfehlungen des Apostels aus Phil 4,8 unserer Aufmerksamkeit wert:
»Übrigens, Brüder, alles, was wahr, alles, was ehrbar, alles, was gerecht, alles, was
rein, alles, was liebenswert, alles, was wohllautend ist, wenn es irgendeine Tugend
und wenn es irgendein Lob gibt, das erwägt!« Wenn wir unsere Phantasie bemühen
und uns vor Augen führen, welche Form ein Zusammenleben von Menschen
annehmen würde, das sich an diesen Massstäben orientiert, dann wissen wir, was
das Neue Testament unter Liebe versteht.
Der Anspruch des fassbaren Ausdrucks lässt sich direkt auf die senkrechte
Dimension der christlichen Liebe übertragen, in welcher der Einzelne mit Gott
verbunden ist. O'Brien glaubt, dass Paulus hier in zwei Richtungen betet (73-74).
Ihm geht es um die Liebe im umfassenden Sinn, also sowohl dem Mitmenschen
wie auch Gott gegenüber (Hawthorne 25-26). Als wichtigsten Hinweis darauf führt
O'Brien an, dass Paulus auf das Nennen eines Objektes zu Liebe verzichtet.41 Und
auch für den konkreten Ausdruck der Liebe zu Gott gibt es einen biblischen
Massstab. Er wird im Philipperbrief zwar nicht genannt, doch Jesus hat
diesbezüglich glasklare Worte gesprochen: »Wer meine Gebote hat und sie hält, der
ist es, der mich liebt« (Joh 15,21). Es geht also um Gehorsam. Und dann wird
plötzlich klar, dass diese beiden Ströme hier zusammenfliessen. Denn wie soll
Gehorsam Gott gegenüber möglich sein, solange man die Verpflichtung zur
gelebten Nächstenliebe elegant umschifft? Undenkbar. Liebe zu Gott und Liebe
zum Nächsten sind mehr als der dekorative Feinschliff eines geheiligten Lebens.
Dass es hier um Wesentliches geht, hat schon Jesus mit Seiner Antwort auf die
Frage nach dem grössten Gebot deutlich gemacht (Mt 22,40).
Nun soll diese Liebe aber überreich werden und überfliessen. Das Schöne und
Ermutigende an diesem Anliegen: Vermehrt werden kann nur, was schon vorhan-
den ist. Dass Paulus auf die Philipper grosse Stücke hält, geht aus seinen Zeilen

39 s. 1Kor 15,58: »überreich im (oder eben am) Werk des Herrn« und Kol 2,7: »über-
reich in Danksagung«. O'Brien (73) und Gnilka (51-52) schlagen diese Interpreta-
tion vor.
40 Fee weist darauf hin, dass das Verständnis von Liebe, das Paulus in seinen Schriften
zeigt, an erster Stelle auf den Charakter Gottes hinweist und damit auf Sein Han-
deln, welches auf diesem Charakter beruht und ihm entspringt (98f).
41 Anders als etwa in 1Thes 3,12: »Euch aber lasse der Herr zunehmen und überreich
werden in der Liebe zueinander und zu allen.«

32
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mehr als deutlich hervor,42 und die dem Gebetsbericht vorangehenden Verse
(Phil 1,3-8) zeigen, dass Paulus sich mit den Philippern als Teilhaber seines Dien-
stes tief verbunden fühlte. Wenn er jetzt also für diese Gemeinde um ein Überströ-
men der Liebe bittet, hat er keinen gravierenden Mangel vor Augen, sondern einen
bereits vorhandenen Reichtum, über den er sich freut. Die Erkenntnis und die
Einsicht, die Paulus in so engem Zusammenhang mit dem Überströmen der Liebe
nennt, bringen dieses (das ansonsten nicht ganz leicht fassbare Überströmen eben)
für die Philipper (und für uns) nun auf den Punkt.
Während der Begriff Liebe hier in umfassender Weise zu verstehen ist und sich
sowohl auf die Beziehung zu Gott wie auch das menschliche Miteinander bezieht,
hat Erkenntnis nur eine Richtung: Gott. Dies bedeutet nicht, dass sie sich nur auf
Seine Person, Sein Wesen bezieht. Der folgende Begriff Einsicht, bei dem es um die
praktische Gestaltung des Lebens geht, lässt vermuten, dass Erkenntnis auch das
Handeln Gottes und Seine Pläne meint, denn diese zu erkennen stellt die Basis für
ein entsprechendes Leben dar.43 O'Brien argumentiert, dass es Paulus mit
Erkenntnis um ein intimes Vertrautsein mit Gott geht (76). Die Definition des hier
verwendeten griechischen evpi,gnwsij (epignosis) hat ja bereits gezeigt, dass dieses
Erkennen sich auf das Wesen seines Objektes bezieht und nicht auf seine Form
oder äussere Erscheinung (Bedingung (B), mehr zu evpi,gnwsij S. 11).

(A) Das Substantiv evpi,gnwsij (epignosis) bedeutet das Erfassen oder Erfassthaben
eines Objektes mittels Wahrnehmung, wobei
(B) Inhalt und Wesen des Objektes im Vordergrund stehen (nicht seine Form);
(C) das Objekt eine geistliche Komponente hat;
(D) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt des Erfassens um einen
Sachverhalt/abstrakten Gegenstand oder eine Person (im Korpus Gott oder
Christus) handelt;
(E) der Vorgang positiv bewertet wird.

Diese Sicht wird auch vom alttestamentlichen Verständnis gestützt, wie es etwa in
Spr 1,7 ausgedrückt wird: »Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis.«
Vor diesem Hintergrund ist natürlich auch das Denken des Apostels Paulus zu
verstehen, und damit die Vorstellung, die er von der Erkenntnis Gottes hat.44
Paulus geht es hier also um die Nähe zu Gott, das Vertrautsein mit dem Vater.
Vertrautsein scheint an dieser Stelle besonders geeignet, weil es sich erstens sowohl
auf Personen wie auch auf Sachverhalte anwenden lässt, ohne dass man im einen
oder anderen Fall den Eindruck bekommt, die Sprache gegen den Strich zu
bürsten. Zweitens weckt dieser Begriff das Gefühl besonders tiefer, wesentlicher
Kenntnis. Und das ist es, was die Philipper brauchen (und nicht nur sie).
Allerdings nicht nur das. Paulus verknüpft Erkenntnis mit Einsicht. Dafür
verwendet er das griechische aiv,sqhsij (aisthesis), das, wie oben bereits festgehalten
wurde, im ganzen Neuen Testament nur hier vorkommt. Gnilka definiert den
Begriff als sittliches Verständnis, »jene Klugheit, die im praktischen Leben das
Rechte zu tun lehrt« (52). Hier verbindet sich die innere Erkenntnis des Guten mit

42 Paulus ist ja persönlich schon wiederholt Nutzniesser gelebter Liebe aus Philippi
gewesen: Die Gemeinde hat ihn in seiner Missionstätigkeit nach Kräften unterstützt
(Phil 4,14-18), und auch der Philipperbrief selbst ist in direktem Zusammenhang
mit dem Empfangen einer Geldspende entstanden.
43 S. Kol 1,9: ». . . dass ihr mit der Erkenntnis seines Willens erfüllt werdet.«
44 Gerade das Buch der Sprüche ist reich an Belegen, welche Gottesfurcht und Er-
kenntnis oder Weisheit in engem Zusammenhang darstellen (s. Spr 1,29; 2,5; 9,10,
15,33).

33
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dem praktischen Handeln. Der erkannte Massstab Gottes wird im Leben an- und
umgesetzt. De Boor empfiehlt die Übersetzung von aiv,sqhsij mit Feingefühl (47)
und illustriert damit sowohl einen wichtigen Wesenszug dieser Einsicht wie auch
ihren engen Bezug zur praktischen Liebe. Paulus präsentiert hier also die
altbekannte Forderung, dass all das, was der Christ in seinem Inneren erkannt und
erfasst hat, all das, was er glaubt, in seinem Leben Ausdruck finden muss. Das ist
nichts Neues, nicht einmal ausserhalb der christlichen Gemeinde. Sowohl
evpi,gnwsij (epignosis) wie auch aiv,sqhsij waren innerhalb der griechischen
Moralphilosophie als Fachbegriffe gebräuchlich (Gnilka 51). Und doch hat Jesus es
für nötig gehalten, Seinen Jüngern nach mehrjähriger Intensivschulung kurz vor
dem Abschied genau diese Selbstverständlichkeit in Erinnerung zu rufen: »Wenn
ihr dies wisst, glückselig seid ihr, wenn ihr es tut« (Joh 13,17).
Stutzig machen kann der Umstand, dass Paulus hier von aller Einsicht spricht.
Sicher geht es dem Apostel dabei nicht um Lückenlosigkeit – sondern um die
Qualität der Einsicht. Hawthorne schlägt vor, dass Paulus hier die Breite der Ein-
sicht betont (27). Für welches Bild oder welche Dimension man sich auch entschei-
det: Den Philippern wird ans Herz gelegt, nicht die (in diesem Leben ohnehin uner-
reichbare) flächendeckende Einsicht anzustreben, sondern dafür zu sorgen, dass
jene Bruchstücke, die sie erkannt haben, konsequent und ihrem wahren Gehalt
gemäss umgesetzt werden (vgl. das Bild des Mosaiks in Fussnote 9, S. 9).45
O'Brien sieht das zentrale Anliegen von Paulus darin, dass die Liebe Gottes in
den Lesern über alle Massen zunehmen soll. Dabei durchdringt sie nicht nur die
persönliche Beziehung zu Gott immer tiefer, sondern prägt auch jede Alltags-
situation, in der ein gottgemässes praktisches Verhalten gefordert ist (77). So stehen
Liebe, Erkenntnis und Einsicht in einer fest verbundenen Beziehung zueinander.
Jeder Begriff beleuchtet Facetten der beiden anderen und lässt sie lebendiger und
plastischer, relevanter für unser Leben erscheinen. Stellt man sich die drei als Eck-
punkte eines Dreiecks vor, so wäre die Liebe am obersten Punkt anzusetzen. Doch
braucht sie Erkenntnis und Einsicht als lebendigen Ausdruck ihres Wachstums,
ihres Überströmens. Dieses Überströmen ist ein Zeichen der mit Christus
eröffneten Zeit (Gnilka 51, Hawthorne 26). Jesus selbst hat Überfluss verheissen:
»Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Überfluss haben«
(Joh 10,10b, vgl. Mt 13,12), und Paulus weist immer wieder auf die Erfüllung dieser
Verheissung für die verschiedensten Lebensbereiche hin.46
10 . . . damit ihr prüft, worauf es ankommt, damit ihr lauter und
unanstössig seid auf den Tag Christi hin. Die Fülle ist jedoch nicht als
mechanische Konsequenz des Christenlebens zu verstehen. Erkenntnis und
Einsicht sind keine Universaldünger, die zum automatischen Wachstum über alle
Massen treiben. Dies wird spätestens im nächsten Teilsatz klar, in dem der Apostel
die Aufforderung zu prüfen ins Spiel bringt. Er tut das nicht etwa unabhängig von
seinen bisherigen Ausführungen, sondern vielmehr eng mit diesen verknüpft: dass
eure Liebe noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller Einsicht, damit ihr prüft,
worauf es ankommt. Das Jonglieren mit Erkenntnis und Einsicht hat ein (Zwischen-)
Ziel: Die Philipper sollen herausfinden, worauf es wirklich ankommt. Praktisch
bedeutet das für sie das Leben mit verschiedenen Optionen und das Fällen von

45 In Kol 1,9-11 treibt Paulus den Einsatz des Wörtchens alle im Bemühen um sprach-
liche Angemessenheit im Reden von Gott auf die Spitze (Auslegung ab S. 37).
46 In direktem Zusammenhang mit diesem Überfliessen nennt er unter anderem:
Wahrheit (Röm 3,7), die Gnade Gottes (Röm 5,15; Eph 1,8), Hoffnung
(Röm 15,13), das Werk des Herrn (1Kor 15,58), Leiden und Trost (2Kor 1,5),
Glaube, Wort, Erkenntnis, Eifer und Liebe (2Kor 8,7), Rühmen in Jesus Christus
(Phil 1,26), Dank Gott gegenüber (Kol 2,7), Liebe zueinander (1Thes 3,12).

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Entscheidungen, die den Ansprüchen Gottes gerecht werden. Die Begegnung von
Jesus mit den Schwestern Maria und Marta illustriert diesen Punkt (Lk 10,38-42):
Jesus besuchte die beiden Frauen in ihrem Haus und gab beiden dieselbe Gelegen-
heit, Zeit mit Ihm zu verbringen. Während Maria sich vor Jesus auf den Boden
setzte und aus nächster Nähe miterlebte, wie Er die im Haus versammelte Menge
lehrte, verfing Marta sich in hektischer Betriebsamkeit, besorgt darum, die Gäste
nach allen Regeln der Gastfreundschaft zu verwöhnen. Als sie sich schliesslich bei
Jesus über die Passivität ihrer Schwester beklagte und Ihn bat, diese doch zur
Mithilfe zu ermahnen, meinte Er schlicht: »Marta, Marta! Du bist besorgt und
beunruhigt um viele Dinge; eins aber ist nötig. Maria aber hat das gute Teil erwählt,
das nicht von ihr genommen werden wird.« Mit den Worten von Paulus
ausgedrückt: Maria hat geprüft, worauf es ankommt – und entsprechend gehandelt.
(mehr zu dokima,zw S. 10)

(A) Das Verb dokima,zw (dokimazo) bedeutet, die Beschaffenheit eines Objektes
erkennbar zu machen und zu beurteilen, wobei
(B) die Beurteilung (die Einordnung in ein Wertesystem) das Ziel des Vorganges
darstellt;
(C) die Erwartung eines positiven Resultates vorherrscht;
(D) der Vorgang positiv bewertet wird;
(E) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt um eine Person (einen Menschen), ihre
Eigenschaften oder einen Sachverhalt handelt.

Die Philipper sollen sich ein Bild der Möglichkeiten machen und sich dann für das
Wesentliche entscheiden können. Basis dieser Beurteilung stellen Erkenntnis und
Einsicht dar, das ganz an Gott ausgerichtete Wertesystem (vgl. Bedingung (A)).
Dabei geht es nicht in erster Linie um das Erkennen dessen, was diesem Massstab
nicht genügt (obwohl auch dieser Aspekt Teil des Prozesses ist), sondern vielmehr
darum, das Gute zum Vorschein zu bringen und es zu tun (Bedingung (C)). Paulus
hatte selbst einiges an Erfahrung mit solchen Beurteilungen vorzuweisen. Den
Philippern schildert er mit kräftigen Worten, wie das, was ihm einst unendlich
kostbar war, im Licht Jesu als Müll erscheint: »[I]ch halte auch alles für Verlust um
der unübertrefflichen Grösse der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, willen, um
dessentwillen ich alles eingebüsst habe und es für Dreck halte, damit ich Christus
gewinne« (Phil 3,8). Auch seine Haltung, das Zurückliegende zu vergessen und sich
nach dem vorn Liegenden auszustrecken, spiegelt diese Entscheidung (Phil 3,13).
Unter diesen Voraussetzungen wird auch die nicht ganz unbescheiden anmutende
Empfehlung aus Phil 3,17 nachvollziehbar: »Seid miteinander meine Nachahmer!«
Der Anspruch, auf der Basis der Erkenntnis Gottes zum rechten Verhalten in einer
konkreten Situation zu gelangen, stellt das gewöhnliche und natürlich erscheinende
menschliche Vorgehen auf den Kopf. Gnilka weist darauf hin, dass der christliche
Ansatz sich hier dem hellenistischen direkt entgegenstellt, der die Situation als Basis
für den Massstab betrachtete (52).
Schliesslich stellt sich die Frage, was hier geprüft werden soll. Wie die Definition
von dokima,zw (dokimazo) zeigt, kann das Verb sich auf eine Person, ihre
Eigenschaften oder einen Sachverhalt beziehen (Bedingung (E)). De Boor drückt
sein Verständnis dieser Stelle so aus: »Als die von Gott Geprüften dürfen und
sollen wir selber Prüfende sein« (47). Das versetzt uns jedoch nicht in eine Position,
aus der heraus wir die Gedanken Gottes beurteilen und bewerten sollen oder
können. In Röm 2,17-21 macht Paulus genau diesen Irrtum zum Kernpunkt der
Anklage. Er richtet sich an die, die sich Juden nennen, sich auf das Gesetz stützen
und prüfen, worauf es ankommt (der Wortlaut entspricht auch im Griechischen dem
von Phil 1,10), diejenigen, welche andere lehren und anleiten – und konfrontiert sie

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mit dem Vorwurf: »Der du nun einen anderen lehrst, du lehrst dich selbt nicht?« So
kollidiert der biblische Anspruch wiederum schmerzhaft mit unserem Hang zum
Kategorisieren. Es ist nicht unsere Aufgabe, Gottes Gedanken, Sein Wort oder Ihn
selbst mit Etiketten zu versehen und zu schubladisieren. Stattdessen geht es um die
richtige Art zu leben. Wir prüfen und beurteilen; doch prüfen und beurteilen wir
nicht Gott oder Seine Pläne, sondern vielmehr unser eigenes Verhalten – uns
selbst. Und dies mit einem klaren Ziel, nämlich damit ihr lauter und unanstössig seid auf
den Tag Christi hin, erfüllt mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus gewirkt
wird, zur Herrlichkeit und zum Lobpreis Gottes.
Endlich rückt Paulus mit seinem zentralen Anliegen heraus. Was er für die
Philipper erbittet und ihnen ans Herz legt, geschieht im Hinblick auf die Begeg-
nung mit Jesus (s. auch Phil 1,6). Und die Ansprüche, die Paulus im Herzen trägt,
sind alles andere als minimalistisch: Die Philipper sollen es nicht einfach um
Haaresbreite ins Himmelreich hineinschaffen. Sie sollen an jenem Tag lauter und
unanstössig vor ihrem Herrn stehen können. Sie sollen solche sein, zu denen Jesus
sagt: »Kommt her, Gesegnete meines Vaters, erbt das Reich, das euch bereitet ist
von Grundlegung der Welt an« (Mt 25,34). Hier ist nichts zu spüren von jener
Sichtweise, die unser Leben als »unentwirrbares Gemisch von Gutem und Bösem«
sieht (De Boor 47). Besonders der zweite Begriff, unanstössig (avpro,skopoj,
aproskopos), zeigt, dass dieser Aufruf im Kontext des gemeinschaftlichen Lebens
verstanden werden muss. Das Wort beinhaltet sowohl eine aktive wie auch eine
passive Komponente und steht somit für ein Anliegen, das in zwei Richtungen
läuft: Nicht nur sollen die Leser ein gottgefälliges Leben führen ohne zu Stolpern,
sie sollen auch anderen nicht zum Stolperstein werden.47
11 . . . erfüllt mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus
gewirkt wird – zur Herrlichkeit und zum Lobpreis Gottes. Wer eines Tages in
dieser Weise vor Christus stehen will, der tut gut daran, die Weichen schon heute
entsprechend zu stellen. Das hat Paulus bereits im vorangehenden Vers mit dem
Ruf, zu prüfen, worauf es ankommt, unterstrichen. Wenn er jetzt in Vers 11 von der
Frucht der Gerechtigkeit spricht, geht es ebenfalls darum.48 Gerechtigkeit steht an dieser
Stelle in alttestamentlicher Bedeutung (Gnilka 53) für gerechtes Handeln, für einen
gottgefälligen Lebensstil,49 und was Paulus hier unbestimmt lässt, führt er an
anderen Stellen im Brief aus: »Habt diese Gesinnung in euch, die auch in Christus
Jesus war (Phil 2,5); Tut alles ohne Murren und Zweifel (Phil 2,14); Alles was wahr,
alles was ehrbar ist . . . , das erwägt. Was ihr auch gelernt und empfangen und
gehört und an mir gesehen habt, das tut (Phil 4,8f)!« Sicher können die Philipper
sich nicht über einen Mangel an konkreten Anstössen zur Umsetzung beklagen. Es
wäre jedoch falsch, diese Art der Frucht von der Frucht des Geistes unterscheiden
und trennen zu wollen, wie Paulus sie in Gal 5,22f schildert. Die verschiedenen
Arten von Früchten im Leben eines Christen, die wir oft nach den Bereichen
unterscheiden, in denen sie sichtbar werden (Charakterreife, gottgefällige Werke,

47 1Kor 10,32 zeigt eine Verwendung von avpro,skopoj, die sich auf die aktive Bedeu-
tung beschränkt. (Im Gegensatz zu den meisten anderen Auslegern argumentiert
Hawthorne, dass Paulus auch hier die aktive Bedeutung vor Augen hat. (28))
48 Theoretisch liesse sich auch die Ansicht vertreten, mit Gerechtigkeit sei hier die
Rechtfertigung durch Christus gemeint. Die Ergänzung die durch Jesus Christus gewirkt
wird kann diese Sichtweise stützen. Ausserdem scheint sie auf einer Linie mit
Phil 2,12 zu liegen (»Bewirkt euer Heil mit Furcht und Zittern!«). Da es Paulus mit
seinen Ausführungen über Einsicht und das Prüfen dessen, worauf es ankommt, jedoch
um das praktische Leben der Philipper geht, scheint diese Auslegung unwahrschein-
licher (s. dazu auch O'Brien 80-81 , Fee 103-04 und Gnilka 53).
49 Am 6,12; Spr 11,30. Vgl. dazu im NT Mt 6,1; Apg 10,35; Eph 5,9; 2Tim 3,16;
Hebr 1,9; 11,33; 1Jo 2,29;3,7 u. a.

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geistliche Vollmacht etc.), haben eine Gemeinsamkeit: Sie entstehen ausschliesslich


aus der Abhängigkeit von Jesus heraus. Seine verbale Demütigung »Getrennt von
mir könnt ihr nichts tun« (Joh 15,5) gilt immer noch – auch im Bezug auf unser
Handeln (Eph 2,10). Und es muss so sein, damit alles, was an Gutem aus uns
herauskommt (Und das kann viel sein. Dieser Meinung ist jedenfalls Paulus.) zur
Ehre und zum Lobpreis Gottes beiträgt. Damit setzt Paulus seinen Zuspruch aus
Vers 6 (»Ich bin ebenso guter Zuversicht, dass der, der ein gutes Werk in euch
angefangen hat, es vollenden wird bis auf den Tag Christi Jesu.«) konsequent auch
als Gebetsanliegen um. Mit dem Hinweis auf das letzte Ziel, die Verherrlichung
Gottes, schliesst der Apostel seinen Gebetsbericht und den Kreis, den er in Vers 3
mit einem Dank an Gott eröffnet hat (O'Brien 82). Solche Ausdrücke der
Verherrlichung Gottes (sogenannte Doxologien) wurden typischerweise im Finale
alttestamentlicher bzw. jüdischer Gebete verwendet, was ja bereits die Auslegungen
von Eph 1,15-19 und 3,14-19 gezeigt haben.50 Paulus folgt hier also der
überlieferten Form. Und doch tut er mehr als das: Mit seinem Hinweis auf das Lob
Gottes stellt er jedes einzelne seiner Anliegen nochmals in einen Rahmen, richtet
jeden Begriff wie eine Kompassnadel auf diesen einen Pol aus: Liebe, Erkenntnis,
Einsicht, Prüfen des Wesentlichen, Lauterkeit, Unanstössigkeit, Frucht der Gerechtigkeit – alles
zur Herrlichkeit und zum Lobpreis Gottes.

2.4. Kolosser 1,9-11: Erfüllt mit der Erkenntnis


Seines Willens
»9 Deshalb hören auch wir nicht auf, von dem Tag an, da wir es gehört haben, für euch zu beten
und zu bitten, dass ihr mit der Erkenntnis seines Willens erfüllt werdet in aller Weisheit und
geistlichem Verständnis, 10 um des Herrn würdig zu wandeln zu allem Wohlgefallen, frucht-
bringend in jedem guten Werk und wachsend durch die Erkenntnis Gottes, 11 gekräftigt mit aller
Kraft nach der Macht seiner Herrlichkeit, zu allem Ausharren und aller Langmut, mit
Freuden.«

Wie es schon im Brief an die Epheser der Fall war (Eph 1,15), sieht Paulus sich hier
(gemeinsam mit Timotheus) zum Gebet motiviert, nachdem er erfreuliche Nach-
richt vom Zustand der Kolosser erhalten hat. Wie bei den Ephesern sind es hier
Glaube und Liebe, über die der Apostel sich besonders freut (Kol 1,4). Und so lässt
sich das zentrale Anliegen des Gebets auch hier mit dem anhaltenden Wachstum
einer Gemeinde beschreiben, in der bereits viel Gutes vorhanden ist. Dies steht in
keinem Gegensatz zum Anlass des Briefes, der in einer Bedrohung der Gemeinde
durch Irrlehrer besteht. Gerade der Kolosserbrief zeigt, dass die Abwehr falscher
Lehren am besten durch das Bewusstmachen und Vertiefen der Wahrheit des
Evangeliums geschieht.
9 Deshalb hören auch wir nicht auf, von dem Tag an, da wir es gehört
haben, für euch zu beten und zu bitten, dass ihr mit der Erkenntnis seines
Willens erfüllt werdet in aller Weisheit und geistlichem Verständnis. Paulus
hat einen vorherrschenden Wunsch, dass nämlich die Kolosser mit der Erkenntnis
seines Willens erfüllt werden. Was ist dieser Wille Gottes? In Röm 12,2 ist Paulus
ausführlicher: »Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt
durch die Erneuerung des Sinnes, dass ihr prüfen mögt, was der Wille Gottes ist:
das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.« Dieser Wille scheint auf
Umsetzung zu drängen. De Boor meint, dass der Wille Gottes immer wieder neu
zu fassen sei, weil sich die Umstände in denen er zum Ausdruck kommen muss,

50 Auch die abschliessenden Verse zahlreicher Psalmen verdeutlichen dies. S. etwa Ps


21; 35; 41; 45; 66 u. a. (Gnilka 53).

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laufend verändern (172). Es wird hier etwas davon spürbar, was Paulus in Phil 1,10
durch seine Aufforderung: »Prüft, worauf es ankommt!« hat anklingen lassen. Und
wie dort wird auch hier die Kraft zur Ausführung noch eine Rolle spielen. Dunn
bezeichnet die Sehnsucht nach dieser Erkenntnis als typisch jüdisch (Ps 143,10),
typisch Jesus51 und typisch Urgemeinde52 (69). (Mehr zu evpi,gnwsij S. 11)

(A) Das Substantiv evpi,gnwsij (epignosis) bedeutet das Erfassen oder Erfassthaben
eines Objektes mittels Wahrnehmung, wobei
(B) Inhalt und Wesen des Objektes im Vordergrund stehen (nicht seine Form);
(C) das Objekt eine geistliche Komponente hat;
(D) irrelevant ist, ob es sich beim Objekt des Erfassens um einen
Sachverhalt/abstrakten Gegenstand oder eine Person (im Korpus Gott oder
Christus) handelt;
(E) der Vorgang positiv bewertet wird.

Bedingung (B) der Definition sagt, dass das Objekt der Erkenntnis seinem Gehalt
nach erfasst werden muss. Wenn hier also vom Willen Gottes die Rede ist – der
zunächst einmal tatsächlich nichts anderes als Information darstellt – und dieser nach
einer Antwort, einer Umsetzung verlangt, dann muss diese Umsetzung sich
ebenfalls nach dem Gehalt, nicht nach der äusseren Form des Willens richten. Ein
Mensch, der sich dem Rotwein zuwendet, nachdem sein Freund ihm geraten hat,
den Bierkonsum doch etwas zu reduzieren, hat nicht auf den Gehalt, sondern auf
die Formulierung des Ratschlages reagiert. Nachdem Gott Sein Gesetz in unsere
Herzen gelegt hat (Jer 31,33), sind wir auch schuldig, auf das Herz dieses Gesetzes
zu reagieren. Diese Art der Erkenntnis unterscheidet sich radikal von allen
spekulativen theoretischen Gedankenspielen und Philosophien, mit denen die
Kolosser konfrontiert waren (Kol 2,8;23; Bruce 46, Martin 1974 50). Sie ist das
Zentrum echter »Herzensreligion« (Bruce 46).
Die Erkenntnis Seines Willens soll die Kolosser nicht weniger als erfüllen.53 Auch
diesem Wort sind wir in verschiedenen Gebetstexten bereits begegnet (Phil 1,11;
Eph 3,19), und selbst an Stellen, wo das nicht ausdrücklich der Fall war, vermittelte
Paulus auf andere Weise das Gefühl, als ginge es darum, nach den Sternen zu
greifen – und als seien diese Sterne in Reichweite. Im Kolosserbrief spricht er in
verschiedenen Zusammenhängen von Erfüllung, wobei er jedoch unterschiedliche
Begriffe verwendet (O'Brien 20).54 Möglicherweise waren die Kolosser Christen
verunsichert, nachdem sie von Epaphras vorerst nur in die Grundlagen des
Glaubens eingeführt worden waren (Kol 1,6f) und ihnen neue Lehrer nun plötzlich
eine andere Fülle versprachen (O’Brien 20).
Dass Paulus seinen Wunsch mit in aller Weisheit und geistlichem Verständnis ergänzt,
unterstreicht einmal mehr den Zusammenhang zwischen Erkennen und Leben. Die
beiden Substantive sind hier wohl als Einheit zu verstehen, wie sie auch im Alten
Testament verwendet wurden. (Barth und Blanke 175).55 Die Zusätze alle und

51 Mt 6,10; 7,21; Mk 3,35; 14,36; Lk 12,47


52 Apg 21,14; Eph 5,17; 6,6; Hebr 10,36; 13,21; 1Petr 3,17; 1Jo 2,17
53 In Kol 4,12 beschreibt Paulus das Gebetsanliegen seines Gefährten Epaphras für
die Kolosser: »[D]ass ihr vollkommen und völlig überzeugt in allem Willen Gottes
dasteht.« In diesen Worten wird nochmals klar, dass es um mehr geht als das isolier-
te Wissen darüber, was Gott will.
54 Kol 1,19.24.25; 2,2.3.9.10; 4,12.17
55 2Mo 31,3; 35,31.35; 1Chr 22,12; 2Chr 1,10.11; Jes 11,2

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geistlich beziehen sich demnach auf beide Elemente (auch O'Brien 22). (Mehr zu
sofi,a S. 14, zu su,nesij S. 15)

(A) Das Substantiv sofi,a (sophia) bezieht sich auf ein System theoretischer
Vorstellungen einer Person (Gott oder Mensch), wobei
(B) diese Vorstellungen ihren konkreten Ausdruck im Handeln ihres Besitzers
finden;
(C) irrelevant ist, ob diese praktische Umsetzung ausgeführt wird oder nur in
einer Absicht besteht;
(D) diese Vorstellungen nicht als positiv oder negativ gewertet werden.

(A) Das Subtantiv su,nesij (synesis) bezeichnet das Vertrautsein mit


Sachverhalten, wobei
(B) weder das Vertrautsein noch dessen Inhalte als positiv oder negativ
gewertet werden.

Mit der Bitte um alle Weisheit und alles Verständnis greift Paulus nochmals den
Aspekt der Fülle auf, und wenn man diese Aussage als Forderung sieht, kann sie
durchaus bedrohlich wirken. Beides ist jedoch vom Geist gewirkt und damit Gottes
Werk an den Lesern. Für Paulus sind Weisheit und Verständnis Gaben Gottes, die
ihre Verkörperung in Christus gefunden haben, »in dem alle Schätze der Weisheit
und Erkenntnis56 verborgen sind« (Kol 2,3). Auch damit stellt er sich gegen die
Irrlehrer und ihren blossen »Anschein von Weisheit in eigenwilligem Gottesdienst«
(Kol 2,23; Martin 1974 51).
Die Struktur der Gebetstexte ist nicht streng systematisch (Barth Ephesians 368),
und Schnackenburgs Bezeichnung von Eph 3,14-19 als ein »Fortströmen der
Gedanken« (146) lässt sich sicher auf die anderen paulinischen Gebete übertragen.
Entsprechend ist es auch hier nicht sinnvoll, die Begriffe Erkenntnis, Weisheit und
Verständnis mathematisch auseinanderdividieren und in ein mechanisches Verhältnis
zueinander setzen zu wollen. Paulus legt den Kolossern ans Herz, sich nach der
Erkenntnis Gottes auszustrecken, einer Erkenntnis, die sich direkt ins Leben hinein
auswirkt und Leitfaden für den Alltag werden will.57 Letztlich unterscheidet seine
Bitte für die Kolosser sich kaum von der aus Eph 1,17, wo er um »den Geist der
Weisheit und der Offenbarung in der Erkenntnis seiner selbst« betet. Diese
Parallele (und die Erwähnung der Erkenntnis Gottes im nächsten Vers) zeigt, dass die
Erkenntnis von Gottes Willen sich nicht als Sachfrage von der Vertrautheit mit
Seiner Person trennen lässt.
Dass Paulus dieses Anliegen in all seinen Gefängnisbriefen (Eph, Phil, Kol,
Phim) vertritt, könnte ein Hinweis darauf sein, dass er selbst nicht mehr damit
rechnete, die angeschriebenen Gemeinden oder – im Fall von Philemon – Perso-
nen nochmals besuchen zu können (O'Brien 21). Sein Gebet (und sein Schreiben)
konzentrierte sich daher auf das Wesentlichste. Das Gebet um Erkenntnis ebnet

56 Im Griechischen stehen hier sofi,a (sophia) und gnw,sij (gnosis).


57 Martin hat in seinem Kolosserkommentar von 1972 die Vermutung geäussert, dass
Paulus sich mit der Verwendung dieser Begriffe (Erkenntnis, Weisheit, Verständnis) be-
wusst des Vokabulars seiner Gegner bedient und deren Sprache damit »desinfizie-
ren« will (29). In seiner Auslegung von 1974 jedoch führt er diese Sicht nur noch als
eine Möglichkeit an (51). Dies ist vorstellbar, scheint allerdings nicht ganz zur Stra-
tegie des Paulus zu passen, wie sie ansonsten im Kolosserbrief erkennbar wird. Er
verfängt sich ja eben nicht in defensiven Widerlegungsbemühungen, sondern malt
den Kolossern ein leuchtendes Bild von Christus vor Augen, in dem die ganze Fülle
der Gottheit leibhaftig wohnt (2,9).

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hier auch den Weg für das, was innerhalb des Briefes noch kommen soll (O'Brien
22), denn Paulus will seine Leser herausfordern, sich neu der überragenden Grösse
Christi zu stellen.
10 . . . um des Herrn würdig zu wandeln zu allem Wohlgefallen, frucht-
bringend in jedem guten Werk und wachsend durch die Erkenntnis Gottes.
Dass die gewünschte und geforderte Erkenntnis mehr ist als das »Feststellen eines
Tatbestandes, dem man dann eventuell sein Handeln anpasst« (Schweizer 41), wird
jetzt noch klarer. Paulus deklariert die Konsequenz der Erkenntnis: um des Herrn
würdig zu wandeln. Das Verb wandeln verwendet er hier nicht zum ersten Mal, und ein
Blick auf Verse wie Röm 13,13 lässt keinen Zweifel daran, dass es ihm dabei – ganz
dem jüdischen Begriffsverständnis entsprechend – um die Gestaltung des Lebens
geht: »Lasst uns anständig wandeln wie am Tag; nicht in Schwelgereien und
Trinkgelagen, nicht in Unzucht und Ausschweifungen . . . .«58 Im Kolosserbrief
verwendet Paulus wandeln an zwei weiteren Stellen zur Bezeichnung einer neuen
Lebensweise (2,6; 4,5).
Über das Verhältnis, in dem wandeln zur vorher geäusserten Bitte um Fülle der
Erkenntnis steht, herrscht nicht volle Klarheit. Die Konstruktion des Satzes lässt
(mindestens) zwei Sichtweisen zu: Absicht bzw. Zweck59 oder Resultat.60 Der Sinn
der Gesamtaussage ist von dieser Entscheidung jedoch kaum abhängig, und
möglicherweise vermittelt eine Verbindung beider Aspekte das zuverlässigste Bild
dessen, worum es Paulus geht. Dass die Erkenntnis Gottes (oder Seines Willens)
fest mit einem entsprechenden Leben verbunden ist, ist nicht mehr neu. Doch ist
der Lebenswandel als Ausdruck der Erkenntnis die höhere Absicht dahinter oder
aber eine natürliche Frucht davon? Muss dieses Leben bewusst angestrebt werden
oder entsteht es automatisch? – Beides. Auch hier finden wir uns in einem
Spannungsfeld, das sich in viele Bereiche unseres Christseins hereinstreckt. Paulus
unterstreicht die Komplexität (oder die Lebendigkeit) dieser Zusammenhänge,
indem er hinzufügt: wachsend durch die Erkenntnis Gottes. Der Lebensstil selbst (im
Gehorsam gegenüber gewonnener Erkenntnis) bewirkt wiederum tiefere Gotteser-
kenntnis, welche ihrerseits in den Lebensstil hineinfliesst.
Des Herrn würdig soll dieser Lebensstil sein. Ähnliche Ermahnungen sind bei
Paulus häufig, so etwa an die Thessalonicher, die er »ermahnt und getröstet und
beschworen hat, des Gottes würdig zu wandeln, der euch zu seinem Reich und
seiner Herrlichkeit beruft« (1Thes 2,12).61 Hier nun ist nicht Gott, sondern Christus
der Massstab, ist Herr62 doch das »führende christologische Prädikat im Kolosser-
brief« (Gnilka 40).63 Dunn schlägt deshalb vor, dass hier der Gedanke an die Nach-
ahmung des überlieferten Lebensstils Jesu mitspielen könnte (71). Sicher ist
jedenfalls nichts falsch daran, sich nach dem zu richten, der gesagt hat: »Ich tue
nichts von mir selbst, sondern wie der Vater mich gelehrt hat, das rede ich«
(Joh 8,28). (Soviel zur Enge der Beziehung zwischen Erkenntnis und Gehorsam.)
Die Beifügung zu allem Wohlgefallen verleiht der Würde des Lebenswandels Nach-

58 s. auch Röm 6,4; 8,4; 14,15; 1Kor 3,3; 7,17 und viele weitere.
59 Barth und Blanke (173), O'Brien (18),Gnilka (40), Hübner (50)
60 Dunn (71), Schweizer (40)
61 s. auch Phil 1,27; Röm 16,2; Eph 4,1
62 Griechisch ku,rioj (kyrios)
63 Barth und Blanke behaupten gar, dass Herr sich im Kolosserbrief immer auf Chris-
tus bezieht (177).

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druck und bringt ihn auf die Beziehungsebene. Der Herr soll sich daran freuen
können.64
Was nun den Inhalt des würdigen Wandels betrifft, wird Paulus nicht konkreter
als fruchtbringend in jedem guten Werk und wachsend durch die Erkenntnis Gottes. Dasselbe
hat er in Kol 1,6 bereits über das Evangelium gesagt, dass es nämlich Frucht bringe
und wachse; und auch dort wird Erkenntnis als Basis dieses Wachstums bezeichnet.
Könnte es also sein, dass er sich hier auf Mission und Gemeindewachstum bezieht?
Schweizer sieht keine Möglichkeit, für Kol 1,10 zu entscheiden, welcher Aspekt für
Paulus im Zentrum stand. Und man darf sich die Frage stellen, wie sinnvoll es ist,
sich um eine scharfe Trennung zwischen persönlichem und gemeindlichem Wachs-
tum zu bemühen. Auch Martin (1974 52) meint, dass beide Elemente zusammen-
gehören. Die guten Werke, die den Lebenswandel des Einzelnen auszeichnen, sind
gleichzeitig ja auch ein Erkennungszeichen der Gemeinde. »Was das Evangelium
bewirkt, findet im Wirken dieser Menschen seine eigentliche Erfüllung« (Hübner
51). Der engere Kontext scheint hier allerdings nahezulegen, dass Paulus weniger
an Gemeindewachstum als an persönlichen Fortschritt denkt. Er spricht von
Frucht, die in jedem guten Werk zum Ausdruck kommt. Was aus dem Mund von
Paulus im ersten Moment ungewöhnlich klingt, bezieht sich auf dieselben Werke,
die er in Eph 2,10 beschreibt, nämlich jene, die »Gott vorher bereitet hat, damit wir
in ihnen wandeln sollen«. Auch 2Kor 9,8 schildert den Ursprung dieser Werke als
bei Gott liegend, und Paulus spricht hier ja immer noch von Ausdrucksformen der
Gotteserkenntnis. Auch Gal 5,22f fügt sich in diesen Gedanken ein, denn
schliesslich sind Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue,
Sanftmut und Selbstbeherrschung nichts anderes als gute Werke, sobald sie in unse-
ren Beziehungen Gestalt gewinnen.
Parallel zum Fruchtbringen steht das Wachsen in der Erkenntnis (evpi,gnwsij,
epignosis, S. 11) Gottes. Sprachlich wäre es möglich, hier das Wachstum durch die
Erkenntnis Gottes zu sehen, und dass dieses Verständnis auch inhaltlich keine
Probleme bereitet, ist inzwischen klar. Da aber der erste Teilsatz mit den guten
Werken eindeutig den Inhalt des Fruchtbringens bezeichnet hat und da die beiden
Teilsätze aufgrund ihrer Konstruktion eng miteinander verbunden sind, ist
anzunehmen, dass Paulus auch hier das Wachsen näher bezeichnen wollte: Wachsen
in Bezug auf die Erkenntnis Gottes.65 Sie ist also gleichzeitig Wachstumsgrund und
Wachstumszone. Erkenntnis führt (im Idealfall) zu Gehorsam, dieser Wiederum zu
vertiefter Erkenntnis. So wächst der Mensch heran, damit er erfüllt wird zur ganzen
Fülle Gottes (Eph 3,19).
Im Gegensatz zu 1,9 spricht Paulus jetzt nicht mehr von der Erkenntnis seines
Willens, sondern von der Erkenntnis Gottes. Unter dem Vorbehalt, dass auch hier der
Versuch einer scharfen Unterscheidung wenig sinnvoll erscheint, weist Dunn
darauf hin, dass es Paulus doch um etwas mehr als um eine blosse Wiederholung
und Verstärkung geht (72). Eph 1,17-19 zeigt ausführlicher, was die Erkenntnis
Gottes beinhaltet. Vor dem jüdischen Hintergrund des Apostels ist sie als das
Erfahren von Gottes Handeln und als Ausdruck der Anerkennung Gottes durch

64 Dass Paulus hier an Wohlgefallen vor den Menschen gedacht haben könnte, scheint
unwahrscheinlich. Schliesslich ist er es, der dazu aufgerufen hat, die Bestätigung
Gottes mehr zu suchen als die der Menschen (Gal 1,10; Eph 6,6; 1Thes 2,4). Gnilka
(42) und Barth und Blanke (178) diskutieren die Möglichkeit. Barth und Blanke be-
haupten, dass beide Ebenen gemeint sind (ebd.).
65 Diese Sicht vertreten auch De Boor (172) und O'Brien (18).

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entsprechendes Verhalten zu verstehen (Dunn 72-73).66 Dementsprechend ist


fehlende Gotteserkenntnis die Wurzel aller Sünde (Röm 1,21).67
11 . . . gekräftigt mit aller Kraft nach der Macht seiner Herrlichkeit, zu
allem Ausharren und aller Langmut mit Freude. Nach den Ausführungen über
das Leben der Briefempfänger wendet Paulus sich jetzt der Quelle jener Kraft zu,
die eine solch gewaltige Veränderung bewirken soll. Auch diese Gedanken sind uns
bereits im Epheserbrief begegnet (1,19; 3,16). Die Kolosser sollen gekräftigt sein mit
aller Kraft nach der Macht seiner Herrlichkeit. Die Häufung von Kraft-Begriffen erinnert
an Eph 1,19, wo von der »überragenden Grösse seiner Kraft« und der »Wirk-
samkeit der Macht seiner Stärke« die Rede war. Zwei Dinge stehen für Paulus im
Mittelpunkt. Erstens wirft er den herausgeforderten Kolossern den Zuspruch zu:
»Es ist genug für alle da! Diese Kraft reicht.« Und nach der Schilderung der hohen
Ansprüche in den vorangehenden Sätzen muss den Briefempfängern klar sein, dass
sie auf diese Kraft unbedingt angewiesen sind. Aus dem Mund von Paulus hat eine
solche Zusage besonderes Gewicht, schliesslich hat er selbst diese Kraft erfahren
und ist ihr Werkzeug gewesen (Dunn 73): »[M]eine Rede und meine Predigt
bestand nicht in überredenden Worten der Weisheit, sondern in Erweisung des
Geistes und der Kraft« (1Kor 2,4).68
Die zweite Aussage: Diese Kraft kommt von Gott. Es ist die Kraft des Gottes,
»der über alles hinaus zu tun vermag, über die Massen mehr als wir erbitten oder
erdenken« (Eph 3,20). Dies mag selbstverständlich klingen, doch Paulus unter-
streicht diesen Punkt nochmals: nach der Macht seiner Herrlichkeit. In der Analyse von
Eph 3,16 wurde bereits darauf hingewiesen, dass Herrlichkeit die Bedeutung von
Kraft tragen kann (S. 27). Auch hier scheint Paulus diese Bedeutung im Blickfeld zu
haben. Es ist jedoch auch denkbar, dass der Zusatz seiner Herrlichkeit die
Beschaffenheit der Macht näher bestimmen soll, sie also als herrliche Macht zu
verstehen ist.69 Sicher scheint jedenfalls, dass Paulus seiner Aussage Nachdruck
verleihen und diese Macht unmissverständlich als ausreichend und von Gott
kommend bezeichnen wollte.70
In beinahe ironischem Kontrast zu diesen gewaltigen Begriffen nennt Paulus
jetzt das Ziel der übermässigen Kraftwirkung Gottes: zu allem Ausharren und aller
Langmut mit Freuden. All das klingt für unseren Geschmack weitaus zuwenig dyna-
misch und explosiv, als dass es so direkt mit der Kraft Gottes zusammenhängen
könnte. Sogar im Vergleich mit den zahmeren Fruchtbringen und Wachsen wirken
Ausharren und Langmut statisch und unspektakulär. Auch in diesem Fall ist
anzunehmen, dass die beiden Begriffe nicht ihrer Bedeutungsnuancen wegen
nebeneinander stehen, sondern vielmehr als Verstärkung eines Anliegens (Dunn
74).71 Möglicherweise ruft Paulus seinen Lesern hier ganz bewusst die Haltung

66 1Sam 3,7; Ps 9,11; Jes 43,10; Mi 6,5; 5Mo 4,39-40; Spr 9,10; Dan 11,32
67 Barth und Blanke meinen, dass fruchtbringend und wachsend (die auch im Griechischen
mit zwei Partizipien ausgedrückt werden) imperativisch und somit als eigentliche
Anweisungen zu verstehen sind (178-79). Dies ist jedoch nicht entscheidend, da der
Gebetsbericht selbst natürlicherweise auch ermahnenden Charakter hat. In jeder
Bitte, die Paulus Gott gegenüber äussert, schwingt auch der Ruf an die Briefemp-
fänger mit, dem Guten mit allen Kräften nachzujagen.
68 s. auch Röm 1,16; 15,19; 2Kor 4,7; 12,9; 1Thes 1,5 (Belege Dunn 73)
69 So nach Bruce (47) unter Verweis auf Kol 1,27; Röm 8,21; 2Kor 4,4.6; Eph 1,18;
3,16.
70 Dass Paulus hier die Herrlichkeit Gottes als Quelle der Kraft verstanden haben
wollte (Dunn 74), scheint eher unwahrscheinlich.
71 Barth und Blanke argumentieren, dass Paulus Ausharren (u`pomonh,, hypomone) und
Langmut (makroqumi,a, makrothymia) in seinen Schriften unterscheidet (182). Im

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ihres Herrn in Erinnerung (Martin 1972 32-33). Er ist ihnen Vorbild in allen ge-
nannten Bereichen: Erkenntnis Gottes einschliesslich des entsprechenden
Lebenswandels, Fruchtbarkeit, Kraft. Gleichzeitig war Sein Leben gekennzeichnet
von Ausdauer und Geduld. Ob Paulus hier Bezug auf die konkreten Umstände der
Kolosser nimmt, wird nicht klar. Jedenfalls geht es ihm darum, die Gemeinde zum
Durchhalten in schwierigen Zeiten zu ermutigen (vgl. Röm 12,12). Die folgenden
Verse zeigen, dass die beiden Begriffe hier in einem eschatologischen, also auf das
Ende der Zeit gerichteten Kontext stehen, dass Paulus den Blick seiner Leser nach
vorne lenken möchte, an den Ort, an dem die Erfüllung auf sie wartet.72 Das
bedeutet jedoch nicht, dass sie den Rest ihrer irdischen Existenz passiv und
mürrisch absitzen sollen. Ausharren und Langmut sollen sich vielmehr mit Freude
verbinden (vgl. Jak 1,2).73 Welcher Anspruch! Hier werden einmal mehr die Unter-
schiede zur menschlichen Philosophie sichtbar. Die philosophische Schule der
Stoiker hielt Geduld und Leidensbereitschaft ebenfalls als zentrale Werte hoch.
Bruce stellt treffend fest, dass dem stoischen Ideal der Selbstgenügsamkeit jedoch
das christliche Ideal der Christusgenügsamkeit gegenübersteht (48). Die christliche
Gelassenheit entsteht aus dem Wissen, dass in Christus alle Fülle ist (Kol 1,9), und
dass dem, der Ihm nachfolgt auch in Schwierigkeiten das Mass an Kraft zur Verfü-
gung steht, das er benötigt.
Weiterer Kontext. Wieder lässt Paulus seinen Gebetsbericht in ein Lob Gottes
fliessen, auch wenn dies nicht ganz so ausdrücklich geschieht wie in Eph 3. Die
Parallelen zu Eph 1,12 sind auch hier auffallend: Den nach vorne gerichteten Blick
der Kolosser bedient der Apostel mit einem Bild ihres herrlichen Erbes, bevor er
ihnen ihren Stand bewusst macht, der ganz auf dem Handeln Gottes durch Jesus
Christus beruht. Die Kolosser sind bereits in dessen Reich versetzt. (Kol 1,13 vgl.
Eph 2,6), die Erlösung, die Vergebung der Sünden gehört ihnen (Kol 1,14 vgl.
Eph 1,7). Auch hier kann kein Zweifel daran bestehen, dass der, der ein gutes Werk
in ihnen angefangen hat, »es vollenden wird bis auf den Tag Christi Jesu« (Phil 1,6).

Rahmen dieses an sich ja wenig systematischen Gebetstextes scheint Verstärkung


als Absicht hinter dem Begriffspaar jedoch einleuchtender.
72 Diese eschatologische Perspektive stellt im Neuen Testament einen Schlüssel im
Umgang mit Verfolgungsleiden dar (s. etwa Jak 1,2-12; 1Petr 1,6ff; 4,13). Auch in
1Thes 1,2f betet Paulus um diese Haltung.
73 Es ist nicht mit Sicherheit feststellbar, ob sich die Formel mit Freuden auf Ausharren
und Langmut (gemäss Barth und Blanke 183, De Boor 173, Martin 1972 33,
Schweizer 40) oder aber auf das nachfolgende danksagend (Bruce 48, Gnilka 43,
Hübner 50, O'Brien 25) bezieht. Barth und Blankes Argumentation scheint jedoch
am überzeugendsten. Sie weisen auf weitere Belege hin, die Freude in Verbindung
mit derselben Thematik zeigen (Röm 5,3; 12,12; 1Thes 5,16; Apg 5,41; Jak 1,2;
1Petr 1,6; 4,13). Dies gilt auch für Kol 1,24-29.

43
3. Erkennen in den
paulinischen Gebetstexten
Wenn sich jene Erkenntnis Gottes, für die Paulus mit so viel Eifer und Hingabe
einsteht, im Leben eines Menschen tatsächlich ereignet, kann zweifellos von einem
»erfolgreichen Wahrnehmungsprozess« gesprochen werden. Für die systematische
Anordnung der Erkenntnisse aus der exegetischen Arbeit orientiere ich mich
deshalb an der Struktur des Wortfeldes Erkennen, wie ich es auf Seite 18 dargestellt
habe:

Elemente eines erfolgreichen Wahrnehmungsprozesses


Ermöglichung Resultat
Befähigung Auseinandersetzung
su,nesij
synesis
»Verständnis«
avpoka,luyij ginw,skw
apokalypsis ginosko
»Offenbarung« »wissen« sofi,a
sophia
sofi,a dokima,zw evpi,gnwsij »Weisheit«
sophia katalamba,nw epignosis
dokimazo
»Weisheit« katalambano »Erkenntnis«
»beurteilen«
»erfassen«
gnw,sij
fwti,zw gnosis oiv,da
photizo »Wissen« oida
»erhellen« »wissen«

3.1. Ermöglichung und Befähigung

3.1.1. Gott: Der Nicht-Wahrnehmbare wird wahrnehmbar.

Gott macht sich wahrnehmbar. Diese erste theologische Aussage, die sich
aufgrund der exegetischen Arbeit festhalten lässt, basiert auf dem Nachdruck, mit
dem Paulus den verschiedenen Briefempfängern das Ausstrecken nach der
Erkenntnis Gottes ans Herz legt. Gott lässt sich also tatsächlich erkennen. Oder
etwas präziser formuliert: Gott macht sich wahrnehmbar und lässt zu, dass Er

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erkannt wird. Dieser Satz kommt zwar unscheinbar und altbekannt daher, birgt in
sich aber einiges an Sprengkraft. Sie entsteht aus der Spannung zur Tatsache, dass
Gott Seiner Natur nach eben gerade nicht wahrnehmbar ist. Ausserhalb Seiner
selbst existiert nichts, was nicht von Ihm geschaffen wurde. Als Folge davon ist im
»urspünglichen« Zustand auch keine Wahrnehmung möglich, da diese ja neben
dem Wahrgenommenen auch einen Wahrnehmenden voraussetzt. Ausserdem ist
ein Rahmen nötig, der den beiden als gemeinsames Bezugssystem dient. Die
Kommunikation zwischen zwei Menschen wird wesentlich erleichtert, wenn beide
dieselbe Sprache sprechen oder zumindest wissen, was es bedeutet, sich »mit
Händen und Füssen« zu verständigen. Erst Gottes Handeln als Schöpfer hat die
grundlegendsten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wahrnehmungsvorgang
geschaffen. Das Ergebnis des Schöpfungsaktes waren ein zur Wahrnehmung
fähiges Gegenüber und ein Raum, in dem Gott sich diesem offenbaren und der als
Bezugssystem dienen kann.74 Wenn Paulus die Kolosser also zum Wachstum in der
Erkenntnis Gottes aufruft (Kol 1,10), dann sollte das in uns zumindest ein Staunen
auslösen. Dass dies trotz Gottes naturgemässer Nicht-Wahrnehmbarkeit möglich
geworden ist, bedeutet zudem Folgendes.
Erstens: Gott will sich offenbaren. Die Selbstoffenbarung Gottes muss ihren
Ursprung im freien Entschluss Gottes haben, da Sein Handeln sich an keinem
höheren Massstab orientieren oder gar von einem Zwang bestimmt sein kann. Die
Weisheit Gottes, die sofi,a (sophia, S. 14), ist wahrnehmbarer Ausdruck Seiner
Vorstellungen, Pläne und Absichten.75 Im Schöpfungsakt sehen wir demnach den
ersten Ausdruck von Gottes Absicht, sich dem Menschen zu offenbaren.
Apoka,luyij (apokalypsis, S. 7) beruht vollständig auf Seiner Initiative und ist damit
Ausdruck Seines Erbarmens gegenüber den Menschen. Sie selbst könnten keinerlei
Beitrag zur Erstellung dieses Zustandes leisten (vgl. Röm 5,8). In Eph 1,17 bittet
Paulus um den Geist der Weisheit und Offenbarung, und worauf sich diese Verwendung
von Geist auch bezieht (S. 21), es geht ihm auf jeden Fall um einen zunehmenden
Offenbarungsfluss von Gott zum Menschen.
Zweitens: Gott will sich offenbaren. In den vier Gebetsberichten finden sich
Bitten um spezielle Einsichten wie auch um nicht näher definierte auf Gott gerich-
tete Erkenntnis. Doch obwohl Paulus verschiedene Objekte des Erkennens klar be-
nennt,76 lassen seine Bitten ein dahinter liegendes grösseres Ziel erahnen. Verein-
zelt spricht er auch einfach von der Erkenntnis Gottes (Eph 1,17; Kol 1,10) oder lässt
die Begriffe des Erkennens ohne Objekte (Phil 1,9; Kol 1,9). Die gehäufte Verwen-
dung von evpi,gnwsij (epignosis, S. 11),77 das sich bei Paulus ja auf das Wesen des
Erkenntnisobjektes bezieht (Bedingung (B)), weist darauf hin, dass dieses grössere
Ziel entsprechend in der wesensmässigen Erkenntnis Gottes besteht.

74 Als Mittel zum Umgang mit diesem Bezugssystem dient die Sprache, die ohne ein
solches System kraftlos bleibt. Eine Aussage über einen Baum zu machen ist nur
dann sinnvoll, wenn alle Beteiligten diesen Begriff auf ein Element ihrer Umgebung
beziehen können, also wissen, was ein Baum ist. Auch wird es sich als schwierig
erweisen, jemandem einen Viertaktmotor zu beschreiben, der noch nie einen Motor
gesehen oder auch nur das Bedürfnis danach verspürt hat, sich mit einem solchen
auseinander zu setzen. Wenn sich jedoch zwei Ingenieure über dieselbe Thematik
unterhalten, sind Missverständnisse weniger wahrscheinlich, weil beide über ein
geeignetes Bezugssystem für die Verwendung der (Fach-) Begriffe verfügen.
75 Vgl. Röm 11,33; 1Kor 1,21.24.30; 2,7; Eph 3,10
76 Die Hoffnung seiner Berufung (Eph 1,18), den Reichtum der Herrlichkeit seines
Erbes (ebd.), die überragende Grösse seiner Kraft (Eph 1,19), die Breite, Länge,
Höhe und Tiefe (Eph 3,18), die Liebe des Christus (Eph 3,19), den Willen Gottes
(Kol 1,9).
77 Eph 1,17; Phil 1,9; Kol 1,9.10

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Wird der Aufruf zur Erkenntnis vor dem jüdischen Hintergrund von Paulus
betrachtet, verdichtet sich diese Vermutung zur Gewissheit. Die Verwendung des
Begriffs erkennen für die geschlechtliche Beziehung zwischen Mann und Frau zeigt
das deutlich.78 Das Theologische Begriffslexikon zum Neuen Testament weist darauf hin,
dass der neutestamentliche Erkenntnisbegriff dort dem Alten Testament ent-
stammt, »wo er eine personale Beziehung zwischen dem Erkennenden und dem Er-
kannten bezeichnet« (355).
Es geht Paulus also nicht in erster Linie darum, dass die Briefempfänger dies
oder jenes wissen. Stattdessen ist ihm daran gelegen, dass sie Gott kennen,
wesensmässig mit Ihm vertraut sind. Die Offenbarung Gottes als unbedingte
Grundlage dieser Erkenntnis ist deshalb nicht zuerst Freigabe von Informationen,
sondern Öffnung des Wesens. Mehr als Ausdruck Seiner Allwissenheit ist sie
deshalb Ausdruck Seiner Liebe.

3.1.2. Mensch: Der Nicht-Fähige wird fähig.

Die dritte Konsequenz aus der grundsätzlichen Wahrnehmbarwerdung Gottes


bezieht sich auf den Menschen: Der Mensch kann die Offenbarung Gottes wahr-
nehmen. Auch dieser Satz wirkt auf den ersten Blick selbstverständlich und nahe-
liegend. Doch auch hier ist Staunen angesagt. Eine Umformulierung zeigt das etwas
deutlicher: Der Mensch ist fähig, sich ein treffendes Bild von Gott zu ma-
chen. Hier geht es nicht um das Potenzial zum Verstoss gegen das 2. Gebot.
Wahrnehmung bedeutet jedoch, sich von einer Sache – oder einer Person – ein
Bild zu machen, und das gilt auch für die Wahrnehmung göttlicher Offenbarung.79
Dass Paulus seine Bemerkungen über die Erkenntnis Gottes so stark mit dem
Leben der Leser verbindet, zeigt, dass er nicht an eine nebulöse, verschwommene
Vorstellung von Gott dachte. Gleichzeitig gibt er selbst in diesen Texten wenig
Informationen über den konkreten Inhalt göttlicher Offenbarung. Anscheinend
traut er Gott zu, dass Er sich verständlich machen kann.
Die Fähigkeit des Menschen, Gott wahrzunehmen, hängt zuerst damit zusam-
men, dass Gott Seine Offenbarung in einem Rahmen geschehen lässt, der ganz und
gar menschlich ist. Er benutzt unsere Sprache. Nirgends wird das so deutlich
sichtbar wie in der Menschwerdung Jesu. Gott begibt sich ganz in das menschliche
System hinein, lernt quasi eine Fremdsprache – unsere Sprache –, um aus der Nähe
erfahrbar zu werden. Dies gilt auch für die verschiedenen Offenbarungen im Alten
Testament, Träume, Visionen, Begegnungen mit dem Engel des Herrn, brennende
Büsche, sprechende Esel, anhaltenden Regen und strahlende Regenbögen. Gott hat
sich entschieden, die Sprache der Menschen zu reden. In diese Voraussetzungen
schickt Gott nun noch sein Licht und erleuchtet die Augen des Herzens (Eph 1,18). Wie
wir gesehen haben, kann fwti,zw (photizo, S. 16) sich sowohl auf den Wahrneh-
menden wie auch auf das Objekt der Wahrnehmung beziehen. Auf jeden Fall ist
dazu jedoch göttliches Licht notwendig, menschliches reicht nicht aus. Die Welt
vermag durch ihre eigene Weisheit oder Erkenntnisfähigkeit Gott nicht zu
erkennen (1Kor 1,21, vgl. Mt 11,27). Wenn Er aber erhellt, dann wird es möglich,
die Dinge im richtigen Licht zu sehen und zu prüfen, worauf es ankommt (Phil 1,10).

78 1Mo 4,1.17; Ri 21,12


79 Die Frage nach der Ähnlichkeit dieses Bildes und der Welt, die es darstellt, wird uns
später noch beschäftigen (S. 51).

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3.2. Auseinandersetzung

3.2.1. Gott: Immer noch grösser

Mit viel Sprachgewalt hämmert Paulus seinen Lesern die Wichtigkeit der
Erkenntnis Gottes ein. Wir haben bereits festgestellt, dass er dabei nicht besonders
systematisch vorgeht und seine Ausführungen mehr an Andacht und Meditation als
an klare Argumentation erinnern (Barth Ephesians 368). Was wäre in einem Gebets-
bericht anderes zu erwarten? Die mangelnde Systematik vermittelt jedoch auch
etwas vom Wesen des Gebetsinhaltes. Es wird deutlich, dass der biblische Erkennt-
nisweg nicht einfach von A nach B führt und dort zu seinem Ziel kommt. Statt-
dessen bedeutet das Streben nach Erkenntnis den Eintritt in einen Wachstums-
prozess, in dem sich die beteiligten Elemente in einem ständigen Fluss wiederholen
und ineinander übergehen. Die Erkenntnis Gottes kommt an kein Ende. Dies hat
zwei Gründe. Erstens: Gott ist noch grösser. Das Schwärmen von der uner-
messlichen Kraft Gottes (Eph 1,19; Eph 3,20; Kol 1,11) wäre unsinnig, wenn Gott
in der Erkenntnis des Menschen abschliessend fassbar wäre. Zweitens: Gottes
Offenbarung geht noch weiter. Bei allem Bemühen wird kein Mensch je an den
Punkt kommen, an dem Gott ihm nichts mehr zu zeigen hat. Gott hat kein Infor-
mationskontingent erlassen, an dessen Grenzen wir stossen könnten, wenn wir uns
zu sehr bemühen. Dem, was Gott einem Menschen offenbart hat, wird stets eine
unfassbare Menge von Dingen gegenüberstehen, die für diesen noch im Dunkeln
liegen, auf die das göttliche Licht noch nicht gefallen ist (vgl. 5Mo 29,28; Stott 384).

3.2.2. Mensch: Abhängig in Verantwortung

Auch im Bemühen um Erkenntnis ist der Mensch auf Gottes Hilfe angewiesen.
Paulus schliesst in seine Gebete immer wieder die Bitte um die Kraft Gottes ein,
die den Menschen im Innern stärken soll (Eph 3,16.20; Kol 1,11). Und auch die er-
leuchteten Augen des Herzens (Eph 1,18) zündet sich niemand selber an. Paulus macht
seinen Lesern damit ihre Abhängigkeit von Gott bewusst. Gleichzeitig haben seine
Gebetsberichte aber auch ermahnenden Charakter. Die Kraft Gottes ist für ihn Be-
fähigung zum Kampf, nicht Einladung zur Passivität. Damit ist die Verantwortung
der Leser angesprochen. Gott hat die Voraussetzungen für die Erkenntnis geschaf-
fen und sie dann individuell zur Wahrnehmung befähigt. Das bringt Verantwortung
mit sich. Verantwortung, die – wahrgenommen werden muss.

3.3. Resultat
Verschiedene Aussagen aus den Wortdefinitionen in Kapitel 1 erzeugen ein be-
fremdendes Gefühl, wenn man sie bewusst auf Gott als Erkenntnisobjekt bezieht
oder auf etwas, das zu Ihm gehört: Da ist von dem die Rede, was jemand gesehen,
erkannt, verstanden hat und jetzt weiss;80 davon, sich etwas zu eigen zu machen und von
Besitz- und Kontrollverhältnissen;81 vom Erkennen und Kennen eines Objektes;82 davon,
die Beschaffenheit des Objektes erkennbar zu machen und zu beurteilen;83 vom wesensmässigen

80 gnw,sij (gnosis), Bedingung (A)


81 katalamba,nw (katalambano), Bedingungen (A) und (B)
82 ginw,skw (ginosko), Bedingung (A)
83 dokima,zw (dokimazo), Bedingung (A)

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Erfassen84 und vom Vertrautsein85. Können – und dürfen – solche Wörter auf Gott
bezogen werden? Nach der Betrachtung dessen, was Paulus in seinen Gebets-
berichten dazu zu sagen hat, muss die Frage mit einem klaren Ja beantwortet
werden. Daraus wiederum ergeben sich folgende Aussagen über Gott und über den
Menschen.

3.3.1. Gott: Das Unfassbare erfasst

Nachdem Er die Voraussetzungen für Erkenntnis geschaffen hat, lässt Gott sich
auch tatsächlich erkennen. Gott wird nicht nur fassbar. Das Resultat des Erkennt-
nisvorgangens heisst: Gott ist erkannt. Natürlich behält dabei seine Gültigkeit, was
oben unter 3.2.1. gesagt wurde, doch geht das nicht auf Kosten der Echtheit dieser
Erkenntnis.86 Und wenn wir in übertragener Bedeutung davon sprechen, dass Gott
erfasst ist, dann erinnert das daran, was Jesus tatsächlich und handfest mit sich hat
machen lassen. Es wird ein Wesenszug Gottes sichtbar, Ausdruck Seiner Liebe
zum Menschen und Seiner Sehnsucht nach dessen Nähe, eine Haltung, die man als
Bereitschaft zur Selbstauslieferung bezeichnen kann. Gott liefert sich der menschli-
chen Wahrnehmung aus, dem Menschen selbst, der sich durch sein Erkennen und
Verstehen immer wieder in eine Machtposition versetzt fühlt. Die verbreitete
Meinung dabei: Was verstanden ist, kann kontrolliert werden. Gottes Reaktion
darauf heisst: dennoch. Dass die Erkenntnis Gottes sich hier nicht ganz den
menschlichen Vorstellungen entsprechend verhält, werden wir weiter unten sehen.

3.3.2. Mensch: Vertrauter Gottes

Das Ergebnis des Prozesses zeigt den Menschen als Vertrauten Gottes auf zwei
Ebenen.
Der Mensch ist persönlich mit Gott vertraut. Der Absicht Gottes
entsprechend, sich selbst zu offenbaren (3.1.1.), besteht das Resultat der Erkenntnis
in persönlicher Vertrautheit. Paulus führt diesen Gedanken in seinen Gebets-
berichten nicht weiter aus. Seine Verwendung von evpi,gnwsij (epignosis, S. 11)
unterstreicht jedoch diesen Punkt (s. auch unter 3.1.1.). Die persönliche Vertraut-
heit des Apostels mit Gott wird aber in dem grossen Nachdruck seiner Bitten sicht-
bar. Die Häufung von bedeutungsähnlichen Begriffen (Eph 1,19; 3,19; Kol 1,11),
das wiederholte Sprechen von Fülle (Eph 3,19; Phil 1,11; Kol 1,9) und die anhal-
tende Verwendung von alle oder ganz87 (v. a. in Eph 3,14-19) können durchaus als
Hinweis darauf gewertet werden, dass Paulus diesen Gott, zu dessen Erkenntnis er
aufruft, persönlich kennt.
Der Mensch besitzt geistliches Wissen. Ein Vetrauter wird in Gedanken
und Pläne eingeweiht (Ps 25,14). So ist auch die Erkenntnis Gottes nicht von der
Kenntnis geistlicher Wahrheit zu trennen. Lincoln ist der Meinung, dass Paulus mit
seinen Ausführungen in Eph 3,14-19 die Ansicht ausdrückt, dass gehaltvolle theo-
logische Erkenntnis sich langfristig als hilfreicher erweisen wird als eine endlose
Aneinanderreihung von Ermahnungen (221). Schnackenburg vertritt eine ähnliche
Sicht und sieht das Problem der Epheser in einem äusserlichen Christentum, das
den inneren Menschen noch nicht genügend ergriffen hat. Stärkung von Gott

84 evpi,gnwsij (epignosis), Bedingungen (A) und (B)


85 su,nesij (synesis), Bedingung (A); oi,da (oida), Bedingung (A),
86 Zur Bruchstückhaftigkeit der Erkenntnis siehe S. 53.
87 Im Griechischen steht hier in allen Fällen pa/j (pas).

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geschieht in einem vom Heiligen Geist ermöglichten Verstehensprozess der alles


übersteigenden Liebe Christi (156). Der Besitz geistlicher Wahrheit zieht also
weitere Konsequenzen nach sich. Der Mensch könnte entsprechend auch als
Verwalter dieser Wahrheit bezeichnet werden – womit ein wichtiger Wesenszug
biblischer Erkenntnis angesprochen und der Zeitpunkt für einen Anlauf Richtung
Erkenntnistheorie gekommen ist.

3.4. Ein erkenntnistheoretischer Anlauf in 7


Thesen

These 1: Biblische Erkenntnis ist von Gott gefordert.

Dieser Punkt ist kaum erklärungsbedürftig. Wenn Gott Erkenntnis ermöglicht,


wünscht Er sich konsequenterweise auch, dass wir diese Möglichkeit nützen.
Ansonsten wären die Gebete des Paulus nicht den Papyrus wert, auf dem sie
stehen. Nun haben wir aber gesehen, dass diese Erkenntnis keinen Endpunkt kennt
(3.2.1.), was zur Folge hat, dass auch der Ruf nach Erkenntnis nie verhallt – unab-
hängig vom persönlichen Erkenntnisstand. Ganz egal wieviel wir schon wissen, es
gibt immer noch mehr, was wir nicht nur erkennen können, sondern auch erkennen
sollen.
Reflexion. Lebe ich mit dem Bewusstsein, dass Gott mich auffordert, Ihn besser
kennen zu lernen? Können die Dinge meines Lebens, die Dinge, denen ich
nachrenne, im Licht dieser Forderung bestehen? Wie steht es mit meinem Durst
nach mehr Erkenntnis? Lässt er manchmal nach, weil ich denke, das Wesentliche
eigentlich begriffen zu haben? Was empfinde ich bei der Vorstellung, dass meiner
Erkenntnis eine überwältigende Masse von Dingen gegenübersteht, von denen ich
keine Ahnung habe?

These 2: Biblische Erkenntnis braucht Kraft.

Hier geschieht nichts automatisch. Wir haben uns um Erkenntnis zu bemühen, und
dazu ist Kraft notwendig. Die Erkenntnis geschieht wohl in Abhängigkeit von
Gott, sie fällt deshalb aber nicht einfach zu.88 Die grundsätzliche Fähigkeit des
Menschen, Gott zu erkennen hat nicht automatisch zur Folge, dass diese Erkennt-
nis auch geschieht. Wie jede andere Form der Wahrnehmung verlangt auch sie
bewusstes Entscheiden und Handeln. Der Mensch, der seiner Natur gemäss gehen
kann, muss dennoch die Entscheidung treffen, sich von A nach B zu bewegen und
einen Fuss vor den anderen zu setzen.
Reflexion. Investiere ich bewusst in meine persönliche Erkenntnis Gottes? Oder
rechne ich einfach damit, dass Er es schon so machen wird, wie Er es für gut hält?
Wessen Kraft kommt zum Zug, wenn ich grosse Schritte auf Gott zu gehen will?
Verlasse ich mich ganz auf Seine Stärke?

88 Ich vermute, dass es Paulus bei seinem Sprechen von Kraft um jene Kraft geht, die
für den Weg der Nachfolge ganz allgemein nötig ist (Kol 1,29; 1Tim 1,12;
2Tim 4,7). Die Erkenntnis Gottes wird dadurch nicht als eine besonders »anstren-
gende« Disziplin bezeichnet. Paulus läuft das Rennen der Nachfolge mit aller Kraft
und erwartet von den Briefempfängern dasselbe. Das Streben nach Erkenntnis ist
dabei eingeschlossen.

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These 3: Biblische Erkenntnis schaut auf Gott, den Anfänger und


Vollender.

Die Erkenntnis geschieht in einer Haltung, die von einer Doppelperspektive ge-
prägt ist. Im rückwärts gerichteten Blickfeld steht Gott als der erste Ermöglicher
der Erkenntnis. Wer sich um Erkenntnis bemüht, ist ganz von Ihm abhängig. Nicht
nur die Hinweise auf die Kraft Gottes zeigen das. Gott ist auch der Geber des
Geistes der Weisheit und Offenbarung (Eph 1,17), der Erleuchter der Herzens-
augen (Eph 1,18). Dass Christus in den Herzen wohnt, ist unerlässliche Voraus-
setzung für Erkenntnis (Eph 1,17), und die mit der Erkenntnis wachsende Frucht
der Gerechtigkeit entsteht in Abhängigkeit von Ihm (Phil 1,11).
Der vorwärts gerichtete Blick sieht Gott als den Vollender. In drei der vier
Texte fügt Paulus Bemerkungen über die letzte Zeit ein (Eph 1,18; 3,19; Phil 1,10),
im vierten ist das abschliessende Lob Gottes von dieser Perspektive geprägt
(Kol 1,12). Und natürlich bewirkt auch diese Sicht ein Gefühl und ein Bewusstsein
der Abhängigkeit – und die Stärkung des Vertrauens, wie Paulus es ausdrückte: »Ich
bin ebenso in guter Zuversicht, dass der, der ein gutes Werk in euch angefangen
hat, es vollenden wird bis auf den Tag Christi Jesu« (Phil 1,6).
Reflexion. In welchem Mass ist mein geistliches Leben von dieser Doppelper-
spektive geprägt? Ist mir Gott als Ursprung und Ermöglicher aller Erkenntnis
bewusst? Wie oft ist mein Blick auf das gerichtet, was mich in der Zukunft
erwartet? Wie lebe ich mit dem Wissen, dass Gott Anfänger und Vollender ist?
Mache ich mir Sorgen um meinen Beitrag, meine Möglichkeiten zur Selbstver-
wirklichung, zur Verwirklichung meiner Berufung?

These 4: Biblische Erkenntnis versöhnt Theorie und Praxis.

Paulus vermischt seine Ausführungen über Erkenntnis mit Bemerkungen über


einen entsprechenden Lebenswandel. Er tut dies so oft und mit soviel Nachdruck,
dass die Aussage, für ihn gehören Erkenntnis und Umsetzung zusammen, der Tiefe
der Verbindung nicht gerecht zu werden scheint. Eher müsste man sagen, dass die
Erkenntnis sich in ihrer Umsetzung vollzieht. Erst die Umsetzung beweist die
Echtheit der Erkenntnis und ist deshalb Teil von ihr – ähnlich wie die von Jakobus
geforderten Werke lebendiger Ausdruck eines ebensolchen Glaubens sind
(Jak 2,17f). Barth meint: Keine Erkenntnis ohne Wachstum und Ausdehnung
(Ephesians 162). Und de Boor bezeichnet Gott als »lebendige[n] Wille[n], dessen ich
erst handelnd in wachsendem Mass inne werde« (173).
Damit wird eines unserer heissgeliebten frommen Gegeneinander bedrohlich
unterhöhlt. Der Kontrast von Theorie und Praxis, zwischen theologischer Arbeit
(inklusive Ausbildung) und Gemeindebau, zwischen Gebet und Handanlegen zer-
fällt. Orientierungslosigkeit droht. (Was machen wir jetzt mit unseren liebgewonne-
nen Feindbildern?) Dafür wächst die Chance, sich nach dem Ganzen auszustre-
cken, das Paulus hier meint.
Dass Erkennen erst dann Erkennen ist, wenn es sich im Handeln vollzieht, sagt
auch einiges über dieses Handeln, unsere Lebensgestaltung aus. Und obwohl sie
hier nur am Rand stehen können, seien doch noch folgende Fragen erlaubt: Steht
unser Handeln auf der Basis biblischer Erkenntnis? Ist die Frucht meines Lebens
tatsächlich jene Frucht der Gerechtigkeit, die aus Erkenntnis, Einsicht und Prüfung
des Wesentlichen wächst (Phil 1,9-11)? Hat mein gottesfürchtiger Wandel seinen
Grund in der Erkenntnis Seines Willens und im Erfülltsein mit Weisheit und Ver-
ständnis (Kol 1,9f)? Oder ist vieles nur Oberfläche, Nachahmung, mehr Krampf als
Kampf? Unsere Beobachtung lässt sich nicht einfach umkehren: Während Gottes-

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erkenntnis sich immer Ausdruck im Leben verschafft, ist ein gottesfürchtig erschei-
nender Lebensstil nicht zwingend Ausdruck wahrer Erkenntnis.
Die Erkenntnis bahnt sich einen Weg ins Leben. Paulus spricht dann von einem
würdigen Wandel (Kol 1,10), von Lauterkeit und Unanstössigkeit (Phil 1,10), Frucht-
bringen in guten Werken (Kol 1,10) bzw. Frucht der Gerechtigkeit (Phil 1,10), von Liebe
(Phil 1,9) – und vom Wachsen in Erkenntnis (Kol 1,10). Gerade dieses letzte Element
unterstreicht nochmals, dass der konkrete Ausdruck, die Umsetzung nicht
notwendige Fortsetzung, sondern fester Bestandteil des Erkenntnisvorganges ist.89
In diesem Zusammenhang werden auch jene Aussagen aufschlussreich, mit denen
Paulus seine Gebete eingeleitet hat. Am Anfang stand jeweils die Freude darüber,
was im Leben der Briefempfänger schon jetzt an Gutem sichtbar ist (Eph 1,15;
Phil 1,9; Kol 1,9). Auch diese Qualitäten sind Ausdruck von Erkenntnis – aber alles
andere als Signal zum Stillstand, im Gegenteil: Jetzt ist anhaltendes Vorwärtsgehen
angesagt, damit ein Leben heranwachsen kann, das zunehmend von Weisheit ge-
prägt ist. Die sofi,a (sophia, S. 14) des Menschen, das System seiner Vorstellungen,
ist an Gottes Offenbarung geeicht und prägt seinen Lebenswandel entsprechend.
Der Rahmen, in dem dies geschieht, sind Beziehungen. Diese Gebete stehen ja im
Gemeindekontext; die Erkenntnis, die Paulus erbittet, wird in der Gemeinschaft
gewonnen – auch wenn sie gleichzeitig die Erkenntnis des Einzelnen ist.
Das ist mindestens im Rahmen dieser Texte gleichzeitig der einzige Ansatz, der
auf die Quellen der Erkenntnis hinweist: Gehorsam bringt uns mehr davon.
Gehorsam der Offenbarung Gottes gegenüber, – und dann können wir ergänzen:
wie sie uns im Studium Seines Wortes, in der Begegnung mit Ihm, in der Stille, im
Leben überhaupt entgegen kommt. Denn vergessen wir nicht: Wir haben einen
Gott, der sich uns offenbaren will.
Reflexion. Wo hinke ich selbst im Miteinander von Theorie und Praxis? Welches
Bein ist länger, stärker, besser trainiert? Was löst der Gedanke in mir aus, dass die
Art, wie ich mein Leben lebe, mein Schlüssel zur Erkenntnis Gottes ist? Was löst
der Gedanke in mir aus, dass das Suchen Seiner Offenbarung an allen möglichen
Orten, auch im theologischen Arbeiten, mein Schlüssel zur Erkenntnis Gottes ist?
Welche Einsichten warten in meinem Leben darauf, Gestalt anzunehmen, handfest
und damit zu echter Erkenntnis zu werden? Wo hat Gott sich mir bisher offenbart?
Welche Orte versprechen Erfolg auf der Suche nach Seiner Erkenntnis?

These 5: Biblische Erkenntnis ist echte Erkenntnis.

Das Verständnis oder das Bild von Gott, welches biblische Erkenntnis im Men-
schen entstehen lässt, entspricht dem wahren Gott. Das klingt selbstverständlich.
Ist es aber nicht. Die Vorstellung darüber, was menschliche Erkenntnis zu leisten
vermag, erlebte im 18. Jahrhundert einen tiefgreifenden Wandel. Und die
Gedanken, die der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) damals äusser-
te, prägen das Verständnis menschlicher Erkenntnis bis heute. Kant veränderte die
Perspektive, mit der Erkenntnis bisher beobachtet und beschrieben worden war,
indem er das System auf den Kopf stellte. Bis dahin war man davon ausgegangen,
dass menschliche Erkenntnis sich nach ihrem Objekt richtet, meine Wahrnehmung
eines Apfelbaumes also ausschliesslich von der Form dieses Apfelbaumes bestimmt
wird. Kant war jedoch anderer Meinung – und diese legte er 1781 und 1787 ihn
seinem Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft dar. Er glaubte, dass der Verstand das
Erkenntnisobjekt während der Wahrnehmung umformt und in Kategorien ordnet,

89 Lincoln sieht hier eine Beziehung zwischen Verständnis und Stärkung, die in beide
Richtungen funktioniert. Intellektuelles Wissen und die Erfahrung der Kraft Gottes
stützen und fördern sich gegenseitig. (220)

51
I G W - D i p l o m a r b e i t | F a s s e d a s U n f a s s b a r e !

die ihm selbst entsprechen. Das Bild, das der Erkennende dann erhält, ist dem ei-
gentlichen Objekt, so wie es unabhängig von jeder Erkenntnis ist, höchstens ähn-
lich. Der Mensch nimmt die Dinge also so wahr, wie sie ihm in den Kram passen
und nicht so, wie sie wirklich sind. Das hat nichts mit böser oder gar unwis-
senschaftlicher Absicht zu tun, sondern mit der Beschaffenheit des Menschen und
seinen Möglichkeiten. Zwischen dem Erkenntnisgegenstand und seiner Abbildung
besteht eine Unschärfe, verursacht durch die Natur des menschlichen Verstandes.
Es ist deshalb durchaus gerechtfertigt, auch hier die Frage zu stellen, inwiefern
unsere Erkenntnis von Gott dem wahren Gott entspricht. Fest steht, dass sie
bruchstückhaft und damit begrenzt ist (s. These 6). Ich möchte jedoch behaupten,
dass die Begrenztheit in der Bruchstückhaftigkeit liegt und nicht in der Ver-
schwommenheit der Erkenntnis, dass also die erkannten Bruchstücke uns ein
wahres Bild von Gott vermitteln. Wenn Paulus die Begriffe evpi,gnwsij (epignosis,
S. 11), gnw,sij (gnosis, S. 9), ginw,skw (ginosko, S. 8), oiv,da (oida, S. 13) und su,nesij
(synesis, S. 15) verwendet und sich damit auf Erkenntnis, Wissen oder Verständnis
bezieht, dann tut er das durchaus mit Absicht. Hier wird nochmals der
Gemeindekontext wichtig, in dem diese Gebete zu verstehen sind. Die Erkenntnis,
zu der Paulus aufruft, gibt die Norm des Zusammenlebens in diesem Rahmen vor.
Das setzt natürlich eine einheitliche Wahrnehmung voraus. Überall, wo Menschen
sich der göttlichen Offenbarung ausstrecken, muss ihre Erkenntnis zum selben
Resultat führen. (Die Möglichkeit, dass es dazu auch kommen kann, wenn sich alle
Beteiligten in derselben Weise und im gleichen Mass irren, können wir aufgrund
dessen, was wir von der Offenbarung Gottes wissen, hier getrost ausser Acht
lassen.) Ansonsten wäre ein auf dieser Erkenntnis aufbauender Lebensstil, der sich
verbindlich an einer Norm orientieren will, eine Illusion. Unaufhörlich würden
unterschiedliche Verständnisse dessen, wie Gott ist und was Er will, verschiedene
Meinungen darüber, was richtig ist und wann es richtig ist, aufeinanderprallen. Man
kann nun einwenden: Aber genau das passiert ja in der Gemeinde. – Stimmt. Der
Mensch hat sich schon immer gerne ein eigenes Bild von Gott geschaffen – und
wie weit daneben er damit liegen kann, zeigen etwa die Erwartungen an den
Messias, die Jesus so ganz und gar nicht erfüllen wollte (ELThG90 518-19). Diese
menschliche Neigung sagt aber nichts über die tatsächlichen Möglichkeiten biblischer
Erkenntnis aus. Jedenfalls nichts Endgültiges. Gott sei Dank.
Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament beschreibt den Erkenntnisbegriff
im AT in einer Weise, die den Kontrast zum kantschen Verständnis deutlich macht.
Dieser Erkenntnisbegriff sei nicht bestimmt von dem Gedanken, dass das wahre
Wesen des Erkannten am reinsten erfasst wird, wenn die persönlichen Bezüge
zwischen dem Erkennenden und dem Gegenstand ausgeschaltet werden und das
Erkennen auf ein Hinsehen aus der Distanz reduziert wird. Im Gegenteil: Zu
wahrer Erkenntnis kommt es dann, wenn die Bedeutung und der Anspruch des
Erkannten erfasst und umgesetzt werden (697). Der Fairness halber muss jedoch
darauf hingewiesen werden, dass es Kant, wie der Titel seines Werkes zeigt, um die
Vernunft als Erkenntniswerkzeug ging. Und was die Religion betrifft, war er der
Meinung, dass die Vernunft dafür ein denkbar ungeeignetes Werkzeug sei. Kant
wollte also Gott nicht vom Tisch wischen, er erklärte Ihn einfach für unerkennbar,
mit Hilfe des menschlichen Denkens nicht zu erfassen. Die untersuchten Texte
jedoch lassen keinen Zweifel daran, dass es Paulus um unverfälschte Kenntnis
nicht nur von geistlichen Wahrheiten sondern auch von Gottes Wesen geht.
Reflexion. Basiert mein theologisches Wissen auf göttlicher Offenbarung oder
handelt es sich um eingehämmerte sterile Fakten? Mit welcher Haltung nähere ich
mich in meiner theologischen Arbeit dem Gott, der sich mir offenbaren will – und

90 Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde.

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sich mir offenbaren kann? Mit welcher Haltung nähere ich mich in der Stille dem
Gott, der sich mir offenbaren will? Welches Gewicht gebe ich meiner persönlichen
Erkenntnis, wenn ich sie anderen weitergebe?

These 6: Biblische Erkenntnis ist bruchstückhaft.

Dazu wurde oben schon einiges gesagt. Biblische Erkenntnis findet keinen Ruhe-
ort. Sie ist ständig unterwegs. Das anhaltende Gebet von Paulus weist auch darauf
hin, dass ebenso anhaltende Erkenntnis nötig ist und »Gottes unerschöpfliche
Weisheit nie vollkommen besessen werden kann« (Lincoln 56). Und was motiviert
mehr zum Kampf um weitere Erkenntnis als die bereits gewonnene? Die klare
Unterscheidung zwischen dem, was geoffenbart und dem, was Gott uns nicht
gezeigt hat, ist dabei von grosser Bedeutung. Erst die Gelassenheit, das Verborgene
verborgen sein zu lassen, gibt uns die Freiheit, dem Geoffenbarten mit Hingabe auf
den Grund zu gehen (Stott 384).
Auch dieser Punkt erhält im Kontext der Gemeinde tiefere Bedeutung. Wenn
wir Erkenntnis nochmals mit Mosaiksteinen vergleichen, dann lässt sich sagen, dass
Gott den Gliedern Seines Leibes verschiedene Steine anvertraut. Werden nun die
individuell gesammelten Steine zusammengetragen, ist plötzlich mehr von der
Schönheit des ganzen Bildes sichtbar, als wenn ich meine Steine gedankenverloren
auf dem Küchentisch hin und her schiebe. Dies verlangt einen grosszügigen
Umgang miteinander. Zum einen muss Verantwortung wahrgenommen werden. Es
gilt zu prüfen, wo wahre Erkenntnis Gottes vorliegt, wobei die Kommunikation
der Erkennenden miteinander unerlässlich ist (RGG91 558-59). Zum anderen muss
jeder sich die Weite bewahren, den als echt anerkannten Beitrag des anderen im
Mosaik nicht nur zu dulden, sondern ihn als Bereicherung und Erweiterung zu
schätzen. Kein Wunder, lobt Paulus die Liebe der Briefempfänger und macht
gleichzeitig klar, dass es noch nicht reicht. Denn, sind wir ehrlich: Das Schätzen der
unerwarteten, überraschenden, verunsichernden Beiträge der anderen ist nicht
unsere Stärke. Hier hat die Meinung Kants Gewicht: Wir nehmen lieber wahr, was
uns in den (theologischen) Kram passt, als dass wir Vertrautes überdenken und
manchmal gar relativieren möchten.
Reflexion. Rechne ich damit, dass Gott meinen Horizont immer wieder sprengt?
Glaube ich, dass Er das auch durch andere Menschen tun kann? Bei welchen
Menschen fällt mir diese Vorstellung leicht? Bei welchen fällt sie mir schwer? Kann
ich es Gott zugestehen, dass Er sich anderen Menschen in anderer Weise offenbart
als mir? Wie oft bin ich mir bewusst, dass meinem Wissen und meiner Kenntnis
Grenzen gesetzt sind? Spüre ich den anhaltenden Durst nach mehr Erkenntnis, oder
hat sich eine Sattheit eingestellt?

These 7: Biblische Erkenntnis geschieht in der Selbstauslieferung


des Menschen.

Wahre Gotteserkenntnis vollzieht sich in der Selbstauslieferung des Menschen


durch Gehorsam und steht damit weltlicher Erkenntnis, für die Verstehen Macht
bedeutet, direkt entgegen. Eduard Schweizer bringt es auf den Punkt: »Gott wird
also gerade nicht in die Hand des Erkennenden gegeben, weder im Sinn der
Gnosis, wo Erkenntnis Rettung bedeutet, noch im Sinne der Apokalyptik, wo
Erkenntnis zum Bescheidwissen über die Zukunft führt« (43). Stattdessen macht Er
sich gleichzeitig mit Seiner Offenbarung zur Norm des menschlichen Handelns

91 Die Religion in Geschichte und Gegenwart.

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(Schweizer 41). Diese Erkenntnis vermittelt dem Menschen weder reale Macht
noch eine Illusion davon. Dass sie sich in völliger Abhängigkeit von der Kraft
Gottes entwickelt, steht dem, der sich nach ihr ausstreckt, ständig vor Augen.
Biblische Erkenntnis besteht ja gerade darin, Gott in Seiner Grösse zu erkennen –
und die eigene Kleinheit, das eigene Begrenztsein; ein Begrenztsein, welches Gott
allerdings nicht daran hindert, sich gerade in diese Enge hinein so zu zeigen, wie Er
ist. Und trotz seiner Enge wird der Mensch auf diese Weise fähig gemacht, selbst
Erkenntnis weiterzugeben – es kommt zum Überfluss (vgl. Phil 1,9).
Reflexion. In welcher Haltung trete ich dem Gott gegenüber, der sich von mir hat
erkennen lassen? Habe ich manchmal das Gefühl, Ihn jetzt im Griff zu haben?
Genau zu wissen, wie Er sich jetzt verhalten muss? Wo spüre ich das Kribbeln von
Machtgefühl, wenn ich Erkenntnis weitervermittle? Rechne ich im Weiterreichen
von Erkenntnis damit, dass Gott sich auch durch mich offenbaren will und
offenbaren kann?

54
Schluss
»Es gibt nur wenige Menschen, bei denen sich die
Wörter mit der Wirklichkeit ihres Lebens völlig
decken.«
Sándor Márai. Die Glut.

Ich habe dieses Zitat meiner Arbeit vorangestellt und führe es hier noch einmal an,
weil ich seine Knappheit und seine Präzision für bemerkenswert halte. Obwohl er
nicht von ihnen spricht, führt der Satz mein Denken doch zuerst zu jenen, deren
Wörter sich eben nicht mit der Wirklichkeit ihres Lebens decken. Da ist Schmerz
spürbar über eine Schwäche, an der so viele Menschen leiden – die meisten. Es er-
scheint wenig Hoffnung. Und obwohl der Satz eigentlich von jenen spricht, bei
denen diese Deckung besteht, denkt man sich: Wären es nur mehr!
Diese Zeilen scheinen mir die Sehnsucht, die im Kern der paulinischen Gebets-
texte liegt, treffend auszudrücken. Seht zu, dass das Ungreifbare eurer Gedanken in
eurem Handeln Gestalt bekommt! Lasst sie nicht wirkungslos in himmlische
Höhen davongaloppieren! Und gleichzeitig: Seht zu, dass euer Handeln auf dem
festem Boden echter Erkenntnis steht. Lasst die Gedanken dicht werden, stabil,
handfest und vertraut.
Doch das ist nicht das einzige Spannungsfeld, in das die Auseinandersetzung
mit der Erkenntnis, wie Paulus sie in seinen Gebeten erwähnt, uns führt. Wir sehen
uns auch mit dem kontrastreichen Paar von Gottes Wirken und unserer Verant-
wortung konfrontiert, mit der Herausforderung, alles zu geben und gleichzeitig alles
von Ihm zu erwarten. Und dann ist da noch die Erkenntnis selbst, bruchstückhaft,
unvollkommen – und gleichzeitig doch konkret, real, zutiefst mit unserem Leben
verknüpft.
Dieses Leben in Spannungsfeldern verlangt uns Weite ab; ein weites Herz, ein
weites Blickfeld, eine weite Theologie. Damit meine ich hier nicht in erster Linie
eine wissenschaftliche Disziplin, sondern unser persönliches Wissen von Gott und
Seinen Dingen. Das darf ruhig auch wissenschaftlich sein. Auf jeden Fall aber muss
es Wissen sein.
Gott lässt sich tatsächlich darauf ein, kommt zu uns herunter, auch in unsere
Köpfe herein. Natürlich geschieht das nicht automatisch. Doch wenn wir bereit
sind, uns auf diese Erkenntnis einzulassen, die nicht weniger als unser Leben, unser

55
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ganzes Sein beansprucht, dann ist der Gewinn unschätzbar: »Dies aber ist das ewige
Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus
Christus, erkennen« (Joh 17,3).

56
Literaturverzeichnis
Kommentare
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Die Religion in Geschichte und Gegenwart. 3. Auflage. Elektronische Ausgabe. Berlin:
Directmedia Publishing GmbH, 2000.

59
10 PUBLIREPORTAGE ideaSchweiz l 09/2008

Umsetzung der grossen Studienreform

Neue Lernfelder bei IGW


Mit grundlegenden Neue- bildung versteht:
rungen richtet IGW sich noch Hier wird auf al-
stärker auf sein Hauptziel len Gebieten der
aus, Menschen umfassend Theologie das für
für ihren Dienst auszubilden. den Dienst not-
IGW hat die grosse europä- wendige Fachwis-
ische Bildungsreform zum Michael sen vermittelt. Die
Anlass genommen, sein Aus- Girgis Praxis, bei IGW
bildungskonzept grundsätz- immer schon ein
lich zu überarbeiten und sich, wichtiges Ausbildungselement,
so Co-Rektor Michael Girgis, wird noch stärker in den Stu-
«noch einmal neu zu erfin- diengang eingebunden, so dass
den.» im praktischen Dienst erwor-
bene Kompetenzen dem Studi-
Zum Start des Studienjahres um nun angerechnet werden
im September 07 wurden daher können. Im Bereich Praxisbe-
teilweise tiefgreifende Neue- gleitung schliesslich werden in
rungen lanciert. So orientiert neu entwickelten Kursmodulen
sich das Bachelor-Programm die grossen Ausbildungsthemen
(BA), das Männer und Frauen Persönlichkeitsentwicklung und
in 4 Jahren für ihren Dienst in Jüngerschaft über die gesamten
Gemeinden oder christlichen 4 Jahre des Studiums vertieft.
Werken ausbildet, neu an drei Ausführliche Informationen zur
«Lernfeldern»: Theorie, Praxis grossen Studienreform finden
und Praxisbegleitung. Sie auf www.igw.edu ➝ Ausbil-
Theorie deckt ab, was man ge- dung ➝ Studienreform 2010.
meinhin unter schulischer Aus- Cla Gleiser, Studienleiter IGW

Neue Fachrichtung bei IGW

Studiengang Missionale Theologie


Der Ruf nach qualifizierten und biblische Fächer), prak- Relevanz für Ge-
und missionarischen Fach- tischer Theologie, Missiologie meindebau und Studiengang
kräften in Werken, Gemein- und Sozialdiakonie steht IGW- Evangelisation in
Bachelor of Arts (BA)
deverbänden und Missions- Studenten ab September 2008 unserer Gesell- Ziel: vollzeitlicher Dienst in
gesellschaften wird immer ein Studiengang in missionaler schaft. Die Aus- Gemeinde oder Mission
lauter. Spürbar ist vor allem Theologie offen. Die neue Fach- bildung bei IGW Voraussetzung: abgeschlossene
der Mangel an klassischen richtung hat folgende Schwer- Helmut vermittelt zu- Berufslehre
Evangelisten. Für den Dienst punkte: Kuhn künftigen Pionie- Dauer: 4 Jahre (180 Credits)
an Bevölkerungsgruppen aus ren und Gemein-
orientalischen bzw. übersee- 1. Evangelisation im degründern in diesen Bereichen
Studiengang Master
ischen Ländern werden auch nachchristlichen Europa Fachkompetenz und Perspektive.
of Theology (BTh-MTh)
Inlandmissionare gesucht. Seit einigen Jahren fehlen zu-
Gerade die Ausbildung zum nehmend Evangelisten für Ge- 3. Transkulturelle Mission Ziel: vollzeitlicher Dienst in
Missionsdienst unter Mos- meinden und spezielle überge- Mission findet vor unserer eige- Gemeinde oder Mission
lems wird zunehmend an meindliche Anlässe. Wir sind nen Haustüre statt. Religionen Voraussetzung: Matura/Abitur
Wichtigkeit gewinnen. überzeugt, dass dieser Dienst und Weltanschauungen aus Dauer: 5 Jahre (300 Credits)
für die Zukunft wieder verstärkt verschiedenen Kulturen prägen
IGW stellt sich diesen neuen gefragt sein wird. IGW wird sich unsere Gesellschaft. Gerade der
Studiengang igw.network
Herausforderungen und rüstet vermehrt für die Gewinnung Dienst unter Moslems wird an
Menschen zum Dienst aus – und Ausbildung von Menschen Wichtigkeit zunehmen. IGW Ziel: ehrenamtliche Mitarbeit in
nicht nur für die bisherigen einsetzen, die in diesem Dienst wird Studierende befähigen, das der Gemeinde
klassischen Missionsländern, ihre Zukunft sehen. Evangelium in einer multikul- Voraussetzung: abgeschlossene
sondern gerade auch für das turellen Gesellschaft weiterzu- Berufslehre
europäische Umfeld. Aus die- 2. Gemeindegründung und geben. Dabei sucht das Institut Dauer: 1 Jahr (30 Credits) mit
sem Grund erweitert IGW sein Gemeindebau bewusst die Zusammenarbeit Anschlussmöglichkeit an BA
Angebot an Fachrichtungen auf Europa ist zum klassischen Mis- mit evangelistisch und missio- oder BTh-MTh
BA-Niveau: Neben Theologie sionskontinent geworden. Damit narisch tätigen Partnern. www.igw.edu
(Schwerpunkt systematische gewinnt die Thematik «Mission» Helmut Kuhn, Direktor EE

Illustration: www.gleiser.ch
10 PUBLIREPORTAGE ideaSchweiz l 14/2008

Kirche und Sozialarbeit

Virtuelle Sozialdiakonie?
«Wenn die Kirchen mehr keine sinnvolle stören so das uns anvertraute
leben würden, was sie pre- Beschäftigung Evangelium, weil wir die Bot-
digen, dann würden Leute und können auch schaft der Liebe und Gnade
wie ich auch wieder hinkom- grundlegende He- nicht leben.»
men.» In den Kirchen wird rausforderungen Die drei Ur-Aufträge, die den
zwar viel unternommen, um des Lebens nicht Zweck der Kirche ausma- IGW bietet mit seinem ge-
dieser Kritik zu begegnen. Olivier mehr alleine be- chen, wollen wieder gemein- meindeintegrierten und praxis-
Aber für den grossen Teil der Enderli wältigen. sam wahrgenommen werden: orientierten Modell seit über
Gesellschaft ist die gute Nach- Die Erkenntnis Bezeugung des Evangeliums 15 Jahren neue Ansätze in der
richt von Jesus Christus, wie wächst, dass die Kirchen ihre (Martyria), die Anbetung Gottes theologischen Ausbildung. Der
sie von der Kirche verkündet gesellschaftliche Verantwor- (Liturgia) und schliesslich der Schwerpunkt der neuen Fach-
wird, zu wenig greifbar. tung neu wahrnehmen müs- praktische Dienst am Menschen richtung Sozialdiakonie besteht
sen. Hans-Peter Lang, Gründer (Diakonia). Daraus wächst eine im Verständnis des Zusammen-
Gleichzeitig gibt es immer mehr und Leiter der Aargauer Stif- ganzheitlich aktive, lebendige spiels von Sozialarbeit, Manage-
Menschen, die am Rande stehen tung Wendepunkt, moniert, Gemeinde, wo der Dienst am ment und Theologie. Studie-
und durch die Maschen des So- dass wir «die christlichen Menschen durch die Menschen rende im Bachelor-Programm
zialstaates fallen. Die verschie- Werte Wahrheit und Fürsorge in den Kirchen geschieht und absolvieren das Grundstudium
denen Sozialwerke sind ange- – Grundlage des christlichen nicht nur an kirchliche Sozial- (2 Jahre) komplett bei IGW, bevor
sichts zunehmender Not und Abendlandes – verlassen ha- werke delegiert wird. Mit die- sie im Aufbaustudium (3. und 4.
abnehmender Mittel nicht mehr ben. Die Kirche verkündet zwar sem Bild vor Augen brechen Jahr) Kurse im Bereich Sozialdia-
in der Lage, genügend Hilfe zu gesellschaftlich relevante So- Gemeinden auf zu einem neu- konie bei der Fachschule für So-
leisten. Menschen in unserem zialdiakonie, aber diese bleibt en Abenteuer von Kirche, die zialmanagement besuchen und
Land erhalten zwar finanzielle ein rein virtuelles Angebot. Wir lebt, was sie predigt. ein dreimonatiges Praktikum in
Unterstützung, sind aber trotz- Christen haben unsere Glaub- einem christlichen Sozialwerk
olivier Enderli, Projektleiter FSSM
dem einsam, überfordert, haben würdigkeit verloren und zer- absolvieren.

Alternativ besteht die Möglich-


keit, die zweijährige, berufsbe-
IGW und FSSM: eine «sehr wichtige» Partnerschaft
gleitende Weiterbildung zum

Die Herausforderung packen


„Sozialmanager“ an der Fach-
schule für Sozialmanagement
zu besuchen. Auch auf diesem
Weg ist es möglich, nachträglich
Eine Kirche, die ihr sozial- meindearbeit ist. Ruedi Eggenberger, Jugendar-
über IGW einen Abschluss auf
diakonisches Engagement Durch die Kurse beiter der Evangelischen Kirch-
Bachelor-Stufe nachzuholen.
aufbauen will, sieht sich mit an der Fachschu- gemeinde Niederuzwil, ist Ab-
Herausforderungen konfron- le für Sozial- solvent des BA-Studienganges
tiert, denen vor dem Hin- management er- in der Fachrichtung Sozialdia-
tergrund einer rein theolo- kannte ich, wie konie, die IGW im Jahr 2006 in
gischen Ausbildung schwer Ruedi die praktische Zusammenarbeit mit der Fach-
zu begegnen ist. Häufig feh- Eggenberger Umsetzung der schule für Sozialmanagement
len Wissen und Erfahrung Theologie bei lanciert hat.
Die Fachschule für Sozialma-
für den Aufbau von Behör- Menschen ausserhalb der Ge-
Cla Gleiser, Studienleiter IGW nagement bietet eine Weiterbil-
denkontakten und die Er- meinden aussehen kann. In
dung für Menschen an, die sich
arbeitung von Betreuungs- dieser Kombination kommen
im diakonischen und sozialen
konzepten. Projekte müssen Worte und Taten in ein Gleich- Beispiele aus der Praxis
Bereich engagieren, Projekte re-
geplant, Märkte analysiert, gewicht, das mein Denken und
• Chrischona Frauenfeld, alisieren oder Führungsverant-
Businesspläne entwickelt Handeln befruchtet. Ich will
Stiftung Wetterbaum, wortung übernehmen wollen.
und Finanzen beschafft wer- für mich als Jugendarbeiter
www.wetterbaum.ch Das modular aufgebaute Kurs-
den. Die Ausbildungspartner verstehen, wie ich meine Arbeit
angebot umfasst die Fachbe-
Fachschule für Sozialma- effizienter und gesellschaftsre- • Heilsarmee Huttwil, Beschäfti- reiche Management, Sozialar-
nagement (FSSM) und IGW levanter gestalten kann. Denn gungsprogramm Leuchtturm, beit und Theologie. Es wird mit
haben sich das Ziel gesetzt, ich bin überzeugt: Mit Worten www.projekt-leuchtturm.ch einem Praxiseinsatz abgerundet.
Menschen für diesen Dienst allein verändert man keine
• GvC Winterthur, Stiftung Auch der Besuch einzelner Kurse
grundlegend und praxis- Gesellschaft – aber mit auf-
Quellenhof, www.qhs.ch als Gasthörer ist möglich.
tauglich auszubilden. opfernder Liebe und Hingabe,
Gegründet wurde die Schule im
wie das Beispiel von William • Vineyard Bern, DaN,
Jahr 2004 von der Stiftung Wen-
«Für mich ist die Zusammen- Booth, Gründer der Heilsar- www.vineyard-dan.ch
depunkt.
arbeit von IGW und FSSM sehr mee zeigt. Oder auf mich als • ICF Zürich, Stiftung ACTS,
wichtig. In meiner Ausbildung Vater bezogen: Was bedeutet www.icf.ch/acts.html www.igw.edu
am IGW bekam ich die Grund- meinem Kind mehr? Wenn ich
• EMK Zürich 4, NetZ4, www.sozialmanager.ch
lage, welche Sicht Gott von den ihm sage, dass ich es liebe oder
Menschen hat, wie Gemeinde wenn ich es einfach in den Arm www.netz4.ch
sein soll und wie wichtig Ge- nehme?»   

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