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Ethnizitat und
Migration
Einführung'in Wissenschaft und
Arbeitsfelder
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-496-02797-3
Inhalt
Brigitta Schmidt-Lauber
Ethnizitat und Migration als ethnologische Forschungs-
und Praxisfelder. Eine Einführung 7
Martin Sökefeld
Problematische Begriffe: »Ethnizitát«, »Rasse«,
»Kultur«, »Minderheit« 31
Margit Feischmidt
Ethnizitát - Perspektiven und Konzepte
der ethnologischen Forschung 51
Tsypylma Darieva
Migrationsforschung in der Ethnologie 69
UlfHannerz
Das Lokale und das Globale: Kontinuitat und Wandel 95
Klaus J. Bade
Migration und Ethnizitat in der Historischen Migrationsforschung 115
Jochen Oltmer
Staat, Nation und Migration. Zur politischen Konstruktion
von Minderheiten in der deutschen Geschichte l35
Regina Römhild
Fremdzuschreibungen - Selbstpositionierungen. Die Praxis
der Ethnisierung im Alltag der Einwanderungsgesellschaft 157
Sabine Hess
Transnationalismus und die Demystifizierung des Lokalen 179
Dorle Dracklé
Jenseits von Verbinden und Trennen: Migration und Medien 195
Gisela Welz
Inszenierungen der Multikulturalitát: Paraden und Festivals
als Forschungsgegenstande 221
Alois Moosmülier
Interkulturelle Kommunikation als Wissen und Alltagspraxis 235
Karin Vorhoff
Ethnologinnen und Ethnologen in der Sozialen Arbeit:
Zwischen Verbandspolitik und Projektarbeit 257
Christine Tuschinsky
Interkulturelle Fortbildungen in der Einwanderungsgesellschaft 263
Elke Bosse
Vermittlung interkultureller Kompetenzen im Hochschulstudium 275
Dieter Kramer
Ethnologen und interkulturelle Handlungsfelder
in Staat und Kommunen 285
Charlotte Uzarewicz
Ethnologische Gesundheitsarbeit und transkulturelle Pflege 293
Christian Giordano
Rechtsanthropologie zwischen Theorie und Praxis 303
Register 316
Margit Feischmidt
hebt (R. Cohen 1978; Okumara 1981; Jenkins 1994). Nach Ansicht des ersten
konstruktivistischen Ansatzes entstehen die modemen Formen der Ethnizitiit
im Unterschied zu den prarnodernen Formen im Verteilungskampf um knap-
pe Ressourcen. In der Manchester Schule der britischen Sozialanthropologie
wurde in diesem Zusammenhang der Begriff »political ethnicity« eingeführt
für die Strategie der gemeinsamen Handlung und Interessendurchsetzung der
nicht-dominierenden Gruppen (Cohen 1969: 27).
Das zweite theoretische Gegensatzpaar von Ethnizitátstheorien besteht
aus der sogenannten objektivistischen und der subjektivistischen Annáherung
an das Thema. Aus objektivistischer Sieht wird Ethnizitiit von den meisten
Soziologen - auf struktureller Basis - und von vielen Ethnologen - auf kultu-
reller Basis - als ein objektives Merkmal von Gesellschaften betrachtet. Ihre
Ergebnisse sind entweder Beschreibungen der vorgestellten ethnischen Cha-
rakteristika der einzelnen Gruppen oder Erklarungen der sozialen und Macht-
unterschiede der nebeneinander lebenden ethnischen Gruppen.
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Max Weber die objektivistische
primordiale Sichtweise hinterfragt, als er die These vom geglaubten Herkunfts-
bewusstsein als konstitutiv fűr ethnische Gruppen formulierte. Nach Weber ist
die ethnische Gruppe eine Gruppe von Menschen, die keine »Nation« bilden,
doch auf grund ihrer iiuBeren Erscheinung oder der Ahnlichkeit ihrer Gewohn-
heiten oder aber wegen áhnlicher Erinnerungen an Kolonialisierung und Wan-
derung subjektiv von einer gemeinsamen Herkunft überzeugt sind und diesen
Glauben in einer Weise pftegen und verbreiten, so dass er eine bedeutende Rolle
in der Gemeinschaftsbildung einnimmt (Weber 1990: 234-244, hier 239). We-
bers Paradigma blieb - wie die verstehende Soziologie im Allgemeinen - zu-
nachst ohne unmittelbare Folgen für die empirische Ethnizitiitsforschung. Erst
Jahrzehnte spiiter - Anfang der 1960er Jahre - stellte der Kulturanthropologe
Michel Moerman bezüglich der ethnischen Verhaltnisse in Thailand die Frage:
»Who are the Lue?«, da er keine »objektiven kulturellen Eigenschaften« fand,
die diese Gruppe hatten definieren und von ihren Nachbarn unterscheiden kön-
nen. So formulierte Moerman die erste »subjektive« Definition der Ethnizitat,
indem er sie als emische Kategorie der Zugehörigkeit bezeichnete: »Someone
is Lue by virtue of believing and call ing himself Lue and of acting in ways that
validate his Luesness« (zitiert nach Eriksen 1993: 11). Dieser Ansatz wurde
besonders im Kontext der Phanornenologie weiter entwickelt, innerhalb derer
- etwa in den Arbeiten von Soziologen und Ethnologen wie Rogers Brubaker,
Thomas Hyland Eriksen and Richard Jenkins - die Erfahrungsdimension des
Ethnischen in den Mittelpunkt rückte und Ethnizitat als Aspekt der Sprache,
des Denkens und der sozialen Praxis - im Gegensatz zu »Ethnopolitics« oder
ethnischen Ideologien - konzeptualisiert wurde (siehe BrubakerlFeischmidtJ
Fox/Grancea 2006).
54 Margit Feischmidt
Statt den Fokus auf die Kultur- und Gruppenzugehörigkeit zu lenken, der für
die Ethnizitatsforschung in der Ethnologie anfangs kennzeichnend war, rück-
ten ab den 1970er Jahren also die sozialen Prozesse und Handlungsformen
verstarkt in den Blick. Diese Wende wird im Allgemeinen mit dem Namen des
norwegischen Sozialanthropologen Fredrik Barth in Verbindung gebracht, der
zentralen Einfluss auf die Ethnizitatsforschung wie die ethnologische Gegen-
standsbestimmung insgesamt ausgeübt hat. Nach Barth sind ethnische Grup-
pen das Ergebnis von sozialen Prozessen der Identifizierung und Abgrenzung
zwischen Akteuren. Es gibt also keine »objektiven« kulturellen Unterschiede,
die von wissenschaftlicher Seite als primordial gegebene Kennzeichen von
Ethnizitat betrachtet werden können. Ethnizitatsbildend sind stattdessen nur
Merkmale, die für die Akteure selbst signifikant sind: »(E)thnic groups are cat-
egories of ascription and identification by the actors themselves, and thus have
the characteristic of organizing interaction between people« (Barth 1969: 10).
Um im Barthschen Sinne von Ethnizitát sprechen zu können, ist der stan-
dige Kontakt zwischen zwei Gruppen bzw. ihren Mitgliedern vorauszusetzen.
Die Beziehung zwischen diesen sich unterschiedlich identifizierenden Men-
schen ist das, was Ethnizitát überhaupt erst ermöglicht. Ethnische Gruppen
bilden eine besondere Form der sozialen Organisation, ein »organisational
vessel«, die verschiedene, sich im Laufe der Zeit verandernde »kulturelle
Inhalte« haben kann. Grundbegriff seines Ethnizitats-Konzepts ist die soziale
Grenze, die die Gruppe im organisatorischen Sinne »begrenzt« und, wie Barth
meint, sie sogar erst schafft. Die soziale Grenze zwischen zwei ethnischen
Gruppen wird in den alltaglichen Handlungen, Identifizierungen und Abgren-
zungen ausgehandelt und reproduziert.
Die Tatsache, dass Barth wie auch seine Nachfolger bei der Konstituierung
ethnischer Gruppen die interethnischen Beziehungen und Interaktionen bzw.
die Ereignisse der Grenzziehung in den Mittelpunkt stellten, fuhrte zu einem
bedeutenden Wendepunkt in der empirischen Ethnizitiitsforschung. Vielfach
ist sein Konzept der Grenze angewandt und auch weiterentwickelt worden.
Die Sozialanthropologin Sandra Wallman z.B. konstatierte eine doppelte Be-
deutung des Barthschen Begriffs der sozialen Grenze: »The first (meaning)
is structural and organisational. It is objective to the extent that outsiders can
see it. In this respect the boundary marks the edge of a social system. [... ] The
second kind of meaning inherent in the social boundaries is subjective to the
extent that it inheres in the experience of participants« (Wallman 1986~ 36).
Einerseits beschreibt Ethnizitat also eine Art der Gesellschaftsorganisation,
Ethnizitat ~ Perspektiven und Konzepte 55
andererseits eine Art und Weise der Perzeption, Einordnung und Deutung von
individuellen Erfahrungen (»ethnicity is about the organisation of society and
the organisation of experience« [ebd.j),
Das innovative Potential Fredrik Barths war beachtlich, dennoch blieb sein
Ethnizitatsverstándnis nicht ohne Kritik: So scheint es, als ob die ethnischen
Identitaten lediglich Ergebnisse der Verhandlung gleichgestellter Menschen
seien und die Zugehörigkeit oder Abgrenzung eine Frage der freien Entschei-
dung des Menschen ware, Der britische Sozialanthropologe Marcus Banks
etwa konstatiert in seinem wegweisenden Überblicksbuch zur anthropologi-
schen Ethnizitátsforschung, dass Barths analytische Indifferenz gegenüber
den Machtverhaltnissen und dem Staat ein liberales Modell des ethnischen
Pluralismus impliziert, mit dem man die Effekte von sozialer Ungleichheit nur
schwer analysieren kann (Banks 1996: 76)0 Ein anderer Kritiker, der Sozial-
anthropologe Richard Jenkins, bezieht sich auf die Barthsche These vom Primat
der Definitionen und Wahmehmungen der Akteure und moniert, dass Barth,
obwohl er sowohl die »innere« als auch die »áufiere« Definition der ethnischen
Gruppe erwahnt, nichts Grundsátzliches über Letztere sagt (Jenkins 1994)0
Entsprechend gab es Fortführungen und Differenzierungen des konstruk-
tivistischen Ethnizitátsverstándnisses, die diese Kritik umsetzten, So hat
Richard Jenkins gefordert, neben dem Verstandnis der Gruppe als Ergebnis der
Selbstidentifikation, sie ebenso als Ergebnis der Zuschreibung oder Fremd-
zuschreibung zu verstehen. Die ethni sch en Fremdzuschreibungen kommen
informell oder nicht-institutionalisiert sowie institutionell oder formal zustan-
deo Zu den informellen Zuschreibungsprozessen gehören die routinemaííigen
Interaktionen - wie z.B, die Identifizierung von Unbekanntem mit ethnischen
Kategorien oder die Mobilisierung ethnischer Kategorien durch spezifische
Diskurse oder Stereotypen -, aber auch das Lebensumfeld wie Nachbarschaft,
Freundeskreise oder Familie, das eine starke Kontrolle über die ethnische
Grenze ausübt, so auch über als legitim gesehene Partnerschaften und andere
Beziehungen. Zu den institutionellen Dimensionen, die an der Entstehung und
Reproduktion ethnischer Kategorien beteiligt sind, gehören beispielsweise
der Staat, der die Bevölkerung über Gesetze, Volkszahlungen, Statistiken
und durch die Sozialwissenschaften öffentlich klassifiziert, der Arbeitsmarkt
wie auch die ethnischen Institutionen, z.B. Parteien, Organisationen und Kir-
chen der Minderheiten. Die Klassifikation nach gesellschaftlich anerkannten
und legitimierten Kategorien erfolgt durch Institutionen und ist fest in den
Machtverhaltnissen verwurzelt, da das Vermögen, die Iderititat anderer zu
bestimmen, Macht und Kontrolle über verschiedene Ressourcen voraussetzt
(ebd.: 199): »[00o] identities are imposed upon individuals in school and in the
labour market, in a dialectical process of internal and external definition. [ooo]
The individual's experience of the consequences of being categorized may,
56 Margit Feischmidt
over time, lead to an adjustment in his or her self-image in the direction of the
stigmatizing public image« (ebd.: 206).
In der Geschichte der Ethnizitátsforschung gab es noch weitere Versuche
hinsiehtlich ein er Synthese der strukturellen und der individuellen Kompo-
nenten der Ethnizitat, Ein anderer Ethnologe, Leo Depres, hat beispielsweise
in seiner Forschung in Guyana drei Haupterscheinungsformen oder Ebenen
der Ethnizitát ausfindig gemacht: erstens aus einer Makroperspektive und
organisatorischen Sieht die ethnische Teilung von Arbeit (ethnic division of
labour), zweitens die politische Organisation der ethnischen Gruppe, in deren
Rahmen formuliert und kontrolliert wird, wie innerhalb einer Gruppe die Mit-
gli eder ihre Zugehörigkeit, ihre Identitat reprasentieren können und sollten,
und schlieJ31ich drittens die interethnischen Beziehungen in den alltaglichen
Interaktionen, wo es die gröBte Freiheit für Verhandlungen bezüglich der eth-
nischen Identitat gibt (Depres 1975).
Auch Fredrik Barth selbst unterscheidet in seiner jüngsten theoretischen
Übersicht, in der er seine einflussreichen Thesen von 1969 zum Teil revidiert,
drei Ebenen der Konstituierung der Ethnizitat (Barth 1994). Auf der ersten
Ebene, die er als Mikroebene bezeichnet, wird Ethnizitat in den Interaktionen
hervorgebracht und ausgehandelt, wo auch die individuellen Prozesse der
Identifizierung stattfinden. Die zweite, »mittlere Ebene« ist der Ort der sym-
bolischen Politik, wo sich ethnische Gemeinschaften konstituieren. Auf der
dritten Ebene wird von Barth ebenfalls die Politik in den Mittelpunkt gestelIt,
wobei hier jedoch die Frage, wodurch eine strukturelle Differenz geschaffen
wird, eine starkere Betonung findet. Die Hauptakteure sind hier: die Bürokra-
tie, die den sozialen und ethnischen Gruppen Rechte und Verbote vorschreibt,
die ideologischen Diskurse der Staaten und die globalen Identitatsdiskurse.
Die damit angesprochene Frage nach dem Zusammenhang von Ethnizitat und
Macht bzw. Politik soll nunmehr vertieft werden, da sie eine lange wissen-
schaftliche Tradition in der Ethnologie und Soziologie hat.
den Hausa fest: Sie leben in einem segregierten Wohnviertel, sie sprechen eine
gemeinsame und besondere Sprache, sind Teilnehmer an besonderen wirt-
schaftlichen Aktivitaten und rituellen Ereignissen. Jedoch betonte Cohen, dass
keines dieser Merkrnale primordial, bestandig oder unveranderbar sei. Er ver-
suchte, den Prozess der »retribalizationc - heute würden wir das Ethnisierung
nennen - auf der Ebene der Politik zu erklaren und sprach sich damit gegen
die quasi-psychologische Erklarung seiner Kollegen Mitchell und Mayer aus.
Cohen fiihrte den Begriff der politischen Ethnizitdt ipolitical ethnicity, Cohen
1969: 27) ein, womit er Ethnizitat nicht als eine Form der Identitat, sondern als
eine Strategie der corporate action definierte: >>>Retribalization< is a process
by which a group from one ethni c category, whose members are involved in
a struggle for power and privilege with the members of a group from another
ethnic category, within the framework of a formai politicai system, manipulate
some customs, values, myths, symbo ls, and ceremonials from their cultural
tradition in order to articulate an informal politicai organization which is used
as a weapon in that struggle« (ebd.: 2).
Cohen meinte damit eine inoffizielle Politik, die er fiir jene Gruppen als
kennzeichnend erachtete, denen eine formelle Organisation verwehrt ist. Eth-
nizitat stelIt demnach eine Form der informellen politischen Strukturierung
dar, die kulturelle Grenzen und Unterschiede produziert, um die wirtschaftli-
chen Ressourcen der Gruppe oder ihre politische Machtposition zu bewahren.
Cohens einflussreiches Ethnizitatskonzept ist ein k1assisches Beispiel fiir die
sogenannte Jnstrumentalisierungsthese, bei der die raison d'étre der Ethnizitát
in ihrer politischen Funktion liegt. Eine áhnliche These hinsiehtlich des instru-
mentellen Charakters der Ethnizitat wurde auch am Beispiel der europáischen
Minderheiten und Migranten formuliert.
Gemeinsam ist diesen Ansátzen sowohl in der Ethnologie als auch in der
Soziologie die Annahme, dass Zusammengehörigkeitsgefiihle und Gemein-
schaftsvorstellungen der Menschen im Dienst politischer oder materieller In-
teressen instrumentalisiert werden können. Ethnizitát wird als eine Ausprágung
sozialer Interessen, als symbolische Ressource verstanden, die fiir die Inter-
essen der politischen Führung oder bestimmter politischer Eliten im Kampfum
Einfluss oder Macht genutzt werden kann. Wie Brass formuliert: »The cultural
forms, values and practices of groups become political resources for elites in
competition for political power and economic advantage. They become sym-
bols and referents for the identification of members of a group, which are called
up in order to create a political identity more easily« (Brass 1991: 15).
Die meisten Theorien, die Ethnizitat als Element spezifischer Machtkonstel-
lationen erklaren, betrachten Ethnizitat in zweierlei Kontexten: einerseits die
Organisation und Reorganisation der ethnischen Differenzen info Ige der Mo-
dernisierung und Binnenmigration, andererseits das Verhaltnis der Ethnizitat
58 Margit Feischmidt
aktionen, die über die ethnische Grenze hinausreichen, sowie die Kommuni-
kation und in noch gröJ3erem MaJ3e die Kooperation erschwert, in gewissen
Fallen sogar geradezu unmöglich gemacht. Dort, wo die Vorstellung der paral-
lelen oder inselahnlichen gesellschaftlichen Struktur von Minderheiten im po-
litischen AlItagsdiskurs verankert ist, wird sie auch als Legitimationsstrategie
der staatlichen oder zivilen Segregationspolitik verwendet. Deswegen wird
das besonders von Medien und Politik bereitwillig aufgegriffene und genutzte
Konzept der »Parallelgesellschaft« (vgl. Heitrneyer 1998) aus ethnologischer
Perspektive au ch kritisch betrachtet.
sowohl den gesellschaftlichen und historischen Kontext als auch das konkrete
Handein von Subjekten in den Blick nirnmt. Demnach stehen im Mittelpunkt
der Forschung: »Erfahrungshorizonte, Handlungsmuster und Selbstentwürfe
von Menschen. Damit entgeht die Forschung der Gefahr, Kultur, Sozialstruktur
oder Politik als verselbstandigte Kategorien zu begreifen, deren Vermittlung
und Gestaltwerdung auBer acht bleiben. Eine Alltagsforschung zu Ethnizitát
fragt vielmehr, wie ethnische Kategorisierungen vermittelt und genutzt werd en,
wie sie im taglichen Leben zur Geltung kommen und wie diese Alltagserfah-
rungen zu den materiellen und sozialen Strukturen einer Gesellschaft in Bezug
stehen« (Schmidt-Lauber 1998: 14). Stephen Cornell und Douglass Hartmann
konkretisieren das Erkenntnispotential wie folgt: »[I]t is in daily experience
that boundaries between groups often are most c\early drawn or most subtly re-
inforced. In day-to-day interactions, people enact their assumptions, conveying
messages about which identities are important to them and what those identities
mean« (Cornell/Hartrnann 1998: 184).
Wichtig sind in dieser Alltagsperspektive die Praxen und Interaktionen
von Individuen gleicher und verschiedener Loyalitaten, wofür oftmals die
theoretischen und methodischen Zugange des symbolischen Interaktionismus
angewendet werden. So ging auch der Barthsche Grenzbegriff davon aus, dass
die Interaktionen zwischen den Mitgliedern verschiedener ethniscber Gruppen
durch bestirnmte gesellschaftliche Regein, Vorschriften, Verbote und Sanktio-
nen gelenkt werden, we1che eine Begegnung in bestirnmten Handlungsberei-
chen erlauben, in anderen hingegen verhindern. Damit determinieren diese
Regein in bedeutendem MaBe auch den Ablauf der Interaktionen. Das Indi-
viduum verfügt trotzdem über eine relative Selbststandigkeit im Umgang mit
ihnen. Es ist fáhig, seine ethnische Identitát entsprechend der Situation bzw.
seiner Interpretation der Situation zu betonen (overcommunicate) oder zu ver-
bergen (undercommunicate) (Eriksen 1993: 31), die Bedeutung im Vergleich
zu seinen anderen Identitaten bzw. Loyalitaten zu steigern oder zu senken.
Somit ist die Bedeutung und Relevanz der Ethnizitát nicht in jeder Situation
gleich bzw. im Hinblick auf die gesamte Gesellschaft homogen. Vielmehr gibt
es Situationen, in denen sie bestirnmend ist, in anderen hingegen ist sie un-
bedeutend. Ebenso gibt es Menschen, die sensibler für ethnische Differenzen
sind und für die die eigene Gruppenzugehörigkeit wichtiger erscheint, wáh-
rend dies bei anderen weniger oder gar nicht der Fall ist (Feischmidt 2003).
Brubaker und seine Mitarbeiter behaupten in ihrer Monografie über everyday
ethnicity sogar, es gebe eine grundsatzliche Asyrnmetrie der subjektiven Er-
fahrung von Ethnizitat und damit eine relative Wichtigkeit derselben für die
Markierten, die Mitglieder der Minderheiten, im Vergleich zur nicht etiket-
tierten Mehrheit der Dominanten (Brubaker/Feischmidt/Fox/Grancea 2006).
Ein Teil der Bedeutungsunterschiede ethnischer od er ethnisch-interpretierter
Ethnizitat- Perspektiven und Konzepte 65
Ausblick
Ethnizitat ist ein analytisches Konzept der Sozial- und Kulturwissenschaften,
das die soziale Organisation kultureller Diversitat beschreibt und sich in ver-
schiedene methodologische und theoretische Richtungen verzweigt. Es handelt
sich um einen Begriff, der in den letzten Jahren ahnlich wie Klasse, Schicht
ader Gender zu einer zentralen soziokulturellen Kategorie avancierte. Ihre
Anwendung als analytische Kategorie fuhrt allerdings auch zur zunehmenden
gesellschaftlichen Prasenz bzw. politischen Instmmentalisiemng von Ethnos
im Sinne des statischen essentialisierenden Kultur- und Gmppenbegriffs.
Manche Sozialwissenschaftler behaupten deshalb, Ethnizitat sei heutzutage
eher ein Begriff der Anerkennungskampfe und als analytisches Konzept gar
unbrauchbar geworden. Andere, so auch die Autorin dieser Abhandlung, sind
der Ansicht, dass die Beschreibung, Analyse und Interpretation der sozial
verankerten Praxen und Prozesse der kulturellen Differenziemng und Ge-
meinschaftsbildung, die wir als ethnisch kennzeichnen, einen unerlasslichen
Teil der kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeit darstellt. Dafur müssen
die wissenschaftlichen Deutungen ethnischer Phanomene jedoch vom Alltags-
verstandnis abgegrenzt werden, so betonen auch Bmbaker (2004) und Eriksen
(1993). Durch Feldforschung, Beobachtungen und Interviews wie auch durch
reflexive Theoriebildung können wir in der Ethnologie die unterschiedlichen
Darstellungsformen und Konstruktionsprozesse von Ethnizitát erklaren und
damit sowohl die alltaglichen Narrative und Praxen der Differenzierung und
66 Margit Feischmidt
Identifizierung als auch die öffentlichen und politischen Diskurse »der Minder-
heiten«, »des Ethnischen« und »der Nation« dechiffrieren. Weiterhin verfügen
wir über die geeigneten theoretischen und methodischen Mittel, um ihren
Bezug zueinander zu verstehen und grundlegende Fragen gesellschaftlicher
Realitat zu beantworten.
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68 Margit Feischmidt