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JOHN RAWLS: Eine Theorie der Gerechtigkeit . Frankfurt/ M 1979 Suhrkamp Ver-
, ,
lag . 674 S .
MICHAFLJ . SAND EI: Libemlism and the Limits o/Justice. Cambridge 1982* Cambrid-
ge University Press 190 S, .
NANCY L ROSENBLUM (ed . ) : Liberalem and the Moral Life. Cambridge , Mass .
.
danken ,
1 Vgl. exemplarisch: ULCUCH BfcCk , Risikogeseltschafi . Auf dem Weg in eine andere
Moderne, Frankfurt/ M 1986; dazu meine eigene Auseinandersetzung: AXEL HONNETH,
.
rie der Gerechtigkeit , in: O . HöFFE (Hg. ) , Ü ber Jchn Ravte Theorie der Gerethtigketi ,
Frankfurt / M. D77, S. 11 ff .
PhR 38 Grenzen des Liberalismus 87
ihren besonderen Weg gewiesen hat; fiir ihn ist ein systematischer Zu
sammenhang zwischen dem Liberalismus und jenem Personenbegriff
-
dann angelegt, da ß sich die Idee gleicher Rechte nur dann einem Konzept
des » Guten << normativ vorordnen läßt, wenn die Subjekte fälschlicher -
weise als ihre Ziele jeweils monologisch w ä hlende Wesen vor gestellt
werden (Sandei , Liberalism and the Limits of Justice , v a. Kap. 1) .
,
Sandeis urspr ü nglicher Ein wand gegen Rawls umfa ß t mithin zwei
Schritte: zunä chst mu ß er die Unangemessenheit des in der Rawlsschen
Vertragskonzeption vorausgesetzten Modells der menschlichen Person
vorfuhren , um dann die konstitutive Abh ä ngigkeit der liberalen Grund
idee von diesem falschen Personenkonzept nachzuweisen .
-
Die theoretischen Mittel , die Sandei verwendet, um die erste Aufgabe zu
bewältigen, sind die einer methodisch zwar unbestimmt bleibenden, implizit aber
weitgehend phänomenologisch verfahrenden Anthropologie ( zur Definition :
50) Wer wie Rawls, so setzt Sandl ein , den Vertragsschluß im Sinn eines entschei -
.
be prior to the good * J . Wird das Subjekt hingegen als ein kommunikativ
sozialisiertes , seine Lebensziele nicht w ä hlendes, sondern im sozialen
Austausch suchendes und entdeckendes Subjekt vorgesteilt, dann mu ß
sich das V orzugsVerh ä ltnis von » Rechten * und » Werten « gewisserma ßen
umkehren: denn der Einzelne bedarf, um zwanglos zu einem angemesse-
nen Verstä ndnis seiner selbst gelangen zu können , der Voraussetzung
einer intakten Gemeinschaft, in der er sich det Solidarit ä t aller anderen
gewiß sein kann . Insofern erzwingt der aus der Kritik des Atomismus
gewonnene Begriff der * radikal situierten « Person die normative Vor -
rangstellung der Vision gemeinsam geteilter Werte vor der Idee gleicher
Rechte.
Es ist dieser zweite Schritt in der Argumentation Sandeis, gegen den
5
MichaelJ - SANDEL, Introduction, in : Liberalism and ifj Cniifj, New York 1994, S . 5 .
PhR 38 Grenzen des Liberalismus 89
Rawls nun mit guten Gr ü nden Ein w ä nde erheben kann, um den Grund
gedanken seiner Theorie der Gerechtigkeit zu verteidigen , Selbst wenn ,
-
so läß t sich jm Sinne seiner Ü berlegungen argumentieren, die Identitä t
einer Person stets schon durch eine bestimmte Interpretation des guten
Lebens konstituiert ist, mu ß der Idee gleicher Rechte eine Vorzugsstel -
lung in der Beantwortung der Frage zukommen , wie eine wohlgeord-
nete Gesellschaft auszusehen hat; denn die individuelle Suche nach dem
Guten , die tatsä chlich angemessener als ein Proze ß der kommunikativ
vermittelten Selbst Verstä ndigung denn als ein Akt der monologischen
Wahl zu beschreiben w ä re , bedarf von seiten des sozialen Gemeinwe-
sens der Sicherung bestimmter Grundrechte und eines elementaren
Wohlstandes, Die rechtliche Garantie persönlicher Autonomie ist nicht
etwas , was dem lntersubjektiven Prozeß der pers ö nlichen Identit ä tsbil -
dung im Wege steht, sondern ihn umgekehrt gerade erst gesellschaftlich
ermöglicht; ohne ein bestimmtes Ma ß an ö konomischem Wohlstand
und ohne rechtlich garantierte Grund freiheiten wä re nä mlich das indivi-
duelle Subjekt gar nicht in der Lage , sich zwanglos mit alternativen
Vorstellungen vom Guten zu besch äftigen und sie gegebenenfalls f ü r
seinen eigenen Lebensplan fruchtbar zu machen. Daher besteht zwi-
schen dem atomistischcn Begriff des » unsituierten « Subjekts und der
liberalen Idee gleicher Rechte keine logisch notwendige Verkn ü pfung;
vielmehr läßt sich die normative Auszeichnung rechtlicher Grundfrci ^
the Moral Lift , S . 39 ff . . Die Unterscheidung von » privat * und » öffentlich « steht auch im
Zentrum eines instruktiven Aufsatzes , in dem sichJ. R . WALLACH milder Debatte iw^chen
Liberalen und Kommunhansten iusein andergesetzt hat: ders . , Liberals, Communitamns,
and the Task of Political Theory , in : Political Tkeory , vol . 15 ( 19R 7) , no. 4, S . ff .
92 Axel Honncth RhR 38
1L
Die erste Runde der Auseinandersetzung hat gezeigt* daß John Rawls
den normativen Vorrang der Gerechtigkeit vor dem Guten auch dann
rechtfertigen kann , wenn er auf der ontologischen Ebene zugesteht, da ß
die Subjekte sich stets schon auf bestimmte Werte hin verstehen * die sie
mit anderen Interakrlonspartnern kommunikativ teilen ; denn die von
ihm entwickelten Gerechtigkeitsprinzipien haben zunä chst einmal nur
den negativen Zweck , den Einzelnen innerhalb des Gemeinwesens vor
sozialen und ö konomischen Sanktionen zu sch ü tzen , die ihn in der prakti -
schen Erkundung seiner individuellen Lebensziele einschr ä nken w ü rden .
Freilich hat Rawls gleichzeitig auch einzugestehen , da ß ihn die Akzeptie
rung des anthropologischen Einwands Sandeis dazu n ötigt , eine Revision
-
seines ursprü nglichen Begr ü ndungsprogramms vorzunehmen; sobald
die menschlichen Subjekte nä mlich nicht mehr als isolierte und neutrale
Wesen * sondern als bereits vorgä ngig vergesellschaftete und prinzipiell
wertorientierte Wesen vorgestellt werden* entfä llt die M ö glichkeit, die
Fiktion eines Vertrages untet zweckrational kalkulierenden Einzelsub-
jekten als Basis der Rechtfertigung seiner Theorie zugrundezulegen.
Dies mag die Richtung zu erklä ren helfen, in die Rawls seine Konzep-
tion nach der » Theorie der Gerechtigkeit « weiteremwickelt hat: zwar
gibt er nicht die prozeduralistische Konstruktion einer » original posi -
11 Michael J . SANDEI Inuoduction, in: ders. (ed ) , Liberalem and Its Critics , a . a .O - , S . fr.
,
PhR 38 Grenzen des Liberalismus 93
tion « preis, aber der Stellenwert , den sie innerhalb der Begr ü ndung von
Gerecht!gkeit &grunds ä tzen erh ä lt, wird nun stä rker im Sinne des Kom-
munitarismus ausgclcgt . In »Justice as Fairness; Political not Metaphysi-
cal «, einem f ü r seine Theorieentwicklung zentralen Aufsatz 12 , stellt
Rawls zun ä chst die Kontextgebundenheit seiner Gcrethtigkeitskonzep
tion heraus: da ß diese nicht als ein » metaphysischere , sondern als ein
-
» politischer « Entwurf gedacht wird , hei ß t entgegen dem bislang ma ß-
geblichen Sei bst Verst ä ndnis, da ß » it Starts from wirhin a certain political
tradition « L \ n ä mlich dem politischen Traditionszusammenhang der
westlichen Demokratien , Dementsprechend handelt es sich bei dem Per-
sönlichkeit;; ideal , das der theoretischen Konzeption normativ zugrunde-
liegt , nicht etwa um dasjenige eines abstrakten , mit bestimmten F ä hig-
keiten ausgestatteten Subjekts , sondern um das eines » normalen « Staats -
bü rgers einer westlichen Demokratie: wie von den Kommunitaristen
ein ge klagt, werden die moralischen Personen also zun ä chst als » situ-
ierte « , gemeinsame Wer ( Ü berzeugungen teilende Subjekte vorgesteß t .
Von diesen Subjekten wird nun freilich konstruktiv angenommen, da ß
sie in ihrem Streben nach kooperativen Zielsetzungen das Gedankenex -
periment einer » original position * als eine Art von » device ofrepresenta-
tionc 14 akzeptieren : unter der faktischen Voraussetzung divergierender
Vorstellungen ü ber das Gute erscheinen ihnen die fiktiven Einschr ä nkun-
gen einer derartigen Beratungssituation der angemessenste Ausdruck f ü r
die normativen [deale zu sein , die sie gemeinsam von einem gerechten
System gesellschaftlicher Kooperation besitzen. Mithin stellt f ü r Rawls
die Idee der vertraglichen Einigung jetzt eine normative Prozedur dar, die
ihrerseits ü berhaupt erst in den kollektiv geteilten Wert ü berzeugungen
-
von B ü rgern westlicher Demokratien begr ü ndet ist und diese kontex
tualisti &che R ückbindung der » original position « an eine bestimmte Mo-
-
raltradition l äßt si ch als ein Kompromi ß zwischen seinem urspr ü nglichen
Prozeduralismus und den Ein wä nden seiner kommunitaristischen Kriti -
ker verstehen .
Die Kommunitansten andererseits sind in der Reaktion auf das Rawls -
sche Gegenargument gezwungen, die normative Ebene ihrer Kritik des
Liberalismus genauer zu bestimmen; es ist nicht schon das moralische
Prinzip der individuellen Autonomie , das durch den anthropologischen
Nachweis der Vorg ä nglichkeit der sozialen Gemeinschaft vor dem Indi -
viduum theoretisch in Zweifel zu ziehen ist , weil auch der intetsubjektiv
gedachte Prozeß der ethischen Selbstvergewisserung des Schutzes vor
12
JOHN RAWLS, Jusiit.e ü Fairness : Poliiical not Metaphysical, in: Phibsophy and Public
A ßiirs , vol . 14, 1985. S 223 ff
u cbd . , S. 225.
14 ebd. + 5. 236.
94 Axel Hqnncth PhR 38
sozialen und ökonomischen Beeintr ä chtigungen bedarf Individuelle Au,
-
tonomie ist cm moralisches Prinzip, das selbst dann zu verfolgen richtig
ist, wenn grunds ä tzlich davon ausgegangen wird , da ß sich die persönli-
che Identitä t des Subjekts nur unter der Bedingung von sozial intakten
Gemeinschaften bildet; denn erst der rechtlich gewä hrte Freiheitsspiel -
raum versetzt den Einzelnen in die Lage , sich zwanglos mit den ethischen
Werten seiner Umwelt auseinanderzusetzen und sie sich gegebenenfalls
zu eigen zu machen . Der theoretische Schritt, mit dem die Kommunitä ti-
sten auf dieses vorlä ufige Zwischenergebnis zu teagieren vermögen , ist
eine R ück Verlagerung ihrer Kritik des Liberalismus von der Ebene der
individuellen Autonomie auf die der persönlichen Selbst Verwirklichung:
was die liberale Position dann fehlerhaft sein ließe, wate die Ü berzeu-
gung , da ß sich auch der Prozeß der Verwirklichung pers önlicher Lebens-
ziele unabhä ngig von der Bezugnahme auf gemeinschaftlich geteilte
Wette normativ bestimmen läßt. Die Argumente f ü r eine solche, gegen -
ü ber Sandei gem äß igte Kritik des Liberalismus lassen sich in der Frei
heitstheo rie Charles Taylors, aber auch im Pers ö nlichkeitskonzept Alas-
-
dair Maclntyres finden .
Taylor kn üpft an die von I &aiah Berlin entwickelte Unterscheidung von negati-
ven und positiven Freiheitskonzeptionen an, um seine Bedenken gegen das
liberale Geschiehaftsmodell vorzutragen; dabei verleiht er freilich den beiden
Ansätzen eine etwas andere Bedeutung , als sie ihnen Berlin in seinem berü hmten
Aufsatz hatte zukommen lassen 1 - Die Idee der negativen Freiheit , eme zentrale
Errungenschaft der Tradition des politischen Liberalismus, stellt für Taylor ein
bloßes Mö glichkeicskonzept von individueller Freiheit dar; darin geht es nä mlich
allein um eine Beantwortung der Frage, welche sozialen Schutzvorrichtunger « es
dem einzelnen Subjekt ermöglichen, seine individuellen Lebensziele im Rah men
des Gemeinwesens autonom zu h es tim men .
Demgegen ü ber sieht Taylor in der Idee der positiven Freiheit, die aus
der Kritik am Liberalismus hervorgegangen ist, ein Verwirklichungs-
konzept von individueller Freiheit angelegt; denn darin wird zusä tzlich
die Frage zu beantworten versucht, welche sozialen Voraussetzungen
gegeben sein müssen, damit der Einzelne von der ihm rechtlich gew ä hr -
ten Freiheit der Selbst Verwirklichung auch tatsächlich Gebrauch machen
kann: » Doktrinen positiver Freiheit haben eine Auffassung von Freiheit
zum Thema, die ganz besonders die Aus ü bung von Kontrolle ü ber das
eigene Leben betrifft. Dieser Auffassung zufolge sind wir nur in dem
Ma ße frei, in dem wir tatsä chlich ü ber uns selbst und die Form unseres
Lebens bestimmen. Der Freiheitsbegriff ist hier ein Verwirklichungsbe -
griff Negative Theorien können sich im Gegensatz hierzu einfach auf
einen Möglichkcitsbegriff berufen , dem zufolge frei zu sein davon ab-
|S
ISAIAH BERLIN , Two Concepis of Liberty, in ; den, , Four Esütys tm Liberty , Oxford
1969, S, 118 fT-
PhR 38 Grenzen des Liberalismus 95
hangt, was wir cun k önnen , was unserem Handeln ofte ns teilt, unabh ä n-
gig davon , ob wir etwas tun , um diese Optionen wahrzunehmen oder
nicht * (Der Irrtum der negativen Freiheit, int Charles Taylor , Negative
,
Freiheit? , S. 121)
Die Schw ierigkeiten, die Taylor bei dieser Unterscheidung von » Mög-
lichkeit « und » Wirklichkeit « vor Augen hat, ergeben sich aus den An
sprü chen, die mit dem Wort » tatsä chlich « im Zusammenhang mit
-
»Selbstbestimmung « implizit verkn ü pft sind: zur neuzeitlichen Idee der
Verwirklichung einer rechtlich gesicherten Freiheit gehört die Vorstel-
lung , da ß wir nur jene persönlichen Zielsetzungen verfolgen und prak-
tisch realisieren , deren wir uns » wirklich « als unsere eigenen sicher sein
können. » Wirklich * oder » tats ächlich « heißen dabei all die individuellen
W ü nsche, mit denen wir uns deswegen zwanglos zu identifizieren ver-
m ögen, weil wir sie nicht nur unabh ä ngig von ä u ßeren Einfl üssen,
sondern auch frei von inneren Zwä ngen haben erkunden können ; eine
solche » innere* Freiheit aber verweist wiederum auf einen bestimmten
Grad an »Selbstbewu ß tsem * und » moralischer Urteilsfä higkeit * , an
» Selbstkontrolle « und Bed ü rfnistransparenz (124) . Insofern setzt die
» Verwirklichung * von Freiheit bestimmte Fä higkeiten von seiten der
Subjekte voraus, die die negativen Frei hei tskonzeptionen aus ihren Be-
trachtungen ausschließen . Von diesen F ä higkeiten nimmt Taylor nun an ,
da ß ihre Entwicklung an die Voraussetzung der Existenz intakter Ge
meinschaften gebunden ist
-
Die Argumente, mit denen Taylor diese zentrale These seiner Libera-
lismuskritik zu st ü tzen versucht, entstammen einem » anthropologi-
schen * Konzept der menschlichen Person, das mit demjenigen Sandeis
die Konzentration auf das evaluative Selbst Verstä ndnis des Menschen
teilt16. Menschliche Personen sind f ü r Taylor Wesen , denen die besonde
re Fä higkeit eigen ist , gegen ü ber ihren Absichten oder W ü nschen selber
-
noch einmal wertend Stellung zu nehmen (Was ist menschliches Han-
deln ?, ebd . , S. 9 fF. ); solche » second order desires * teilen sich uns ge-
wöhnlich in Form von Gef ü hlen oder Stimmungen mit, die uns signali-
sieren, ob sich unsere aktuellen, primä ren Handlungsabsichten in Ü ber
einstimmung oder Konflikt mit unseren leitenden Wert ü berzeugun-
in
-
gen befinden. Derartige Gef ü hle sind aber ihrerseits nun nicht etwas
» unmittelbar « Gegebenes, sondern von Interpretationen abhä ngig , in
denen ein kognitives Wissen ü ber unsere situationellen Umstä nde und
persönlichen Fä higkeiten eingegangen ist . Weil dieser kognitive Gehalt
unserer affektiven Selbstinterpretationen falsch oder richtig sein kann ,
16 Zu diesem Persänlichkeitskonzept das Taylor im Anschluß an Harry Frankfurts
+
berühmte Konzeption der »SOC ü nd Order desires * entwickelt , vgl. mein » Nachwort « in :
CHARIES TAYLOR, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichert Individualismus' S. 295 ff.
% Axel Honneth PhR 38
nä mlich die entsprechenden Umstä nde und Fä higkeiten mehr oder weni -
ger angemessen wiederzugeben vermag , steht er einer korrigierenden
Au ßenbeurteilung durch andere Subjekte offen. Zu einer solchen hilf-
reichen Korrektur unserer SelbsInterpretationen sind jedoch wiederum
nur solche Wesen in der Lage, die mit uns die Orientierung am Ziel der
individuellen Sei bst Verwirklichung wenhaft teilen ; insofern setzt die
Herausbildung innerer Freiheit die Existenz einer sozialen Gemeinschaft
voraus, deren Mitglieder sich zumindest in der positiven Bezugnahme
auf jenen Wert einig wissen (Der Irrtum der negativen Freiheit,
S. 136 ff , ).
Aus der damit umnssenen Argumentation ergibt sich, daß das einzelne
Subjekt sich unabh ä ngig von kommunikativen Hilfeleistungen seiner
» authentischen « Lebensziele niemals vollkommen gewiß sein kann, ja ,
sie sich ihrer noch nicht einmal zu versichern vermag: von welchen
Werten ich mich in meinem Leben » tats ä chlich « leiten lassen will , ergibt
sich f ü r mich vielmehr ü berhaupt nur in dem Ma ße , in dem ich in
Interaktion mit Anderen trete, die mich in der Erkundung meiner Be-
-
d ü rfnisse unterst ü tzen und gegebenenfalls vor Selbsttä uschungen sch ü t
zen , Daher sichert die rechtliche Gewä hrung individueller Selbstbestim -
mung nur die Möglichkeit: von Freiheit, wä hrend deren Verwirklichung
an die zusä tzliche Voraussetzung einer Lebensform gebunden ist , in der
die Subjekte wechselseitig an der ethischen Selbst Vergewisserung ihres
Interaktionspartners Anteil nehmen , Taylor nennt in seinen Aufsä tzen
eine Reihe von sozialen Bedingungen , die eine solche Kultur det solidari -
schen Anteilnahme zugrunde liegen m üssen; dazu zä hlt vor allem eine
politische Moral des Republikamsmus* * die nicht nur diejenigen Prakti-
ken und Institutionen sch ü tzt, die die Freiheit sichern , sondern auch
diejenigen , die das Verstä ndnis der Freiheit aufrechterhalten « ( Wesen und
Reichweite distributiver Gerechtigkeit, ebd, , S, 176), sodann aber auch
Formen der reziproken Anerkennung, die den Einzelnen in seinem Weg
der Selbstverwirklichung ermutigen. Zusammengenommen ergibt sich
aus diesen Bestimmungen der Hinweis auf ein Konzept von Gemein-
-
schaft , in der die Subjekte sich deswegen , weil sie Freiheit als ihr gemein
sames Gut betrachten, solidarisch aufeinander beziehen k ö nnen: zu einer
Verwirklichung seiner ihm rechtlich gewä hrten Freiheit ist der Einzelne
nur dann bef ä higt, wenn er an einer sozialen Gemeinschaft partizipiert ,
deren Zusammenhalt seinerseits aus der gemeinsamen Orientierung am
Wert der Freiheit erwachsen ist .
Gegen ü ber Rawls ergibt sich aus diesem Gedankengang, da ß sein
liberales Grundkonzept in Schwierigkeiten geraten muß , sobald ü ber das
Prinzip der Selbstbestimmung hinaus auch die Bedingungen ihrer Ver-
wirklichung mit in Betracht gezogen werden : denn ohne die Bezugnah -
Phft 3S Grenzen da Liberalismus 97
me auf solche gemeinsam geteilten Werte , wie der Liberale sie aus Gr ü n-
den der ethischen Neutralitä t seiner Theorie gerade auszuschließen ver-
sucht, lassen sich die Voraussetzungen einer individuellen Verwirkli-
chung von Freiheit offenbar nicht hinreichend bestimmen. Weil die
praktische Realisierung der rechtlich gew ä hrten Freiheiten der solidari-
schen Mithilfe von Interakt ionspar tnem bedarf, setzt sie eine soziale
Gemeinschaft voraus, deren Mitglieder sich in der Verpflichtung auf
bestimmte ethische Werte einig wissen .
Dieser Zusammenhang von individueller Selbst Verwirklichung und
sozialer Gerneinschaftsbeziehung ist es , den Charles Larmore in seiner
Verteidigung des Liberalismus gegen die Herausforderung des romanti-
schen ftExpressivismus « vollkommen au ßer acht zu lassen scheint: indem
er die Idee sozialer Gemeinschaften mit Hilfe der klassischen Unterschei-
dung von & privater « und » ö ffentlicher « Sphä re zu widerlegen versucht ,
unterstellt er menschliche Subjekte* die ihre pers ö nlichen Zielsetzungen
ohne solidarischen R ü ckhalt in einer Kultur gemeinsam geteilter Wert-
Ü berzeugungen erkunden und verwirklichen k ö nnen . Im Lichte eines
Solchen * verk ü rzten « Begriffs der Selbstverwirklichung erweist sich
auch die scharfe Kritik, die Larmore an den politisch-theoretischen An-
spr ü chen des Hegelschen Sittlichkeitskonzeptes ü bt (Lartnore , 99 ff.) , als
etwas zu voreilig: auch Hegel läß t sich nä mlich* wie spä ter D ü rkheim , so
verstehen , da ß er die Notwendigkeit einer ü ber die modernen Rechtsbe
ziehungen bmausgehenden Vergemeinschaftung damit zu begrü nden
-
versucht , da ß nur im Rahmen ü betgreifender Wertgememschä ften sich
die Subjekte in ihrer jeweils besonderen Identitä t zu verwirklichen ver-
mögen 17 .
Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt auch Alasdair Maclntyre ,
wenn er die Bedingungen der pers önlichen Selbstverw irklichung unter-
sucht, um die Pr ä missen des « liberalen Individualismus « in Frage zu
ziehen (Maclntyre* Der Verlust der Tugend, Kap. 15). Sein Interesse gilt
dem Nachweis, da ß wir entgegen dem herrschenden Vor Verstä ndnis
auch heute noch gezwungen sind * das individuelle Leben als ein Gcsche ^
der in Form einet Etzä hlung darstellbar ist: wenn ich mein Leben nicht
narrativ in dem formalen Bezugsrahmen von Anfang und Ziel wiederzu-
geben vermag, fehlt ihm der einhcitstiftende Bezugspunkt, aus dem es
» Sinn « oder » Bedeutung « f ü r mich gewinnt; dementsprechend ist auch
die Erfahrung , sein Leben nicht mehr nach einem solchen teleologischen
Schema erzä hlen zu können , gewöhnlich mit dem leid vollen Erlebnis
existentieller Sinnlosigkeit verkn ü pft, das sich bis zur Selbstmordbereit-
schaft steigern kann (290).
Von dem Ziel, auf das hin jedes Leben angelegt sein muß , wenn es erzählbar
sein soll, hat nun zu gelten, da ß es in einem gewissen , schwachen Sinn eine
ethische Qualit ä t besitzen mu ß ; denn nur in dem Ma ße, in dem jene ü bergreifende
Zielsetzung zusä tzlich auch ein »Kriterium f ü r Erfolg oder Scheitern « (292)
meiner Lebens Vollz ü ge enthä lt , also moralische Anspr üche einsch ließt , kann es
im R ückbezug au feinen konstruierten Anfang als Bezugsrahmen f ü r eine derarti
ge LebenserZahlung dienen. Daher verlangt die narrative Ü rganisationsform des
-
menschlichen Lebens die Darstellung einer » Suche nach dem Guten « , auf die hin
einzelne Episoden sinnhaft als »Leiden , Gefahren , Versuchungen und Ablenkun
gen « begriffen werden k önnen (293).
-
Um allerdings die einzelnen Lebensabschnitte in diese einheitliche
Perspektive rü cken zu können , bedarf es schließ lich noch des Bezuges auf
die Vermittlungsmstanz gesellschaftlicher Rollen , durch die das Subjekt
mit der Geschichte seiner sozialen Gesellschaft stets untergr ü ndig ver-
bunden bleibt; unabh ä ngig von den Aufgaben und Traditionen, die mich
das Mitglied eine Gemeinschaft sein lassen , w ü rde meinem Leben der
ü bergreifende Orientierungspunkt und die soziale Rahmung fehlen , auf
die hin ich es als eine wenn nicht kontinuierliche, so doch unentwegte
Erkundung des « Guten « narrativ darstcllen kann ; » Denn die Geschichte
meines Lebens ist stets eingebettet in die Geschichte jener Gemeinschaf-
ten , von denen ich meine Identitä t herleite. Ich wurde mit Vergangenheit
geboren; und der Versuch , mich auf individualistische Art von dieser
Vergangenheit abzunabeln , bedeutet die Deformierung meiner gegen-
w ä rtigen Beziehung, * (295) Insofern setzt jede Art der individuellen
Selbstverwirkltchung, weil sie sich in Form einer Erzä hlung wiedergeben
lassen mu ß, jede Erzä hlung eines Lebens aber wiederum den Bezug auf
eine soziale Gemeinschaft impliziert , notwendigerweise die Bezugnahme
auf gemeinschaftlich geteilte Werte voraus.
Es ist hitr nicht weiter von Interesse, da ß Maclntyre seine Analyse der Erzä hl-
barkeit des menschlichen Lebens in die Richtung einer Rehabilitierung der anti
ken Tugcndlchre fortentwickelt; aus den Anforderungen , die die » Suche nach
-
dem Guten « an die Verhaltensdispositionen des einzelnen Menschen stellt, ver
sucht er nä mlich auf die normative Geltung bestimmter Charaktereigenschaften
-
f ü r die Gegenwart zur ü ckzuschließen (etwa 297). Von Bedeutung ist in unserem
Kontext allein der Umstand , da ß Maclntyre im Ergebnis mit jener Schlu ßfolge
rung Charles Taylors ü bereinkommt, derzu folge die Selbst Verwirklichung des
-
PhR .38 Grenzen des Liberalismus 99
175. )
Der Atomismusvorwurf, mit dem Sandel unbegr ü ndeterweise bereits
den liberalen Grundsatz der Vorrangstellung gleicher Rechte au ßer Kraft
zu setzen vetsucht hat , ist insofern erst hier, auf der zweiten Stufe der
Auseinandersetzung , in gewisser Weise gerechtfertigt: weil der Liberalis-
mus die moralischen Subjekte kategorial aus allen intersubjektiv geteilten
Wertbez ü gen her aus gel ö st hat, kann er jene sozialen Voraussetzungen
nicht angemessen klä ren, unter denen diese Subjekte die ihnen rechtlich
zugestandenen Freiheiten individuell verwirklichen können Rawls, der,
UL
-
Die R ü ckfrage von Ra wls eröffnet die bislang letzte Runde der Ausein
andersetzung , die innerhalb der amerikanischen Philosophie zwischen
den Vertretern des Liberalismus und des Kommunitansmus stattfindet;
im Zentrum dieses neuesten Standes der Diskussion steht das schwer zu
lösende Problem, w ie zwischen verschiedenen Konzepten eines gemein -
sam geteilten » Guten « normativ entschieden werden kann, wenn einmal
die konstitutive Bedeutung von sittlich integrierten Gemeinschaften f ü r
die Verwirklichung individueller Freiheiten ein gestanden ist . Allerdings
sind von der damit aufgeworfenen Frage inzwischen gewisserma ß en
-
beide Parteien der politisch philosophischen Debatte betroffen: denn
Rawls hat in den vergangenen Jahren, wie wir gesehen haben, mit dem
vertragstheoretischen Begr ü ndungsprogramm auch den Universal!-
t ü tsanspruch seiner Theorie preisgegeben und deren Geltungsbereich auf
den Traditionshorizont westlicher Demokratien eingeschr ä nkt; auch f ü r
ihn stellt sich mithin heute die Frage , welche Grü nde er an f ü hren kann ,
um die sittliche Tradition dieser besonderen Gemeinschaft vor denen
aller anderen normativ auszuzeichnen .
Die Kommunitaristen andererseits geraten in dem Ma ß e , in dem sie
zur Explikation ihres Gemeinschaftsbegriffs heraus gefordert werden ,
immer starker in einen theoretischen Sei bstWiderspruch: intuitiv machen
sie nä mlich dann, wenn sic konkrete Begriffe des gemeinschaftlichen
Guten zu explizieren versuchen , stets schon von universalistischen Prin-
zipien Gebrauch - bei Sandei hatte sich das bereits an seiner Verwendung
des Wortes » wrongly « gezeigt , bei Taylor tritt es in der durchgä ngigen
Beziehung auf die moralische Idee der individuellen Autonomie zutage,
bei Maclntyre schließ lich verr ä t es sich in dem Augenblick, in dem er als
das Kriterium einer vern ü nftigen Tradition den Gesichtspunkt der argu-
mentativen Offenheit einfuhrt (Maclntyre , Der Verlust der Tugend ,
S. 296 ff ), Zugleich aber sind alle drei Kommunitaristen von ihren kon-
tex tu alis tischen Pr ä missen ü berzeugt genug, um aus diesen impliziten
Prinzipien nicht normativ einschr ä nkende Bedingungen zu machen , die
jeder Bestimmung eines gemeinschaftlich Guten auferlegt werden m ü s-
sen ; der Tendenz nach geraten sie vielmehr in die Gefahr, jedwede Form
von Gemeinschaftsbildung um ihrer selbst willen normativ auszeichnen
PhR 38 Grenzen des Liberalismus 101
zu m ü ssen, wenn sie nur die geforderte Funktion der Stiftung wertbezo-
gener Solidaritä ten erf üllt .
Das damit zusammenh ä ngende Problem ist allerdings nicht unabh ä n-
gig von einer Beantwortung der entscheidenden Frage zu lösen , f ü r
welche Aggregationsebene der sozialen Integration ü berhaupt die
W ü nschbarkeic von Gemeinschaftsbildung normativ behauptet wird ;
denn es macht innerhalb der kommunitaristischen Argumentation einen
großen Unterschied , ob von wertbezogener Vergemeinschaftung allein
in Hinblick auf intermedi ä re Gruppen und Assoziationen oder aber mit
Bezug auf das InteraktionsVerh ältnis aller Staatsb ü rger , der staatlichen
Sittlichkeit Hegels also, gesprochen wird . Die erste Alternative w ü tdc
nur eine schwache Form des Kommunitarismus repr äsentieren, da in ihr
allein behauptet w ü rde, da ß zu den Verwirklichungsbedingungen indivi -
dueller Freiheit die Zugeh ö rigkeit zu irgendeiner Art von Wertgemein-
schaft « gehört ; eine solche These ist , wie Michael Walzer jetzt gezeigt hat,
mit dem Liberalismus im Prinzip insofern vereinbar, als der Staat seine
ethische Neutralitä t nur in dem schmalen Aufgabenbereich der aktiv -
rechtlichen Förderung von Gruppensolidarit ä ten (FamiJienpolitik, Bil -
dungs- und Kulturpolitik in Hinblick auf ethnische Minoritä ten etc ) zu +
|V
Vgl. exemplarisch: J üRGEN HABERMAS, Diskursethik- Notizen in einem Eegmndungs-
Programm , in: Mcrä lbtwu ßtsein und kotnmunilMtives Handeln , Frankfurt/ M . I 9ß3, S. 53 ff .