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D Z P h i l , Berlin 47 (1999) 6 , 1 0 0 5 - 1 0 2 0

INTERVIEW

Von der Begriffsanalyse zu einer systematischen Metaphysik

Von ROBERT B. BRANDOM (Pittsburgh)

Interviewt von SUSANNA SCHELLENBERG (Frankfurt/M.)*

Schellenberg: Sie gelten als der Philosoph, der es verstand, verschiedene philosophische
Strömungen des 20. Jahrhunderts, vor allem Debatten um die Philosophie des Geistes, ana-
lytisch geprägte sprachphilosophische Diskussionen und Themenkreise der kontinentalen
Philosophie in einer Argumentationslinie zusammenzuführen. Welches sind die Elemente
dieser verschiedenen Traditionen, denen Sie sich verpflichtet fühlen?
Brandom: Ich denke, mein akademischer Hintergrund ist für die Frage, wo ich heute stehe,
entscheidend. Meine Lehrer in Princeton, wo ich promoviert habe, waren Richard Rorty
und David Lewis. Rorty legt natürlich sehr viel Wert auf die Geschichte der Philosophie
und auf traditionelle philosophische Probleme. Er interessiert sich dafür, wie wir in die
philosophische Situation gelangt sind, in der wir uns nun, am Ende des 20. Jahrhunderts,
befinden. David Lewis auf der anderen Seite ist ein brillanter analytischer und technisch
versierter Philosoph, der in der logischen Tradition verwurzelt ist. Ich habe mit ihnen ge-
arbeitet, um mich einerseits mit jenen Fragen auseinanderzusetzen, mit denen sich Rorty
beschäftigt, dies aber andererseits mit heutigen Mitteln und Methoden zu tun, die Lewis
meisterhaft beherrscht. Rorty hat über seinen Lehrer Wilfrid Seilars gesagt, in ihm liege
der Geist Hegels in den Ketten von Carnap. Von mir könnte man sagen, daß ich versucht
habe, den Geist Rortys zu vermitteln - vielleicht nicht so sehr in den Ketten von Lewis, als
vielmehr mit der Präzision seiner Sprache.
Ich habe mich also immer mit recht traditionellen philosophischen Problemen befaßt:
Fragen nach der Natur des Menschen, der Natur des Geistes, des Gebrauchs von Begriffen,
Fragen nach den sozialen Praktiken, welche uns als Menschen auszeichnen, und danach,
was es heißt, eine Person zu sein. Mein Anliegen war es immer, verschiedene technische
Methoden und Entdeckungen der analytischen Philosophie auf diese Probleme anzuwen-
den, vielleicht eher im Geiste Freges als in dem Russells.
Schellenberg: Es ist bekannt, daß Sie sich auch intensiv mit Hegel beschäftigen. Gibt es
eine direkte Verbindungslinie zwischen Ihrem Interesse an Hegel und Ihrer Argumenta-
tion in Making It Explicitl
Brandom: Oh ja, ganz klar. Ich berufe mich nur deshalb nicht auf Hegel, um meine Aus-
sagen in Making It Explicit zu erklären, weil ich fürchte, daß dies ein Versuch wäre, das
Obskure durch das Obskurere zu erhellen. Eine Gruppe von Problemen wurde meines

Das Gespräch wurde am 20. Januar in Frankfurt am Main geführt.

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1006 Robert B. Brandom, Begriffsanalyse und Metaphysik

Erachtens erst dann für uns sichtbar, als wir begannen, das Werk des späten Wittgenstein
durchzuarbeiten, insbesondere die Fragen nach dem normativen Charakter von Intentio-
nalität und nach dem Gebrauch von Begriffen. Man könnte sagen, daß diese Probleme
schon von Kant eingeführt wurden, zumal dieser von dem Gedanken ausging, daß sich Ur-
teile und Handlungen dadurch auszeichnen, daß wir für sie verantwortlich sind. Indem wir
urteilen oder handeln, binden wir uns an eine bestimmte Norm, das heißt an eine Ver-
pflichtung [commitment], deren Gehalt sich durch einen Begriff artikulieren läßt. Hegels
zentraler Gedanke ist meines Erachtens, daß begriffliche Normativität im Hinblick auf so-
ziale Praktiken verstanden werden muß, und wir daher normativen Status (wie „verpflich-
tet sein", „verantwortlich sein" oder „Autorität besitzen") zunächst als sozialen Status ver-
stehen müssen. Es war im 19. und frühen 20. Jahrhundert sehr schwer, diesen Gedanken zu
akzeptieren, weil die damit angesprochenen Probleme kaum richtig einzuschätzen waren.
Ich denke, es war nötig, diese Probleme unabhängig von Hegel, nämlich durch den späten
Wittgenstein zu entdecken, um in der Lage zu sein, sie bei Hegel aufzufinden.
Ich habe sehr viel und oft erstaunliche Details von Hegel gelernt, etwa von seiner Aus-
einandersetzung mit dem Begriff der Handlung. Natürlich mußte ich diese Gedanken
zunächst in ihrem eigenen Sinne ausarbeiten, um zu sehen, wohin sie führen und inwiefern
sie für mich fruchtbar sind. Es ist zum Teil in Anerkennung dieser Schuld, daß ich nun zu
Hegel zurückkehre und versuche, einige seiner Gedanken aus diesem Umfeld wiederein-
zubringen. Ich will sie dabei nicht nur für meine Zwecke verwenden, sondern Hegel selbst
besser verstehen.
Schellenberg: Eine letzte Frage zu Ihrem philosophischen Hintergrund: Sie haben Ihr
Buch Making It Explicit Rorty und Sellars gewidmet, die Sie beide bereits erwähnt haben.
Ich nehme an, daß diese zwei Philosophen nicht zwei Antipoden in Ihrem Denken dar-
stellen. Gibt es einen gemeinsamen Nenner, den Sie mit beiden teilen? In welchem intel-
lektuellen Verhältnis stehen Sie zu ihnen?
Brandom: Ja, ich würde nicht von Antipoden sprechen. Rorty und ich sind beide Leser von
Seilars. Nach der üblichen Aufteilung sind wir beide Links-Sellarsianer.
Schellenberg: Was ist darunter genau zu verstehen?
Brandom: Die sogenannten Links-Sellarsianer halten die epistemologischen und semanti-
schen Lehren aus Empiricism and the Philosophy of Mind für Seilars' profundeste Weis-
heit. In diesen Lehren geht es um den sozialen Charakter von Autorität, einschließlich der
epistemischen Autorität unserer eigenen Erfahrungen, es geht um die Nicht-Reduzierbar-
keit des Normativen auf das Natürliche, sowie darum, inwieweit Normen unser geistiges
Leben durchdringen. Die sogenannten Rechts-Sellarsianer richten ihren Blick auf Sellars'
Szientismus, den er selbst in dem Slogan „Wissenschaft ist das Maß aller Dinge, derer, die
sind, daß sie sind, und derer, die nicht sind, daß sie nicht sind" zusammengefaßt hat. Ob
diese zwei Stränge, die zweifellos in Sellars' Werk vorhanden sind, überhaupt miteinander
kompatibel sind, ist sehr schwer zu beantworten. Ich bin der Ansicht, daß der Szientismus,
den Seilars mit Carnap teilte, den er sehr bewundert und von dem er viel gelernt hat, zeit-
lich vor seinen epistemologischen Einsichten ausgearbeitet wurde und daß es Sellars nie
gelang, die Konsequenzen seiner Entdeckungen in Empiricism and the Philosophy ofMind
für seine szientistischen Überzeugungen vollständig zu durchdenken.
In einer Hinsicht bin ich eher ein Schüler von Seilars als von Rorty, obwohl ich nie bei
Seilars studiert habe: Im Unterschied zu allen anderen angelsächsischen Philosophen sei-

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ner Generation war er, obwohl ein technisch denkender und analytischer Philosoph, ein
systematischer Metaphysiker mit einem emsthaften Interesse an der Geschichte der Phi-
losophie. Er konnte die Probleme, mit denen er sich beschäftigte, genau einordnen und war
sich bewußt, daß sein Ansatz sich aus dem Verständnis unserer historischen Situation her-
aus gebildet hat. Seilars' Denken ist insbesondere durch seine Kant-Lektüre geprägt, was
in den fünfziger und sechziger Jahren für analytische Philosophen extrem ungewöhnlich
war. Die meisten hatten Kant nicht einmal gelesen, bis Peter Strawson in Großbritannien
und Jonathan Bennett in Nordamerika Kants theoretisches Werk für analytische Philoso-
phen respektabel gemacht haben. (Man könnte sagen, daß Rawls dasselbe für Kants prak-
tische Philosophie geleistet hat.) Nur Seilars war sowohl ein analytischer Philosoph als
auch ein historisch denkender systematischer Metaphysiker. Diese Orientierung teile ich
mit ihm. Darin unterscheiden wir uns beide von Rorty, der natürlich systematische Meta-
physik für das letzte hält, was das ausgehende 20. Jahrhundert von den Philosophen
braucht.
Rorty übernimmt von Seilars mehrere pragmatische Einsichten, die mit denjenigen des
späten Wittgenstein übereinstimmen und die er als Mittel betrachtet, um mehrere philoso-
phische Verwirrungen aufzulösen. Aber Rorty würde die systematische, metaphysische
Seite von Seilars eher dessen Vorliebe für eine wissenschaftliche Denkweise zuschreiben
und weniger deren Nähe zur philosophischen Tradition Kants und Hegels sehen, wie Sei-
lars es getan hat und wie ich es tue.
Schellenberg: In Ihrem Buch erläutern Sie ausführlich den Zusammenhang zwischen dem,
was wahr ist, und dem, was für wahr gehalten wird. In welchem Verhähnis steht Ihr eigener
philosophischer Anspruch zu dieser Unterscheidung? Inwiefern würden Sie sagen, daß sie
beschreiben, wie unsere sozialen Praktiken funktionieren? In welchem Sinne würden Sie
sagen, daß Sie einen möglichen Weg zeigen, um ein Bild dieser Praktiken zu entwerfen?
Inwieweit untersuchen Sie drittens, wie eine angemessene philosophische Untersuchung
dieser Praktiken aussehen sollte?
Brandom: Eines der Ziele meines Buches ist es, eine spezifische Fassung des Begriffs der
expressiven Vernunft herauszuarbeiten: nämlich die Aktivität zu explizieren, d. h. dasjenige,
was sonst in unserer Praxis implizit bleibt, in Form von Sätzen auszudrücken, welche als
Begründungen verwendet werden und für welche Begründungen gefordert werden kön-
nen. Dieser Begriff stammt nicht aus demselben philosophischen Umfeld wie die Begriffe
Deskription und Präskription, auf die Sie mit Ihrer Frage zielen. Erklären, Explizieren,
Ausdrücken, Zuschreiben haben keinen Ort in einer Pragmatik, die zwischen Deskription
und Präskription unterscheidet. Die pragmatische Landkarte muß teilweise neu gezeich-
net werden, um für diese Begriffe einen Ort zu finden.
Schellenberg: Lassen Sie mich das, worauf ich hinaus will, auf eine andere Weise formulieren:
In welchem Verhältnis steht diese expressive Absicht zu dem konstruktiven Gedankengang
in Making It Explicif! Inwiefern ist das Explizieren des Impliziten ein kritisches Projekt?
Brandom: Was ich zu tun versuche, ist, begriffliche Mittel, die ich im Buch als logische Aus-
drücke bezeichnet habe, bereitzustellen (zu konstruieren, könnte man sagen), deren ex-
pressive Funktion darin liegt, das zu entfalten und zu explizieren, was in unseren diskur-
siven Praktiken implizit ist. Dies konnte teilweise mit traditionellen philosophischen
Begriffen geleistet werden, denen diese Funktion zugeschrieben wurde, aber zum Teil
bedurfte es auch neuer begrifflicher Mittel. Mir geht es darum, solche explizierenden Be-

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1008 Robert B. Brandom, Begriffsanalyse und Metaphysik

griffe zu entwickeln, einzusetzen und sie dann anzuwenden, um verschiedene wesentliche


Aspekte unserer diskursiven Praxis zu explizieren.
Zunächst geschieht dies aus einer externen Perspektive, und zwar vom Standpunkt einer
Interpretin, die von außen auf die Praktiken einer uns ähnlichen Gemeinschaft von Lebe-
wesen blickt. Diese Interpretin versucht, für sich selbst zu explizieren, was in den Prakti-
ken dieser Gemeinschaft implizit ist, um dann genauer zu bestimmen, was es für die Mit-
glieder der Gemeinschaft heißt, die für dieses Explizieren notwendigen begrifflichen
Mittel einzuführen.
Am Ende des Buches soll dieser Prozeß, in dessen Verlauf die expressiven Mittel ange-
reichert werden, dahin gelangt sein, daß die Perspektive der beobachtenden, diskursiv
Handelnden mit der anfänglichen, externen Perspektive der Interpretin zusammenfällt -
so daß die Handelnden selbst in der Lage sind, all die Merkmale ihrer Praxis zu explizie-
ren, die auch ein Leser des Buches explizieren kann. An diesem Punkt fällt die Perspektive
der Interpretin, also derjenigen, welche die im Buch entwickehen begrifflichen Mittel ein-
setzt, mit der Perspektive desjenigen zusammen, der, nach meiner Terminologie, im Sprach-
spiel selbst Buch führt [keep score].
Am Ende fäUt somit das, was das Buch zu tun versucht, mit dem zusammen, was die
diskursiv Handelnden selbst tun. Das Bild ist dabei, daß unser Vermögen, einander zu ver-
stehen, auf der Fähigkeit beruht, zwischen verschiedenen Perspektiven hin und her zu
navigieren: Die Perspektiven unterscheiden sich aufgrund der unterschiedlichen Ver-
pflichtungen, die wir eingehen, weil wir verschiedene Lebensläufe haben, und auch, weil
wir unterschiedliche inferentielle und epistemische Herangehensweisen haben. Durch Ge-
spräche lernt man, zwischen der Perspektive, die durch die Verpflichtungen eines anderen
eingebracht wird, und der Perspektive, welche durch die eigenen Verpflichtungen be-
stimmt ist, hin und her zu navigieren. Der technische Apparat, um dies zu explizieren, wird
durch die Unterscheidung zwischen Zuschreibungen von propositionalen Einstellungen
de dicto und Zuschreibungen von propositionalen Einstellungen de re bereitgestellt. Durch
solche Ausdrücke werden die Verpflichtungen, die wir einander zuschreiben, expliziert.
Im weitesten Sinne könnte man dies als eine Beschreibung dessen betrachten, was sie
tun. Aber eigentlich handelt es sich eher um eine präskriptive als eine deskriptive Haltung,
weil man eine normative Einstellung einer anderen Person gegenüber einnimmt. Die Kor-
rektheit dieser Einstellung wird durch die Verpflichtungen bestimmt, die diese Person an-
erkannt hat. All dies ist entscheidend, um vorherzusagen, was jemand als nächstes sagen
oder tun wird. Gleichzeitig jedoch muß man, um zwischen verschiedenen Perspektiven hin
und her zu navigieren, in der Lage sein, die Gehalte der Behauptungen der anderen so zu
spezifizieren, daß sie in Zuschreibungen von propositionalen Einstellungen de re expliziert
werden können. Dies verbindet sie explizit mit den Verpflichtungen, welche die Buchfüh-
rerin [scorekeeper] eingeht. Und das wiederum ist eine normative Angelegenheit: Man be-
urteilt die Verpflichtungen, welche die anderen eingehen.
Zu verstehen, was jemand sagt, beinhaltet also immer beides: Deskription und Präskrip-
tion. Man nimmt eine Einstellung ein, die sich an dem orientiert, was tatsächlich gesagt
wird, aber interpretiert es im Hinblick auf das, was vom Standpunkt desjenigen, der die
Aussage zu verstehen versucht, in diesem Fall gesagt werden sollte. Meine Untersuchung
handelt davon, wie diese beiden Aspekte immer dort wesentlich miteinander verwoben
sind, wo Verpflichtungen wirklich eingegangen und zugeschrieben werden.

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Schellenberg: Sie bezeichnen Ihren Ansatz wiederhoh als eine normativ phänomenalisti-
sche Untersuchung von sozialen Praktiken. Was verstehen Sie dabei unter „normativ"?
Brandom: Ich versuche nicht - wie es diese Formulierung nahelegt - zu sagen, wie diskur-
sive Praxis ausgeübt werden sollte. Es geht eher darum, für uns selbst die Verpflichtungen
zu explizieren, die in unserer diskursiven Praxis implizit sind: die Normen, die man als kon-
stitutiv für eine Praxis betrachten muß, damit diese überhaupt als Praxis des Sprechens,
Denkens, Urteilens und Handelns angesehen werden kann. D a es sich um ein expressives
Unterfangen handelt, bedarf es mehr als einer bloßen Beschreibung des Geschehens. Man
kann beispielsweise nicht so darüber sprechen, wie es ein Physiker über die Anordnung
von Objekten tut. Es gibt im physikalistischen Bereich keine ähnlich grundlegende Bezie-
hung zwischen dem, was durch Explikation gesagt wird, und dem, was sonst impliziert ist in
dem, was getan wird. (Eine nicht-normative Spezifizierung einer empirischen Regelmäßig-
keit expliziert diese in einem ganz anderen Sinn.)
Schellenberg: Ich würde gerne näher auf den Begriff des Phänomenalismus eingehen, der
eine wichtige Rolle in Making It Explicit spielt. Meinen Sie, wenn Sie von einer phäno-
menalistischen Untersuchung diskursiver Praktiken sprechen, mehr, als daß Ihre Über-
legungen bei den Erscheinungsweisen, den Manifestationen unserer sozialen Interaktionen
ansetzen?
Brandom: D e r Begriff „Phänomenalismus" kann leicht in die Irre führen. Vielleicht ist er
nicht der beste Ausdruck für das, was ich meine. Mir geht es darum, daß der Begriff der
Verpflichtung im Hinblick auf praktische Einstellungen verstanden werden muß, mit denen
jemand als verpflichtet betrachtet oder behandelt wird. Normativer Status wird in Prak-
tiken instituiert. Es gab keine Verpflichtungen und Berechtigungen [entitlements] in der
Welt, bevor Menschen begannen, einander als autorisiert oder verantwortlich zu behan-
deln. Es ist dieses Merkmal der normativen Untersuchung von Praktiken, das ich mit der
Bezeichnung „phänomenalistische Theorie von N o r m e n " ausdrücken wollte.
Schellenberg: Sie haben Hegel schon mehrmals genannt. In Making It Explicit scheinen Sie
vor allem methodologisch stark an Hegel orientiert zu sein: Mit dem Fortgang ihrer Argu-
mentation werden die zu einem früheren Stadium eingeführten Begriffe expliziert und
deren Sinn somit erst gegen E n d e des Buches im Ganzen deutlich.
Brandom: Die Strukturmerkmale, auf die Sie hinweisen, sind Konsequenzen der expressi-
ven Methodologie und der Absicht des Buches. Mein Ziel ist es, zu explizieren, was in
unserer diskursiven Praxis implizit ist. Das ist keine Frage des Alles oder Nichts. Dinge sind
nicht entweder explizit oder implizit. Sie können in einer Hinsicht implizit und in einer
anderen explizit sein.
Die Begriffe, die ich einführe, spielen die expressive Rolle, die sie meines Erachtens als
logische Ausdrücke charakterisiert: Sie haben die expressive Rolle, die Merkmale des Ge-
brauchs nicht-logischer Ausdrücke in Form einer Behauptung zu explizieren, die in ihrem
alltäglichen Gebrauch, dem sie ihre Bedeutung verdanken, implizit ist. Deshalb kann der
Gehalt der logischen Ausdrücke, die ich entwickle, selbst nur schrittweise expliziert wer-
den. Zuerst muß ihnen ein Gebrauch gegeben werden, bevor sich dieser Gebrauch dann
selbst explizieren läßt. Es ist allgemein charakteristisch für die Praxis des Explizierens,
erst am E n d e des Tages sehen zu können, was wirklich implizit war. D e r einzige uns mög-
liche Zugang zum Impliziten unserer Praxis erfolgt aus der Retrospektive des Explizie-

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1010 Robert B. Brandom, Begriffsanalyse und Metaphysik

Schellenberg: Würden Sie im Hinblick auf diese Argumentationsstruktur sagen, daß Sie
sich mit dem Hegeischen Problem des Anfangs auseinandersetzen?
Brandom: Eigentlich nicht, nein, denn mein Ansatz entspricht einer bestimmten pragmati-
schen Herangehensweise. Er setzt bei diskursiven Praktiken an. Das Buch beginnt mit der
Begründung des allgemeinen Ansatzes, diskursive Praxis als grundsätzlich normativ orga-
nisiert zu denken. Die Begründung umfaßt dabei einerseits eine rationale Rekonstruktion
einer bestimmten Linie in der Geschichte des Subjekts, die mit Kant beginnt und über
Frege und Wittgenstein verläuft, und ist andererseits dadurch bestimmt, daß begrifflicher
Gehalt im Hinblick auf die inferentielle Positionierung des betreffenden Begriffs verstan-
den wird. Begriffe sind demnach aufgrund ihrer Rolle in Begründungspraktiken gehaltvoll.
Auch dieser zweite Ansatz geht auf eine rationalistische Tradition zurück. „Begründen"
verstehe ich hier in einem rhetorischen Sinn, nicht in einem argumentativen oder kon-
struktiven Sinn. Aber die Untersuchung verläuft immer zweigleisig. Zum einen gibt es eine
konstruktive Dimension, die von sehr einfachen sozialen Praktiken ausgeht, die nichts er-
fordern, was wir nicht im Prinzip auch nichtsprachlichen Tieren zutrauen würden. Ich ver-
suche zu beschreiben, was eine solche Gemeinschaft tun müßte, damit es für uns an-
gemessen wäre, sie mit normativem Vokabular zu beschreiben, und damit wir erkennen
können, daß sich die Teilnehmer der Gemeinschaft untereinander als verpflichtet oder be-
rechtigt betrachten und behandeln. Zum anderen versuche ich, eine Struktur solcher Ein-
stellungen zu beschreiben, zu entfalten und zu explizieren, derzufolge wir einander als im
Besitz eines verschiedenen normativen Status' betrachten und behandeln; eine Struktur,
die hinreichend ist, um intentionales und semantisches Vokabular einzusetzen und die an
der Praxis Beteiligten so zu beschreiben, daß sie sich nicht nur wechselseitig als verpflich-
tet behandeln, etwas zu tun, sondern auch zu der Behauptungp verpflichten, wenn der Satz
p artikuliert wurde.

Einer der zwei Ansätze ist also dieser konstruktive Zugang, der von unten nach oben
verläuft. Der andere verfährt eher analytisch als synthetisch, er sucht nach Spuren von die-
sen grundlegenden praktischen Strukturen in unseren konkreten Praktiken und stelk sich
vor, daß eine Person mit einer unbekannten Gemeinschaft von Sprechern konfrontiert
wird, deren Handlungen sie zu verstehen versucht. Am Ende sollen diese zwei Wege zu-
sammentreffen - und dann sprechen wir offensichtlich über uns selbst.
Schellenberg: Sie erwähnten, daß das Verhältnis zwischen der Praxis, etwas auf eine be-
stimmte Art zu behandeln, und dem Gehalt, der dabei gestiftet wird, konstruktiv ver-
standen werden muß. In Ihrem Buch sprechen Sie meist nicht von Konstruktion, sondern
von Konstitution: In sozialen Praktiken wird normativer Status instituiert und dabei be-
grifflicher Gehalt gestiftet. Ich möchte etwas näher auf diesen Gedanken der Konstitution
eingehen: Sie verstehen Konstitutionsverhältnisse in einem nicht-reduktiven Sinn. Nun
gibt es verschiedene Möglichkeiten, konstitutive Beziehungen nicht-reduktiv zu verste-
hen. Könnten Sie näher erläutern, was Sie unter einer „konstitutiven Beziehung" verste-
hen?
Brandom: Für eine erste Annäherung an die Bedeutung dieses Begriffs bietet sich viel-
leicht ein Slogan meines Kollegen John Haugeland an, der in einem frühen Artikel den
Heidegger von Sein und Zeit folgendermaßen charakterisierte: Für Heidegger sei alle
transzendentale Konstitution soziale Institution. Haugeland selbst hat sich von diesem
Standpunkt entfernt, aber er scheint mir für die Lektüre von Philosophen wie Wittgenstein

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und Hegel und auch dem Heidegger von Sein und Zeit weiterhin ein guter Leitfaden zu
sein. Die Aufgabe, welche sich hier stellt, ist es, auf andere Weisen auszudrücken, was an
einer Interpretation der sozialen Praktiken einer Gemeinschaft wahr sein muß, damit sie
sich als diskursive Praxis verstehen läßt.
Es ist nun methodisch etwas heikel, zu verstehen, wie man sich einer solchen Heraus-
forderung stellen kann. Man kann nicht einfach sagen: Wenn Personen einer Interpretation
zufolge Behauptungen aufstellen und etwas sagen, dann ist dies eine Interpretation davon,
daß sie an einer diskursiven Praxis partizipieren. Das stimmt natürlich, aber die Frage ist,
welche Annahmen man über ihr Tun machen muß, um am Ende in der Lage zu sein, dar-
über etwas aussagen zu können, was man über ihr Tun annimmt. Ohne zunächst die An-
wendbarkeit eines intentionalen oder semantischen Vokabulars vorauszusetzen, versuche
ich herauszufinden, welches die Bedingungen für eine normativ reiche Beschreibung der
Mitglieder einer Gemeinschaft sind, die voneinander annehmen, daß sie handelnd Ver-
pflichtungen eingehen, und wie sich die Eigenschaften einer solchen sozialen Praxis durch
einen Interpreten explizieren lassen, indem er diesen Verpflichtungen propositionalen und
begrifflichen Gehalt zuschreibt.
Schellenberg: Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen unserem Tun in einer Praxis und der
Explikation der Normen, welche die Praxis bestimmen, stellt sich die Frage, welchen episte-
mologischen Status diese impliziten Normen haben. Denn wir können sie ja erst erfassen,
nachdem sie expliziert wurden. Insbesondere im Zusammenhang mit der Rede von impli-
ziten Normen, die nicht-begrifflichen Praktiken zugrunde liegen, fragt sich, welchen Status
die Normen vor ihrer Explikation haben.
Brandom: In gewisser Hinsicht erfaßt man eine implizite Norm, indem man Handlungen
anhand dieser Norm in einer Praxis als korrekt oder inkorrekt betrachtet oder behandelt.
Schellenberg: Aber dabei würde es sich um ein praktisches Beherrschen der betreffenden
Norm handeln ...
Brandom: Ja, das stimmt. Für uns Pragmatiker baut alles darauf auf, alles beginnt damit.
Wir versuchen zu verstehen, worin das Wissen, daß etwas der Fall ist, bestehen könnte,
indem wir herausfinden, wie etwas zu tun ist. Das übergeordnete pragmatische Projekt ist,
knowing how im Hinblick auf knowing that zu erklären. Aber tatsächlich können nur Per-
sonen, die Begriffe verwenden, sagen, daß eine Praxis implizit normativ ist. Nur sie können
die in verschiedenen Praktiken impliziten Normen explizieren. Deswegen hat die expres-
sive Methodologie, wie wir eben schon erwähnt haben, gewissermaßen einen retrospekti-
ven Charakter. Die Praxis muß bereits vorhanden sein. Dann geht man hin und expliziert
einige ihrer Merkmale, und erst dann läßt sich die Behauptung verstehen, daß sie immer
schon implizit da waren. Der Prozeß des Explizierens ist unser einziger Anhaltspunkt für
das Implizite. Erst durch unsere Praktiken, in denen wir Begriffe verwenden, unsere Be-
gründungspraxis, verstehen wir also, was implizit ist. Dies gilt auch für die Praktiken von
Lebewesen, die nicht an diesem Spiel teilnehmen, die sich also nicht im praktischen Raum
der Gründe bewegen.
Schellenberg: Um in diesem Zusammenhang noch einmal auf Hegel zurückzukommen: In
ihrem Verständnis der Praxis des Explizierens folgen Sie Hegel nicht in seinem letzten
Schritt der Aufhebung im absoluten Geist, wo alles explizit wäre. Wenn ich Sie richtig ver-
stehe, gehen Sie in jedem möglichen Stadium von verschiedenen Stufen des Impliziten und
Expliziten aus.

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1012 Robert B. Brandom, Begriffsanalyse und Metaphysik

Brandom: Sie geben meine Sicht richtig wieder, aber mit Ihrer Interpretation von Hegel
stimme ich nicht überein. Meines Erachtens ist das absolute Wissen für Hegel die Stufe, auf
der wir unsere logischen Mittel vollkommen entwickelt haben, d. h. indem wir die begriff-
lichen Mittel haben, um jeden Aspekt unserer diskursiven Praxis explizieren zu können.
Aber auch für Hegel folgt daraus nicht, daß die Gehalte unserer gewöhnlichen empiri-
schen Begriffe uns jemals vollständig transparent werden. Nach meiner Interpretation von
Hegel macht gerade der Umgang mit deren empirischem und praktischem Gehalt diese
Begriffe unerschöpflich - wobei sich keiner ihrer Teile grundsätzlich einer logischen Ex-
plizierung verschließt. Der Gedanke, sie vollkommen zu explizieren, ist selbst für Hegel in-
kohärent, so wie ich ihn verstehe. Lediglich die logischen Begriffe (in meinem und ich
denke auch in Hegels Sinn) können wir vollständig explizieren. Das heißt, wir können die
Formbestimmungen der Gehalte vollständig verstehen. Dies gibt uns Mittel an die Hand,
uns semantisch selbst beschreiben zu können und die Entwicklung unserer empirischen
und praktischen Begriffe voranzutreiben, in voller Kenntnis unseres Tuns, und auch in
Kenntnis davon, wie jede Anwendung dieser Begriffe zugleich die Entwicklung ihrer Ge-
halte vorantreibt und sie verändert. Das haben wir implizit immer getan, bevor wir die lo-
gischen Mittel hatten, uns der Funktionsweise dieses Prozesses bewußt zu werden. Aber
der Prozeß, diese gewöhnlichen, bestimmten Begriffe anzureichern, findet mit der Errei-
chung der Stufe des absoluten Wissens kein Ende. Nach Hegel, so wie ich ihn verstehe, wird
nur die Entwicklung unserer logischen Begriffe und nicht die unserer empirischen Begriffe
abgeschlossen.

Schellenberg: Wenn Sie das Verhältnis des Expliziten zum Impliziten auf die dargestellte
Weise als konstitutive Beziehung verstehen, würden Sie dann Wittgensteins Ansicht teilen,
daß die Philosophie nicht neue Tatsachen entdeckt, sondern bereits vorhandene interpre-
tiert oder Möglichkeiten aufzeigt, wie diese (in einem normativen Sinn) interpretiert wer-
den können?
Brandom: Die Aufgabe der Philosophen liegt für mich darin, das zu explizieren, was einer-
seits in der normativen und andererseits in der rationalen Dimension unserer Praktiken im-
plizit ist. Philosophen müssen Instrumente bereitstellen, um zu erklären, was es heißt, das
etwas ein Grund für etwas ist, und worin der Begriff eines normativen Status' besteht - in
besonderen Bereichen des Diskurses und im allgemeinen. Statt etwas Neues zu entdecken,
beginnen wir mit der Beschreibung dessen, was wir immer schon tun. Diese explizierende,
expressive Aufgabe kann sich wiederum auf unser Handeln auswirken. Aber die expressive
Absicht ist nicht, etwas Neues herzustellen, sondern das zu sagen, was wir ohnehin schon
immer tun. Ich denke, dieser Gedanke stimmt mit der Praxis des späten Wittgenstein über-
ein. Für die intentionale Konstruktion von Begriffen, welche die expressive Aufgabe
haben, verschiedene Aspekte unserer Praxis zu explizieren, ist eine Art begriffliches Inge-
nieurwesen erfordert. Ich denke nicht, daß die Alltagssprache unmittelbar die Unterschei-
dungen und Begriffe bereitstellt, die wir brauchen, um die Myriaden von interessanten
Aspekten unserer diskursiven Praxis zu explizieren. Hier spielt technische Konstruktion
eine Rolle, um uns vertraute Begriffe künstlich zusammenzufügen und um neue zu kon-
struieren, die das Explizieren vorantreiben. Und immer dort, wo wir mögliche Verwen-
dungsweisen für neues Vokabular finden, erhalten wir auch Zugang zu neuen Tatsachen.
Wenn wir zum Beispiel Konditionale einführen, können wir sagen, was woraus folgt, und
können damit Zusammenhänge ausdrücken, zu denen wir vor dem Besitz dieses Vokabu-

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lars keinen Zugang hatten. Mit der Einführung modalen Vokabulars können wir neue Aus-
sagen machen über die Frage, was nötig und was möglich ist. In diesem Sinn denke ich also
schon, daß es in der Philosophie so etwas wie die Entdeckung neuer Tatsachen gibt.
Schellenberg: Folgt daraus, daß Sie, wie Wittgenstein, klar zwischen der Aufgabe der Phi-
losophie und derjenigen der Wissenschaft trennen würden?
Brandom: Ich denke, es gibt einen substantiellen Unterschied zwischen philosophischen
und wissenschaftlichen Unternehmungen. Philosophen beschreiben und erklären Phäno-
mene nicht in erster Linie, sondern explizieren sie und verleihen ihnen Ausdruck. Wir wen-
den uns vor allem sozial instituierten normativen Phänomenen zu. Im Unterschied dazu
haben die Naturwissenschaften in diesem Sinn kein Interesse am Normativen. Und selbst
die Sozialwissenschaften, die sich bemühen, gesellschaftliches Verhalten zu beschreiben
und zu erklären, sind nicht daran interessiert, die impliziten Normen in unserer Praxis aus-
zuformulieren, sondern bestenfalls daran, die Regelmäßigkeiten in unserem Verhalten zu
beschreiben und zu erklären, die mit den Normen in unseren Praktiken einhergehen. Phi-
losophie hat meines Erachtens ein spezifisches Interesse am Normativen und insbesondere
an der Normativität, die für Begründungszusammenhänge charakteristisch ist.
Schellenberg: Wenn Sie die Aufgabe der Philosophie in Abgrenzung zu derjenigen der Wis-
senschaft mit dem Begriff der Explikation charakterisieren, ist es nur ein kleiner Schritt,
streng zwischen begrifflichen und empirischen Argumenten zu unterscheiden. Ich nehme
an, daß Sie diesen Schritt nicht machen würden?
Brandom: Es liegt nahe, die Praxis des Explizierens vor dem Hintergrund der traditionei-
len Auffassung der analytischen Philosophie als Begriffsanalyse zu verstehen, die von em-
pirischen Arbeitsweisen klar unterschieden werden muß. Aber die Sellarssche Konzeption
des Begrifflichen, die diesem Projekt zugrunde liegt, verbietet eine solche Trennung. Über
Begriffe zu sprechen, heißt, darüber zu sprechen, was woraus folgt, und was ein Grund
wofür ist, und das ist nicht unabhängig davon, was tatsächlich der Fall ist. Seilars selbst
unterschied zwischen begrifflichen und empirischen Beziehungen, indem er begründete,
daß die Inferenzen, mit denen Begriffe bestimmt werden, kontrafaktisch robust sind und
eine modale Kraft haben. In solchen Inferenzen kommen die Naturgesetze zum Ausdruck.
Seilars zufolge verlangt die Entdeckung, worin unsere Begriffe bestehen, somit umfang-
reiche empirische Untersuchungen. Wir wissen nicht, welche Verpflichtungen wir einge-
hen, wenn wir sagen, etwas sei aus Kupfer. Das hängt davon ab, was aus der Eigenschaft,
aus Kupfer zu bestehen, folgt - so sind wir z. B. auf die Schmelztemperatur von Kupfer fest-
gelegt. Nach Seilars können wir das, was in unseren Begriffen implizit ist - also dasjenige,
zu dem man sich, möglicherweise unwissentlich, verpflichtet, wenn man etwas Kupfer
nennt - nicht von unserem Schreibtisch aus entdecken. Die Erforschung, welche Eigen-
schaften die Dinge haben, gehört ebenso dazu wie die Analyse unseres Sprachgebrauchs.
Dieser Auffassung zufolge ist das Besondere und Bemerkenswerte der Sprache gerade die
Weise, in der sie uns über unseren Kenntnisstand hinaus veranlaßt, Verpflichtungen einzu-
gehen, ohne daß wir wirklich verstehen, wozu wir uns im einzelnen verpflichten. Das ist es,
was es für uns heißt, die Welt zu erfassen: Über sie zu sprechen und etwas über sie auszu-
sagen. Indem wir Worte so benutzen, wie wir sie benutzen, können wir Verpflichtungen ein-
gehen, deren Konsequenzen wir nicht im Ganzen überschauen können.
Wenn man das Explizieren von Begriffen so versteht, handelt es sich dabei nicht um eine
Analyseform, die von empirischen Untersuchungen unabhängig ist. Die Explikation dessen.

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1014 Robert B. Brandom, Begriffsanalyse und Metaphysik

was in unseren Begriffen und unseren Begründungspraktiken implizit ist, hängt von der
Welt ab, in der wir Gründe geben und fordern, und nicht nur von unseren Dispositionen
oder Neigungen oder irgend etwas anderem, das wir durch Introspektion erfahren können.
Schellenberg: Auch John McDowell, Ihr Kollege in Pittsburgh, ist stark von Sellars geprägt.
Aber im Unterschied zu Seilars (so wie Sie ihn interpretieren) verteidigt er einen Kanti-
schen Begriff der Erfahrung, den er mit Mind and World in die angloamerikanischen phi-
losophischen Debatten wieder eingeführt hat. Dieser Begriff spielt in Ihrem Werk keine
Rolle, obwohl auch Sie sich stark an Kant orientieren und der Erfahrungsbegriff im Zu-
sammenhang mit Ihrer Untersuchung des empirischen und praktischen Gehalts von Be-
griffen durchaus einen wichtigen Platz haben könnte. Warum vermeiden Sie den Begriff
der Erfahrung?
Brandom: Es ist vielleicht hilfreich, das Verhältnis zwischen Rorty, McDowell und meinem
Standpunkt in Making It Explicit als ein dreiseitiges zu betrachten. Rorty hat in Philoso-
phy and the Minor ofNature, in gewissem Sinne im Geist des späten Wittgenstein, die Miß-
stände in der modernen Philosophie auf den Mißbrauch der Ausdrücke „Repräsentation"
und „Erfahrung" zurückgeführt. Und er hat (wie ich denke auf überzeugende Weise)
detailliert gezeigt, wie Philosophen durch diese Termini in hoffnungslose Verwirrungen
gestürzt wurden, Verwirrungen, in deren Diagnose und Heilung Wittgenstein seine Auf-
gabe sah.
In Making It Explicit bemühe ich mich darum, ein metaphilosophisch ungefährliches
Verständnis von Repräsentation zu rekonstruieren. Den Ausgangspunkt dafür bildet der
Gedanke einer inferentiell strukturierten Praxis, der Begründungspraxis. Von dort aus ver-
suche ich dann schrittweise zu explizieren, aufgrund welcher Eigenschaften dieser Praxis
es korrekt sein kann, Behauptungen, die als Gründe gebraucht werden, als Repräsentatio-
nen von Tatsachen zu verstehen, d. h. als Repräsentationen, die insofern von Tatsachen
handeln, als die Gemeinschaft diskursiver Interakteure einen Begriff von Korrektheit
instituiert hat, demzufolge Korrektheit oder Unkorrektheit von den Tatsachen selbst ab-
hängen, und nicht von den Einstellungen der Interakteure. Die Aufgabe besteht darin, zu
sagen, wie wir eine soziale Praxis einrichten können, in der die Autorität über die Kor-
rektheit unserer Äußerungen bei den Tatsachen liegt. Ich denke, es ist eine sehr interes-
sante Frage, wie soziale Praktiken angemessen beschrieben werden, um dem Gedanken
gerecht zu werden, daß sie ein Verständnis von Autorität instituieren, das auf Tatsachen be-
ruht, über die wir sprechen. Aber ich akzeptiere Rortys Skepsis gegenüber dem Begriff der
Erfahrung, die sich auf Seilars' Kritik am „Mythos des Gegebenen" in Empiricism and the
Philosophy of Mind stützt. Das Wort „Erfahrung" kommt in meinem ziemlich dicken Buch
nicht vor. Es ist selbst dort entbehriich, wo man es nicht erwarten würde, wie etwa in der
Untersuchung des Wahrnehmungsbegriffs. Ich folge Seilars, aber auch Davidson, indem ich
Beobachtungen, Beobachtungssätze und Wahrnehmungsurteile als begrifflich artikulierte
Behauptungen verstehe, mit denen Verpflichtungen eingegangen werden, die kausal her-
vorgerufen oder durch Stimuli bewirkt sind.
Aus Rortys Sicht habe ich also die Hälfte seiner Botschaft angenommen. Hinsichtlich
der Entbehrlichkeit und Gefährlichkeit des Begriffs der Erfahrung in der Philosophie
sind wir uns einig. Den Begriff der Repräsentation halte ich dagegen für einen wichtigen
und nützlichen Begriff, der auf pragmatischer Grundlage verständlich gemacht werden
kann.

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D Z P h i l 4 7 (1999) 6 1015

McDowell hält es für möglich, sowohl den Begriff der Repräsentation als auch den der
Erfahrung so auszuarbeiten, daß sie nicht in die philosophischen Sackgassen führen, in die
sie die moderne Philosophie geführt haben. Trotz der immer wieder auftauchenden
Schwierigkeiten glaubt McDowell, er könne die beiden Begriffe gefahrlos verwenden. Und
ich denke, er hat recht. Ich halte seine Verwendung des Begriffs „Erfahrung" in Mind and
World für verständlich. Ich denke nicht, daß er dem „Mythos des Gegebenen" erliegt. Aber
ich bin noch nicht davon überzeugt, könnte aber noch überzeugt werden, daß eine wichtige
erklärende oder sogar expressive Aufgabe darin liegen könnte, zwischen kausalen Stimuli
und Wahrnehmungsurteilen begrifflich strukturierte Wahrnehmungserfahrungen zu schal-
ten, die beurteilbare Gehalte haben, aber selbst nicht als urteilsbildend gedacht werden.
Ich denke, McDowells Ausführungen zum Erfahrungsbegriff sind kohärent, aber der Nut-
zen, solche Dinge zu postulieren, leuchtet mir noch nicht ein. McDowell und ich haben
lange über Phänomene der Wahrnehmung diskutiert. Er denkt, es ist für unser Verständ-
nis der Dinge wichtig, ihre Existenz anzuerkennen. Vielleicht wird sich erweisen, daß er
recht hat. Aber soweit ich sehe, ist es auch ohne den Begriff der Erfahrung möglich, zu ex-
plizieren, was in diesen Prozessen vor sich geht.
Schellenberg: Obwohl Sie sagen, daß Wahrnehmungsurteile durch äußere Stimuli kausal
hervorgerufen werden, betonen Sie in Ihrem Buch auch, daß wir Beobachtungssätze nicht
nur in Reaktion auf Stimuli erstellen, sondern daß wir handeln müssen, um Wahmeh-
mungsurteile artikulieren zu können.
Brandom: Wir erstellen die Wahrnehmungsurteile insofern blind, als wir so reagieren, wie
wir eingeübt wurden. Aber zu begrifflichen Urteilen werden sie dadurch, daß diese Reak-
tionen dann sowohl als Gründe dienen als auch Gründe erfordern können. Wenn wir vor
einem sichtbaren roten Gegenstand stehen, werden wir kausal dazu veranlaßt, die Ver-
pflichtung zu der Behauptung anzuerkennen, daß da etwas Rotes ist, wenn wir richtig ein-
geübte Mitglieder der Gemeinschaft sind. Mit dieser Reaktion nehmen wir eine bestimmte
Haltung im Raum der Gründe ein. Sie kann als Prämisse für weitere Folgerungen dienen,
ihre rationale Basis kann aber auch in Frage gestellt werden. Man kann fragen: Warum
glauben Sie das? Auf diese Frage kann man nicht wieder nur eine kausal hervorgerufene
Antwort geben. Man könnte nun als Grund das Vertrauen in unsere Zuverlässigkeit an-
führen. Von Zuverlässigkeit zu sprechen, heißt immer, eine Inferenz zu billigen, in diesem
Fall die Folgerung von einer Person, die dazu disponiert ist, etwas rot zu nennen, darauf,
daß es tatsächlich rot ist.
Schellenberg: Ein zweiter Grundzug in Making It Explicit ist für gängige sprachphiloso-
phische Arbeiten ebenso untypisch wie Ihre argumentative Vorgehensweise: Sie nehmen
die Tatsache ernst, daß wir alle unterschiedliche semantische Biographien haben, und gehen
in der Folge von einem semantischen Perspektivismus aus. Dennoch halten Sie daran fest,
daß Begriffe einen objektiven Gehalt haben. Könnten Sie skizzieren, wie Sie eine Brücke
zwischen dem semantischen Perspektivismus und dem objektiven Gehalt unserer Begriffe
schlagen?
Brandom: Der Begriff der Objektivität steht im Zusammenhang mit der Frage, was es
heißt, eine spezifische Form von Autorität über die Korrektheit oder Inkorrektheit unserer
Behauptungen zu instituieren, von denen wir deshalb (in diesem normativen Sinn) sagen
können, daß sie von etwas handeln (etwas auf eine gewisse Weise repräsentieren). In
Making It Explicit untersuche ich die soziale Instituierung einer solchen Form objektiver

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1016 Robert B. Brandom, Begriffsanalyse und Metaphysik

Autorität. Diese Untersuchung richtet sich auf zwei grundlegende strukturelle Unter-
scheidungen der normativen Pragmatik, welche meine Semantik einrahmt. Zum einen
wird zwischen zwei Arten von normativem Status unterschieden, nämlich zwischen Ver-
pflichtungen und Berechtigungen. Diese Unterscheidung muß meines Erachtens in jeder
Praxis berücksichtigt werden, die als ein Spiel des Gebens und Forderns von Gründen ver-
standen werden soll. In der zweiten Unterscheidung wird zwischen zwei Arten von norma-
tiven oder praktischen Einstellungen differenziert, die man beispielsweise einer Verpflich-
tung gegenüber einnehmen kann: Man kann jemandem eine Verpflichtung zuschreiben
oder sie für sich selbst anerkennen oder eingehen. Aus der Wechselwirkung dieser zwei
Unterscheidungen in der sozialen Positionierung der inferentiellen Beziehungen kann
man, wie ich denke, einen befriedigenden Begriff von Objektivität gewinnen.
Wenn Sie und ich unterschiedliche Überzeugungen haben, dann ist es gut möglich, daß
wir auch unterschiedliche Auffassungen darüber haben, was woraus folgt. Aus dem infe-
rentialistischen Verständnis folgt nicht, daß wir unterschiedliche Begriffe haben. Denn der
Gehah der Begriffe wird nicht durch unser Vermögen, sie zu erfassen, bestimmt. Das wäre
eine cartesische Vorstellung. Begriffe werden, nach einem eher kantischen Verständnis,
dadurch bestimmt, wie sie uns erfassen. Wenn ich etwas sage, dann mache ich einen Zug
in einem Spiel, und es liegt an mir, das zu tun oder nicht zu tun - zum Beispiel zu sagen,
etwas sei aus Kupfer. Aber es hängt nicht von mir ab, wofür ich mich mit der Äußerung
verpflichtet habe. Das ist eine Frage ihrer weiterreichenden Bedeutung.
Die Herausforderung liegt darin, zu verstehen, was es für jemanden, der Buch führt über
die Verpflichtungen, die ich mit meinen Sprechakten eingegangen bin, und über die Hand-
lungen, die mich zu diesen Sprechakten berechtigen, heißt, von mir anzunehmen, daß ich
auf die Welt, wie sie ist, antworte, und nicht auf das, wofür ein anderer die Welt hält. Doch
muß unser Verständnis der Unterscheidung zwischen den Eigenschaften von Dingen auf
der einen Seite, und dem, wofür einzelne Personen diese Dinge halten, auf der anderen
Seite mit Blick auf unser Vermögen verstanden werden, uns zwischen der Perspektive der
zugeschriebenen und derjenigen der eingegangenen Verpflichtungen fließend hin- und
herzubewegen.
Wie das im Detail funktioniert, läßt sich in diesem Rahmen nicht erklären, aber vielleicht
kann ich ein paar hilfreiche Bemerkungen machen. Wenn wir das traditionelle platonische
Verständnis von Wissen als gerechtfertigte wahre Überzeugungen zugrunde legen, dann
könnte man fragen, was ein Pragmatiker, also jemand, der wissen will, was man tun muß,
wenn man jemandem Wissen zuschreibt, und ein Phänomenologe, der danach fragt, was es
heißt, Wissen zuzuschreiben, jeweils über Wissensansprüche [claims to knowledge] sagen
würde. In der normativ pragmatischen Begrifflichkeit von Making It Explicit heißt von je-
mandem anzunehmen, daß er etwas weiß, ihm eine Verpflichtung zuzuschreiben; dies ent-
spricht der Bedingung für Überzeugungen. Jemand zu einer Verpflichtung berechtigt zu
halten, entspricht der Rechtfertigungsbedingung. Aber das, was der Wahrheitsbedingung
entspricht, bei der die Objektivität ins Spiel kommt, darf nicht wiederum als Zuschreibung
von irgend etwas verstanden werden. Es handelt sich nicht um die Zuschreibung irgend-
einer weiteren Eigenschaft dieser Verpflichtung, zu der die Person berechtigt ist. Wenn
man die Behauptungen einer Person für wahr hält (und dies ist ein notwendiger Teil des-
sen, was man tun muß, um diese Behauptungen für Wissen zu halten), schreibt man nicht
etwas zu, sondern tut etwas ganz anderes. Man übernimmt eine Verpflichtung. Das verbin-

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D Z P h i l 47 (1999) 6 1017

det die Buchführerin mit demjenigen, dem sie eine Verpflichtung zuschreibt, weil sie selbst
die Verpflichtung eingehen muß, die sie dem „Wissenskandidaten" zuschreibt. Einen „Wis-
senskandidaten" für seine Behauptungen über die Welt verantwortlich zu machen, ge-
schieht in der Form, daß derjenige, der Wissen zuschreibt, eine Verpflichtung eingeht.
Diese Überlegungen zum normativen Status von Wissen entwickle ich aus der Sicht der
normativen Einstellungen eines Buchführers, der jemandem Wissen zuschreibt. So soll auf-
gezeigt werden, wie der Begriff der Objektivität ins Spiel kommt, wenn wir zwischen Ver-
pflichtungen, die zugeschrieben und solchen, die eingegangen werden, hin und her navi-
gieren. Wie wir allmählich vom Begriff der Objektivität zu einer philosophisch adäquaten
Darstellung von objektiver Autorität und Verantwortung gelangen, diese Einsicht auszu-
arbeiten, ist eine schwere Aufgabe. Diese Aufgabe hat sich Making It Explicit vorgelegt.
Schellenberg: Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf Rorty zu sprechen
kommen: In seinem Kommentar zu Making It Explicit hat er darauf hingewiesen, daß man
Sie womöglich als Relativisten etikettieren wird. Inwiefern haben Ihre Überlegungen zum
semantischen Perspektivismus und Rortys Erfahrung, als Relativist bezeichnet zu werden,
einen vergleichbaren Hintergrund?
Brandom: Wie ich zu Beginn sagte, teilen Rorty und ich viele Anliegen. Es gibt philoso-
phische Schwierigkeiten, die wir beide gern vermeiden möchten, und es gibt zentrale prag-
matische Einsichten, um deren Ausarbeitung wir uns beide bemühen. Da ich zur Frage, wie,
in Rortys Worten, „Vokabulare" arbeiten, ein ausgearbeiteteres und prononcierteres Ver-
ständnis habe, hoffe ich, eine pragmatische Theorie entwickeln zu können, die nicht zu
einigen der kontraintuitiven Positionen nötigt, die Rorty zuweilen im Dienst des Pragma-
tismus vertreten muß - dies betrifft insbesondere die Rede über Wahrheit, über Wissen
und über die Existenz einer objektiven Welt. Die Einsicht, daß der Begriff der Autorität
letzten Endes von der sozialen Praxis her verstanden werden muß, sollte uns nicht daran
hindern, eine soziale Praxis zu verstehen, in der die Autorität über die Korrektheit unserer
Behauptungen von Tatsachen abhängt, wie sie unabhängig unserer sozialen Praktiken sind.
Ich behaupte, daß man einen Begriff der Objektivität begründen kann, ohne die prag-
matische Einsicht über die soziale, praktische Natur von normativem Status aufzugeben,
und daß es möglich ist, zu begreifen, wie dieser Typ von Normativität instituiert wurde. Es
ist somit auch möglich, zu verstehen, wie unsere sozialen Praktiken sich selbst transzen-
dieren können, indem sie eine spezifische Form von Autorität instituieren, die über die ver-
schiedenen Einstellungen der Menschen, die sie instituiert haben, hinausgeht. Das ist das
Gegenteil von Relativismus. Es geht darum, wie wir zu dem Punkt gelangen können, an
dem wir davon auszugehen vermögen, daß sich unsere Handlungen und Äußerungen ob-
jektiv an den Dingen in der Welt messen. (Das heißt nicht, daß sich die Wahrheit all unse-
rer Behauptungen in diesem Sinne immer an den Dingen messen läßt, denn nicht alle Be-
hauptungen handeln von Tatsachen, die unabhängig von unseren Aktivitäten existieren.
Aber einige schon.)
Der Relativismus-Vorwurf gegen Making It Explicit kann, wie mir scheint, von zwei
Standpunkten aus erhoben werden. Erstens kann man einfach glauben, daß man, ausge-
hend von pragmatischen Einsichten, nicht bei dem Begriff der Objektivität ankommen
kann. Oder jemand hat sich den vorliegenden Versuch angeschaut, jene Merkmale unserer
sozialen Praktiken zu explizieren, welche für diese spezifische Form von objektiver Auto-
rität bestimmend sind, und ist zu dem Schluß gekommen: „Es funktioniert nicht. Entweder

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1018 Robert B. Brandom, Begriffsanalyse und Metaphysik

haben Sie etwas Inkohärentes beschrieben, oder das, was Sie beschrieben haben, ist noch
nicht genuine Objektivität."
Schellenberg: Am Ende des 8. Kapitels von Making It ExpUcit, das sich insbesondere mit
dem Problem der Objektivität auseinandersetzt, sagen Sie, daß wir uns letztendlich nur auf
die Kraft unserer Begründungen stützen können, um eine Überzeugung zu verteidigen. In
welchem Verhältnis steht dieser Gedanke zu Ihrer detaillierten Untersuchung der objek-
tiven Gültigkeit von Normen?
Brandom: Nun, was ist die Kraft der besseren Begründung? Sie ist nicht etwas, das sich auf
das reduzieren läßt, was wir für die Kraft der besseren Begründung halten. Unsere Gründe
sind, was sie sind, aufgrund unserer Praktiken, aber in diesen gehen wir über unsere Ein-
stellungen hinaus. Das ist das Eigentümliche an diskursiven Praktiken: Es ist uns gelungen,
einen Begriff davon zu bilden, was woraus folgt, was wahr ist, und somit, was eine Begrün-
dung ist, die wir mit unseren Verstandeskräften gar nicht beurteilen können. Es ist nun sehr
oft so, daß das, was wir für eine gute Begründung halten, auch eine gute Begründung ist.
Unsere Einstellungen, mit denen wir etwas als eine gute Begründung betrachten oder be-
handeln, sind das einzige, woran wir uns orientieren können. Für die Beantwortung der
Frage, was wahr ist und was woraus folgt, haben wir lediglich unsere Einschätzungen, die
wir im Lichte aller vorhandenen Evidenz vornehmen. Das sind die besten Urteile, die wir
mit Blick auf die Frage, wozu wir uns mit einer Behauptung in einer konkreten Handlungs-
situation verpflichten, treffen können. Die Bemerkung, auf die Sie hinweisen, verweist auf
den Gedanken, daß wir aus einer philosophischen Theorie über unsere sprachliche Praxis
keine metaphysische Behaglichkeit gewinnen; wir haben keine Rundum-Garantie für die
Korrektheit unserer Behauptungen oder die Adäquatheit unserer Begriffe. Eine solche
Theorie überläßt uns das vertrackte Detailgeschäft, Behauptungen aufzustellen und zu
kritisieren, Folgerungen aus ihnen zu ziehen, Inkompatibilitäten zu erkennen und zu ver-
suchen, unsere Verpflichtungen anzupassen, einschließlich der inferentiellen Verpflichtun-
gen, um so die Inkompatibilitäten zu eliminieren. Eine philosophische Theorie kann die ex-
pressiven Mittel bereitstellen, um verschiedene Aspekte dieses Prozesses zu explizieren.
Schellenberg: Obwohl Sie den Anspruch haben, einen starken Begriff von Objektivität zu
begründen, gehen Sie nicht so weit wie Jürgen Habermas, zu sagen, daß es erforderlich ist,
sich an allgemein zustimmungsfähigen, universal gültigen Normen zu orientieren. Was hält
Sie davon ab, eine solche Position zu vertreten, wenn man berücksichtigt, daß Habermas
unter Objektivität etwas ganz anderes versteht als Sie?

Brandom: Nach einem Kantischen Verständnis von Begriffen zielt die zentrale Frage nicht
darauf, wie wir Begriffe erfassen, sondern wie sie uns erfassen; sie zielt also auf die Ver-
pflichtungen, die wir eingehen, wenn wir uns durch die Normen binden, die in den ver-
wendeten Begriffen implizit sind. In diesem kantischen Verständnis können sich alle Mit-
glieder einer Sprachgemeinschaft darauf einigen, daß alle durch dieselben begrifflichen
Normen gebunden sind, die Normen, die im Gebrauch unserer Worte zum Ausdruck
kommen. Wir können uns beispielsweise darauf einigen, daß jeder, der sagt, der Pfennig in
seiner Tasche sei aus Kupfer, sich damit zu den gleichen Folgerungen verpflichtet. Wir
haben uns durch denselben Begriff gebunden, und welcher Begriff das ist, wird bestimmt
durch das, was daraus folgt, daß es tatsächlich Kupfer ist. Darüber können wir uns täu-
schen, und mit Sicherheit weiß eine Metallexpertin wesentlich mehr darüber als ich. (Ob-
wohl ich durchaus in der Lage bin, zu behaupten, daß etwas Kupfer ist, weiß ich wesentlich

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DZPhil47 (1999)6 1019

weniger gut, wozu ich mich mit dieser Behauptung verpflichtet habe.) Es gehört zur Form
einer diskursiven Praxis, daß wir durch dieselben begrifflichen Normen gebunden sind.
Aber es gehört ebenfalls zu dieser Praxis, daß wir darüber uneins sind, welches diese Nor-
men sind. Weil wir unterschiedliche Überzeugungen haben, billigen wir unterschiedliche
Inferenzen, wir haben sozusagen verschiedene Konzeptionen. Für mich folgt aus der Tat-
sache, daß etwas Kupfer ist, etwas, und für Sie etwas anderes, und selbst die Metallexper-
tin kann sich täuschen. Es hat sich gezeigt, daß Generationen von Metallexperten sich über
einige Konsequenzen der Verwendung des Begriffs „Kupfer" getäuscht haben.
Die sprachliche Praxis lebt in dieser Spannung zwischen der praktischen Übereinstim-
mung, daß für uns alle dieselben Normen bindend sind, auf der formalen Seite, und der
Uneinigkeit darüber, was diese Normen sind, auf der inhaltlichen Seite. Ich versuche, die
Feinstruktur dieser Spannung zu beschreiben, welche es uns ermöglicht, Behauptungen
darüber aufzustellen, was wirklich der Fall ist, aber auch, einander zu verstehen und von-
einander zu lernen. Ist das eine Untersuchung universaler Gültigkeit? Ja und nein.
Schellenberg: Neben Ihren u. a. von Wittgenstein und Kant geprägten Untersuchungen zur
normativen Pragmatik und Ihrem von Dummett und Seilars beeinflußten inferentiellen
Verständnis von Begriffen scheint die prozessuale Bestimmung von Begriffen ein dritter
Grundpfeiler für die Argumentation von Making It Explicit zu sein. Sie diskutieren diese
Thematik nicht explizit. Sie scheint mir jedoch entscheidend zu sein, um die Kluft zwischen
einem semantischen Perspektivismus und dem objektiven Gehalt unserer Begriffe zu
überbrücken und um somit einen Zusammenhang zwischen den Konzeptionen von Be-
griffen, wie wir sie in Buchführungspraktiken gewinnen, und dem tatsächlichen Gehalt der
Begriffe herzustellen.
Brandom: Unsere diskursive Praxis wird in Making It Explicit als ein immer schon laufen-
des Unternehmen vorgestellt, das heißt, Begriffe werden von einer Gemeinschaft immer
mit der Vorstellung verwendet, bereits einen bestimmten Gehalt zu haben. Dabei stellt sich
die theoretische Frage nach der Beziehung zwischen der von der Interpretin geleisteten
Spezifizierung der Handlungen der Mitglieder dieser Gemeinschaft einerseits und dem
Gehalt ihrer Begriffe andererseits. Die Interpretin unterstellt ihnen also, auf eine Weise zu
handeln, die Normen instituiert, welche wiederum bestimmen, wie man angemessen über
die Verpflichtungen und Berechtigungen anderer Interakteure Buch führt; somit be-
schreibt sie also ein normenbestimmtes Handeln. Ich will die Beziehung aufzeigen zwi-
schen dieser normativ reichhaltigen Beschreibung, was die Mitglieder einer Gemeinschaft
tun, wenn sie sich wechselseitig Verpflichtungen zuschreiben, was in Form eines Satzes aus-
gedrückt werden könnte, weil sie zu etwas verpflichtet sind, das sich durch die Äußerungen
eines anderen Satzes ausdrücken ließe; es geht also darum, die Beziehung zu verstehen
zwischen dieser Spezifizierung ihrer praktischen Gepflogenheiten \proprieties\ auf der
einen Seite und unserem Verständnis davon, wie die Interpretin die Personen, welche sie
beschreibt, implizit betrachtet, auf der anderen Seite; d. h. der Gehalt deijenigen Behaup-
tungen, welche die Personen der Interpretation zufolge aufstellen.
Wie Sie selbst gesagt haben, diskutiere ich in Making It Explicit nicht den Prozeß, durch
den sich Konzeptionen entwickeln, um den Begriffen, die immer schon von den Mitglie-
dern einer Gemeinschaft verwendet werden, genauer zu entsprechen. Der einzige Prozeß,
über den ich in Making It Explicit spreche, ist der Prozeß des Gesprächs oder der Buch-
führung, der Änderung des Punktestandes [score]. Die Behauptung einer Person zu ver-

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1020 Robert B. Brandom, Begriffsanalyse und Metaphysik

stehen, bedeutet zu wissen, welchen Unterschied ihre Äußerung für den Punktestand der
jeweiligen Gesprächspartner macht, wozu sie den Sprecher noch verpflichtet, was als Evi-
denz für sie gilt, was unvereinbar mit ihr ist etc. So wird die pragmatische Signifikanz der
Behauptung erfaßt: der Unterschied, den sie für den Punktestand bedeutet, und somit der
Zug, den man in dem Sprachspiel, in einem Wittgensteinschen Sinne, gemacht hat. Einen
Gehalt erfassen heißt, die pragmatische Signifikanz einer Äußerung in verschiedenen Kon-
texten zu kennen. Der Schlüsselprozeß ist die Änderung der Punktzahl durch Sprech-
handlungen, durch den wir sowohl die Pragmatik als auch die Semantik des konkreten
Sprachgebrauchs verstehen können.
Schellenberg: Erfordert nicht auch die Untersuchung der Frage, was in einer Praxis korrekt
ist und damit das, was Sie die Gepflogenheiten [proprieties] einer Praxis nennen, ein Ver-
ständnis davon, wie sich die Vorstellungen von der Angemessenheit des Gebrauchs von
Begriffen in einer Praxis entwickeln?
Brandom: Möglicherweise sind die früheren Urteile, welche über Korrektheit und Inkor-
rektheit gefällt worden sind, das einzige, was einer Gepflogenheit Gehalt verleiht. Das ist
ein Punkt, den ich in Making It Explicit nicht diskutiere. Die Frage, wie sich Konzeptionen
entwickeln, verweist auf Zusammenhänge, die für Hegels Verständnis von Begriffen abso-
lut zentral sind. Einer der Gründe, warum ich mich derzeit damit befasse, wie sich dieser
Hegeische Ansatz ausarbeiten läßt, liegt in dem Interesse an der Frage, was die Entwick-
lung von Konzeptionen dazu beitragen kann, über bestimmte empirische, begriffliche Ge-
halte zu verfügen.
Es ist eine gute Frage, ob man nach Abschluß einer Untersuchung über die Rolle der
Entwicklung des begrifflichen Gehalts in einer Hegeischen Perspektive auf Making It
Explicit zurückblicken sollte, um zu schauen, was darin nicht berücksichtigt wurde. Ich
habe jetzt noch keine Ahnung, wie die Antwort lauten wird. Ich denke, es wird durch die
Hegeische historische Untersuchung eine weitere Annäherung an „Objektivität" geben,
die sich von dem sozial inferentiellen Verständnis in Making It Explicit unterscheidet. Aber
ob diese beiden Herangehensweisen miteinander konkurrieren oder ob sie sich ergänzen,
weiß ich noch nicht.
Schellenberg: Gibt es einen besonderen Grund für die Wahl des Bildes von Vittore Car-
paccio Die Vision des heiligen Augustinus für den Schutzumschlag von Making It Explicit!
Brandom: Nein, das war die Wahl der Umschlaggestalterin, nicht meine. Vielleicht hat ihr
der Bart gefallen.

Aus dem Amerikanischen von Peter Boke

Professor Dr. Robert B. Brandom, University of Pittsburgh, Department of Philosophy,


1001 Cathedral of Learning, USA-Pittsburgh, PA 15260

Susanna Schellenberg, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Philosophie, Dante-


straße 4-6, D-60054 Frankfurt/M.

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Sergio Dellavalle
Freiheit u n d Intersubjektivität
Zur historischen Entwicklung von Hegels geschichts-
philosophischen und politischen Auffassungen
Hegel-Forschungen
1998. VI, 303 Seiten
Gb, DM 120,-
ISBN 3-05-003229-4

Das Buch bietet eine Gesamtdarstellung der politischen Philosophie Hegels,


die getragen ist von der grundlegenden These, daß in den intersubjektivi-
tätstheoretischen Ansätzen, mit denen der junge Hegel die Aufgaben einer
politischen Philosophie der damaligen Zeit zu lösen versuchte, ein kriti-
sches Potential liegt, das sein gesamtes Lebenswerk durchzieht.
Die falsche Alternative von Liberalismus und Konservatismus vermeidend,
wird verdeutlicht, daß Hegel zeitlebens an einem auch heute noch hochak-
tuellen Problem arbeitete; Ist es möglich, für den Zusammenhalt des sozio-
politischen Gemeinwesens eine Grundlage auszumachen, welche sich nicht
nur auf einen formalen Kompromiß beschränkt, sondern unmittelbar aus
den lebensweltlichen Erfahrungen von jedem einzelnen ausgeht, dabei aber
auf präjudizierende kollektive Werte verzichtet und die Individualität nicht
verneint, sondern sich vielmehr aus dieser entfaltet?
Die theoretische Ansätze u.a. von Adorno, Apel, Habermas, Hösle, Honneth,
Marcuse diskutierend, zeigt der Autor, daß die Formulierung eines inter-
subjektivitätstheoretischen Fundaments für den gegenseitigen Übergang
von Vielheit und Einheit sowie für die Aufrechterhaltung einer dauerhaften
Spannung zwischen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen Hegels
Untersuchungen mit der heutigen Debatte unmittelbar verbindet.

Bestellungen richten Sie bitte an Akademie Verlag


Ihre Buchhandlung www.akademie-verlag.de

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