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MAGGY ROUFF

(MAGGY BESAN\;ON DE WAGNER)

MIT ZEICHNUNGEN

VON

CONßAD WESTPFAHL

PRESTEL VERLAG MÜNCHEN


Übersetzt aus dem Französischen. Titel der Originalausgabe: KAPITEL I

»La Philosophie de l'Elegance« Paris 1942

Eva, im Garten Eden über den glatten Spiegel eines Baches


gebeugt, fragte sich, nachdenklich das erste Blatt betrach-
tend: »ob es mir wohl steht?«
An der Quelle von Thespis, aus der ihm sein Antlitz zu-
rückstrahlte, zerstörte Narziß, geblendet von so viel Schön-
heit, durch eine einzige Berührung sein auf ewig unerreich-
bares Spiegelbild. In jedem Frühling lebt er wieder auf,
überall wo es Narzissen gibt, überall wo Quellen rauschen.
Weit unterhalb von Agadir, auf der öden Straße nach
Süden, die sich in den sandigen Pfad nach Dakar verliert,
liegt in brennender Trockenheit Taroudant. Hinter seinen
zinnenbewehrten Mauern, auf denen die Störche meditie-
ren, atmet es im Rhythmus seiner afrikanischen Trägheit.
Dort, zur schwülen Abendstunde, als die schrägen Strahlen
der Sonne die Schatten der Gitter auf alle Dinge zeichne-
ten, sah ich, gegen eine grelleWand gekauert und die Füße
im Sand vergraben, ein Berbermädchen sitzen; eingehüllt
Vierte Auflage
in die Düfte des Südens, hielt sie in ihrer Hand, die das
Gedruckt im Jahre 1956 bei J. Fink, Stuttgart Rot der Hennafarbe zeigte, den Scherben eines Spiegels.

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Abgeschlossen gegen die vVelt, eingeschlossen in .die Tiefe Was sucht das Gefühl der Frau zu allen Zeiten? Was
des Traumes, hing ihr ganzes Dasein wie gebannt an eini- sucht ihr Gefühl in allen Ländern der Erde?
gen wenigen Zentimetern einer bunten Schärpe, die sich Was erwartet sie von der Kunst?
in der Höhlung ihrer Hand widerspiegelte. Was verlangt sie von der menschlichen vVissenschaft?
Von Eva bis N arziß, von N arziß bis zum Berbermädchen vVenn sie im Dunkeln tappt und in die Irre geht, was
unserer Tage sind die Jahrhunderte verrauscht. In eisigen will sie dann?
und heißen Zonen, in milden und rauhen Ländern, in blü- Dieses unaufhörliche, unermüdliche Streben, was erhofft
tenreichen und steinigen, allüberall haben die Frauen ihr es? Diese Angst, dieser Durst und diese Not, was bedeuten
Bild aus dem Spiegel erschaut. sie? Diese wirkende Kraft, die Reiche und Völker formt,
W eilige und zitternde, dunkle, tiefe und grüne Spiegel dieser Sauerteig, der aufbaut und zerstört, was ist er?
aller Wasser - schwere Spiegel, dröhnend im bronzenen Es ist der ewige Anruf der Schönheit.
Leib - kostbare Spiegel aus Gold und Silber - kalte aus
Stahl- unbestechliche und zerbrechliche Spiegel Venedigs! vVenn dreitausend Jahre vor Christus an Kretas Küste
Bannende und unheilvolle Spiegel nächtlicher Beschwörun- die Frauen schon von unvergessener Eleganz waren - ganz
gen - der Spiegel, aus dem Gretchens Schönheit lächelte - ähnlich der unseren-, wenn die ganze Seele Griechenlands
riesenhafte Brennspiegel, die die Schiffe in Brand setzten - in einem Faltenwurf lebendig bleibt, wenn Ägypten seine
unheilbringende gesprungene, uralte blinde Spiegel, ermat- Geschichte in das schwere Gold eines Diadems eingräbt,
tet vom Künden allzuvieler Wahrheit! Gleißende Spiegel, wenn die Renaissance Italiens heute noch in einem köst-
verschönernd oder entstellend, drohend oder einlullend! lichen Stoff von der Hand Paolo V eroneses schimmert,
Geliebt oder gehaßt, schenkt ihr Angst oder Hoffnung, wenn Glanz und Größe unserer Herrscher durch die Sei-
bringt ihr bittere Enttäuschung oder frohe Überraschung; den unserer Königinnen verherrlicht werden, so danken
Spiegel, die ihr Niederlage anzeigt oder Erfolg, ihr reißt wir das dem unsterblichen Bild der Frau.
die Menschen hin zu Mühe und Sieg, ihr verlangt den Durch ihren glühenden Eifer, schön zu sein, hat sie die
Verzicht und lasset die wohltuende Täuschung einer Stunde Zeiten vor dem Zurücksinken in Anonymität und die ganze
zu; ihr teilt tödliche Schläge aus, ihr zeigt in der Frühe die Welt vor Einförmigkeit bewahrt. Sie hat nicht zugelassen,
erste Falte, die jugendliche Schläfe über Nacht ergraut, daß Kulturen und Epochen einander ähnlich seien. Immer
aber ihr zeigt auch das Grübchen, das der alternden Wange und überall haben Raum und Zeit durch sie ihr Gepräge
geblieben ist. erhalten. Die Meilensteine ihrer Schönheit erstrecken sich
Zwischen Hoffnung und Furcht pendelt das ewige Drama durch die Jahrhunderte, ein endloser Zug, immer ver-
des Lebens. Hoffnung und Furcht, ewige Fragen der Frau schieden und immer sich wandelnd. Alle Winkel der Erde
an den Spiegel. hat sie in Besitz genommen und ihnen ihr Antlitz ver-

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liehen: Hütten und Schlösser, Boudoirs und Parlamente, setzten sich auf riesige Eichbäume, die mit prophetischer
Tanzsäle und das Schafott, große Städte und ländliche Ein- \Vahrheit unter ihrer Druidenkrone die menschenleere
samkeit. Ohne sie wäre nichts so, wie es ist. Allem ist sie Öde des nun um seinen Sinn gebrachten Bois hinauszu-
unlösbar verbunden, und ein Traum von ihr geistert durch trauern schienen. Das alles half mir, deutlicher die Sinn-
alle unsere Visionen. losigkeit zu verstehen, die darin liegt, in der Realität nach
lYiarcel Proust's unvergleichliches Genie beschwört das Bildern der Erinnerung zu suchen, Bildern, denen doch
Bild der Frau auf einigen sehnsüchtigen Blättern: für immer der Zauber fehlen muß, reine Erinnerungen zu
» \?Vie hätte ich ihnen die Erregung verständlich machen sein und von den Sinnen nicht wahrgenommen zu werden.
können, die ich an jenen Wintermorgen empfand, wenn Die vVirklichkeit, die ich einst gekannt, bestand nicht
mir J\Iadame Swann begegnete, zu Fuß, in Otternfell ge- mehr ... Es genügte schon, daß Madame Swann nicht ganz
hüllt, in schlichtem, mit zwei spitzen Rebhuhnfedern ge- als dieselbe und im gleichen Augenblick kam, und die Allee
schmücktem Barett, und wie hätte ich ihnen verständlich schien verwandelt. Die Orte, die wir einmal kannten, ge-
machen können, daß der künstliche und laue Duft ihrer hören nicht nur der vVelt des Räumlichen an, wohin wir
Zimmer, der sie auch hier zu umschweben schien, allein sie, der Einfachheit halber, verlegen; sie sind gleichsam
durch ein Veilchenbukett beschworen wurde, das sie am nur ein zartes Reis in dem engbepflanzten Garten der Ein-
Busen trug und dessen lebenerfülltes und blaues Blühen drücke, die einst unser Leben ausmachten. Sich an ein
so einsam blieb in der kalten Luft, unter dem Grau des bestimmtes Bild erinnern, heißt nur, einem bestimmten
Himmels und vor dem kahlen Geäst, daß es, in der sehr Augenblicke nachtrauern; und Häuser, Straßen und Alleen
menschlichen und warmen Atmosphäre dieser Frau gebor- sind flüchtig vor uns wie die Jahre.«
gen, den gleichen Zauber ausstrahlte, wie die Blumen ihres Ja, so ist es. Für uns haben die Frauen Zeiten und Völ-
Salons, wenn sie, in Vasen und auf Blumentischen, dem kern ihren Stempel aufgedrückt. Sie haben aus ihnen das
Ofen nahe und dem seidenbespannten Kanapee, durch das gemacht, als welche sie in unserer Vorstellung und unserer
geschlossene Fenster das Fallen der Schneeflocken draußen Erinnerung weiterleben. Sie sind verantwortlich für Atmo-
spürten ... sphäre, Epoche und Landschaft. In ihre Hand ist es gege-
Nun war der Bois, in dem dieNaturihre Herrschaft wie- ben, unsere vergangenen und heutigen Tage durch ihre
dergewonnen hatte, kein Garten Eden der Frauen mehr; Verwandlungen ewig zu wandeln.
nun hing über der unwirklichen lYiühle ein wirklicher
grauer Himmel; der Grand Lac, vom Winde aufgerüttelt, J\1anchmal, wenn ich allzulange zu Hause war, fühle ich
war in einen richtigen See zurückverwandelt, und große plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis, zu reisen. Da
Vögelliefen zwischen den Bäumen wie in einem richtigen locken mich die Eisenbahn und ihr scheußlicher Geruch,
vVald. Sie stießen schrille Schreie aus, flogen auf und die Landstraße mit ihrem Staub und Schmutz, da locken

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mich Gesichter, die ich nicht kenne, und Straßen,· die mir Tagsüber gehe ich langsam die Straßen entlang; ich über-
fremd sind. Das ist die Langeweile des Längstvertrauten lege, welchen Weg ich nehmen und welche Besorgungen
und die Sehnsucht nach Ferne. ich machen soll. Vor den Schaufenstern suche ich nach
Und wenn ich dann nicht fort kann, versuche ich mich Geschenken, die ich meinen Freundinnen mitbringen will,
selbst zu täuschen. Gegen das allzu Bekannte blind und um sie zu erfreuen und ihnen den Zauber von Paris so
taub zu sein, ist eine schlechte Gewohnheit, die ich dadurch recht nahezubringen. Ich mache erstaunliche Entdeckun-
in mir bekämpfe, daß ich mich bemühe, mit ganz neuen gen: Süßigkeiten, die ich nie gesehen, Blumenläden, die
Sinnen zu sehen und zu hören. Von diesen erwarte ich, daß ich nie betreten hatte, Ledergeschäfte, an denen ich zwan-
sie mich durch ein unbekanntes Paris führen und es mir zigmal vorbeigelaufen war, ohne sie zu bemerken. Die
wie einer bevorzugten Reisenden gleichsam zum ersten- längst vergessene Uhr der Madeleine sagt mir die Zeit.
mal zeigen. Nachts, in meinem dunklen Zimmer, liege ich, Aus reiner Freude frage ich einen Schutzmann nach dem
die Augen geschlossen, und lausche auf die Geräusche von vVeg, um die berühmten Erklärungen zu hören, die man
draußen, so wie ich das immer tat in allen Zimmern aller nie versteht, die einen in fremden Städten immer irrefüh-
Hotels der VVelt. Keine Stadt hat die gleichen Stimmen. ren und die einen schließlich, erschöpft und verloren, über-
Je nach Leichte oder Schwere der Luft schwingt sich der all dort landen lassen, wohin man gar nicht wollte.
Schall in die Höhe. Er ist schrill oder dunkel. Durch seine Und dann, und das ist das Schönste, atme ich tief in
Deutlichkeit oder Dumpfheit ahnt man Hitze oder Nebel, mich hinein - als etwas Niegekanntes, dessen Kraft auch
den Sternenschimmer der Nacht oder niedrighängende keine Gewöhnung jemals abschwächen könnte- den star-
Wolken, das Leben der Straße oder ihre verlassene Stille. ken Duft einer Pariser Saison.
Lange muß man den Stimmen lauschen, um mit ihrem
geheimnisvollen Leben vertraut zu werden. Solange man An einem Frühlingsnachmittag um fünf Uhr das Ritz
sie wahrnimmt, ist man noch fremd; erst wenn sie schwei- betreten, heißt mit allen Sinnen den Atem dieser Stadt
gen, sind wir ein Teil von ihnen, sind eingelebt. spüren.
Selbst die Geräusche der Zimmer sind überall verschie- Künstliche Wärme, scheinbar von der Sonne durch
den. Im Holz knackt es und in allen Heizungen gluckst es die großen Fenster gestrahlt - funkelnde Vitrinen voller
anders. Wasserhähne quietschen beim Öffnen und Schlie- Schmuck - überall rosa Hortensien verschwenderisch aus-
ßen ein jeder auf seine vVeise. Dies immer wieder wahr- gebreitet- Erdheertörtchen auf balancierten Tabletts durch
nehmen, heißt die erste unvergeßliche Nacht in einer die Luft segelnd- buntes Gewirr von hundert Frauenstim-
fremden Stadt noch einmal erleben und das wundersam men und dazwischen das hellere Geklapper der Tassen auf
beklemmende Gefühl des Herzens in nächtlicher Einsam- den Tellern- dumpfes Rauschen der Drehtüre und in der
keit. Ferne der eindringliche Ruf einer Autohupe.

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Dazwischen manchmal gleich einer Fermate, .gleich Madame A., lang, dünn und zart, trägt das strengste
einem Atemholen - der Eintritt einer interessanten Frau. Schneiderkostüm des Jahres, das ihre Durchsichtigkeit noch
Eine Sekunde erwacht Aufmerksamkeit: Augen, die gleich- unterstreicht. Jugendlich unbekümmert bringt Madame
gültig scheinen möchten, blicken auf, Gläser bleiben in der P. G. in ihrem kastanienbraunen Haar, das nur so ungern
Schwebe, Löffel hören auf zu klappern, ein Streichholz zit- einen Hut erträgt, etwas frischen Wind von draußen mit
tert in den Fingerspitzen, Zigarettenasche zögert zu fal- herein. Sie verachtet alles, was einschnürt oder beengt; sie
len ... die Frau geht vorbei. ist ganz Weite, Bewegung, Luft und Raum.
An einem Fenster sitzt die Marquise de P. Ihr feines Vor dem Kamin erklärt Madame deM., in einem schwe-
Profil hebt sich wie eine scharf umrissene Zeichnung im ren Mantel, den ihre kleine Person nur wie durch ein Wun-
Gegenlicht ab und ihr Hut läßt die reine Linie ihrer Stirn der aushält, vor aufmerksamen Zuhörern Einzelheiten ihrer
frei. Mit höflich gelangweiltem Lächeln gleiten ihre Augen nächsten Gesellschaft. Madame C. neigt ihr Gesicht ein
durch den Raum - und nichts entgeht ihnen. wenig irritiert über ihre schwarzen Perlen, weil sie nicht
In einer stillen Ecke flüchtet Madame de H. ihr kleines weiß, woher wohl das Schneiderkleid der Baronin L. stam-
und ein wenig mattes Gesicht in einen Pelz, und ihre bei- men mag, der beim Eintreten sofort alle Augen folgen.
den großen weißen Perlen schlagen wie zwei kleine ängst- In einem Winkel verborgen sitzt nachdenklich rauchend
liche Herzen. In ihrer Nähe trägt Madame deR. den letz- Baronin R. Ihre Bewegungen sind voller Poesie, und von
ten Hut von Reboux, auf dem ein Hauch von Graublau der Zeit zu Zeit läßt sie melanch~lisch ihre geistvollen Augen
einzigartigen Farbe ihrer Augen zu antworten scheint. umherschweifen. Sie sieht so bezaubernd aus, daß man bei-
Madame F. R., sehren vue und ziemlich geräuschvoll, nahe übersieht, wie unvergleichlich gut sie angezogen ist.
glänzt in schillernden Hahnenfedern und der letzten Narr- Die Minuten rinnen unwiederbringlich dahin. Wird es
heit der Saison auf dem Kopf. Madame M. kommt so hastig jemals wieder so sein? Die Antwort geben uns diese Frauen,
herein, als wolle sie schon gleich wieder fortgehen. Durch die, eine nach der andern, sich langsam erheben und fort-
Nicken und Winken verteilt sie freigebig ihre Begrüßun- gehen, ohne Hast, um die Harmonie der Stunde nicht zu
gen. Im Schwingen des weiten Rockes um ihre hübschen zerstören. Wie ein Vogelschwarm flattern sie davon; wie
Beine vibriert die Luft um sie; mit Stolz trägt ihr Kopf durch Zauberei verschwinden sie; gewiß, es mögen andere
einen Hut, von dem sie - o reizende Ironie - behaupten an ihre Stelle treten - niemals aber wird es wieder den
wird, ihn in den GaZeries Lafayette entdeckt und zweiund- gleichen Frühlingsnachmittag geben im gleichen Ritz.
zwanzig Francs fünfzig dafür bezahlt zu haben. Aus einem
riesigen Sessel, ganz klein und sehr aufrecht, mit tausend Auch ich gehe langsam fort und verweile ein wenig auf
grauen Löckchen gekrönt, sieht Madame D. mit strengem der Straße. Aus der Rue de la Paix schallt mir junges La-
Blick und lächelnden Lippen ihr nach, wie sie vorübergeht. chen und das Geklapper vieler trippelnder Schritte ent-

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gegen. Die großen l\1odehäuser schließen. Es ist allabend- nerungsverloren - manchmal mit müde geschlossenen
lich ein aufgeregtes Gewirr, ein bezauberndes Durchein- Augen - manchmal bekümmert von etwas, was sie gerne
ander. In einer Sekunde sehe ich zehnmal den gleichen für einige Stunden vergaßen - manchmal voll innerer U n-
modernen Hut, die Tasche, die ebenen vogue ist, den klei- ruhe - manchmal triumphierend. Eine pudert sich zer-
nen Kragen, der gerade furore macht und den Gürtel, der streut oder raucht, eine andere schaut verloren durch die
so häufig ist wie eine Kinderkrankheit. Scheibe, und wieder eine schmiegt sich entspannt in die
Diese jungen Mädchen sind gleichsam die Verkörperung Polster. DerWagen rollt weiter und führt sie mit sich fort,
der Pariser Schaufenster, aus denen sie, uns zur Freude, ich weiß nicht wohin, in das Geheimnis einer unbekannten
die schönste Blüte gepflückt haben, die sie uns darbieten, vVohnung- und plötzlich ist die Avenue verwaist.
auf daß wir, ihr einen Namen gebend, dadurch erst die Zu Hause sitze ich noch ein wenig auf meiner Terrasse
Saison der Vergangenheit entreißen: die Saison der großen unter offenem Himmel. Und dann betrachte ich, wenn die
Handtaschen, der niedrigen Absätze, die Saison der Veil- Dunkelheit herabsinkt, von dort oben noch ein letztes Mal
chen, die rosa oder türkisfarbene Saison, die Saison der das pulsierende Leben der Champs-Elysees, die wie in einem
Turbane oder der Boleros. einzigen und machtvollen Fließen sich hinziehen, vom
Der milde, kaum verhängte Himmel, die leichte Luft Are de Triomphe- durchscheinend wie einKristall-bis
verleihen allen Tönen eine wundersame Durchsichtigkeit. zu dem dunklen Grün der Tuilerien, um dann, wie durch
Auf der Place de la Goncorde steigt das Grau dem Abend ein Wunder der Perspektive, an die Steine von Notre-Dame
entgegen, der nur langsam und wie mit Bedauern nieder- zu stoßen, die aus der Ferne herüberschimmert.
sinkt. DiePferde vonl\1arly nehmen schon etwas von ihrem Überall, Leuchttürmen gleich, flammen auf dem Ozean
nächtlich geisterhaften Aussehen an und ich gehe langsam der Straßen und Häuser Lichter auf. Der Eiffelturm ragt
unter den wohlvertrauten Kastanien die Champs-Elysees mit seiner Spitze in ein vorbeiziehendes Wölkchen, und wie
hinauf. Guignol hat geschlossen; der Ziegenwagen, für alle ein Antlitz erbleicht Sacre Cceur in der Ferne. Ein lautes
Pariser ein kleines, wehmütiges Erinnern an ihre Kinder- Getöse steigt aus dem gepreßten Herzen der Stadt. Die
zeit, wird hereingefahren. Luft ist gesättigt von den gegensätzlichsten Gerüchen, eine
Manchmal, wenn die Wagen kurz anhalten müssen, er- verspätete Schwalbe ruft und taucht ein in das Dunkel der
hasche ich mit einem Blick die eine oder andere dieser Nacht. Und magisch spiegeln Himmel und Seine verviel-
Frauen, deren Gesicht durch die Dämmerung leuchtet. Sie fältigt alle Lichter wider, die einander zustrahlen, smaragd-
sind schon fast zu Hause. Schon haben sie die unpersön- grün im Wasser und rubinrot an den Wolken.
liche Maske abgelegt, die sie der Welt zu zeigen pflegen. Stolzes Paris, im doppelten Bild seines Flusses und Him-
Das Gesicht, das man in der Dunkelheit des Wagens er- mels- ewig scheint es allen Frauen derWeltdieselbe Frage
ahnt, ist das ihrige, ihr wahres Gesicht- manchmal erin- zu stellen: die Frage an den Spiegel.

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KAPITEL II

CARAcr~RE! Schon durch den Klang seiner Konsonanten ist


dieses Wort überraschend: Vom C zum R und wiederum
vom R zum C rollt es dahin, steinig und herbe. Es ist kan-
tig, stachelig, aggressiv und explosiv. Es ist wie ein Hahnen-
kamm, feuerrot, bedrohlich und beweglich. Man darf es
nur mit zartester Vorsicht gebrauchen. Scharf wie Säure,
spitz wie zerbrochenes Glas, sonor wie eine Glocke, hart wie
ein Fels, streng und nackt, wie es ist, nähere ich mich ihm
nicht olme Scheu. Mich mit ihm familiär zu machen, vor-
zugeben, daß ich mit ihm auf f reundschaftlichem Fuß lebe,
es zu duzen, es notfalls hart anzulassen, würde direkt ver-
messen scheinen.
Mit nachdenklicher Verehrung betrachte ich ein kleines
dickes Buch, auf dem ganz schlicht die ·worte stehen:
» Les Caracteres« de La Bruyere. Ich sehe La Bruyere vor
mir als den Meister dieser seiner Gestalten, die er kraft
seines Genies bezwungen, durch die Gewalt seiner Intui-
tion sich untertan gemacht und durch seinen Scharfblick
fixiert hat.

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\Vas mich betrifft, so hätte ich es vorgezogen, mich heim-
lich davon zu machen. Wie gerne hätte ich es vermieden,
an dieses stachelige vVort zu rühren, aber es ist wirklich der
Schlüssel zu allem. Ohne dieses Wort würde sich nichts er-
klären lassen, weder die Kleidung noch der Erfolg ... gar
nichts.
Sich ohne Charakter- ohne persönliches Gepräge- an-
ziehen, das heißt, nur bekleidet sein. Bekleidet ist noch
lange nicht angezogen.
· vVer sagte nicht schon mal: »Ich habe meinen eigenen
Charakter« oder >>das entspricht meinem Charakter<<? Und
dann heißt es intimer, liebenswürdiger, wie um sich zu
entschuldigen: >>Ich bin nun mal so.«
Aber wer möchte sich nicht gerne über seinen eigenen
Charakter gewissen Illusionen hingeben? Wer möchte sich
nicht gerne einreden, gerrau den Charakter zu haben, der
seinem wirklichen gerade entgegengesetzt ist? Feiglinge
sehen sich als Helden, die Schüchternen möchten kühn, die
Verschwender stolz auf ihre Sparsamkeit sein, und Geiz-
hälse sind überzeugt von ihrer Freigebigkeit. Der Banale
kommt sich originell vor, der Unentschlossene glaubt ener-
gisch zu sein, und fast ein jeder betrügt sich selber in die-
sem Spiel des Lebens.
Aber beim Spiel der Eleganz ist kein Selbstbetrug mög-
lich; man wird sofort in flagranti ertappt; hier wird alles
offenbar, nichts bleibt verborgen.

Um sich gut anzuziehen, muß man vor allem sich selbst


gut kennen.
Und was nützt es, vor sich selbst seine eigenen Fehler zu
leugnen? Sie treten dann.nur noch stärker in Erscheinung.

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Diese vor sich selbst sorgfältig zu vertuschen, führt nur nehmen, wird immer außerhalb des Tempels bleiben.
dazu, daß man gar nichts tut, um sie den andern zu ver- Durch diese niedere Tür muß man demütig gebeugt hin-
bergen. durchgehen; dieses Opfer kann auch der schönsten Frau
Sich für vollschlank zu halten, wenn man eigentlich dick nicht erspart bleiben. Hier hilft gar nichts, nicht Geld noch
ist, sich schlank zu sehen, wenn man dürr, niedlich, wenn List. Betrug am Anfang zieht unaufhörlich Irrtum nach
man untersetzt, hochgewachsen, wenn man giraffenartig sich. Die Blinde wird immer ein Maulwurf bleiben, die
ist, das nützt alles gar nichts. Einen gelben Teint sonnen- Schüchterne in sich selbst versponnen. Sein eigenes Bild
gebräunt zu nennen, Schwerfälligkeit als sportliche Atti- belügen, heißt sein Bestes verraten.
tüde zu bezeichnen, schlechte Haltung mit Geschmeidig- Die Mutige allein, die, weil sie klar sehen wollte, sich
keit zu erklären, fehlgefärbte Haare chic zu finden, das auch wirklich erkannt hat, kann dadurch am besten dem
alles ist Selbstbetrug. Bild, das ihr von ihr selbst vorschwebte, nahe kommen.
JYian sollte damit beginnen, seine Fehler zu erkennen, Diejenige, die in zähem Kampf ihre Selbstkenntnis erreicht
sie immer wieder zu erkennen. Es ist dann unsere Kunst, hat, wird dadurch auch fähig sein für alle weiteren Siege.
sie vor den andern zu verbergen oder gar sie in äußere Vor- Diejenige, die dieses grausame tete-a-tete bestanden hat,
teile zu verwandeln. Aber jede Kunst verlangt Unterschei- weil sie es suchte und annahm, ihr wird die Schönheit nicht
dungsvermögen, oft Mut, ein aufmerksames Studium und mehr wie Flugsand zwischen den Fingern zerrinnen. Die-
eine strenge Selbstkritik. Man muß sich tapfer seinem Spie- jenige, die freiwillig auf alle Ausflüchte, Lügen, Illusionen
gelbild stellen und hineintauchen wie in einen bittern und Nachsichten verzichtet hat, wird mit schwereloser An-
Quell der Wahrheit. Man sollte sich feindselig betrachten, mut durchs Leben gehen.
ohne Nachsicht, mit dem klaren \!Villen zur Gegnerschaft. Alle Triumphe sind kampfgeboren, alle Siege kosten ihre
J\1it selbstquälerischem Eifer sollte man jede Unvollkom- Opfer.
menheit aufdecken und sie mit aller Energie in seinen Die Zuschauer wissen weder von der Bitterkeit der einen,
Geist einhämmern. J\1an muß mit einem völlig neuen Auge noch von dem geheimen Preis der andern. Aber es gibt noch
die Unbekannte des Spiegels betrachten und kühl bis ans etwas anderes als das äußere Erscheinungsbild. Die physi-
Herz dieser »Fremden« den Prozeß machen. Nur dann sche Individualität, die zu kennen unerläßlich ist, ist oft nur
wird das Bild seinem lebenden Gegenbild alle seine Ge- ein wechselnder Widerschein der wahren, geistigen Indivi-
heimnisse preisgeben. Nur dann können diese beiden sich dualität, die manchmal offenbart, manchmal verhüllt wird.
in nützlicher Gemeinschaft finden zu einem siegreichen Es gibt unter den Charakteren verschiedene Formate:
Kampf. den kleinen Charakter, liebenswürdig, zart und vertraut,
Jede Möglichkeit zur Eleganz beruht auf dieser Selbst- dann, ganz einfach, den Charakter an sich, ungeschminkt,
erkenntnis. Wer nicht den Mut hat, diese Einsicht anzu- schlicht und wahrhaft. Endlich gibt es noch den großen

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Charakter, bedeutend, dramatisch und heroisch. Ein jeder Vvenn ganze Kulturen allein durch die Geschichte des
von ihnen behauptet seinen Platz in der geistigen und kör- Kostüms sich uns in ihrem Glanz und Verfall offenbart
perlichen vVelt. »Ich habe Charakter- Das gibt mir einen haben, in ihrem Pomp und ihrer geheimen Intimität, wa-
großen Charakter- Das ist der Ausdruck meines Charak- rum sollte nicht jeder JY1ann, oder besser noch jede Frau, ihr
ters.« So drückt sich jeder anders aus. Inneres verraten durch die Art, wie sie sich anzieht?
Und doch, wenn es auch schwierig und selten ist, sein Ja, es ist wirklich so, unsere Kleider verraten uns, unsere
körperliches, charakteristisches Gepräge zu kennen, sich Hüte und alles das, was uns berührt und einhüllt. Für die,
ihm anzupassen, mit ihm auszukommen und ehrlich mit die Augen haben, zu sehen, sagen sie durch ihre Falten und
ihm zu leben, ohne sich etwas vorzumachen, um wieviel durch ihre Art zu sein recht deutlich manches von uns aus.
schwerer und seltener noch ist es, seinen eigentlichen inne- Sie verkünden unser eigenstes Ich, unsern Geschmack,
ren Charakter zu kennen. Um den äußeren zu erfassen, unsere sittliche Haltung, unsere Energie oderunsere Schlaff-
dazu genügen ein Spiegel und ein wenig Aufrichtigkeit. heit, unsere Tatkraft, unsere Ordnung, unseren Mut und
Aber den inneren! vV o könnten wir seinen \Viderschein unsere Wahrhaftigkeit. So gesehen ist der Schmuck nicht
finden? Wer verrät uns sein Geheimnis? Würden wir ehr- mehr frivol, sondern eine Offenbarung unseres Ich.
lich genug sein, ihn wiederzuerkennen, würden wir ge- Eleganz wird nicht erworben; sie will verdient sein. Um
nügend guten Willen haben, ihm zu sagen: »Du bist es in Erscheinung zu treten, muß sie zuerst innerlich und un-
wirklich« und ihm einen guten Empfang zu bereiten? sichtbar vorhanden sein. Um in einem Gewebe lebendig zu
Wäre es möglich, einmal ehrlich zuzugeben, daß er nicht werden, muß sie erst einmal Fleisch und Blut sein. Um
sehr schön sei, und dann doch darauf verzichten wollen, ihn wahr zu sein, muß sie die Wahrheit ausdrücken; sie muß
zu verbessern; und könnte man je eingestehen, daß er dem von innen nach außen gehen. So wirkt sie wie durch einen
des Nachbarn unterlegen sei, ohne nicht zugleich zu glau- sehr begnadeten Austausch auf die Seele, erzieht und kräf-
ben, daß er diesen erreichen könnte? Kann man sich selbst tigt sie und zwingt sie, ganz impulsiv alles das zu verwerfen,
auf den Grund sehen, ohne sich zu belügen? Es ist schwer, was nicht echte Eleganz ist.
vor sich selbst ohne Maske zu leben. In den letzten Jahren ist mir diese Wahrheit oft klar ge-
»Aber«, werden Sie mich fragen, »worum handelt es worden. In meinem Glauben, daß die äußere Haltung den
sich denn? \Vovon sprechen wir denn eigentlich? Von der Geist widerspiegelt, litt ich sehr oft unter dem allgemeinen
Philosophie im allgemeinen, von der J\!Ioral oder von der Sichgehenlassen in äußeren Dingen, von dem ich fühlte,
Eleganz? \Varum dann diese Vermengung ?« vVeil auf die- daß es nur der schlecht verhehlte vViderschein einer all-
sem Gebiet alles sich mischt und alles zusammenhängt. gemeinen inneren Schlamperei sei.
Charakter und Eleganz sind unlöslich miteinander ver- Ich kenne allerdings Künstler, Gelehrte und selbst Ge-
bunden. nies, die niemals einen ihrer Gedanken der Eleganz gewid-

20 21
met haben. Wenn es nicht so banal klingen würde, möchte richtig gesehn, nur allzu richtig. Meine Befürchtungen und
ich sagen, daß auch hier die Ausnahme die Regel bestätigt. meine Zweifel waren nur allzu berechtigt. Wieder einmal
Diese Auserwählten haben alles Materielle schon so weit hatte ein großes Gesetz seine Bestätigung gefunden. Wie-
hinter sich gebracht, daß sie seiner gar nicht bedürfen, um der einmal hatten sich mir die Schwächen einer Epoche
ihre Persönlichkeit auszudrücken; denn diese ist so stark, offenbart. Wieder einmal hatte die äußere Erscheinung
daß alles darin aufgeht; sie ist, als ihr bester Teil, von der l\1enschen die Wahrheit verraten.
Dauer. Alles ist von ihnen abgefallen, die schmückenden
Dinge des Lebens haben für sie keine Wichtigkeit mehr, Um diese Gedanken anschaulich werden zu lassen, möchte
sie haben ihr eigenes Gesetz und ihre eigene Umwelt. Ihre ich hier einige Porträts bringen. Meine Feder kann zwar
Würde versteht sich von selbst, ihre "'\;y ahrheit bedarf, weil nur mit "'\;yorten schildern, aber sie wird sich treu an die
sie ganz unmittelbar wirkt, keiner Interpretation. Vorbilder halten.
Doch was für die wenigen gilt, gilt nicht für die Allge-
meinheit; und nur von dieser Allgemeinheit möchte ich Clarisse kann sich nie recht entschließen. Ihr Leben ver-
sprechen; denn sie ist es, die in diesen letzten Jahren mir rinnt zwischen ewigem Wenn ... Aber ... vVeil ... An-
ein tiefes Unbehagen verursacht hat. Wenn ich nach dem dauernd pendelt sie so zwischen Wunsch und Verzicht hin
Theater im Restaurant zu Abend aß, ließ ich meine Augen und her. Vor jeder Tätigkeit erschrickt sie; sie weicht ihr
umherschweifen. Ich sah nur salopp dasitzende Gestalten, aus, wo sie nur kann; überall sucht sie Ausflüchte und der
die Ellbogen auf das weinbefleckte Tischtuch aufgestützt. Kamprarniß ist ihr tägliches Brot. Das, was sie liebt, liebt
Ich sah vernachlässigtes Haar, Sportfexen, flache Absätze. sie auch wieder nicht. Ihre Neigungen können erst gar
Ich sah farbige Hemden, weiche Kragen, ausgebeulte Ta- nicht aufblühen, weil sie sie alle gleich wieder verwirft. Ihr
schen, ungepflegte Hände, ungebügelte Stoffe, erschlaffte Seelchen flattert verhuscht hin und her. Sie erschöpft sich
Züge, einen verweichlichten Körper in schlampigen Klei- in immer sich widersprechenden Überlegungen, dauernd
dern. Alles das sah ich in einem alarmierenden Durchein- diskutiert sie und argumentiert sie mit sich selbst, versucht
ander. Unablässig frug meine innere Stimme: »Ist dies das sich zu überzeugen; aber es gelingt ihr nicht. Endlich ent-
Bild ihrer Seele? Kann der Schein so trügen? Können die scheidet sie sich für ein Ziel; aber auf halbem Wege kehrt
Dinge so lügen? Kann der Geist dieser Menschen sauber, sie wieder um.
tatkräftig und lebendig sein und trotzdem diese unerfreu- Niemals wagt sie, irgend etwas zu unternehmen, aus
liche Erscheinungsform annehmen? Könnte hinter solch Furcht, dabei etwas Besseres zu versäumen. Der Zweifel
plebejischer Kleidung wirklich noch ein Adel der Seele ver- nagt an ihr, macht sie ängstlich und zerquält. Das ganze
borgen sein? Warum wohl sollen Kraft und lVIut eine so Persönchen sieht aus wie ein einziges Fragezeichen. Be-
beunruhigende Verkleidung annehmen?« Ach, ich hatte gierig bittet sie jeden um Rat: »Glauben Sie, daß ... ? Wie

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met haben. Wenn es nicht so banal klingen würde, möchte richtig gesehn, nur allzu richtig. Meine Befürchtungen und
ich sagen, daß auch hier die Ausnahme die Regel b.estätigt. meine Zweifel waren nur allzu berechtigt. Wieder einmal
Diese Auserwählten haben alles Materielle schon so weit hatte ein großes Gesetz seine Bestätigung gefunden. Wie-
hinter sich gebracht, daß sie seiner gar nicht bedürfen, um der einmal hatten sich mir die Schwächen einer Epoche
ihre Persönlichkeit auszudrücken; denn diese ist so stark, offenbart. Wieder einmal hatte die äußere Erscheinung
daß alles darin aufgeht; sie ist, als ihr bester Teil, von der Menschen die Wahrheit verraten.
Dauer. Alles ist von ihnen abgefallen, die schmückenden
Dinge des Lebens haben für sie keine \Vichtigkeit mehr, Um diese Gedanken anschaulich werden zu lassen, möchte
sie haben ihr eigenes Gesetz und ihre eigene Umwelt. Ihre ich hier einige Porträts bringen. Meine Feder kann zwar
vVürde versteht sich von selbst, ihre Wahrheit bedarf, weil nur mit vVorten schildern, aber sie wird sich treu an die
sie ganz unmittelbar wirkt, keiner Interpretation. Vorbilder halten.
Doch was für die wenigen gilt, gilt nicht für die Allge-
meinheit; und nur von dieser Allgemeinheit möchte ich Clarisse kann sich nie recht entschließen. Ihr Leben ver-
sprechen; denn sie ist es, die in diesen letzten Jahren mir rinnt zwischen ewigem Wenn ... Aber ... vVeil ... An-
ein tiefes Unbehagen verursacht hat. Wenn ich nach dem dauernd pendelt sie so zwischen \Vunsch und Verzicht hin
Theater im Restaurant zu Abend aß, ließ ich meine Augen und her. Vor jeder Tätigkeit erschrickt sie; sie weicht ihr
umherschweifen. Ich sah nur salopp dasitzende Gestalten, aus, wo sie nur kann; überall sucht sie Ausflüchte und der
die Ellbogen auf das weinbefleckte Tischtuch aufgestützt. Kompromiß ist ihr tägliches Brot. Das, was sie liebt, liebt
Ich sah vernachlässigtes Haar, Sportfexen, flache Absätze. sie auch wieder nicht. Ihre Neigungen können erst gar
Ich sah farbige Hemden, weiche Kragen, ausgebeulte Ta- nicht aufblühen, weil sie sie alle gleich wieder verwirft. Ihr
schen, ungepflegte Hände, ungebügelte Stoffe, erschlaffte Seelchen flattert verhuscht hin und her. Sie erschöpft sich
Züge, einen verweichlichten Körper in schlampigen Klei- in immer sich widersprechenden Überlegungen, dauernd
dern. Alles das sah ich in einem alarmierenden Durchein- diskutiert sie und argumentiert sie mit sich selbst, versucht
ander. Unablässig frug meine innere Stimme: »Ist dies das sich zu überzeugen; aber es gelingt ihr nicht. Endlich ent-
Bild ihrer Seele? Kann der Schein so trügen? Können die scheidet sie sich für ein Ziel; aber auf halbem Wege kehrt
Dinge so lügen? Kann der Geist dieser l\1enschen sauber, sie wieder um.
tatkräftig und lebendig sein und trotzdem diese unerfreu- Niemals wagt sie, irgend etwas zu unternehmen, aus
liche Erscheinungsform annehmen? Könnte hinter solch Furcht, dabei etwas Besseres zu versäumen. Der Zweifel
plebejischer Kleidung wirklich noch ein Adel der Seele ver- nagt an ihr, macht sie ängstlich und zerquält. Das ganze
borgen sein? Warum wohl sollen Kraft und l\'lut eine so Persönchen sieht aus wie ein einziges Fragezeichen. Be-
beunruhigende Verkleidung annehmen?« Ach, ich hatte gierig bittet sie jeden um Rat: »Glauben Sie, daß ... ? Wie

22 23
denken Sie, ob ... ?<< Und ihre Unentschlossenheit hält sie und markant. Sie ist nie ausgesprochen sommerlich an-
zwischen zwei Ratschlägen in der Schwebe. vVenn nun, da gezogen; aber für den '\Vinter hat sie eigentlich auch nichts
schon die Ratschläge ausfallen, sie sich wenigstens an eine Rechtes.
Freundin halten könnte; aber an welche denn? Dann An ihrer Kleidung erkennt man weder Tageszeit, noch
müßte sie von neuem wählen, und wiederum entzieht sie Saison, noch eigene Stimmungen. Sie möchte einerseits
sich dem und versagt. Ihr ganzes Leben lang hat sie nicht modisch auf der Höhe sein und fürchtet anderseits, es allzu
den Mut zu sich selbst. sehr zu sein und dadurch lächerlich zu wirken. \Vie gerne
vVenn sie ein Kleid kauft, sucht sie Stunden, Tage und wäre sie eine Persönlichkeit, und doch: aufzufallen, welch
Wochen herum. Zugleich mit ihrer eigenen Geduld er- furchtbarer Gedanke für sie! Bei Clarisse, der Unbestimm-
schöpft sie auch die einer ganzen Reihe von Verkäuferin- ten, bleibt alles grau in grau.
nen. Sie hat sich ein Schneiderkostüm vorgestellt, und
doch steht ein Kleid ihr eigentlich besser - ein l\1antel Albertas Freunde lauern auf ihr Kommen, um ihre
würde ihr vielleicht mehr Dienste tun - aber ein Abend- Uhren danach zu stellen. Sie ist die Pünktlichkeit selbst.
kleid hätte sie auch gar so nötig-! Sie fragt in aller Welt Niemals ertappt man sie bei einer Unzuverlässigkeit, und
herum, sie beschwört andere, ihr zu helfen; in ihrer Rat- keinem lVIenschen schenkt sie auch nur eine einzige Minute;
losigkeit rennt sie von einem zum andern. Seide ist ihr denn ihr Leben gleicht einem Fahrplan, und ihr Horizont
nicht warm genug; vVolle kann sie auf der Haut nicht ver- ist mit Uhren zugebaut. Jede Minute des Glücks, wie auch
tragen; Blau würde ihr stehn, aber anderseits hat sie noch jede andere Minute, jede lVIinute überhaupt: für sie haben
nie etwas Rotes besessen. Schwarz ist zwar praktisch, aber sie nur sechzig Sekunden. Alberta ist nicht nur pünktlich,
Weiß doch so viel hübscher! Große Hüte stehn ihr aus- sondern sie nimmt auch alles schrecklich genau. Wie alle
gezeichnet; aber auch die kleinen sind doch so chic! vVenn Ereignisse ihres Lebens, so haben auch alle Dinge, die sie
es doch große kleine Hüte gäbe! '\Velches Glück wäre es, umgeben, ihren endgültigen Platz. Vom Keller bis zum
wenn man am linken Fuß einen Schuh mit flachem Absatz Speicher, von der Geburt bis zum Tod, alles ist bei ihr klas-
tragen und mit dem rechten in einen feinen Tanzschuh mit sifiziert, numeriert und katalogisiert. Nichts kommt ihr
hohem Absatz hineinschlüpfen könnte! aus, weder eine Erinnerung noch eine Laufmasche. Sie
Wenn Clarisse sich dunkel kleidet, so hebt sie die Wir- führt Buch über ihre Verabredungen, verwechselt keine,
kung sofort durch etwas Helles wieder auf. Sie liebt zwar verpaßt keine, nicht einmal die beim Zahnarzt. Ihr ganzes
die Farbe, aber sie kann sich nicht zu ihr bekennen. vVenn Leben gleicht einem Terminkalender.
sie plötzlich den Mut zu etwas Effektvollem hat, so löscht Begleiten wir sie mal zu ihrer Schneiderin: Aus einer
sie es aus, noch ehe man es recht sehen konnte. Alles, was Handtasche, deren Inhalt wohlgeordnet ist, zieht sie ein
sie trägt, ist wirr und ungenau. Nichts ist überlegt, klar kleines Agenda heraus, in dem sie haargenau alles auf-

24 25
gezeichnet hat, was sie braucht. Stoff und Farbe, die sie Uhr voraussehen kann, so kann man auch ihren Anzug nach
wünscht, weiß sie schon im voraus, ebenso wozu si.e dieses Stunde und Zeit erraten, ohne sich jemals zu täuschen.
Kleid braucht, wie auch Tag und Stunde, da sie es anziehn Alberta ist wie eingewebt in das Kleid, das Gewand der
wird. \Venn sie das richtige gefunden hat, läßt sie sich Ordnung und Pünktlichkeit.
durch kein anderes mehr verlocken, und kein anderes
Wunschgebilde.könnte für sie existieren. Alberta prüft mit Sabine hält sich streng an die Konvention. Ihr Wort-
einem letzten Blick kurz die Genauigkeit ihrer Bestellung, schatz enthält eine wahre Blütenlese dessen, »was man
schaut nach der Uhr, erhebt sich und geht davon. Bei der tut, was man sagt, was man trägt«. Und wenn dieses alles
Anprobe kümmert sie sich um alles und jedes; sie über- und nichtssagende »man« ihr einmal etwas befohlen hat,
prüft jede Falte, jeden Faden, jeden Abnäher, jeden Saum, so kann keine l\1acht der Welt Sabine wieder davon ab-
und keine Nadel beim Abstecken entgeht ihr. Sie unter- bringen. Ihr ganzes Dasein ist nur ein ununterbrochenes,
sucht das Funktionieren der Häkchen und der Druckknöpfe, diesem unbekannten Gott gespendetes Opfer. Auf seinen
und probeweise läßt sie den Reißverschluß auf seinen klei- Altären werden ihre Neigungen mit ihren Vorlieben, ihr
nen Schienen hin und her laufen. Sie mißt nach, ob die Wohlbefinden mit ihrer Gemütlichkeit, ihre Meinungen
Knöpfe schnurgerade ausgerichtet stehen. Die Webart des mit ihren Überzeugungen dargebracht. Jedes individuelle
Stoffes ist ihr wichtig, denn er darf weder Staub annehmen Urteil verbietet sie sich, als sei es eine Ketzerei. Stur be-
noch dazu neigen, sich abzuschaben. kämpft sie ihre Neigungen, als seien sie lauter Laster; sie
Alberta ist immer korrekt. Sogar ihr Haar ist symme- kasteit sich, sie ist ganz heroischer Kampf und Verzicht.
trisch eingerollt unter einem sorgfältig aufgesetzten Hut. Aber dafür kann sie sich auch pharisäerhaft sagen: »Ich
Ihr Kleid ist nie zerknittert, ihre Handschuhe sitzen gut, habe getan, was man tut, ich habe gesagt, was man sagt,
die Linie ihrer Strumpfnaht verläuft wie mit dem Lineal ich habe getragen, was man trägt.« In dieser Kunst hat es
gezogen, ihre Handtasche schnappt zu mit der Präzision Sabine bis zur Virtuosität gebracht.
einer Falltüre. l\1illimetergenau sitzt ihr Schmuck, und die Ihr flair und ihr Fingerspitzengefühl sind sprichwört-
Kragen von Jacke und Bluse laufen streng parallel. Ihre lich: Sie hat immer das Buch gelesen, das man gelesen ha-
Sommerkleider erscheinen am 1. April und die für den vVin- ben muß - die übrigen interessieren sie gar nicht. Sie war
ter am 1. Oktober, denn selbst dem Himmel erteilt Alberta in der Premiere oder in dem Film, wo man gewesen sein
Unterricht im Pünktlichsein. Sie weiß genau die vorge- muß -alles andere verschwindet für sie in der Zone ver-
schriebenen Trauerzeiten in allen Verwandtschaftsgraden . achtungswürdiger Anonymität. - Ihre Meinungen ent-
und wie man sich in jeder Lebenslage zu benehmen hat. .
sprechen dem Tagesgeschmack ebenso wie die Einrichtung
Phantasie und Unvorhergesehenes sind gleichermaßen aus
ihrem Leben verbannt. So wie man ihr Kommen nach der
I ihres Hauses. Ihre Beschäftigungen haben weder den
Zweck, ihr zu gefallen, noch den, sie zu zerstreuen, son-

26 27
'l

dern lediglich den, dieser mysteriösen Kategorie Yon Din-


gen, die man tut, anzugehören.
Golf spielen mag sie nicht, betreibt es aber mit Eifer.
' ist nicht der Ausdruck ihrer selbst, sondern der eines flüch-
tigen Augenblicks. Sie ist die personifizierte Sammlung
aller Gesetze und Vorschriften der l\Iode, ein Gemisch eben-
Spät essen bekommt ihr nicht, aber sie ißt nie vor zehn so schnell angenommener wie aufgegebener Geschmacks-
Uhr zu Abend. Eigentlich liebt sie nur Romane; sie liest richtungen. Von ihr bleibt nur eine Reihe wechselnder
aber nur Biographisches; sie liebt weiße "VVolfshunde und Bilder, aber keine stetige Erinnerung. Schon bei ihrem
geht mit einem schwarzen Pudel spazieren. Sie führt ein Anblick errät man, daß sie Sklavin und lYlärtyrerin ist, von
Leben aus zweiter Hand. vVenn sie zu ihrer Schneiderin Zufällen hin- und hergeworfen und eine Beute des großen
kommt, ist Sabines erste Frage: » vVas trägt man in dieser kleinen vVortes »man«.
Saison? vVelches ist das erfolgreichste Kleid?« Doch nie-
mals fügt sie hinzu: »Glauben Sie, daß es auch mir steht?« Ein wenig Licht stiehlt sich durch die Ritzen der Fen-
Ihren Grundsätzen getreu wird Sabine Grün tragen, wenn sterläden. Claude blinzelt mit einem Auge. Sie muß den
Grün gerade en vogueist-auch dann, wenn ihr Teint dar- Kopf leicht auf dem Kissen drehen, um die Uhr zu sehen.
unter leidet. Sind die Röcke eng anliegend? Gut, setzen wir Ach, welche Müdigkeit noch! Dabei schläft sie doch seit
uns für die engen Röcke ein! Ganz gleich, ob sie auftragen. gestern erst elf Stunden, und es ist kaum zehn Uhr mor-
Werden die Kleider immer kürzer, das macht nichts, ob- gens. Claude zählt sich alle Anstrengungen auf, die der
gleich längere Röcke ihren Beinen besser anstehen würden. Tag von ihr erwartet. Unvermeidbare gibt es wie Essen und
Man trifft Sabine immerzu ohne Hut an, obschon sie weiß, Sichanziehen ... aber die andern! Wie wäre es, wenn sie
daß der Wind ihr schlimmes Kopfweh verursacht, die Sonne sie kurz entschlossen verschieben würde? Auf den nächsten
sie stört und ihrem Haar nicht sehr zuträglich ist. Sie trägt Tag vielleicht? Das wäre eine reizende Idee, und beruhigt,
Schuhe mit flachem Absatz und leidet darunter, und ihre lächelnd und rosig schläft Claude wieder ein. Auch wenn
riesige Handtasche renkt ihr den Arm aus. sie dann wieder aufwacht, ist das für sie noch kein Grund
Sabine istmal gut, mal schlecht angezogen, je nach Laune aufzustehen. Sie trödelt ein wenig ... eigentlich nur ein
der Moden und der Jahre. Sechs Monate lang sieht sie wenig; endlich macht sie lange Toilette, und plötzlich ist der
reizend aus, und plötzlich trifft man sie wieder und findet Vormittag verflogen und niemand weiß, wie und wohin.
sie scheußlich. vV enn gerade das, was »man« trägt, wie Claude findet zu nichts Zeit. Gern möchte sie dieses und
durch ein Wunder mit ihrem Typ zusammenstimmt, so jenes tun, aber immer und überall ist sie zu spät dran.
durchlebt sie eine unglaublich glückliche Zeit. vVenn aber Wenn sie mal einen Frühzug nehmen muß, leidet sie
nichts ihr steht, so macht sie trotzdem fröhlich mit und sinkt schon \Vochen vorher darunter. Sie verzichtet lieber auf
ins Lächerliche oder in l\1ittelmäßigkeit zurück. Man kann Besorgungen, als sich dazu zu zwingen ... l\1ögen andere
sie lange kennen und doch sie niemals wiedererkennen. Sie sie für sie erledigen oder auch nicht. l\lorgen wird sie sich

28 29
um ihre Kinder kümmern, um ihr Hauswesen übermorgen, ger ein, daß ihre Schmucksachen auf dem Waschtisch lie-
und nächste Woche um ihre eigene Person. Konjugieren gen geblieben sind.
kann sie nur im Futurum. Jede Arbeit ermüdet sie, An- Ewig ist Claude fragmentarisch und unfertig. VergeB-
strengungen höhlen sie aus, und die Langeweile kriecht lichkeit und Nachlässigkeit streiten sich um ihre Person.
hinter ihr her. Die Stunden fliehen sie und entgleiten ihr, Immer baut sie auf die Zukunft, aber eigentlich ist sie nur
und die Zeit, die sie nicht mit Leben ausfüllt, sinkt ret- eine unbezahlte Rechnung aus der Vergangenheit.
tungslos in den Abgrund ihres Müßigganges hinab. Der
Leere ihrer Tage kommt nur die Nichtigkeit ihrer Beschäf- vVenn Irene einen Raum betritt, mit geraden Schultern,
tigungen gleich. Den toten VVochen folgen die toten Jahre, erhobenen Hauptes, das Kinn leicht angezogen und festen
die träge Claude vergähnt ihr Leben. Blickes, so scheint sie immer erstaunt, daß sich dann gar
Wenn man ihr begegnet, wird man immer finden, daß nichts ereignet. Wenn ferner Donner ihren Eintritt beglei-
sie ein Kleid oder einen Hut der vergangenen oder vorver- ten und sich die Zimmerdecke über ihr öffnen würde, und
gangenen Saison trägt. Sie ist des Lobes voll für anderer wenn eine Weihrauchwolke ihr vom Boden aus entgegen-
Leute Kleider, eben weil sie neu sind; aber wie, so fragt stiege, so würde sie das alles keineswegs überraschen. Die
sie sich betrübt, konnten diese je die Zeit finden, sie zu Stufen, auf die sie ihre Füße setzt, scheinen immer zu
bestellen? Sie selbst hat nicht einen Augenblick Zeit ge- einem Thron zu führen. Alle Treppen, die sie hinaufsteigt,
funden, zum Friseur zu gehen, und wenn man sie sieht, werden zu Ehrentreppen. Ohne eigentlich groß zu sein,
glaubt man ihr unbedingt, daß sie heute morgen auch blickt sie auf alle die herab, mit denen sie sich unterhält.
keine Zeit gefunden hat, sich zu frisieren. Der gleiche Um- Ihre Sätze, die sämtlich mit >>ich« beginnen, zerreißen wie
stand erklärt auch ihre schlampige Handtasche und ihre der spitzige Bug eines Schiffes jede Stille, und alle diese
schiefgetretenen Absätze. Die Anstrengung, die das Zu- »Ichs« krönen ihre Sätze wie der Hahn den Kirchturm.
knöpfen einer Bluse verlangt, muß wohl beträchtlich sein, Ihrer Eigenliebe kommt nichts gleich außer der Gleich-
denn bei ihr hört es immer schon auf halbem Wege auf. gültigkeit, die sie gegen andere hegt. Ihre Müdigkeit, ihre
Ihr Schal zeigt keinerlei Verwandtschaft zu ihrem Kostüm; Schmerzen, ihr Vergnügen, ihre Wünsche, alles, worüber
wahrscheinlich hat sie nach dem vom Abend vorher ge- ihr Ich herrscht, sind ihr einziges und kostbarstes Reich.
griffen. Eine Schieblade zu öffnen, überstieg heute morgen Irenes Geltungsbedürfnis erstreckt sich auf alles, was sie
offenbar alle menschlichen Kräfte. Drei Tage lang nahm zunächst berührt, ihren Mann, ihre Kinder, ihre Familie,
sie sich vor, einen Stich an ihrem Handschuh zu machen; ihre Freunde; aber es versiegt nach und nach, je weiter
aber noch immer nicht ist sie dazu gekommen; ihr Schirm sich der Gegenstand von ihr selbst entfernt, wie ein Echo,
blieb bei einer Freundin stehen, ohne daß sie bisher Zeit das langsam in Stillschweigen zurücksinkt. Sie hält es nicht
fand, ihn dort abzuholen; plötzlich fällt ihr zu ihrem Är- für ganz sicher, daß sie alle guten Eigenschaften besitzt;

30 31
aber von der Überlegenheit selbst ihrer Fehler ist sie über-
zeugt.
Ob sie schön oder nicht schön ist, das beunruhigt sie
nicht, wie sie auch nie Vergleiche mit andern anstellt. Sie
läßt sich nicht herab, über ihre Ansichten zu diskutieren,
da es eben die ihrigen sind, und sie gestattet niemandem,
davon Kenntnis zu nehmen, daß sie etwas nicht weiß. Die
Hierarchie ihrer 'Velt ist einfach und streng: sie, sie selbst ...
und dann erst alle andern.
Idme ist außer sich, wenn eine Mode vom Schicksal für
sie nicht bestimmt zu sein scheint, und sie rächt sich, in-
dem sie sie einfach ignoriert. Sie glaubt, mächtig genug zu
sein, ihr die Stirn bieten und sie besiegen zu können. Daher
ist sie denn auch zu gewissen Zeiten dem, was man trägt,
voraus und zu andern wiederum hinkt sie hinterdrein. Sie
erklärt die Mode für entzückend oder scheußlich, je nach-
dem, ob sie ihr zusagt oder sie ärgert.
Immer verrät etwas an ihr, daß sie sich eigene Maßstäbe
zubilligt: Die Initialen auf ihrer Handtasche sind größer
als sonst üblich (», Varum, Großmutter?« »Damit man
besser sieht, daß sie mir gehört, mein I ind«). Ihre Kragen
sind besonders hoch, und ihr Schmuck ist immer auffallend.
Ich, ich kann mir das erlauben, scheint alles an ihr zu
sagen. Mit der gleichen SelbstYerständlichkeit trägt sie ein-
mal schreiende Farben und dann wieder ganz neutrale Töne.
Sie kann überelegant oder streng und einfach daherkom-
men, immer ist sie überzeugt, daß nichts so unmöglich wäre,
als daß sie unbemerkt vorbeiginge. Irrtümer sind ihr un-
bekannt, de1m wenn sie selbst sie begeht, erklärt sie sie schon
für das einzig R ichtige. Idme, im Panzer ihres Stolzes, ist
unangreifbar. Sie ist ganz Bestimmtheit und Sicherheit.

J2
Der Boden, auf den s1e tritt, ist ihr ein Piedestal, der
Himmel ein Baldachin und das ganze Leben eine Huldi-
gung für sie.

Corinnes Mann und ihre Kinder, ja selbst ihre Freunde,


hoffen nicht mehr darauf, sie jemals zufrieden zu sehn,
denn sie wünscht sich immer gerade das, was sie nicht
haben kann, und auch gerade immer das, was andere be-
sitzen. Seit sie den Rubin ihrer Freundin Sabine sah, freut
sie ihr eigener Smaragd überhaupt nicht mehr. Die hüb-
sche Wohnung von Martine verfolgt sie bis in ihre Träume
hinein und es ist ihr äußerst schmerzlich, daß sie nicht den
gleichen vVagen hat wie Florence. Die Reisen ihrer Freun-
dinnen machen sie gelb vor Neid, und natürlich hat sie im
Restaurant immer den schlechtesten Platz. Die Blumen,
die man ihren Freundinnen schickt, sind schöner als alle,
die sie je bekommt; deren Freunde sind liebenswürdiger,
deren Ehemänner aufmerksamer, deren Kinder fügsamer
und ihrer aller Leben leichter. Alles, was die andern be-
trifft, scheint ihr positiv zu sein, alles aber, was ihr selbst
gehört, ist negativ. Selbst wenn ihr die ganze Erde zufiele,
würde sie Argwohn und Sorge nicht los, daß ein anderer
vielleicht die Sonne besitzen könne. Sie kennt nicht Ruhe
noch Rast in ihrem Hasten hinter den Dingen her, die an-
dern gehören. An ihrem eigenen Glück nippt sie nur mit
spitzen Lippen und nimmt es nur mit halbem Auge wahr,
so sicher glaubt sie, daß bei der Nachbarin alles besser sei.
So zerstört sie sich alles Schöne, das sie doch besitzt. Sie sieht
ihren eigenen Reichtum nicht und lebt freudlos dahin.
\i'\Tie ein vVindstoß fällt sie bei ihrer Schneiderin ein: Sie
muß unbedingt, und zwar sofort, das reizende Kleidehen

33
haben,- wie nannten Sie es doch?- Ach ja, »Brise de Prin- Ihr, Claude, Irene, Clarisse, Sabine und Corinne und Ihr
temps« ... in dem sie soeben Sabine gesehen hat.» Übrigens, andern alle. Euer törichter und bezaubernder Reigen zieht
l\1adame Suzanne, was hat denn meine Freundin l\'lartine nach Stimmung meiner Stunden und Gedanken an mir
bestellt? Und was Florence? ... Das ist auch sehr hübsch.« vorbei. Wenn Ihr doch nur eines lVIorgens vor der Uner-
Ein Kleid bestellen, oder gar drei, welche Probleme! Es bittlichkeit des Spiegels, und wäre es nur für einen lVIo-
kam ihr zu Ohren, daß sich Aline ein besonderes l\1odell ment, blitzartig »die Fremde« erkennen, sie annehmen
entwerfen ließ. »Kann ich es schnell mal sehen?« »Leider und unterweisen möchtet, so würdet Ihr für Euer ganzes
nicht, es ist schon aus dem Hause.« »Das ist nun aber sehr vveiteres Leben schöner, weil besser, und besser, weil schö-
ärgerlich. Wäre es nicht möglich, es noch einmal hier zu ner werden. Laßt uns aus dem rechten vVissen und dem
sehen? Ich möchte so gerne hineinschlüpfen.« Es ist natür- rechten \Vollen einen Zaubertrunk mischen, dann werden
lich das, was ihr am besten stehen würde. » vVissen Sie zu- Schönheit und Jugend nicht vergebens sein.
fällig, Mme. Suzanne, woher Florences neuer Hut stammt,
und bitte vielleicht auch, bei wem Martine ihre Schuhe
machen läßt? 0 vielen Dank, ich schreibe es mir auf.« Und
in ihrem kleinen Notizbuch fügt Co rinne noch eine weitere
Adresse hinzu. Nun aber weiter! Sie eilt hinweg, denn sie
muß das Parfum von Cecile auftreiben und zu erfahren
versuchen, woher eigentlich die petits fours stammen, die
es bei Marie-Angele gab. Corinne ist ein wenig eifersüch-
tig und leicht beleidigt.
Niemand kennt ihre wirkliche Haarfarbe. Manchmal ist
sie blond, manchmal auch braun oder rot. Einmal ist ihr
Teint lilienweiß, einmal sonnengebräunt, je nachdem, ob
sie gerade Claire oder Diane nachahmt. Sie ist eine wahre
lVIusterkarte von allem, was ihre Freundinnen tragen, ein
Spiegel, in dem sie sich alle wiederfinden; nur sie selbst
fehlt darin. In diesem sonderbaren vVirrwarr, an dem sie
Gefallen hat, gibt es nichts, was ihr gehört, und nichts, was
sie ausstrahlt. Corinne lebt ein geliehenes Leben und
schmückt sich mit fremden Federn.

34 35
KAPITEL III
Gegen die l\1itte des Schuljahres kam unsern Professoren
die plötzliche Einsicht, daß die französische Geschichte nicht
mit den merowingischen Königen aufhöre. VVir trennten
uns also mitBedauern von dieser liebenswürdigen Dynastie,
einem Bedauern, das übrigens durch die nie enttäuschte
Erwartung gemildert vvurde, mit ihr im nächsten Herbst
wieder zusammenzutreffen. vVir machten daraufhin einen
Gewaltmarsch durch die Jahrhunderte, um die Zeit, die
wir in so guter Gesellschaft vertrödelt hatten, eiligst wieder
einzuholen. vVir übersprangen ganze Kriege, jagten durch
Regierungszeiten hindurch, verwechselten alle Revolu-
tionen und nahmen die Staatsstreiche im Fluge.
Niemals kann ich ohne Lächeln an meine Schulzeit zurück- \Venn dann die Julisonne auf unsere durch ein Jahr des
denken und an die sonderbare Art, mit der uns damals der Lernens ehrenvoll ergrauten und ermüdeten Bücher her-
Unterricht erteilt wurde. Jahr für Jahr brachten wir lange unterbrannte, kamen wir atemlos und schwindelig endlich
\Vochen damit zu, die Geschichte der lVIerowinger derart bei der Gegenwart an, um dann in einer Flut von ewig
genau zu lernen, daß sie bald nichts Geheimnisvolles mehr wechselnden l\1inisterien zu ertrinken . . . Da waren die
für uns hatte. Das Gezänke von Chilperich und Childerich, 1\1erowinger doch geruhsamer gewesen.
die Rivalitäten zwischen Fredegunde, Chlothilde und Brun- vVann auch immer ich später meine Töchter frug, wo sie
hilde, die Intrigen von Chlothar, Chlodomir und Childbert in der Geschichte stünden, erhielt ich jedesmal die gleiche
wurden uns bis in ihre letzten Einzelheiten hinein ver- Antwort: »Bei den Merowingern«, und ich sah, es hatte
traut; mit all diesen Königen lebten wir in einer engen, sich gar nichts geändert.
wenn auch für uns nicht gerade sehr nützlichen Gemein- Auch in der Geographiestunde hörten wir nichts als
schaft. vVir hatten den unbestimmten Eindruck, daß die Namen, die uns glücklicherweise mit keinerlei lebendigen
Taufe von Chlodwig eine Art Familienfeier war, an der Vorstellungen belasteten. Niemand erzählte uns von den
wir, obzwar geladen, nur durch ein unvorhergesehenes Stürmen des Herbstes und von der milden Luft des Früh-
Hindernis nicht hatten teilnehmen können. Diese Könige lings; wie sehr hätte uns das ein farbiges und unvergeß-
und ihre Verbrechen aus Leidenschaft brachten uns sehr in liches Bild von den verschiedenen Himmelsstrichen gege-
Verwirrung und wir wußten nie, wessen Partei wir ergrei- ben. Niemals beschwor man uns die sanfte Neigung eines
fen sollten; jedoch waren wir altklug genug zu hoffen, daß Hügels, das einsame Rauschen eines Gebirgsbaches in einer
dennoch alles gut ausgehen würde. Schlucht oder den Duft eines durchsonnten Waldes. Wuß-

36 37
ten wir, ob die Städte bei Sonnenuntergang blau oder rosa sehr edlen Chinaporzellan, vor einem mit flüchtigem Blick
schimmerten und was für Blumen auf fernen vViesen erhaschten Schmuckstück.
wuchsen? vVir wußten nicht, in welchem Lande die mensch- Eines Tages wurde mir alles klar.
liche Stimme rauh tönte, noch, wo sie süß sang. Für uns Ein einziges vVort hatte mir alles offenbart: me1ne
schrumpfte die ganze unendliche Erde mit ihrer geheim- Ängste, meine Enttäuschungen, mein plötzliches Glück-
nisvollen Ferne zu einigen schwarzen Buchstaben auf wei- lichsein, meine tiefe Zustimmung, meine Zweifel und
ßem Papier zusammen. meine Nöte. Ein einziges Wort, das in keinem Schulzimmer
Das gleiche galt für die Literatur: Dichter und Bücher, je gesagt wurde, ein ganz kleines Wort nur, das man ver-
zwischen denen das lebendige Band fehlte. \Vie gerne hätten schwieg, das man nicht kannte, ein leeres, unnützes und
wir gewußt, woher den Dichtern ihre künstlerische Ein- verachtetes Wort, ein wunderbares, mächtiges und frucht-
gebung kam und wie sich eigentlich das Werden eines bares \Vort, ein strahlendes Wort, voll Versprechungen und
Buches vollzog: man schwieg darüber. Dagegen lernten Erfüllungen, ein wahrhaft französisches Wort: Geschmack.
wir, daß sie einer Gruppe angehörten oder einer Schule,
oder daß sie Einzelgänger waren. Aber wo, wie und warum? Niemals hat man den französischen Kindern gesagt, was
Niemand klärte uns auf. eigentlich Geschmack sei; man lehrte sie weder seine Ge-
Man wollte uns auch Kunstgeschichte beibringen in der setze noch seinen Gebrauch. Man weihte sie nicht in seine
Weise, daß man uns sagte : >>Dieser J\'Ialer ist ein großer Geheimnisse ein, man enthüllte ihnen die Freuden nicht,
Maler, dieser Bildhauer ist ein großer Bildhauer und dieses die er bringen konnte. In keiner Schule fand sich auch nur
ist ein Meisterwerk und dieses keins.« Wir waren gern be- ein Lehrer, der bereit gewesen wäre, dem traurigen Chlod-
reit, alles gläubig aufzunehmen. wig eine Stunde zu nehmen und diese dem Studium des
Wir gingen fleißig in die Museen. Geschmacks zu schenken.
Zwar frug ich mich manchmal traurig, warum ich vor Ach, wie glücklich wäre ich, wenn ich diesem so oft ver-
gewissen Werken, die ich hätte bewundern sollen, ebenso kannten und verratenen Wort seine wahre Stellung und
bei gewissen anerkannten Büchern heimlich ein peinliches uns die Einsicht in seine tiefe Bedeutung wiedergeben
Gefühl hatte. Manchmal auch, beim Durcheilen einer Aus- könnte.
stellung, beunruhigte mich das Ausbleiben jeglicher Begei- Die Kunst ist eine Welt für sich - der Geschmack eine
sterung und ich versuchte, allerdings ohne Erfolg, meine andere.
Lauheit zu besiegen. Diesen Enthusiasmus, den ich vergeb- Sie können vereint oder getrennt leben, sie können ein-
lich suchte, den fühlte ich dann plötzlich unvermittelt in ander freundlich oder feindlich begegnen. Im Meisterwerk
mir wach werden, befreit und fröhlich, vor einem schönen treffen sie zusammen. Wenn sie aber verschiedene Wege
Möbel des achtzehnten Jahrhunderts, vor einem klaren und gehen und ich wählen müßte; würde ich mich für den

38 39
Geschmack entscheiden, denn bei ihm fühle ich michimmer Ich möchte, daß sie ohne Neid und Eifersucht die reine
zu Hause. Freude kennenlernen sollten, die der schöne Gegenstand
Die Kunst ist wirklich eine Sache, der Geschmack eine uns zu schenken vermag, allein durch die Kraft seines Da-
andere. Die Kunst kann manchmal den guten Geschmack seins. Ich wünschte, daß sie ohne Hintergedanken immer
verleugnen, der Geschmack jedoch vermag oft ein schwa- wieder die reine Heiterkeit empfinden möchten, die allein
ches Werk zu heben. schon der Anblick des Schönen gewährt. Man muß nicht
unbedingt besitzen wollen: es genügt, zu schauen; denn
vVie sehr wünschte ich, daß es sensible Lehrer gäbe, die auch dadurch wird man reich und glücklich.
den l\1ut hätten, mit ihren Schülern überall herumzu- Es wäre herrlich, wenn diesen jungen l\'Ienschen das seit
schnüffeln, in den Museen und in den Straßen! Dann wür- Jahrhunderten angesammelte große Erbe des guten Ge-
den diese jungen l\1enschen eines Tages in einer Garten- schmacks in seiner Fülle überliefert werden könnte, damit
ausstellung den magischen Anruf harmonischer Farben sie, im Stolz auf die abendländische Tradition, das Glück
spüren, oder ein andermal würde ihnen eine Sammlung empfinden möchten, in der Liebe zu diesem Erbe an seiner
von Edelsteinen den Zauber einer vergeistigten Materie Ausbreitung immer weiter mitzuarbeiten. Ich möchte für
enthüllen! Die Place Vendome könnte ihnen für immer sie alle eine Gesetzestafel des guten Geschmacks aufstellen;
das Gefühl für reine und elegante Linien schenken und eine ich möchte sie eine Zaubergeographie lehren, die keine
ägyptische Plastik würde sie Kraft und Adel reiner Formen Grenzen kennt und die für sie eine Reise in das \Vunderland
schauen lassen. Ein griechischer Faltenwurf, einmal rich- des Geschmacks bedeutet.
tig erfaßt, müßte ihnen fürs ganze Leben das Gefühl für
Ausgewogenheit geben. Die sonnendurchglühten Farben In diesem Lande würden erstaunliche Flüsse dahin-
von l\1onet würden ihnen den sträflichen Geschmack an fließen, schillernd wie Rosenquarz, Lapislazuli, Jade und
unreinen Farben vertreiben, und der Anblick des einfachen Türkis. Die Ufer würden aus weißem Porzellan sein mit
und reinen Weiß chinesischen Porzellans würde, sehr zu kunstvollen Tomatenbosketts. In der Ferne erhöbe sich
ihrem Heil, genügen, ihren Sinn von allem Schund abzu- unter einem toskanischen Himmel ein ungeheures Höhlen-
bringen. vVenn diese Kinder doch nur dazu kämen, ihre gebirge, überreich mit Schätzen angefüllt: Florenz und
Nasen an den Schaufenstern plattzudrücken, um zu prüfen seine Museen. Auch sind Gärten in meinem Land ausge-
und zu unterscheiden, zu lieben und zu lernen! Was denn? breitet, voll zarter und nie vergehender Blüten aus lVIeiß-
Alles!! ner Porzellan, und gleich neben ihnen der vVildpark von
Vom l\1öbel zum Schmuck, vom Porzellan zur Hand- Frankenthai mit seinen harmlosen Bestien. Inmitten der
tasche, von der Blume bis zum Wandbehang, vom Flacon Gobelinwälder vergnügen sich die Tiere des guten La Fon-
bis zu den Gemälden hin: alles, alles, alles. taine. Es gibt da, wie von vVatteau im Stil der Chinoiserien

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gemalt, viele kleine Dörfer und hinter ihren mit .Glöck- Form und Farbe, Stoff und Verarbeitung sind ebenso viele
chen behangenen Häusern lugen die zierlichen Affen von Fußangeln, die uns anlocken und uns keine Ruhe lassen.
Huet hervor. Die Länder um die Pole herum sind aus rei- Aufgeputzt nehmen sie vielerlei Gestalt an, um uns zu täu-
nem Bergkristall und die Sonnenuntergänge leuchten wie schen, jedes l\1ittel ist ihnen recht, mit dem sie uns ver-
scharlachroter Lack. Auf allen l\1eeren schimmern die Re- führen und uns vom schmalen Pfad des guten Geschmacks
flexe Venedigs und Caravellen wogen auf den vVassern. abbringen könnten. So müssen wir also unaufhörlich gegen
Und mein Land hätte eine Hauptstadt: Paris! uns selbst kämpfen, müssen gegen uns selbst auf der Hut
Geschmack! Du vvunderbare und heilsame vVissenschaft, sein, uns verteidigen und immer siegreich bleiben, auf daß
Überwinderin des Häßlichen, Schöpferirr jeglicher Schön- wir uns rein halten von jeglichem Kompromiß. vVenn man
heit! Wohltuendes Ingenium! Dich möchte ich krönen. sich sagt: >>das gefällt mir«, so ist das zwar gut, aber wenn
Unter Deiner Herrschaft gäbe es keine trostlosen Städte man sich immer wieder sagt: >>das mag ich nicht«, so ist
mehr, keine häßlichen Zimmer, keine verschandelten das weit besser.
Landschaften, keine beleidigenden Denkmäler und keine Diese vVahrheit sollte der Leitstern für alle schöpferi-
schlechtangezogenen Frauen. 0 Geschmack, was ist nun schen lV[enschen sein. Sie ist es, die den lVIaler leitet wie
dein eigentliches Wesen? Aus welcher Tiefe strömt dein den Komponisten, den Baukünstler wie den l\1odeschöpfer,
Genie? Aus welcher Quelle muß man trinken, um dich den Dichter wie den Innenarchitekten. Sie ist die erste
ganz zu erfassen? vVo glänzt das Licht, das auch dich er- vVahrheit für alle die, deren Leben in einem dauernden
leuchtet? Woher kommt die Harmonie deiner Lieder? Wählenmüssen besteht.

Ein geistreicher Mann hat einmal gesagt: «Le Gout est Diese Gedanken führen mich zu einem andern Kenn-
fait de mille degouts.» Um eine Sache recht zu lieben, muß zeichen des Geschmacks: zu seiner Reinheit. Die einfache
man jederzeit den Mut haben, tausend andere Dinge zu und natürliche Reinheit ist das Vorrecht des Vollkomme-
verwerfen. Geschmack ist vor allem eine Frage der Ent- nen, sie ist ein Prüfstein der Schönheit. Dem in sich ge-
scheidung und der Auslese, und um seiner teilhaftig zu schlossenen Ganzen braucht nichts hinzugefügt zu werden.
werden, muß man bereit sein, sich sozusagen zu häuten Das Vollkommene verträgt keine Zutaten.
und alles Überflüssige von sich zu tun. Wer nicht Kraft hat, Eines Tages, im Vatikanischen l\1useum, kamen mir die
vieles zu zerstören und weniges zu bewahren, wird nie- Tränen bei der Betrachtung einer Marmorvase von makel-
mals die Fülle des Geschmacks besitzen. Gleich dem heili- loser Einfachheit. Die Reinheit ihrer Linien war so groß,
gen Antonius sind wir zu jeder Stunde unzähligen Versu- daß sie dadurch an der Harmonie des Universums teil-
chungen ausgesetzt; lassen wir uns von ihnen einfangen, hatte und sie mit einem einzigen Blicke für uns alle sicht-
so geraten wir in einen Strudel von Verirrungen hinein. bar machte. Das Überladene dient doch eigentlich nur da-

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zu, eine Schwäche oder e1ne Unvollkommenheit zu ver- vor 1\1enschen spricht, die in große Sorgen verstrickt sind,
bergen. Es möchte, allerdings ohne Erfolg, eine Lücke in fehlt es da an Geschmack oder an Takt? Ein großes Abend-
der Phantasie ausfüllen. Ein gutgelungenes Kleid ist fertig kleid bei einem kleinen Diner, ist das J\1angel an Ge-
auch ohne zvvecklos angebrachte Knöpfe und ohne Schlei- schmack oder an Takt? Das größte Lob, das man einer
fen, die nichts zu binden haben. vVenn es erst nötig wird, Epoche spenden könnte, wäre, sie das I ahrhundert des guten
eine Verzierung zu Hilfe zu rufen, so bedeutet das, daß Geschmacks zu nennen, und die schönste Huldigung, die
irgend wo ein Grundfehler vorhanden sein muß. Eine wirk- man einer Frau darbringen könnte, wäre, zu sagen, daß sie
lich elegante Frau trägt niemals etwas Unlogisches, ebenso eine Frau von Geschmack sei.
wie alle künstlerischen 1V1enschen die erklärten Feinde des
Überladenen sind. Über den Geschmack ist viel Törichtes geschrieben wor-
J\Iit mildem Ernst wacht die Reinheit über den Ge- den, unter anderm auch dieses: »Über den Geschmack
schmack. (und auch die Farben) läßt sich nicht streiten«; aber da
der Geschmack nichts an sich hat, das gleich einem Makel
Im Geschmack liegt Harmonie; denn dort, wo er herrscht, verheimlicht werden müßte, so glaube ich ganz im Gegen-
klingt alles zusammen. In seinem Reich verschmelzen die teil, daß wir recht viel über ihn diskutieren sollten ... näm-
Farben auf so natürliche vVeise, wie dieWassersich mischen, lich zum größten V orteil all derer, die keinen haben.
und die Materie kommt von selbst ins Gleichgewicht. Kein
Sich geschmackvoll anziehen, ist immer eine Sache des
falscher Klang ist möglich, alle Dinge vereinigen sich im
Instinkts, vielleicht auch der Erziehung, aber niemals eine
Zeichen einer schwesterlichen Liebe. Das Große und das
Sache des Geldes.
Kleine, das Farbige und das Trübe, das Glänzende und das
Seine kleinen »Geschmäcker« dem wahren Geschmack
1V1atte, das Schwere und das Leichte, das Undurchsichtige
und das Durchscheinende, sie alle klingen zusammen in zu opfern, ist ein Zeichen von Charakter.
einer geheimnisvollen Symphonie. Der Geschmack ordnet Eine Frau kann nicht gleichzeitig ihr Kleid mit Ge-
die Blumen in einer Vase und den Aufbau eines Gemäldes, schmack aussuchen und sich geschmacklose Hüte kaufen.
er bestimmt die richtige Stelle eines Schmuckstückes, die
In Sachen des Geschmacks gibt es keine unwichtigen
harmonische Anbringung einer Lampe und die Zusam-
Einzelheiten, es gibt nur grundlegende Irrtümer.
mensetzung eines Menus. Er ist entweder da oder nicht da,
uneingeschränkt, in uns wie auch überall um uns herum. Eine Frau kann ihren guten Geschmack bei der \V ahl
vVas der Geschmack für die Dinge ist, das ist der Takt eines Kleides beweisen, das ihr eigentlich nicht steht, ge-
für die Seele; beide sind so nahe verwandt, daß man sie nau so, wie sie es an Gescrilllack fehlen lassen kann bei
austauschen könnte. \Venn man von seinem kleinen Ärger einem Kleide, das ihr schmeichelt.

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An den rechten Geschmack der andern glauben, selbst ganze vVelt. Er trägt e1nen Namen, der sitzt, kurz und
wenn er von dem unsern verschieden sein sollte, ist noch lebendig, heiter wie eine Nacht von Paris, er heißt: Chic.
schvvieriger als an ihre Tugend glauben, wenn man selbst Er hat in der ganzen vVelt Verwandte; ein Vetter von ihm
keine hat. in Amerika heißt Mr. Cute, in London lebt ein anderer,
Mr. Smart, und in VVien gibt es noch eine reizende Kusine,
Es ist ein großer und vielleicht etwas törichter Liebes-
das Fräulein Fesch. Ist das nicht wirklich eine kosmo-
beweis, wenn eine Frau auf ihren angeborenen guten Ge-
politische Familie? Doch der Chef des Hauses, der einzig-
schmack verzichten möchte, um sich dem schlechteren eines
artige, der wahre, der unbestrittene, das ist und bleibt doch
J\tiannes anzupassen.
Monsieur Chic de Paris. Übrigens, in Fragen der Ver-
vVenn es schon traurig ist, das Häßliche dem Schönen wandtschaft ist er sehr hochnäsig. Seine Mutter, Frau
vorzuziehen, so ist es noch viel schlimmer, beiden gleich- Novität, die manchmal an zweifelhaften Orten angetroffen
gültig gegenüberzustehen. wird, bringt von dort manchmal Bastarde mit nach Hause,
Wenn eine Frau den Geschmack einer andern bekrittelt, wie zum Beispiel den Knaben Excentric.
so tut sie es vor allem, um ihren eigenen bestätigt zu sehen. Dem Chic ist dieser Halbbruder immer verdächtig ge-
wesen, und er hält ihn sich daher vom Leibe. Er mißtraut
Je raffinierter der Geschmack ist, desto natürlicher muß
ihm, weil er ihn kennt und ihn schlimmer Übertretungen
er scheinen.
für fähig hält. »Wir hatten verschiedene Väter, das sieht
Es gibt kluge l\1enschen, die keinen Geschmack haben, man doch gleich«, so sagt dann wohl der Chic; »ich muß
aber ich kenne keine dummen, die ihn haben. ihn immer genau unter meiner Aufsicht halten, denn man
Ein häßlicher J\tiensch mit gutem Geschmack kann mehr weiß nie, welcher Dummheiten er noch fähig wäre. So hat
Charme haben als ein schöner Mensch ohne Geschmack. er doch eines Tages den Frauen eine kleine Pillenschachtel
auf den Kopf gesetzt und ihnen und der ganzen Welt weis-
Beim Geschmack ist es wie bei der Liebe : man ist auf den
gemacht, das sei ein Hut.«
ersten Blick bezaubert oder man wird es erst mit der Zeit;
Der Jüngling Excentric, der seiner Mutter, der Novität,
bei beiden ist der zweite Weg der dauerhaftere. J\1an trägt
sehr zu Diensten ist, will ihr überall zum Siege verhelfen,
die Hüte, in die man auf Anhieb verliebt war, nur zwei-
sehr zum Schaden der übrigen Familie. So flüstert er zum
mal, die andern jedoch mindestens ein halbes Jahr.
Beispiel einer Frau zu: »Lassen Sie doch Ihre ewigen Hals-
Wenn guter Geschmack und die »Novität« zusammen- ketten weg, die hat man schon zu lange gesehn; aufgereihte
treffen und sich vereinigen, so entsteht ein legitimer und weiße Mäuse, das würde doch viel moderner wirken.« Oder
bezaubernder Sprößling. Er ist geistvoll und fein, seriös zu einer anderen: »Was, Sie tragen noch eine Ledertasche?
und manchmal geschwätzig, und sein Ruhm durcheilt die Aber das ist ja zum Lachen! Glauben Sie mir, ein Rupfen-

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sack, der wäre doch viel aufregender.«- Oder zu einer Alt-
modischen gewendet: »Sie tragen ja Ihr Kleid immer noch
mit der rechten Seite nach außen, beim Zeus, wie sehr ist
das überholt! Lassen Sie es schnellstens wenden!«
Er hat kein Glück, der arme H err Chic, denn noch eine
andere Person schafft ihm ernste Sorgen, indem sie seinen
Namen fälschlich führt. Es ist sein Stiefbruder, der Pseudo-
Chic, eine Art Doppelgänger von ihm, der ihm überall
nachfolgt und alles nachäfft, was er tut. Ist der eine natür-
lich, so ist der andere verkrampft, gibt sich der eine schlicht,
so spielt der andere den Pretenziösen, ist der eine diskret, so
der andere unmöglich. Der Chic ist er finderisch, der Pseudo-
Chic ahmt nur nach. Ist der eine ein Diamant, so der andere
Simili. Der eine denkt nie an seine Wirkung, der anJere
immer. Der Chic ist aufrichtig, während der andere lügt.
1onsieur Chic ist ziemlich r eserviert und äußerst emp-
findlich; ein kleines ichts, das ihn stört, und schon ist er
davon. Er ist mutig, manchmal sogar tollkülm, aber tlas
Lächerliche schlägt ihn sofort in die Flucht. Er ist schlicht
wie alle, die aus gutem Ilause sind, und da ihm außerdem
noch Intelligenz mitgegeben, verachtet er Klatsch und
Intrigen. Er kann sich ganz klein machen, sich freundlich
und vertraulich geben, aber er erlaubt niemals zu verges-
sen, daß er eigentlich ein Standesherr ist. Er ist der Gatte
einer fürstlichen Dame, der Eltlgance, und er hält darauf,
daß man ihnen niemals den schuldigen Respekt verwei-
gert. ßeide lachen gern und sind gern vergnügt; reisen,
erfinden, 'Virhel hervorrufen, schöpferisch sein, alles das
lieben sie sehr, aber sie vergessen niemals, daß der Ge-
schmack ihr erlauchter Vater ist, Paris ihre Heimat und die
Schönheit ihr Leitstern.

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KAPITEL IV

Junge J\tiädchen und sehr junge Frauen sind nur selten gut
angezogen; denn vor lauter Jugend haben sie noch keine
Zeit gehabt, über ihre Kleidung nachzudenken und sich
für die Hohe Schule der Eleganz vorzubereiten. J\!Ian be-
kommt die guten Noten erst mit den ersten Fältchen.
Zwanzig Jahre alt sein, schön sein und dazu noch wissen,
wie man beides zur Geltung bringt, das wäre allzuviel des
Guten. vV as sollte dann aus denen werden, die doppelt so
alt und halb so anziehend sind, wenn sie nicht wenigstens
mehr von modischen Dingen verstünden?
Junge Mädchen lieben keine Ratschläge. Sie hören sie
nur mit Ungeduld an, aus eben dem Grund, der sie den
reiferen Frauen, die solche kleine menschliche Hilfen brau-
chen, lieb macht: denn guter Rat verjüngt.
Die sehr charmante Mme. de l\1. sagte mir eines Tages
betrübt: »Ich komme soeben von dem frischen Grab der
letzten meiner Freundinnen, die mir hätten sagen können:
Aber Liebste, dein Hut ist wirklich scheußlich. Und nun
fühle ich mich auf einmal sehr alt.« Erinnern wir uns ...

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diese andauernden Ermahnungen: »Halt dich gerade!« Hut aufsetzt, oder welche Schuhe man trägt, darin wird
oder: »Du hast zuviel Rouge aufgelegt«, sind sie ni.cht wie sich die engste Verwandtschaft ausdrücken; eine Lieb-
ein wundersam herüberklingendes Echo aus unserer Ju- lingsfarbe blüht auf, springt über von der einen Tochter
gendzeit, einer Stimme zugehörig, die uns einst vor allen zur andern, verbreitet sich überall wie ein aufdringliches
an dem teuer war? Wenn einmal niemand mehr da ist, der Leitmotiv um schließlich auch noch auf der Krawatte des
'
uns sagt: »Dein Kleid macht dich dick; in dieser Farbe Vaters zu sitzen.
siehst du blaß aus; dieses Hütchen ist geradezu lächerlich« Ebenso wie es eine gemeinsame Familiensprache gibt,
-dann erst sind wir wirklich einsam geworden. vVenn eines die sich in geheimen Wortspielen und Scherzen manife-
Tages diese geliebten, aufrichtigen und uns mahnenden stiert -nur den Eingeweihten verständlich -, ebenso gibt
Stimmen für immer schweigen, wenn die Zeit, da wir von es auch in der Intimität der weiblichen Familie eine münd-
andern erzogen vvurden, endgültig vorbei ist und an ihrer liche und sehr geheime Überlieferung der Eleganz. Mit
Stelle nun für uns diejenige heraufdämmert, da man von einem einzigen Blick erkennen sie sich alle als zur gleichen
uns nur noch erwartet, daß wir andere erziehen, dann ist Rasse gehörig. Unbeirrbar den gleichen Modehäusern treu
unsere Jugend wirklich dahin. bleibend, beobachten sie auch die gleichen Riten des make
up. Ob sie sich weiblich oder mehr herb anziehen, ganz
Die jungen Mädchen lieben also noch keine Ratschläge; gleich, wenn auch nur eine von ihnen ihren Stil wechselt,
von der feinen Kunst, sich gepflegt anzuziehen, wissen sie so folgen ihr die andern auf dem Fuße nach. Es darf keine
noch nichts; wovon wohllassen sie sich dann leiten? Abtrünnigen geben, damit ihrer aller Einigkeit unver-
Da gibt es nun zwei einander ganz entgegengesetzte letzt bleibe. Innerhalb der Familie bildet sich ein ganz
Typen: Die einen sind die gehorsamen Schülerinnen ihrer bestimmter Typus aus, in dem das Zusammengehörigkeits-
J\!Iütter, während die andern sich stets widersetzen. gefühl so stark und aktiv wird, daß keine Entfernung und
vVie ein Maler mit seinen Schülem, so verfährt die Mut- keine Unstimmigkeit die einzelnen Glieder der Familie aus-
ter mit ihrer Tochter. Sie weiht sie in ihre Geheimnisse einanderbringen können. Ich habe amerikanisierte Töch-
ein und selbst da, wo sie merkt, daß der Tochter die ange- ter einer französischen Mutter gesehen, die sich in New
borene Begabung fehlt, die ja etwas durchaus Persönliches York denselben Hut aussuchten wie ihre J\!Iutter gleich-
ist, bringt sie ihr wenigstens das Erlernbare des Handwerks zeitig in Paris. Ich habe gesehen, wie Frauen aus dersel-
bei. Sie macht Schule, und so wird sich in der Kleidung ben Familie alle ihren Ring am kleinen Finger hatten,
und in allem, was die Mode betrifft, eine bestimmte Art oder wie sie alle die gleichen Locken, Handtaschen und
von Familienstil herausbilden. Ein bestimmter Geschmack Gürtel trugen.
setzt sich fest, nicht mehr der der Mutter oder der Tochter Diese Kunst, sich bei aller Individualität doch kollektiv
allein, sondern der einer ganzen Sippe. Wie man sich den - im Sinne der Familie - anzuziehen, ist eine sehr schwer

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I
IJ
zu übende. Durch die einzigartige und hohe Tugend zärt- um nicht zu verehren; s1e vernemen nur, um nicht zu
licher Nachsieht gegeneinander, alles etwa Lächerliche bejahen, und sie verwerfen nur, um nicht akzeptieren zu
solchen Familienstils unwirksam werden zu lassen, aus müssen. In allem verraten sie, daß sie der unschuldigen
einer allen gemeinsamen Eigentümlichkeit noch einen be- Leidenschaft der Emanzipation verfallen sind. Zeigt man
sonderen Chic zu machen, aus ererbten Gebärden Attitüden ihnen ein Kleid, so werden sie niemals sagen: ich mag's
der Eleganz zu bilden und in allem das gemeinsame Flui- nicht, sondern immer und lieber das vernichtende und un-
dum noch zu unterstreichen - könnte es ein schöneres widerrufliche Urteil sprechen: ach, das ist ja ganz J\1amas
Zeichen der Liebe geben? Genre! vV enn sie wissen, daß l\1ama für sie eine rote Hand-
tasche ausgesucht hat, die sie zum vVeinen gerne hätten,
Aber wie steht es nun mit dem andern jungen J\1ädchen, so werden sie sich mit stoischer Ruhe dennoch eine blaue
der vViderspenstigen? Sie ist wie ein heißblütiges Füllen, nehmen. Um ihnen zu gefallen, muß man sich immer ein
das sich auf der \Veide austobt und nur ungern Zaum und wenig den Anschein geben, als wolle man ihnen helfen,
Zügel erträgt; es ist sehr scheu und mißtrauisch, und lau- die Mutter zu verraten. Das ist zugleich komisch und auch
schend spitzt es die warmen seidenweichen Ohren. Einer ein wenig traurig, wie jene allzu hellen Apriltage, die sich
vViderspenstigen darf man nichts aufdrängen, weder aus plötzlich verdüstern, wie jene flüchtigen und schimmernden
einer Tradition heraus noch durch vorgehaltenes Beispiel; Sonnenstrahlen, die in einem Regenschauer enden, so bald
man darf ihr weder mit der J\'lutter noch mit der Schwester, man ihnen vertraut. Das ist so rührend wie alles, was jung
weder mit dem Gestrigen noch mit dem, was heute gilt, und vergänglich ist, und es geht vorüber wie der heitere
kommen. Sie vvill ihren vVeg allein finden und ihn nach Traum einer Frühlingsnacht.
ihrem Sinne auch allein gehen.
Der vVunsch dieser jungen J\1ädchen nach Unabhängig- Außer der folgsamen Tochter und der Rebellin gibt es
keit, ihre Furcht vor knechtischer Nachahmung sind so nur wenige, die den schmalen Pfad eines persönlichen
groß, und ihr ßedürfnis, mal etwas ganz Neues zu schaf- Geschmacks ohne jede Beeinflussung und in souveräner
fen und zu entdecken, ist so zwingend, daß sie einen ge- Freiheit zu finden wissen; diese sind allerdings dann nicht
radezu unglaublichen \Viderspruchsgeist entwickeln. Ganz mehr ganz das, was man ein »junges J\'lädchen« nennt;
im Gegensatz zu dem, was sie eigentlich wünschen, näm- denn sie haben schon herbe Früchte vom Baume modischer
lich Selbständigkeit, sind sie in einem viel stärkeren J\'laße Erkenntnisse genossen. Gleich einem Künstler besitzen sie
als die andern ihrer Mutter hörig. Ihr Geschmack ist in eine angeborene Begabung für die Eleganz, und ihre Intui-
vVirklichkeit nicht ihr eigener, sondern der aus Trotz ins tion kommt ihrer Unerfahrenheit zuhilfe. Es gibt wahrhaft
Gegenteil verkehrte Geschmack der IV1utter. Sie sagen begnadete Frauen, die von ihrer Jugendzeit bis zum höch-
weiß, um nicht schvvarz sagen zu müssen; sie hassen nur, sten Alter nicht einen einzigen J\1ißgriff tun. Von ihrem

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ersten Ballkleid an bis zu ihrem letzten intimen Haus- sie ganz ohne Nachhilfen auskommt. Es gibt Lügen, die
gewand sehen wir vor unserem geistigen Auge die ganze das Leben schmücken, und Illusionen, die es liebenswert
köstliche Reihe all der Kleider, denen sie einst Seele ver- machen. So soll die Frau durch ihr Kleid nicht nur schöner
liehen: zauberhafte Hüllen eines Tages oder einer Saison. aussehen, sondern auch ihr Wesen steigern und alle be-
glücken, die sie anschauen.
Allen denen, die weniger glücklich sind und lernen müs-
sen, kann nur die Zeit Lehrmeister sein. Vom fünfundzwanzigsten bis zum vierzigsten Jahr muß
Eines Tages bemerkt man mit Befremden, daß ein be- man ununterbrochen lernen und an sich arbeiten. Und
stimmtes Decollete das Gesicht zu mager macht; bis dahin erst nachher hat man das Recht, sich des Genusses dieses
glaubte man, es stünde einem alles. Ein anderes Mal merkt so mühsam erworbenen Wissens zu erfreuen. Nicht allzu
man, daß die Linie eines Kleides, die bisher harmlos schien, lange freilich, weil sich alsbald eine neue Schwierigkeit vor
nun auf einmal die Hüfte allzu sehr betont. Eine schlecht- uns auftürmt, eine schreckliche, schmerzliche und unaus-
fallende Haarsträhne vergröbert einem die Nase. Eine be- weichliche Schwierigkeit: das Altern, das Altern-Können.
stimmte Ärmelform läßt die Figur flach erscheinen. Ein Weiche Ironie! Kaum hat man gelernt, aus seinen Vor-
Hut, den man für kleidsam hielt, verschärft ganz uner- zügen und aus seinen Fehlern das Beste herauszuholen,
wartet die Gesichtszüge, und mit irgendeinem kleinen kaum hat man gelernt, sich zur Geltung zu bringen, da
Halsausschnitt sieht man auf einmal ärmlich aus. muß man den hart eroberten Boden nach und nach wieder
Plötzlich entdeckt man Vertiefungen und Polster, wo aufgeben, um sich auf einem noch viel heimtückischeren
keine hingehören, und eines Morgens läßt uns sogar der Gelände dem Schicksal zum Kampfe zu stellen.
sonst so treuefrische Teint im Stich.
Etwas Undefinierbares ist dahin, das Spiegelbild hat Erste Gefahr: Verblendung! Nicht zu merken, daß man
einen Sprung bekommen. altert. Gefährlich gefärbtes Haar, ein zu starkes make up,
Dann ist der Augenblick gekommen, an die Arbeit zu auffallende Farben, unter dem Vorwand, daß sie jung
gehen. Da muß man nun Tag um Tag lernen, verschleiern, machen:- sehr äußerliche und flüchtige Rückzugsgefechte,
ausgleichen und korrigieren. Man möchte gleichzeitig Selbsttäuschungen, die einem dünnen Wandschirm glei-
Architekt und Maler sein, um alle Einzelheiten zusammen- chen, der eigentlich nichts mehr verbirgt; Verleugnung
zustimmen. Die Kunst der raffinierten kleinen Täuschun- schließlich einer Wahrheit, die doch allen andern in die
gen beginnt. Dieses Wort hat für mich nichts Unangeneh- Augen springt.
mes, zunächst einmal, weil ich die Kunst der kleinen Kor- Welch schmerzlicher und nutzloser Kampf!
rekturen sehr amüsant finde, und dann ganz einfach, weil Wahn sinn, jetzt noch an die Jugend zu glauben; Irr-
ich der schönsten und elegantesten Frau nicht glaube, daß sinn, sie in Augen zu suchen, die sich gleichgültig ab-

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wenden; Eigensinn, aus ihr ein Trugbild zu machen, und in ihrem Geschmack haben sie sich festgelegt; sie schätzen
Schwäche, sie bei andern zu beneiden. Was nutzt es, sich ein modernes Gemälde ebensosehr wie die überraschende
über Stunde und Jahre zu täuschen? Die andern werden Linie eines neuen Kleides. Sie wollen aus der »guten alten
über uns ein um so strengeres Gericht halten. vVas nutzt Zeit« gar keine drohende Vogelscheuche machen; es ist
es, etwas zu fingieren, das niemanden interessiert, etwas zu ihnen vielmehr gelungen, auf das reizendste zeitgemäß
wollen, das man nicht mehr kann? Was nützt eine Komödie zu se1n.
vor einem leeren Saal - was nützt es, aus einer schönen Nichts ist so wahrhaft elegant wie eine elegante alte
Vergangenheit eine Karikatur zu machen? Warum das Dame.
Gestern durch ein betrübliches Heute verderben? Nichts ist erlesener, ausgewogener und rührender; nichts
ist kostbarer, seltener und zerbrechlicher - und es über-
Die andere Gefahr: Altwerden - es wissen und aus rascht immer wieder. Es ist ein Ausklingen in Vollkommen-
Rache sich weigern, etwas dagegen zu tun. Graue Haar- heit, ein naturhaftes Zusammenfassen eines ganzen Lebens,
strähnen, finstere Mienen, langweilige Kleider, verknif- eine Blume, die sich neigt, ein Feuer, das still vergeht, ein
fene Lippen, eine unförmige Taille; ein Flämmchen, das Duft, der flieht ... das ist eine letzte Süßigkeit, ein Sou-
unter bleicher Asche vergeht. Ewiger Vorwurf gegen alles, venir und ein leises Bedauern.
was jung ist, freiwillige Vereinsamung, trostloser Verzicht
auf die letzten warmen Strahlen, sauertöpfige Bitterkeit
oder totale Gleichgültigkeit.
Ist aber nicht die Sonne beim Untergang noch schöner
als beim Aufgang? Weshalb also ohne Freude und Schön-
heit die letzten Schritte des Weges zurücklegen? vVarum
nicht im sinkenden Strahl einhergehen und eine frohe,
lichtvolle Spur hinterlassen?
Wie bezaubernd sind die Frauen, die ihrem Alter ent-
gegenlächeln.
Sie wissen aus ihren Falten eine Zier zu machen, aus
ihrem Gesicht etwas friedvoll Anmutiges, wenn es auch
nicht mehr das von früher ist. Sie sind auf eine sehr sanfte
und diskrete Weise kokett, und ohne Scheu vor ihnen vom
Alter zu sprechen, ist die ritterlichste Verbeugung, die
wir ihnen erweisen dürfen. Weder in ihren Urteilen noch

56 57
KAPITEL V
cherlei. Da ist zum Beispiel die ängstliche, sie hat Sicher-
heitsschlösser; eine andere ist geputzt und sehr kokett,
während die Nachbarin heruntergekommen zu sein scheint;
an einer dritten wiederum erkennt man an der abgenutz-
ten Glocke, daß sie viele Besuche einläßt. Die Tür im
ersten Stock verlangt von uns, daß wir auf der Matte die
Schuhe gut abstreifen, während die unter dem Dache sich
schlechtgelaunt vor dem Besucher zu verschließen scheint.
Ich liebe nun einmal die Türen.
In dem kurzen tete-a-tete, das ich mit ihnen habe, rau-
nen sie mir manches zu. Wenn es lange dauert, bis man
mir öffnet, so nehme ich an, daß die Wohnung sehr groß
Niemals betrete ich eine mir noch unbekannte Wohnung, ist oder daß ich störe. Am Klang der sich näherndenSchritte
ohne wiederum jene geheimnisvolle Erregung zu spüren, höre ich dann, ob mein Fuß von einem weichen Teppich,
die mich schon als Kind in der warmen Dunkelheit eines von glatten Fliesen oder von einem Parkettboden auf-
Theaterraumes ergriff. Mein Herz schlug dann schneller genommen wird. Immer strömt mir etwas von dem Geruch
und meine erwartungsvollen Augen hingen an dem Vor- der Wohnung entgegen: der Duft von Blumen, ein Par-
hang, der allzu lange nicht aufgehen wollte. Und auch fum, oder der scharfe Ruch des Bohnerwachses vermischt
heute noch, wenn ich irgendwo eine Klingel drücke, horche mit Dünsten der Küche.
ich auf das leichte Geräusch von drinnen, das ein geheim- Ja, ich liebe die Türen, denn sie sind nur eine dünne
nisvolles Wesen heranbringen wird, um mir die Tür ins Wand, die Leben von Leben trennt; unsichtbare Zug-
Unbekannte zu öffnen. Eigentlich sollte ich sofort ein- brücken ins Ungewisse; ein schmaler Spalt nur, durch den
treten, und dennoch möchte ich verweilen, um diesen wun- wir in andere Existenzen eindringen; eine Lücke, durch
dervollen Augenblick der Erwartung, da ich mich allerlei die hindurch alle Überraschungen der Welt, alles Glück
Phantasien hingebe, noch zu verlängem. und alles Unglück uns überrumpeln.
Ich liebe die Türen. Haben wir dann die Schwelle überschritten, so ergreift
Jede hat ihre Eigenart und ihr persönliches Gesicht, die Wohnung stärker von uns Besitz, als wir von ihr. Im-
mag sie stolz oder demütig, abweisend oder einladend, mer wieder hat es mich in Erstaunen versetzt, daß ein jeder
schlicht oder prunkvoll sein. Man sage mir nicht, daß alle Mensch gerade die Wohnung hat, die zu seinem Wesen
Türen ein und desselben Hauses sich auch gleich sein paßt, ähnlich wie auch ein jedes Lebewesen sein eigenes
müßten. Wer zu sehen versteht, dem erzählen sie man- unverwechselbares Gesicht an sich trägt. So gibt es nicht

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zwei Hütten, nicht zwei Zimmer, nicht zwei Paläste, die geln sie sich wider, messen ihre Kräfte, ereifern sich und
einander gleich sind. Denn der Lebensstrom, der uns be- steigern sich gegenseitig, oder sie zerstören sich und löschen
seelt, ist so mächtig, daß er überquellend alles um uns mit einander aus.
dem Fluidum unserer Persönlichkeit durchdringt. lVIan
kennt einen l\!1enschen nicht, wenn man nicht weiß, in 0 ihr zarten Dinge des Lebens!
welchem Raum er schläft und denkt, in welcher Um- vVarum hat das weiche Ei, das wir am Herdfeuer essen,
gebung er ißt und sich freut. vVer wollte leugnen, daß es gar nichts mit dem zu tun, das wir im Speisesaal zu uns
dumme und geistreiche Häuser gibt, tote und lebendige, nehmen? Die Dame im samtenen Abendkleid, vom Kamin-
grobe und vornehme, junge und steinalte, düstere und feuer umschmeichelt, in einer lauen Atmosphäre, die die
strahlende ... und so fort bis ins Unendliche. Blumen stärker duften läßt, hat nichts gemein mit jener
"\V" enn das Haus der Ausdruck seiner Bewohner ist, so Frau, die wir in Samt auf der Straße sehen. Wie köst-
sollte sich auch in der Frau das vVesen ihrer Wohnung lich schmecken nach einer langen Krankheit die ersten
offenbaren. Durch harmonische Verbindung zwischen ihr Früchte, wie wohltuend ist der Hausanzug daheim oder
und ihrem Haus sollte sie sich ihrer Umgebung anglei- der Pyjama in der rollenden Schlafwagennacht; wie sehr
chen. Ein Hauskleid sollte in den Raum passen, in dem es bezauberte uns ein Buch, das wir in der Geborgenheit der
getragen wird; also dürfen Stoff und Farbe nicht willkür- Hängematte lasen, während die Julisonne auf uns herab-
lich gewählt werden. Der l\1ißklang zwischen einem grell- brannte; wie groß unsere Freude an den herrlichen l\1i-
farbigen Kleid und einer ruhigen klassischen Wand läßt mosen oberhalb von Cannes, welch wohlige Behaglichkeit
uns schaudern. Wenn die Farbe der vVände und Möbel uns bei Tee und Toast, während der Regen an die Fenster-
gut zu Gesicht steht, so sollten wir ihnen zum Dank uns scheiben schlägt.
auch gut anziehen. Ein Straßenkostüm abends zu Hause Bezwingender Zauber der Umwelt!
wirkt auf mich fast wie ein Picknick auf der Straße. In eine
verspielte Umgebung paßt kein Kleid von strenger Linie Es gibt Frauen, die das Fluidum ihrer Wohnung, ihre
und in einem Zimmer mit Stahlmöbeln sollte man keinen ganz bestimmte persönliche Atmosphäre, mit sich nehmen
Firlefanz tragen. Gewisse Kontraste kann eine Dame sich und überall hin verpflanzen, wohin sie auch kommen mö-
nicht leisten, wohingegen andere wiederum ihr Genie ver- gen. In dem Farbton eines Schals oder eines Taschentüch-
raten; eines schickt sich nicht für alle. Gewisse Zusammen- leins findet man die wohlvertraute Tönung eines ihrer
stellungen ve1 blüffen, andere entzücken, nur das Uninter- Sessel wieder; aus ihrer Handtasche kommt irgendein klei-
essante ist unmöglich. nes spielerisches Etwas zum Vorschein, das man schon ein-
Ob man wjll oder nicht, Frau und Haus sind Rivalen mal bei ihr auf dem Tisch gesehen hat. Die Struktur ihres
oder Verbündete, sie befehden einander, wechselweise spie- Kleides erinnert irgendwie an die Muster ihrer Tapeten

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und die Blume in ihrem Knopfloch ruft die Erinnerung an bitten, das heißt, ihnen überall den Zutritt zu sich zu öffnen
ein vertrautes Blumenarrangement wach. Die Art, mit der und ihnen, einem wertvollen Geschenke gleich, etwas von
sie die Sonne flieht oder aufsucht, gleicht ganz der, mit der sich selbst mitzugeben.
sie in ihrem Zimmer einen Sessel zurechtrückt, um sich
vom Lichte bescheinen zu lassen oder sich davor zu schüt- Die gut gekleidete Frau muß sich, sie möge mir diesen
zen. Ob sie ein Zimmer im Grand Hotel bezieht oder in Vergleich verzeihen, am Chamäleon ein Beispiel nehmen.
einem ländlichen Gasthof - in einem einzigen Augenblick \Vie dieses muß sie sich den tausendundeinen Szenerien
stellt sie die besondere Atmosphäre wieder her, die die ihre ihres Lebens durch eine Art spontaner Reaktion anpassen.
ist. Sie zaubert ein Kissen hervor, das mit ihrem deshabille Sie muß in ihnen leben als im unentbehrlichen Element,
zusammenklingt. Im Restaurant verwandelt sich das un- sie durch ihr Dasein vollenden. Zu Hause, auf der Straße,
persönliche weiße Tischtuch in ein kleines Territorium, in der Stadt und auf dem Lande, zu Fuß und im vVagen,
das sie mit Beschlag belegt: sie legt ihre Tasche darauf, im Zug oder auf dem Schiff, überall muß eine Frau sich
die ihre Initialen trägt, ein Handschuh liegt da, noch venvandeln; was hier passend ist, könnte dort stören. -
warm und lebendig; Puderdose, Lippenstift, Zigarettenetui, Bis in den Rhythmus ihrer Bewegungen und bis zur Farbe
Feuerzeug und Taschentuch werden hervorgeholt und ver- ihres Teints- immer muß sie aktiv sein, um stets neu und
schwinden wieder mit der Schnelligkeit eines Taschenspie- verwandelt zu erscheinen. Kleine kokette Schritte sind nur
lertricks; ihr kapriziöses Kommen und Gehen läßt sogar in einer Großstadt erträglich, auf dem Lande dagegen wir-
für eine kurze Stunde eine vorübergehende Intimität auf- ken sie unmöglich. Am Strande erscheint ein zu helles
blühen. Der Tisch, an dem sie sitzt, ist wie durch ein Wun- make up unpassend, ein Stöckelschuh auf knirschendem
der nicht mehr der gleiche wie die andern Tische des Re- Gartenkies tut weh; ein Crepe de Chine-Kleid vernichtet
staurants, er ist zu ihrem Tisch geworden. zuverlässiger eine schöne Jagdlandschaft, als es einem
Man muß diesen Frauen Dank wissen für ihren uner- schlechten Maler je gelingen würde; und ich kenne Organ-
müdlichen Ero berungsgeist, mit dem sie, beinahe unbewußt, dis, die, im Freien getragen, Himmel und Erde beleidigen.
sich überall betätigen: immer und überall bei sich zu sein, Es gibt Schmuck, der der sauberen Klarheit eines Mor-
durch ihre bloße Gegenwart den Zauber ihrer eigenen gens wehtut; es gibt Hüte, die selbst die tote Wüste in
Welt wachzurufen, allen Freunden durch eine andeutende einen bunten Bazar verwandeln, oder die aus einem Salon
Geste, durch eine Kleinigkeit das Gefühl intimer Behag- einen Hühnerhof machen können. In einem Schlafwagen
lichkeit zu schenken, in einer Außenwelt das Wunder einer gibt mir der Anblick eleganter Reisetaschen stärker das
privaten Atmosphäre entstehen zu lassen. Gefühl der Ferne als der Zug oder die vorbeiziehende
Welch köstliches Talent! Das erlaubt ihr, wo sie auch Landschaft. Es gibt Kleider, die jede Reiselust töten und
sei, die Freunde in das Gehäuse ihrer eigenen Intimität zu die überall denselben monotonen grauen Himmel herauf-

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beschwören. Manchmal genügt ein hochgeklappter Kragen
oder nur ein ganz klein wenig Pelz, um die Harmonie eines
winterlichen Bildes zu vervollständigen. Ein blaues Schnei-
derkostüm taucht auf und wir wissen, der Frühling ist da.
Nichts von alledem kann man nachahmen, die Kunst
des Improvisierens muß man besitzen; nichts von alledem
kann man kaufen, man muß es sich selber schaffen. Sich
seiner Lebensweise entsprechend zu kleiden, nach seinem
Geschmack, seinen eigungen und seinem Beruf - das ist
wesentlich. Damit eine völlige Harmonie innerhalb der
Persönlichkeit zustande komme, muß der Zusammenklang
zwischen Erscheinung und ·wesen vollständig sein. Man
kann nicht in einem Stilleben und sich in einem andern
Stil kleiden.
Eine Frau, die im Beruf steht, sollte nicht die gleichen
Stoffe tragen wie eine, die Muße hat, aber in ihrem Le-
benskreis kann sie ebC'nso elegant sein wie die andere; in
dem Augenblick jedoch, wo sie auf ihre noble und behag-
liche Einfachheit verzichten wollte, um kapriziöser zu er-
scheinen, würde sie aufhören, wirklich elegant zu sein.
Die Sportliche wird sich nie so anziehen wie die Intellek-
tuelle, denn ihr Körper und ihre Bewegungen erlauben es
ihr nicht. Eine, die viel reist, wird anders aussehen müssen
als eine Seßhafte, und die Eleganz einer Frau, die auf dem
Lande wohnt, kann in nichts derjenigen einer Städterin
gleichen. Die soziale Lage, der Beruf des Mannes, der
Rang, den man einnimmt, alles hat seine "Wichtigkeit in
diesem unendlichen Spiel. Mit einem ·wort: man darf, um
richtig gekleidet zu sein, niemals vergessen, wer und was
,man ist; besser noch: niemals vergessen, wer und was man
nicht ist.

64
Eleganz - hier echt, dort falsch - absolut richtig bei
dieser, zweifelhaft bei jener Frau- in einem Fallleicht zu
verwirklichen, schwierig im andern.

Die Eleganz scheint tausend Gesichter zu haben, und


doch bilden diese alle zusammen wiederum nur ein ein-
ziges, das man in allen Ländern wiedererkennt, unter je-
dem Himmel, überall da, wo es schöne Frauen gibt, die
fähig sind, dieses ewig vorbeiziehende und doch in allem
vVechsel immer sich gleichende Bild der Eleganz zu sehen.

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KAPITEL VI
Frau bewundert, und ein frisches sportliches Mädchen
könnte in einer Zeit romantischer Blässe nie zum Idealbild

I werden.
Um überhaupt aufzufallen, müßte eine solche Frau in
einem Lande leben, in dem der Geist des Jahrhunderts
wirksam zum Ausdruck seiner selbst gelangt ist. In Sevilla
geboren, wäre Jeanne Poisson niemals die Pompadour ge-
worden. Ein solches Geschöpf der Phantasie müßte genau
nach den Idealen geformt sein, die den modischen Wün-
schen der Zeit am vollendetsten entsprechen, und die V er-
wirklichung dieser modischen Träume müßte ihr so hin-
reißend zu Gesicht stehen, als ob sie nur für sie allein
Man sagt manchmal von einer Frau, daß sie epoche- erdacht worden wären. Die Schultem der Eugenie von
machend sei. Montijo waren so bezaubemd, daß die unvergeßlichen
Ist das richtig? Decolletes dieser Kaiserin von der Mode nur erfunden zu
Drückt wirklich die Frau der Zeit ihren Stempel auf sein schienen, um gerade sie zur Geltung zu bringen. Um
oder ist sie nicht vielmehr ein Ausdruck ihrer Zeit? Ich 1900, als es nur Volants, Spitzen und Blumen, rauschende
glaube, beide Auslegungen sind richtig. Denn zwischen der Ballkleider, Gärten und Kaskaden auf Riesenhüten gab, da
Frau und ihrer Zeit findet ein ununterbrochener wechsel-
seitiger Austausch statt, doch ein völliges Zusammenklingen
I wäre man gar nicht fähig gewesen, unsere sportlichen
Frauen von heute schön zu finden.
von beiden ist oft nur Glückssache. Damit eine bedeutende Was könnte in einer Zeit der strengen Kostüme, derbe-
Frau und ihre Epoche miteinander eine markante Verbin- tont männlichen Allüren, das reich überschäumende Ball-
dung eingehen, dazu müssen viele und schwer zu verwirk- kleid der Kameliendame noch bedeuten? Man würde es
lichende Umstände zusammentreffen. höchstens ein wenig lächerlich finden. Das gleiche gilt
Gleichsam wie vorherbestimmt muß eines Tages eine auch von den Hüten, den Frisuren, der Haltung, dem
auffallend schöne und elegante Frau hervortreten, die auf Teint, selbst von Gang und Lächeln.
eine bis dahin unerhörte Weise ihre Epoche repräsentiert. Alles, was einer Epoche eigen ist, sollte sich in dieser
Dazu genügt nicht, daß sie schön sei; dazu gehört mehr: idealen Frauengestalt nicht nur verkörpem, sandem dar-
ihre Schönheit muß von der besonderen Art sein, die ge- über hinaus ihren Typ auch bis zum äußersten ausprägen.
rade in diesem Augenblick gefällt. Der klassisch-griechi- Doch auch das genügt noch nicht. Denn was nutzt die
sche Typ paßt nicht in eine Zeit, die die kleine kapriziöse Schönheit, wenn der kostbare äußere Rahmen fehlt, was

66 67
1
;

vermögen alle Reize, wenn niemand sie sieht? Also sind


Vermögen, gesellschaftliche Stellung und ein ganz beson-
deres Talent notwendig: wo auch nur eine dieser Vor-
I
l
oder töten ließet, was liegt daran, ob Ihr gut oder grausam,
tugendhaft oder wahnsinnig wart? Eure Willkür, Eure
Launen, Eure Verbrechen scheinen heute nicht mehr wich-
bedingungen fehlt, kann das Wunder sich nicht ereignen.
Darum gibt es unter den unzähligen schönen und elegan- I tig. Die Zeit hat Euch von allem entblößt, damit von
Euch nur das vVesentliche und Einzige bleibe ... Euer
ten Frauen nur so wenige, die Epoche gemacht haben. Be- Bild.
rühmte Frauen, Künstler und Staatsmänner erreichen ihre
persönliche Vollendung nur dann, wenn die Quintessenz Unser eigenes Jahrhundert erscheint uns ohne Größe,
ihres Jahrhunderts sich rein in ihnen verkörpert. Um da- vielleicht darum, weil wir es aus zu großer Nähe sehen. \Vir
hin zu kommen, müssen sie eine durchaus lebendige Syn- haben noch nicht den rechten Abstand, um das Nebensäch-
these ihrer Zeit im Guten wie im Schlechten darstellen, liche unwichtig und das vVesentliche überhöht zu sehen.
und alle materiellen Voraussetzungen dazu müssen gege- Dichterische oder künstlerische Visionen, die alle Einzel-
ben sein. heiten auslöschen und das Ganze auf seine großen vVahr-
Einige ungewöhnliche Frauen, strahlende Meteore am heiten zurückführen, haben das Jahrhundert noch nicht
Himmel ihrer Zeit, haben neben all diesen Gaben auch mit einem Glorienschein umgeben. Wir wandeln alle im
noch den Charme einer zauberhaften Persönlichkeit emp- Tal und sehen von da aus nicht die Weite des Horizonts.
fangen, durch den sie sich wie ein bleibendes Siegel ihrem Erst auf dem Webstuhl der Jahre werden die unzerstör-
Jahrhundert aufgeprägt haben. baren Fäden der Unsterblichkeit ineinander gewirkt.
Alle Verbrechen der Borgia hätten ohne die Schönheit,
die Grazie und den Geist der Lucretia nicht genügt, um die- Die Eleganz einer Epoche kann niemals der vorher-
sen Namen in ihrem Jahrhundert berühmt und berüchtigt gehenden oder der nachfolgenden gleichen. 1\~Ian sollte
zu machen. nicht zu sehr voraus, aber noch weniger rückständig sein.
Die tragische Marie-Antoinette, in deren Adern das Wenn es erlaubt ist, in seinem Stil eine Reminiszenz, die
blaueste Blut Europas floß, lehrte ihre Zeit die romantische Erinnerung an etwas Gestriges wieder aufleben zu lassen,
Freude an Landleben und Schäferszenen. so sollte das doch auf so persönliche Weise geschehen, daß
Lucretia Borgia, Marie-Antoinette, und Ihr andern alle, es wie eine Neuheit wirkt, und dieses Neue muß natürlich
Salammbo, Kleopatra, Diane de Poitiers, Iviarie du Ples- und wie eine längst erwartete Offenbarung erscheinen.
sis, erstaunlicher Zug, in dem ein frivoles oder tragisches Die Eleganz einer Zeit sollte sich nach ihrer Grund-
Banner sich entrollt, Ihr alle gehört der Legende an, aber stimmung richten. In glücklichen oder unruhigen, sorg-
Ihr habt Eure Zeit gezeichnet. Was liegt daran, ob Ihr losen oder ernsten, in reichen oder elenden Zeiten kleidet
Reiche zerstört, Herzen enttäuscht, ob Ihr gequält habt man sich nicht auf die gleiche Weise. Es gibt Zeiten von

68 69
I KAPITEL VII
unglaublicher Extravaganz, so wie es Zeiten strenger Zu-
rückhaltung gibt. Man muß genau den Moment voraus-
ahnen können, in dem eine Epoche des Exzentrischen not-
wendigerweise ihr Ende findet, ebenso wie man den Augen-
blick genau erfühlen muß, da das Schlichte bis zum Ekel
langweilig wird. Man sollte sogar die Minute vorausahnen
können, in der in einer durch übertriebenen Luxus gelade-
nen Atmosphäre das Gewitter losbrechen wird. Diese Wahr-
heiten des Taktes verkennen, heißt sich freiwillig von der
echten Eleganz ausschließen. Man sollte eher als über-
empfindlicher Seismograph alle Schwankungen der Mode
auf zeichnen, noch bevor andere sie spüren und verwirklichen.
Dann ist man wahrer Meister und somit »Prophet im eige- Vor einigen Jahren speiste ich eines Abends im Ciro; es
nen Lande«. Wenn in einer Zeit der Herrschaft des Extra- war ein Freitag, der Tag, an dem sich dort die halbe Welt
vaganten einige Frauen Ihnen sagen, »ich hätte eigentlich traf. Wie immer herrschte ein furchtbares Gedränge, ein
Lust auf ein kleines einfaches Kleidchen«, so sollten Sie wis- allgemeines Durcheinander von Tischen und Stühlen -
sen, daß das Exzentrische schon tot ist, und wenn Sie es aber gerade das ist den Parisern so lieb, daß sie ohne einen
nicht spüren, um so schlimmer für Sie. solchen Wirbel nicht an den Erfolg des Abends glauben
können. Da ich den Ehrgeiz des Chefs kannte, beglück-
wünschte ich ihn zu so vielen brillanten Gästen. Einen
Augenblick ließ er seine wissend-blasierten Augen über
das Getriebe schweifen, dann gab er mir zur Antwort:
»Ge·wiß, Quantität ist zwar da, aber die Qualität fehlt.«
Klug, wie er war, hatte er damit das wichtigste Merkmal
der Qualität erfaßt und anschaulich gemacht, nämlich ihre
Seltenheit. Er wußte, daß Quantität und Qualität einander
ausschließen, und ich bin überzeugt, daß er, getreu der
Devise »wenig und gut«, diesen Monstre-Abenden jene
kleinen und intimen vorzog, an denen er an einzelnen run-
den Tischen die Gäste von Distinktion durch hochmütige
Sorgfalt auszeichnete.

70 71
Die Qualität hat nicht viele Freunde, sie ist exklusiv, trafen, oder von einem Halbdutzend völlig gleicher Hüte
genau wie ein gutes Diner. in einem eleganten Restaurant. Daraus werden dann jene
Da ich selbst Kleider mache, weiß ich, wie sehr das welterschütternden Katastrophen, deren Auswirkungen
stimmt. Schöne Kleider sind nämlich selten. In ihrer schein- Schneiderinrien, lVIodistinnen und Ehemänner noch für
bar leichten Vollkommenheit sind sie doch meist das Er- viele Tage zu spüren bekommen.
gebnis schwierigster lVIühen und nur selten auch einmal Da gute Kleider selten sind, so ist es nur natürlich, daß
das eines besonders wohlgesonnenen Zufalls. Darum muß alle Frauen solche haben möchten, aber eine jede sollte
ich immer ein wenig über die Unruhe mancher Frauen den ·vvunsch haben, ihr Kleid auf sehr persönliche Weise
lächeln, wenn sie zwei einander ähnliche Kleider bestellen. mit ihrem Charme zu schmücken und es außerdem mit
Ich denke im Gegenteil, wenn man das Glück gehabt hat, einem solchen modischen Beiwerk auszustatten, daß es sich
ein vollkommenes Kleid zu entdecken, das einem gut steht, von jedem andern unterscheidet. Es ist natürlich sehr an-
so sollte man es sich in mehreren Varianten - natürlich genehm, ein einmaliges Modellkleid zu tragen, das alle
in Material und Farbe verschieden - wiederholen lassen. Blicke anzieht, und das durch seine Einzigartigkeit eine
Das gleiche gilt auch für Hüte, Schuhe und Handtaschen. Huldigung für den exklusiven Geschmack derjenigen be-
Die wenigsten Frauen begreifen, welche Sicherheit sie deutet, die es sich ausgesucht hat. Das ist aber nicht un-
haben würden, wenn es ihnen gelänge, den weiten Spiel- bedingt wesentlich, um gut angezogen zu sein; denn es ist
raum für Fehlentscheidungen zu vermeiden, der sich aus durchaus möglich und vielleicht sogar ein Zeichen höherer
allzu hastigem Kauf und einem dauernden Wechsel er- Eleganz, ein Kleid und einen Hut zu tragen, die in meh-
geben muß. Einige wenige nur, sehr elegante und raffi- reren Exemplaren vorkommen, sich sogar zwischen diesen
nierte Damen, die immer und überall als die bestangezo- zwanglos zu bewegen und sich dennoch von den übrigen
genen gelten, haben die V orteile dieses Systems für sich entschieden abzuheben.
erkannt. Das braucht keineswegs Monotonie zu bedeuten, Auf Rosenausstellungen sind die Faul Neron alle mit
denn dasselbe Kleid läßt sich bis ins Unendliche variieren. dem gleichen Purpurkleid angetan, die Abel Chatenay sind
Eine Hand ist zwar immer eine Hand, aber niemals können alle von der gleichen perlmutterartigen Transparenz, die
zwei Hände einander gleich sein. Malmaisan gleichen alle dem Schneewittchen und alle La
Darum habe ich auch nicht so sehr viel Mitleid mit den France schimmern in einem ähnlichen Rosa, aber inner-
Ängsten einer Frau, die außer sich ist bei dem Gedanken, halb aller dieser Sorten wird jeweils eine immer die
das gleiche Kleid zu tragen wie eine ihrer Freundinnen, schönste sein.
eine Vorstellung, die für viele ein wahrer Alpdruck ist. So sonderbar es scheinen mag, für die Qualität gibt es
Ich habe auch furchtbare Geschichten gehört von fünf keine Definition und auf die Frage, ob und woran man sie
einander sehr ähnlichen Kleidern, die sich auf einem Tee eigentlich erkennen könne, gibt es auch keine Antwort.

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J
3

Niemand kann uns ihr Geheimnis lehren. Ich weiß von bare Reaktion eines Instinktes. So haben auch meine Hände
einer Dame, die, wenn sie eine Konditorei betrat, ganz naiv ihre Vorlieben, bei denen selbst die Augen kaum gefragt
fragte: »Fräulein, wie sind Ihre Kuchen, sind sie wirklich werden; die Zustimmung meiner Finger ist souverän.
gut?<< Ich habe mir immer gewünscht, es möchte ihr doch Wenn sie von sich aus etwas Unerklärbares, etwas Besseres,
eines Tages eine kecke Verkäuferin antworten: »Bedaure etwas Vertrauteres gespürt haben, so haben sie schon ent-
sehr, gnädige Frau, sie sind abscheulich.« Aber leider ist schieden, ohne mich zu fragen.
das niemals vorgekommen. Nur so wählt man gut. Manchmal kommt es vor, daß
Die Qualität ist Sache des Instinkts, einer Feinfühligkeit der Instinkt schlummert und daß man nur mit dem V er-
für das Stoffliche, einer Angelegenheit des Hautgefühls stande wählt; dann aber taugt die ganze Wahl nichts.
sozusagen. lVIan erfaßt die Qualität rein sinnenhaft. Das Das gleiche gilt auch für die gut angezogenen Frauen.
Gefühl für sie ist wie ein sechster Sinn, der sich aus der Sie stutzen plötzlich bei einem Kleid und scheinen es doch
Summierung aller andern Sinne ergibt; es kann natüdich kaum bemerkt zu haben. Sie haben es zerstreut angeschaut
auch eine Sache der Erfahrung sein, aber dazu bedürfte es wie die zwanzig anderen, die bei ihnen vorbeidefiliert
schon großer Reife. sind; aber eine Sekunde hat ihnen dennoch genügt, um
Warum sind gewisse Kunstkenner scharfsinniger als die Entscheidung zu treffen. So werden sie auch mit der
andere, warum spüren sie mehr als andere, und warum gleichen ausgesprochenen Entschiedenheit, sozusagen mit
kommen sie zu so verblüffenden Entdeckungen? Wissen der gleichen schlafwandlerischen Sicherheit eine Hand-
sie etwa mehr als ihre Kollegen? Nein, aber das Fluidum tasche oder einen Hut auswählen. Die ewig Zögernden, die
eines schönen Gegenstandes zieht sie unwiderstehlich an, von ewigen Zweifeln Hin- und Hergerissenen, sind zum
gleichsam wie das Wild im Septemberwald den guten Schlusse doch immer die, die eine falsche Wahl treffen
Jagdhund auf seine Fährte lockt. und immer wieder treffen werden.
Wenn ich vor dem Zusammenstellen der Kollektionen Ich habe einmal gesagt, daß der Sinn für Qualität nicht
Stoffe aussuche, spüre ich ganz stark die Kraft der Anzie- unbedingt angeboren sein muß; da, wo er nicht angeboren
hung ihrer Qualität, und in dem Moment, da die l\1uster ist, kann er sich wie eine schwierige vVissenschaft er-
aus ihren Verpackungen herausquellen, sp1·ingen mich ge- lernen lassen. Ich habe eine Leidenschaft, mehr noch,
wisse Seiden und Leinen an, noch ehe ich f ie recht betrach- einen wahren Fanatismus für die Qualität, und doch habe
ten konnte, und zwingen mich geradezu, die andern Stoff- ich als Kind gewisse Scheußlichkeiten geradezu närrisch
muster auszuschließen. Sie haben sich mir aufgedrängt - geliebt. In meiner Erinnerung bewahre ich das Bild einer
ihnen zu widerstehen, käme gar nicht in Frage. unwahrscheinlichen Boutique, halb Milch- und Papier-
Diese Wahl ist nicht das Ergebnis eines sorgfältigen und geschäft, halb kleiner Kramladen, an der ich viermal des
verstandesmäßigen Überlegens, sondern sie ist die unmittel- Tages auf dem Schulweg vorbeikam. Im Schaufenster

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stand ein bizarrer Gegenstand, der zu gar nichts gut zu Die Qualität will um ihrer selbst willen geschätzt wer-
sein schien, aus gestanztem und vergoldetem Blech; innen den und ohne jede Berechnung. Die Liebe zum Schönen
mit grüner Baumwolle ausgeschlagen, die JYioos vortäu- darf sich zu solch schändlichem Tauschhandel nie beque-
schen sollte, versuchte er, wie ein Blumentopf auszusehen. men, zu diesem Geschäft zwischen dem eigenen Geschmack
J\1eine Familie wäre erschreckt gewesen, wenn ich darum und dem Nützlichkeitsstandpunkt. Diejenigen, die mit der
gebeten hätte, ihn mir zu schenken. Ich wußte das wohl, Qualität Geschäfte machen wollen, sind fast immer auch
aber meine glühende Bewunderung wurde dadurch nicht die, die sie nicht wahrhaft lieben.
geringer. Um ihn zu besitzen, habe ich mehr Geduld und Wenn eine Frau ein auf Tiger aufgemachtes Kaninchen
List entfaltet als mein ganzes Leben lang für den Erwerb als Pelzmantel will, und wenn es wirklich gelänge, sie -
der schönsten Kunstwerke. Ich habe gelogen, habe Schul- weil er immer wertvoll bleiben wird- zu einem wunder-
den gemacht, habe für ganze vVochen heldenhaft auf vollen Breitschwanz zu überzeugen, den sie trotzdem ab-
meine Bonbonration und andere kleine Vergnügungen ver- scheulich findet: dann würde dies in 'iYirklichkeit doch gar
zichtet; es war wie eine Besessenheit. Ich starb vor Angst, nichts an ihrem schlechten Geschmack ändern. Wie könnte
daß mir irgend jemand zuvorkommen und ihn mit sich ein solches Argument sie plötzlich lieben lassen, was sie
nehmen könne, bevor es mir gelungen wäre, die für den scheußlich findet, und sie scheußlich finden lassen, was
Kauf dieses Schatzes nötige und für mich unglaublich hohe sie liebt?
Summe zu beschaffen. Heute bedaure ich nicht, das Häß- vVeiterhin wird gesagt: »Die Qualität ist dauerhaft«,
liche leidenschaftlich geliebt zu haben, irgendeinmal in ein Ausspruch, der vielleicht noch schlimmer ist als der
meinem Leben, und sei es auch im Alter von acht Jahren. vorhergehende. vVenn man sich unter dem Vorwand der
Ich bewahre ihm eine Art nachsichtiger Erinnerung wie guten Qualität dazu verurteilt sieht, etwas, das ebenso
den J\1enschen, die man eines Tages hinter sich läßt, ohne scheußlich wie dauerhaft ist, ewig vor Augen haben zu
daß sie einen zu halten versuchen. Nur wenig später habe müssen, ... welche Torheit und welch seltsamer Trost!
ich von all den Scheußlichkeiten, die sich in meiner Jugend V ersuchen Sie einmal, einem Manne, der in eine kleine
angesammelt hatten, ein prächtiges und doch ein wenig Blondine verliebt ist, zu sagen: »Passen Sie auf! Diese
trauriges Opferfeuer angezündet. Frau ist nicht lebenskräftig; einige Jahre noch, und Sie
werden sich wundern, wie dann ihr Teint aussieht. N eh-
Zwei Argumente, eines ebenso scheußlich w1e das an- men Sie lieber die große Brünette dort, die hat eine eiserne
dere, werden herangezogen, um gleichzeitig die Qualität Gesundheit und in zwanzig Jahren sieht sie noch genau so
zu loben und zu verteidigen. aus wie heute.«
»lVer Qualität kauft, der hat etwas für sein Geld.« Voll Ich stimme aus vollem Herzen der Frau zu, die hinter
Abscheu jedoch rufe ich: »Nein!« dem Rücken ihres Mannes ein ihr unausstehliches Kleid

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zerreißt, das er für sie ausgesucht hat mit der Begründung, Wer aber einmal das wahre Antlitz der Qualität erkannt
das sei »wirkliche Qualität«. Die Qualität ist etwas viel zu und geliebt hat, der sucht sie sein ganzes Leben lang immer
Wertvolles, als daß man sich ihr aus Verstandesgründen und überall, der hat Sehnsucht nach ihrem Abbilde, sei es
oder aus Berechnung nähem dürfte. Man muß sie rein und im Stofflichen oder im Widerschein des Geistes.
ohne Nebengedanken lieben. Eine geistreiche und auch ein Qualität haben, das heißt wahrhaftig adelig sein.
wenig boshafte Frau- oder vielleicht besser: eine sehr bos-
hafte und auch ein wenig geistreiche Frau- sagte mir von »Und doch«, sagte der Narr, indem er seine Schellen
einer ihrer Freundinnen: »Sie hat alle Qualitäten, nur rührte und dabei eine Pirouette markierte: »Wenn ich nun
eine nicht, die Qualität.« Kurz gesagt soll das bedeuten, trotzdem mein Geklingel vorziehe ... ?«
daß die Qualität an sich immer mehr ist als die Summe Sei's drum, und warum auch nicht?
vieler einzelner Qualitäten und auch niemals durch solche
weder geschaffen noch ersetzt werden kann. Ein Kleid
mag alle nur möglichen guten Eigenschaften haben, es
mag hübsch, praktisch, tragbar, jugendlich und originell
sein und ist doch kein Kleid von Qualität. Es fehlt ihm
dieses unentbehrliche Etwas, das es in das Reich der guten
Klasse einreiht.

Qualität- diese gewisse Art natürlicher Noblesse, dieses


stolze Bewußtsein eigenen Wertes - sie allein ist es, die
von Anbeginn allen wahrhaft schönen Dingen entströmt.
Sie ist ein N aturgeschenk, das alle Dinge besitzen, die
beseelten in gleicher Weise wie die unbeseelten . . . oder
auch nicht besitzen. Die Dinge an sich bleiben so, wie sie
entstanden sind, und darum ist es unmöglich, sie dadurch,
daß man etwas hinzufügt, zu verändern. Es kann also
der Sinn für Erlesenheit an der Wiege einer Königin feh-
len und vorhanden sein an der einer armen Frau, er kann
aufleuchten in der Einfachheit eines alltäglichen Gegen-
standes und vollständig fehlen in einem kostspieligen
Kunstwerk.

78 79
KAPITEL VIII ebenso wie im geblendeten Auge ein Schimmer des Lichts
zurückbleibt.
0 Zauber der Farbe! Unvergleichliches Geschmeide, in
der vVundervvelt der Blüten verschwenderisch ausgebreitet,
widerstrahlend im Feuer der Edelsteine und im Leuchten
geliebter Augen.

Zu allen Zeiten war die Farbe heilig; sie brachte Glück


oder Unglück, sie ehrte oder erniedrigte. Obgleich okkultes
Symbol, sprach sie doch eine offene Sprache: vom Rot der
Liebe, vom Purpur der Kaiser und Kardinäle bis zum ver-
rufenen Gelb sind alle Gefühle, alle Ehren, alle Schmach,
»Farbe, diese Musik der Augen.« alle Freuden und auch alle Schmerzen in ihrem siebenfar-
bigen Ring lebendig. Ohne Farbe wäre die Form tot, leeres
Ich möchte dieses Kapitel der göttlichen Iris weihen und Gefäß, lebloses Gesicht, \Vort ohne Klang, Leben ohne Blut.
sie bitten, für uns die ewige Symphonie der Farben in den Die Farbe erst gibt den Kleidern ihren Reiz und ihr eigent-
sieben Tönen ihres himmelan strebenden Bogens zu kom- liches Signum; ihr Reichtum verleiht ihnen Schönheit und
ponieren; denn der Regenbogen, ihr schillernder und wirkende Kraft, bedeutet aber auch ihre Gefahr. Die Farbe
durchsichtiger Schleier, offenbart uns mit unauslöschlichen ist so wichtig, daß sie allein durch ihr \Vesen über Erfolg
Lettern die Gesetze der Farben. Diese zugleich begrenzte oder lVIißerfolg, über Adel oder Unwert eines Gewandes
und doch so grenzenlose Farbskala, die wir in ihm wahr- entscheidet, darüber, ob dieses ein J\!Ieisterwerk oder ein
nehmen, ist eine vollkommene Schöpfung der Natur; man mißglücktes Gebilde wird. Jede Kultur, jede Epoche, jedes
kann ihr nichts wegnehmen und nichts hinzufügen, aber Land haben ihre eigenen Farben gehabt, eigene Nuancen
ihre einzelnen Farbnuancen kann man zu immer neuen und eigene Harmonien. Ein jedes Volk >>komponiert« seine
Zusammenstellungen ordnen. Diese Stufenleiter der Far- Farben genauso, wie es seine l\1usik komponiert; es drückt
ben lebt im Grunde des Meeres und jubiliert hinaus bis zu ihnen Seele und Antlitz auf, damit sie immer und unver-
den Grenzen des Himmels. >>Sonne, ohne die die Dinge kennbar die seinen bleiben, solange es Augen geben wird,
nur das wären, was sie sind«, rief einst Rostand begeistert sie zu sehen.
aus. Farbe, ohne die die Dinge gar nicht existieren wür- vVelch unendliche l\1annigfaltigkeit der Blumen und
den, so rufen wir; denn selbst in der Tiefe des Schattens l\Iuscheln! Bastgewebe aus l\1artinique, gelb und sonnen-
und der Nacht bleibt eine kleine Spur von Farbigkeit, durchglüht - harte ägyptische Farben - glutvolle und

80 81
schwere Farben der italienischen Renaissance - unnach- in schwarzer Kleidung und mit l\1elonenhüten herumlau-
ahmliches Zitronengelb und Rot Chinas - zartes Pastell des fen wird, dann können wir der Zivilisation, die es erreicht
Rokoko - die alten russischen Farben: derb wie ein rauher hat, in sehr kurzer Zeit die tausendfältigen Anstrengun-
und doch wundervoller Balalaika-Ton - die prickelnde gen vieler Jahrhunderte zu zerstören, ein bitteres Loblied
Frische Tiroler Bauerntrachten. Für Jahrtausende lag der singen.
Glanz der Farben über unserer Erde ausgebreitet. Nun Es ist kein gutes Zeichen, wenn bei uns auf dem Lande
müssen wir zusehen, wie sie in unserem Jahrhundert in die Bauern und Bäuerinnen so aussehen, als seien sie für
der Flut des Schwarz versinken. ewige Zeiten in Trauer; denn ihr Schwarz beleidigt die
Sonne, die Pracht der VViesen, die Frische der Luft und die
Schritt für Schritt dringt das Schwarz vor und ver- wohltuende Einfachheit der Felder; kurz, dieses Schwarz
schlingt alles auf seinem vVege. ist ein V erbrechen gegen das Licht des Himmels, eine
VVie eine böse Seuche erstickt es alle fröhlichen Harmo- Verleugnung der Natur. Wo sich in einzelnen Ländern,
nien, normt alle Menschen, zerstört die heimatlichen Far- wie in Bayern und Österreich, noch die bezaubernde Naivi-
ben, entzaubert die Räume in Hütten und Palästen, taucht tät der kräftigbunten Bauerntrachten erhalten hat, da er-
alle vVesen in die Anonymität des Farblosen und endet da- leben wir eine wahre Augenweide, und im frohen Zusam-
mit, Männer und Frauen einander immer ähnlicher zu menklang des l\1enschen mit seiner Umwelt finden auch
machen. wir Ruhe und innere Befriedigung. Solche bäuerlichen
In langen Zeiten der Entwicklung haben sich in den ein- Trachten scheinen Blüten und Bäumen verwandt zu sein,
zelnen Ländern diejenigen Farben und Trachten heraus- sie verschmelzen mit dem Grün der vViesen, mit den Fel-
gebildet, die mit der Lebensweise ihrer Menschen, ihrem dern ringsum, so daß sie wie wandelnde Korn- und Mohn-
Klima und ihrer Landschaft in Zusammenhang standen; blumen ausschauen.
denn Himmel, Vegetation, Licht und Transparenz der Luft Wenn schon das Schwarz sich im Herzen der Städte ein-
gaben ihnen die rechten Farben ein. nistet, zwischen grauen Häusern, wenn es in den Straßen
Weil nichts zufällig ist in den Gesetzen, die die \i'\1 elt einhergeht und in dunklen Höfen sich festsetzt, so ist das
regieren, ist es tragisch zu sehen, wie kindisch eine soge- zu bedauern, aber immer noch zu verstehen.
nannte Zivilisation die uralte Harmonie zwischen JVlensch Dem Lande aber sollte man seinen Farbenzauber erhal-
und Natur zerstört. Wenn man uns Bilder von Chinesen ten helfen, aus dem seine eigene Sprache spricht und der
in Paletot und Zylinder und von kleinen Negern mit seine Schönheit und Würde verkörpert.
Schildmützen zeigt, so ist es, als ob damit die schamlosen Der ewige Anblick dunkler Kleidung macht das Leben
Kulturverbrechen unserer Zeit stolz festgehalten werden traurig. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß überall in
sollten. Wenn in naher Zukunft die ganze Menschheit der Welt das Fluidum der Menschen auch von den Farben

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ihrer Kleidung ausgeht. Ich bin gewiß, daß Lebhaftigkeit, kenne rothaarige Frauen, die in Ocker und Schwarz herrlich
Fröhlichkeit und Traurigkeit in stärkster vVeise v-on ihnen aussehen, und denen gerade ein Grün alles verderben würde.
abhängen. lVIanche Soireen dieser letzten Jahre wirkten, Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, daß einer
obgleich mondän und kultiviert, wie eine Trauerv-ersamm- Braunen die sonst der Blonden zugedachten Farben besser
lung; sie v•.rären sicherlich durch wohltuendes Aufleuchten stehen weil sie sie feiner machen und das mildern, was
farbiger Kleidung viel froher und darum harmonischer '
leicht zu hart und eckig an ihr wirkte. Nur wenige Frauen
verlaufen. Frohe Farbigkeit hätte alle Kollektivneurosen besitzen eine Eigenart, die es ihnen erlaubt, sie noch zu
verscheucht wie ein befreiendes Lachen die Gramgeister. unterstreichen, ohne damit die schmale Grenze zur Kari-
katur zu überschreiten. Die viel zarteren blonden Frauen
Ich sagte mit Absicht: die Farben, denn vVeiß genügt tun gut daran, ihre ganze Erscheinung durch lebhafte
nicht - vVeiß ist Abwesenheit der Farben - mit Recht Farbeffekte zu heben, weil ihre Persönlichkeit durch ein
sahen die Alten in ihm das Zeichen der Trauer. zu weiches Kolorit sozusagen farblos wirken könnte.

fVer mit Farbe umgeht, muß sich von gewissen Parur- Kontrast gehört zur Harmonie.
teilen freimachen. Er zeichnet und modelliert das Relief, er stellt Licht und
vVie oft wird doktrinär behauptet: »Rot harmoniert mit Schatten einander gegenüber, er liebt Überraschungen und
braunen Haaren, Blau steht den Blonden, und Grün paßt wirkt darum als Gegengift gegen die Langeweile, den Tod-
zu den Rothaarigen.« Diese allzu engen Zuordnungen sind feind aller Schönheit. Freilich sollte man ihn mit unend-
meiner Ansicht nach grundfalsch. Nicht als ob Rot nicht licher Sorgfalt handhaben, denn sonst wird er leicht zur
manchmal auch den Braunen wirklich stehen würde, jedoch Härte. Ich bin wirklich ein Feind allzu großer Gleich-
verträgt es sich oft ebensogut, wenn nicht noch besser, förmigkeit; ich finde sie billig, unpersönlich, unerfreulich
auch mit dem blonden Typ. Das gleiche gilt für Blau und und unkünstlerisch.
umgekehrt. Zunächst einmal sind Braun und Braun zweier- Aber in bezug auf das Zusammenklingen der Farben
lei; manche brünetten Frauen haben braune, andere grau- hasse ich allzu laute Trompetenstöße noch mehr. Ein grü-
grüne und wieder andere blaue Augen; einige haben dunkle, nes Schneiderkostüm mit einer roten Bluse kann gewiß
andere helle Haut, und selbst ihr Haar schimmert in sehr hübsch sein; aber wenn man es für nötig hält, dazu
tausend verschiedenen Nuancen. noch rote Handschuhe zu tragen, dann ist die ganze Wir-
"\Varum also die gleiche Farbe für alle, ohne Unterschied? kung dahin und die ursprüngliche Harmonie zerstört.
Und weiterhin, die Blonden mit dunklen oder himmel- Zuviel Kontrast macht alles zunichte.
blauen Augen und hellem, durchsichtigem Teint wie Por- Das gleiche gilt auch für die törichte Sucht, die Farbe
zellan - warum sollte man sie alle auf Blau festlegen? Ich des Hutes irgendeiner farbigen Garnierung des Kleides

84 85
anpassen zu wollen. Solche \Viederholungen sind in der Schvvarz, da gibt es keine Überraschungen, und da sind
vVirkung meistens lächerlich. Für ein gutes Kleid genügen auch keine Fehler möglich.« Nein, meine Lieben, keine
nur einige wenige Farbeffekte. »Allzuviel ist ungesund«, Trägheit, bitte, und keinen Verzicht! Ihr müßt den J\1ut
sagte meine Großmutter, die die Sprichwörter liebte. haben, Euch auch mal zu irren und dann trotzdem wieder
Ein schwarzes Kleid dagegen läßt gewagte Hüte zu. von vorne anzufangen. Alle Geduld und alle J\~Iühsal wer-
Plötzlich fällt einer Frau auf, daß ihr Ensemble gar zu den tausendfältig aufgewogen im Glanz und Glück der
düster wirkt, und dann versucht sie, es »aufzuheitern«: Farbe.
mit einem farbigen Gürtel, und dann mit Knöpfen ... mit Bis vor wenigen Jahren noch leuchtete in den Abend-
einer Blume ... und dann mit einem Hut ... und dann mit kleidern die große vVelt der Farbe auf als letzte Bastion
einer Handtasche ... und dann ... und dann ... Schließlich gegen den Einbruch des Schvvarz. vVenn die Abendkleider
sieht sie aus wie ein gefleckter Tiger, und es reizt mich, auf auch eine Zeitlang kapituliert haben, so ging die Farbe
ihren vielen kleinen Farbinseln »Abzählen« zu spielen. doch nicht unter. Durch Sportdreß und Schneiderkleid
Durch eine solche »Verschlimmbesserung« konnte das En- wurde sie am Leben erhalten, denn diese erlauben jeden
semble überhaupt nicht aufgeheitert werden, falls man Einfall und lassen selbst das \iViderspruchsvollste zu; die
von der Heiterkeit des Lächerlichen absehen will. verschiedenartigsten und tollsten Zusammenstellungen sind
hier gerade recht.
vVenn das Farbige an einem Kleid wirksam werden soll,
Nie sollte man vergessen:
so muß es mit breitem sicherem Strich hingesetzt sein, es
muß gut sitzen und einen rechten Klang geben. »Man soll daß alle einfachen und rauhen Gewebe, wie Wolle, Leinen,
niemals zuviel herumspritzen, we1n1 man den Garten rich- Baumwolle, die Farbe besser vertragen als Seide, die an
tig gießen will.« sich schon sehr angezogen wirkt und dadurch, natürlich
Auf schwarzem Grund einen oder mehrere Effekte gut abgesehen von den Abendkleidern, leicht etwas auf-
ausgewogen zu verteilen, ist durchaus nicht leicht. geputzt aussieht;
Zwei Komplementär- oder Kontrastfarben miteinander
zu vermählen, ist schon schwierig, aber mit mehr als zwei daß tiefweiche Stoffe in dunkleren Tönen ausdrucksvoller
Farben umzugehen, ohne daß eine Katastrophe eintritt, sind- Samt ist das beste Beispiel dafür;
das verlangt eine souveräne Sicherheit des Geschmacks und daß dagegen glatte Gewebe wie Satin in hellen Farben
ein sehr gut entwickeltes künstlerisches Empfinden.
schöner sind;
Gerade diese Schwierigkeiten im Umgang mit Farben
lassen viele Frauen vor ihnen zurückschrecken. VVie oft daß zwei Farben, die kontrastierend einander gegenüber-
habe ich nicht schon sagen hören: »Bleiben wir doch bei gestellt werden, von gleicher Farbstärke sein müssen;

86 87
KAPITEL IX
daß Farben sehr subtil sind. Durch die allerkleinste Ab-
weichung kann aus einem wundervollen und seltenen
Farbton ein sehr gewöhnlicher werden;

daß ein Farbton seiner Trägerin stehen muß. Wenn er das


r
nicht tut, so kann er allenfalls noch durch seine Neuheit
I
oder durch seinen Chic gerechtfertigt sein. Fehlen ihm
aber auch diese Eigenschaften, dann ist er überhaupt
keine Farbe mehr, sondern nur noch Pfuscherei;

daß eine Farbe ihren Wert oft erst aus dem Zusammen-
klang mit einer andern erhält.

Das Auge, das die Farbe nicht liebt, gleicht einem er-
loschenen Auge. Es mag paradox klingen, aber in der Mode sind gerade die
Kleinigkeiten die Hauptsache.
Die Frauen verstehen mich und werden mir recht geben.
Sie alle haben mehr oder weniger eine leidenschaftliche
Liebe für das kleine modische Beiwerk; daher werden Jahr
für Jahr in der ganzen Welt Unsummen für Handschuhe,
Taschen, Regenschirme, Hüte, Schals und Taschentücher
ausgegeben.
In dieser Liebe zu den modischen Zutaten kommt etwas
sehr Frauliches zum Ausdruck: Phantasie, die Freude an
Neuheiten und ein gewisser Sinn für Raffinement; darin
äußert und bestätigt sich ihre Persönlichkeit.
Diese kleinen Dinge, die scheinbar so nebenher gehen,
sind dennoch von besonderer vVichtigkeit. Sie können dem
Ensemble seinen endgültigen Chic verleihen oder alles zu-
nichte machen. Kein noch so schönes Kleid wird neben
einem geschmacklosen Hut, neben zerschlissenen Hand-
schuhen, neben abgetragenen Schuhen oder einer schlecht
passenden Tasche bestehen können, während selbst ein

88 89
mittelmäßiges Kleid durch wohlabgestimmte modische Zu- wegzutupfen oder dort das Rouge an der Lippe ein wenig
taten einen Rang erreichen kann, den es von sich aus nicht auszugleichen. Dieses kleine Tüchlein, das sie in ihren
besitzen würde. Für manche Frauen sogar ist eine bestimmte zarten Fingern hält, verwandelt sich, wenn Alice auf dem
Tasche oder der bestimmte Farbton eines Handschuhs der Lande ist, wiederum in ein riesengroßes von kräftigen,
Ausgangspunkt für ein sehr glückliches Ensemble. Bei bäuerlichen Farben. Da dient es ihr einmal als Gürtel, ein
einigen Frauen steigern sich Sinn und Erfindungsgabe für andermal als Halstuch und manchmal wird auch ein Bün-
modische Zugaben bis zur Genialität. del daraus.
Aber was heißt hier Genialität? Alice und ihre Tücher sind unzertrennlich.
Alle vVelt trägt Schuhe, Taschen und Schals, das ist klar,
aber es kommt auf die Art, auf die Proportionen, auf den Therese hat eine Leidenschaft für Handtaschen. Sie
undefinierbaren Hauch von Originalität, ja sogar auf eine spürt ihnen nach mit dem Eifer eines Kundschafters, sie
Spur von Extravaganz an, durch die ein landläufiges Etwas stöbert sie auf mit dem Feingefühl eines Sammlers und sie
in ein einzigartiges, kostbares und erlesenes Ding verwan- wirbt für sie eifrig und ohne Eigennutz. Sie errät alle mo-
delt wird. dischen J\Iöglichkeiten, die in einem guten Leder liegen
können, und sie vveiß, durch welche seiner Eigenschaften
Die zarte und graziöse Alice hat zu Hause immer ein ein allzu lang getragenes Ensemble wieder gewinnen kann.
Chiffontuch in der Hand, das so groß ist, daß sie es nicht zu Sie findet eine bisher nie gesehene Farbe, die aber richtig
halten, sondern daran zu hängen scheint. Es hüllt sie in ist und die dann für eine ganze Saisonfurore macht. Trägt
eine Wolke von Traum und Unwirklichkeit, es macht sie sie selbst eine große Tasche, so wollen alle andern Frauen
schwebend und unerreichbar. Es verwandelt sich in immer noch größere haben, und gerade dann fällt es ihr ein, sich
wieder andere und überraschendere Farben - es lebt wie eine ganz winzige zuzulegen, zur größten Verzweiflung
eine Blume neben ihr, wenn sie sich hinsetzt- es flattert ihrer Freundinnen. Die Verschlüsse ihrer Handtaschen
mit ihr auf, V\renn sie fröhlich ist - es sinkt zusammen, haben etwas Ungevvöhnliches; sie sind da, wo man sie gar
wenn sie traurig ist - es winkt den Besuchern ein vVill- nicht vermutet, sie gleichen einer kleinen Geheimtür und
kommen zu und komplimentiert die Unerwünschten hin- scheinen l\1ysteriöses zu verbergen.
aus. Doch wenn Alice ausgeht, dann zieht sie aus ihrer Zu Hause hat Therese immer ein kleines ausgefallenes
Tasche verstohlen ein winziges weißes Viereck heraus, so Ding zur Hand, aus seltener Seide, aus Stein, aus Gold,
klein, daß jeder sich mit Besorgnis fragt, was sie wohl ein altes Döschen aus fernem Land oder ein modernes
damit machen könne. Selbstverständlich hat sie nie daran Schmuckkästchen - alles mögliche verschwindet darin -
gedacht, es als Nasentüchlein zu benutzen, es spaziert nur es wandert mit ihr von Tisch zu Tisch - es wird hierhin
so auf ihrem Gesicht umher, um hier ein Puderstäubchen gelegt und dorthin gelegt, es scheint vergessen - und

90 91
plötzlich ruft sie: » vVo ist denn nun wieder mein Täsch- schön ist nur ein einfacher Handschuh aus weichem und
chen?« und findet es in den Polstern ihres Sessels wieder. erlesenem Leder, dessen Farbton sich entweder dem En-
Thereses Taschen verraten ihre Anwesenheit. semble diskret anpaßt oder in klarem Kontrast zu ihm
steht. Das gleiche gilt für den Schuh. Alles, was man an
Elanehe wechselt ihre modischen Zutaten je nach ihrer Schnallen, Schleifen und Spangen hinzufügt, wirkt fast
Laune, nach der Stimmunbrr einer Stunde und brinat da- immer unmöglich.
' b
durch alle Freundinnen, die es ihr gleichtun möchten, zur vVie oft habe ich vor Schaufenstern Betrachtungen dar-
Verzweiflung. Eines Tages trifft man sie an mit einem über anstellen müssen, wohin gevvisse Schuhmacher mit
Nerzkollier, das sie eng um ihr Kostüm geschlungen hat; ihren traurjgen Einfällen gekommen sind. Durch welche
tags darauf rollt sie sich von Kopf bis Fuß in eine über- Verbildung des Sehens, durch welch törichte Geschmacks-
lange Fuchsstola ein, um diese am nächsten Tag, wie eine verirrung haben solche Monstruositäten nur jemals gefal-
Schlange um ihren Arm gedreht, auch noch hinter sich her len können. Je einfacher und klassischer ein Schuh ist, desto
zu schleifen. eleganter wirkt er. Es mag da einmal eine kleine Besonder-
Plötzlich steckt sie in ein turmähnliches Hütchen das heit zum Vorschein kommen, aber die muß so versteckt
'
wunderbar fest sitzt und ihrer keineswegs bedarf, kurz ent- sein, daß sie den Klang des Ensembles nicht stört. Gleich
schlossen drei Hutnadeln hinein. An ihrem Muff duftet ein dem Handschuh kann sich auch der Schuh eine reizvolle
Veilchenstrauß, der in der Wärme langsam dahinwelkt; Farbe erlauben, er kann sich vielleicht auch noch ein aus-
ist sie bei sich zu Hause, so hält sie nachdenklich eine Rose gefallenes l\'laterial leisten - dann aber ist es mit seiner
unter ihr schmales Gesicht. Bunte und klingende Anhänger Freiheit auch schon zu Ende. Allein der Abendschuh hat
gleiten verspielt durch ihre Finger, sie rollen und springen einen gewissen Spielraum für das Exzentrische, allerdings
auf den Teppich, stoßen klingend ans Porzellan, und mit nur bei Frauen von außergewöhnlich sicherem Geschmack;
ihrer Musik halten sie alle Geister in Bewegung. die andern sollten sich an einen einfacheren Stil halten.
Beide, Schuhe wie Handschuhe, sollten einen gewissen
Wegen ihrer großen Wichtigkeit verlangt die Auswahl Eindruck der Bequemlichkeit hervorrufen. Eine in einen
der kleinen Modedinge äußerste Sorgfalt, fast eine Art zu engen Handschuh eingezwängte Hand ist schon sehr
mathematischer Präzision. Handschuhe und Schuhe zum unerfreulich, aber noch viel quälender sieht ein Fuß aus,
Beispiel sollten einfach sein; denn gerade diese vertragen der in einen zu engen Schuh eingeschnürt ist, oder der auf
einem zu schmalen Absatz dauernd umknickt. l\'lan sollte
weniger als alle andern Dinge das Übertriebene. Durch
überladenen Zierat die Aufmerksamkeit auf Hände und den J\:Iut haben zu seinen Händen und Füßen, sollte sie
weder unbedingt sichtbar machen noch sie verstecken wol-
Füße zu lenken, ist unfein. Ausfestonierte Handschuhe mit
len. Denn vvenn man sie verbergen möchte, fallen sie nur
Blümchen und Lochstickerei sind geschmacklos. Wirklich
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92
noch mehr auf, und wenn man sich selber wohlfühlen will, rial. Zwei von ihnen sollten immer zusammenklingen, und
muß es erst einmal auch ihnen gut gehen. Der Schuh sollte wenn das dritte sich wie ein diskreter Kavalier distanziert,
dem Fuß Kraft und Sicherheit geben -Grazie und Eleganz, so sollte sein Beiseitestehen nicht das zärtliche tete-a-tete
und, wenn es kalt ist, mollige vVärme. Er kann uns eine der beiden andern stören.
größere Sicherheit verleihen, kann uns aber auch das
Gleichgewicht nehmen. Zu allen Zeiten sind die Hüte der Gegenstand leiden-
schaftlicher Diskussionen- ehelicher und außerehelicher -
Die Handtasche einer Frau ist Bekenntnis, Roman, gewesen; immerwährender Gegenstand dauernder Spötte-
Tagebuch ihres Lebens. Sie verrät alles: ihre Ordnung, leien, bitterer Vorwürfe, Anlaß zu Tränen und Nerven-
ihre Sorgfalt, den Grad ihres guten Geschmacks und ihre zusammenbrüchen. Und ich vermute sehr, daß im Paradies
Urteilsfähigkeit, ihr sanftes oder sprühendes vVesen und der berüchtigte Apfel der Zwietracht das allererste winzige
vieles andere mehr. Die Tasche ist zugleich Notwendigkeit, Hütchen gewesen ist.
Luxus und Spielzeug; schon die ganz kleinen l\1ädchen Ich glaube, das ganze Übel rührt von einem Mißver-
möchten so gerne eine haben und tragen sie dann mit Stolz. ständnis gleich zu Anfang her. Die lVlänner möchten gerne,
Vor allen Dingen nun muß eine Tasche in jeder vVeise daß der Hut ihre Begleiterinnen verschönt, während diese
qualitätvoll sein. Durch ihr Leder und ihren Verschluß nur das Bestreben haben, sich etwas Neues und Schickes
soll sie einen gepflegten und praktischen Eindruck machen. aufzusetzen, das den andern Frauen ins Auge sticht. Man
Nichts ist so scheußlich wie Handtaschen, die sich nur wird vielleicht über meine Naivität lächeln, wenn ich mich
schwer öffnen lassen und in die man höchstens mit drei frage, ob es nicht möglich sein könnte, diese beiden Stand-
von der Schließe verletzten Fingern hineinkommen kann. punkte zu vereinigen, ganz einfach dadurch, daß die Frauen
Im Innern sollte sie ebenso elegant sein wie von außen, neue, schicke und außerdem noch kleidsame Hüte tragen ...
das heißt, daß all die kleinen Dinge, die sich darin zu- Aber meine Idee wird ja wohl ebenso töricht sein wie die
sammenfinden, gleichfalls praktisch und schön sein müß- Anekdote vom Ei des Kolumbus; denn wenn sie so einfach
ten; sie sollten hübsch ordentlich beieinanderliegen und wäre, müßte doch ein jeder längst schon auf diesen Gedan-
nicht einen Wirrwarr bilden wie nach einem kleinen Erd- ken gekommen sein.
beben. Eine gute Handtasche soll modern, darf aber nicht Jedesmal, wenn ich bei Beginn der Saison meinen ge-
zu ausgefallen sein; eine gewisse klassische Form hebt wohnten Rundgang bei den Modistinnen mache, sehe ich
auch den Wert ihres Materials. überall bezaubernde Hüte von großer Klasse, elegant, chic
Zwischen Schuhen, Handschuhen und Handtaschen und neu - Hüte mit allen guten Eigenschaften. Und so
wünsche ich mir eine brüderliche Eintracht; nie dürfen sage ich mir denn jedesmal voller Hoffnung: »Diesmal
sie einander feindlich sein, weder in Farbe noch in Mate- werden alle Frauen endlich wunderbar ,behutet' sein.<<

94 95
Und unweigerlich erlebe ich jedesmal einige ' Vochcn
später eine wahre Überschwemmung unglaubiichster
Scheußlichkeiten. Fast alle Frauen haben dann mit töd-
licher Sicherheit unter zahllosen r eizenden H üten den
einzig lächerlichen ausfindig gemacht. I st nur einer von
diesen unmöglichen erst einmal ausgekrochen, so wirkt
das ansteckend. Das Übel breitet sich aus von Ort zu Ort,
und weit davon entfernt, durch die Ausdehnung an 'Virk-
samkeit zu verlieren, wächst es vor unsern Augen immer
m ehr. ' Venn die Krankheit in Form eines kleinen Hüt-
chens ausgebrochen ist, wird sie in einem Konfetti enden;
wenn sie aber mit einem großen Ilut beginnt, so wird sie
in kurzer Zeit die Dimension des Sonnenschirms erreichen.
ßei steilen H üten schießt schließlich alles :in die H öhe,
während die Schlapphüte uns binnen kurzem die Augen
zuhängen.
Aus Gärten werden Urwälder, aus Früchten Obstplan-
tagen, aus einem zarten Flügel ein ganzer Vogelschwarm;
aus einem Schleifehen wird ein Labyrinth von ßändern
und Schleier schweben bald gleich ' Volken über der Stadt.
R eiherspitzen und Straußenfedern kitzeln alles um sich
herum. Es ist wie eine Kollektivnarrheit, wie ein all-
gemeiner 'V ahn.
W elche Frau wird den größten Aufbau haben? ' Velche
von ihnen wird alle R ekorde schlagen? Und welche findet
den wirklichen dernier cri für diese Saison? Selbst die 1o-
distinnen vergessen im Taumel des ·w eueifers nur zu leicht
ihr eigentliches 1 önnen. Sie haben das H erz verloren, Ein-
faches und Schönes zu bringen . In überhetztem W ettlauf
häufen sie Chrysanthemen auf Äpfel, Vergißmeinnicht auf
Pfingstrosen und Geflügel auf Bandschleifen. Sie verklei-

96
nern weiter ... und weiter ... und weiter ... bis zu dem
Punkt hin, wo man plötzlich merkt, daß eigentlich gar kein
Hütchen mehr da ist. Oder sie vergrößern ihre Gebilde
so ins Ungemessene, daß zwei Boys sich damit abquälen
müssen, das Kunstwerk abzuliefern, daß man den Hut vom
Kopfe nehmen müßte, um durch eine Türe zu kommen
und daß es auf der ganzen vVelt keinen Koffer gibt, in den
er hineinpaßte.
Und doch, wenn in Paris eine Frau wirklich zu wählen
versteht, wenn sie sich nicht von der allgemeinen Narrheit
der Stunde einfangen läßt, vor allem, wenn sie keinen
unpariserischen Einflüssen erliegt, -wie leicht ist es dann
für sie, zu jeder neuen Saison auch neue und bezaubernde
Hüte zu finden. Eine jede Modistin hat ihren besonderen
Stil, dem sie es verdankt, daß sie für jeden Frauentyp- und
zwar innerhalb der herrschenden 1\'Iode - auch eine un-
endliche Vielfalt von Möglichkeiten findet. Ihrem Finger-
spitzengefühl allein ist es zu verdanken, wenn jede Frau
einen modischen Hut tragen kann, der ihr Wesen nicht be-
einträchtigt, der ihrem Geschmack entspricht und ihre per-
sönliche Note unterstreicht. Und um das zu erreichen,
braucht sie nichts zu verleugnen und auf nichts zu ver-
zichten, was zu ihr gehört.
Hüte großen Stils von Reboux - Hüte von guter Klasse
und sehr persönlich bei Suzy - exotische Turbans von
Maria Guy- sportliche Filzhüte bei Rose Descat, unnach-
ahmlich in ihrem Chic - entzückend drollige Einfälle von
Albouy - geniale Trouvaillen bei Agnes - und schließlich
Madame Legroux: sie dichtet in Hüten, denen durch ihre
Hand eine feine Verzauberung zuteil wird.
Poetischer und rührender Traum!

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nern weiter ... und weiter ... und weiter ... bis zu dem
Punkt hin, wo man plötzlich merkt, daß eigentlich gar kein
Hütchen mehr da ist. Oder sie vergrößern ihre Gebilde
so ins Ungemessene, daß zwei Boys sich damit abquälen
müssen, das Kunstwerk abzuliefern, daß man den Hut vom
Kopfe nehmen müßte, um durch eine Türe zu kommen
und daß es auf der ganzen Welt keinen Koffer gibt, in den
er hineinpaßte.
Und doch, wenn in Paris eine Frau wirklich zu wählen
versteht, wenn sie sich nicht von der allgemeinen Narrheit
der Stunde einfangen läßt, vor allem, wenn sie keinen
unpariserischen Einflüssen erliegt, - wie leicht ist es dann
für sie, zu jeder neuen Saison auch neue und bezaubernde
Hüte zu finden. Eine jede Modistin hat ihren besonderen
Stil, dem sie es verdankt, daß sie für jeden Frauentyp- und
zwar innerhalb der herrschenden l\1ode - auch eine un-
endliche Vielfalt von l\1öglichkeiten findet. Ihrem Finger-
spitzengefühl allein ist es zu verdanken, wenn jede Frau
einen modischen Hut tragen kann, der ihr Wesen nicht be-
einträchtigt, der ihrem Geschmack entspricht und ihre per-
sönliche Note unterstreicht. Und um das zu erreichen,
braucht sie nichts zu verleugnen und auf nichts zu ver-
zichten, was zu ihr gehört.
Hüte großen Stils von Reboux - Hüte von guter Klasse
und sehr persönlich bei Suzy - exotische Turbans von
1\daria Guy- sportliche Filzhüte bei Rose Descat, unnach-
ahmlich in ihrem Chic - entzückend drollige Einfälle von
Albouy - geniale Trouvaillen bei Agnes - und schließlich
Madame Legroux: sie dichtet in Hüten, denen durch ihre
Hand eine feine Verzauberung zuteil wird.
Poetischer und rührender Traum!

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Nur wenige Frauen begreifen, daß s1e nicht wahllos alle diese Dinge wählt sie mit Qualitätsgefühl und siche-
jeden Hut tragen können, und daß ein Hut, selbst dann, rem Geschmack. Ein jeder dieser Gegenstände wirkt, wenn
wenn er modisch ist, ihnen deswegen nicht unbedingt zu sie ihn trägt, an ihr wie ein kleines Kunstwerk. Ich bin
stehen braucht. Andere dagegen übertreiben wieder zur sicher, daß sie auch genau so aussehen würde, wenn sie
andern Seite hin und halten sich aus Scheu vor dem Neuen nicht so wohlhabend wäre, wie sie ist.
ewig an das gleiche Genre.
l\1an muß nicht vermögend sein, um die Dinge ge-
Beide machen es falsch.
schmackvoll auswählen zu können. Manche Frauen geben
Zwischen der Scylla des Lächerlichen und der Charybdis zwar viel Geld aus, doch nützt es ihnen nichts; denn das
des Langweiligen muß man hindurchsteuern und eigene
Geheimnis der l\1adame deS. liegt darin, daß sie sich ganz
Lösungen finden, bei ihnen bleiben und es dennoch ver-
einfach J\!lühe gibt. Das eben unterscheidet sie von ihren
stehen, sie der jeweiligen Tagesmode anzupassen. Alles das
Freundinnen. Sie begnügt sich nämlich nicht mit ihrem
kommt mir so schwierig vor wie das Problem der Quadra- guten Geschmack allein, sondern sie scheut keine Anstren-
tur des Kreises; und dennoch muß jede Frau eine eigene
gung, und da sie in ihren Sachen peinlich genau ist, ver-
persönliche Lösung finden, dadurch, daß sie sich oft ihrem nachlässigt sie niemals die geringste Kleinigkeit. Es kostet
Spiegel anvertraut; eine Lösung auch dadurch, daß sie den sie nichts, daran zu denken, ob die Initialen sich auch dem
männlichen Ratschlägen wenig, denen ihrer Modistin Ganzen einfügen und ob der Regenschirm mit den mei-
nicht allzu sehr und denen ihrer Freundinnen überhaupt
sten ihrer Kleider zusammengeht.
nicht folgt.
All dies ist keine Geldfrage, es ist eine Sache des Nach-
vVenn der Spiegel verkündet »Du siehst scheußlich aus«, denkens, der Initiative und der Sorgfalt. Wenn J\!ladame
so ist es leider immer wahr; wenn der Ehemann das gleiche
deS. ein Kleid aussucht, so achtet sie genau darauf, daß die
sagt, so ist das zwar sehr wenig galant, aber immerhin Kette, die sie dazu tragen will, auch mit dem Halsausschnitt
manchmal wahr; wenn die l\lodistin entzückt ausruft: »Fa- zusammenstimmt. Für jede Gelegenheit wählt sie ein rich-
belhaft sehen Sie aus«, so kann das sehr oft eine Lüge sein, tiges Taschentuch und es fällt ihr leicht, ein Schmuckstück
und fast immer ist es eine, wenn die Freundinnen es be- wegzulassen, wenn ein Kleid dadurch gewinnt. Sie wartet
stätigen. Man sollte niemals den unumstößlichen Satz ver- nie bis zum letzten Augenblick, um das herbeizuzaubern,
gessen: >>Eine Frau zieht sich für den Mann an, aber gegen was sie gerade braucht, denn sie weiß, daß jeder Kauf zu-
die Frauen.«
nächst einmal gut überlegt sein will, ein öfteres Abwägen,
dann aber, um den Nagel auf den Kopf zu treffen, Ent-
J\!ladame de S. ist für modische Kleinigkeiten geradezu scheidung verlangt. Da sie sehr schön ist, könnte sie leicht
genial begabt. vVas es auch sei: eine Handtasche, ein
glauben, daß alle Hüte ihr stehen, aber das tut sie nicht. Wie
Schmuckstück, e1n Regenschirm oder ein Taschentuch,
auch immer die Mode sein mag, für sie gibt es Dinge, die
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sie sorgfältig meidet, wie es anderseits Dinge gibt, die sie irgend et\vas umzuwerfen; setzt man sich wohin, so er-
immer trägt, Dinge, die sie mit so großer Geschicklichkeit drückt man unweigerlich einen Hund, den man für einen
zu tragen und ihnen einen solchen Stil zu geben weiß, daß Hut gehalten, oder einen Hut, der einem Pekinesen gleicht;
sie ganz einfach klassisch sind und doch modischer als die es scheint unmöglich, auch nur einen Schritt zu tun, ohne
letzte Torheit des Tages. Da sie immun gegen alle An- sich in Schleiern zu verfangen, Schachteln zu ramponieren
steckung, unberührt von jeglichem Snobismus ist, wäre es oder über die letzte Creation von Albouy und die von J\1me.
absolut unmöglich, ihr etvvas Lächerliches oder Langvvei- de P. bestellten Sachen zu stolpern.
liges aufzuschwätzen. Ihr Sinn für Eleganz ist unantastbar. Diese »Echoppe d'Albouy«, zugleich Bazar, Laden, Ate-
lier und Boudoir, ist nur ein kleines Goldkorn in dem glei-
Paris ist die Hauptstadt der modischen Kleinigkeiten. ßenden Schatz, der Paris heißt.
Nirgendwo anders in der \Velt spürt man so stark den Zau-
ber, den sie auszustrahlen vermögen. \Velche Verlockung durch die kleinen Dinge! Funken
Kann man sich etwas Anregenderes und V erlockenderes sprühen aus ihnen, gänzlich unerwartet, die Magie ihres
vorstellen als ein Schaufenster von Hermes? Die auf eng- Neuseins befreit uns von der Langeweile des Schon-Ge-
stem Raum ausgestellten Taschen und Plaids machen mit sehenen, reißt uns aus unseren Gewohnheiten heraus:
uns die tollsten Reisen, Handschuhe schlüpfen über gei- frühlinghafte Erneuerung mitten im Herzen des Winters.

I
sterhafte Hände, Uhren und Necessaires weben ein zartes \Vie mit einem Zauberstab erschaffen sie uns neu im ge-
Band zwischen dem Heute und dem Gestern; Schals mit heimnisvollen Aufleuchten des Details, das, fast unsichtbar,
Blumen in kräftigen Farben zaubern uns ein kleines uns dennoch blendet.
Bauerngärtlein herbei. Aristokratisch und blasiert mustern Macht des modischen Beiwerks, in dem sich die Persön-
uns die Schuhe bei Helstern und scheinen uns zu fragen, lichkeit ausprägt! Persönlichkeit: » Unfaßbare Kraft, die
ob wir es wirklich wagen würden, mit ihnen auf das Stein- ganz aus der Liebe kommt. vVeil der Tod sie zerstört, hassen
pflaster zu treten, während die von Perrugia uns lustig zu- wir ihn.<< (Princesse Bibesco.)
rufen: »Hallo, meine Damen, wohin die Reise?<< Die Ta-
schen der Germaine Guerin ruhen ganz in sich, unauf dring-
lich und still, klassisch, kostbar und von vornehmer Abkunft.
Könnte es etwas Pariserischeres geben als die Echoppe
d'Albouy? Tapisserien, ausgefallene Gipsfiguren, ein \Virr-
warr von Stoffen, Hüten und Kundinnen, auf Paravents
und sämtlichen Stühlen verteilt; nicht eine einzige Bewe-
gung kann man machen, ohne jemanden anzustoßen oder

100 101
KAPITEL X
haft zu werden, haben Karawanen endlose vVüsten durch-
quert, haben Schiffe mit vollen Segeln die l\1eere befahren.
Gegen räuberische Einfälle verteidigt sich König und Reich.
Drachen und Zwerge hüten ihn, in den Legenden raunt
es von ihm und Berge und l\1eere wahren sein Geheimnis.
Schenken: l\'Iänner haben l\1ühsal getragen, haben gelit-
ten und Verrat geübt - stolz oder demütig vor den Frauen,
haben sie jegliche Niedrigkeit getan oder vVundertaten voll-
bracht. Kulturen werden erschüttert, Leben zerstört, Riva-
len getötet und Königreiche erobert, um seinetwillen.
Empfangen: Die Frauen haben gelächelt, ein falsches
oder aufrichtiges Lächeln, sie haben Tränen vergossen, sie
Die Frau und der Schmuck - der Schmuck und die Frau - haben gefleht, gebettelt und Komödie gespielt, sie haben
ewige Zweiheit, innige Bindung. gedroht und versprochen in einem Atemzug und sie haben
Zu allen Zeiten von unlösbarer und wechselseitiger Ver- sich verschenkt und verkauft. Um in seinen Besitz zu ge-
strickung. Er, ihr Glanz- Sie, ihm hörig; Er, ihr Dämon- langen, haben sie die Gefahren des Todes auf sich genom-
Sie, seine Sklavin. Er, girrender Lockruf- Sie, umstrickter men. Wahrlich, nichts am Schmuck ist unbedingt rein,
Vogel. Sie, keusche und leidenschaftliche Priesterin seiner immer haften ihm, unsichtbar aber unaustilgbar, Leiden
Schönheit - Er, dunkle und verderbliche Fülle, aus der und Leidenschaften an, Blut und Lust, Bann und Zauber,
Freude und Trauer, Gold und Blut fließen. Erinnerungen an die Zeiten finsterer Raserei, an eine kurze,
Unterpfand der Liebe, Fanal der Eitelkeit, stolzer Über- bittersüße l\1inute des Glücks.
fluß, zartes Erinnern: so sind in ihm zugleich Verbrechen All das gibt dem Schmuck seinen großartig-faszinieren-
und Opfer, Käuflichkeit und Großmut, Neid und Güte ver- den Reiz.
einigt. Er ist Schatten, Licht und Leidenschaft des armen
schwachen Menschenherzens. Keine Kultur ist untergegangen, ohne uns irgendwelche
Rauben, schenken, empfangen: die drei Akte der ewigen Kleinodien zu hinterlassen als unvergeßliche und flam-
Tragikomödie der vVelt. mende Zeugen erloschenen Glanzes. In der irisierenden
Rauben: Es wird gestohlen und zerstört, die Heimat ver- l\1uschel primitiver Völker rauscht die ewige Melodie des
lassen und getötet. Um seinetwillen entzweien sich die geheimnisumwobenen Meeres.- Berauschende Blütenran-
Sippen, Schwester kämpft gegen Schwester, Tochter gegen ken aus weißem Jasmin und schweren Tuberosen.- Dun-
Mutter und IV1ann steht auf gegen Mann. Um seiner hab- kel glänzendes Gold aus den Gräbern Ägyptens, mit tief-

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blauem Email gehöht oder mit dem matten Blau der Tür- Stamrnbaum haben. Unrührbare Steine, die nur einen Tag
kise; Rubine, Granate und Smaragde aus Griechenland, an bei uns bleiben, die uns verlassen, unsichtbar werden,
schweren Ketten aus Gold und Perlen, und als Schließe die plötzlich wieder auftauchen und allen Tod, Ruhm und
traurige Blüte der Asphodele. Griechische und römische \Valm überleben.
Kameen, Erinnerungen an Steine der Vorzeit, an Chaldäa Magische Namen: Rotes Meer, Golf von Persien, Cey-
und Assyrien, erstes Signum sich selbst bewußt werdender lon ... Australien, wo im Schoß warmer J\1eere die süßen
Persönlichkeit, Schmuck und Wahrzeichen zugleich. Nacht- blassen Perlen des Orients reifen, kleine mondhelle Ku-
dunkle Onyxe, zarte Karneole, wasserklare Achate, auf die geln, die ihr rosa und grünlich schimmernd in der Hand
einst Dioscorides seine hauchdünnen Meisterwerke ein- ruht, wie wiegt ihr so leicht, ihr Früchte schwerster
ritzte. Auf römischen Togen erstrahlen ziselierte Fibeln J\1ühen! Golkonda, sagenhafte Heimat des Diamanten!
und goldene Kugeln. Gewundene Schlangen, gefürchtete Glitzernd und rein, ist er der König der Steine. Funkeln-
und verehrte Symbole, Zeichen der vVeisheit und der Ewig- der, kalter und harter Stern, Alleinherrscher mit unzäh-
keit. Aus naher Vergangenheit leuchtet der unvergleich- ligen strahlenden Namen: Großmogul; Regent der Krone
lich herrliche Schmuck der italienischen Renaissance zu Frankreichs; Orloff, einst das Auge Brahmas; Deria-i-noor,
uns herüber, so reich und vielgestaltig, so doppeldeutig und süßes l\1eer des Lichtes, aus persischen Schätzen; edler
verderblich, so voller Gift; riesenhafte oder überzarte Ge- Duca di Toscana; Pascha von Ägypten; eisiger Polarstern
bilde, in denen die Hybris der Borgia und die V erschwen- und >>Stem des Südens«.
dung der Medici sich offenbarten; blitzendes Geschmeide, Keuscher Smaragd, Stein der W ahrsager, grün wie das
das mit dem Namen Lorenzo il J\1agnifico vor unsern Au- vVasser und das Licht im Frühlingswald, Grün der Hoff-
gen ersteht. nung, Grün der Frische. Wunderbare Smaragde, die Cor-
Barbarischer Schmuck arabischer Hochzeiten mit seiner tez seiner Königin versagte, um sie seiner Geliebten zu
erdrückenden Anhäufung von buckeligen Perlen, von glat- schenken!
ten, milchigen Kieseln, von gerauhten Smaragden, von Blutiger Rubin, Stein der vVeisen, Rubin Sibiriens, der
Rubinen in der Farbe trüben Weines, alles das ein wildes rauhen Steppen Tibets und des prunkvollen Indien ... Sel-
Durcheinander. Pomphafte russische Festkronen aus Per- tener und brennender Rubin, Stein der Liebe und der
len und Diamanten, die den Frauen eine flüchtige Königs- Tragik!
würde verleihen. Die sagenhaften Schätze aller Herrscher Saphir! Tiefblaues Firmament im kleinen, ein Stück
der Welt, der Schmuck ihrer Kronen, die achtzehn unver- Himmelsblau, herabgeschwebt und schimmemd auf Men-
gleichlichen Brillanten Mazarins, die unheilvolle Halskette schenhand.
der Marie-Antoinette und alle die Steine, die von Anfang Der ganze funkelnde Zug der unzähligen kleineren
an einen stolzen Namen trugen, einen sagenumwobenen Steine: blasse Aquamarine in zahllosen Farben, wechsel-

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voller Beryll, nachtdunkler Onyx, golden brennender To- Die Ringe, die manchmal dünn und manieriert waren,
pas, f!ammender Granat, magisch schillernder Opal, Ro- haben eine gewisse Vollendung der Form erreicht, eine
senquarz, reiner Kristall, brauner Karneol, matter Jade, Reinheit der Linie und etwas ge·wichtig Persönliches, das
Türkis, goldgesprenkelter Lapislazuli, zartgeäderter Jaspis, die Hand länger und zarter erscheinen läßt.
düsterer Malachit, sanfter Achat und alle Perlen und Stei- Aus den nichtssagenden Nadeln und Broschen von einst,
ne ... Schätze im Schoß der Erde, der Flüsse, der Felsen, in manchmal geometrischen, häufiger aber unbestimmten
der J\1eere, ihr alle, nicht verborgen, nicht fern und uner- Formen, sind heute unglaublich schöne Clips geworden,
reichbar genug, um nicht von der Leidenschaft oder der weich und biegsam wie der Stoff, dem sie sich anschmie-
zähen Geduld des J\1annes erbeutet zu werden zur größeren gen. Vielfarbig und phantastisch und immer wieder an-
und ewigen Schönheit der Frau. ders, erblühen sie am Knopfloch als kostbare Feldblumen
in tollen, traumhaften Farben; ins Haar setzen sie sich als
Jahrhunderte sind vergangen, ohne die Herrschaft des Paradiesvögel, Schmetterlinge oder Sterne, oder sie beglei-
Schmucks anzutasten. Jahr um Jahr, je nach Laune der ten als Fische lautlos die Linien unseres Kleides.
Mode und der persönlichen Neigungen, hat er sich gewan- Die Armbänder sind groß und schwer oder ganz schmal,
delt, ohne jemals etwas von seiner unwiderstehlichen An- biegsam oder starr, oft verrückt, immer überraschend, in
ziehungskraft einzubüßen. Die schweren Ketten, die riesi- bewußtem Einklang mit Clips und Ringen oder im Kon-
gen Ohrgehänge, die übergroßen Ordenssterne des franzö- trast zu ihnen.
sischen Hofes verloren zugleich mit der Zeit an Größe und An unsern Ohrläppchen hat man schon alles gesehen,
Substanz, und unsere Großmütter trugen nur noch rüh- was da blüht, was kreucht und fleugt, und das ganze Fir-
rend unbedeutenden Schmuck, dessen gekünstelter Ent- mament.
wurf oft mit kleinen und minderen Steinen vVirkung er- Die geheimnisvollen Tierkreiszeichen sind heute unser
zielen wollte. Unsere heutige Zeit hat die \Viedergeburt wunderliches und tägliches Spielzeug. Puderdose und Lip-
und vielleicht einen Höhepunkt des Schmucks erlebt. Ich penstift, Handtasche und Notizbüchlein, Zigarettenetui
sage hier ohne Bedenken »Höhepunkt«, denn sowohl durch und Feuerzeug, Kamm und Spiegel, die gestrenge Uhr und
handwerkliche Kunst als auch durch die Schönheit der ver- der unentbehrliche Bleistift- sie alle sind zu lauter kleinen
wendeten Steine werden unsere Preziosen den kommenden Kunstwerken geworden, in denen sich zugleich Geschmack,
Zeiten ein Zeugnis sein für die letzte Verfeinerung unse- charmante Phantasie und Meisterschaft ihrer Schöpfer of-
res Geschmacks. fenbaren. Jedes einzelne dieser vertrauten Dinge nehme
\Vie ein Festzug reihen sich märchenhaft schillernd die ich gern in die Hand, betrachte es mit Bewunderung, fast
Vitrinen der Pariser Juweliere und münden in die Place möchte ich sagen mit Liebe. Immer wieder erstaunt es
Vendome wie in einen Blütenkranz. mich, daß in so kleinen Dingen eine solche Vielfalt, e1ne

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solche Originalität, so viel Kunst, so viel Traum und so viel Van Cleef wirft unsere Begriffe weisen Maßhaltens um;
Unwirkliches zum Ausdruck kommen kann. er tut unserem Geschmack Gewalt an mit seiner Vorliebe
Dem Schmuck von heute ist das vVunder gelungen, Pla- für das Übergroße, das Extravagante und die märchenhafte
tin mit jeder Art von Gold, Perlen mit allen farbigen Stei- Pracht aus Tausendundeiner Nacht.
nen, strahlende Brillanten mit phantastischen Gemmen jvJ adame Belperron beugt ihr rätselvolles Gesicht über
zusammenklingen zu lassen. Alles das: illegitime Verbin- einen halbfertigen Schmuck, den ihr vVerkzeug schonungs-
dungen, unerwartete Heiraten, groteske Vermischungen, los aus dem Golde herausgehauen hat. \Vie ein Magier sinnt
Begegnungen und Schocks, Kontraste des J\'laterials und sie über einer geheimnisvollen, nur ihr bekannten Zaube-
der Farben. Der Brillant wird vertraulich behandelt, als rei. Unter Beschwörungsformeln entsteigen ihrem Zauber-
sei er nur ein dicker Kiesel, Jade in winzigen :l\'lengen tiegel Aquamarine, von Topasen umschlungen, Amethyste,
wie kostbarstes Radium verwendet. Der Smaragd wird von Türkisen umspielt, barbarische Gebilde, Ungeheuer in
zum einfachen Blatt und der Korallenzweig blüht auf wie altertümlicher Pracht.
eine Blume. Die Perlen sind gerade gut genug, zu einer Alle müßte man sie nennen!
kleinen Schnur geflochten zu werden, an der einige Körn- Seltsame Hexenmeister, deren Schatzhöhlen sich an
chen Türkis hängen, und wenn dann alle Narrheiten und einigen verzauberten Orten zusammendrängen, die da
vVidersprüche ihren Höhepunkt erreicht haben, dann heißen Place Vendome, Rue de la Paix und Rue St. Honore.
stimmen sie alle gleichzeitig ein triumphierendes Lied der Ihre Phantasie erweckt in einem entzauberten J ahrhun-
Schönheit und der höchsten Harmonie an. dert die J\1ärchen aus alter Zeit, und ihr Genie läßt unter
unserm grauen Himmel alle Farbwunder des Prismas
Jeder Juwelier übertrifft in seinen vVerken sich selbst. wieder aufleuchten. Juweliere von Paris! Durch euren
Cartier blendet uns immer wieder mit ständig neuen, un- Zauberstab beschwört ihr für uns die Frische der Blumen,
erhörten Zusammenstellungen. Er ist zugleich antik und die Anmut der Vögel, das Licht des Orients, die Pracht
modern und schenkt uns den ganzen Orient im Licht von der Kleopatra und die Spielereien eines Kobolds- das alles
Paris. Sein nie versiegendes schöpferisches Genie gibt uns verbunden mit der unerbittlichen Exaktheit des Mathe-
mit jeder neuen Schließe und mit jeder spielerischen Über- matikers. Ihr bewahrt dem täglichen Leben seinen täg-
raschung auch neue Rätsel auf. lichen Traum.
Boucheron, klassischer als er, lehrt uns den Adel reiner
Linien, und wir erkennen, daß in der vollkommenen Pro- J\1an hat mich oft gefragt, was ich vom unechten Schmuck
portion einiger Goldmaschen das Auge gleiche Befriedi- halte. Für mich gibt es da zwei ganz verschiedene Arten,
gung finden kann wie der Geist des Mathematikers in der und je nachdem, ob er zu der einen oder der andern Art
Lösung eines schweren Problems. gehört, ändert sich auch meine Meinung über ihn.

108 109
Es gibt unechten Schmuck, der echten vortäuschen einen vertragen nur das maßvoll Klassische oder fast noch
möchte, und es gibt den Phantasieschmuck, der keine Vor- ''veniger ... große Steine würden sie erdrücken oder über-
täuschung sein will, sondern echte Neuschöpfung ist. laden wirken lassen. Die andern haben originellen oder
l\1eine Vorliebe gilt natürlich dem zweiten. Ich liebe JVIen- extravaganten Schmuck nötig, oft von ungewöhnlicher
schen und Dinge, die mutig und offen das sind, was sie sind. Größe . . . Bei ihnen wäre die süßeste kleine Sache ohne
Für einen Phantasieschmuck genügen vVitz, Originalität allen Chic, während sie durch ihre Persönlichkeit einem
und Neuheit, um charmant zu sein und künstlerischen großen, vielleicht nicht einmal vollkommenen Schmuck-
Sinn zu bezeugen. Der andere ist nur eine schlechte Nach- stück Wert verleihen.
ahmung, er ist wesenlos, er hat weder künstlerischen noch
inneren \Vert. Diejenigen Frauen - und deren gibt es Die Größe des Schmucks hat nichts mit der Figur der
\Tiele -, die nicht die l\1öglichkeit haben, teuren Schmuck Trägerirr zu tun. Gewisse kleine Frauen haben manchmal
zu tragen, können ihren guten Geschmack durch die vVahl Schmuck von einer gewissen Größe nötig, wie es große
eines Phantasieschmucks beweisen, der zu ihrem Ensemble Frauen gibt, die auch kleinen Schmuck tragen können.
gut paßt, aus hübschem JVIaterial ist und apart in der Das ist eine Angelegenheit der Persönlichkeit, der Bewe-
Farbe. Daran 1st gar nichts auszusetzen. Das gilt nicht gungen, der Art zu sein, sich anzuziehen und zu leben. Es
für die, die ihre Eleganz zu steigern glauben, wenn sie kommt vor, daß eine Kette einen Hals plump macht oder
bunten und leicht vulgären Glasflitter zur Schau tragen. ihn geradezu >>guillotiniert«; es gibt Handgelenke, auf
vVenn schon falscher Schmuck, dann echter I alseher Schmuck denen Armbänder wie Handschellen, und Finger, auf
und nicht falscher echter. denen Ringe peinlich wirken.
So ist es! l\1an muß den Mut haben, das einzusehen und
Um eleganten Schmuck zu besitzen, genügt es nicht, den Schmuck nicht um seiner selbst willen, sandem be-
einen hohen Preis zu zahlen. Zu einem großen Juwelier wußt als Steigerung der eigenen Persönlichkeit auswählen.
gehen und, um einen Scheck erleichtert, mit einem sehr Für jede Frau ist es unerläßlich, die Qualität, die Art und
schönen Perlenkollier oder einem dicken Brillanten her- die richtige Größe des Schmucks zu kennen, der zu ihr
auskommen, das kann jeder. Es kommt sehr viel mehr paßt. Eine Perlenschnur umzuhängen, weil >>man das
darauf an, zu wissen, ob gerade dieses Kollier einem gut trägt«, einen Brillanten an den Ringfinger oder einen
steht und ob gerade dieser Brillant der Hand schmeichelt. Clip an den Ausschnitt zu stecken, weil >>man das tut«, das
Das steht nirgends geschrieben. Manche Frauen, >>anbe- wäre töricht.
tungswürdig« im Schmuck ihrer Perlen, gewinnen von Wer aus der unendlichen Vielfalt des Schmuckes das
ihnen ein inneres Leuchten, während andere Frauen mit Rechte zu wählen versteht, beweist sein Urteil und Unter-
dem gleichen Kollier bürgerlich und banal aussehen. Die scheidungsvermögen.

110 111
·welche Freude, einzigartigen Schmuck zu besit~en, die
Frucht langen und verliebten Suchens nach der richtigen
Form und Farbe, persönlichen Schmuck, der sich von allem
andem unterscheidet!
·wenn es schon langweilig ist, daß eine Frau alltäglichen
Schmuck trägt, so ist es beinahe ärgerlich, sie alltäglich
mit dem gleichen zu sehen. Es soll Frauen geben, die von
der Heirat bis zum T ode, morgens und abends und zu jeder
Saison, den gleichen wie angewachsenen Ring am Finger,
die gleiche Kette wie an den Hals geschmiedet tragen. Es
wäre doch so einfach, sie einmal von Zeit zu Zeit in ihrem
Etui schlummern zu lassen oder sie wenigstens n ur ab-
wechselnd hervorzuholen ...
Ob man nun viel oder wenig Schmuck hat - nie sollte
man allen gleichzeitig tragen. Fast scheue ich mich, eine
solche Binsenwahrheit auszusprechen; aber es ist ein Feh-
ler, dem ich allzu oft begegnet bin.
Manche Schmuckstücke würden nur gewinnen, wenn
man sie einzeln sähe; gleich wie ein jedes schöne Ding nur
in der Isolierung seinen vollen Wert gewinnt. Ein Ring an
jeder Hand, das ist schon übergenug ; ein einziger genügt
oft schon für beide. Ringe nebeneinander bringen sich fast
immer gegenseitig um, außerdem stören sie das Bild der
Hand, und es wäre entschieden erfreulicher, wenn über dem
Clip am Ausschnitt nicht auch noch eine Kette baumelte.
Man kann nicht jeden Schmuck mit jedemandem zu-
sammen tragen. Die Verbindung kann manchmal effekt-
voll sein, meist ist sie aber unerfreulich.
Sorgfältig sollte man darauf bedacht sein, nur solche
Schmuckstücke zu kaufen, die zueinander passen ... oder
man trage sie einzeln.

112
Ein häufig begangener Fehler ist auch der, daß man
Schmuckstücke verschiedener Größe miteinander trägt. Ein
dickes Armband zu einem winzigen Ring wirkt meist
lächerlich. Das Armband kann vollkommen sein und der
Ring auch; aber sie gehören nicht zusammen.

Die Farbe eines Schmuckstückes ist von besonderer


Wichtigkeit: sie muß in sich abgestimmt sein und soll
auch zu den Kleidern passen. Nicht jeder Farbstein paßt zu
jeder Frau, sie vertragen sich nicht alle untereinander und
auch nicht mit allen Kleidern. Man kann nicht zugleich
Liebhaber von Saphiren und von grünen Stoffen sein.
Man sollte auch nicht glauben, daß Smaragde zu königs-
blauen Kleidern vorteilhaft seien. Man sollte sich aber
auch keineswegs ein rotes Kleid zu seinen Rubinen be-
stellen, noch ein grünes Kleid, weil man seine Smaragde
dazu tragen möchte.

Die unerwartete Art, ein Schmuckstück zu tragen, und


der Anschein von Zweckmäßigkeit tun oft mehr für den
Chic und Effekt als sein eigentlicher Wert.
Ein großes Schmuckstück muß man diskret, ein kleines

I geistreich tragen.

Gewisse Frauen nehmen ihren Schmuck nicht an, er


j wird nicht eins mit ihnen. Er hält sich an ihrer Oberfläche
wie der Kork auf dem Wasser. Er schwimmt obenauf,
ir
I'€ und die Persönlichkeit bleibt leer unter aufgepfropftem
Reichtum.
Ein Schmuck ist vollkommen, wenn weder Frau noch
Kleid ohne ihn denkbar sind.

113

j
Gewisser Schmuck wirkt am frühen Morgen wie ein KAPITEL XI

Ballkleid gleich beim Aufstehen.


Die meisten Frauen tragen in der Stadt und auf dem
Land, auf Reisen oder zu Hause, je nach Notwendigkeit
verschiedene Kleidung, aber überall ohne Notwendigkeit
gleichen Schmuck.
Auto und Eisenbahn und fast auch immer der Vormit-
tag vertragen keinen kostbaren, sondern nur einfachen
sportlichen Schmuck: Schmuck, der nicht nach Schmuck
aussieht.

Für wirkliche Eleganz ist »weniger« immer besser als


»zuviel<<. Nichts ist in allen Zeiten, bei allen Völkern und Kulturen
wandelbarer, widerspruchsvoller und erstaunlicher als die
In Sachen der Eleganz ist nichts unwandelbar. Schmuck- Vorstellung von der idealen Schönheit der Frau.
sachen werden altmodisch wie alles andere. Ähnlich dem Wo liegt hier Wahrheit, wo Verblendung?
Kleid, das im Lauf der Zeit zum historischen Kostüm wird, Was den einen ungeheuerlich erscheint, ist das Ideal der
können sie erst Auferstehung feiem an dem Tag, da ihre anderen. Unmöglich, darüber zu streiten; man kann nur
Altertümlichkeit ihnen erneut Wert verleiht. Tatsachen feststellen.
Immer haben sich die Frauen widerspruchslos dem von
Die Freude am Schmuck ist für die Eleganz eine der ihnen selbst aufgestellten ungeschriebenen Gesetz der
gefährlichsten Fallen, aber sie kann auch das i-Tüpfelchen Schönheit unterworfen und haben sich streng danach ge-
ihrer Vollendung sein. richtet, oft mit Heroismus, oft um den Preis schlimmster
Verstümmelungen.
Negerinnen mit ausgeweiteten Scheibenlippen, mit be-
ringten überlangen Hälsen - Chinesinnen mit verkrüp-
pelten Füßen - Malaiinnen mit abgefeilten, zahnfleisch-
entblößten Zähnen, die mit Betel gefärbt sind, »damit sie
nicht den Zähnen der Hunde gleichen« - Japanerinnen,
die die Zähne mit Graphit schwärzen - Araberinnen mit
hennaroten Händen, deren Ideal ein Gesicht wie der Voll-
114 115

I
-
mond und »Hüften wie Kissen« sind - Griechische Statuen Dank sei den Grazien, die den Frauen diesen ewigen
mit schweren Brüsten und mächtigem Becken - Hoch- Wunsch nach Erneuerung und Verschönerung eingegeben
geschnürte Busen des Dixhuitieme - Unwahrscheinliche haben, diesen Wunsch, der den schlimmsten Prüfungen
Wespentaille und Blässe von 19 0 0 - Freie und aufrechte standhält, allem Unheil und selbst dem Tode. Ausgrabun-
Körper, schmale Gesichter von heute . . . wo ist nun die gen haben uns gelehrt, daß in allen Jahrtausenden die
Schönheit und wo die Wahrheit? Frauen nur festlich gekleidet und im Glanz ihres Schmuk-
Sie ist zugleich überall und nirgends. Sie steckt in keiner kes die Schwelle zumJenseits überschreiten wollten.
Silhouette und in keiner Schminke. Sie lebt nur in den
schauenden Augen, in der schöpferischen Vorstellung und Überall und zu allen Zeiten war der Kult der Schönheit
im Traum der Männer. von immer wiederkehrenden und ewig sich gleichenden
Die Standhaftigkeit, mit der die Frauen sich - bis zum Sorgen, Mühen und Verfeinerungen begleitet: Massage,
Absurden - einem vorübergehenden Ideal zuliebe »ver- Diät und Kur, Körperpflege, Chirurgie, freiwillige Ent-
schönem«, diese Standhaftigkeit bewegt mich aufs tiefste. stellung, heiße und kalte Douchen, Bäder in Milch oder
Seinen Körper unsinnigen Forderungen zu unterwerfen, aromatischen Extrakten, Einreibungen mit Ölen, Destilla-
ihn durch unerbittliche Disziplin zu zwingen, ein inneres ten und Parfums, sorgfältigste Pflege des Haares, vielfäl-
Bild zu verkörpern, ihn um den Preis ganz phantastischer tiges und raffiniertes Schminken, ausgefallene und ent-
Opfer dahinzubringen, eine künstlerische Vorstellung zu zückende Frisuren, hochgezüchtete Nägel -nichts hat sich
verwirklichen, das ist eine großartige und schwere Auf- geändert.
gabe, und man muß den Frauen dafür Dank wissen, daß Wir haben nichts N eues erfunden. Von Helena bis Kleo-
sie sie auf sich genommen und erfüllt haben. patra und von Salammbo bis zu uns hin zieht sich die end-
Um die Wichtigkeit dieser Aufgabe zu erfassen, genügt lose Kette parfümierter Torturen.
es, sich nur vorzustellen, wie es um die Kultur stünde, was Ich denke mir manchmal aus, daß ein großer Künstler
aus der Kunst würde, und was von so viel schöpferischer das Bild unserer heutigen Sitten in Stein gemeißelt der
Aktivität übrigbliebe, wenn die Frauen plötzlich zu einer Nachwelt überliefern sollte.
unveränderlichen, unbeweglichen und endgültigen Form Um ihm Stoff zu geben, würde ich ihn eines Morgens zu
erstarrten. Antoine schicken, und er würde dort herauskommen mit
Das wäre wie eine Welt, in der die Blumen weder blühen Bildern, die er dem Stein anvertrauen würde und bei
noch verwelken, wo die Wolken nicht wandern, die Sonne deren Anblick die späteren Generationen voll Entsetzen
stille steht, die Wasser schweigen und die Winde anhalten. sagen würden: »Sie waren wirklich heroisch!«
Das wäre wie eine Welt voll Monotonie, voll dumpfer Da sähe man die zum Schönwerden Verurteilten in
Betäubung und Langerweile. Reih und Glied nebeneinandersitzen, den Kopf unter einen

116 117
riesigen Stahlhelm gezwungen; ihre Hände überlassen sie Um das zu erreichen, hat ein Menschenfreund folgende
einer weißgekleideten Pflegerin, vor ihnen kauert eine Speisekarte aufgestellt:
Wärterin, die den einen Fuß bearbeitet, während der an- Montag: eine Pfefferminzpastille
dere in einem viel zu kleinen Gefäße gebadet wird.- Man Dienstag: eine Zitronenlimonade
sähe in einer kleinen Zelle zwei oder drei Frauen an rätsel- Mittwoch: eine Aspirintablette
haften Drähten an der Decke hängen, durch die ein teuf- Donnerstag: Fasten
lischer Strom hindurchfährt, der mit hundert brennenden Freitag: ein Glas Wasser
Klammem ebenso viele weiße Spulen festklemmt, in denen Samstag: Massage
die allzu glatten Haare rösten und dann erstaunlicher- Sonntag (weil Feiertag): ein Stück Kandiszucker.
weise allzu kraus wieder zum Vorschein kommen.- Dort Ich habe mich immer gefragt, ob, wenn man montags
sähe man Frauen, auf wunderlichen Sesseln hingestreckt, damit anfinge, es wohl möglich wäre, den folgenden Sonn-
hin- und hergewendet und geschaukelt, mit verbundenen tag noch zu erleben, um des unverhofften Festmahls teil-
Augen und verkleistertem Gesicht; unter Schmerzen las- haftig zu werden.
sen sie sich die Wimpem einzeln ausreißen und die echten Ich habe Frauen gekannt, die, wenn sie auch nicht ge-
freudig durch falsche ersetzen!- Braune Köpfe unter wei- rade diese äußerste Diät befolgten, sich doch bis zur Qual
ßem Brei sähe man wie durch Zauberspruch blond wieder und bis zu gefährlichster Entkräftung der Nahrung ent-
zum Vorschein kommen und blonde aus braunem Schlamm hielten.
rothaarig und strahlend wieder auftauchen ... Das ist Wahnsinn! So nützlich es ist, gegen beunruhi-
gendes Dickwerden durch Turnen und vernünftige Ent-
Still und folgsam schritten die Frauen auf jenem Bilde haltsamkeit anzukämpfen, so wenig darf man anderseits
von einem Raum zum andem, gingen aus einer erfahre- die allerwesentlichsten Vorbedingungen der Schönheit,
nen Hand in noch erfahrenere Hände über, litten schwei- nämlich seine Gesundheit und sein Wohlbefinden, aufs
gend und warteten geduldig, in der Hoffnung, für eine Spiel setzen.
kurze Zeit wenigstens noch schöner und jünger zu sein. Ich finde, wir sollten auch den Männem gegenüber die
Freimütigkeit haben, nach Herzenslust zu essen; das ist
Das »Schönheitsideal« unserer modemen Zeit ist recht das Zeichen eines fröhlichen Charakters und eines kräf-
schwer zu verwirklichen. tigen und gesunden Körpers.
Breite, gerade Schultern, kindliche Brust, alles, was sich Die Frauen, die immerzu von den selbstauferlegten Be-
unterhalb der Taille befindet - wie ich mich diskreter- schränkungen sprechen, verursachen mir immer - obschon
weise ausdrücken möchte - muß völlig flach sein. Das }, die Schönheit ihr Beweggrund ist- ein gewisses Unbeha-
1

Ganze äußerst schlank, um nicht zu sagen dürr. gen, und ich bin manchmal versucht, mich zu fragen, ob

118 119
das alles wahr ist. VVenn solche Opfer unbedingt notwen- Deines Kleides, Dein Gesicht verschwindet in hundert
dig sind, sollten sie sich nur in strengster Vertraulichkeit Salbentöpfchen und geht nicht mit Dir zu Bett.«
vollziehen, ganz im Geheimen, und man sollte niemals da- Dieses Bild hat nichts Verführerisches ... und ich habe
von sprechen. Diese diskrete Enthaltsamkeit läßt außer- sagen hören, daß wir manches Gericht ohne Appetit essen
dem die Vermutung zu, daß man ohne Anstrengung, ganz würden, wenn wir die Küche gesehen hätten.
von Natur, wunderbar schlank sei.
Übrigens glaube ich auch nicht an eine entscheidende Um Charme zu haben, muß die Schönheit natürlich er-
vVirkung des Hüftgürtels. Man verlange von ihm nicht scheinen, ich möchte geradezu sagen, wahr-scheinlich. Die
mehr, als er geben kann. vVenn er auch unsere Linie ver- allzu sehr zurechtgemachten Frauen sind niemals wirklich
edelt und verbessert wie die zarte Retusche den photogra- elegant, sie haben immer etwas Gekünsteltes an sich, das
phischen Abzug, so läßt er doch nichts verschwinden, was ihnen die lebendige Beweglichkeit nimmt, die erste Bedin-
da ist! Man sollte nicht damit rechnen. Er verschiebt be- gung jugendlichen Aussehens. Sie handeln den Regeln der
stenfalls eine gewisse Fülle, die dann anderswo zum Vor- Harmonie entgegen und sind daher dauernd in Gefahr,
schein kommt. Wenn er wirklich zu fest wird und man von
ihm ein unmögliches Zusammenpressen verlangt, kommt
höchstens eine steife Silhouette zustande, die den Gang
verdirbt und ... niemanden täuscht.
Die Arbeit an uns selbst und die Verschönerungskünste
I
~
falsche Noten anzuschlagen.
Ich bin weit entfernt von dem Gedanken, man solle
keine Anstrengungen machen, an sich zu verbessern; aber
man muß die Grenze genau kennen, an der die Anstren-
gungen das Gegenteil von dem bewirken, was sie erstreben.
müssen verborgen bleiben. Je wichtiger sie sind, um so Es ist zwar unbedingt erforderlich, daß man seinen Teint
mehr muß man sie verschweigen. Die Frauen, die sie nicht pflege, und es ist notwendig, ihm eine gesunde, einfache
nötig haben, stellen das den andern gegenüber mit einer Behandlung angedeihen zu lassen, aber wir sollten nicht
gewissen Bosheit fest, und was die Männer angeht ... las- der falschen Verlockung nachgeben, Cremes, Milch, Alko-
sen wir ihnen wenigstens noch einige Illusionen! hol und adstringierende Wasser alle übereinander anzu-
Unsere Freundinnen genauestens aufzuklären über den wenden oder zu hoffen, auf dem Grunde eines jeden Sal-
Gebrauch der Lockenwickel, über unsere Gesichtscreme bentöpfchens ein neues Wunder und in jeder Tube eine
oder unser Enthaarungsmittel, scheint mir nicht besonders neue Schönheit zu entdecken. Schließlich rächt sich die
klug. arme gequälte Haut und bedeckt sich mit Pickelchen und
Wir wollen es nicht machen wie jene Römerinnen, von Rötungen, trocknet wie Rinnsale im Sommer oder wird
denen schon Martial grausam sagte: »Während Du zu fettig.
Hause bleibst, lassen sich Deine Haare jenseits des Tiber Eines Tages interviewte mich die Leiterin eines Schön-
kräuseln, Du entledigst Dich nachts Deiner Zähne wie heitssalonsund frug mich in strengem Ton: »Was tun Sie

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für Ihre Haut?« Ich war etwas verdutzt, und es fiel mir Gelbsucht? Warum diese entstellten Lippen, die das Lä-
nicht gleich die rechte Antwort ein. Ich gestand, daß ich cheln zur Grimasse machen? Warum blaue Ringe um die
mich abends ganz einfach mit Vaseline abschminke und Augen, was nach Alter und gequälten Nächten aussieht?
mich morgens energisch mit kaltem Wasser wasche. Sie Warum diese schiefen Brauen, die Bosheit vortäuschen, die
sah mich betrübt und mißbilligend an. Da sie mich aber gar nicht vorhanden ist? Warum der Unschuldsblick dieser
nicht endgültig aufgeben wollte, hielt sie mir einen Ret- künstlichen Wimpern, die um den Blick herumspazieren
tungsanker hin: >>Und dann?« frug sie. >>Dann trage ich wie zittemde, langbeinige Spinnen?
etwas Creme auf und darüber den Puder ... «
Ich war verloren! Sie beugte sich unwillig zu mir hin, , I Auch die Haare verlieren ihre natürliche Weichheit,
sah mich forschend an, richtete sich wieder auf und sprach ihren Glanz und ihr Leben, wenn sie dauemd gefärbt, ent-
ihre Verurteilung aus: »Mit fünfzig Jahren wird Ihnen färbt, wieder gefärbt, gekräuselt und wieder glattgezogen
das sehr teuer zu stehen kommen.« Ich atmete auf. Ich werden. Sie sitzen auf unserm Kopf wie ein Helm, sie ha-
hatte noch eine beträchtliche Gnadenfrist vor mir ehe ich ben keine Verwandtschaft mehr mit der Farbe unserer
Schadenersatz und Zinsen für meine guten Jahre zu ' zahlen Augen, sie wissen überhaupt nicht mehr, daß sie zu uns
haben würde. gehören, sie sind entwurzelt ... und verlassen uns schließ-
lich für immer. Allzu »aufgebaute« Frisuren haben etwas
Das gleiche gilt für die Schminke. Dummes, Kindisches an sich. Sie sind reizlos und völlig un-
Die Schminke ist eine segensreiche Erfindung, wir sind künstlerisch. Alle die tausend Zuckerbäcker-Locken der
ihr dauemden und uneingeschränkten Dank schuldig. Sie letzten Jahre, diese Rollen ohne Anfang und Ende, das vor-
ist wie ein erprobter Freund unter allen Umständen bereit dere Haar nach hinten, das hintere nach vorne geschlagen -
uns zu helfen, uns zu unterstützen, uns wieder aufzufri-' das linke nach rechts, das rechte nach links - ohne daß vom
schen, unsere Niederlagen zu verschleiem, unsere Küm- Wuchs, der Wurzel des Haares und seiner natürlichen Be-
memisse zu verbergen, unsere schlaflosen Nächte zu leug- wegung überhaupt noch etwas zu erraten ist. Das alles
nen, uns die wohltuende Illusion der Gesundheit zu schen- macht vielleicht der Phantasie und dem Können der Fri-
ken. Sie ist wie eine ergebene stille Dienerin, die immer seure alle Ehre, kaum aber dem weiblichen Geschmack.
zugegen ist, nie versagt und uns nie im Stich läßt. Strähnen und Unordnung sind scheußlich, aber man
Warum nun aber diese Verkleisterungen, unter denen muß dem Haar eine gewisse lebendige Freiheit lassen, es
man das Leben der Haut nicht mehr spürt? Wozu diese darf nicht tot und gekünstelt wirken; Luft und Wind müs-
Schicht, unter der man die tausend feinen Äderchen und sen es beleben, Kamm und Bürste leicht hindurch können.
das Hautgewebe nicht mehr erkennt? Warum diese krank- Das Haar sollte immer den Eindruck erwecken, als habe es
hafte Blässe, die braune Schminke, eine Schwester der genügt, einmal mit dem Kamm hindurchgefahren zu sein.

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Es wirkt immer etwas lächerlich, "venn der Anblick einer Perlengehängen auf ihre ebenmäßigen Schultern tropft,
Frisur einem die ängstliche Frage aufdrängt: » vVie wird sehnsuchtweckende Parfums orientalischer Spezereien, her-
man dieses Gebäude je wieder hinbringen?« ber, trockener Geruch glühender Felsen, wilde und starke
Düfte der lVIeere und Wälder! ...
Für make-up, Silhouette und Frisur gilt das gleiche: Der ganze lange Zug der Götter und Helden durch die
alles, was hart, steif oder unförmig ist, macht alt. Und alles, Geschichte ist eingehüllt in duftende Wolken, und noch
was weich, einfach und natürlich ist oder so wirkt, macht immer werden dem Heiligen Opfergerüche dargebracht.
Jung. Alle Orte und alle Wesen lassen ein duftendes Erinnern
Mir scheinen die Linien, die die natürliche Harmonie ihrer selbst zurück, und noch aus der Ferne ruft uns ein
bewahren, am verläßlichsten, und wir sollten wissen, daß Duft ihre Gegenwart wieder herbei.
diese Harmonie, die sich in uns widerspiegeln muß, aus der In den kleinen Marktflecken von Guatemala verbrennen
ewigen Symphonie des Universums herrührt. die Indios zu Ehren des hl. Thomas Weihrauch in solchen
Zu dieser Welt der Schönheit gehören, um sie zu vollen- Mengen, daß es aussieht, als wolle der ganze Ort, in einen
den- gleich einem letzten Hauch- der leichte Schleier der unwirklichen Lichtschein gehüllt, in den Himmel auf-
Poesie, der Schimmer der Unwirklichkeit und ein zugleich steigen.
flüchtiger und beharrlicher Anruf unserer Phantasie und Pastellfarbene Schminktiegel, hingetupft in den weißen
Erinnerung: Das Parfum! Staub arabischer Märkte ... , opalisierendes Blau des Anti-
Herber Geruch üppiger Geranien in der Julisonne, leich- mon, Rot des Zinnober, schwarzbraune Augenschminke in
tes und süßes Ausströmen der Blütenbäume im April, Ruch Binsengeflecht, Weidenkörbe, in denen Tausende getrock-
der feuchten Erde am Oktobermorgen, reine und kalte neter Blüten ihren Duft aushauchen. - Persische Märkte,
Januartage, kostbare Säfte, aller Balsam der Iris von Kyzi- wo fetter Dunst zischender Fritüren sich mischt mit dem
kos, der Rosen von Phaselis, des Safrans von Zilizien, des süßen Duft des Rosenöles.
Majorans von der Insel Cos und des Lavendels aus Thra- Parfums aus Großmutters Zeiten, kleinstädtisch, ent-
kien. Und die aus Meerestiefen stammende Ambra, die zückend nach Lavendel duftend und heißen Confituren.
schwere, balsamische Myrrhe, der aufdringliche Zimt und Vergessene Parfums von Sandei und anderen kostbaren
alle Arten von Räucherdüften. Hölzern, die uns plötzlich anfallen und wehmütig stim-
Die ganze Erde ist eine einzige, unermeßliche Schale, men. Parfums, in den Lüften schwebend, köstliche und
die den Hauch ihrer Stunden und Jahreszeiten ausströmt. atemraubende Düfte, Echo des weiten Universums, einge-
Geweihte und weltliche Düfte, Düfte dämmernder Kir- fangen in einem winzigen Flacon, damit die J\1änner in der
chenräume, duftendes vVasser der Maria-Magdalena, Düfte Nähe der Frau die ganze Romantik der Welt atmen können.
nächtlicher Parks, schweres Parfum, das aus Salammbos Wie einstmals das kaiserliche Rom oder das Venedig

124 125
der Dogen, so ist heute Paris das Sammelbecken aller einmal, ehe sie ausgehen. Sie können nicht begreifen, daß
Wohlgerüche, die sich von hier in duftenden Strömen aus- das Resultat negativ sein muß. Auf einem Idealpaß müßte
breiten über alle Länder der Welt. unter »besondere Kennzeichen« stehen: Parfum - keines.
Viele Formeln und geheime Kräfte mußten zusammen- Man kann, wenn man sich durch längeren Gebrauch
kommen, um schließlich das köstliche Etwas zu ergeben, an ein Parfum gewöhnt hat, so unempfindlich werden, daß
das einen sonderbaren oder beschwörenden Namen trägt, man, um es noch zu spüren, unwillkürlich immer mehr
dem, gleich einem Adelstitel, der Name seines Schöpfers davon nimmt- nicht immer zur Freude der Umwelt.
beigegeben ist: Jicky de Guerlain, Nuit de Noiil de Caron, So kenne ich Frauen, die allein durch ihr Parfum von
Or de Coty. unserem Zimmer, unserer Wohnung, unserem ganzen
Gut parfümiert sein, ist durchaus nicht so leicht, wie es Haus Besitz ergreifen und alles ausschließen, was nicht sie
scheinen mag, denn immer muß man zwischen den Klip- selbst sind. Nichts kann sich vor ihnen retten. Sie domi-
pen des Zuviel und des Zuwenig hindurchsteuern. Es ist nieren so, daß sie auch nach ihrem Weggang immer noch
klüger, an Land zu bleiben, als sich mit einem unsicheren da sind, selbst bei geöffneten Fenstern.
Fahrzeug auf dieses Meer der Düfte zu wagen. Ich glaube, sie überschreiten damit wirklich ihr Recht.
Beim Parfum ist das Beste gerade gut genug. Tausend- Von einem Parfum sollte man nur den leisesten zarte-
'
sten Hauch spüren. Der Pelz sollte es eifersüchtig zurück-
mal besser gar kein Parfum als ein aufdringliches, das den
guten Geschmack beleidigt und als süßliche Wolke hinter halten, die Handtasche es fest verschließen und ihm im-
uns herzieht. mer nur für kurze Augenblicke erlauben, zu entweichen.
Parfum ist etwas durchaus Persönliches. Wie alles, was erlesen und köstlich ist muß es selten
flüchtig und vergänglich sein. ' '
Was einer Frau ansteht, kann für die andere unmöglich
sein. Diese wird einen starken Geruch vorziehen, jene einen Es muß mit Vorsicht behandelt werden, damit es uns
zarten Duft; manche können nur reinen Blumenduft er- unauffällig einhüllt.
tragen, während wieder andere Kompositionen lieben. Dazu Seife, Toilettewasser und Badesalz sollen ihm verwandt
ist ein ganzes, manchmal recht langwieriges Studium nötig, sein; Puder und Eau de Cologne ihm nicht schaden. Still
wenn nicht der Zufall zu Hilfe kommt. soll es in der Wäsche schlummern, in den Schränken und
Bei einer andern Frau ein Parfum zu bemerken und sich in den Tiefen der Mäntel und Kleider; es sei stets intim,
dann zu sagen »das ist gerade das, was ich haben möchte«, verborgen und überall zugegen.
das ist fast immer hoffnungslos, denn ein Parfum wirkt auf Dann wird vielleicht in der Ferne, von flüchtigstem
jeder Haut anders. Anhauch nur eben berührt, ein Seufzer geweckt, der Dir
Manche Frauen halten sich für wohlparfümiert, wenn sie gilt, und die Sehnsucht nach einem entschwundenen
sich beim Anziehen verschwenderisch besprengen und noch Traum ... Parfum, Parfum, was willst Du mir sagen?

126 127
ltAPITEL XII

Sagen Sie niemals : »Ich habe nichts anzuziehen.« Das ist I


eine dumme R edensart, mit der man sich selbst das Urteil
spricht. Im R ahmen Ihrer Möglichkeiten müssen Sie immer
I
>>etwas anzuziehen« haben.
Ob man etwas anzuziehen hat, hängt nicht von der Zahl
der Kleider im Schranke ab, sondern von ihrer Qualität,
und es ist merkwürdig, daß oft gerade die Frauen, deren
Schränke am reichhaltigsten gefüllt sind, sich beklagen,
eigentlich nichts anzuziehen zu haben.
Niemand wartet mit der Zusammenstellung des Menus
bis zu dem Augenblick, da man sich zu T ische setzen will;
aber viele Frauen ziehen die Bestellung eines Kleides bei-
nahe bis zu dem Tage hin, an dem sie es tragen wollen.
Immer gehetzt, immer in Aufregung, nie vorausschauend,
stets unentschlossen, statten sie sich im Widerspruch zur
Jahreszeit aus, und alles Unvorhergesehene bringt sie in
ausweglose Verlegenheit.
Und doch gibt es für diese schwierigen Probleme eine
sehr einfache Lösung, die darin besteht, einen »klassischen

128
Grundstock« zu besitzen. Er wird nie unmodern, er sichert
den Übergang von einer Saison zur nächsten, mehr - er
stellt die Verbindung von einer Mode zur anderen dar.
Man weiß, daß man sich in dringenden Fällen auf ihn ver-
lassen kann. Nur ausgesprochen modische Sachen zu haben,
ist unpraktisch. Sie sind zwar unentbehrlich, doch ihr
Charme ist vergänglich und läßt uns plötzlich im Stich.
Ein gutes sportliches Kostüm wird jeder Matinee und
jedem Frühstück gerecht, ein dunkles klassisches Kostüm
jedem eleganten Tee. Ein anständiger Pelz ist jeder nur
denkbaren Situation gewachsen. Wenn dann auch noch
das modische Beiwerk fehlerlos ist, werden Sie immer und
überall »etwas anzuziehen« haben, und, was noch mehr ist,
etwas, woran nichts auszusetzen ist.

Hüten Sie sich vor Pseudo-Eleganz!


Ich kenne eine Dame, die bei jedem neuen Kleid sofort
zu allihren Lieferanten läuft, um alles dazu passend ein-
zukaufen- eine ganze Heerschau ... , wagen wir ein großes
Wort: ein Ensemble. Nach langwierigen Anstrengungen ist
sie dann schließlich von oben bis unten neu eingekleidet.
Alles an ihr blitzt funkelnagelneu. Ihre Handschuhe lassen
überall noch Spuren des Talkums zurück; ihre Schuhe ver-
raten durch keine Falte, daß sie mit dem Fuß eins gewor-
den sind. Der neue Hut sitzt ihr noch nicht, und in ihrem
Kleid ist sie noch nicht warm geworden. Wenn man sie so
sieht, hört man das Seidenpapier der vielen Kartons förm-
lich noch knistern.
Tragen Sie- wenn es sein muß- neue Kleider, aber-
um der Eleganz willen - zeigen Sie es nicht! Niemand
sollte es bemerken; es bleibe ein Geheimnis zwischen Ihnen

129
und Ihrer Kleidung, gleichsam ein verschwiegenes Kom- für einen Staatsempfang zum Beispiel. Der Staatsempfang
plott. ist nun wirklich »eine Gelegenheit«. Aber dieses Kleid wird
Die Handschuhe sollten so aussehen, als kämen sie aus nur dann von einer unbestrittenen Eleganz sein, wenn es
Ihrer Schublade und nicht aus dem Laden. Ihre Hand- nicht so aussieht, als ob es nur für diesen einen Tag da wäre.
tasche müßte die Ungezwungenheit einer alten guten Ja und dann die berühmten Farben für bestimmte Ge-
Freundschaft haben. Vor allem darf es nicht so aussehen, '
legenheiten!
als ob Ihr Kleid und Ihr Hut sich staunend zum ersten l\1al Wenn das zuträfe, so wäre das doch vergnüglich: wie
begegneten. In Japan ist es Brauch, daß man die Heftfäden leicht und delikat könnte man seine Gefühle äußern:
in den Kleidern läßt, um zu zeigen, daß sie neu sind. Ich Schwarz für die Begräbnisse, das ist klar, das Rot der Lei-
fände es raffinierter, kleine Ausbesserungen vorzutäuschen, denschaft für die Hochzeiten, und warum nicht das Grün
um zu beweisen, daß sie es nicht sind. der Hoffnung zur Testamentseröffnung?
vVenn man an Ihnen ein neues Kleid bemerkt, ist es gut. Ich sehe es schon vor mir, wie bei gewissen Diners, deren
Besser wäre ein leiser Zweifel: »Habe ich es nicht schon an Ruf man kennt, alle Frauen in ein Grau der Langeweile
Ihnen gesehen?« gekleidet wären. Die Jungfrauen würden sich in Weiß zei-
gen, wie um zu sagen: »Sie sind der erste Mann, den ich
Manchmal hört man: »Das ist ein Kleid für besondere liebe.« Und müßte man dann bei gewissen Tees gewisser
Gelegenheiten«, oder: »Glauben Sie, daß es für diese be- Freundinnen nicht in Gelb erscheinen?
sondere Gelegenheit paßt?« Diese Auffassung ist falsch; Nein. Nehmen wir doch diese sogenannten besonderen
sie stört unser Wohlbehagen, denn sie bedeutet einen Ein- Gelegenheiten nicht so wichtig. Besiegen wir ihre Steif-
bruch in die Intimität unseres Lebens. Ich habe natürlich heit durch selbstsichere Ungezwungenheit; sie sollten sich
gut reden, denn sie bestehen doch nun einmal, »diese Ge- uns anpassen und nicht umgekehrt, damit wir nicht hin-
legenheiten«. Auch ich kann mich gewissen Tatsachen terher denken: das war mal ein schön verpfuschter Tag.
nicht verschließen. Man kann an einem Begräbnis nicht Schöne Tage sind selten, und wir sind nicht reich genug,
in Spinatgrün teilnehmen, noch ein Abendkleid in der sie zu vergeuden.
Bahn tragen oder im Nerzmantel seine Rosen schneiden.
Maskenbälle ausgenommen, die eine grausame Erfin- Wenn jemand das Kleid oder den Hut einer Freundin
dung und ein schrecklicher Prüfstein für unsere Phantasie lobt, so sagen Sie nicht - auch wenn es zutrifft -: »Das
sind, ich sage: Maskenbälle ausgenommen, darf man nie- gleiche habe ich schon vor einem Jahr getragen.« Das
mals so aussehen, als trüge man ein Kleid für eine be- würde man Ihnen als Eifersucht auslegen, und es würde,
stimmte Gelegenheit. Das will nicht heißen, daß es manch- was schlimmer ist, nur verraten, daß man Hut und Kleid
mal doch nötig ist, sich ein besonderes Kleid zu bestellen - damals an Ihnen nicht bemerkt hat.

130 131
Sich über seine Verhältnisse zu kleiden, ist gefährlicher, e1n entzückendes weißes oder hellblaues Kleid machen
als sich zu einfach zu geben. Ein Zuviel wird immer nach ließen und daß Sie, als es dann zu regnen begann, doch
Bluff aussehen, ein Zuwenig könnte noch als Bescheiden- nicht widerstehen konnten, es anzuziehen und es zu zeigen?
heit durchgehen. Manche Frauen möchten sich um jeden Oder daß Sie ein großes Abendkleid für ein Fest bestellten,
Preis eine gewisse Note geben. Sie vergessen, daß man sich das abgesagt wurde, und daß Sie dieses Kleid dann zu einem
eine solche Note weder geben, noch sie kaufen oder erwer- kleinen Diner trugen, einfach, weil Sie dem Zauber seiner
ben kann. Man hat sie oder man hat sie nicht. Alle V er- Neuheit erlagen?
suche, sie sich zu geben, gehen im allgemeinen im Lächer- Jedesmal haben Sie einen doppelten Fehler begangen:
lichen unter. Scheinen wollen, was man nicht ist, wirkt im- Man mußte Sie für eine falsch angezogene Frau halten,
mer komisch, um so mehr, als man meist den Typ sucht, der und außerdem haben Sie vVirkung und Charme Ihres Klei-
dem eigenen entgegengesetzt ist. Es gibt solide bürgerliche des vertan. Denn die eigentliche Wirkung eines Kleides
Frauen, die krampfhafte Anstrengungen machen, exzentri- liegt nicht in ihm allein; sie entsteht, wenn es gelingt, die
schen Stars zu gleichen. Andere mit entzückenden und lie- Atmosphäre einer flüchtigen Stunde auszudrücken in dem
benswerten Gesichtem wollen dramatische Vamps vorstel- wohlgelungenen Zusammenklang von Frau, Kleid und
len. Gesunde Jugendfrische schminkt sich auf morbide Bläs- Umwelt. Das Kleid soll sonniger sein als die Sonne selbst,
se. Die Früchte dieses bizarren Aufpfropfens bleiben immer festlicher als das Fest. Und ein schöner Tag kann in der
bitter. Die augewandten Mittel sind meist recht kindlich. Erinnerung nach Jahren noch durch den Anblick eines
Es kann gar nicht toll genug sein; ockerfarbene und Kleides heraufbeschworen werden.
grüne Schminke, dunkelumränderte Augen, entstellte Nur auf diese Weise gewinnt ein Kleid seine wahre Be-
Münder, lang flattemdes Haar, die Locken der Medusa, deutung.
verrückte Hüte, zu eng anliegende und zu kurze Kleider.
Her mit allem, was auffällt, was schreit, was heult ... ! Wir Sorgfältig sein, ist eine sympathische Eigenschaft. Sorg-
wollen Talmi! Wir wollen, daß man uns sieht, daß Augen falt ist das Lächeln der Eleganz. Aber sich allzu sehr in-
und Köpfe sich nach uns umdrehen! Wir wollen uns vor achtnehmen, ist unausstehlich - das ist das Stirnrunzeln
nichts fürchten, nicht vor dem Lächeln, nicht vor der der Eleganz.
Lächerlichkeit, nicht vor dem Grotesken. Man soll ruhig Nichts ist so störend wie die ständige Sorge vor Knitter-
von uns sprechen; man soll nur über uns grinsen, sich an- falten und Flecken. Es gefällt mir, wenn Frauen ihre Gast-
stoßen mit Ellbogen undKnien undmitdenAchseln zucken! geberin freimütig um einen andern Stuhl bitten, weil das
Was geht uns das an! Rohrgeflecht ihres Stuhles sich auf ihrem Samtkleid ab-
Ist es Ihnen nicht schon einmal vorgekommen, daß Sie zeichnen könnte. Ungemütlich dagegen finde ich die, die
sich für den sonnenheißen Nachmittag eines Pferderennens lieber nichts sagen und den ganzen Abend ängstlich auf der

132 133
Kante des gefährlichen Stuhls herum balancieren. Die einen sein, isoliert, beherrschend, frei und ungezwungen. Jede
sind frei und ungezwungen, die andem gehemmt im Um- noch so gut gemeinte Ergänzung bringt sie um.
gang mit Menschen und Dingen. Die Extravaganz ist etwas Erlesenes und Geistiges; nur
zu leicht wird sie zur Karikatur und Verkleidung. Die feine
Manchmal hört man bei der Modistin den Stoßseufzer: Extravaganz ist ebenso weit vom Lächerlichen entfemt wie
»Ich habe mir gerade ein tolles Kleid machen lassen und das Poetische vom Pathetischen, sie ist Sublimierung eines
nun brauche ich einen tollen Hut dazu, aber ich kann ihn Raffinements, niemals seine Deformierung.
einfach nicht finden.« Ich möchte dann der Verkäuferin die Es ist nicht jeder extravagant, der es sein möchte. Um es
Antwort zuflüstern: »Je einfacher der Hut, gnädige Frau, zu sein, muß man gleichzeitig Sinn für das Maß wie für
desto besser wird er zu Ihrem Kleid passen.<< das Paradoxe haben, Geschmack für das Neue und Abnei-
Es ist manchmal sehr schwierig, den Frauen klar zu gung gegen das Lächerliche, Kühnheit und Urteilsfähig-
machen, daß man zwei sehr auffallende Dinge nicht gleich- keit; man muß beschwingt sein und dennoch im Gleich-
zeitig tragen soll und nicht tragen darf. Die Aufmerksam- gewicht bleiben.
keit kann sich nicht zu gleicher Zeit auf zwei verschiedene Seit einiger Zeit werden alle Fehler, alle Irrtümer, alle
Stellen konzentrieren. Zum exzentrischen Kleid der ein- Verderbtheiten, alle Absurditäten, jegliches Fehlen von
fache Hut, zum exzentrischen Hut das einfache Kleid. Zum Geschmack und Harmonie, alle Verirrungen, jeder Wider-
auffallenden Schmuck ein stilles Kleid, zum ungewöhn- sinn, sämtliche Dummheiten »Extravaganz« getauft. Bei-
lichen Kleid klassisches Zubehör. nahe jede Frau wollte extravagant sein, um sich dadurch
Diese Einsicht ist grundlegend und erlaubt keinerlei eine kleine persönliche Note zu geben. Daraus ist ein wüstes
Diskussion.
Durcheinander entstanden, in dem der Geschmack beinahe
Die Wirkung des Außergewöhnlichen wird niemals untergegangen wäre. Wir wollen es den wenigen wirklich
durch gehäufte Effekte erreicht, sondern durch einen ein- extravaganten Frauen danken, daß sie sich während dieser
zigartigen Effekt, der durch die Neutralität des übrigen Zeit vom Kampfplatz fernhielten und in erlesener Schlicht-
noch unterstrichen werden soll. heit abwarteten, bis diese allgemeine Sucht sich erschöpft
Die Extravaganz erreichen wir nicht durch Summieren hatte. Damit haben sie die Extravaganz verborgen und für
und Komplizieren, denn sie ist- so seltsam das auch klingen bessere Stunden bewahrt.
mag - die Tochter der Einfachheit. Sie entsteht aus einem
ungewöhnlichen Kontrast, einer überraschenden Propor- vVenn Sie im Hut besser aussehen als ohne Hut, so er-
tion, einem unmerklichen Detail, einem zweckvollen Über- klären Sie dennoch nicht bei jeder Gelegenheit: »Ich bin
treiben oder Weglassen, einer veränderten Körperlichkeit. ein Hut-Typ.« Lassen Sie doch den andem das Vergnügen,
Aber sie muß, um es noch einmal zu sagen, einzigartig es zu bemerken und es Ihnen zu sagen. Glauben Sie aber

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nicht, daß, weil Hüte Ihnen gut stehen, Sie sie dauemd sich gewöhnen, es zähmen und beherrschen, denn sonst
tragen müßten. Die hierdurch verursachte Gleichförmig- wird es sich durch tausend kleine Eigensinnigkeiten und
keit ermüdet; niemand wird es mehr sehen, daß Sie Hüte Unbequemlichkeiten rächen.
gut tragen können. Zeigen Sie sich auch einmal ohne Hut, Scheuen Sie sich niemals vor einer derben, sportlichen
damit das Auge, immer wieder überrascht, Gelegenheit Kleidung, wenn sie bequem ist und zum Wetter paßt; aber
findet, Sie zu bewundem. vermeiden Sie unbedingt lästige Geziertheiten wie hohe
Tragen Sie Ihren Schmuck nicht nur, um ihn zu zeigen. Absätze bei Regen und Sturm, wie Silberfuchs und
Er soll da sein, natürlich und ungezwungen und sich Schmuck am frühen Morgen, und tragen Sie weiße Hand-
manchmal sogar ein wenig verstecken. Er darf nicht blen- schuhe und Pumps nur zur entsprechenden Tageszeit.
den, er soll nur Freude machen.
Auch das schönste Kleid kann nichts verbergen. Wie mit
Manche Frauen sehen immer so aus, als trügen sie Klei- Röntgenstrahlen sieht das erfahrene Auge hindurch; es
der, die ihnen nicht gehörten. Nicht daß diese Kleider ihnen entdeckt den verdrehten oder nicht ganz tadellosen Träger,
schlecht säßen, zu groß oder zu klein wären. Es ist viel den schlecht sitzenden Strumpf, die geschmacklose Wäsche.
schlimmer; obwohl tadellos, haben sie doch einen großen Auch die Dessous müssen in Ordnung sein. Bitte nicht zu
Fehler, den keine Retusche jemals beheben könnte: sie viele Farben, noch überflüssige unechte Spitzen . . . Aber
scheinen ihren Trägerinnen immer fremd zu bleiben. Sie ich merke, daß ich mich in Dinge mische, die mich nichts
f
assimilieren sich nicht, bleiben äußerlich, wie auf eine angehen und die von meinem Thema abweichen. Ich
Puppe aufgesteckt. I schreibe über die Kunst, sich anzuziehen, und nicht, sich
!
'
Zwischen dem Kleide und der Frau stellt sich nur selten auszuziehen!
jene ungezwungene Vertrautheit ein, die Menschen von
Qualität eigen ist. Kleider und Zubehör müssen immer wie Es gibt zwei Arten von Bluff. Glauben machen, daß ein
alte Freunde behandelt werden, niemals wie zufällige Be- Kleid von einer kleinen Schneiderin aus einem großen
kanntschaften. Der Handschuh sollte der Freund der Hand Hause komme, und umgekehrt. Beides kommt vor, je nach-
sein, der Schuh erprobter Gefährte des Fußes, die Finger dem ob eine Frau ihren Freundinnen mit Reichtum im-
müssen ohne Hilfe der Augen den vertrauten Verschluß ' will, oder mit ihrer Geschicklichkeit.
panieren
der Handtasche wiederfinden. Das Decollete darf niemals
Grund zur Sorge sein. Der Gürtel soll seinen Platz von sel- Es kommt der Tag, da man sich jünger anziehen muß,
ber finden und der Hut auf dem Kopfe sitzen, ohne daß um es noch zu scheinen. Bald danach ist es besser, sich
man auf ein Wunder hoffen müßte ... Ein Kleid, das man weniger jugendlich anzuziehen, um es um so mehr zu
gerade zum erstenmal angezogen hat, muß man sofort an scheinen.

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Wie soll man sich erklären, daß das gleiche Kleidihnen Bedenken Sie in Ruhe die Ratschläge der Verkäuferin
am Montag ausgezeichnet stand und Ihnen am Dienstag und der Direktrice, folgen Sie ihnen nicht blindlings, aber
nicht mehr so gut gefällt? Das liegt daran, daß Sie und das schlagen Sie sie auch nicht einfach in den vVind. Seien Sie
Kleid voller Leben und vVechsel sind. Werden Sie nicht un- streng, genau und unerbittlich, vor allem aber gegen sich
geduldig, warten Sie bis zum Mittwoch und hoffen Sie, daß, selbst. vVenn Sie mit unbedingter Leidenschaft das Voll-
wenn Sie es dann wieder anziehen, die Harmonie sich von kommene suchen, so wird jeder das verstehen, es respek-
neuem einstellt. tieren und sein möglichstes tun, Sie zufriedenzustellen.
Damit Ihr Kleid als etwas Vollkommenes aus dem Anprobe-
Wenn Sie ein Kleid mit Vergnügen tragen wollen, so be- raum hervorgehe, müssen Sie an seiner Schwelle alle
trachten Sie seine Anschaffung als eine ernste Angelegen- Passionen zum Schweigen bringen und in den Tempel der
heit. Eitelkeit frei von Eitelkeit eintreten.
vVenn Sie einkaufen möchten, bringen Sie nicht eine
Schar plappernder Freundinnen mit, die Ihre Aufmerk- Um gut angezogen zu sein, sollte man mehr als Phan-
samkeit nur ablenken und Ihre Wahl stören. Kommen Sie tasie haben, geradezu die Gabe des zweiten Gesichts. Man
nicht mit Mutter, Tante und Cousine, die unaufhörlich muß die Atmosphäre aller unbekannten Orte vorausahnen,
schwätzen und Sie mit widersprechenden, tugendhaften an denen man für einen Tag oder ein Jahr leben wird.
und praktischen Ratschlägen überschwemmen. Eine Umgebung erraten, ihren Himmel, ihre Farbe, ihr
Kommen Sie möglichst ohne Mann, auch nicht mit Klima, ihre Weite, ihre Blumen, ihre Sonne - um durch
»Ihm«. Sein Blick ist durch seine Liebe zu Ihnen ge- die Wahl seiner Kleidung dort nicht heimatlos zu wirken,
trübt ... oder durch seine Bewunderung für das Mannequin. um nicht auszusehen wie ein Fremdling oder ein ewiger
Kommen Sie unbedingt allein. Outsider: das ist nicht einfach. In Paris abzufahren und in
Möglichst an einem Tag, an dem Sie ausgeglichener, Stockholm anzukommen, oder in Kairo, in New York oder
aber nicht allzu froher Stimmung sind- und Ihnen nichts gar in Clermont-Ferrand, ohne Mißgriff in der Kleidung,
gegen den Strich geht. Auf diese Weise werden Sie bei und überall sich heimisch zu fühlen, dazu gehört mehr als
Ihrer Wahl die gefährlichen Klippen des Optimismus und man glauben könnte.
des Pessimismus vermeiden. Prüfen Sie vorher Ihren
Schrank und Ihr Gewissen, um die Fehlgriffe im einen und Zwei kleine Schwestern 1n gleichen Kleidchen, Wie
die Vorwürfe des andern zu vermeiden. Seien Sie in Ihrer reizend - zwei heranwachsende Schwestern in gleichen
VVahl aufmerksam und unparteiisch, hüten Sie sich vor Kostümchen, schon bedenklich. - Zwei erwachsene Schwe-
gefühlsmäßiger Begeisterung ebenso wie vor unbegrün- stern in gleichen Kleidern, nur lächerlich! Warum ver-
deter Abneigung. Seien Sie Richter und nicht Advokat. schiedenenWesenuniforme Kleidung aufzwingen? Warum

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dieses Duplikat, das einmal die ältere und ein andermal Auf griechische Säulen das Dach einer J\'Ioschee setzen
die jüngere begünstigt? Warum muß jede abwechselnd und irgendwo noch ein gotisches Portal anbringen, das
die mißlungene Kopie der andern sein? Dieser zweimalige :I mag vielleicht sehr originell sein, aber harmonisch nie-
Effekt reizt zum Lachen. Es ist durchaus keine gute Idee, mals.
zwei Töchter zu den Pendants des mütterlichen Mittel-
stücks zu machen. Ist es nötig, der Öffentlichkeit zu zeigen, V ersuchen Sie nicht, mit antiquierten Scherzen ein
daß sie Schwestern sind? Warum ihre Verwandtschaft aus- Lächeln hervorzurufen.
posaunen? Warum von den ersten Lebensjahren an den Vermeiden Sie es, a la mode zu sein, wenn diese Mode
Geist der Unabhängigkeit und der Persönlichkeit unter- gerade zu Ende geht.
drücken? Warum Gefühle des Herzens durch die Kleidung Kehren Sie ihr entschlossen den Rücken. Geben Sie eine
kundgeben wollen? Mode auf, bevor diese Sie verläßt, kommen Sie ihr zuvor,
damit Sie nicht nachher die Dumme sind, verraten Sie sie,
Zuerst bei der Anprobe, dann beim Anziehen: lassen Sie
ehe sie es tut. vVenn Sie des nächsten Aktes noch nicht
lieber immer etwas weg und fügen Sie nur selten etwas
sicher sind, verlängern Sie den Zwischenakt. Wenn Sie
hinzu. Ich sage zwar »selten«, aber eigentlich meine ich
nicht wissen, wohin Sie den Kampf verlegen sollen, wei-
»niemals«.
chen Sie aus auf neutrales Gebiet. Seien Sie diejenige, die
»ln der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.« Ohne
ablehnt und sich zurückhält, niemals die, die nachtrauert
weise Einschränkung kann sich niemand gut anziehen.
und sich verbohrt.
Das Überflüssige ist eine Gefahr, das Übermaß eine Ver-
suchung, das Überladene ein Laster. Erst aus klugem Ver-
Es gibt Frauen, die von sich sagen, daß sie jeden Tag
zicht erwächst die reine Linie.
anders aussehen. Sie sprechen davon wie von einer sonder-
Begehen Sie nicht den Fehler, den Ärmel von Evocation, baren Krankheit, von etwas Erstaunlichem oder etwas
denAusschnitt von Matinale, den Rock von Premier Voyage Peinlichem. Sie werden enttäuscht sein, aber es geht ihnen
und den Stoff von Me Voila haben zu wollen, um sich dann nicht allein so - Männer können auch so sein, und zwar
nachher zu beklagen und erzürnt festzustellen, daß dieses nicht nur äußerlich.
sonderbare Gebilde in keiner Weise mehr dem Modell Es gibt glückliche Tage, an denen unser Organismus auf
gleicht ... Dem Modell? Welchem Modell denn? Von einem dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit ist. Diese Tage
»Modell« kann nicht mehr die Rede sein. der völligen Harmonie sind auch Tage der Schönheit.
Ein Kleid muß ein architektonisches Ganzes sein, das Keine Wolke verschleiert die Augen, nichts Trübes nimmt
man nicht auf gut Glück auseinandernehmen und wieder der Haut ihre Frische, keine verdächtige Falte, kein Anflug
zusammensetzen kann. von Müdigkeit beeinträchtigt uns. Herrlich! Aus diesem

140 141
In solchen Augenblicken geschauten Bild muß man den mit einem wohligen Gähnen aus ihrer Lethargie, sie rich-
Mut schöpfen, die schlechten Tage zu ertragen und ver- tet sich auf, prüft sorgfältig jeden ihrer Muskeln, und wenn
suchen, auch durch die vVillenskraft das Auf und Ab der alles in Ordnung ist, springt sie mit einem einzigen Satz in
Natur auszugleichen. Diesem schönen Bild muß man die die Existenz zurück. Niemals tritt sie aus dem Dunkeln ins
Treue halten, täglich sollte man es neu aufleben lassen und Helle, ohne ihre großen, sanften braunen Augen durch
es niemals verraten. ein Blinzeln zu schützen. Wenn ich mich einmal zufällig
Natürliche Schönheit ist ein seltenes \Vunder, unver- mit ihrer Morgentoilette verspäte, so fordert sie sie nach-
hofft und unverdient. »Trotzdem« schön zu sein, ist ein drücklich von mir, ohne es je zu vergessen. Sie kennt das
Wunder des Willens. Ritual des Bades, und obschon sie es eigentlich haßt, unter-
Dem Tage gewachsen sein ... Geheimnis zwischen un- wirft sie sich ihm mit ernstem Anstand, in der festen Über-
serm Spiegel und uns. zeugung, daß es ihr und ihrer Schönheit heilsam sei. Ge-
Variabel sein können ... heißt heute schöner sein als trocknet, gebürstet und nach einem zwei- oder dreimaligen
gestern und morgen schöner als heute. kräftigen Niesen geht sie geradeswegs zum Spiegel und
unterzieht sich einer aufmerksamen Prüfung; den Kopf
Jede Stunde fordert von uns, daß wir etwas Bestimmtes ein wenig geneigt, betrachtet sie sich sorgfältig, und plötz-
tun und etwas anderes lassen. In dieser Beziehung sind die lich lächelt sie ... wirklich, ich weiß es genau, sie lächelt ...
Tiere viel klüger als wir. Manchmal nehme ich mir ein und um alles zu gestehen, möchte ich sagen, daß sie mir
Beispiel an meiner Hündin und betrachte ihr Leben mit dabei kurz zublinzelt wie einem Komplizen, was sie aber
Bewunderung. Sie ist eine hochmütige Pekinesin, von be- nicht hindert, mich in derselben Sekunde mit hochgezoge-
sonderer Arroganz und stolz auf ihr seidiges Fell. Sie lebt nen Brauen anzusehen, wie um anzudeuten: »Bitte nicht
nach sehr strengen Gesundheitsregeln, sie beachtet eine zu viel Vertraulichkeit.«
Diät, deren Rhythmus nur sie kennt, kein V erweis kann
sie davon abbringen. Die schwierige Entscheidung oder: Von zwei Übeln muß
Seit langem beuge ich mich ihrer überlegenen Einsicht. man das kleinere wählen.
Vor den Mahlzeiten treibt sie Gymnastik. Wie ein weiß- Manchmal schwanken Sie zwischen einem sehr prakti-
goldenes Phantom erscheint und verschwindet sie in allen schen Kleide, das Ihnen gut steht und einem anderen, das
Ecken, unter allen Stühlen und hinter allen Türen, aber Ihnen mehr schmeichelt, aber weniger nützlich ist. Unter
nach dem Essen weist sie jede Unterhaltung ab, sie zieht vielen Wenn und Aber seufzen Sie und fühlen eine unaus-
sich in sich zurück und schließt die Augen. Dann kenne ich bleibliche Reue schon im voraus. In einer Sekunde der
sie kaum wieder, so lang erscheint sie mir, alle Viere aus- Qual beweinen Sie das kapriziöse Kleid und trauern ver-
gestreckt auf dem Teppich! Ein wenig später erwacht sie früht um das nützliche. Sie weinen wechselweise dem

142 143
einen und dem andem nach. Ihnen ist der Gedanke, auf
das Angenehme zu verzichten, ebenso unerträglich, wie Sie
das Gefühl, eine Dummheit zu begehen, belastet. »Wofür
sich entscheiden« -sagen Sie - »wozu sich entschließen?
Helfen Sie mir, werfen Sie Ihren Rat in die Waagschale!«
Täuschen Sie sich nicht. Jeder Rat ist unangebracht und
wäre von vornherein unnütz. Denn das sind alles nur
Scheingefechte, in \Virklichkeit sind Sie längst entschlos-
sen. Die Entscheidung ist unwiderruflich gefallen, und
jede gegenteilige Meinung würde Sie nur bestärken. Ganz
besonders, wenn Sie sich selber bekämpfen mußten. Ihr
Zögern, Ihre Zweifel sind nur ein Schauspiel, das Sie sich
selber geben. Ein charmantes Theater, um etwaige Ge-
wissensbisse zu beruhigen, kurz, ein Alibi, das Sie sich
selbst anbieten.
Seien wir ehrlich, hatten Sie nicht von Anfang an das
Kleid gewählt, das Ihnen gefiel? Es wird Ihnen doch noch
praktisch und nützlich sein - selbst, wenn es das eigentlich
nicht ist ... aber das andere, das würden Sie zum Schluß
doch nur verwünschen.

\Vichtig ist es vor allem, sich selbst zu gefallen. Man


irrt sich dann weniger, als wenn man dem Geschmack an-
derer nachgibt oder sie zu blenden sucht. Im ersten Falle
ist die 'W ahl kompromißlos, streng, unparteüsch, objektiv,
im anderen hängen ihr immer Konzessionen an und ein
gewisser V erzieht.

Sagen Sie niemals aus freien Stücken und spontan einer


Frau, daß ihr Kleid schön sei, wenn Sie es schrecklich fin-
den; das hieße sie nur in ihrem Irrtum bestärken. Wenn

144
sie unbedingt Ihre Zustimmung haben will, so geben Sie
sie ihr höflicherweise, damit Sie von ihr nicht für neidisch
gehalten werden. vVenn es eine recht gute Freundin ist, die
die Wahrheit verträgt, so sprechen Sie zu ihr mit Scho-
nung; aber ich füge gleich hinzu: solche Freundinnen sind
selten.

Halten Sie sich immer vor Augen, daß elegant angezogen


zu sein eine Sache der Psychologie, der Intelligenz, des
Willens, des Geschmacks und der Phantasie ist. Es gibt
kein >>Ziehen Sie nicht dies zu dem an ... dies und das trägt
man oder trägt man nicht« - das sind leere vVorte. Alles
kann man tragen, es fragt sich nur, wann, wo und wie.
Der einzigartige Charme der Mode liegt im Unerwarte-
ten, im Phantasievollen, im Wandelbaren.
Wir wollen die Mode wahrlich nicht in Prinzipien pres-
sen, sie nicht zur Gefangenen unserer Vorurteile machen,
sie nicht an den schweren Wagen unserer Konventionen
ketten, ihre Aussicht nicht begrenzen und ihren Raum
nicht zu eng bemessen. Sie soll luftig, frivol, leicht, an-
spruchsvoll, zart, sogar diktatorisch, unverständlich, un-
logisch und undurchsichtig bleiben, wie das Schicksal. Wo
auch immer in unserem Leben wir ihr begegnen: wir
laufen ihr nach und meinen ihr vorauszueilen; ob sie uns
in die Irre führt oder ärgert, ob sie enttäuscht oder uns
Kummer macht, ob sie uns schmeichelt oder Prüfungen
auferlegt: was liegt daran!
Sie ist der Sporn, der das Pferd über die Hürde zwingt,
sie ist die Jugend für die Augen wie für die Herzen, sie ist
der Frühling, der das Eis bricht, der Phönix, der aus der
Asche steigt- sie ist toll und weise, sie ist das Leben.

145
KAPITEL XIII
Sollte sich nicht vielleicht in dieser unbewußten Abnei-
gung gegen jeden Wechsel das wahre Bild des Mannes
zeigen?
Die ewige Unruhe dagegen, der unwiderstehliche Elan
zu immer N euem, ist das nicht die Frau?
Fragen, die besser offen bleiben!
So um die Fünfzig herum beginnt der Mann, die Mode
zu respektieren, sei es um seiner Ruhe willen, sei es aus
Furcht, durch sein vergebliches Beharren im V ergangenen
alt und unelastisch zu scheinen.
Jedenfalls lobt er sie vorsichtshalber, auch wenn er ihre
Ausgefallenheiten insgeheim immer noch bedauert. Da er
Der Mann ist der Mode gegenüber konservativ. Der gegen- seiner vVirkung und seiner Eroberungskraft nicht mehr so
wärtigen mißtraut er und der gestrigen trauert er nach. sicher ist, schrickt er davor zurück, sich mit einem so ge-
Die letzte Mode liebt er erst, wenn sie zur vorletzten ge- fährlichen Gegner zu messen. Er zieht es vor, die Frau
worden ist. Der Vergangenheit bewahrt er eine lebhafte nicht vor die Wahl zu stellen, wenn er an seinem Sieg
Dankbarkeit, die Gegenwart kritisiert er, und in bezugauf zweifelt.
die Zukunft ist er skeptisch. Es ist auf die Dauer besser, in der Mode eine Verbündete
Diese seine Haltung verteidigt der Mann mit dem Hin- zu gewinnen, als ihretwegen verlassen zu werden. Lieber
weis, die Moden würden eine nach der andern immer rechtzeitig einen Vergleich schließen, als in Ungnade
verrückter, und sein Sinn für Ausgewogenheit könne sich fallen.
nur schwer daran gewöhnen. Manchmal hat er vielleicht Wenn man der Erfüllung seines Wunsches sicher ist, so
recht, aber ebensooft hat er unrecht, denn im ewigen kann man unbesorgt erklären: »Dieser Hut gefällt mir
Wechsel pendelt die Mode zwischen dem Extravaganten nicht bitte setze einen andern auf.« Wenn man aber be-
und dem rein Klassischen hin und her. ' muß, daß der Hut Herr der Lage bleibt, ist es
fürchten
dann nicht weiser, ihn gleichfalls hübsch zu finden?
Man muß sich darüber klar sein, daß der Mann, obschon So bietet die so oft gescholtene Mode den Männern eine
von Natur unbeständig, dennoch die Veränderung haßt. letzte Gelegenheit, auf ritterliche Weise zu gefallen. Wenn
Er bevorzugt gefühlsmäßig das, woran er gewöhnt ist, und die Männer sich herablassen wollten, die Mode zu bevvun-
wenn es nur auf ihn ankäme, wären wir wahrscheinlich dern, vielleicht sogar zu ihrem Fürsprecher zu werden,
heute noch bei Tierfellen und Feigenblättern ... :~, -'~~.~ , ' dann würden die Frauen, entzückt und dankbar, ihre Mei-
_{,:/l,;·cc.J ,' r f.1·1 ·

146 147
nung und ihren Rat einholen, würden sich gerne von Madame sollte sich trösten, denn Monsieur hat ihr soeben
ihnen bewundern lassen und fänden bei ihnen, und nur nur einen Beweis seiner Liebe und ... Ungeschicklichkeit
bei ihnen, die Freude einer verständnisvollen Hilfe. gegeben - diese beiden finden sich oft vereint. Er macht
l\llanches gelockerte menschliche Band könnte hierdurch sich von ihr ein bestimmtes Bild, ein Bild, das in seinem
neu gefestigt, manche unheilvolle Verstrickung glücklich Herzen wohnt, und das immer wieder neu zu sehen, zu
gelöst werden. berichtigen oder aufzugeben, ihm schwer fällt.
Bei einer Unbekannten, die ihm nichts bedeutet, nimmt
Es gibt Männer, die das Neue, sogar das Extravagante er gleichgültig irgendein flüchtiges Bild hin, das ihm ge-
gelten lassen, ja bewundern ... bei den Frauen der andern, fällt und das er alsbald wieder vergißt.
es aber bei der eigenen in Grund und Boden verdammen.
Madame hat soeben ein neues Kleid angezogen, sie er- Andere Männer wieder lieben es, mit einer auffallenden
wartet Monsieur zum Diner. Er kommt, stutzt und schon Frau zu glänzen. Sie machen aus ihr ein lebendiges Aus-
platzt er schroff heraus: »Was sind das nun schon wieder hängeschild. Sie wollen, daß man von ihr spricht, daß man
für Ärmel? Das ist ja der Gipfel des Lächerlichen. Was ihre Kleider, ihre neuestenHüte beredet und daß man das
denken sich eigentlich die Schneider? \i'\Tirklich, man kann ganze Repertoire ihrer Juwelen kennt. Sie lassen sich die-
sich nicht mehr mit den Frauen sehen lassen ... « sen Aufwand so viel kosten wie andere Männer ihre Pro-
Sie gehen trotzdem aus ... Er ist sehr verstimmt und sie spekte und Plakate.
auch. Die Unterhaltung schleppt sich hin. Lustlos wird Er gesteht ihr nicht das Recht zu, ihm die Freude eines
bestellt. Von Hummer und Whisky besänftigt, sieht Mon- großen Entrees zu verderben.
sieur wieder rosiger. Er schaut sich im Raum um, macht An dem Grad des durch ihr Kommen erregten Auf-
Madame auf ein schwarzes Kleid aufmerksam: sehens kann man ablesen, wie sie eingeschätzt werden. Der
»Dort bei der Säule. Kannst Du es sehn?« l\llann ist ihr dankbar für die Wirkung, die sie erzielt, er ist
»Na und?« fragt Madame, immer noch in Verteidigung. stolz darauf und auch ein wenig beunruhigt. Er ist glück-
»Nun, das Kleid ist doch reizend.« lich, in ihr und durch sie seine Macht und seine Freigebig-
»Na, das ist ja allerhand; siehst Du denn nicht, daß das keit zur Schau stellen zu können. Er wünscht und verlangt
meine Ärmel sind, genau meine Ärmel, die Du eben noch ihren Erfolg, und doch ist ihm nicht restlos wohl dabei.
so lächer lieh gefunden hast? !«
Monsieur hat es die Sprache verschlagen, er fürchtet, Nur einer kleinen Elite angehörig sind die Männer, die
seine Sache noch zu verschlimmern, die schon schlecht steht; so großzügig und selbstlos sind, daß es sie mit stillem,
Madame fühlt sich gekränkt. Auf beide legt sich der Schat- ungetrübtem Glück erfüllt, wenn ihrer Frau durch auf-
ten einer Verstimmung ... richtige Bewunderung eine Huldigung zuteil wird. Sie

148 149
legen dadurch ein untrügliches Zeugnis ab für vollkom- Wenn ein Mann zu sehen versteht, dann sieht er mehr
menes Einvernehmen und vertrauende Liebe. und besser als irgendeine Frau. Es kommt daher öfters vor,
Es liegt etwas sehr Rührendes in der steten Sorge, mit daß eine Frau, die in ihrem Mann den richtigen Regisseur
der manche Männer ihre Gefährtin umgeben. Ganz dun- gefunden hat, außergewöhnliche Eleganz erreicht, eine
kel nur und kaum, daß sie es sich einzugestehen wagen, Haltung und Anmut, die man ihr früher nicht zugetraut
ahnen sie doch, daß der Schönheit ihrer Frau etwas mangelt. hätte.
Sie versuchen dann, bei Schneiderinnen und Modistinnen Wenn solch eine glückliche Verbindung zu Ende geht,
dieses gewisse Etwas, das ihnen vielleicht fehlt, in Gestalt so findet man nach einigen Jahren, manchmal auch schon
von Kleidern und Hüten zu kaufen. Ihre Geduld ist un- nach wenigen Monaten, eine Frau, die man kaum wieder-
ermüdlich und ihre Großmut unversiegbar. erkennt: unscheinbar und von niemand beachtet. Mit star-
Für Sie ist nichts schön genug und nichts zu kostbar. ker Hand hatte der Mann sie gehalten und getragen. Nun,
vVenn der Erfolg ihren Anstrengungen nicht entspricht, da diese Stütze ihr plötzlich fehlt, fällt sie auf ihr eigent-
sagen sie sich in Bescheidenheit, daß sie es waren, die liches Niveau zurück und versinkt in Mittelmäßigkeit.
nicht das Richtige ausgesucht hatten, und mit noch grö-
ßerem Eifer und Scharfsinn fangen sie immer wieder von Vom Manne, der den neuen Hut nicht mehr sehen wollte:
vorne an. Der Diplomat: »Ja, er ist schon hübsch, eigentlich ent-
Ich wünschte, daß dieser Glaube ihnen bewahrt bliebe zückend, aber der von neulich, der war ein Meisterstück,
und daß sie nie aus ihrem Traum erwachen möchten. und den solltest Du öfter tragen.«
Der Durchtriebene: »Reizend der kleine Hut! Aber
Manchmal, wenn ein gar zu sparsamer Mann eine Frau hatte nicht Marie-Laure den gleichen gestern beim Ren-
zu ihrem Schneider begleitet und sie ihn nach endlich nen auf?«
getroffener Wahl um seine Zustimmung bittet, scheint Der angeblich Zerstreute: »Aber Liebste, warum trägst
er einen Augenblick zu zögem und sagt dann: »Ja, das Du denn das Hütchen vom letzten Jahr?!«
Kleid ist sehr gut, tatsächlich sehr schön ... aber glaubst Du, Der Philosoph: »Nun, man kann es nicht wissen ... er
daß Du es wirklich nötig hast? Bist Du denn nicht auch in ist vielleicht doch sehr hübsch!«
Deinem letzten schwarzen Kleid immer und überall die Der Snob: »Nicht mal schlecht, Dein Hut, aber ist Deine
Schönste?« Modistin nicht doch schon ein wenig passee?«
Er wird vielleicht das unverdiente Glück haben, daß Der Ästhet: »Er ist chic, Dein Hut, aber findest Du
dies sogar wahr ist, und daß seine Frau, dankbar für dieses nicht, daß er die Linie Deiner Nase betont?«
anerkennende Wort, nachsichtig überhört, aus welchem Und der Aufrichtige ruft aus: »Aber Liebstes, der Hut
Gefühl heraus es gesagt wurde. ist ja schauderhaft, setz ihn ab, ich bitte Dich.«

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Ach, er ist der einzige, dessen Erfolg nicht ganz sicher dest Du mein Kleid?<< treuherzig antwortet: »Es ist entzük-
ist. .. kend «,findet die Frau, daß er Geschmack hat. Wenn er aber,
nicht weniger treuherzig, sagt: »Mir gefällt es nicht<<, so
Der Mann lehnt das Vulgäre stärker ab als die Frau, und wird sie daraus schließen, daß er nichts davon versteht.
sein natürliches Qualitätsgefühl ist dem ihrigen oft über-
Für manche Frau ist der Geschmack des Ehemannes nur
legen.
eine bequeme Ausrede. Wie oft habe ich nicht schon er-
Das Ideal der Männer ist die Eleganz, die zugleich klas- lebt, daß die eine oder andere sich ein rotes Kleid bestellte
sisch streng und weiblich schmiegsam ist. und es dann, wenn es fertig und womöglich schon getragen
war, wieder zurückbrachte mit der Begründung: »J\1ein
Ein Mann schätzt selten ein Kleid um seiner selbst wil-
Mann kann Rot nicht leiden.<<
len - er bringt es immer in Beziehung zu der Frau, die
seine Gedanken erfüllt. Man sollte annehmen, daß Madame nach zehn- oder gar
zwanzigjähriger Ehe über dieAversionvon Monsieur gegen
Bei manchen Männern dauert es ein halbes Jahr, ehe sie Rot unterrichtet sein müßte. Das scheint aber keineswegs
sich an einen neuen Hut gewöhnen, während andere sechs der Fall zu sein. Die Vorlieben und Abneigungen von Mon-
Monate brauchen, um überhaupt zu bemerken, daß der sieur sind immer wieder neue, nicht vorauszusehende Un-
Hut neu ist. Jenes ist gefährlich für den häuslichen Frie- glücksfälle, an denen Madame natürlich ganz unschuldig ist.
den, dieses dafür um so betrüblicher.
Ein Mann von Welt ist ein besserer Richter über die
Der Sohn einer eleganten Mutter wird dem Kleid der Eleganz als eine Frau. Seine Objektivität ist ihr nicht ge-
Frau immer liebevolle Anhänglichkeit bewahren. Er ist geben, weil bei ihr immer, wenn auch noch so leise, eine
Kenner und wird es nicht ertragen, der Mann einer schlecht gewisse Rivalität mitspricht.
angezogenen Frau zu werden.
Ein Kleid oder ein Hut, zunächst kaum bemerkt, können
Der Mann, der verliebt ist und die Eleganz studiert, der später für den Mann zu einer erregenden, tiefen und
weiß am meisten von ihr; selbst seine Irrtümer sind noch schmerzlichen Erinnerung werden. Unvergeßlich beschwö-
produktiv.
ren sie eine Stunde seines Lebens wieder herauf. Die Frauen
Ob richtig oder falsch, das Urteil eines Mannes über die dagegen lieben ihre Kleider in der Gegenwart und schließen
Mode ist immer durchaus persönlich; er unterliegt weder sie von ihrer Erinnerung aus.
dem Herdentrieb noch der allgemeinen Meinung.
Je farbloser, strenger und einförmiger die Herrenmode
Man muß schon zugeben, daß die Position des Mannes wird, um so mehr suchen die Männer einen Ausgleich in
recht heikel ist. Wenn er auf die klassische Frage: »Wie fin- der raffinierten und nuancenreichen Kleidung der Frau.

152 153
KAPITEL XIV
Daraus erklärt sich vielleicht zum Teil der !?Chnelle
Wechsel der heutigen Mode. Es gab eine Zeit, da eine
Mode für ein oder zwei Generationen lebendig blieb, wäh-
rend heute eine einzige Saison sie entstehen und vergehen
sieht.

Ich habe zu Anfang dieses Kapitels gesagt, daß die Män-


ner konservativ seien, und daß, wenn es nach ihnen ginge,
wir noch nicht über die Tierfelle und Feigenblätter hin-
ausgekommen wären. Das ist zwar wahr; aber ebenso wahr
ist, daß es ohne sie wohl überhaupt keine Mode gäbe ...
Sie lebt ... manchmal ihnen zum Trotz, immer aber um
ihretwillen. Dank der Vorherrschaft der Männer wird immer gesagt:
»Le Couturier«, als ob dieser Beruf, der seinem Wesen nach
weiblich ist, nur von Männern ausgeübt würde.
Die weibliche Form von Couturier ist nicht, wie man
denken sollte, Couturiere, sondern Creatrice, denn coutu-
riereist eine Näherin, ein weibliches Wesen also, das Klei-
der näht. Eine creatrice hält sich nie für eine couturiere,
aber der couturier glaubt oft, le Createur- der Schöpfer
selbst - zu sein.
Es gibt eben in der französischen Sprache einige über-
raschende Ungereimtheiten.
Während meiner Kindheit war ich überzeugt, daß die
Languste die legitime Gemahlin des Hummers, und die
Langustine ihre kleine Tochter sei; die Entdeckung, daß
dem keineswegs so ist, hat mich damals sehr enttäuscht.
Der Einfachheit halber werde ich in diesem Kapitel im-
mer nur vom Couturier sprechen. Es sind darunter die weib-
lichen wie auch die männlichen Exemplare dieser Gattung
zu verstehen. Das geht um so leichter, als sie fast genau

154 155
die gleichen Eigenarten haben, die gleichen Unterschei- daß der Mechanismus sich im Ausland sehr bald überdreht;
dungsmerkmale und ... die gleichen Absonderlichkeiten. er rumpelt und pumpelt und schließlich bleibt er stehen.
Wenn man dann den Hahn öffnet, kommen an Stelle von
vVas ist nun eigentlich ein Couturier? Kleidern nur unschöne Gebilde heraus oder gar nichts.
Zunächst einmal ein äußerst sensibler und zarter Me- Die Lebensdauer dieser Mechanismen ist sehr verschie-
chanismus. Das erkennt man schon daran, daß er sehr den. Einige scheinen schier unerschöpflich, beinahe un-
leicht in Unordnung gerät und daß sich noch niemand sterblich. Die Ergiebigkeit der andern läßt unmerklich
gefunden hat, dieses Wunderwerk dann wieder in Gang zu nach und schließlich erlebt man, daß sie von einem gewis-
bringen. sen Augenblick an immer die gleichen Sachen henrorbrin-
Tag für Tag häufen sich in ihm all die künstlerischen gen. Wieder andere, die in hastigem Durcheinander über-
und aufwühlenden Eindrücke, die von überall her heran- raschende und erstaunliche Produkte ausspeien, zerplatzen
fliegen . . . in buntem Durcheinander stürzt alles hinein: eines Tages mit lautem Knall.
eine musikalische Matinee, ein leiser Groll, eine Reise, In beiden Fällen bedeutet es das Ende. Keine Reparatur
eine Kunstausstellung, Liebe, ein gutes Diner, Ehrgeiz, ist möglich. Spezialarbeiter haben manchmal versucht,
Lektüre, manchmal auch Alkohol oder eine Medizin- oder zwei solcher ausgeleierten J\1aschinen zu koppeln, um
beides - Erinnerungen und Hoffnungen, Emotionen des ihnen neue Lebenskraft zu verleihen. Das Ergebnis war nie
Snobs und echte Begeisterung. glücklich ... es kamen dabei nur Versager heraus.
Dies alles gut rütteln und schütteln und dann bei mäßi- Diese merkwürdigen Gebilde sind wegen ihrer Bauart,
gem Feuer kochen lassen! Viermal im Jahr einen Hahn ihrer geheimnisvollen Arbeitsweise und der Unmöglich-
öffnen ... und es kommen Kleider heraus. keit, sie außerhalb von Paris in Gang zu setzen, immer ein
Wenn man auch einigermaßen weiß, wie diese Maschi- Gegenstand des öffentlichen Interesses gewesen. Von Zeit
nen arbeiten, so weiß man doch keineswegs, wie sie her- zu Zeit versuchen »Spürhunde der Neugierde«- Journa-
gestellt werden. listen genannt - sie vermittels eines Interviews abzuklop-
Jedenfalls entstehen sie nicht am laufenden Band, denn fen um hinter ihr Geheimnis zu kommen. Gewissenhaft
sie sind selten, im ganzen zwar gleichartig, in ihren Einzel- '
studieren sie Ursprung der Anlage, Arbeitsgang, Höhe des
heiten jedoch durchaus verschieden. Verbrauchs und Bedienung der Hebel und Hähne. Dann
Man weiß auch, daß einzelne Teile unter Umständen schreiben diese Neunmalklugen gelehrte Berichte über
aus dem Ausland eingeführt werden, daß sie aber nirgends ihre Beobachtungen, ziehen Schlüsse voller vViderspruch
sonst zusammengesetzt werden können als in Paris. daraus, und da eigentlich rein gar nichts aufgeklärt wurde,
Sie lassen sich auch nicht exportieren, weder in ihren bleibt man nach wie vor außerstande, eine dieser Wunder-
Teilen noch im Ganzen. Es hat sich nämlich herausgestellt, maschinen auf Bestellung zu fabrizieren.

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Die Zeit, die ihr Bau erfordert, kann sehr vers<:.;hieden menschlusses wird dann aufgegeben ... bis zum näch-
lang sein, manchmal sind Jahre dazu nötig und manchmal sten Mal.
taucht über Nacht eine auf . . . In diesem Fall muß sie Aber ich sehe schon, daß bei dem Versuch, den Cou-
natürlich erst eine Zeitlang einlaufen, bevor sie ihre volle turier zu >>erklären«, mir ein Selbstbekenntnis nicht er-
Leistungsfähigkeit erreicht. spart bleiben wird, und ich fürchte, ich werde in aller
Es ist anzunehmen, daß ihre Konstruktion äußerst Öffentlichkeit die wenigen guten Eigenschaften und die
schwierig ist, denn es existieren nur ganz wenige Exem- vielen Fehler zugeben müssen, die sein Wesen bestimmen
plare - es gibt ihrer kaum zehn in Paris - das heißt also und ihn doch erst zu dem machen, was er ist.
in der ganzen Welt. Zunächst einmal: Bescheidenheit ist nicht seine Zier.
Viele Menschen glauben zwar, daß ihrer mehr sind, Er vergleicht sich gern mit dem Sonnenkönig, weiß, was
aber das kommt daher, daß es von diesen Wunderwerken er wert ist, und glaubt, was man ihm darüber sagt.
sehr gute Nachahmungen gibt. Diese Fälschungen arbei- Sollte es Zweifler geben, die seinen Wert in Frage stel-
ten täuschend ähnlich wie das Original, nur mit dem len, so wird er sie mit königlicher Großmut ignorieren oder
einen Unterschied, daß zu der notwendigen Mischung aus sie durch ein einziges Wort niederschmettern - und das
Kunst und Leidenschaft jeweils eine gewisse Dosis Vitamin ist dann nicht ganz so großmütig. In seinem innersten
C (Vitamin Copie) hinzukommen muß in Form von Klei- Herzen bleibt ihm die Gewißheit, daß sein Talent einzig-
dern, die schon einmal aus den echten schöpferischen Ma- artig ist und daß die Frauen, die er nicht anzieht, bedauerns-
schinen herausgekommen sind. Durch dieses unentbehr- werte Geschöpfe sind.
liche Stimulans scheint das Funktionieren der beiden Ma- Er ist überzeugt, als ein Einsamer über der Menge zu
schinen übereinstimmend zu sein und es ist, wenn der stehen und aus ganz anderm Stoff zu sein als sie.
Hahn der nachgebildeten Maschine geöffnet wird, für das Für diesen Geisteszustand gibt es eine Entschuldigung
Publikum dann sehr schwer, die echte Schöpfung von der und eine Erklärung.
Imitation zu unterscheiden. Die Entschuldigung liegt darin, daß niemand die Ängste
Von Zeit zu Zeit versucht eine Art Wohltätigkeitsinsti- dieses enttäuschenden und aufregenden Berufes ertragen
tut, das bald Syndikat, bald anders heißt, eine möglichst könnte, wenn er nicht seiner selbst sicher wäre, oder we-
große Anzahl dieser Maschinen zusammenzufassen, um nigstens sich einredete, es zu sein.
ihre Leistungsfähigkeit und ihre Produktion einander an- Denn der Hochmut des Modeschöpfers ist oft nur eine
zugleichen. Es entsteht dann bestenfalls ein erschrecken- Attitude, die er einnimmt, gleichwie das Kind in der Dun-
des Getöse, denn jede ist überzeugt, daß allein sie gut kelheit singt, um sich Mut zu machen.
funktioniert, daß nur sie das vollkommenste Modell ist und Er muß sich seines Genies immer wieder versichern und
daß nur ihre Produktion zählt. Der Versuch des Zusam- es bestätigt bekommen, um sich yjermal im Jahr der Gunst

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eines von Grund auf blasierten und wankelmütigen Publi- l\,;1 aison. Er weiß, wie schwierig es ist, von einer Kategorie
kums stellen zu können. in die andere hinüber zu wachsen; man darf nicht etwa
Die Erklärung ist darin zu suchen, daß es nur wenige glauben, es genüge, M aison en Vogue zu sein, um als
gibt von seiner Art und daß gerade deren Seltenheit ihn in Grande M aison zu gelten oder umgekehrt. Er weiß von
der angenehmen Gewißheit bestärkt, ein Ausnahmegeschöpf dem ganz großen Unterschied zwischen beiden Häusern, er
zu sein. weiß von der Schranke, die man vielleicht eines Tages
Dieser l\1angel an Bescheidenheit macht ihn mißtrau- überwinden kann, vielleicht auch nie.
isch und unglaublich empfindlich. Um Stil und Würde zu wahren, äußert er sich nur selten
über das Werk eines Kollegen; lobt er es aber einmal mit
Auf Anerkennung versessen, vor Kritik zittemd, möchte sichtlicher Begeisterung, so tut er es sicher in der heim-
er unter allen Umständen, daß man von ihm spricht. Die lichen Hoffnung, seinerseits noch überschwenglicher ge-
Zeitungen sind seine ständige Sorge; der Raum, den man lobt zu werden.
ihm darin gewährt, Titel, Überschriften und Photos, alles Umgeben von tausend Schmeichlem, gewöhnt er sich
das ist ihm ein täglich sich wiederholender Alpdruck. Die unmerklich an diese Beweihräucherung; er braucht sie
Vorstellung, nicht den Platz einzunehmen, auf den er ein wie die Luft, die er atmet, und ganz naiv und treuherzig
Anrecht zu haben glaubt, und die Furcht, ihn von einem wundert er sich, wenn sie einmal ausbleibt. Er ist zwar von
andern eingenommen zu sehen, werden für ihn zu einer sensibler Natur, aber sein Beruf zwingt ihn, ohne Unterlaß
wahren Besessenheit. dafür zu kämpfen, daß man ihn nicht vergiBt, daß die Be-
In allen Fragen des Vorranges ist er äußerst empfind- wunderung für ihn nicht nachläßt, und daß man immer
lich. von ihm spricht.
Er weiß bewunderungswürdig gut Bescheid über Proto- Allerdings muß auch etwas da sein, wovon man spre-
koll und Rangordnung der HauteCouture. Zu seinen eige- chen kann: seine Schöpfungen.
nen Gunsten läßt er ganz gerne einmal eine Abweichung Diese müssen immer wieder überraschend Neues brin-
zu, aber die leiseste, die einem andern zugestanden wird, gen, und das ist schwer - aber noch schwerer ist - sich
macht ihn hellhörig und kopfscheu. Als argwöhnischer zum Gegenstand einer Sensation zu machen, geeignet, das
Hüter des »Gotha der Raute Couture« wird durch jede Interesse der Zeitungen und die Aufmerksamkeit des Publi-
neue Eintragung in das Namensregister sein Mißtrauen kums auf sich zu ziehen.
geweckt. Man kann nicht jede Woche einen Selbstmordversuch
Sein Sinn für Nuancen ist untrüglich; peinlich genau vortäuschen, nicht alle vierundzwanzig Stunden eine Weh-
unterscheidet er: V ieille M aison, M aison N ouvelle, M aison reise im Flugzeug unternehmen oder jeden Monat seinen
en Vogue, Grande Maison, Moyenne Maisan und Petite kleinen persönlichen Skandal heraufbeschwören!

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Dadas leidernicht geht, ziehtder Modeschöpferesvor,sich zum letzten Stich fertiges Kleid tragen würde. Niemand
kleine Extravaganzen zuzulegen, wie etwa die, seine Hunde ist je auf den Gedanken gekommen, sich über meinen
grün anzustreichen, auf einem Hausboot zu wohnen oder Aberglauben hinwegzusetzen, die Kunde geht von Atelier
zu versuchen, in jeder Saison einmal, und vor möglichst zu Atelier, ohne daß ich selbst das geringste dazutun müßte.
vielen Zuschauern, die Bank von Deauville zu sprengen.
Dann wird natürlich von ihm gesagt, es mangle ihm an Der Couturier wird durch die beunruhigenden Zufälle,
Einfachheit und Zurückhaltung. denen seine Kollektionen ausgesetzt sein können, manch-
mal zum Hasardeur, voller Furcht und tollkühn zugleich.
Der Modeschöpfer ist abergläubisch. Erfolg oder Miß- Er hält sich an alles, was ihm einmal gelungen ist, und pein-
erfolg seiner Modelle hängen oft weniger von ihrer wirk- lich meidet er alles, was ihn in irgendeiner Weise an einen
lichen Qualität ab als von gewissen Imponderabilien, wie früheren Mißerfolg erinnert. Geradezu panische Angst
zum Beispiel der zufälligen Laune einer Kritik, einer plötz- hat er vor dem >>bösen Blick«.
lich aufflammenden Begeisterung oder von tausend ande- Ein anderes Attribut des wahren Couturiers- ich muß
ren schwer abzuschätzenden Nichtigkeiten. es so nennen, weil ich nicht recht weiß, ob es ein Fehler
. Deswegen klammert er sich gerne an glückverheißende oder eine gute Eigenschaft ist- ein anderes Attribut also
Zeichen: der eine glaubt fest an ein ganz bestimmtes, ist seine Freude an allem vV echsel.
immer gleiches Datum für die erste Vorführung seiner Auf immer wieder Neues versessen, voll Eifer, überall
Kollektion, den dritten Dienstag eines Monats etwa, der der Erste zu sein, brennend vor Erwartung, vergißt er
andere schwört auf zunehmenden Mond und wieder ein das Gestern und denkt nur an Morgen. Seine Begeisterung
anderer fühlt sich abhängig von der Gegenwart oder Abwe- dauert nicht lange; gleich einem Strohfeuer lodert sie kurz
senheit ganz bestimmter Menschen. Blumen, Tiere, irgend- auf, und im Moment verwirft er, was ihm gerade noch
ein Talisman, Amulette aller Art spielen ganz offiziell eine gefallen, fast noch ehe er Zeit gehabt hat, es wirklich zu
große Rolle. Alles das wird respektiert und niemand würde lieben. So ist es unvermeidlich, daß er zugleich unstet,
es wagen, es lächerlich zu finden. arrogant und unersättlich wird, und daß er sein Gehetztsein
Ich gestehe ganz offen, daß ich für mich selbst nie ein auch in sein Privatleben hineinträgt.
Kleid akzeptiert habe, das völlig fertiggestellt und dessen Alles in allem ist für ihn diese Unruhe eine gute Eigen-
Innennähte schon ausgearbeitet waren. Dies darum, weil schaft, ja sie ist sogar- weil schöpferisch- seine wertvollste
es niemals gelang, von meinen immer unter starkem Ar- Eigenschaft.
beitsdruck stehenden Ateliers persönlich irgend etwas zu Arbeitsam in einer Epoche, die das Arbeiten fast ver-
bekommen. Ich habe mir daher vorgestellt, daß es ein lernt hat, scheut er keine Mühe, und Zeit und Stunde be-
schlechtes Omen sein müßte, wenn ich eines Tages ein bis deuten ihm nichts.

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Wenn ein Entwurf ihn nicht freut, fängt er verbissen vVie arbeitet der Couturier? -Das ist sein Geheimnis.
wieder von vorne an, bis er sich am Ziel glaubt. Er ist hart Zwiefach ist sein Arbeiten; zunächst aus dem Geiste,
gegen sich selbst, nie leicht zufriedenzustellen und erstrebt dann im Stofflichen.
immer das Vollendete. Ein wahrer Modeschöpfer macht Kleider ohne Unter-
Streng und schonungslos zügelt er sich selbst. In den laß. Er lebt Kleider, er schläft Kleider, er träumt Kleider.
vVochen und JV1onaten, da sein Schöpfergeist tätig sein Ein im Vorübergehen aufgefangenes vVort, eine Sil-
muß, suggeriert er sich mit aller Gewalt eine Gesundheit, houette, eine Gebärde, die Farbe einer Blume, ein Orna-
die er vielleicht gar nicht besitzt, und dann versteht er so- ment, eine gewisse Bewegung, der Anblick des Himmels-
gar seine persönlichen Wünsche, Gedanken und Sorgen und selbst das vVetter - alles das kann die verborgene Fe-
zum Schweigen zu bringen. der in Bewegung setzen, die den flüchtigen Eindruck in
Es gibt nichts, was ihn in diesem Augenblick von der eine Idee verwandelt, in eine Kleid-Idee.
Arbeit abbringen könnte, die er seinem Werk, seinen Mit- Die Monate Januar und Juli, in denen seine Modelle
arbeitemundseinem Hause schuldig zu sein glaubt. leibhaftig in Erscheinung treten, sind nur das Ende einer
Aber der Couturier ist nicht nur arbeitsam, er ist auch langen Reifezeit, denn eigentlich sind es nicht diese
zäh und mutig. Er ist fest in seinem Wunsch, sein Ziel zu Wochen strenger Klausur im Arbeitsraum, die ihn die
erreichen, fest auch in dem Willen, alle Hindernisse zu größte Anstrengung kosten. Während dieser Zeit gewin-
überwinden und sich seinen ungewissen Weg tapfer zu nen nur alle Gedanken, Gefühle und Vorstellungen Ge-
bahnen. stalt, die ihn erfüllten, als es so aussah, als arbeite er
Er arbeitet auch nicht um des Geldes willen. Nein, der überhaupt nicht.
Couturier ist im Grunde uneigennützig. Erfolg bedeutet Der unbewußte Schaffensvorgang geht stetig weiter.
ihm mehr als Verdienst. Das Bewußtsein, eine gute Kol- J\1anchmal freilich gibt es Augenblicke, in denen der
lektion zu haben, von der jedermann spricht, zu wissen, Modeschöpfer den quälenden Eindruck hat, als ob dieses
daß seine Modelle um die Erde wandern, ist ihm wich- geheimnisvolle innere Werden ganz plötzlich aufhöre, als
tiger als der Nutzen. Der Name seines Hauses liegt ihm sei die Quelle auf einmal versiegt.
mehr am Herzen als die Zahlen seines Hauptbuches. Die Inspiration kommt nicht auf Befehl.
Im Geldausgeben ist er großzügig, und da man ihm Und doch, zur festgesetzten Stunde muß die Kollektion
außerdem vorwirft, er sei prunkliebend bis zum Exzeß, so fertig sein, koste es, was es wolle.
ist es kein Wunder, daß er nur selten zu einem soliden In dieser Zeit steht er dann allein mit sich, wie inmitten
Vermögen kommt. einer großen Wüste ohne Oase, ganz allein, niemand ist da,
Ich glaube, daß diese guten Eigenschaften seine Fehler der ihn erretten könnte aus der unerträglichen Angst vor
und Lächerlichkeiten wettmachen. seiner inneren Leere.

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Aber eines Tages oder in einer Nacht spaltet sich mit In der praktischen Arbeit, die nun folgen muß, unter-
einem Schlag der verdorrte Fels und das wohltätige Wasser scheiden sie sich sehr viel mehr. Jeder arbeitet auf seine
quillt wieder hervor. Alles grünt und blüht von neuem. sehr persönliche Weise. Die einen zeichnen selbst, andere
Ein nicht mehr erhoffter Garten tut sich auf. drapieren gleich auf dem lebenden Mannequin und wie-
der andere komponieren mit Nessel auf kleinen Puppen.
Um die seelische Verfassung des Couturiers im Augen- Bei mir ist die Vorbereitung meiner Kollektionen inner-
blick, in dem er sein Programm entwirft, zu verstehen, lich vor ihrer Ausführung so weit fortgeschritten, daß bei-
versetzen Sie sich bitte in seine Lage: viermal jedes Jahr, nahe jedes Kleid in meinen Gedanken schon fertig vor mir
oder auch nur zweimal, eine Kollektion von hundertfünf- steht.
zig lYiodellen auszudenken, die ganz verschieden sein müs- Hat die Arbeit am Material einmal begonnen, so nimmt
sen von allen vorhergehenden - immer neue Variationen das ganze Haus daran teil. Alle Anstrengungen sind in wun-
des uralten Themas - Kleid! derbarem Gleichklang dann auf das gleiche Ziel gerichtet.
Alles ist schon einmal dagewesen, gesehen und getragen Ein jeder will es dem andern zuvortun, alle sind hoff-
worden. nungsfreudig und glauben an die kommende Kollektion ...
Aus diesem Nichts muß er nun ganz allein durch die alle, mit der einzigen Ausnahme dessen vielleicht, der sie
Macht seines schöpferischen Genies eine ganz neue Welt zum Leben erweckt.
erstehen lassen und sie beseelen. Er ist müde und ausgehöhlt, manchmal blind, weil er
Wenn Sie sich von den unglaublichen Mühen einen zu viel gesehen, urteilslos, weil er zu oft entschieden; er ist
Begriff machen wollen, versuchen Sie, es doch einmal nach- ohne Begeisterung, weil er sich zu sehr verausgabt, ver-
zumachen. armt, weil er allzuviel von sich verschenkt hat. Oft, ganz
Schließen Sie die Augen und sagen Sie sich: >>Ich will nahe am Ziel, wird alles verworfen, niedergerissen, um
ein Kleid finden, ein einziges Kleid nur, ein neu es Kleid, sofort in einem letzten äußersten Aufschwung noch einmal
ein unbedingt neues Kleid, eine ganz andere Silhouette, neu geschaffen zu werden.
eine Zusammenstellung, die in l\1aterial und Farbe von
allen früheren sich unterscheidet.« Wenn Sie es finden, Kein Couturier weiß im voraus, welches seiner Modelle
dann sind Sie ein >>Couturier«. Das genügt. Erfolg haben wird. Wenn er versucht, Prognosen zu stel-
len, sind sie fast immer falsch, weil sein Blick nicht mehr
Alles, was ich eben gesagt habe, bezieht sich nur auf die frisch genug ist, um jenes unbegreifliche Etwas wahrzu-
geistige Arbeit, die beim schöpferischen Vorgang das vVe- nehmen, das doch von ihm selbst ausging und das, im
sentliche ist. Alle wirklich schöpferischen Couturiers ken- Kleide Form geworden, seine Wirkung nicht verfehlen
nen die gleichen Nöte. wird.

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Ich selbst spüre eine unerklärbare, geradezu körperliche Die Arbeit des Couturiers ist sehr vielfältig. Zunächst
vVarnung, wenn eines meiner Kleider nicht gut ist. Es geht wohl rezeptiv. Er muß mit äußerster Sensibilität alles in
mir nach; wie unter einem Zwang muß ich immer daran sich aufnehmen und im voraus spüren, was die Frauen
denken. Auch wenn ich es wieder aufnehme und von erwarten und erhoffen. Er muß ihre noch unbewußten
neuem daran arbeite, spüre ich, solange es mich nicht los- Wünsche erraten können und sie Gestalt werden lassen.
lassen will, daß etwas daran noch nicht stimmt. vVenn es Die sehr guten und erfolgreichen Kleider sind immer die-
aber aus meinem Bewußtsein verschwindet, so weiß ich, jenigen gewesen, die diesem noch dunklen und unaus-
daß es in Ordnung ist. Ob es aber ein gutes Kleid ist, das zu gesprochenen Bedürfnis entgegengekommen sind und die
wissen, ist auch mir versagt. Antwort gaben auf das klassische Wort: >>Ungefähr so
möchte ich ein Kleid haben ... « Dieses vVort >>Ungefähr«
Dem Couturier sind alle Ängste, alle Hoffnungen, alle ist allen Frauen geläufig.
Enttäuschungen, alle Erregungen, aller Aufschwung des Wenn diese Kleider dann herausgekommen und lanciert
wahren Künstlers vertraut, und doch muß er sich zugleich sind, ruft jede begeistert aus: >>Natürlich, das ist genau
den geschäftlichen Notwendigkeiten beugen, weil er zur was ich haben wollte, ganz das Richtige!«
Ausführung seiner Ideen einer großen Organisation bedarf, Es ist ganz das Richtige ... nachher ... aber vorher?
und damit diese existieren kann ... muß verkauft werden! Vorher war es nur das wunderbare und sensible Voraus-
Ohne Verkauf kein Modehaus. wissen des empfänglichsten der Couturiers, der die unsicht-
Ob er will oder nicht, dieser Tyrannei muß er sich un- baren vVellen einfing, sie zu deuten wußte, ihnen eine
terwerfen und sich einen Geschäftssinn anerziehen, auch Körperlichkeit verlieh ... und sehr viel von sich selbst.
dann, wenn er seiner Natur gar nicht liegt. Er muß sich Sehr wichtig ist es auch, daß er dem Gesang der Si-
also bemühen, unablässig an die praktische Seite zu denken, renen im eigenen Innem kein Gehör schenke. Er muß
obschon es ihn langweilt, dieses ewige : >>Ist dieses Kleid streng objektiv bleiben, vor allem seine persönlichen Vor-
verkäuflich?« lieben zum Schweigen bringen und sein Ohr ganz auf die
Das ist auf die Dauer reichlich ermüdend. Darum er- Welt richten und auf ihre dunklen, kaum verständlichen
laubt sich der Couturier den großen Luxus, einige Kleider Stimmen.
zu machen, die sein künstlerisches Gefühl vollauf befrie- Das ist der Augenblick, da der Couturier ganz innerlich
digen, einige Kleider, ganz zweckfrei, einzig und allein zu lebt, dem Tage ganz abgewandt, aufmerksam nur auf das,
seiner persönlichen Freude; er weiß, daß er sie wohl nie was niemand sieht.
verkaufen wird. In diesen Tagen bin ich so zerstreut, daß ich nach einer
Geliebt und entzückend seid Ihr, unnötige und ver- kurzen Besorgungsfahrt den Chauffeur meines eigenen
rückte Kleider! Euch gehört mein Herz! Wagens bezahle, daß ich beim Betreten des Aufzugs dem

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Liftboy eine Adresse in der Stadt angebe oder, vor. mei- seits wieder ausstrahlen auf seine Mitarbeiter, damit auch
nem Toilettetisch sitzend, aufmerksam die Rückseite mei- sie, gleichsam in seinem Fluidum stehend, genau so fühlen
ner Haarbürste betrachte und mir erstaunt sage: »Wie und reagieren wie er selbst. Diese seine Kraft muß aber
sonderbar, daß man in diesem Spiegel heute rein gar nichts noch weiter reichen, über sein Haus hinaus.
sieht ... « vVie ein Stoff oder ein Schmuckstück für ihn zum Aus-
Es ist unumgänglich nötig, daß man dann mit allen sei- gangspunkt für eine schöpferische Idee werden können, so
nen Sinnen jene kaum vernehmbaren Stimmen der VVelt werden seine Schöpfungen oft wiederum zur Quelle eines
aufnimmt, sie zu den seinigen macht; dann erst kann man neuen und von ihm inspirierten Lebens: Seine Kleider sind
das Erfühlte gestalten und ihm den Stempel seiner Persön- zugleich Ausgangspunkt und Ziel für Stoffentwürfe, für
lichkeit aufdrücken. die Juweliere, für die l\1odisten, bis zu den kleinen oder
großen l\1odehandwerkern, die das Zubehör schaffen, wie
Von dieser seiner Intuition hängt für den l\1odeschöpfer Schließen und Gürtel, Taschen und Handschuhe, Schirme
mindestens zweimal im Jahr der Bestand seines ganzen und Schals.
Hauses ab. \Venn er sich irrt, wenn er die Stimme falsch Ihm ist es zu danken, daß es in Paris diesen allseitigen
gedeutet oder aus seinem Innern heraus falsch wieder- und strömenden Kräfteaustausch gibt, aus dem zweimal
gegeben hat, so kommt dies einer Niederlage gleich, die nie im Jahr eine Mode hervorsteigt, die über die Frauen in
mehr gutzumachen ist. Der Würfel ist gefallen. aller Welt herrschen wird.
Ich weiß, daß einige gerne auf dem ausgetretenen Pfad
der Erfahrung bleiben und das große Spiel mit der Neuheit So prägt der Couturier mit am Stil seines Jahrhunderts.
nie wagen. Sie bleiben still bei dem alten Trott des Schon- Hüter und Wahrer der höchsten Tradition der Eleganz,
Gesehenen und Schon-Gemachten und passen sich nur fühlt er sich allein verantwortlich für das Schönheitsideal
nach und nach an. Das ist eine ganz andere Arbeitsweise, der Frau. Er darf sich nicht aus eigennützigen Gründen
ein anderer Beruf ... dazu verleiten lassen, gewissen törichten Übertreibungen
Der wahre l\1odeschöpfer wird sich zu solchem Handel und Lächerlichkeiten nachzugeben.
nie bequemen. Aus dem tiefen Bedürfnis, immer Neues Der Couturier muß den Weg weisen. Weniger als irgend-
zu schaffen, aus der Kraft des inneren Anrufes setzt er ein anderer darf er die Begriffe schön und häßlich, originell
mutig alles auf eine Karte: sein Haus, sein Vermögen, und lächerlich, jugendlich und grotesk durcheinanderbrin-
sogar Erfolg und guten Namen. gen; er muß zwischen Qualität und ihrem Gegenteil, zwi-
schen Chic und seinem Zerrbild wohl unterscheiden.
Der Couturier ist zudem so eine Art Vermittler. Die von Gleich dem Januskopf mit dem doppelten Antlitz er-
der Außenwelt empfangenen Inspirationen muß er seiner- blickt er hinter sich das Vermächtnis der Vergangenheit

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KAPITEL XV
und vor sich die Verheißungen der Zukunft. So re.icht er
das Idealbild der schönen Frau weiter - von den Ent-
schwundenen zu denen, die nach uns kommen werden.

Eine der wichtigsten Rollen des Couturiers, schwierig


und delikat zugleich, ist die eines Botschafters.
Sein Wort wird in der ganzen Welt befolgt. Seine Klei-
der, in der stillen Klausur seines Arbeitsraumes ersonnen,
werden alle Sprachen sprechen, werden alle Kontinente
und alle Meere überqueren, auf allen Straßen fahren und
in allen Städten sich drängen, in allen Zügen reisen, mit
allen Flügeln fliegen, auf jedem Parkett tanzen und um
die ganze Erde wandern. Unter jedem Himmelsstrich wer- Wenn eine Reise zu Ende geht, so überkommt einen
den sie lachen, weinen, lieben, leben und vergehen; der eine gewisse Melancholie; eine Episode, die etwas Unwirk-
Wind wird ihre Namen flüstern und das Echo ihre Grazie liches hatte, vollendet sich. Es ist, als ob man eine lieb-
künden. Zweimal im Jahr werden alle Frauen in seinen gewonnene Lektüre unterbrechen müsse. Gefährten, die
Schöpfungen das Antlitz Frankreichs erkennen. einem der Zufall brachte, soll man verlassen Gefährten
So, wie er es ihnen zeigt, werden sie es sehen. '
mit denen uns eine flüchtige Intimität verbunden hatte,'
Könnte es je anders sein als ernst, milde und lächelnd? die sich aus manchmal übereinstimmenden Gewohnheiten,
Dürfte er es der Welt je grob, entstellt und verzerrt zeigen? gelegentlicher gemeinsamer Langeweile und unvorher-
Geistreich und fein, wird es niemals etwas anderes aus- gesehenen erfreulichen Erlebnissen ergab.
strahlen als Elegance. Die Pause ging zu Ende, die Schulstunde fängt wieder
Es ist eine hohe Ehre, daß ihm eines der Bilder an- an. Die vergessenen Sorgen empfangen uns schon auf dem
vertraut ist, in denen das Wesen seines Vaterlandes sich Bahnsteig; der alte Trott kommt, uns zu begrüßen, und
ausdrückt. Seine eigene Stimme einer solch großartigen wiederum erfährt man, kaum angekommen, die Angst vor
Botschaft zu leihen, bedeutet eine schwere und doch be- dem Morgen.
glückende Verantwortung. Welche Aufgabe, subtil und be-
drängend, der Welt zuzurufen: »Dies ist der Geschmack Diese Gefühle bewegen mich heute, da ich dieses Buch
von Paris, der Widerschein Frankreichs und sein Lächeln. beende, das auch eine Reise war und zugleich eine Erho-
Urteilet selbst und laßt Euch bezaubern!« lung. Wie gerne möchte ich noch ein wenig bei meinem
Buch verweilen, es hinziehen, das Vergnügen des Schrei-

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bens noch nicht aufhören lassen und von dem Bahnhof, an Ich bin sicher, daß es nicht zweierlei Eleganz gibt, eine
dem ich soeben angekommen bin, noch nicht weggehen. für die Seele und eine andere für das Kleid· die erstere
Ich war nicht allein auf dieser Reise. '
selbst wenn sie unsichtbar bleibt, zieht unweigerlich die'
Zauberwesen, überall um mich herum und meine Ein- zweite nach sich.
samkeit belebend, haben mich mit freundlichem Lächeln Ich glaube nicht, daß es zwei streng geschiedene Kate-
begleitet. Sie saßen mir zur Seite oder auf dem Schreib- gorien von Frauen gibt: endgültig und unwiderruflich
tisch, krochen aus dem Tintenfaß, ritten auf meiner Feder, häßliche und unbedingt und immer schöne. Beide Möo--
b
hockten am Rande des Aschenbechers oder hingen am lichkeiten, häßlich oder schön zu sein, sind gegeben, und
Kronleuchter; sie lachten und kicherten, diktierten und man muß den Willen bemühen, um nicht häßlich zu sein
stimmten mir zu, und manchmal auch schimpften sie. und um schön zu bleiben.
Ihnen Lebewohl zu sagen, wird mir besonders schwer. Wenn dieses kleine Buch auch nur einer einzigen Frau
Schon entfernen sie sich von mir, schon werden sie un- dazu verhelfen könnte, schöner und glücklicher zu werden,
deutlich, verlöschen und schweigen; sie wissen, daß unsere würde ich dankbar und froh bekennen, daß ich meine Zeit
Arbeit, die ein schönes Spiel war, vollendet ist, und sie wis- nicht vertan habe.
sen auch, daß unsere gemeinsamen Tage gezählt sind. Aber Was könnte ich noch sagen? Nur das, daß alles noch
was nützt das alles! Man kann Märchenwesen weder Dank zu sagen bleibt, wenn man hofft, alles gesagt zu haben.
sagen noch sie zurückhalten; diese zarten Reisebegleiter
kann man nur lieben und ihr Scheiden bedauern.
Ich habe in diesem Buch von der Kunst des Sich-An-
ziehens gesprochen, ich habe mein Bestes getan, zu sagen,
was ich dachte, und vor allem, was ich fühlte. Ich habe im-
mer wiederholt, daß diese schwierige Kunst nicht in einer
Folge von Rezepten besteht, und daß es bei ihr gar nicht
auf die J\1enge ankommt. Ich wollte beweisen, daß jedes
Sich-Gut-Anziehen mehr sei und wie alle schönen und
seelischen Dinge aus dem Innern des Menschen heraus-
kommen muß.
Man kann sein Inneres nicht hinter Kleidern verbergen,
wohl aber verraten sie es oft. Da die Seele durch alles
durchschimmert und alles belebt, so sollte man zuerst sie
pflegen und schmücken.

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Die Frage an den Spiegel 5
Kleid und Charakter 16
Vom guten Geschmack 36
Die Lebensalter 49
Zauber der Umwelt 58
Die Frau in ihrer Epoche 66
Die Qualität 71
Von den Farben 80
l\1odisches Beiwerk 89
Über den Schmuck 102
Was sagt mir das Parfum? 115
Tun und Lassen 128
Der Mann und die Mode 146
Der Modeschöpfer 155
Am Ziel der Reise 173

176

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