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Grenzen des Liberalismus Zur politisch-ethischen

Diskussion um den Kommunitarismus *

JOHN RAWLS: Eine Theorie der Gerechtigkeit . Frankfurt/ M 1979 Suhrkamp Ver-
, ,

lag . 674 S .
MICHAFLJ . SAND EI: Libemlism and the Limits o/Justice. Cambridge 1982* Cambrid-
ge University Press 190 S, .

NANCY L ROSENBLUM (ed . ) : Liberalem and the Moral Life. Cambridge , Mass .
.

1989 Harvard University Press 302 S


, , ,

CHARLES E , LARMORE: Patterns of Moral CompUxity . Cambridge 1987 . Cambridge


University Press , 193 S.
CHARLES TAYLOR : Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus .
Frankfurt / M. 1988 . Suhrkamp Verlag. 320 S ,
ALASDAIR MACINTYRE: Der Verlust der Tagend . Zur moralischen Krise der Gegenwart .
Frankfurt / M . 1987 Campus Verlag , 381 $ .
.

Zu den Erfahrungen , die das Gegenwartsbewu ßtsein in den entwickel-


ten Gesellschaften des Westens heute im besonderen Ma ße pr ä gen , ge-
hört die Wahrnehmung einer beschleunigten Individualisierung der Sub -
jekte: wenn auch sehr unterschiedlich bewertet, wird der Prozeß der
Herauslösung des Einzelnen aus vorgegebenen Sozialformen als ein be-
stimmender Zug unserer Zeit erlebt und sogar zum Ausdruck eines
sozialen Epochenwandels stilisiert . Die sozialstrukturellen Entwicklun-
gen, die der gewandelten Erfahrungslage objektiv zugrundeliegen, hat
die Soziologie inzwischen in ersten Umrissen bestimmt : es sind die
soziale Freisetzung von traditionellen Rollenerwartungen , die ökono-
misch bedingte Erweiterung individueller Optionsspielrä ume und
schließlich die kulturelle Erosion von vergemcinschaftenden Sozialmi-
Heus , die zusammen genommen dem Subjekt heute ein stetig wachsendes
Ma ß an Eigenleistungen zu muten und damit den Grad der Individualisier
rung erhöhen 1. In der Philosophie war der erste Reflex auf diese verä n-
derten Sozialbedingungen die vernunftkntische Idee der * Postmoderne* ;
darin wurde, was sich als ein Prozeß der beschleunigten Pluralidcrung
von individuellen Lebensoricntienmgen vollzieht, als ein Resultat der
endg ü ltigen Ü berwindung universalistischer Moralprinzipien betrachtet
und affirmativ zum Zeichen einer von falschen » Allgemeinheiten * befrei-
ten Bewu ßtseinslage erkl ä rt2.
* Für hilfreiche Ratschl ä ge und Einwändc möchte ich Rainer Forst, Lutz Wingert und
den Mitgliedern des Philosophischen Arbeitskreises am WiHsenschahrskolltg Berlin ( LIag-
ilan Foeilesdal , Hasse Hofmann . Onara O Neill , Ulrich K Preuss und Llaine Scarry )
.

danken ,
1 Vgl. exemplarisch: ULCUCH BfcCk , Risikogeseltschafi . Auf dem Weg in eine andere
Moderne, Frankfurt/ M 1986; dazu meine eigene Auseinandersetzung: AXEL HONNETH,
.

Soziologie Eine Kolumne, in: Merkur , 470, 1988, S 315 fF


. . .
3 Immer noch zentral: j£ AN -FnANCO!S LY üTAELD , Das postmodeme Wissen , Wien 1986.
84 Aurel Honneth PhR 38

Eine ungleich wichtigere , weil philosophisch lehrreiche und theore -


tisch erhellende Reflexionsform hat die neue ErfahrungsSituation inzwi-
schen aber auch in einer Debatte gefunden , die sich bislang weitgehend in
den USA vollzieht und die Grundlagen der politischen Ethik im ganzen
zum Gegenstand hat: in der Kritik , die heute von verschiedenen Autoren
an den atomistischen Pr ä missen des vor allem durch John Rawls vertrete
nen Liberalismus ge ü bt wird , gelangt das Bewu ß tsein von der wachsen-
-
den Individualisierung unserer Gesellschaft in Form einer erhöhten Auf-
merksamkeit auf die intersubjektiven Bedingungen der menschlichen
Vergesellschaftung zum Ausdruck . Begleitet wird die philosophische
Infragestellung dpr liberalen Tradition von soziologischen Untersuchun-
gen, die nachzuweisen versuchen , da ß sich die Auflösung traditionsge-
stü tzter Wertgemeinschaften in einem wachsenden Leiden der Subjekte
an mangelnden Sozial kontakten niederschlägt Zusammen genommen
ergeben die philosophische und die soziologische Liberalismuskritik eine
machtvolle Thconcströ mutig, f ü r die sich mittlerweile der Name » Com-
munitarianism * eingebü rgert hat5.
Der Streitpunkt, um den es in der philosophischen Debatte zwischen den
Liberalen und den ^ Kommuni tarieren « geht, scheint sich auf den ersten Blick hin
auf die Frage nach dem normati ven Vorrang des Ideals gleicher Rechte oder det
Vision geglückter Gemeinschaften zuspiitzen zu lassen : wä hrend die liberale Posi-
don , hierin der Tradition der Vertragstheorie verpflichtet, die Ausweitung recht-
lich garantierter Freiheiten fiir den zentralen , im übrigen auch allein rational zu
begründenden Orientierungspunkt einer politischen Ethik halt, klagt die kom-
muni taristische Position demgegenüber, hierin entweder der antiken Policiklehre
oder dem Sitthchkeitskonzept Hegels verpflichtet , die Abh ä ngigkeit jeder ge-
lungenen Form des politischen Zusammenlebens von der Existenz gemeinsam
geteilter Werte ein ; dort also, bei den Liberalen, dient die Idee maximaler, gleich
verteilter Freiheitsrechte als oberster Maßstab politischer Gerechtigkeit, hier
hingegen, bei den Kommunitaristen, liefert die Idee sozial verbindlicher Wert-
orienticrungen den entscheidenden Maß stab für die normative Beurteilung von
Gcsdlschaften .

Au feine solche einfache Alternative gebtacht, gibt die Auseinanderset-


zung allerdings das Thema noch gar nicht angemessen zu erkennen , das
ihr heute ein besonderes philosophisches Gewicht verleiht und sie ü ber-
dies f ü r die Interpretation der zeitgen ö ssischen Erfahrungslage bedeut -
sam sein läß t; dieser Kern der Debatte bezieht sich n ä mlich auf die Frage ,
Neben den hier besprochenen Autoren werden heute, aus unterschiedlichen Gründen ,
noch RICHARD ROHTY und MICHAEL WALZER dem philosophischen Fl ügel dicset Bewegung
zugerechnet; innerhalb der Soziologie wird eine kommunHuristische Position vor allem
durch die große Untersuchung von ROBERT N . BELL AH, RECHABU MAUSEN, WILLIAM M -
SutLiVAN , ANN SWEDLEA, STEVEN M. Tivrott ( Gewohnheiten des Herzens. Individualismus utui
Getneinsinn in der amerikanischen GctdUckaß , K öln 1997) vertreten . Einen brillanten Ü ber-
blick ü berden inneren Zusammenhang zwischen soziologischer und philosophischer Libe-
ralisimiskritik gibt: MICHAEL WALZER , The Communitarian Critique of Liberal ]sm, in:
Pditical Tbeery , vol 19, no. 1 , 1990, 5.6 fF
Phft 38 Grenzend « Liberalismus 85
wie die Freiheitsbedingungen vergesellschafteter Subjekte innerhalb der
politischen Ehtik in Anschlag gebracht werden m üssen, um zu einem
überzeugenden Eegri fl einer gerechten Gesellschaft gelangen zu können .
Es ist der damit umrissene Streitpunkt , der mich im folgenden an der
Auseinandersetzung zwischen den Liberalen und den Kommunitaristen
interessiert; ich will die Debatte in der Abfolge nachvoll ziehen, die sich
ergibt , wenn die ausgetauschten Argumente rational rekonstruiert wer-
den ; dabei will ich die Position der Liberalen bis an den Punkt verteidi -
gen , an dem meiner Ü berzeugung nach die Kommunitaristen ein besse-
res, allerdings noch nicht sehr klares Argument besitzen . Das Fernziel
meiner Rekonstruktion ist ein Beitrag zu der Frage, welche philo-
sophischen Ü berlegungen sich zu einer angemessenen Beurteilung der
anfangs genannten Individualisierungstendenzen unserer Gesellschaft
beibringen lassen .
Ich beginne mit dem Einwand , mit dem Michael Sandd die hier zur Rede
stehende Diskussion in gewisser Weise er öffnet hat. da ß John Rawls in seiner
Theorie der Gerechtigkeit einen atom irischen Begriff des Subjekts voraussetzt,
der ihn daran hindert, den notwendigen Vorrang des Guten, eines gemein-
schaftlichen Wertes also, vor der Dimension der » Rechte « zu erkennen ; diesen
Vorwurf kann Rawls mit plausiblen Argumenten zur ü ck weisen , indem er mit
Blick auf das Erklarungszicl seiner Gerechtigkeitstheoric den zu ^ schmalen «
Begriff des Subjektes preisgibt, den er der vertragstheoretischen Tradition ent-
nommen hatte (1). Aui diesen Schritt von Rawls hin, so m ö chte ich dann zeigen ,
k önnen die Kommunitaristen nur dadurch reagieren , da ß sie ihre eigene Thesc
von der Vorrangigkeit des Guten statt auf die Dimension der persönlichen
Autonomie auf diejenige der individuellen Selbstverwirkhchung beziehen , also
die Unterscheidung von » negativer « und * positiver « Freiheit in ihr Begr ü n -
dungsprogramm aufnehmen; das damit vorgebrachte Argument wird John
Rawls akzeptieren m üssen* kann aber nun seinerseits an die Kommunitaristen die
Frage zur ü ck geben* welche M ö glichkeiten zur normativen Unterscheidung zwi-
schen verschiedenen Gehalten des »Guten * sie besitzen (II). Die letzte, dritte
Runde der Auseinandersetzung wird schließlich in dem Nachweis bestehen , da ß
die Kommunitaristen in dem Versuch einer Antwort auf die R ückfrage von
Rawls unversehens gezwungen sind, ihre relativistischen Prä missen in Frage zu
stellen: denn sie können ihre Vorstellung einer R ü ckgebundenheit der individuel -
len Selbstverwirklichung an einen Horizont gemeinsam geteilter Werte nur dann
gegen ü ber der Skepsis des Liberalen retten, wenn sie an die Stelle einet sittlichen
Begr ü ndung der Moral ein normatives Konzept der Sittlichkeit setzen (111) .

John Rawls har bekanntlich den Universalitätsanspruch seiner Theorie


der Gerechtigkeit, deren normativer Kern in zwei Prinzipien besteht , die
das Verhä ltnis des Zieles maximaler Freiheitsrechte mit dem Gebot der
ökonomischen Gerechtigkeit untereinander ausbalancieren sollen , zu-
nächst durch eine vertragsrechtliche Konstruktion zu rechtfertigen ver-
86 Axel Honmeth PhR 38
suche: unter den fiktiven Bedingungen eines Urzustandes, in dem die
zweckrational orientierten Subjekte sich unter einem Schleier der Un-
kenntnis ü ber ihre zuk ü nftige soziale Position dar ü ber beraten, auf wel-
che Organisationsform von Gesellschaft sie sich vertraglich einigen sol -
len, w ü rden sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf jene beiden Ge -
rechtigkeitsprinzipien festlegen, die von Rawls zuvor normativ ausge
zeichnet worden waren.
-
Allerdings ist das Begr ü ndungsverfahren , das Rawls seiner Gerechtig-
keitstheorie zugrundelegt, wesentlich anspruchsvoller als das der klassi-
schen Vertragstheorien. Zun ä chst wird bereits die & urspr ü ngliche Situa
tion « , jenes Insgesamt an Bedingungen also, unter denen der fiktive
-
Vertragsschlu ß statt finden soll in einem normativen Sinn definiert: der
» Schleier der Unkenntnis « , der d e vertragschließenden Subjekte daran
^
hindert, um ihre zuk ü nftigen Begabungen und Sozialposition zu wissen ,
soll garantieren , da ß der VertragsSchlu ß unter fairen , nä mlich egalitä ren
Voraussetzungen stattfindet. Um diese normativen Situationsbestim-
mungen nun freilich nicht als moralische Pr ä missen unbegrü ndet in seine
Theorie cinflicßcn zu lassen , versucht Rawls sie zweitens an den intuiti
ven Vorstellungen von Gerechtigkeit zu ü berpr ü fen, die in unserer mora-
-
lischen AlltagskuLtur vorherrschen; aus dem schrittweise wiederholten
Vergleich zwischen der normativen Definition der Vertragssituation und
den zunehmend abstrakteren Gerecht igkeits Intuitionen soll sich metho-
disch ein frreflektives Gleichgewicht « ergeben, in dem die moralischen
Pr ä missen der Theorie insofern als begr ü ndet gelten k ö nnen , als sie sich
in Ü bereinstimmung mit unseren allgemeinsten Bestimmungen des
» moral point of view « befinden . Erst die auf diese Weise gerechtfertigten
Vertragsbedingungen sollen dann schließlich den Rahmen darstellen f ü r
jenen Vertragsschlu ß, den Rawls sich als eine entscheidungstheoretisch
zu rekonstruierende Verfassungswahl unter nutzenorientierten Subjek-
ten vorstellt : die versammelten Individuen w ü rden sich in ihrer Be
schlu ßfassung auf den Grundsatz gr öß tm ö glicher Freiheiten und das
-
Differenzprinzip einigen , weil sie beide zusammengenommen ihnen un-
ter Bedingungen der Unkenntnis ü ber ihre zuk ü nftige Sozialposition ein
Optimum an den f ü r ihre individuelle Selbstverwirklichung notwendi-
gen Prim ä rg ü tern garantieren kö nnten 4.
Es ist nun der Begriff der menschlichen Person, der in diesem entschei-
dungstheoretisch umformulierten Verfahren des Vertragsschlusses ange-
legt ist , an dem Michael Sande!seine philosophische Kritik des Liberalis-
mus zunä chst festgemacht und damit der sich anschließ enden Debatte
4 Vg] die Zusammenfassung von OTFSHED HöFFE, Kritische EmFührung in EUwls Theo-
.

rie der Gerechtigkeit , in: O . HöFFE (Hg. ) , Ü ber Jchn Ravte Theorie der Gerethtigketi ,
Frankfurt / M. D77, S. 11 ff .
PhR 38 Grenzen des Liberalismus 87

ihren besonderen Weg gewiesen hat; fiir ihn ist ein systematischer Zu
sammenhang zwischen dem Liberalismus und jenem Personenbegriff
-
dann angelegt, da ß sich die Idee gleicher Rechte nur dann einem Konzept
des » Guten << normativ vorordnen läßt, wenn die Subjekte fälschlicher -
weise als ihre Ziele jeweils monologisch w ä hlende Wesen vor gestellt
werden (Sandei , Liberalism and the Limits of Justice , v a. Kap. 1) .
,

Sandeis urspr ü nglicher Ein wand gegen Rawls umfa ß t mithin zwei
Schritte: zunä chst mu ß er die Unangemessenheit des in der Rawlsschen
Vertragskonzeption vorausgesetzten Modells der menschlichen Person
vorfuhren , um dann die konstitutive Abh ä ngigkeit der liberalen Grund
idee von diesem falschen Personenkonzept nachzuweisen .
-
Die theoretischen Mittel , die Sandei verwendet, um die erste Aufgabe zu
bewältigen, sind die einer methodisch zwar unbestimmt bleibenden, implizit aber
weitgehend phänomenologisch verfahrenden Anthropologie ( zur Definition :
50) Wer wie Rawls, so setzt Sandl ein , den Vertragsschluß im Sinn eines entschei -
.

dungstheoretisch gefaßten Verfahrens konstruiert, der schreibt den menschlichen


Subjekten zwangslä ufig folgende Eigenschaften zu: es sind vereinzelte, unabh ä n-
gige Personen , die nach Maßgabe der zweckrationalen Kalkulation ihrer jeweili -
gen Interessen individuelle Lebensziele wählen. Von einer » Wahl « hier zu spre-
chen , hei ß t zudem , sich das Verhältnis der Person zu ihren Lebenszielen als eines
der nachträglichen Verf ügung vorzustellen : das Subjekt besitzt stets gen ü gend
Distanz zu allen möglichen Wertorientierungen, um zwischen ihnen wie im Akt
der Kaufentschddung voluntativ ausw ä hlen zu k önnen. Insofern ist aber die
moralische Person, die in jener vertragstheoretischen Konstruktion vorausgesetzt
wird , nicht nur ein vereinzeltes und unabh ängiges, sondern auch ein zun ächst
unsituiertes, gewissermaßen neutrales Subjekt : es ist » a subject of possession,
individuated in advance and given prior to its ends « (59) .
Gegen ü ber diesem Personen begriff macht Sande) nun zunä chst die
These geltend , da ß sich Subjekte nicht sinnvoll unabh ä ngig von ihren
jeweils bestimmenden Lebenszielen und Wertorientierungen beschreiben
lassen: jede menschliche Person ist immer schon durch irgendein Lebens-
ziel so konstitutiv gepr ä gt , da ß sie prinzipiell nicht in eine Situation ge
ratenkann, in der sie in einem Akt der Wahl allen möglichen Lebenszielen
-
gegen ü ber eine distanzierende Haltung einzunehmen vermag. Daher ist
es falsch, konzeptuell von einem Subjekt auszugehen , das unsituiert ,
ethisch neutral ist ; vielmehr m üssen wir stets mit bereits » radikal situ-
ierten fl Personen (vgl. etwa 21) rechnen, also Menschen, die sich immer
schon im Horizont von bestimmten Wertvotstellungen verstehen und
bewegen: » Ehe problem hcre (is) not the distance of the selffrom its ends ,
but rather the fact that the seif, being unboundcd in advance, (is) awash
with possible purposes and ends , all impinging indiscriminately on its
identity , threatening always to engulf it , The challenge to the agent (is) to
sortoutthe lim its or the boundaries ofthe seif, to distinguish thesubject
from its Situation , and so to forgeits identity , * (152)
SH Axel Hunneth PhR 38
Weil diese identitä tsstiftenden Lebensziele darü berhtnaus aber nur auf
intersubjektivem Wege erworben werden, nä mlich durch kommunika
tiv vermittelte Prozesse der kulturellen Sozialisation, ist auch die Voraus-
-
annahme voneinander isolierter , selbstä ndiger Subjekte theoretisch un-
haltbar : wie auch immer individuell gebrochen, beziehtjede menschliche
Person ihr Selbstversc ä ndnis aus einem kulturellen Fundus intersubjektiv
geteilter Wertorientierungen , so da ß sie als ein solipSBti&ches, vor gesell-
schaftliches Wesen theoretisch nicht einmal vorstellbar ist.
Wenn sich auf diese Weise zeigen läßt, daß der von Rawls vorausgesetzte
Personen begriff unhaltbar , ja falsch ist, dann muß der n ächste Schritt der Wider-
legung seiner Theorie nun in dem Nachweis der konstitutiven Abhängigkeit der
liberalen Grundidee von jenem Personenbegriff bestehen . Sande! unterm mmt die
Lösung der damit verkn üpften Aufgabe, indem er vorzuf ühren versucht, daß sich
die normative Verordnung der Idee gleicher Rechte vorjedem Konzept des guten
Lebens allein aus der anthropologischen Prämisse vereinzelter und unsituierter
Subjekte ergeben kann : denn nur, so lautet sein Argument, wenn die Personen als
ihre Ziele jeweils monologisch wählende Wesen vorgestellt werden , ist es über-
haupt sinnvoll , als das zentrale Ziel einer gerechten Gesellschaft die rechtliche
Sicherung der individuellen Entscheidungsfreiheit anzusehen. Subjekte, von de-
nen wir annehmen, daß sie ihre Wertprämissen isoliert in FOTIH einer Wahl
bestimmen, bed ü rfen zunächst des Schutzes ihrer individuellen Autonomie vor
den normativen Einfl üssen der Gcmeinstha ft; eine solche neutrale Schutzvorrich-
tung stellt die Institution gleicher Freiheitsrechte dar , die deswegen, weil sie kcnie
wei (ergehende Bestimmung des gemeinsamen Gutes vomimmt , jeden Einzelnen
in seiner Entscheidungsfindung alleine läßt .
Daher ist die liberale Grund Vorstellung allgemeiner Grundrechte das
notwendige Erg ä nzungsst ü ck zu einer atomistischen Konzeption der
moralischen Person: » On the right-based ethics , it ist precisely because
we are essentially separate, independent selves that we need a neutral
framework, a framework of rights that refuses to choose among compe-
ting purposes and ends. If the seif is prior to its ends, then the right must
'

be prior to the good * J . Wird das Subjekt hingegen als ein kommunikativ
sozialisiertes , seine Lebensziele nicht w ä hlendes, sondern im sozialen
Austausch suchendes und entdeckendes Subjekt vorgesteilt, dann mu ß
sich das V orzugsVerh ä ltnis von » Rechten * und » Werten « gewisserma ßen
umkehren: denn der Einzelne bedarf, um zwanglos zu einem angemesse-
nen Verstä ndnis seiner selbst gelangen zu können , der Voraussetzung
einer intakten Gemeinschaft, in der er sich det Solidarit ä t aller anderen
gewiß sein kann . Insofern erzwingt der aus der Kritik des Atomismus
gewonnene Begriff der * radikal situierten « Person die normative Vor -
rangstellung der Vision gemeinsam geteilter Werte vor der Idee gleicher
Rechte.
Es ist dieser zweite Schritt in der Argumentation Sandeis, gegen den
5
MichaelJ - SANDEL, Introduction, in : Liberalism and ifj Cniifj, New York 1994, S . 5 .
PhR 38 Grenzen des Liberalismus 89

Rawls nun mit guten Gr ü nden Ein w ä nde erheben kann, um den Grund
gedanken seiner Theorie der Gerechtigkeit zu verteidigen , Selbst wenn ,
-
so läß t sich jm Sinne seiner Ü berlegungen argumentieren, die Identitä t
einer Person stets schon durch eine bestimmte Interpretation des guten
Lebens konstituiert ist, mu ß der Idee gleicher Rechte eine Vorzugsstel -
lung in der Beantwortung der Frage zukommen , wie eine wohlgeord-
nete Gesellschaft auszusehen hat; denn die individuelle Suche nach dem
Guten , die tatsä chlich angemessener als ein Proze ß der kommunikativ
vermittelten Selbst Verstä ndigung denn als ein Akt der monologischen
Wahl zu beschreiben w ä re , bedarf von seiten des sozialen Gemeinwe-
sens der Sicherung bestimmter Grundrechte und eines elementaren
Wohlstandes, Die rechtliche Garantie persönlicher Autonomie ist nicht
etwas , was dem lntersubjektiven Prozeß der pers ö nlichen Identit ä tsbil -
dung im Wege steht, sondern ihn umgekehrt gerade erst gesellschaftlich
ermöglicht; ohne ein bestimmtes Ma ß an ö konomischem Wohlstand
und ohne rechtlich garantierte Grund freiheiten wä re nä mlich das indivi-
duelle Subjekt gar nicht in der Lage , sich zwanglos mit alternativen
Vorstellungen vom Guten zu besch äftigen und sie gegebenenfalls f ü r
seinen eigenen Lebensplan fruchtbar zu machen. Daher besteht zwi-
schen dem atomistischcn Begriff des » unsituierten « Subjekts und der
liberalen Idee gleicher Rechte keine logisch notwendige Verkn ü pfung;
vielmehr läßt sich die normative Auszeichnung rechtlicher Grundfrci ^

beiten auch dann rechtfertigen , wenn der anthropologische Ein wand


Sandcls akzeptiert wird und die Subjekte als » radikal situierte * stets T

schon kommunikativ vergesellschaftete Wesen begriffen werden . Aus


dem » ontologischen* Vorrang des Guten im menschlichen Lebenszusam-
menhang kann auf die normative Vorzugsstellung des Guten ü ber dem
» Rechten « ja gerade nicht zur ückgeschlossen werden6; vielmehr geb ü hrt
dem » Rechten « normativ deswegen der Vorrang , weil nur die Respek *

ticrung der individuellen Autonomie jedes Einzelnen die » ontologisch *


angelegte Suche des Menschen nach dem » Guten « auf eine zwanglose
Weise ermöglicht.
Ä hnlich gerichtete Ein wä nde sind schon von verschiedenen Seiten
gegen ü ber der Rawls-Kritik Sandeis geltend gemacht worden. So hat
Amy Gutmann in ihrer Auseinandersetzung mit den » Commumtanan
Critics of Liberalem * 7 zu zeigen versucht , da ß Sandei die normative
h Zu dieser Unterscheidung von »normativem und u ontologischem Argumentaliqns-
ebene in Bezug auf die Liberalismuskritik vgl . jetzt den kl ä renden Aufsatz von CHAIU . ES
TAYLOR , Cross-Purpos«: The Ltberal -Communiun üin Debate , in; NANCY L . ROSü NHLUM
(ed ), Libcratism atulrftt Moral Li ß , S 159 ff .
.
7 in; Philosophy G Public A ßatrs , vol . 14 1935 , S . 308 ff . auf einer vergleichbaren Ebene
*
liegen die Ein w ände von KENNETH BAYWES, The liberal / comm unitinan COntröversy and
communicativecthics, inj Pkilasophy G SflfetfJ CrifjojHj, Vol - 14, H . 3/4, S. 293 fF.
90 Axel Honneth PhR 38
Grundorienticrung des Liberalismus schon deswegen grunds ä tzlich miß -
verstehen mu ß * weil er dessen historischen Bezugspunkt unber ü cksich -
tigt l äß t: sobald n ä mlich aufgrund des Zerfalls traditioneller Weltbilder
davon auszugehen ist , da ß die Menschen im Prinzip konfligierende Vor-
stellungen vom Guten vertreten , mu ß Gerechtigkeit oder die Idee glei -
cher Rechte als die zentrale » Tugend « der politischen Ordnung angese*
hen werden* da die Freiheit zur Verwirklichung eigener Lebensziele zum
obersten Gut geworden ist . Wird diese , gegen ü ber dem urspr ü nglichen
'

Ansatz von Rawls freilich historisch relativierte Prä misse zugrundege-


legt* erweisen sich schnell die methodischen Grenzen des anthropologi -
schen Einwandes von Sandel: denn auch der » kommunitaristisch « erwei -
terte Personbegriff schließt nicht aus , da ß » we may acoept the politics of
rights not becausejustice is prior to the good * but because our search for
the good requiires socicty to protect our right to certain basic freedoms
and welfare goods « 8.
Einen vergleichbaren Ein wand hat Charles Larmore in seinem Buch
» Patterns of Moral Complexity * gegen ü ber Sande! vor gebracht* nach
dem er dessen Studie zuvor bereits in einer kurzen Rezension einer
-
scharfen Kritik unterzogen hattet Larmore legt seiner Argumentation
die etwas grobe Unterscheidung zwischen expressivistischen und libera -
-
len Konzeptionen der politisch öffentlichen Sph ä re zugrunde: w ä hrend
in jener, auf romantisches Traditionsgut zuriickgehenden Konzeption
das Politische als ein Ausdrucksfeld von ethischen Anliegen des Men-
schen begriffen wird , hat diese* die liberale* aufHume und Locke zur ü ck -
gehende Tradition das Politische stets als einen rechtlichen Koopera
tionszusammenhang verstanden * der ethisch so neutral wie m ö glich ver-
-
fa ß t sein mu ß , weil sich unter modernen Bedingungen die Vorstellungen
ü ber das Gute radikal plurdisiert haben und daher prinzipiell nicht mehr
in einer einzigen Idee zu vereinheitlichen sind* Wie in der politischen
Philosophie Kants* so fließen nun f ü r Larmore auch in der Gerechtig-
keitstheorie von Rawls beide Strö mungen zu einem spannungsreichen
Theoriegebilde zusammen , da in ihnen die politische Ordnung zwar
einerseits unter dem Gesichtspunkt der Ermö glichung gerechter Koope-
ration konzipiert * andererseits aber auch als ein Ausdruck unserer » high -
est moral ideals * (121) verstanden wird , ln dieser romantischen Unter -
strö mung erblickt Larmore die Schwachstelle im Ansatz von Rawls , an
der ein » expressivi $tischer « Theoretiker wie Sandel kritisch ansetzen
kann: wenn die politische Ordnung nä mlich zusä tzlich noch ein Abbild
unserer zentralen Persönlichkeitsideale abgeben soll, l äßt sich die Not-
wendigkeit ihrer ethischen Neutralitä t leicht dadurch in Frage stellen , da ß
* ebd , 5.311 , Fn 14.
.

’ in: Journal ofPhibsvpky . vol , LXXX1, no . 6, 19«+, S 336 ff


. .
PhK 38 ( iiemendes Liberalismus 91

die Orientierung am Guten als ein bestimmender Zug menschlichen


Daseins nachgewiesen wird , (120 ff. )
H ä tte Rawls hingegen mir > so Larmore, entschieden genug jedes ro
mantische Element aus seiner Theorie verbannt, indem er ihre immanen
--
te R ü ckbindung an einen bestimmten Begriff der menschlichen Person
gä nzlich aufgelöst h ä tte, dann wä re seine Konzeption von Gerechtigkeit
gegen ü ber allen Einwä nden solcher Art vollkommen immun geblieben:
denn die politische Ordnung w ü rde ohne einen derartigen expressi vis ti
schen Rcstbcstand allein noch als rechtliche Organisationsform eines
-
» modus vivendi « verstanden, in der Subjekte deswegen konfliktlos mit-
einander kooperieren k ö nnen , weil ihre divergierenden Vorstellungen
ü ber das Gute nur innerhalb ihrer Privatsph ä re von Belang sind* Erst
-
diese klassisch liberale Trennung von » privat « und » ö ffentlich « , von
» hommefl und » citoyen « (124) , macht f ü r Larmore die methodische
Bedeutung vollkommen verstä ndlich , die der Rawlsschen Fiktion eines
» veil ofign ü rance « theoretisch zukommen mu ß: » Since modern , plurali-
stic societies cannot expect general agreement about the natu re of the
good life, the veil of ignorance will serve not as a basis for arriving at the
truth about the good, but rather as a means for devising prmciples of
political Cooperation that are neutral with res pect to the conflicting
conceptions of the good. « (124) Es wird sich allerdings zeigen* da ß
Larmore mit dieser strikten Trennung von ^ privater « und » öffentlicher «
Sph ä re eine Tendenz des Liberalismus nur noch bekräftigt, deren Pro -
bleme auf der zweiten Stufe der kommunitari$ti$chen Kritik deutlich zu
tage treten10 .
-
Rawls kann ü ber die damit grob umrissene Verteidigung seines
Grundmodells hinaus jedoch sogar noch einen Schritt weitergehen, in -
dem er nun Sandei mit der Frage konfrontiert, ob dieser denn seinerseits
die Bezugnahme auf einen normativen Ma ßstab gleicher Grundrechte in
der Beurteilung politischer Vorg ä nge ü berhaupt vermeiden kann . Ein
Beispiel, auf das er sich dabei wird beziehen k önnen , ist der von Sandei
herangezogene Fall der amerikanischen B ü rgerrechtsbewegung; ihre po -
litischen Ziele werden, so lautet Sandeis These, sowohl der Liberale
Rawlsscher Pr ägung als auch der Kommumtarist normativ verteidigen
wollen , dabei allerdings von sehr unterschiedlichen Argumenten Ge-
brauch machen m ü ssen: » The civil rights movement ofthe 1960s might
be justified by liberals in the name of human dignity and respect for
Eine ferniinirische Kritik an der Unterscheidung Larmores hat jetzt SUSAN MöLLER
QKIN entwickelt vgl. Humanist Liberalisrn , in ; NANCYL , ROSENBLUM (ed , ) , Liberalem and
,

the Moral Lift , S . 39 ff . . Die Unterscheidung von » privat * und » öffentlich « steht auch im
Zentrum eines instruktiven Aufsatzes , in dem sichJ. R . WALLACH milder Debatte iw^chen
Liberalen und Kommunhansten iusein andergesetzt hat: ders . , Liberals, Communitamns,
and the Task of Political Theory , in : Political Tkeory , vol . 15 ( 19R 7) , no. 4, S . ff .
92 Axel Honncth RhR 38

persons , and by commumtarians in the name of recogmzmg the full


membership of fdlow citizens wrongly excluded from tbe common life
ofthc nation *11.
Was in diesem Fall » wrongly « heiß en soll, so wird Rawls einwendeti
können , vermag sich doch ü berhaupt nur aus der impliziten Bezugnahme
auf jenen Ma ßstab universeller und gleicher Bü rgerrechte zu ergeben ,
den die Theorie der Gerechtigkeit zu begr ü nden versucht ; denn ohne die
Voraussetzung t:mcs Grundsatzes allgemeiner Menschenrechte* wie ihn
etwa die amerikanische Verfassung enth ä lt, läßt sich die normative Be
hauptung gar nicht rechtfertigen , da ß einem Kreis von Personen » f älsch
--
licherweise* der rechtliche Status vollwertiger B ü rger vorenthalten
wird. Bevor Rawls allerdings alle Implikationen dieses Arguments gegen
den Ansatz der Kommumtansten zur Geltung bringen kann , mu ß er
zun ä chst die Differenzierungen zur Kenntnis nehmen , die jene inzwi -
schen als eine Antwort auf seine Abkoppelung des normativen Rechts-
prinzips von der Grundlage des atomist ischen Personenbegiffs vor ge-
nommen haben

1L
Die erste Runde der Auseinandersetzung hat gezeigt* daß John Rawls
den normativen Vorrang der Gerechtigkeit vor dem Guten auch dann
rechtfertigen kann , wenn er auf der ontologischen Ebene zugesteht, da ß
die Subjekte sich stets schon auf bestimmte Werte hin verstehen * die sie
mit anderen Interakrlonspartnern kommunikativ teilen ; denn die von
ihm entwickelten Gerechtigkeitsprinzipien haben zunä chst einmal nur
den negativen Zweck , den Einzelnen innerhalb des Gemeinwesens vor
sozialen und ö konomischen Sanktionen zu sch ü tzen , die ihn in der prakti -
schen Erkundung seiner individuellen Lebensziele einschr ä nken w ü rden .
Freilich hat Rawls gleichzeitig auch einzugestehen , da ß ihn die Akzeptie
rung des anthropologischen Einwands Sandeis dazu n ötigt , eine Revision
-
seines ursprü nglichen Begr ü ndungsprogramms vorzunehmen; sobald
die menschlichen Subjekte nä mlich nicht mehr als isolierte und neutrale
Wesen * sondern als bereits vorgä ngig vergesellschaftete und prinzipiell
wertorientierte Wesen vorgestellt werden* entfä llt die M ö glichkeit, die
Fiktion eines Vertrages untet zweckrational kalkulierenden Einzelsub-
jekten als Basis der Rechtfertigung seiner Theorie zugrundezulegen.
Dies mag die Richtung zu erklä ren helfen, in die Rawls seine Konzep-
tion nach der » Theorie der Gerechtigkeit « weiteremwickelt hat: zwar
gibt er nicht die prozeduralistische Konstruktion einer » original posi -
11 Michael J . SANDEI Inuoduction, in: ders. (ed ) , Liberalem and Its Critics , a . a .O - , S . fr.
,
PhR 38 Grenzen des Liberalismus 93

tion « preis, aber der Stellenwert , den sie innerhalb der Begr ü ndung von
Gerecht!gkeit &grunds ä tzen erh ä lt, wird nun stä rker im Sinne des Kom-
munitarismus ausgclcgt . In »Justice as Fairness; Political not Metaphysi-
cal «, einem f ü r seine Theorieentwicklung zentralen Aufsatz 12 , stellt
Rawls zun ä chst die Kontextgebundenheit seiner Gcrethtigkeitskonzep
tion heraus: da ß diese nicht als ein » metaphysischere , sondern als ein
-
» politischer « Entwurf gedacht wird , hei ß t entgegen dem bislang ma ß-
geblichen Sei bst Verst ä ndnis, da ß » it Starts from wirhin a certain political
tradition « L \ n ä mlich dem politischen Traditionszusammenhang der
westlichen Demokratien , Dementsprechend handelt es sich bei dem Per-
sönlichkeit;; ideal , das der theoretischen Konzeption normativ zugrunde-
liegt , nicht etwa um dasjenige eines abstrakten , mit bestimmten F ä hig-
keiten ausgestatteten Subjekts , sondern um das eines » normalen « Staats -
bü rgers einer westlichen Demokratie: wie von den Kommunitaristen
ein ge klagt, werden die moralischen Personen also zun ä chst als » situ-
ierte « , gemeinsame Wer ( Ü berzeugungen teilende Subjekte vorgesteß t .
Von diesen Subjekten wird nun freilich konstruktiv angenommen, da ß
sie in ihrem Streben nach kooperativen Zielsetzungen das Gedankenex -
periment einer » original position * als eine Art von » device ofrepresenta-
tionc 14 akzeptieren : unter der faktischen Voraussetzung divergierender
Vorstellungen ü ber das Gute erscheinen ihnen die fiktiven Einschr ä nkun-
gen einer derartigen Beratungssituation der angemessenste Ausdruck f ü r
die normativen [deale zu sein , die sie gemeinsam von einem gerechten
System gesellschaftlicher Kooperation besitzen. Mithin stellt f ü r Rawls
die Idee der vertraglichen Einigung jetzt eine normative Prozedur dar, die
ihrerseits ü berhaupt erst in den kollektiv geteilten Wert ü berzeugungen
-
von B ü rgern westlicher Demokratien begr ü ndet ist und diese kontex
tualisti &che R ückbindung der » original position « an eine bestimmte Mo-
-
raltradition l äßt si ch als ein Kompromi ß zwischen seinem urspr ü nglichen
Prozeduralismus und den Ein wä nden seiner kommunitaristischen Kriti -
ker verstehen .
Die Kommunitansten andererseits sind in der Reaktion auf das Rawls -
sche Gegenargument gezwungen, die normative Ebene ihrer Kritik des
Liberalismus genauer zu bestimmen; es ist nicht schon das moralische
Prinzip der individuellen Autonomie , das durch den anthropologischen
Nachweis der Vorg ä nglichkeit der sozialen Gemeinschaft vor dem Indi -
viduum theoretisch in Zweifel zu ziehen ist , weil auch der intetsubjektiv
gedachte Prozeß der ethischen Selbstvergewisserung des Schutzes vor
12
JOHN RAWLS, Jusiit.e ü Fairness : Poliiical not Metaphysical, in: Phibsophy and Public
A ßiirs , vol . 14, 1985. S 223 ff
u cbd . , S. 225.
14 ebd. + 5. 236.
94 Axel Hqnncth PhR 38
sozialen und ökonomischen Beeintr ä chtigungen bedarf Individuelle Au,
-
tonomie ist cm moralisches Prinzip, das selbst dann zu verfolgen richtig
ist, wenn grunds ä tzlich davon ausgegangen wird , da ß sich die persönli-
che Identitä t des Subjekts nur unter der Bedingung von sozial intakten
Gemeinschaften bildet; denn erst der rechtlich gewä hrte Freiheitsspiel -
raum versetzt den Einzelnen in die Lage , sich zwanglos mit den ethischen
Werten seiner Umwelt auseinanderzusetzen und sie sich gegebenenfalls
zu eigen zu machen . Der theoretische Schritt, mit dem die Kommunitä ti-
sten auf dieses vorlä ufige Zwischenergebnis zu teagieren vermögen , ist
eine R ück Verlagerung ihrer Kritik des Liberalismus von der Ebene der
individuellen Autonomie auf die der persönlichen Selbst Verwirklichung:
was die liberale Position dann fehlerhaft sein ließe, wate die Ü berzeu-
gung , da ß sich auch der Prozeß der Verwirklichung pers önlicher Lebens-
ziele unabhä ngig von der Bezugnahme auf gemeinschaftlich geteilte
Wette normativ bestimmen läßt. Die Argumente f ü r eine solche, gegen -
ü ber Sandei gem äß igte Kritik des Liberalismus lassen sich in der Frei
heitstheo rie Charles Taylors, aber auch im Pers ö nlichkeitskonzept Alas-
-
dair Maclntyres finden .
Taylor kn üpft an die von I &aiah Berlin entwickelte Unterscheidung von negati-
ven und positiven Freiheitskonzeptionen an, um seine Bedenken gegen das
liberale Geschiehaftsmodell vorzutragen; dabei verleiht er freilich den beiden
Ansätzen eine etwas andere Bedeutung , als sie ihnen Berlin in seinem berü hmten
Aufsatz hatte zukommen lassen 1 - Die Idee der negativen Freiheit , eme zentrale
Errungenschaft der Tradition des politischen Liberalismus, stellt für Taylor ein
bloßes Mö glichkeicskonzept von individueller Freiheit dar; darin geht es nä mlich
allein um eine Beantwortung der Frage, welche sozialen Schutzvorrichtunger « es
dem einzelnen Subjekt ermöglichen, seine individuellen Lebensziele im Rah men
des Gemeinwesens autonom zu h es tim men .

Demgegen ü ber sieht Taylor in der Idee der positiven Freiheit, die aus
der Kritik am Liberalismus hervorgegangen ist, ein Verwirklichungs-
konzept von individueller Freiheit angelegt; denn darin wird zusä tzlich
die Frage zu beantworten versucht, welche sozialen Voraussetzungen
gegeben sein müssen, damit der Einzelne von der ihm rechtlich gew ä hr -
ten Freiheit der Selbst Verwirklichung auch tatsächlich Gebrauch machen
kann: » Doktrinen positiver Freiheit haben eine Auffassung von Freiheit
zum Thema, die ganz besonders die Aus ü bung von Kontrolle ü ber das
eigene Leben betrifft. Dieser Auffassung zufolge sind wir nur in dem
Ma ße frei, in dem wir tatsä chlich ü ber uns selbst und die Form unseres
Lebens bestimmen. Der Freiheitsbegriff ist hier ein Verwirklichungsbe -
griff Negative Theorien können sich im Gegensatz hierzu einfach auf
einen Möglichkcitsbegriff berufen , dem zufolge frei zu sein davon ab-
|S
ISAIAH BERLIN , Two Concepis of Liberty, in ; den, , Four Esütys tm Liberty , Oxford
1969, S, 118 fT-
PhR 38 Grenzen des Liberalismus 95

hangt, was wir cun k önnen , was unserem Handeln ofte ns teilt, unabh ä n-
gig davon , ob wir etwas tun , um diese Optionen wahrzunehmen oder
nicht * (Der Irrtum der negativen Freiheit, int Charles Taylor , Negative
,

Freiheit? , S. 121)
Die Schw ierigkeiten, die Taylor bei dieser Unterscheidung von » Mög-
lichkeit « und » Wirklichkeit « vor Augen hat, ergeben sich aus den An
sprü chen, die mit dem Wort » tatsä chlich « im Zusammenhang mit
-
»Selbstbestimmung « implizit verkn ü pft sind: zur neuzeitlichen Idee der
Verwirklichung einer rechtlich gesicherten Freiheit gehört die Vorstel-
lung , da ß wir nur jene persönlichen Zielsetzungen verfolgen und prak-
tisch realisieren , deren wir uns » wirklich « als unsere eigenen sicher sein
können. » Wirklich * oder » tats ächlich « heißen dabei all die individuellen
W ü nsche, mit denen wir uns deswegen zwanglos zu identifizieren ver-
m ögen, weil wir sie nicht nur unabh ä ngig von ä u ßeren Einfl üssen,
sondern auch frei von inneren Zwä ngen haben erkunden können ; eine
solche » innere* Freiheit aber verweist wiederum auf einen bestimmten
Grad an »Selbstbewu ß tsem * und » moralischer Urteilsfä higkeit * , an
» Selbstkontrolle « und Bed ü rfnistransparenz (124) . Insofern setzt die
» Verwirklichung * von Freiheit bestimmte Fä higkeiten von seiten der
Subjekte voraus, die die negativen Frei hei tskonzeptionen aus ihren Be-
trachtungen ausschließen . Von diesen F ä higkeiten nimmt Taylor nun an ,
da ß ihre Entwicklung an die Voraussetzung der Existenz intakter Ge
meinschaften gebunden ist
-
Die Argumente, mit denen Taylor diese zentrale These seiner Libera-
lismuskritik zu st ü tzen versucht, entstammen einem » anthropologi-
schen * Konzept der menschlichen Person, das mit demjenigen Sandeis
die Konzentration auf das evaluative Selbst Verstä ndnis des Menschen
teilt16. Menschliche Personen sind f ü r Taylor Wesen , denen die besonde
re Fä higkeit eigen ist , gegen ü ber ihren Absichten oder W ü nschen selber
-
noch einmal wertend Stellung zu nehmen (Was ist menschliches Han-
deln ?, ebd . , S. 9 fF. ); solche » second order desires * teilen sich uns ge-
wöhnlich in Form von Gef ü hlen oder Stimmungen mit, die uns signali-
sieren, ob sich unsere aktuellen, primä ren Handlungsabsichten in Ü ber
einstimmung oder Konflikt mit unseren leitenden Wert ü berzeugun-
in
-
gen befinden. Derartige Gef ü hle sind aber ihrerseits nun nicht etwas
» unmittelbar « Gegebenes, sondern von Interpretationen abhä ngig , in
denen ein kognitives Wissen ü ber unsere situationellen Umstä nde und
persönlichen Fä higkeiten eingegangen ist . Weil dieser kognitive Gehalt
unserer affektiven Selbstinterpretationen falsch oder richtig sein kann ,
16 Zu diesem Persänlichkeitskonzept das Taylor im Anschluß an Harry Frankfurts
+

berühmte Konzeption der »SOC ü nd Order desires * entwickelt , vgl. mein » Nachwort « in :
CHARIES TAYLOR, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichert Individualismus' S. 295 ff.
% Axel Honneth PhR 38
nä mlich die entsprechenden Umstä nde und Fä higkeiten mehr oder weni -
ger angemessen wiederzugeben vermag , steht er einer korrigierenden
Au ßenbeurteilung durch andere Subjekte offen. Zu einer solchen hilf-
reichen Korrektur unserer SelbsInterpretationen sind jedoch wiederum
nur solche Wesen in der Lage, die mit uns die Orientierung am Ziel der
individuellen Sei bst Verwirklichung wenhaft teilen ; insofern setzt die
Herausbildung innerer Freiheit die Existenz einer sozialen Gemeinschaft
voraus, deren Mitglieder sich zumindest in der positiven Bezugnahme
auf jenen Wert einig wissen (Der Irrtum der negativen Freiheit,
S. 136 ff , ).
Aus der damit umnssenen Argumentation ergibt sich, daß das einzelne
Subjekt sich unabh ä ngig von kommunikativen Hilfeleistungen seiner
» authentischen « Lebensziele niemals vollkommen gewiß sein kann, ja ,
sie sich ihrer noch nicht einmal zu versichern vermag: von welchen
Werten ich mich in meinem Leben » tats ä chlich « leiten lassen will , ergibt
sich f ü r mich vielmehr ü berhaupt nur in dem Ma ße , in dem ich in
Interaktion mit Anderen trete, die mich in der Erkundung meiner Be-
-
d ü rfnisse unterst ü tzen und gegebenenfalls vor Selbsttä uschungen sch ü t
zen , Daher sichert die rechtliche Gewä hrung individueller Selbstbestim -
mung nur die Möglichkeit: von Freiheit, wä hrend deren Verwirklichung
an die zusä tzliche Voraussetzung einer Lebensform gebunden ist , in der
die Subjekte wechselseitig an der ethischen Selbst Vergewisserung ihres
Interaktionspartners Anteil nehmen , Taylor nennt in seinen Aufsä tzen
eine Reihe von sozialen Bedingungen , die eine solche Kultur det solidari -
schen Anteilnahme zugrunde liegen m üssen; dazu zä hlt vor allem eine
politische Moral des Republikamsmus* * die nicht nur diejenigen Prakti-
ken und Institutionen sch ü tzt, die die Freiheit sichern , sondern auch
diejenigen , die das Verstä ndnis der Freiheit aufrechterhalten « ( Wesen und
Reichweite distributiver Gerechtigkeit, ebd, , S, 176), sodann aber auch
Formen der reziproken Anerkennung, die den Einzelnen in seinem Weg
der Selbstverwirklichung ermutigen. Zusammengenommen ergibt sich
aus diesen Bestimmungen der Hinweis auf ein Konzept von Gemein-
-
schaft , in der die Subjekte sich deswegen , weil sie Freiheit als ihr gemein
sames Gut betrachten, solidarisch aufeinander beziehen k ö nnen: zu einer
Verwirklichung seiner ihm rechtlich gewä hrten Freiheit ist der Einzelne
nur dann bef ä higt, wenn er an einer sozialen Gemeinschaft partizipiert ,
deren Zusammenhalt seinerseits aus der gemeinsamen Orientierung am
Wert der Freiheit erwachsen ist .
Gegen ü ber Rawls ergibt sich aus diesem Gedankengang, da ß sein
liberales Grundkonzept in Schwierigkeiten geraten muß , sobald ü ber das
Prinzip der Selbstbestimmung hinaus auch die Bedingungen ihrer Ver-
wirklichung mit in Betracht gezogen werden : denn ohne die Bezugnah -
Phft 3S Grenzen da Liberalismus 97

me auf solche gemeinsam geteilten Werte , wie der Liberale sie aus Gr ü n-
den der ethischen Neutralitä t seiner Theorie gerade auszuschließen ver-
sucht, lassen sich die Voraussetzungen einer individuellen Verwirkli-
chung von Freiheit offenbar nicht hinreichend bestimmen. Weil die
praktische Realisierung der rechtlich gew ä hrten Freiheiten der solidari-
schen Mithilfe von Interakt ionspar tnem bedarf, setzt sie eine soziale
Gemeinschaft voraus, deren Mitglieder sich in der Verpflichtung auf
bestimmte ethische Werte einig wissen .
Dieser Zusammenhang von individueller Selbst Verwirklichung und
sozialer Gerneinschaftsbeziehung ist es , den Charles Larmore in seiner
Verteidigung des Liberalismus gegen die Herausforderung des romanti-
schen ftExpressivismus « vollkommen au ßer acht zu lassen scheint: indem
er die Idee sozialer Gemeinschaften mit Hilfe der klassischen Unterschei-
dung von & privater « und » ö ffentlicher « Sphä re zu widerlegen versucht ,
unterstellt er menschliche Subjekte* die ihre pers ö nlichen Zielsetzungen
ohne solidarischen R ü ckhalt in einer Kultur gemeinsam geteilter Wert-
Ü berzeugungen erkunden und verwirklichen k ö nnen . Im Lichte eines
Solchen * verk ü rzten « Begriffs der Selbstverwirklichung erweist sich
auch die scharfe Kritik, die Larmore an den politisch-theoretischen An-
spr ü chen des Hegelschen Sittlichkeitskonzeptes ü bt (Lartnore , 99 ff.) , als
etwas zu voreilig: auch Hegel läß t sich nä mlich* wie spä ter D ü rkheim , so
verstehen , da ß er die Notwendigkeit einer ü ber die modernen Rechtsbe
ziehungen bmausgehenden Vergemeinschaftung damit zu begrü nden
-
versucht , da ß nur im Rahmen ü betgreifender Wertgememschä ften sich
die Subjekte in ihrer jeweils besonderen Identitä t zu verwirklichen ver-
mögen 17 .
Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt auch Alasdair Maclntyre ,
wenn er die Bedingungen der pers önlichen Selbstverw irklichung unter-
sucht, um die Pr ä missen des « liberalen Individualismus « in Frage zu
ziehen (Maclntyre* Der Verlust der Tugend, Kap. 15). Sein Interesse gilt
dem Nachweis, da ß wir entgegen dem herrschenden Vor Verstä ndnis
auch heute noch gezwungen sind * das individuelle Leben als ein Gcsche ^

hen zu begreifen , dessen Gelingen auf den Erwerb bestimmter Tugenden


angewiesen ist; zu diesem Zweck versucht er zu zeigen , da ß menschliche
Personen nicht umhin k ö nnen, ihr Leben als eine Suche nach dem « Gu-
ten « auszulegen. Maclntyre setzt mit der Beobachtung ein , da ß nur
derjenige individuelle Existenzvollzug als sinnvoll erlebt werden kann ,
17 Vgl etwa: RAYMOND PLANT. Community : Concept , Conception and IdeoJogy , in :
Poijfics fr Society , vol , 8 ( 1978), no, 1 . S , 79 Hf , Wie Charles Larmort , so vernachl ässigt m. E .
auch STEPHEN HOLMES die GenieLnschaftsibhingigkcit der individuellen Selbstvcrwirkli -
cInnig, wenn er ei neu * modiis v ivendi «-Liberalis m us sch rofTgegen den Kommunitarismus
verteidigt r ders. , The Permanent Sc rm: tu re of Am [liberal Thought , in: NANCY L , ROSEN-
BLUM ( ebd . ) , Liberalism and tke Moral Life , S. 227 ff
98 A *el Honneth PhR 38

der in Form einet Etzä hlung darstellbar ist: wenn ich mein Leben nicht
narrativ in dem formalen Bezugsrahmen von Anfang und Ziel wiederzu-
geben vermag, fehlt ihm der einhcitstiftende Bezugspunkt, aus dem es
» Sinn « oder » Bedeutung « f ü r mich gewinnt; dementsprechend ist auch
die Erfahrung , sein Leben nicht mehr nach einem solchen teleologischen
Schema erzä hlen zu können , gewöhnlich mit dem leid vollen Erlebnis
existentieller Sinnlosigkeit verkn ü pft, das sich bis zur Selbstmordbereit-
schaft steigern kann (290).
Von dem Ziel, auf das hin jedes Leben angelegt sein muß , wenn es erzählbar
sein soll, hat nun zu gelten, da ß es in einem gewissen , schwachen Sinn eine
ethische Qualit ä t besitzen mu ß ; denn nur in dem Ma ße, in dem jene ü bergreifende
Zielsetzung zusä tzlich auch ein »Kriterium f ü r Erfolg oder Scheitern « (292)
meiner Lebens Vollz ü ge enthä lt , also moralische Anspr üche einsch ließt , kann es
im R ückbezug au feinen konstruierten Anfang als Bezugsrahmen f ü r eine derarti
ge LebenserZahlung dienen. Daher verlangt die narrative Ü rganisationsform des
-
menschlichen Lebens die Darstellung einer » Suche nach dem Guten « , auf die hin
einzelne Episoden sinnhaft als »Leiden , Gefahren , Versuchungen und Ablenkun
gen « begriffen werden k önnen (293).
-
Um allerdings die einzelnen Lebensabschnitte in diese einheitliche
Perspektive rü cken zu können , bedarf es schließ lich noch des Bezuges auf
die Vermittlungsmstanz gesellschaftlicher Rollen , durch die das Subjekt
mit der Geschichte seiner sozialen Gesellschaft stets untergr ü ndig ver-
bunden bleibt; unabh ä ngig von den Aufgaben und Traditionen, die mich
das Mitglied eine Gemeinschaft sein lassen , w ü rde meinem Leben der
ü bergreifende Orientierungspunkt und die soziale Rahmung fehlen , auf
die hin ich es als eine wenn nicht kontinuierliche, so doch unentwegte
Erkundung des « Guten « narrativ darstcllen kann ; » Denn die Geschichte
meines Lebens ist stets eingebettet in die Geschichte jener Gemeinschaf-
ten , von denen ich meine Identitä t herleite. Ich wurde mit Vergangenheit
geboren; und der Versuch , mich auf individualistische Art von dieser
Vergangenheit abzunabeln , bedeutet die Deformierung meiner gegen-
w ä rtigen Beziehung, * (295) Insofern setzt jede Art der individuellen
Selbstverwirkltchung, weil sie sich in Form einer Erzä hlung wiedergeben
lassen mu ß, jede Erzä hlung eines Lebens aber wiederum den Bezug auf
eine soziale Gemeinschaft impliziert , notwendigerweise die Bezugnahme
auf gemeinschaftlich geteilte Werte voraus.
Es ist hitr nicht weiter von Interesse, da ß Maclntyre seine Analyse der Erzä hl-
barkeit des menschlichen Lebens in die Richtung einer Rehabilitierung der anti
ken Tugcndlchre fortentwickelt; aus den Anforderungen , die die » Suche nach
-
dem Guten « an die Verhaltensdispositionen des einzelnen Menschen stellt, ver
sucht er nä mlich auf die normative Geltung bestimmter Charaktereigenschaften
-
f ü r die Gegenwart zur ü ckzuschließen (etwa 297). Von Bedeutung ist in unserem
Kontext allein der Umstand , da ß Maclntyre im Ergebnis mit jener Schlu ßfolge
rung Charles Taylors ü bereinkommt, derzu folge die Selbst Verwirklichung des
-
PhR .38 Grenzen des Liberalismus 99

einzelnen Subjekts an die soziale Voraussetzung einer durch gemeinsame Wertbe-


ziige konstituierten Gemeinschaft gebunden ist .
Beide, Taylor und Maclntyre , teilen die Ü berzeugung, da ß zu den
Voraussetzungen einer authentischen Verwirklichung der Freiheit der
Kontext einer sozialen Gemeinschaft gehö rt , mit der das Subjekt sich in
der inneren Verpflichtung auf bestimmte Werte einig wissen kann ; denn
ohne eine solche ethische Ü bereinstimmung wä re der Einzelne der prak -
tischen Zustimmung beraubt, der er sicher sein mu ß , wenn er seine
Lebensziele sozial zu verwirklichen versucht. Mit dieser These ist ein
Punkt in der Auseinandersetzung erreicht, an dem eine definite Grenze
des Liberalismus hervorzutreten scheint: weil in der Tradition , die er
begr ü ndet hat, auf jede normative Auszeichnung eines ethischen Wertes
Verzicht geleistet werden $ oll > läß t sich in seinem Rahmen auch nicht jene
Idee einer sittlich integrierten Gemeinschaft entwickeln, die wir offenbar
voraus setzen m üssen, wenn wir den Prozeß der individuellen Verwirkli
chung von Freiheit zu explizieren versuchen; der Liberalismus ist viel
--
mehr gezwungen , sich auch den Prozeß der Realisierung von eigenen
Lebenszielen noch nach demselben Muster einer Freisetzung von ü ber
greifenden Gemeinschaftsbez ü gen zu denken , nach dem er sich im Be-
-
griff des Rechts zun ä chst mit guten Gr ü nden die Herstellung von persön-
licher Autonomie vorgestellt hat:
» Der grundlegende Irrtum des Atomismus in all seinen Formen besteht dann ,
daß er nicht in Betracht zieht * in welchem Maße das freie Individuum mit seinen
eigenen Zielen und Wünschen . „ . seinerseits nur möglich ist innerhalb einer
bestimmten Art von Zivilisation, daß es einer Langen Entwicklung bestimmter
Institutionen und Praktiken , der Herrschaft des Gesetzes* der Regeln Wechsel sei -
liger Achtung , der Gewohnheiten gemeinsamer Beratung, gemeinsamen Um-
gangs , gemeinsamer kultureller SelbstentWicklung und so weiter bedurfte, um
das moderne Individuum hervorzubringen , und daß ohne diese das gesamte
Sei bst Verst ändnis als Individuum in der modernen Bedeutung des Begriffe ver-
schwinden wü rde * ( Taylor , Wesen und Reichweite distributiver Gerechtigkeit ,
,

175. )
Der Atomismusvorwurf, mit dem Sandel unbegr ü ndeterweise bereits
den liberalen Grundsatz der Vorrangstellung gleicher Rechte au ßer Kraft
zu setzen vetsucht hat , ist insofern erst hier, auf der zweiten Stufe der
Auseinandersetzung , in gewisser Weise gerechtfertigt: weil der Liberalis-
mus die moralischen Subjekte kategorial aus allen intersubjektiv geteilten
Wertbez ü gen her aus gel ö st hat, kann er jene sozialen Voraussetzungen
nicht angemessen klä ren, unter denen diese Subjekte die ihnen rechtlich
zugestandenen Freiheiten individuell verwirklichen können Rawls, der,

in seiner eigenen Theorie im Begriff der * Selbstachtung « selber auf den


notwendigen Zusammenhang von Selbstverwirklichung und gemein-
schaftlich geteilten Werten gestoßen war (vgL Rawfe, Theorie der Ge-
100 Axel Honneth PKR 38
rechtigkeit, S. 479 ff. ) , wird dieses Desiderat des Liberalismus eingeste-
hen m üssen; aber er kann nun umgekehrt an die Kommunitaristen die
Frage richten, welche normativen Prinzipien ihnen zur Verf ü gung ste
hen, um zwischen richtigen und falschen Konzepten des guten Lebens
-
begr ü ndet entscheiden zu können.

UL
-
Die R ü ckfrage von Ra wls eröffnet die bislang letzte Runde der Ausein
andersetzung , die innerhalb der amerikanischen Philosophie zwischen
den Vertretern des Liberalismus und des Kommunitansmus stattfindet;
im Zentrum dieses neuesten Standes der Diskussion steht das schwer zu
lösende Problem, w ie zwischen verschiedenen Konzepten eines gemein -
sam geteilten » Guten « normativ entschieden werden kann, wenn einmal
die konstitutive Bedeutung von sittlich integrierten Gemeinschaften f ü r
die Verwirklichung individueller Freiheiten ein gestanden ist . Allerdings
sind von der damit aufgeworfenen Frage inzwischen gewisserma ß en
-
beide Parteien der politisch philosophischen Debatte betroffen: denn
Rawls hat in den vergangenen Jahren, wie wir gesehen haben, mit dem
vertragstheoretischen Begr ü ndungsprogramm auch den Universal!-
t ü tsanspruch seiner Theorie preisgegeben und deren Geltungsbereich auf
den Traditionshorizont westlicher Demokratien eingeschr ä nkt; auch f ü r
ihn stellt sich mithin heute die Frage , welche Grü nde er an f ü hren kann ,
um die sittliche Tradition dieser besonderen Gemeinschaft vor denen
aller anderen normativ auszuzeichnen .
Die Kommunitaristen andererseits geraten in dem Ma ß e , in dem sie
zur Explikation ihres Gemeinschaftsbegriffs heraus gefordert werden ,
immer starker in einen theoretischen Sei bstWiderspruch: intuitiv machen
sie nä mlich dann, wenn sic konkrete Begriffe des gemeinschaftlichen
Guten zu explizieren versuchen , stets schon von universalistischen Prin-
zipien Gebrauch - bei Sandei hatte sich das bereits an seiner Verwendung
des Wortes » wrongly « gezeigt , bei Taylor tritt es in der durchgä ngigen
Beziehung auf die moralische Idee der individuellen Autonomie zutage,
bei Maclntyre schließ lich verr ä t es sich in dem Augenblick, in dem er als
das Kriterium einer vern ü nftigen Tradition den Gesichtspunkt der argu-
mentativen Offenheit einfuhrt (Maclntyre , Der Verlust der Tugend ,
S. 296 ff ), Zugleich aber sind alle drei Kommunitaristen von ihren kon-
tex tu alis tischen Pr ä missen ü berzeugt genug, um aus diesen impliziten
Prinzipien nicht normativ einschr ä nkende Bedingungen zu machen , die
jeder Bestimmung eines gemeinschaftlich Guten auferlegt werden m ü s-
sen ; der Tendenz nach geraten sie vielmehr in die Gefahr, jedwede Form
von Gemeinschaftsbildung um ihrer selbst willen normativ auszeichnen
PhR 38 Grenzen des Liberalismus 101
zu m ü ssen, wenn sie nur die geforderte Funktion der Stiftung wertbezo-
gener Solidaritä ten erf üllt .
Das damit zusammenh ä ngende Problem ist allerdings nicht unabh ä n-
gig von einer Beantwortung der entscheidenden Frage zu lösen , f ü r
welche Aggregationsebene der sozialen Integration ü berhaupt die
W ü nschbarkeic von Gemeinschaftsbildung normativ behauptet wird ;
denn es macht innerhalb der kommunitaristischen Argumentation einen
großen Unterschied , ob von wertbezogener Vergemeinschaftung allein
in Hinblick auf intermedi ä re Gruppen und Assoziationen oder aber mit
Bezug auf das InteraktionsVerh ältnis aller Staatsb ü rger , der staatlichen
Sittlichkeit Hegels also, gesprochen wird . Die erste Alternative w ü tdc
nur eine schwache Form des Kommunitarismus repr äsentieren, da in ihr
allein behauptet w ü rde, da ß zu den Verwirklichungsbedingungen indivi -
dueller Freiheit die Zugeh ö rigkeit zu irgendeiner Art von Wertgemein-
schaft « gehört ; eine solche These ist , wie Michael Walzer jetzt gezeigt hat,
mit dem Liberalismus im Prinzip insofern vereinbar, als der Staat seine
ethische Neutralitä t nur in dem schmalen Aufgabenbereich der aktiv -
rechtlichen Förderung von Gruppensolidarit ä ten (FamiJienpolitik, Bil -
dungs- und Kulturpolitik in Hinblick auf ethnische Minoritä ten etc ) zu +

transzendieren hatte1*. Anders verh ä lt es sich hingegen , wenn f ü r die


Ebene der gesamtgesellschaftlichen Integration die Notwendigkeit von
» sittlicher « Vergemeinschaftung behauptet wird ; eine derartige Position
ließe sich im Anschlu ß an Taylor etwa damit begr ü nden , da ß auch die
Bildung von Gruppensolid ari tä ten innerhalb von Gesellschaften nur
dann auf vollstä ndige Weise gl ücken kann, wenn diese ihrerseits wieder-
um in der aktiven, wertbezogenen Zustimmung aller Staatsbü rger sozia -
len R ückhalt findet. Erst mit einer solchen These w ä re der politisch -
philosophische Rahmen des Liberalismus vollst ä ndig verlassen.
Beide Parteien befinden sich daher gegenwä rtig, unabh ä ngig von die-
ser besonderen Problcmlagc f ü r den Kommun itarismus , in einem ver-
gleichbaren Dilemma: weil sie sich mitkontextua üstischen Argumenten
jeder universalistischen Begr ü ndung der in den Verfassungsprinzipien
der westlichen Demokratien verankerten Moralprinzipien enthalten wol-
len , besitzen sie kein kontext ü bergreifend es Kriterium mehr, um zwi-
schen moralisch vertretbaren und moralisch kritisierbaren Konzeptendes
gemeinschaftlich Guten begr ü ndet zu unterscheiden ; auf einen solchen
Ma ßstab aber wä ren beide Parteien zugleich umso stä rker angew iesen , als
sie inzwischen weitgehend darin ü bereinstimmen , da ß sich ohne die Be-
zugnahme auf sittlich tradierte Wert ü berzeugungen die Verwirkli-
chung sbedi n gu n gen individ ueller Frei he it n i cht h i nreiebend klä ren lassen.
Iri
MICHAIL WALZM ,, The C0111 municarbn Critiqueof Liberalism, a. a . O. , bes. S . 16 fT
102 Axel Hontieih PhR 38

Aus dieset theoretischen Sackgasse , in der die skizzierte Diskussion im


Augenblick steckenzubleiben droht, kann offenbar nur ein formales
Konzept der Sittlichkeit herausfiihren , das die universalistischen Prinzi-
pien einer postkonventionellen Moral als einschrä nkende Bedingungen
jedes gemeinschaftlichen Konzeptes der Guten begreift : moralisch ver -
tretbar waren dann alle Kollektivvorstellungen vom guten Leben , die
reflexiv und pluralistisch genug sind , um das Prinzip der individuellen
Autonomie jedes einzelnen Subjektes nicht zu verletzen. F ü r die Begr ü n-
dung eines solchen geforderten Moral Prinzips stellt meines E rächten s die
Diskursethik im Augenblick den geeigneten Ansatzpunkt dar; weil sie in
ihrem Begr ü ndungsversuch an den Regeln der sprachlichen Interaktion
zwischen zugleich vergesellschafteten und situierten Subjekten ansetzt ,
unterliegt sie nicht den anthropologischen Einw ä nden, mit denen die
Kommunitansten den urspr ü nglichen Ansatz von Rawls zu Recht in
Zweifel gezogen hatten ; weil es ihr andererseits um die Begr ü ndung der
Prinzipien gleichen Respektes vor der Autonomie jedes Einzelnen geht ,
stimmt sic im moralischen Ziel mit dem Ansatz der Gerechngkeitstheorie
vonjohn Rawls ü berein1*5. Um freilich die Aufgabe erf üllen zu können ,
den Kommunitahsmus und den gegenw ä rtigen Liberalismus zugleich
von ihren kontextualistischen Pr ä missen zu befreien , indem sie ihnen
einen normativ gehaltvollen Begriff posttradihonaler Gemeinschaften
anbietet , m üß te die Diskursethik ihr Moralprinzip zugleich alseinschrä n-
kende Bedingungen eines zu entwickelnden Begriffs des Guten begrei
fen; ein solches formales Konzept der Sittlichkeit aber kann sie wohl nur
-
dann gewinnen , wenn sie sich ein zweites Mal an die große Herausforde-
rung der Philosophie Hegels macht .
Axel Honneth ( Fnmkjiirt / M )

|V
Vgl. exemplarisch: J üRGEN HABERMAS, Diskursethik- Notizen in einem Eegmndungs-
Programm , in: Mcrä lbtwu ßtsein und kotnmunilMtives Handeln , Frankfurt/ M . I 9ß3, S. 53 ff .

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