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Vorwort

Haiku-Dichten in Japan

lm Jahr 2011 unternahm ich eine Rucksackreise durch die große Insel Kyüshü in
Südwestiapan. Nach einer Trekkingtour in Takachiho ließ ich es mir in einem Onsen (einem
Thermalbad) des Hotels gutgehen. Ich saß, wie in Japan üblich, unbekleidet in einem großen,
aus Naturstein gebauten Becken und fragte die beiden mitbadenden Damen, was sie
hergeführt habe. Es stellte sich heraus, dass sie Haiku-Dichterinnen waren, die sich hier mit
anderen Dichtern für zwei Tage versammelt hatten, um in alter Tradition gemeinsam zu
dichten. Sie luden mich für nach dem Abendessen zu einem »Ku-kai« ein, einem Haiku-
Treffen. Ich sollte drei meiner eigenen Haiku mitbringen.

So lernte ich acht Haiku-Dichter der Gruppe »Sugi« kennen, die 1970 von Mori Sumio (siehe
N r. 272) gegründet worden war. Tagsüber hatten sie einen namhaften Schrein am Fuß eines
heiligen Berges sowie mehrere Zen-Tempel in der Höhe besucht, wo sie gedichtet hatten.

In der Abendrunde, an der ich teilnehmen durfte, brachte jeder von uns neun Personen
jeweils drei Gedichte auf jeweils einem anonymen Papierstreifen mit. Diese wurden
durcheinandergemischt, dann reihum gereicht, und jeder schrieb die 27 Haiku in sein
persönliches Heft. Daraufhin wählte jeder aus den 27 Gedichten die drei seiner Meinung
nach besten aus, schrieb sie erneut auf einen Zettel mit seinem Namen darunter und
überreichte seine Auswahl der Gruppenleiter. Schließlich las der Leiter sämtliche Gedichte
vor und leitete die Diskussion über sie. Später verlas er, wer welche Gedichte ausgewählt
hatte, und befragte die einzelnen nach den Gründen für ihre Wahl. Erst ganz am Schluss
wurde bekanntgegeben, wer die Dichter der einzelnen Haiku waren. Nach drei Stunden
reger Diskussion gingen wir wieder auseinander. Ein klassisches Haiku-Treffen.

Ein normales monatliches Ku-kai, in einer Stadtbücherei zum Beispiel, läuft mehr oder
weniger ähnlich ab. Dabei lernen die Teilnehmer neue stilistische Varianten, poetische
Fehler und Wörter von anderen Dichtern. Sie bekommen Anregungen zu eigenen Gedichten
und tauschen Informationen aus. Traditionelles Dichten ist in Japan fast immer in einem
sozialen Rahmen verankert, auch wenn das Dichten wie im Westen oft allein erfolgt.

Laut einer soziologischen Studie von Öno Michio gab es im Jahr 2005 in Japan knapp 870
eingetragene Haiku-Vereine. Man schätzt, dass derzeit etwa zwei Millionen]Japanerinnen
und Japaner regelmäßig Haiku dichten. Fast alle japanischen Zeitungen haben eine feste
Wöchentliche Haiku-Kolumne. Nur wenige aus der Vielzahl der eingesandten Gedichte etwa
zehn von tausend werden ausgewählt 11nd veröffentlicht.
Heute beschäftigen sich Menschen auf der ganzen Welt mit dem Dichten Von Haiku, sogar
Politiker wie Herman van Rompuy aus Belgien oder der Botschafter Kaj Falkman aus
Schweden, mit dem ich in Kyöto gedichtet habe. Viele außerhalb Japans halten sich
allerdings weder streng an die Form von 5-7-5 Moren (»Silben), noch an die üblichen
Jahreszeitenwörter. Auch sonst gibt es manche Unten schiede. Das zeigt, wie offen diese
Gedichtform sein kann.

Der Begriff »Haiku« tauchte erst Ende des 19. Jahrhunderts auf weder dem Dichter Bashö
noch Issa war er geläufig. In ihrer Zeit wurde diese Gedichtform »Hokku« genannt und war
das erste Glied eines Kettengedichts. Dieses musste man beherrschen, wenn man als Gast in
einer Dichterrunde gebeten wurde, das Eröffnungs-Hokku zu dichten. Der Ursprung des
Haiku liegt also im Hokku als erstem Glied eines Kettengedichts.

Bis Kobayashi Issa, also bis etwa um 1800/1820, haben sich fast alle »Haiku«~ Dichter als
Dichter von Kettengedichten mit Anfangs-Hokku verstanden. Ende des 19. Jahrhunderts
entwickelte sich dann der Trend, nur noch isolierte Hokku ohne angehängte Kettengedichte
zu verfassen. Das Kettengedicht verfiel. Vor diesem Hintergrund ist Masaoka Shikis Kritik
vom Ende des 19. Jahrhunderts zu sehen, dass Kettengedichte minderwertig seien. Mit
weitreichenden Folgen, denn damit geriet diese uralte und anspruchsvolle Langgedichtform
jahrzehntelang quasi in Vergessenheit. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurde sie allmählich
wiederentdeckt und unter dem Begriff »Renku« neu belebt. Das Hokku jedoch lebte und lebt
als eigenständige Gedichtform unter dem Begriff »I-Iaiku« weiter. Im vorliegenden Band
verwenden wir den Begriff »Haiku« deshalb bewusst erst ab der Zeit Masaoka Shikis.

Nachdem der Reclam-Verlag mit diesem Projekt auf mich zugekommen war, habe ich
zunächst rund 300 Haiku vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart zusammengestellt und
daraus eine Vorauswahl unter den 200 älteren Gedichten getroffen. Da es über den
berühmten Bashö bereits viele Veröffentlichungen gibt, habe ich mich entschlossen, weniger
bekannte Dichter wie zum Beispiel Kobayashi Issa stärker in den Vordergrund zu rücken.
Daneben habe ich eine Reihe von im Westen unbekannten Dichterinnen aufgenommen.

Die Vorauswahl von rund 100 neueren Haiku (ab etwa 1850) übernahmen Ka‘ neko Töta und
Kuroda Momoko, die als Juroren von Haiku-Kolumnen überregionaler Zeitungen und von
Preisverleihungen einen sehr guten Überblick über die neuere und zeitgenössische Haiku-
Dichtung haben. Ich danke ihnen sehr herzlich.

Im Zuge der konkreten Ausarbeitung ergaben sich dann allerdings manche Abänderungen
und Ergänzungen in der getroffenen Auswahl.

Als Übersetzer und Kommentator konnte glücklicherweise erneut der


ZürcherJapanologieprofessor Eduard Klopfenstein gewonnen werden, dessen
Übersetzungen sich nicht nur durch Sachkenntnis, sondern auch durch ihre sprachliche Kunst
auszeichnen. Seme ausführlichen Kommentare bei den Gedichten sind unverzichtbar für
deren Verständnis. Auch ihm bin ich herzlich für unsere langjährige

konstruktive und freundliche Zusammenarbeit dankbar.

Bergisch Gladbach, im Oktober 2016 Masami Ono-Feller

Für HRF
1)
YAMAZAKI SOKAN (?-1539)

Die Hände am Boden


Intoniert er in großer Pose
Seinen Gesang – der Frosch

手をついて歌申しあぐる蛙かな

てをついてうたもうしあぐるかわずかな

Frosch – Frühling

Yamazaki Sökan hat mit anderen Dichtern des 16. Jahrhunderts das Anfangsglied der
Gedichtkette (Hokku) zur selbstständigen populären Kurzform gemacht. Das vorliegende
Beispiel greift, typisch für diese Zeit, zurück auf die Einleitung zur maßgebenden klassischen
Sammlung Kokin(waka)shü (Anfang 10. Jh.): »Lauscht man der Stimme der in den Blüten
schlagenden Nachtigall oder des in den Wassern hausenden Frosches, welches unter den
Wesen, die da leben, äußerte sich nicht in einem Lied [uta]!« Was da mit gleichsam heiligem
Ernst verkündet wird, erscheint im Hokku parodistisch abgewandelt. Da der Begriff uta
sowohl allgemein für »Lied« wie spezifisch für das klassische Waka stehen kann,
interpretieren manche Kommentatoren noch schärfer: Die Pose des Froschs widerspiegelt
die Figur des Waka-Dichters, der seine Gedichte in gleichzeitig aufgeblasener und
unterwürfiger Haltung seinen adligen Gönnern und Dienstherren verträgt. Eine Deutung im
allgemeinen humoristischen Sinne scheint mir allerdings reizvoller.

2)
ARAKIDA MORITAKE (1473-1549)

Schwebt da eine abgefallene


Blüte an den Ast zurück?
… Ah, ein Schmetterling!
落花枝にかへると見れば胡蝶哉

らっかえだにかへるとみればこちょうかな

Abgefallene Kirschblüte/Schmetterling – Frühling

Zu Recht erscheinen uns diese Zeilen als besonders geglückt im Erfassen einer momentanen
Sinnestäuschung, obwohl hier in Wahrheit eine Formulierung aus der zen-buddhistischen
Tradition („eine abgefallene Blüte kehrt niemals an den Ast zurück“) aufgegriffen und
W61tergesponnen Wird. Dieses Hokku hat besondere Bekanntheit und Bedeutung erlangt,
weil es bereits 1914 von Ezra Pound als Beispiel für die unmittelbare Überlagerung (super-
position) von Ideen oder Bildern in der Poesie angeführt wurde Ein wichtiges Stilmittel nicht
nur für Pound, sondern für die moderne Dichtung überhaupt. (Vgl. E. Pound: »Vorticisrnu, in:
The Fortnzghtly Review 96, 1914, S. 461-471.)

3)

ARAKIDA MORITAKE (1473-1549)

Sommernacht hellt auf


Doch was sich nicht lichten will:
Die Augenlider

夏の夜は明れどあかぬまぶた哉

なつのよはあくれどあかぬまぶたかな

Sommernacht – Sommer

Der Dichter gibt einer einfachen Erfahrung humorvollen Ausdruck. Japanische


Sommernächte sind schwülheiß, man schläft schlecht; und sie sind kurz, es tagt früh. Im
Zentrum steht das Wortspiel mit dem verbalen Gegensatz akuredo akanu: Obwohl die Nacht
sich öffnet (hell wird), öffnen sich die Augenlider nicht - zwei Bedeutungsnuancen, die
normalerweise mit verschiedenen Schriftzeichen auseinandergehalten werden.

4)

MATSUNAGA TEITOKU (1571-1653)

„Lieber Klöße als Kirschblüten“


Das denken sich wohl auch
Die nordwärts ziehenden Wildgänse

花よりも団子やありて帰雁

はなよりもだんごやありてかえるかり

Kirschblüte/fortziehende Wildgänse – Frühling

Die gespielte Verwunderung darüber, dass die Wildgänse ausgerechnet zur Kirschblütenzeit
nach Norden in ihre Sommerreviere ziehen, ist schon in der klassischen Lyrik ein beliebtes
Motiv (2. B. bei der Dichterin Ise, Kokin(waka)shü Nr. 31). Hier wird nun dieser
übernommene Gedanke in humorvoller Weise mit einem Sprichwort aus der Alltagssprache
verknüpft: „Hana yori dango“, d.h.: lieber Knödel als Blüten lieber etwas zum Beißen als
schöner Schein. Eine solche handfeste Wendung wäre in der gehobenen Waka-Poesie
undenkbar.

Die Bezugnahme auf Sprichwörter ist ein Merkmal der von Matsunaga Teitoku begründeten
Teimon-Schule.

5)

MATSUNAGA TEITOKU (1571-1653)

Überwintern zu Haus – selbst der Wurm


Lässt grüßen aus seiner Höhle
„..höflich empfiehlt sich…“

冬籠虫けら迄もあらかしこ

ふゆごもりむしけらまでもあなかしこ

Überwintern -Winter

fuyugomori ist ein sogenanntes »Kissenwort« (ausschmückendes Beiwort) in der


altjapanischen Dichtung. Bei Wintereinbruch pflegte man in früheren Zeiten sich in die
eigenen vier Wände zurückzuziehen und sich allenfalls brieflich nach dem Wohlergehen von
Freunden zu erkundigen - eine Art Winterschlaf in der Menschenwelt, in Analogie zum
Tierreich. Der zusätzliche Witz dieses Hokku liegt aber beim Wort ana, das hier als
kakekotoba (Türangelwort mit Doppelbedeutung) verwendet wird. ana bedeutet 1. ein Loch,
eine Höhle als Hinweis auf den Rückzugsort des Wurms oder Insekts. 2. ist es eine
Interjektion in einer geläufigen Briefabschlussformel: »ana kashiko mit Ehrerbietung
verbleibt . . . «. Die Übersetzung versucht, diese komische Überlagerung von weit
auseinanderliegenden Bedeutungsfeldern durch die Assonanz »Höhle« »höflich«
anzudeuten.

6)
SUGIKI MOICHI (1586-1643)

Götterspeer so lang
Glanz über irdischen Gefilden
Beim ersten Beischlaf

ほこ長し天がした照姫はじめ

ほこながしあめがしたてるひめはじめ

Erster Beischlaf - Neujahr

Dies ist in der Häufung von Anspielungen ein besonders genial gedrechseltes Hokku! Der
Götterspeer bezieht sich auf den Ursprungsmythos um das Götterpaar Izanami und Izanagi:
»... Sie stellten sich auf die Schwebebrücke des Himmels und stießen den Juwelenspeer nach
unten und rührten mit ihm. Als sie den Speer hochzogen, da häufte sich die Salzflut, die von
seiner Spitze tropfte, und bildete eine Insel . . . « (Kojiki). ame ga shita teru ist das, was sich
unter dem Himmel befindet und glänzt, also die Erdenwelt. Und hime hajime ist eine
poetische Umschreibung für den ersten Beischlaf nach dem Jahreswechsel - mindestens
ebenso Wichtig wie alles andere, was man im neuen Jahr zum ersten Mal tut. Es zeugt von
der tabufreien japanischen Tradition, dass sich diese bereits vom Mythos angeregte sexuelle
Konnotation als Jahreszeitenwort bis heute erhalten hat. Zu allem Überfluss versteckt sich
im Übergang vom zweiten zum dritten Vers auch noch der Name einer jungen weiblichen
Gottheit: Shitateruhime, die als Ahnherrin der Waka-Dichrung gilt.

7)
NONOGUCHI RYOHO (1595-1669)

Glanz des Mondes


Aus dem Wasserbecken geschöpft
zerspritzt, verschüttet

月影をくみこぼしける手水鉢

つきかげをくみこぼしけりちうずばち

Mondschein – Herbst
Die damals wohl neuartige und kühne Vorstellung, dass jemand den Mond - ein zentrales
Leitmotiv der klassischen Lyrik - aus einem so prosaischen Gegenstand wie einer
Waschschüssel oder einem Wasserbecken schöpft, ihn dabei in glitzernde Partikel auflöst
und verschüttet, hat dieses Hokku berühmt gemacht.

8)

NISHIYAMA SOIN (1605-1682)

Weißglänzender Tau!
Allzu leichtfertig legst du dich
Überall hin…

白露や無分別なる置所

しらつゆやむふんべつなるおきどころ

Weißer Tau - Herbst

Die Tautropfen im Herbst sollen von besonderer Schönheit sein. Bereits der chinesische
Dichter Li Bo (Li Bai) prägte die Formel »Herbsttau ist Wie weiße Perlen. Darauf geht das
Jahreszeitenwort zurück. Der Humor dieser Verse liegt in der Personifizierung einer
unbelebten Sache und in der daraus folgenden Ermahnung. Dahinter lassen sich Gedanken
über die Kürze der Existenz und die Fragilität des Schönen weiterspinnen.

9)

YASHUHARA TEISHITSU (1610-1673)

„Sieh mal an sieh mal an…“


Nichts anderes hört man bei der Blütenschau
Auf dem Yoshino-Berg

これはこれはとばかり花の吉野山

これはこれはとばかりはなのよしのやま

Kirschblüte – Frühling

Der Ausruf kcore wa kore wa war ein Modewort in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Hier wird
also wieder in parodistischer Absicht ein populärer Alltagsausdruck mit der seit alters in
hohem Ton besungenen Kirschblütenwelt von Yoshino kontrastiert. Andererseits darf man
das Hokku durchaus auch im positiven Sinn verstehen als Hinweis darauf, wie die Besucher
(einschließlich des Dichters) von der ganz einfach unaussprechlichen Blütenpracht
überwältigt sind.

Wie hoch dieses Hokku eingeschätzt wurde, zeigt sich an einer Notiz von Bashö im Werk Oi
no kobumi, bezogen auf eine Reise nach Yoshino zur Blütezeit, im Jahr 1687: »Da jener
Teishitsu mit seinem „Sieh mal an sieh mal an“ bereits zugeschlagen hatte, fehlten mir
eigene Worte. Ich hielt meinen Mund hilflos geschlossen es war zu schade! «

10)

KITAMURA KIGIN (1624-1705)

…als stünden sie uns


Leibhaftig vor Augen – die Toten
beim Seelenfest

まざぐといますが如し魂祭

まざぐというすがごとしたままつり

Seelenfest – Herbst

Das Totenfest (Urabon), vom 13. bis 15. Tag des 7. Monats (nach dem Mondkalender) ist ein
Hauptereignis im japanischen Jahreszyklus. Nach der religiösen Vorstellung kehren die
Seelen der Verstorbenen für drei Tage ins Haus zurück. Sie werden am Hausaltar feierlich mit
Blumen und Opfergaben empfangen und bewirtet.

Dieser Vers bringt in schlichter Weise die tröstliche Verbundenheit mit den verstorbenen
Angehörigen zum Ausdruck.

11)

DEN SUTEJO (1633-1698)

Zwei und zwei und zwei…


In den Morgenschnee geschrieben
Holzsandalenspur

雪の朝二の字二の字の下駄のあと

ゆきのあさにのじにのじのげたのあと

Schnee – Winter
Japanische Holzsandalen (geta) sind mit zwei parallelen Holzklötzchen unten an der Sohle
versehen, so dass bei jedem Schritt im Schnee ein Abdruck mit zwei parallelen Strichen
entsteht, was dem Schriftzeichen für die Zahl Zwei entspricht. Es sind kindlich-spielerische
Verse, die ihren Reiz besonders aus der lautmalerischen Wiederholung in der Mitte
beziehen. Der Legende nach soll die Dichterin dieses Hokku im Alter von sechs Jahren
verfasst haben.

12)

DEN SUTEJO (1633-1698)

Die Haut verhüllt


unter Kleidern, die Hat der Frau –
Ihre Hitze!

肌かくす女の肌のあつさ哉

はだかくすおんなのはだのあつさかな

Hitze – Sommer

Sutejo ist die erste Hokku-Dichterin, die typisch weibliche Perspektiven einfließen lässt. Wir
wissen zwar nicht, wann dieses Hokku entstanden ist, aber es würde wohl eher zu einer
jungen Frau passen. Sie beklagt die Ungerechtigkeit, dass sie sich trotz der unerträglichen
Sommerhitze immer züchtig verhüllen soll. Das männliche Gegenstück zu dieser Aussage
finden wir bei Enomoto Kikaku (vgl. N r. 97). Auffällig ist die insistierende Wiederholung des
Worts hada. Ob mit der »Hitze der Haut« auch noch andere Bedeutungsnuancen verbunden
werden sollen? Diese Möglichkeit verleiht jedenfalls den Versen eine schillernde
Ausstrahlung.

13)

ITO SHINTOKU (1633-1698)

Furchterregend: die Frau


mit ihrer Brille – der Trubel
am Jahresende

すさまじや女の眼鏡としのくれ

すさまじやおんなのめがねとしのくれ

Jahresende – Winter
Shintoku lehnt sich an einen Abschnitt des Makura no soshi (»Kopfkissenbuch«) von Sei
Shönagon an, der ebenfalls mit susamaji . . . beginnt und nach Belieben abweisende,
furchterregende Dinge aufzählt. Das Hokku muss sich auf zwei Punkte beschränken.
Zwischen der Frau mit Brille und dem Stress am Ende des Jahres besteht kein eindeutiger
Zusammenhang. Solche Gedankensprünge sind charakteristisch; sie aktivieren die
Einbildungs- und Kombinationskraft des Lesers.
Mit den letzten Tagen des Jahrs Wird in Japan eine enervierende Geschäftigkeit assoziiert:
Zahlungstermine, Reinigungsarbeiten, Vorkochen und perfekte Vorbereitungen für die
Neujahrstage.

14)

TAKAO (1641-1959)

Selbst das Wildschwein ruht


umrankt von Buschkleeblüten
eine Nacht lang

猪も抱かれて萩のひと夜哉

いのししもだかれてはぎのひとよかな

Wildschwein/Buschklee(blüte) – Herbst

Die früh verstorbene Kurtisane Takao teilte das Schicksal zahlloser Mädchen. die zu einem
Leben im Freudenviertel gezwungen und dafür erzogen wurden. Sie muss eine Hochbegabte
gewesen sein.

Das Hokku spielt auf eine Stelle im Klassiker Tsurezuregusa (Aufzeichnungen aus
Mußestunden, Abschnitt 14) des Yoshida Kenko an, wo davon die Rede ist, dass im Waka-
Gedicht sogar das Wildschwein zum sanftmütigen Tier wird, das still auf seinem Lager ruht«.
Von den Kommentaren wird diese Anspielung natürlich als Metapher für die Begegnung der
Kurtisane mit ihrem Liebhaber gedeutet.

15)

IHARA SAIKAKU (1642-1693)

Der letzte Tag


des Jahres kommt – das ist gewiss
in dieser ungewissen Welt!

大晦日定めなき世のさだめ哉

おおみそかさだめなきよのさだめかな

Letzter Tag des Jahres – Winter

Wie schon das Hokku Nr. 13 zeigt, wurde der letzte Tag im Jahr mit höchst gemischten
Gefühlen erwartet. In einem Vorspann bemerkt der Autor: »Was schon jener Yoshida in
seinem Tsurezuregusa über den Weltlauf geschrieben hat, gilt heute wie damals. « Er
verweist damit auf Abschnitt 19, wo allgemein von der Hast und vom Stress des letzten
Tages die Rede ist. Bei Ihara Saikaku, der auch der bedeutendste realistische Erzähler des 17.
Jahrhunderts war, kommt ein weiterer Aspekt dazu: Ömisoka war in der Gesellschaft der
Edo-Zeit auch der Termin für die Begleichung aller Schulden ein Tag also, dem viele mit
Zittern entgegensahen. (Vgl. auch N r. 199).

16)

YAMAGUCHI SODO (1642-1716)

Fürs Auge junges Grün


in den Bergen Kuckucksrufe
dazu die ersten Bonitos!

目には青葉山郭公はつ鰹

めにはあおばやまほととぎすはつがつお

Grüne Blätter / japanischer Kuckuck / erster Bonito – Sommer

Eigentlich sind hier nur Jahreszeitenwörter- den Gesichtssinn, das Gehör und den
Geschmack betreffend - nebeneinandergestellt. Aber dieses Hokku war zu allen Zeiten
äußerst beliebt, weil hier die Segnungen des frühen Sommers (Mai) in erfrischender,
rhythmisch ansprechender Weise gefeiert werden. Die jungen grünen Blätter und der Ruf
des japanischen Kuckucks (auf Deutsch: Gackelkuckuck) werden schon in der Waka-Dichtung
ausgiebig besungen. Zudem ist dieses Hokku mit dem Vorspann »In Kamakura» versehen.
Die Bonitos aus dem Meer bei Kamakura wurden seit je als frühsommerliche Delikatesse
hochgehalten. Hier vereinigen sich also die Schönheit und die Genüsse einer bestimmten
Stadt und Landschaft in einer bevorzugten Jahreszeit zum Ausdruck reinster Lebensfreude.
17)

MUNEFUSA (MATSUO BASHO) (1644-1694)

Nimm den Mond


als Wegweiser – komm herein
in die Herberge!

月ぞしるべこなたへ入らせ旅の宿

つきぞしるべこなたへいらせたびのやど

Mond – Herbst

Datierung: 1663. Dies ist das frühste überlieferte Hokku von Bashö. Es bewegt sich ganz im
Stil der damals führenden Teimon-Schule. Ein Zitat aus dem No-Spiel Kurama tengu mutiert
leicht abgewandelt zum Werbeanruf, der die vorüberziehenden Reisenden zum Absteigen in
einer Herberge animieren soll. Zusätzlich ist das Hokku mit einem kakekotoba
(Türangelwort)
über die Versgrenze hinweg ausgestattet: irasetabe (»komm herein» höflicher Imperativ)
und tabi no yado (»Reiseherberge«).
Das sind durchaus gekonnte, kunstvolle Verse, aber noch ohne eigene Handschrift.

18)

TOSEI (MATSUO BASHO) (1644-1694)

Ein Zwei-Tage-Kater
Nicht der Rede wert
Während der Kirschblütenzeit

二日酔ものかは花のあるあひだ

ふつかよいものかははなのあるあひだ

Kirschblüte – Frühling

Entstanden gegen Ende der Ära Enpo (1673-81). Ein geflügeltes Wort sagt: Die Blüte der
Kirschen dauert nur sieben Tage. Angesichts dieser kurzen Zeit soll man sich über einen
Zwei-Tage-Kater keine Gedanken machen. Ein leichtes Hokku des etwas über dreißigjährigen
Poeten, noch im Stil der zu dieser Zeit florierenden Danrin-Schule.

19)

TOSEI (MATSUO BASHO) (1644-1694)

Ei, gar nichts passiert –


das Gestern verstrich trotz Genuss
von Kugelfischsuppe

あら何ともなやきのふは過てふくと汁

あらなんともなやきのふはすぎてふくとじる

Kugelfischsuppe – Winter

Datierung: 1677. Der Kugelfisch (fugu) ist eine Delikatesse, aber nicht ganz ungefährlich, da
bestimmte Teile seines Körpers hochgiftig sind.

Die Verse 1 und 2 zitieren eine Stelle aus dem No-Spiel Ashikari, aus der Klage der
unglücklichen Hauptperson. Es wird also in der Diktion ein hoher dramatischer Ton
angeschlagen, worauf auch die ungewöhnlichen 8 Moren im ersten Vers hinweisen. In Vers 3
schlägt dann das Ganze auf unerwartete Weise in Komik um, indem durch die
Kugelfischsuppe ein völlig anderer, profaner Bedeutungszusammenhang hergestellt wird.

20)

TOSEI (MATSUO BASHO) (1644-1694)

Sogar Holland
Fernher zur Blütenschau angerückt
Auf gesattelten Pferd

阿蘭陀も花に来にけり馬の鞍

おらんだもはなにきにけりうまにくら

Kirschblüte – Frühling
Datierung: 1679.
Die Holländer hatten in Nagasaki die Erlaubnis erhalten, in dem sonst völlig abgeschottet
Land eine Handelsniederlassung einzurichten, und waren verpichtet, dem Shogun in Edo
periodisch mit einer Delegation ihre Aufwartung zu machen. Basho hat diesen für die
damaligen Japaner exotischen Aufzug in vergnüglicher Weise mit der Kirschblütenschau
verknüpft.
In Vers 3 steckt zudem zusätzlich eine Anspielung auf das Nö-Stück Kurama.

21)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Auf kahlem Ast


hockt eine Krähe – abends
spät im Herbst

かれ朶に烏のとまりけり秋の暮

かれえだにからすのとまりけりあきのくれ

Herbstabend/Spätherbst – Herbst

Datierung: 1680.
Das Jahreszeitenwort aki no kure kann sowohl im Sinne von »Herbstabend» wie von
»Spätherbst» verstanden werden. Da der Ast kahl oder sogar dürr ist, erscheint »Abend im
Spätherbst« als Übersetzung angemessen. Die Krähe, die im klassischen Waka keine Rolle
gespielt hatte, tritt hier prominent in Erscheinung, gleichsam als Repräsentantin der neuen
Welt des Hokku. Ein leises Frösteln, eine Atmosphäre von Öde und Verlassenheit stellt sich
ein - eine Szenerie, die allenfalls Erinnerungen an die Tuschmalerei des 15. / 16.
Jahrhunderts weckt. Hier wird deutlich, wie sich Basho um diese Zeit allmählich vom
spielerischen, zitatenreichen Stil der Vorgänger löst und in eigene Bereiche verstößt, die er
und seine Schüler mit dem Begriff shofu (‚richtiger Stil«) charakterisieren. Später bedeutet
shofu, mit einem anderen ersten Zeichen geschrieben, »Basho-Stil«.

22)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Heimlich nachts
unterm Glanz des Kastanienmondes
bohrt sich ein Wurm durch die Schale
夜ㇽ竊二虫は月下の栗を穿ッ

よるひそかにむしはげっかのくりをうがつ

Kastanienmond – Herbst

Datierung: 1680. Vorspann: »Beim zweiten Vollmond (nochi no meigetsu).«


Der Vollmond am 15. Tag des 8. Monats stand zwar immer im Zentrum. Aber auch der
nächste oder zweite Vollmond am 13. Tag des 9. Monats (entspricht Mitte Oktober nach
westlicher Zeitrechnung) wurde festlich begangen. Weil zu dieser Zeit die Kastanien reif sind
und als Opfergaben eine Rolle spielten, wurde er auch Kastanienvollmond (kuri no meigetsu)
genannt. Das Hokku spielt mit einer Anlehnung an ein Gedicht chinesischen Stils im Wakan
roei shu (um 1013); es kontrastiert in humorvoller Weise die majestätische Ruhe der
Vollmondnacht mit dem Werkeln des unsichtbar winzigen Wurms in der Frucht. Die
Übersetzung nimmt sich hier die Freiheit, den Begriff des Kastanienmonds zu verwenden,
auch wenn die Kastanie im Original erst im dritten Vers genannt wird.

23)
MATSUO BASHO (1644-1694)

An der Bananenstaude rüttelt der Herbststurm


Drinnen tropft‘s in den Zuber
- zu hören die Nacht durch!

芭蕉野分して盥に雨を聞く夜かな

ばしょうのわきしてたらいにあめをきくよかな

Herbststurm – Herbst

Datierung: 1681. Vorspann: »Empfindungen in der Schilfhütte.«


Basho beschreibt eine Sturmnacht in seiner »Klause zur Bananenstaude« (basho), von der er
sein Pseudonym ableitete. Der durch das undichte Schilfdach hereintropfende Regen wird
von einem Zuber notdürftig aufgefangen. Weil es draußen unaufhörlich rüttelt und drinnen
tropft, kommt der Bewohner nicht zur Ruhe. Das Durchbrechen der Form im ersten Vers mit
8 Moren wird interpretiert als inneres Aufgewühltsein des allein in seiner schwachen Hütte
ausharrenden Dichters. Gleichzeitig nimmt der Wortlaut auf verschiedene chinesische
Dichter der Tang-Zeit Bezug, insbesondere auf das kurze Gedicht Nächtlicher Regen von Li
Bo.

24)

TOSEI (MATSUO BASHO) (1644-1694)


„Von Blüten betrunken“
Eine Frau in Männertracht
das Schwert zur Seite…

花に酔り羽織着てかたな指女

はなによえりはおりきてかたなさすおんな

Kirschblüte- Frühling

Entstehungszeit: wie Nr. 18. Die Formel »Von Blüten betrunken« geht zurück auf ein Gedicht
im chinesischen Stil im Wakan roeishu (um 1013). Sie taucht auch in No-Spielen auf. Ein
solcher Auftritt von Frauen in Männertracht und bewaffnet wäre für die Edo-Zeit höchst
ungewöhnlich. Es handelt sich um ein Fantasiebild, das an heroische Zeiten erinnert und die
begeisternde Wirkung der Blütenpracht hervorhebt.
25)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Mit Blick auf die Trichterwinden


Ess‘ ich den Morgenreis –
So einer bin ich!

あさがほに我は食くふおとこ哉

あさがほにわれはめしくふおとこかな

Trichterwinde – Herbst

Datierung: 1682. Vorspann: »Als Antwort auf einen Vers von Kikaku über Knöterich und
Leuchtkäfer.»

Kikaku’s Hokku lautet sinngemäß, indem er auf ein Sprichwort anspielt: »An der Grastüre
nage ich als Leuchtkäfer am Knöterich. « Bashos Antwort hört sich wie eine humorvolle
Replik mit leicht tadelndem Unterton an: Während der Leuchtkäfer sich nachts herumtreibt
und sich mit gemeinem Kraut zufriedengibt, bin ich ein Mann, der morgens früh anständig
seinen Reis isst und dabei die eben aufgeblühten Trichterwinden betrachtet (mit dem
Hintersinn: Im Hokku verträgt sich das Alltägliche durchaus mit dem ästhetisch Eleganten).

26)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Der Frühling setzt ein


Noch hab ich fün Maß alten Reis zum neuen Jahr

春立つや新年ふるき米五升

はるたつやしんねんふるきこめごしょう

Frühlingsbeginn – Neujahr

Datierung:1684
Auch in Bashos Klause hält mit dem Jahresbeginn (anfangs Februar nach westlicher
Zeitrechnung) der Frühling Einzug und stimmt den genügsamen Dichter wohlgemut. Zumal
ihn seine Schüler mit Vorrat versehen haben: 5 sho zu 1,8 Liter, also 9 Liter Reis bleiben ihm
noch (in der Übersetzung schien mir hier die alte deutsche Einheit »fünf Maß« zu passen).
Eine frühere Fassung des Hokku beginnt im ersten Vers mit: Ware tomeri (»Ich bin ja reich«)
anstelle des Frühlingsanfangs eine wohl leicht ironische Formulierung, von der er wieder
abgekommen ist. Gewollt ist auch das Spiel mit dem Gegensatz alt neu.
(Zum Reisnachschub für Basho in Fukagawa vgl. E. May, Shömon II, 2002.. S. 220 f.)

27)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Obwohl bereit, auf weiter Flur


zu enden, fährt mir der Wind nun doch
durch Mark und Bein

野ざらしを心に風のしむ身哉

のざらしをこころにかぜのしむみかな

Am eigenen Leib spüren – Herbst

Datierung: 1684. Vorspann: »... Im Herbst des Jahres 1 der Ära Iokyo [1684] im 8. Monat
verließ ich meine bescheidene Hütte am Fluss. Der Wind blies heftig und fühlte sich
merkwürdig kalt an. «
Mit der Hütte am Fluss ist die »Klause zur Bananenstaude« in Edo-Fukagawa gemeint. Dieses
Hokku markiert Bashos großen Aufbruch zur nozarashi kiko, zur »Reise mit der Bereitschaft,
als Totenschädel, auf ödem Felde der Witterung ausgesetzt, zu enden«. Es ist seine erste
lange Wanderfahrt als Dichter, die acht Monate dauert eine Reise gleichzeitig ins Weite wie
ins Innere des eigenen Ichs. Die Metapher vom gebleichten Totenschädel geh tauf den
chinesischen Klassiker Zhuangzi (Dschuang Dsi) zurück. In seinem Werk Das wahre Buch vom
südlichen Blütenland, Kapitel 18 (»Höchstes Glück«), findet sich ein Gespräch zwischen dem
Philosophen und dem Schädel.

28)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Ich höre die Affen schreien


Dichter! Doch was ist mit dem ausgesetzten
Kindern im Herbstwind?

猿を聞人捨子に秋の風いかに

さるをきくひとすてごにあきのかぜいかに

Herbstwind –Herbst

Datierung: 1684.

Das Hokku steht mitten in einem Abschnitt des nozarashi-Reiseberichts (vgl. dazu Nr. 27).
Basho scheint unterwegs tatsächlich auf ausgesetzte Kinder gestoßen zu sein - eine aPraxis,
die aus sozialer Not in der Gesellschaft der Edo-Zeit nicht selten vorkam. Offensicht berührt
ihn ihr Schicksal. Er wendet sich an chinesische Klassiker (wie Li Bo oder Du Fu), die öfter das
Geschrei von Affen als herzzerreißend beschrieben haben, und fragt sie rhetorisch: Was
würdet ihr nun zu solchen in der Wildnis ausgesetzten schreienden Kindern sagen? Die
Interpretation dieser Verse bleibt schwierig und beschäftigt die Kommentatoren ausgiebig.
Tritt hier wirklich so etwas wie die »soziale Ader« des Dichters im modernen Sinn hervor?
Auf jeden Fall wäre die Aussage in ihrem Prosakontext ausführlicher zu analysieren.

29)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Am Wegrand
Eibischblüten! …schon sind sie weg
vom Pferd gefressen

道のべの槿は馬にくはれけり

みちのべのむくげはうまにきはれけり

Hibiskus/Eibisch – Herbst
Datierung: 1684. Vorspann: »Auf dem Pferderücken verfasst.« Dieses Hokku ist ebenfalls im
Verlauf der nozarashi-Reise entstanden. Der Dichter entdeckt unterwegs aus einer gewissen
Entfernung die prächtigen Hibiskusblüten und ist entzückt. Doch bevor er sie von nahe
betrachten kann, sind sie verschwunden -weggefressen vom Pferd. Meisterlich wird dieser
emotionale Umschwung angedeutet, humorvoll werden die unterschiedlichen Perspektiven
von Mensch und Tier gegenüber den Blüten gleichsam hoch und niedrig herausgearbeitet.
Die Verse erscheinen uns als Inbegriff einer spontan aus direkter Beobachtung
hervorgegangenen Gestaltung. Doch wurden sie früher meistens entweder als Allegorie für
die Kurzlebigkeit und Vergänglichkeit genommen oder dann als Mahnung, sich nicht allzu
sehr hervorzutun und aufzuspielen.

30)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Es dunkelt über dem Meer –


Ein Entenschrei:
matt schimmerndes Weiß

海くれて鴨のこえほのかに白し

うみくれてかものこえほのかにしろし

Ente –Winter

Datierung: 1684. Vorspann: »Am Meer bricht der Abend herein. « Basho notierte dies auf
Reisen, im kalten Winter ein ungewöhnhches Hokku, weil erstens der Höreindruck
synästhetisch als kaum wahrnehmbares Weiß umgedeutet wird; und zweitens haben wir die
Morenfolge 5-5-7 vor uns. Sprachlich wäre eine Umstellung von Vers 2 und 3 ohne weiteres
möglich (was ein regelmäßiges Hokku ergäbe). Doch der Dichter wollte offenbar bewusst
vermeiden, dass man das Verbaladjektiv shiroshi („Weiß“) auf das Meer: in Vers 1 bezieht.
»Weiß« ist eindeutig auf den Entenschrei zu beziehen. Dies nimmt Verfahren des
europäischen Symbolismus vorweg.

31)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Der Frühling ist da!


Auch namenlose Berge
in Dunstschleier gehüllt…
春なれや名もなき山の薄霞

はるなれやなもなきやまのうすがすみ

Frühling / Dunstschleier – Frühling

Datierung: 1685. Vorspann: »Unterwegs nach Nara.«


Entstanden auf der nozarashi-Reise, im 2. Monat, auf dem Weg vom Heimatort Ueno in der
Provinz Iga nach Nara. Die sprachliche Bezugnahme auf Waka und auf No-Texte ist
offensichtlich. Seit alters hatte man die zarten Dunstschleier als Zeichen des
Frühlingsanfangs besungen. Dass aber nicht nur die klassischen Bergnamen dieser Gegend,
sondern 311 die namenlosen Hügel und Berge als ebenso poesiewürdig ins Zentrum gestellt
werden, ist bezeichnend für den Anspruch des neuen Genres.

32)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Auf dem Bergweg


irgendwie anziehend
das Veilchen

山路来て何やらゆかしすみれ草

やまじきてなにやらゆかしすみれぐさ

Veilchen – Frühling

Datierung: 1685. Vorspann: »Unterwegs nach Otsu, auf einem Bergweg.«


Das Veilchen kommt in der altjapanischen Dichtung kaum vor. Indem Basho diese kleine,
unscheinbare Blume ins Zentrum rückt und sie besonders anziehend findet, setzt er sich
bewusst ab und betont die Ausrichtung auf das Kleine, Bescheidene und Alltägliche. Die
Kommentare sind sich im Übrigen einig, dass die Angabe im Vorspann eine Fiktion ist. Der
Dichrer hat die Verse andernorts notiert, und nach der Rückkehr in seine Klause in Edo hat er
den ersten Vers ausgewechselt. Dies zeigt, dass er sich im Interesse der Gestaltung und
Ausarbeitung seiner Werke selbstverständlich alle Freiheiten nahm.

33)
MATSUO BASHO (1644-1694)

Sommerkleid hervorgeholt –
aber noch längst nicht
sämtliche Läuse rausgeklopft

夏衣いまだ虱を取りつくさず

なつごろもいまだしらみをとりつくさず

Sommerkleid / Läuse- Sommer

Datierung: 1685. Vorspann: »Als ich im 4. Monat in meine Klause zurückkehrte und mich von
den Reisestrapazen erholte. « (4. Monat = Mai nach westlichem Kalender.) Ein leichtes,
humorvolles Hokku. Noch ist der Dichter müde, noch verweilen seine Gedanken bei der
zurückliegenden Reise, noch ist er nicht ganz angekommen. Dass er dabei an die Läuse in
seiner Sommerkleidung denkt, ist seine besondere Form von Selbstironie. Einige
Kommentare reden davon, dass er auf seiner Reise Läuse aufgelesen habe, deren er noch
nicht Herr geworden sei. Aber warum sollte er Sommerkleider auf seiner Reise mitgeführt
haben? Vielmehr nimmt er nach der Rückkehr die eingelagerten Kleider hervor, um sie zu
lüften und für den bevorstehenden Sommer bereit zu machen.

34)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Der alte Teich!


Ein Frosch springt rein
das Wasser gluckst

古池や蛙飛びこむ水のをと

ふるいけやかわずとびこむみずのをと

Frosch – Frühling

Fast zögert man, dieses unendlich berühmte und oft übersetzte Hokku hier nochmals zu
präsentieren. Aber es ist Wichtig! Man stelle sich vor: Da ist ein alter Teich, etwa in einem
Tempelbezirk, ein Ort mit besonderer Aura. Nun nähert sich jemand und entdeckt ihn
freudig. Es ist ein Augenblick der Verzauberung und der erhöhten Empfänglichkeit
(ausgedrückt mit der Partikel ya). Und genau im selben Moment vollzieht sich das
Unerwartete: Der Frosch springt, das Wasser gluckst. Dieser kurze Laut erhält ein Gewicht,
das ihm sonst nicht zukommt. Er macht gleichsam die Stille hörbar. Gesichtseindruck und
Höreindruck durchdringen sich und steigern sich gegenseitig. Eine unscheinbare Bewegung
führt zu einem Zustand vertiefter Wahrnehmung und vielleicht dürfte man sagen Einheit mit
der Welt. Das ist wohl der Grund für die Allgegenwart gerade dieses Hokku. Es ist erstens in
seinen Elementen Teich, Frosch, Wassergeräusch universell und für jedermann ohne Mühe
nachvollziehbar. Und zweitens führt die geniale Verknüpfung dieser Realien in eine
meditative Tiefe, deren man sich vielleicht nicht wirklich bewusst ist, die man aber intuitiv
erahnt.

35)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Fach du Feuer an!


Dann zeig ich dir was Schönes:
einen Riesenschneeball

きみ火をたけよき物見せむ雪まるげ

きみひをたけよきものみせむゆきまるげ

Schneeklumpen- Winter

Datierung; 1686. Vorspann: »Ein gewisser Sora hat sich in der Nähe niedergelassen, und wir
besuchen uns morgens wie abends. Wenn ich was koche, hilft er mir beim Feuer Anmachen.
Wenn ich abends Tee bereite, kommt er und klopft ans Vordach. Von Natur liebt er Stille und
Zurückgezogenheit. Eine enge Freundschaft verbindet uns. Als eines Abends Schnee gefallen
war, kam er zu Besuch (und ich schrieb das folgende Hokku). «

Das Hokku gibt der erregten Stimmung des Dichters über den Besuch des Schülers und
Freundes Sora und über den Schneefall Ausdruck. In kindlicher Freude hat er draußen einen
großen Schneeklumpen aufgerollt.

36)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Mond im vollen Glanz


ich umrunde den Teich
die ganze Nacht durch
名月や池をめぐりて夜もすがら

めいげつやいけをめぐりてよもすがら

Glänzender Mond /Vollmond – Herbst

Datierung: 1686.
Wenn vom Vollmond die Rede ist, meint man in der klassischen Lyrik fast immer den
Vollmond vom 15. Tag des 8. Monats (nach dem Mondkalender; entspricht etwa Mitte
September nach westlicher Zeitrechnung). Der erste Vollmond nach Herbstanfang soll an
diesem Tag seinen höchsten Glanz entfalten neben den Kirschblüten das häufigste
traditionelle Motiv der Dichtung. Basho selbst hat 90 Mondgedichte hinterlassen, davon
beziehen Sich: 84 auf den Herbstvollmond, und Wieder 11 davon verwenden den poetisch
besonders aufgeladenen sino-japanischen Begriff meigetsu. Bei aller Schlichtheit der
Aussage immerhin ist hier auch die Spiegelung im Teich impliziert - werden wir darauf
verwiesen, dass die Mondschau mehr sein kann als Vergnügen und Naturschauspiel: Sie
führt in die meditative Versenkung.

37)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Je mehr Sake ich trinke


desto schwerer das Einschlafen
in dieser Schneenacht

酒飲めばいとど寝られね夜の雪

さけのめばいとどねられねよるのゆき

Schnee –Winter

Datierung: 1686. Vorspann: »Nacht mit Schneefall in Fukagawa. «


Fukagawa ist der Ort in Edo wo Bashos Hütte steht – ein Ort, wo Schneefall eher selten ist.
Der Dichter ist allein, er hat niemanden, mit dem er sich über den ungewöhnlichen Anblick
austauschen könnte. Er nimmt zum Trinken Zuflugt, aber das hat nicht die beabsichtige
Wirkung. Dass man zu Zeiten des Schneefalls (gleich wie bei der Feier der Kirschblüten und
des Vollmonds) das stärkste Bedürfnis nach Freunden verspürt, hat bereits der chinesische
Klassiker Bai Juyi (oder Bo ]uyi), in Japan als Haku Rakuten bekannt, festgehalten; Basho hat
dieses Hokku auch in den Rahmen eines Haibun-Prosastücks eingefügt. (Vgl. Übersetzung
und Erläuterungen bei E. May, Haibun, 2015, S. 96-98 und 408 f.)
38)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Nachtlager im Tempel
Mit wahrhaftig ernstem Gesicht
den Mond betrachten

寺にねて誠がほなる月見哉

てらにねてまことがほなるつきみかな

Den Mond betrachten – Herbst

Datierung: 1687. Vorspann: »Als ich auf der Wallfahrt nach Kashima im Tempel Konpon-ji
abstieg» Im 8. Monat pilgerte Basho zusammen mit zwei Adepten zum Kashima-Schrein der
heutigen Präfektur Ibaragi. Er besuchte in dem benachbarten Tempel Konpon-ji seinen
ehemaligen Zen-Meister. Aufzeichnungen zu dieser Reise sind als Kashima kiko erhalten.

Die Interpretation von makotogao ist nicht eindeutig. Der Ausdruck könnte auch als «mit
heuchlerisch-frommem Gesicht« verstanden werden. Das würde eine komische,
selbstironische Note in die Verse bringen. Die Kommentare ziehen es allerdings vor, von
einer Gemütslage der Wahrhaftigkeit und inneren Befreiung zu sprechen.

39)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Kleine Flusskrabbe
Klettert am Bein hoch
Kühlende Strömung

さざれ蟹足はひねぼる清水哉

さざれがにあしはいのぼるしみずかな

Krabbe / Quellwasser –Sommer


Datierung: 1687. Ein Augenblick vollkommener Entspannung, Heiterkeit und Gelassenheit.
Immer wieder stoßen wir bei Basho auf eine humorvolle Zuneigung zu kleinen, bis dahin
kaum beachteten Lebewesen (junge Mäuse, Spatzenkinder, Bremsen, Zikaden, Frösche,
Äffchen usw.), die mit unbändiger Lebenskraft ihrer Bestimmung folgen.

40)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Kalter Wintertag –
auf dem Pferd gefriere ich
zur Schattengestalt

冬の日や馬上に氷る影法師

ふゆのひやばじょうにこおるかげぼうし

Wintertag – Winter

Datierung: 1687. Vorspann: »Auf einem schmalen Feldweg in Amatsu Nawate -ein furchtbar
kalter Ort wegen des vom Meer heraufwehenden Windes.«

Basho befindet sich gegen Ende des Jahrs 1687 auf einer Strecke, die entlang der
Meeresbucht von Atsumi führt, nördlich der Stadt Toyohashi (Aichi-Präfektur). Das Hokku
macht uns die Widrigkeiten einer langen Winterreise im Japan des 17. Jahrhunderts
bewusst. Aber darüber hinaus verweist es auch auf ein inneres Geschehen. Der Dichter sieht
sich selbst in symbolistischer Manier von außen, gleichsam aus der Ferne, im Winterlichen
Zwielicht, als eine Figur, die sich allmählich abhandenkommt.

41)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Mit den jungen Spatzen


um die Wette piepst
das Mäusenest

雀子と声鳴きかはす鼠の巣

すずめごとこえなきかわすねずみのす

Junge Spatzen /Spatzenkinder – Frühling


Datierung: nach 1688 (keine genauere Datierung).

Mit den Mäusen als Motiv ist das Hokku endgültig in den Niederungen des Alltags
angekommen. Man muss sich vor Augen halten, dass in japanischen Häusern oft der
Dachboden das bevorzugte Revier der Mäuse war. Mäusenest und Spatzenest waren also
nicht allzu weit voneinander entfernt. Ein unbeschwertes Hokku mit der sprachlichen
Finesse, dass sich die jungen Spatzen mit dem Nest als Kollektiv messen müssen.

42)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Überwältigt
von Erinnerungen aller Art –
voll erblühte Kirschen

さま々の事おもひ出す桜かな

さまざまのことおもいだすさくらかな

Kirschblaum / Kirschblüte – Frühling

Datierung: 1688. Vorspann: »Der junge Herr Tangan lud zum Kirschblütenfest in seiner
Zweitresidenz. Alles war noch so wie früher. « In seiner Jugendzeit war Basho
Studiengefährte und Freund seines fast gleichaltrigen Lehnsherrn Todo Yoshitada (Daimyo
von Ueno in Iga) gewesen, und er war wohl in der genannten Residenz (die nur 100 m von
seinem Geburtshaus entfernt lag) ein und aus gegangen. Nach Yoshitadas vorzeitigem
Ableben (1666) folgte ihm später sein Sohn Todo Yoshinaga (Dichtername: Tangan) nach; er
war im Jahr der Einladung an Basho (1688) 23 jährig. Für Basho war es vor allem ein Tag des
wehmütigen Gedenkens an frühere Zeiten, wovon diese äußerst schlichten Verse zeugen.

43)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Erschöpft vom Wandern –


Zeit, eine Herberge zu finden …
Doch siehe: Glyzinienblüten!

草臥れて宿かる比や藤の花
くたびれてやどかるころやふじのはな

Glyzinienblüten –Frühling

Datierung: 1688. Vorspann: »Auf Pilgerfahrt im Land Yamato.«

Zu diesem Hokku gibt es Vorstufen, und es wird in den Kommentaren viel darüber räsoniert,
ohne dass man meiner Meinung nach dem zentralen Punkt gerecht wird. Das Wesentliche ist
doch dies: Es ist Abend, der müde Wanderer schleppt sich dahin und erkennt, dass er nun
dringend eine Bleibe für die Nacht suchen muss. Endlich hebt er die Augen und was sieht er:
eine Glyzinienlaube mit schwer herabhängenden Blütentrauben. Er ist so fasziniert, dass er
stehen bleibt und für eine ganze Weile seine Müdigkeit und seinen Vorsatz vergisst. Welch
ein Triumph des Schönen über die alltägliche Schwäche!
44)

MATSUO BASHO (1644-1694)

An Vater Mutter
denken mit zärtlicher Liebe
beim Ruf des Fasans

父母のしきりに恋し雉の声

ちちははのしきりにこいしきじのこえ

Fasan – Frühling

Datierung: 1688. »Auf dem (Tempel-)Berg Koya.«


Der Dichter greift in der besonderen Atmosphäre der buddhistischen Gräberstadt Koya-san
auf ein altes Waka des Mönchs Gyoki Bosatsu (668-749) zurück: »Horohoro . . . / hör ich die
Stimme des Fasans / denk ich: / ruft mich der Vater? / ruft mich die Mutter? « Der Fasan galt
als Tier, das besonders eifrig um seine Jungen besorgt ist. Basho dachte an seine längst
verstorbenen Eltern. Gerade war er in seiner Heimat gewesen, um den Zeremonien zum 33.
Todestag seines Vaters beizuwohnen.

45)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Sprießendes junges Laub –


o könnte ich damit die Tropfen
von seinen Augen wischen
若葉して御目の雫拭はばや

わかばしておんめのしずくぬぐわばや

Junges Laub – Sommer

Datierung: 1688. Vorspann: »Bei Betrachtung der Statue des ehrwürdigen Mönchs Ganjin,
Gründers des Toshodaiji-Tempels, der bei der Überfahrt nach Japan mehr als siebzigmal den
Gefahren trotzte und dessen Augen vorn Salzwind schließlich erblindeten. «

Basho besuchte den Tempel südlich von Nara um den 9. Tag des 4. Monats 1688 (gegen
Mitte Mai nach unserem Kalender), zur Zeit also, da das junge Grün so richtig zu sprießen
begann. Er war vom Schicksal des Tempelgründers und von dessen Bildnis - einem der
bedeutendsten nationalen Kunstschätze Japans - offensichtlich tief beeindruckt. Es gelingt
ihm, die so unterschiedlichen Motive des jungen Laubs, des ehrwürdigen, schon damals fast
1000 jährigen Standbilds und seiner eigenen Emotion in den extrem reduzierten Rahmen
eines Hokku zu fassen - ein eindrücklicher Beweis der Unmittelbarkeit und Authentizität
seines Dichtertums. Dadurch, dass er in Vers 2 nicht das Wort »Tränen«, sondern »Tropfen
(shizuku) verwendet, spricht er auch den ganzen Hintergrund der Legende (Salzflut und
Blindwerden) an.

46)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Der Ruf des Kuckucks


verliert sich in der Weite –dort
eine ferne Insel

ほととぎす消えゆく方や島一つ

ほととぎすきえゆくかたやしまひとつ

Japanischer Kuckuck – Sommer

Datierung : 1688.
Hotofogisu, der kleine japanische Kuckuck auf Deutsch »Gackelkuckuck« genannt wird in der
alten Waka-Dichtung tausendfach besungen. Er Ist als Motiv fast so wichtig wie Kirschblüten
und Mond. Da der Vogel selbst kaum zu sehen ist, beschwört man vor allem seinen Ruf. Seit
alten Zeiten wartete man gespannt darauf, die ersten Laute des Gackelkuckucks zum
Sommeranfang im 5. Monat zu vernehmen. Damit verband sich ein Strauß von
Empfindungen: Erinnerungen, Sehnsucht, Einsamkeit, unbehaustes In-die-Feme-Schweifen.
Basho erfasst diese Stimmungslage in genialer Weise, indem der Blick dem Ruf des Vogels zu
folgen trachtet und dabei die Umrisse der fernen Insel entdeckt. Es soll sich dabei um die
Insel Awaji handeln, von der Küste von Suma (im heutigen Raum Kobe) aus gesehen.

47)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Tonkrüge: Krakenfallen
Ein Ort flüchtiger Träume
unter dem Sommermond

蛸壺やはかなき夢を夏の月

たこつぼやはかなきゆめをなつのつき

Sommermond –Sommer

Datierung: 1688. Vorspann: »Die Nacht auf einem Boot vor Akashi zugebracht.«

Auf seiner Reise nach Suma und Akashi (Küstengegend der heutigen Stadt Kobe) sah Basho
die merkwürdigen Tonkrüge zum Einfangen von Kraken. Die Krüge wurden vor dem Abend
auf den Meeresgrund abgesenkt, die Kraken krochen über Nacht hinein, weil sie sie für
geeignete Ruheplätze hielten, und am Morgen früh zog man die Krüge herauf. Die
Kombination der geschichtsträchtigen Gegend mit den profanen Tonkrügen, der nicht sehr
poetischen Meeresbewohner mit den Motiven Mond, Traum einer kurzen Sommernacht,
Illusion und Unbeständigkeit dieser Welt hat diesem Hokku zu besonderer Popularität
verholfen.
Eventuell entstand es erst Jahre später.

48)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Selbst über den Herbst hinaus


will der Schmetterling weiterschlürfen
vom Chrysanthementau

秋をへて蝶もなめるや菊の露

あきをへてちょうもなめるやきくのつゆ
Datierung: 1688.
Laut einer chinesischen Überlieferung verleiht das Wasser aus einer Flussquelle‚ in deren
Umgebung viele Chrysanthemen blühen, denjenigen, die davon trinken, Langlebigkeit.
Dieser Gedanke wird hier auf den Tau in Chrysanthemenblüten übertragen. Der im Frühling
aus der Verpuppung geschlüpfte Schmetterling will sich so, weit über die ihm zugemessene
Zeit hinaus, am Leben halten - eine schöne Metapher auch für menschliches Bestreben.
Einer der Kommentatoren weist diese Erläuterung allerdings zurück. Er bezieht das Hokku
auf das Chrysanthemenfest am 9. Tag des 9. Monats (Anfangs Oktober nach dem westlichen
Kalender). Der an diesem Tag getrunkene Sake mit Blütenblättern der Chrysantheme gilt als
Lebenselixier (hier wird mit »Chrysanthementau » darauf angespielt). Das Hokku hat
demnach folgende Bedeutung: Der Schmetterling, der bis zu diesem Zeitpunkt im Herbst
glücklich überlebt hat, nippt zur Feier des Tages am Chrysanthemen-Sake.

49)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Rote Pflaumenblüten!
Sie wecken zarte Gefühle
hinter dem Perlenvorhang

紅梅や見ぬ恋作る玉すだれ

こうばいやみぬこいつくるたますだれ
Datierung: 1689
In einem längeren Vorspann ist von einem Gang durch den Palastbezirk in Kyoto die Rede.
Die Pflaumenbäume sind voll erblüht, es duftet, man hört Musik, hier ist wahrhaftig das
Paradies… Wie stark diese Szenerie fiktionalisiert ist, lässt sich schwer sagen. Sicher ist, dass
durch sprachliche Anklänge an No-Spiele und an die Dichtung der Heian-Zeit die Atmosphäre
der höfischen Kultur im Genji monogatari lebendig werden soll. Der Perlenvorhang wird in
diesem Zusammenhang mit erotischen Beziehungen assoziiert. Es könnte sich auch um ein
Hokku aus der Jugendzeit des Dichters handeln.

50)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Hinter der Grastür


leben jetzt andere – meine Klause
nun ein Puppenheim

草の戸も住替るぞひなの家
くさのともすみかわるよぞひなのいえ

Puppe (vom Puppenfest) – Frühling

Datierung: 1689.
Erläuternde Zusätze von Basho besagen, dass er seine »Grashütte« zur Bananenstaude der
Familie eines Bekannten, mit Tochter und Enkelkind, überlassen hat. Das Hokku suggeriert,
dass die neuen Bewohner zur Zeit des Puppenfests (3. Tag, 3. Monat 1689) bereits dort
verweilten. Basho bereitete sich im Haus seines Gönners Sugiyama Sanpu auf die wichtigste
Reise seines Lebens vor, die im Oku no hosomichi (»Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland)
beschrieben ist. Das vorliegende Hokku ist das erste in diesem Text. Er fügte dort bei: Diese
Verse ließ ich an den Türpfosten geheftet zurück.« Der endgültige Abschied von seiner
Klause fiel ihm offensichtlich nicht leicht, obwohl auch Freude über das neue und
andersartige Leben, das dort Einzug hielt, mitschwingt.

51)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Der Lenz nimmt Abschied


Vögel klagen, die Augen der Fische
sind voller Tränen

行春や鳥啼魚の目は泪

ゆくはるやとりなきうおのめはなみだ

Datierung: 1689. Oku no hosomichi, 2. Abschnitt.

Basho verabschiedet sich von seinen Freunden in Edo, die ihn ein Stück weit mit dem Boot
geleiten, am 27. Tag des 3. Monats. Er verbindet den Abschied mit dem Motiv des
scheidenden Frühlings, dem Vögel und Fische, das heißt die ganze Natur, nachtrauern.
Dieses Hokku zeigt uns Bashos Genie in seiner vollen Entfaltung. Im Unterschied zu den
meisten Kommentaren ist es meiner Meinung nach als bewusst doppeldeutige, tröstlich-
humorvolle Anrede an die Schüler und Freunde zu interpretieren. tori naki bedeutet ‚die
Vögel zwitschern/singen‘, kann aber auch als ‚klagen/weinen‘ verstanden werden. Und die
Tränen in den Augen der Fische, die ja im Wasser leben, sind eine geradezu surrealistische
Vorstellung. Die Trauer ist also nicht allzu ernst zu nehmen. Der Dichter überspielt seine
zweifellos echte Rührung mit seinen hochpoetischen, humorvollen Versen. In diesem Fall
trifft der Kurzkommentar von Jane Reichhold (S. 316 f.) ins Schwarze.
52)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Oh, ehrwürdiger Ort!


Dunkelgrüne und junge Blätter
Vor Sonnenstrahlen

あらたうと青葉若葉の日の光

あらとうとあおばわかばのひのひかり

Datierung: 1689.
Der 6. Abschnitt im Oku no hosomichi berichtet, wie Basho mit seinem Wandergefährten
zum berühmten Tokugawa-Schrein (Toshogu) in Nikko gelangt. Er ist von der Aura des
Schreinbezirks überwältigt, wo sich das dunkle Grün der Nadelbäume (Baumnadeln von
Kiefern, Zedern usw. werden im Japanischen auch als »Blätter« bezeichnet) mit den jungen
Blättern der Laubbäume durchmischt und wo die hier und dort durchscheinenden
Sonnenstrahlen eine feierliche Atmosphäre schaffen. Das Hokku ist zudem ein Grußgedicht
an den aufgsuchten Ort. Denn die Schriftzeichen für hi (no) hikari sind gleichzeitig auch
dieselben Zeichen, mit denen der Ortsname »Nikko« geschrieben wird.

53)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Anfänge des Dichtens:


Die Reispflanzlieder
des Hinterlandes

風流の初やおくの田植うた

ふうりゅうのはじめやおくのたうえうた

Reispflanzlieder – Sommer

Datierung! 1689. Oku no hosomichi, Abschnitt 15.

Auf der Wanderung nach Nordosten gelangt der Dichter zur Poststation von Sukagawa wo er
im Haus des Dichter-Freundes Tokyu verweilt. Wir haben hier eine Form der Begrüßung und
eine Art Huldigung an die Gegend vor uns, die Basho aufsucht. oku weist auf das »innere,
hintere Land« (O shu) hin, d.h. auf die abgelegenen Gegenden von Nordostjapan. Die Verse
bilden das erste Glied einer Gedichtkette, die im Haus des Freundes entsteht. Insofern ist sie
der Anfang der künstlerischen Betätigung (furyu). Doch Basho will ohne Zweifel über diesen
konkreten Sinn hinausgehen, indem er gleichzeitig auf ein allgemeines Konzept - die
Entstehung der Poesie aus den Rhythmen und Gesängen bei der Feldarbeit anspielt.

54)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Sommergras –
Der Kriegshelden
letzte Traumspur

夏草や兵友がゆめの跡

なつくさやつわものどもがゆめのあと

Datierung: 1689. Ok uno hosomichi, Abschnitt 30.


Basho hat Hiraizumi erreicht, die ehemalige Domäne von Fujiwara Hidehira, letzter
Zufluchtsort des mittelalterlichen Kriegshelden Minamoto no Yoshitsune (Ende 12.Jh.). Hier
fiel dieser mit seinen Getreuen - eine allbekannte Episode der japanischen Geschichte. Der
Dichter überblickt die Gegend der früheren Residenz und des Schlachtfeldes vom Hügel
Takadachi aus und zitiert aus dem Gedicht »Frühlingslandschaft« von Du Fu: »Das Land ist
zerstört, doch es bleiben die Berge und Ströme, / mit üppigem Grün hat der Frühling die
Stadt bedeckt ...« Er setzt sich nieder und weint; darauf folgt das vorliegende Hokku. Auch
wenn man annimmt, dass das Hokku erst im Nachhinein entstanden ist und dass diese Szene
im Sinne einer poetischen Wahrheit bewusst so fingiert wurde, ändert das nichts daran, dass
wir hier eine von Bashos stärksten Metaphern für die Vergänglichkeit und Nichtigkeit des
menschlichen Strebens vor uns haben. (Zitat von Du Fu nach V. Klöpsch, Der seidene Faden
Gedichte der Tang, Frankfurt a. M. 1991, S. 147.)

55)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Zu Flöhen, Läusen
noch ein Ross, das Wasser lässt
gleich neben dem Kissen

蚤虱馬の尿する枕もと

のみしらみうまのばりするまくらもと
Floh/Laus – Sommer

Datierung; 1689. Oku no hosomichi, Abschnitt 31.


Wege und Unterkünfte in den abgelegenen und gebirgigen Gegenden ließen ohne Zweifel zu
wünschen übrig. Hier allerdings sehen wir den Dichter, wie er mit drastischem Humor die
Sache auf die Spitze treibt. Auch dieses Hokku wurde vermutlich erst später bei der
Niederschrift des Oku no hosomichi aus der Erinnerung notiert.

56)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Stille…
das Sirren der Zikaden sickert ein
in den Fels

閑さや岩にしみ入蝉の聲

しずかさやいわにしみいるせみのこえ

Zikade – Sommer

Datierung: 1689. Oku no hosomichi, Abschnitt 34.


Der abendliche Pilgerrundgang im Ryushaku-ji, auch Yamadera (Bergtempel) genannt,
inspirierte den Dichter zu einem seiner berühmtesten Verse. Die paradoxe Vorstellung, dass
in der Hitze des Sommers der sirrende Ton in den harten Fels eindringt, ist der Inbegriff einer
wunderbaren Synästhesie von Phänomenen des Hörsinns und des Tastsinns. G. S. Dombrady
(1985) hat dieses Hokku wie folgt übersetzt: »Stille . . .! / Tief bohrt sich in den Fels / das
Sirren der Zikaden ...« Diese an sich sehr schöne Übertragung stößt sich am Problem, dass
das Verb shimiiru nicht ein Bohren in hartem Gestein meint (obwohl das bisweilen scharfe
Schrillen der Insekten diese Assoziation nahelegt), sondern eher einen osmotischen Vorgang
bezeichnet, ein langsames Eindringen und Verschmelzen. So entsteht ein meditativer
Innenraum jenseits aller Rationalität, in dem die Gegensätze aufgehoben sind.

57)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Er hat die glühende


Somme ins Meer versenkt –
der Mogami – Fluss
暑き日を海にいれたり最上川

あつきひをうみにいれたりもがみがわ

Heißer Tag, heiße Sonne – Sommer

Datierung: 1689. Oku no hosomichi, Abschnitt 39.

Basho und sein Gefährte sind am 13. Tag des 6. Monats, also im Hochsommer, an der
Mündung des Flusses Mogami bei Sakata ans japanische Meer gelangt und atmen auf
angesichts der leichten Abkühlung gegen Abend. atsuki hi kann sowohl ‚heißer Tag‘ wie
‚heiße Sonne‘ bedeuten. Die Vorstellung, dass der Fluss die glühende Kugel der
untergehenden Julisonne ins Meer hinausträgt und versenkt, ist noch etwas spektakulärer,
als wenn es nur die Hitze des Tages wäre. Der Dichter begrüßt die Mehrdeutigkeit ohne
Zweifel. Wieder gelingt ihm eine starke synästhetische Wirkung.

58)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Raue See – nach Sado


Hinüber wölbt sich gewaltig
der Himmelsfluss …

荒海や佐渡によこたふ天河

あらうみやさどによこたうあまのがわ

Milchstraße/Himmelsfluss – Herbst

Datierung: 1689. Oku no hosomichi, Abschnitt 41.


Entstanden am 4. Tag des 7. Monats (17. August nach westlicher Zeitrechnung) in Izumozaki
am japanischen Meer. Weit drüben liegt die als Verbannungsinsel bekannte Insel Sado, die in
der Nacht allerdings unsichtbar, also imaginiert ist. Dieses berühmte Hokku lebt vom
Gegensatz zwischen Erde (wild wogendes Meer, einsame Insel, menschliche Schicksale
insbesondere die der Verbannten) und dem Anblick der Milchstraße (im Japanischen, hier
amanogawa »Himmelsfluss») die unbeteiligt zwar, aber in majestätischer Pracht alles
umfließt.

59)
MATSUO BASHO (1644-1694)

In der gleichen Herberge


Schliefen auch Freudenmädchen –
Buschkleeblüten und Mond

一つ家に遊女もねたり萩と月

ひとついえにゆうじょもねたりはぎとつき

Buschklee/Mond – Herbst

Datierung: 1689. Oku no hosomichi, Abschnitt 42.

Der umgebende Text berichtet ungewöhnlich ausführlich vom zufälligen Zusammentreffen


mit zwei Freudenmädchen, die sich auf einer Pilgerreise nach Ise befanden. Vers 3 betont
den Abstand zwischen den ungleichen Reisenden: einerseits die Mädchen, reizend wie
Blüten des Buschklees (der auch sonst oft mit Erotik assoziiert wird), andererseits Basho und
sein Begleiter, die wie Mönche auftreten und der buddhistisch geläuterten Welt des Mondes
zuzurechnen sind. Dennoch gehören sie in einem umfassenden Sinn zusammen, als
herbstliche Landschaftsszenerie: blütenbeladene Büsche unter dem hellen Vollmond. Man
geht davon aus, dass diese Episode später geschrieben und bewusst imaginiert wurde. So
wie beim Kettendichten an bestimmten Stellen im Ablauf das Thema »Liebe« vorgeschrieben
ist, so wollte Basho auch in seinem poetischen Reisebericht zumindest an einer Stelle ein
Motiv einfügen, das in diese Richtung weist.

60)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Erster Winterregen
Selbst der Affe hätte gerne
Ein Strohmäntelchen

初しぐれさるも小蓑をほしげ也

はつしぐれさるもこみのをほしげなり

Erster Winterregen –Winter


Datierung: 1689. Diese Verse entstanden bei der Überquerung der Berge von Ise in die
Provinz Iga, als sich Basho nach der Rückkehr von seiner großen Reise in die »Hinterlande«
auf dem Weg in seine alte Heimat Ueno befand. Sie leiten die wichtige Sammlung Sarumino
(»Das Affenmäntelchen») ein, die seine Schüler 1691 unter seiner Aufsicht
zusammenstellten, und sie dienen als Namengeber. Das zeigt, dass diesem Hokku eine
programmatische Bedeutung zukommt. »Erster Winterregen» ist zwar ein altes Motiv, das
die Härte des Wintereinbruchs beklagt. Bei Basho aber erhält es eine neue Nuance: Ein
früheres Hokku drückt aus, wie er sich trotz den Widrigkeiten frisch-fröhlich auf
Wanderschaft begibt. Und der Affe, dem er begegnet, ist nicht einfach eine
bemitleidenswerte Kreatur; er lebt im Freien, er weiß sich zu helfen.
Man geht nicht fehl, wenn man den Affen als alter ego, als ein leicht selbstironisches
Konterfei des Dichters versteht. Basho hat hier die letzte Stufe seiner Kunst, eine befreite
humorvolle Leichtigkeit, erreicht.

61)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Aus allen Richtungen


Wehen die Blüten herbei, bedecken
die Wellen des Biwa-Sees

四方より花吹入てにほの波

しほうよりはなふきいれてにおのなみ

Kirschblüte – Frühling

Datierung: 1690.
Ein Grußvers an Bashos Gastgeber, den Arzt und Dichter Hamada Chinseki, in dessen Haus
Sharaku-do in Zeze (heute auf dem Gebiet der Stadt Otsu am unteren Ende des Biwa Sees).
Vom Hügel aus bot sich ein prächtiger Rundblick. nio, der Name eines Vogels, steht hier für
den Biwa-See. Das Jahreszeitenwort beschränkt sich zwar einfach auf hana (‚Kirschblüte‘), im
Hintergrund steht aber das Phänomen des rakka (abfallende Blüten) und des hanafubuki
‚Blütengestöber‘). Das Hokku bringt die besondere Magie des Ortes und des Zeitpunkts in
schöner Weise zum Ausdruck. Die abgefallenen Blütenblätter auf der glatten Fläche des
Biwa-Sees sind schon im Waka ein beliebtes Motiv, das hier ins Hokku übernommen ist. (Vgl.
Gäbe es keine Kirschblüten…, Reclam 2009, S. 90/91.)

62)
MATSUO BASHO (1644-1694)

Schneidender Frühling
Mit den Leuten aus Omi
trauerte ich ihm nach

行春を近江の人とをしみける

ゆくはるをおおみのひととをしみける

Schneidender Frühling – Frühling

Datierung: 1690. Vorspann: »Mit dem Blick über die Wasserfläche [des Biwa-Sees] trauere
ich dem Frühling nach. «

Aus anderen Zusätzen geht hervor, dass sich dieses Hokku auf eine Bootsfahrt mit Freunden
bezieht. Es sind schlichte Verse, deren Ausstrahlung offensichtlich mit dem Zeitpunkt und
noch mehr mit dem Ort zusammenhängt. Der alte Provinzname » Omi« (die heutige Shiga-
Präfektur rund um den Biwa-See) weckt so viele landschaftliche und literarisch-kulturelle
Assoziationen, dass diese einen poetischen Raum zu erschaffen vermögen. Der Dichter fühlt
sich hier verstanden und von Freundschaft umgeben. Er wird sich nun (mit
Unterbrechungen) mehr als ein Jahr in dieser Gegend aufhalten.

63)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Leuchtkäferschau!
Ein beschwipster Fährmann
Das Boot schwankt bedenklich!

蛍見や船頭酔うておぼつかな

ほたるみやせんどうようておぼつかな

Leuchtkäferschau – Sommer
Datierung: 1690. Vorspann: »Leuchtkäferschau in Seta»
Das klassische Motiv der Leuchtkäferschau oder Leuchtkäferjagd wird hier mit dem
betrunkenen Fährmann und seinen gefährlichen Manövern verbunden. Das Hokku lässt die
ausgelassene Stimmung am Seta-Fluss (Ausfluss aus dem Biwa-See) aufleben, der damals im
Sommer als Leuchtkäfer-Attraktion galt. Man konnte Boote mieten, aber die ziemlich starke
Strömung verlangte entsprechende Aufmerksamkeit und Vorsicht.

64)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Sie hat keinen Schimmer


Dass sie bald stirbt – Zikade
Mit ihrem Geschrill

頓て死ぬぇしきは見えず蝉の聲

やがてしぬけしきはみえずせみのこえ

Zikade – Sommer

Datierung: 1690. Den Versen ist wie eine Überschrift der Vorspann »Rasche Vergänglichkeit»
vorangestellt.
Die Zikade mit ihrem lauten, geradezu aufdringlichen Sirren ist ein Wahrzeichen des
Japanischen Sommers. Sie stirbt nach der langen Entwicklung zum ausgewachsenen Insekt
und nach der Paarung innerhalb eines Monats ab. So gesehen ist sie für Basho ein Sinnbild
des Flüchtigen, Unbeständigen. Und doch hat man den Eindruck, dass er hier eher den
anderen Aspekt, die ungeheure Lebensenergie im Augenblick des Daseins, auch als Vorbild
für die Menschen, hervorheben will.

65)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Austrinken!
Wir brauchen’s zum Blütengesteck
das Dreiliterfässchen

飲み明けて花生にせん二升樽
のみあけてはないけにせんにしょうだる

(Kirsch-)Blüte – Frühling

Datierung: 1691.
Als sich der Dichter zur Kirschblütenzeit in seinem Heimatort Ueno in der Provinz Iga
aufhielt, schickte ihm jemand aus der Nachbarprovinz verschiedene Gaben zu, unter
anderem ein Sake Fässchen. Basho versammelte viele Adepten um sich; es wurde ein
Kettengedicht in Angriff genommen, wobei die vorliegenden Verse als Ausgangspunkt
dienten. Sie greifen auf ein Motiv des chinesischen Dichters Du Fu zurück: leeres Weihgefäß
als Blumenvase.

66)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Kläglich verkümmerte Brunst


Wegen schlechter Grütze?
Die Katzendame

麦めしにやつるる恋か猫の妻

むぎめしにたつるるこいかねこのつま

Katzenfrau – Frühling

Datierung: 1691. Vorspann: »In einem Bauernhaus.« »Die rollige Katze« ist ein allgemein
beliebtes Frühlingsmotiv in der gesamten Haikai Dichtung. Hier fällt dem Dichter ein Tier in
der Umgebung eines Bauernhauses in die Augen. Man kann das Hokku in zwei Nuancen
verstehen: Ist die Katze wegen des schlechten Fraßes und zudem noch wegen der Brunstzeit
dermaßen heruntergekommen? Oder: Ist ihre Brunst wegen des schlechten Fraßes
dermaßen verkümmert? In beiden Fällen scheint das Hokku auch auf ärmliche Verhältnisse
auf dem Land hinzudeuten. Es ist ein weiteres Beispiel für Bashos humorvolle, mitfühlende
Beobachtung von allerhand kleinem Getier.

67)

MATSUO BASHO (1644-1694)


Altersschwach, verbraucht!
Ich biss auf ein Sandkorn
im Meertang

衰や歯に喰あてし海苔の砂

おとろいやはにくいあてしのりのすな

Seetang – Frühling

Datierung: 1691.
Ein kleiner, alltäglicher Vorfall bringt dem Dichter schlagartig sein Alter und seine Anfälligkeit
zum Bewusstsein. Ein plötzlicher Schreck durchfährt ihn, der in keinem Verhältnis zum
banalen Anlass zu sein scheint.

68)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Regenzeit – es gießt!
Und an den Wänden die Spuren
Abgehängter Verse

五月雨や色紙へぎたる壁の跡

さみだれやしきしへぎたるかべのあと

Regen im 5. Monat – Sommer

Datierung: 1691. Vorspann: »In der Absicht, morgen aus dem Haus auszuziehen, ging ich von
hinten nach vorn durch alle Räume mit Bedauern über den Abschied. «
Basho wohnte vom 18. Tag des 4. Monats bis zum 5. Tag des 5. Monats in einem Landhaus
seines Schülers und Freunds Mukai Kyorai in Saga nordwestlich von Kyoto. samidare ist der
«Regen des 5. Monats«‚ was der Regenzeit im Juni (nach westlicher Zeitrechnung)
entspricht. shikishi ist ein beinahe quadratisches dickes Papier, das für Pinselschriften oder
Zeichnungen verwendet wird (es gibt dafür kein treffendes deutsches Äquivalent). Nach
meinem Verständnis handelte es sich um an die Wand geheftete Hokku-Verse seien es
solche von Basho selbst oder von Kyorai -‚ die leichte Spuren hinterlassen haben. Einige
Kommentare schließen aus den »Spuren an den Wänden«‚ dass das Haus baufällig war und
sich Regenspuren an den Wänden zeigten - keine Schlussfolgerung, die sich aufdrängt. Der
Dichter gibt seiner Abschiedsstimmung Ausdruck: draußen der unaufhörliche Regen, drinnen
kahle Räume.

69)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Wenn du zu viel sprichst:


Kalte Lippen
Herbstwind …

物いへば唇寒し秋の風

ものいえばくちびるさむしあきのかぜ

Datierung: unbekannt (evtl. 1691). Vorspann: »Wahlspruch: Sag nichts über die Schwächen
anderer, lass dich nicht aus über die eigenen Stärken. «
Der Vorspann ist ein Zitat aus der klassischen chinesischen Anthologie Wen Xuan (Buch 28),
das vom Dichter in eine extrem reduzierte Hokku-Fassung übertragen und offenbar zum
Grundsatz eigenen Verhaltens gemacht wird. Eine bei Basho und im Hokku allgemein eher
seltene Form lehrhafter Reflexion, allerdings mit einem charakteristischen großen
Gedankensprung von der Untugend des Schwatzens zur Kälte des Herbstwinds.

70)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Brünstiges Katzengeschrei
Endlich vorbei – nun scheint der verschleierte
Mond ins Schlafgemach

猫の恋やむとき閨の朧月

ねこのこいやむときねやのおぼろづき

Katzenbrunst / verschleierter Mond – Frühling


Datierung: 1692.
Ein Hokku mit zwei Jahreszeitenwörtern ist eher ungewöhnlich. Hier beleuchten sie zwei
völlig verschiedene Aspekte in bewusstem Gegensatz. Das leidenschaftliche Treiben der
rolligen Katzen mit ihrem lauten Geschrei weckt den Schläfer. Erst etwas später nimmt er
den im Frühjahr oft verschleierten Mond wahr, Inbegriff einer stillen, sehnsuchtsvollen,
traumhaften Poesie. Beides gehört zum Frühling.

71)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Jedes Jahr wieder


Tanzen die Affen – vermummt
hinter Affenmasken

年々や猿に着せたる猿の面

としどしやさるにきせたるさるのめん

Neujahr

Datierung: Neujahr 1693.


Auch wenn in diesem Fall kein kanonisches Jahreszeitenwort zu verzeichnen ist, bezieht sich
das Hokku eindeutig auf die Vorführung von Affentänzen zum Jahresbeginn (mit Jahr um
Jahr wechselnden Masken). Im Sanzoshi des Basho-Schülers Hattori Doho (1702) steht über
den Anlass der Zeilen: »An diesem Neujahrstag sagte der Meister: Ich habe mir da eine
Nebenbemerkung erlaubt, dass die Leute am selben Ort stehen bleiben und dann bedauern,
dass sie jedes Jahr wieder in denselben Trott verfallen. « Es handelt sich also um eine
ziemlich sarkastische tierische Metapher für die Trägheit der menschlichen Natur: Affen und
Menschen bleiben dieselben, auch wenn die Masken wechseln.

72)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Nur einmal im Jar


Pflückt man es, hält es in Ehren
Das Hirtentäschel

一とせいに一度つまる々菜づなかな
ひととせいにいちどつまるるなずなかな

Hirtentäschel – Frühling

Datierung: 1694.
Das Hirtentäschel ist ein bescheidenes Pflänzchen am Wegrand, das in der Regel als Unkaut
behandelt wird. Doch es gehört zu den »Sieben Kräutern«, die seit der Heian-Zeit am 1 Tag
des Jahres als erste frisch gesprossene Gemüse zeremoniell gepflückt und zubereitet wird.
Auch aus diesem Hokku mag man Bashos Neigung zum Kleinen, Unscheinbaren herauslesen.

73)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Pflaumenblütenduft –
Mächtig bricht die Sonne hervor
Über dem Bergweg

むめが々にのっと日の出る山路かな

むめがかにのっとひのでるやまじかな

Pflaumenblüte – Frühling

Ein Musterbeispiel für die programmatische »Leichtigkeit«, »Schwerelosigkeit« (karumi) von


Bashos letzter Schaffensperiode. Die Kommentare heben vor allem den für das Hokku neuen
umgangssprachlichen Ausdruck notto (»plötzlich», »mit einem Schlag», »mächtig») hervor,
der die erfrischende frühe Morgenstimmung einfängt und den Versen ihe Kraft und
Spontaneität verleiht. Drei unterschiedliche Sinneswahrnehmungen werden angesprochen:
der feine Duft der Pflaumenblüte, das plötzliche grelle Licht und der unvermittelte Wechsel
von der Morgenkälte (es ist noch früh im Jahr) zu den Wärmenden Sonnenstrahlen.

74)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Die ganze Sippe


Tritt zum Grabbesuch an – auf Stöcken
gestützt, mit schlohweißen Haaren
家はみな杖にしら髪の墓参

いえはみなつえにしらがのはかまいり

Grabbesuch – Herbst

Datierung: 1694 Vorspann: »Als ich mich im Sommer 1694 in Otsu aufhielt, kam von meinem
älteren Bruder die Aufforderung, ich möge in die Heimat zurückkehren und am Bon-Fest
teilnehmen. «
Basho hatte sich schon im Frühsommer, direkt von Edo aus, in die Heimat Ueno begeben.
Nun bedurfte es offenbar der ausdrücklichen Bitte des Bruders, ihn nochmals zum Bon-Fest
dorthin zu locken. Der Grabbesuch bringt ihm zum Bewusstsein, wie alt alle - auch er selbst -
geworden sind und dass keine Nachkommen da sind, die das Haus weiterführen würden.
Ohne Zweifel eine traurige Einsicht, die ihn beschäftigt. Aber ist es falsch, aus dem Worlaut
auch eine gewisse Distanzierung, sogar einen gewissen Grad von Komik herauszuhören?
»Die ganze Sippe an Stöcken, mit weißen Haaren . . ‚« Auch dies scheint mir zur
»Leichtigkeit» (karumi) seines Spätstils zu gehören.

75)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Denk bitte nicht


dass ich deiner nicht wert war!
Allerseelen-Fest

数ならぬ身とな思ひそ玉祭

かずならぬみとなおもいそたままつり

O-Bon, das japanische „Allerseelen-Fest“ – Herbst

Datierung: 1694 (zur selben Zeit wie Nr. 74).


Dies ist Bashos einzige dichterische Äußerung, die auf eine tiefe, andauernde Beziehung zu
einer Frau schließen lässt. Die spärliche Überlieferung sagt: Eine Frau namens Jutei war in
jungen Jahren Bashos Geliebte. Später wurde sie Nonne. Von 1693 an wohnte sie in Bashos
Nachbarschaft. Als Basho im 5. Monat 1694 zu seiner letzten Reise ins Kansai-Gebiet
aufbrach, zog sie in seine Hütte ein, verstarb aber daelbst zu Beginn des 6. Monats. Die
Nachricht erreichte Basho am 8. Tag desselben Monats. Als er dann zum Bon-Fest in seiner
Heimat weilte‚ gedachte er mit diesen Versen auch seiner Gefährtin. Anstelle von O-Bon
steht hier der Ausdruck tamamatsuri ‘Seelenfest‘, weshalb mir die Übersetzung
»Allerseelen-Fest«‚ losgelöst vom westlichen Kontext, nicht unangebracht scheint. Die Verse
1 und 2 wurden bisher so gedeutet: »Denk ja nicht, du seist eine geringe Person gewesen,
die für mich nicht zählte. « Die neuste, von Bessho Makiko gestützte Auslegung bezieht
jedoch kazu naranu mi auf den Dichter selbst: »Halte mich bitte nicht für einen, der deiner
(Liebe) nicht wert war! « Ohne Zweifel ein stärkerer Ausdruck der Verbundenheit und
Hochschätzung.

75)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Diesen Herbst
Bin ich so gealtert – warum nur?
In den Wolken ein Vogel

此秋は何で年よる雲に鳥

このあきはなんでとしやるくもにとり

Herbst

Datierung: 1694. Vorspann: »Gedanken unterwegs.«


Entstanden am 26. Tag des 9. Monats (Ende Oktober nach westlicher Zeltrechnung). Basho
ist vor 18 Tagen in Osaka angekommen, er fühlt, Wie seine Kräfte schwinden. Wie der Vogel
in den Wolken war er selbst immer auf Wanderschaft, immer zu neuen Horizonten
unterwegs gewesen. Doch nun nimmt er zu seiner Bestürzung wahr, dass ihm dieses
Selbstbild, dieses Lebensmodell allmählich entgleitet.

77)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Tiefer Herbst!
Was ist mein Nachbar für ein Mensch?
Was tut er wohl?
秋深き隣は何をする人ぞ

あきふかきとなりはなにをするひとぞ

Tiefer Herbst – Herbst

Datierung: 1694.
Am 29. Tag des 9. Monats sollte Basho in Osaka an einer Haikai- Zusammenkunft mit seinen
Schülern teilnehmen. Da er am Vorabend spürte, dass ihm dies krankheitshalber nicht
möglich sein würde, schickte er diese Verse. Daraus spricht ein Bedürfnis nach Nähe, nach
menschlicher Wärme, aber im Hintergrund ist auch Einsamkeit und Resignation spürbar. Im
»tiefen Herbst« klingt zugleich der Spätherbst des Lebens an. Der Dichter formuliert jedoch
ohne Bezugnahme auf seine konkrete Lage. Man soll dieses Hokku als ganz allgemeine
Formulierung einer menschlichen Grundsituation verstehen.

78)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Krank auf Reise-


die Träume irren umher
über öde Felder

旅に病で夢は枯野をかけ廻る

たびにやんでゆめをかえのをかけめぐる

Ödes/verdorrtes Feld – Winter

Datierung: 1694. Vorspann: »Verfasst während der Krankheit. « Dies gilt als letztes Hokku
Bashos, notiert in der Nacht vorn 8. zum 9. Tag des 10. Monats, drei Tage vor seinem Tod.
Doch ist es kein »Abschiedsgedicht von dieser Welt« (jisei). Bis zu allerletzt ist der
Wanderdichter unterwegs, und sei es, dass er nur noch im Traum über weite Winterfelder
dahinirrt. Es gibt nichts Abgeklärtes, Tröstliches in diesen Zeilen, eher ein letztes Aufbäumen,
einen absoluten Willen, sich selbst treu zu bleiben, die Reise fortzusetzen.

79)

MATSUO BASHO (1644-1694)

Kiyotaki – klarer Wasserfall


Grün wirbeln junge Kiefernadeln
in seinen Strudeln

清滝や波に散込む青松葉

きよたきやなみにちりこむあおまつば

Ohne klassifiziertes Jahreszeitenwort – Sommer

Datierung: 1694 (6. Monat, revidiert im 10. Monat).


Kiyotaki, in der wörtlichen Bedeutung ‘klarer Wasserfall‘, bezeichnet als Ortsname einen
Weiler und einen Bergbach in den Bergen hinter Saga-Arashiyama, nordwestlich von Kyoto.
Hier wird der Name auch in einem verallgemeinerten Wortsinn gebraucht. Im Hintergrund
steht unausgesprochen das im Hokku populäre Konzept des aoarashi (»grüner Sturmwind»).
Im Mai/Juni weht bei schönem Wetter oft ein recht heftiger Südwind, der einzelne junge,
grüne Blätter oder, wie hier, Kiefernnadeln von den Bäumen reißt und durch die Luft wirbelt.
Damit assoziiert man - vor dem Einsetzen der großen Sommerhitze Frische,
Aufbruchsstimmung, Schönheit und Lebendigkeit. Im vorliegenden Hokku erscheint dies
noch gesteigert dadurch, dass sich die Kiefernnadeln mit dem lauteren, schäumenden
Wasser des Bergbachs mischen. Es wird überliefert, dass Basho kurz vor seinem Tod, als
letzte dichterische Aktivität, dieses Hokku revidiert und in die vorliegende Fassung gebracht
hat.

80)

SUGIYAMA SANPU (1647-1732)

Hoch geschwungene Hacke


Aufblitzender Widerschein –
Über den Äckern Frühling

振上ぐる鍬のひかりや春の野ら
ふらぐるくわのひかりやはるののら

Frühling

Datierung: um 1702.
Die Hokku von Sugiyama Sanpu, der gleichzeitig Schüler und ein großer Mäzen Bashos war,
gelten als schlicht, klar, leicht nachvollziehbar. Im vorliegenden Fall wird ein einzelner
dynamischer Augenblick, das Aufglänzen von Metall, eingefangen. Aber darüber hinaus
evoziert dies auch die wiederholte Bewegung, das energische Werken, die
Aufbruchsstimmung des Frühjahrs. Es versteht sich, dass Bauern, ihre Arbeit, ihre Werkzeuge
erst jetzt im Rahmen des Hokku Erwähnung finden.

81)

UKIHASHI (? – 1716/36?)

Ob beim Aufstehn oder Schlafen –


Die gähnende Weite des Mückennetzes
Vor Augen …

起て見つ寝て見つ蚊帳の広サ哉

おきてみつねてみつかやのひろさかな

Moskitonetz – Sommer

Veröffentlicht 1694. Vorspann: »In Gedanken verloren…»


Lange wurde dieses Hokku der Dichterin Kaga no Chiyojo zugeschrieben und als Trauer über
den Tod ihres Gemahls interpretiert. Das kann nicht stimmen, wurde es doch lange vor ihrer
Geburt unter dem Namen der Kurtisane Ukihashi gedruckt. Was auch immer der Anlass
gewesen sein mag, es bringt die Einsamkeit und die Sehnsucht nach der Nähe eines Partners
auf indirekte, überraschende und berührende Weise zum Ausdruck.

82)

YAMAMOTO KAKEI (1648-1716)

Der Salzfisch
bleibt in den Zähnen stecken!
Es ist spät im Herbst

塩魚の歯にはさがふや秋の暮

しおうおのはにはさがうやあきのくれ

Spätherbst – Herbst

Datierung: vor 1691.


Ein an sich geringfügiger kleiner Vorfall beim Essen steht für das Älterwerden und die
Zunahme körperlicher Beschwerden. Die Verknüpfung mit dem Spätherbst hat gleichzeitig
einen komischen und einen deprimierenden Effekt. Der Winter steht vor der Tür, es herrscht
eine gedrückte Stimmung. Und nun kommt wie das Tüpfelchen aufs i auch noch der Ärger
mit den Fischgräten. Diese Verse lassen sich mit einem Hokku von Basho aus denselben
Jahren vergleichen (siehe Nr. 67). Sind sie gar im Wettstreit mit Basho entstanden?

83)

KAWAI SORA (1649-1710)

Mit Deutzienblüten
schmück ich mein Haupt – als Prunkgewand
beim Grenzübertritt

卯の花をかざしに関の晴着かな

うのはなをかざしにせきのはれぎかな

Deutzien – Sommer

Datierung: 1689. Oku no hosomichi, Abschnitt 14.


Basho und sein Begleiter Sora erreichen auf den »schmalen Pfaden durchs Hinterland die
berühmte und viel besungene Grenzschranke Shirakawa, die im Altertum während
Jahrhunderten die Verteidigungslinie gegen die sogenannten nördlichen Barbaren markierte.
Nach der Überlieferung durch den Dichter Fujiwara Kiyosuke (12. Jh.) soll damals ein Höfling
beim feierlichen Überschreiten sein zeremonielles Prunkgewand angezogen haben. Diese
Zeiten sind vorbei. Sora nimmt zwar darauf Bezug, aber begnügt sich mit den in voller Blüte
stehenden Deutzienzweigen auf seinem Haupt. Die Verknüpfung der weißen Dantzienblüten
mit der Grenzbarriere Shirakawa (wörtlich: weißer Fluss) ist ihrerseits auch schon ein Topos
aus dem Mittelalter.

84)

KAWAI SORA (1649-1710)

Wunder Matsushima!
Borg dir den Leib eines Kranichs
du kleiner Kuckuck

松島や鶴に身をかれほと々ぎす
まつshまやつるにみをかれほととぎす

Japanischer Kuckuck – Sommer

Datierung: 1689. Oku no hosomichi, Abschnitt 27.


Auf den »schmalen Pfaden durchs Hinterland« ist Basho mit seinem Weggefährten Sora in
der erträumten Küsten- und Inselwelt von Matsushima bei Sendai angekommen. Beide sind
von der Landschaft überwältigt. Basho schreibt an diesem Tag keinen eigenen Vers, aber
zitiert das obenstehende Hokku von Sora. In Anlehnung an ein altes Waka bringt es zum
Ausdruck, dass der kleine Zugvogel (hototogisu, japanischer Kuckuck, Gackelkuckuck) trotz
seines unverwechselbaren Rufens dieser Szenerie nicht gerecht wird. Da müsste er schon in
der Gestalt eines imposanten Kranichs daherkommen. Möglich, dass Sora mit dem
Gackelkuckuck sich selber im Auge hat und die etwas übertriebene Formulierung mit leiser
Selbstironie gewählt wird.

85)

KAWAI SORA (1649-1710)

Ich gehe gehe –


sollte ich fallen und liegen bleiben
dann auf dem Buschkleefeld

ゆきくてたふれ伏すとも萩の原

ゆきつきてたうれふすともはぎのはら

Buschkleefeld – Herbst

Datierung: 1689. Oku no hosomichi, Abschnitt 48.


Die lange Wanderung durchs »Hinterland« geht dem Ende entgegen. In Daishoji (in der
ehemaligen Provinz Kaga) am japanischen Meer trennen sich Basho und Sora; dieser eilt
voraus und begibt sich wegen körperlicher Beschwerden in die Obhut eines Onkels in der
Provinz Ise. Das Abschieds-Hokku bekräftigt seinen Willen, der dichterischen Berufung treu
zu bleiben, was auch kommen mag. Der Buschklee verweist auf den frühen Herbst, steht hier
aber auch metaphorisch für die Hokku-Dichtung, ja für die ganze lange Lyriktradition Japans.

86)

MUKAI KYORAI (1651-1704)


Was soll denn das!
… mit dem Langschwert gegürtet
zur Kirschblütenschau?

何事ぞ花みる人の長刀

Blütenschau – Frühling

Datierung: 1689.
Im Hokku eher selten: eine offene Kritik am Verhalten von Mitmenschen. Es scheint damals
bei jungen Samurai Mode gewesen zu sein, voll aufgetakelt mit den Insignien ihres Standes
(Kurz- und Langschwert), in selbstbewusster Pose, sich unter das festliche Publikum der
Kirschblüten-Bewunderer zu mischen. Kyorai geißelt dies in unverblümten Worten als
geschmacklos, unsensibel und anmaßend.

87)

MUKAI KYORAI (1651-1704)

Zur Holzglut hin


strecken sie ihre Füße – Eltern, Kinder –
schlafen in Armut

榾の火に親子足さす詫びねかな

ほだのひにおやこあしさすわびねかな

Brennholz – Winter

Kyorai malt hier eine Szene, wie er sie auf seinen Wanderungen in den Bergen im
abgelegenen Landesinnern oft angetroffen haben mag: Eine Bauernfamilie, die nur das
Nötigste zum Überleben hat, lagert sich nachts um die Feuerstelle, um sich, in Ermangelung
besserer Ausstattung, warm zu halten. Bei aller Bedürftigkeit der Protagonisten strahlt das
Hokku doch auch menschliche Wärme und Geborgenheit aus - ein sozial ausgerichtetes
Motiv, wie es vor der Basho-Zeit kaum als poesiewürdig erachtet worden wäre.

88)
MUKAI KYORAI (1651-1704)

Was ist Schwanz, was Kopf –


Nicht auszumachen!
Seegurke

尾頭のこ々ろもとなき海鼠哉

おかしらのこころもとなきなまこかな

Seegurke – Winter

Datierung: 1691 oder früher.


Ein berühmter humoristischer Einfall Kyorais. Die Seegurke ist ein merkwürdig groteskes
Lebewesen, das man mit Neugier und Verwunderung betrachtet und verzehrt. Ein
besonderer Witz liegt im Ausdruck kokoromoto naki (>bedenklich<, >unsicher<, >ungewiss<
‚<fraglich<, >undefinierbar<), in dem gleichzeitig auch noch das fehlende Herz (kokoro . . .
naki) steckt.

89)

HATTORI RANSETSU (1654-1707)

Im Blätterwedel des Baums


Bleibt er für eine Weile hängen
der Papierdrache

木の朶にしばしかかるや紙鳶

きのえだにしばしかかるやいかのぼり

Papierdrache – Frühling

Datierung: 1698.
Papierdrachen steigen zu lassen ist ein alter Brauch, der je nach Ort zu Neujahr oder
während der ganzen Frühlingszeit gepflegt wurde - nicht nur als Zeitvertreib für Kinder,
sondern auch als zeremonieller Anlass oder gar als Wettstreit zwischen Dörfern. Hattori
Ransetsu war auch Maler. Dieses Hokku weckt das Bild eines prächtigen Form- und
Farbkontrasts zwischen dem jungen Grün des Baums und dem bunt bemalten
Papierdrachen. Es zaubert so eine freudige, hoffnungsfrohe Frühjahrsstimmung hervor.

90)

HATTORI RANSETSU (1654-1707)

Ein einzelnes Blatt fällt –


Wahnsinn!! Ein einzelnes Blatt fällt
getragen vom Wind

一葉散る咄ひとはちる風の上

ひとはちるとつひとはちるかぜのうえ

Ein Blatt fällt – Herbst

Datierung: 18. Tag, 9. Monat 1707.


Ransetsus »Abschiedsgedicht von dieser Welt« (jisei). Viele Dichter haben vor dem Tod
Abschiedsgedichte geschrieben, doch dieses ist in meinen Augen eines der
eindrucksvollsten. Es verleiht dem allgegenwärtigen Bild des fallenden Blatts ungeahnte
metaphorische Kraft. Das Jahreszeitenwort hitoha erscheint schon im Waka und auch im
Hokku fast immer als kiri hitoha (ein Blatt der Paulownie / des Blauglockenbaums). Doch hier
muss es keineswegs auf eine bestimmte Baumart festgelegt werden. Die Besonderheit dieser
Verse liegt erstens in der Wiederholung, zweitens im Ausruf oder Aufschrei totsu!!!, der
tiefes Erschrecken oder auch heftiges Aufbegehren zum Ausdruck bringt und der die
Wiederholung bekräftigt. Drittens hebt die eher ungewöhnliche Wendung kaze no ue
(>auf/über dem Wind<) die Todesmetaphorik zusätzlich hervor. Das Blatt fällt eben gerade
nicht zu Boden, sondern entschwebt auf dem Wind ins Unbestimmte, Bodenlose. Ransetsu
soll sich im Alter stark dem Zen-Buddhismus zugewandt haben. Doch eine eindeutige
Verknüpfung dieses Hokku mit Zen würde konstruiert wirken. (Vgl. Kommentar und
Übersetzung bei E. May, Shömon I, 2000, S. 166 f.).

91)

MORIKAWA KYORIKU (1656-1705)

Reissetzlinge im Wasser
des Pflanzbeets – abgefallene Blüten
schwimmen dazwischen

苗代の水に散りうく桜かな
かわしろのみずにちりうくさくらかな

Reispflanzbeet / Kirschblüte – Frühling

Veröffentlicht 1698.
Kyoriku gilt als Maler-Dichter unter den Schülern Bashos. In manchen Werken spielt er mit
Farbkombinationen: Hier stellt er das zarte Grün der noch nicht halbhohen Reispflänzchen,
die bis zum Aussetzen in einem abgegrenzten Aufzuchtbeet gezogen werden, dem Weiß-
Rosa der Kirschblüten gegenüber. Eine herzerfreuende Spätfrühlingsszenerie!
Die Frage, ob in einem Hokku zwei oder gar mehr Jahreszeitenwörter vorkommen dürfen,
wurde unter den Basho -Adepten eifrig diskutiert, mit dem Ergebnis, dass im Einzelfall nichts
dagegen spräche, dass es aber doch die Ausnahme bleiben sollte.

92)

OCHI ETSUJIN (1656-1736?)

Höchst beneidenswert!
Wenn’s Zeit is, hört er auf mit dem Geschrei
der brünstige Kater

うらやましおもひ切時猫の恋

うらやましおもいきるときねこのこい

Katzenbrunst – Frühling

Der Autor greift auf ein altes Waka zurück, das die ungehemmte Äußerung der Brunst bei
Katzen als »beneidenswert« bezeichnet. Er dreht dabei in parodistischer Haikai-Art die
Aussage um: Beneidenswert ist vielmehr die Fähigkeit, das Brunstverhalten zu stoppen,
wenn die Zeit um ist mit dem unausgesprochenen Zusatz: Wenn das die Menschen nur auch
zustande brächten! Basho hat dieses Hokku in den höchsten Tönen gelobt. Und von
Kommentatoren wurde sogar die Vermutung geäußert, Basho sei dadurch zu seinen
eigenen, ein Jahr später entstandenen Versen »Brünstiges Katzengeschrei / endlich vorbei
…‚« (vgl. Nr. 70) angeregt worden.

93)

OCHI ETSUJIN (1656-1736?)


Das Jahr geht zu Ende
Vor den Eltern verbarg ich
meine weißen Haare

行年や親にしらがを隠しけり

ゆくとしやおやにしらがをかくしけり

Das Jahr geht (zu Ende) – Winter

Vorspann: »Noch vor dem Alter verblassen die Spitzen der Schläfenhaare. «
Aus diesem Vorspann zu schließen muss dieses Hokku in den 1690er Jahren entstanden sein.
Das eigene Erschrecken über die Anzeichen des Älterwerdens, die krampfhafte Bemühung,
die Eltern damit nicht zu beunruhigen oder sie an ihr eigenes hohes Alter zu erinnern, und
das allgemeine, wiederkehrende Motiv des Jahreswechsels oder des »weggehenden,
scheidenden Jahres« verknüpfen und überlagern sich hier. Eine mehrschichtige
Vergegenwärtigung zeitlicher Begrenztheit und Vergänglichkeit.

94)

IWATA RYOTO (1659-1717)

Mit der Hacke kommt er gerannt


hält eine Standpauke
unter den Pfirsichblüten

鍬さげて叱りに出るや桃の花

くわさげてしかりにでるやもものはな

Pfirsichblüte – Frühling

Veröffentlicht 1700. Die Aussage ist etwas stark verkürzt. Aber für den Hokku-Liebhaber
scheint es klar zu sein: Ein jugendlicher Tunichtgut will (verbotenerweise) blühende
Pfirsichzweige brechen. Der Bauer, der in der Nähe sein Feld bestellt, rennt mit der Hacke in
der Hand herbei und liest ihm die Leviten. Eine köstliche ländliche Szene aus den
Niederungen des Alltags, mit universellem Appeal. Während es in unseren Breitengraden
meistens darum geht, reife Früchte vom Baum zu reißen, hat es dieser Frevler immerhin auf
Blüten abgesehen. Ein Zeichen höherer ästhetischer Ansprüche? Der Kontrast zwischen dem
schimpfenden Landwirt und dem Geäst voller großer Blüten ist jedenfalls erheiternd. Da mag
es vielleicht sogar von Vorteil sein, wenn der eigentliche Verursacher gleichsam aus dem
Bild herausfällt.

95)

ENOMOTO KIKAKU (1661-1707)

Beim Straßen-Sumo
geht einer zu Boden … sieh an
das ist ja ein Bonze!

投られて坊主也けり辻相撲

なげられてぼうずなりけりつじずもう

Ein Blick ins Leben und in die Belustigungen des einfachen Volkes. tsujizumo sind Amateur-
Ringkämpfe, die am Straßenrand oder auf Plätzen ausgetragen wurden und die sich offenbar
großer Beliebtheit erfreuten. Zur Erheiterung der Zuschauer beteiligt sich daran auch ein
buddhistischer Mönch, von dem man solches aufgrund seines Standes eher nicht erwarten
würde.

96)

ENOMOTO KIKAKU (1661-1707)

Denkst du, das ist mein Schnee


da oben auf dem Hut
dann wiegt er federleicht

我雪とおもへばかろし笠の上

わがゆきとおもえばかろしかさのうえ

Schnee – Winter

Vorspann: »Schwer ist der Hut vom Schnee unter fremdem Himmel. «
Der Vorspann greift auf ein chinesisches Gedicht zurück, das auch schon im No-Spiel
Kazuraki zitiert wird. Es ist typisch für Kikaku, dass er in seinem Hokku die ursprüngliche
Aussage spielerisch in ihr Gegenteil verkehrt. Dieser mit leisem Spott vermischte frohgemute
Optimismus machte Kikaku zu einem der beliebtesten Hokku-Dichter.
97)

ENOMOTO KIKAKU (1661-1707)

Ah, die Abendkühle –


welch eine Wohltat
Dass ich als Mann zur Welt kam!

夕す々みよくぞ男に生まれけり

ゆうすずみよくぞおとこにうまれけり

Abendkühle – Sommer

Kikaku gilt als der Wichtigste Schüler Bashos, der ihm besonders nahe stand. Und doch war
er von sehr unterschiedlichem Charakter, ein unabhängiger Geist, ein fideler Trinker und den
Freuden des Lebens zugetan. So sind auch manche seiner Verse von leichter, eingängiger Art
und wurden so bekannt, dass sie beinahe als Sprichwörter gelten können. Das vorliegende
Hokku gehört dazu. Es nimmt Bezug auf die edozeitlichen Sitten, wonach der Mann sich im
heißen Sommer nonchalant gekleidet oder halbnackt in der Abendkühle erfrischen durfte,
Während dies den Frauen nicht gestattet war. Es ist sozusagen das männliche Pendant zu
den Versen von Den Sutejo (Nr. Nr. 12).

98)

UESHIMA ONITSURA (1661-1738)

Rund ums Gerippe


geschmückt und ausstaffiert –
So geht’s zur Blütenschau

骸骨の上を粧ひて花見哉

がいこつのうえをよそいてはなみかな

Kirschblütenschau – Frühling

Veröffentlicht 1727. Vorspann: »Irdische Wünsche und Leidenschaften ein Teil des
menschlichen Daseins.«
Hier erscheint das Kirschblütenfest in einer ganz besonderen Perspektive. Man wird an
Darstellungen mittelalterlicher Totentänze im Westen erinnert. Aber auch in der
buddhistischen Tradition Japans gibt es solche Bilder und Texte. Die Gegenüberstellung von
Skelett und Kirschblüte ist in dieser krassen Art für das Hokku untypisch und wohl nur dem
eigenwilligen Onitsura zuzutrauen. Einige Kommentatoren bemängeln, das Hokku sei zu
abstrakt und lehrhaft. Man sollte es aber vielleicht doch eher als leicht hingeworfene
Groteske betrachten, die sich als solche im Gedächtnis der Japaner festgesetzt hat.

99)

NAITO JOSO (1662-1704)

»Eben hab ich mich unten


am Grund des Wasser umgeschaut»
sagt die Miene des Entleins

水底を見て来た皃小鴨哉

みなそこをみてきたかおのこがもかな

Krickente – Winter

Veröffentlicht 1691.
kogamo (wörtlich: kleine Ente) ist eine Krickentenart, die im Winter an tiefer gelegenen
Gewässern auftaucht. Sie ist kleiner als andere Entenarten und eine besonders gute
Taucherin. Daher macht sie einen besonders hübschen, »kindlichem Eindruck und so mag
der Diminutiv »Entlein« angebracht sein. Die heitere Wirkung der Verse ist ausgeprägter,
wenn sie sich auf einen kleinen, noch jungen Vogel beziehen, der selbstgefällig um sich
blickt, als wollte er sagen: Seht mal her, was ich kann! Vgl. Übersetzung und Kommentar von
E. May, Shomon II, 2002, S. 54f. May weist im Besonderen auch auf die Lautgestalt des
Hokku hin: zweimal m- und viermal k-im Anlaut.

100)

SHIDA YABA (1662-1740)


Der Lehrbub stolziert jetzt
Unter dem Firmennamen des Vaters daher
Auf seiner Neujahrsrunde

長松が親の名で来る御慶哉

ちょうまつがおやのなでくるぎょけいかな

Neujahrsrunde – Neujahr

Veröffentlicht 1694. Yaba war ein Vertreter des Kaufmannsstandes, der wohl den Aufstieg
von der untersten Stufe des Lehrlings oder Ladenschwengels bis zum Geschäftsführer in
einem großen Handelshaus der Hauptstadt Edo aus eigener Erfahrung kannte. Hier gibt er
einen humorvollen Einblick in seine Welt. Der Sohn eines Geschäftsinhabers, der bis dahin
anderswo als kleiner Ladenbursche seine Lehrzeit hinter sich gebracht hatte, übernimmt das
Geschäft und macht der Kundschaft zum Jahresanfang, Wie es üblich ist, seine Aufwartung.
Doch sein pompöser Name und sein Auftritt wollen so gar nicht zum bisherigen Bild des
Jungen passen.

101)

SHIBA SONOME (1664-1726)

Auf dem Rücken das Kind


– es reißt mir an den Haaren –
o diese Hitze

おほた子の神なぶらる々暑サかな

おほたこにかみなぶらるるあつさかな

Hitze – Sommer

Sonome ist eine der bemerkenswerten Frauenfiguren im Hokku der Edo-Zeit, Basho-
Schülerin und nach dem Tod ihres Mannes praktizierende Augenärztin. Dieses Hokku ist aus
der Perspektive einer jungen Mutter geschrieben. Die Hitze des japanischen Sommers
steigert sich wegen des zappligen Kinds auf dem Rücken ins Unerträgliche. Und dann reißt es
ihr noch an den Haaren. Ein für den Leser erheiternder Widerstreit zwischen Zuneigung und
Aufbegehren.
102)

NOZAWA BONCHO (?-1714)

Aus dem Laugenbottich


Stets Tropfen – kaum zu Ende
hört man die Grillen zirpen

灰汁桶の雫やみけりきりぐす

あくおけのしずくやみけりきりぎりす

Grillen/Heimchen – Herbst

Veröffentlicht 1691.
Wie eine Sternschnuppe taucht Boncho in Bashos Haikai-Universum auf, leuchtet hell für
einige Jahre und verschwindet wieder. Ein Kennzeichen seiner Schreibweise ist darin zu
sehen, dass er Hohes und Niedriges, Ästhetisches und banal Alltägliches pointiert
gegeneinander setzt. In einem anderen Hokku z. B. ausgeprägte Gerüche (um nicht zu sagen:
Gestank) einer Stadt im Sommer und kühlen Mondschein. Hier ist es das Vielbesungene
feine Zirpen der Grille und das schwere Tropfen aus einem Laugenbottich. Darin wurde
Asche mit Wasser vermischt, um Waschlauge herzustellen. Nach dem Ablassen aus einem
Ausguss unten tropfte es noch eine Weile nach. Die Grille wagt sich offensichtlich erst
hervor, wenn das Tropfen aufgehört hat. Beachtet werden sollte die wohl beabsichtigte
Lautfolge, die zuerst das langsamer werdende Tropfen andeutet (. ku . ke . . . ku . . ke .) und
dann mit der lautmalerischen Bezeichnung kirigirisu zum leisen Zirpen wechselt.

103)

KAGAMI SHIKO (1665-1731)

Ein Wirtshaus-Flittchen
bangt um sein Lippen-Rouge
beim Essen der Wassermelone

出女の口紅をしむ西瓜哉

でおんなのくちべにをしむすいかかな
Wassermelone – Herbst

Veröffentlicht 1700.
Kagami Shiko war ein höchst eigenwilliger Mensch, ein Ekzentriker, aber als Basho Schüler
für die Popularisierung des Hokku nach dem Tode des Meisters von großer Bedeutung. Das
hier berücksichtigte Beispiel eröffnet eine erstaunlich breite Palette von Bedeutungen:
Erstens einen Blick ins alltägliche Treiben an einer viel begangenen Straße, wo sich die
Herbergen für die Passanten nebeneinander reihten. de-onna (Frauen, die heraustreten)
waren Serviererinnen; ihre Aufgabe bestand jedoch vor allem im Anlocken von Gästen; sie
arbeiteten auch als Prostituierte. Wir beobachten also zweitens eine solche Frau, die gerade
nichts zu tun hat und in dieser Pause einen Wassermelonenschnitz verzehrt, dabei aber mit
größter Vorsicht ihr Make-up zu schonen trachtet ein typisch weibliches Verhalten. Drittens
verweist die Wassermelone auf den damaligen Konsum von Früchten und auf die Jahreszeit
(früher Herbst; d. h. August nach westlichem Kalender). Vgl. Übersetzung und Kommentar
bei E. May, Shomon II, 2002, S. 240 f.

104)

SHUSHIKIJO (1669-1725)

Am Brunnenrand
der Kirschbaum voll erblüht –
Gefahr! Weinseligkeit!

井戸端の桜あぶなし酒の酔

いどばたのさくらあぶなしさけのよい

Kirschblüte – Frühling

Datierung: 1681.
Dieses Hokku machte die Dichterin schon in jungen Jahren weitherum bekannt. Sie soll es im
Alter von dreizehn Jahren anlässlich einer Blütenschau im Tempel Shimizu Kannando in Ueno
(Edo) spontan verfasst haben.

Es impliziert zwar auch eine Warnung an die Zecher, im Rausch nicht etwa in den Brunnen zu
fallen. Das Besondere an der Formulierung ist jedoch, dass eigentlich der Kirschbaum selbst
als Gefahr bezeichnet wird. Die Zecher sollen sich nicht von der Pracht benebeln lassen. Die
berauschende Schönheit der Blüten wird also in paradoxer Weise durch eine Warnung
herausgestellt.
105)

ROKA (1671-1703)

Weiße Narzissen!
Ein Haus, ein Grundstück mit Gebüsch
steht zum Verkauf…

水仙や藪の付たる売屋敷

すいせんややぶのついたるうりやしき

Narzisse – Winter

Veröffentlicht 1703.
Roka stammte aus der Familie des Hauptpriesters des Higashi-Honganji-Tempels (Kyoto) und
stand selbst schon in jungen Jahren einem Tempel vor. Er wurde Basho-Schüler, als sich
dieser Mitte 1694 zum letzten Mal im Landhaus des Kyorai Rakushisha, aufhielt (vgl. Nr. 68).
Dieses Hokku ist ungewöhnlich, insofern darin vom Verkauf einer herrschaftlichen Residenz
mit bewaldetem Grundstück die Rede ist. Die Verse 2 und 3 könnten beinahe aus einer
modernen Immobilien-Annonce stammen! Aber natürlich geht es dem Autor nicht um das
Verkaufsobjekt, sondern um diejenigen, die darin gewohnt haben mögen. Als erstes fallen
die Narzissen mit ihren edlen, wohlriechenden Blüten ins Auge. Sie stacheln die Fantasien
über die vermutlich vornehmen, eleganten früheren Bewohner an. Die sehr früh - noch in
der kalten Jahreszeit blühenden Narzissen halten übrigens erst mit der Haikai Dichtung
Einzug in die Poesie.

106)

OTAKA SHIYO (1672-1703)

Zum Trinken unter Pflaumenblüten


eine Schenke … gibt’s gewiss doch auch
am Berg zur Totenwelt

梅でのむ茶屋も在るべし死出の山

うめでのむちゃやもあるべししでのやま
Pflaumenblüten – Frühling

Datierung: 4. Tag des 2. Monats 1703.


Dies ist ein »Abschiedsgedicht von dieser Welt« (jisei). Die berühmte Vendetta der 47
herrenlosen Samurai (ronin) unendlich abgewandelt in der Literatur und im Theater - endene
in der Selbstentleibung (seppuku) aller Beteiligten Anfang 1703. Der Samurai Otaka Shiyo,
der als Dichter den Namen »Shiyo« trug, gehörte dieser Gruppe an. Er ging nach der
Niederschrift dieses Hokku am oben genannten Tag in den Tod. Auf dem Weg ins Jenseits gilt
es nach populärer Auffassung, zunächst auf dunklen, steilen Pfaden ein Gebirge (shide no
yama) zu überwinden. Das Hokku nimmt darauf Bezug, wendet die Vorstellung, in
Übereinstimmung mit der Jahreszeit, aber in eine positive Richtung.

107)

NOZAWA UKO (?-?)

Auf die frostgeröteten


Kinderhändchen puste ich
nach dem Schneeball-Rollen

霜やけの手を拭てやる雪まろげ

しもやけのてをふいてやるゆきまろげ

Froströte / am Boden gerollter Schneeball – Winter

Veröffentlicht 1691.
Uko, die Gattin des Nozawa Bonchöo (vgl. Nr. 102), war selbst Hokku-Verfasserin. Man weiß,
dass sie eine kleine Tochter namens Tei hatte, auf die sich diese Verse wohl beziehen. Das
Kind macht sich so eifrig im Schnee zu schaffen, bis es mit seinen vor Kälte schmerzen den,
rot angelaufenen Händen zur Mutter gelaufen kommt.

108)

YOKOI YAYU (1702-1783)

Im stillen Örtchen
noch immer der Fächer
vom letzten Jahr
雪隠に去年ながらのうちはかな

せっちんにきょねんながらのうちはかな

Fächer – Sommer

Veröffentlicht 1767.
Der aus dem Umkreis des Zen-Buddhismus stammende ungewöhnliche Ausdruck setchin ist
eine der zahlreichen Bezeichnungen für das »stille Örtchen‘, den Abort. Dieser war in
vormodernen Zeit in der Regel draußen platziert, abgetrennt vom Wohnhaus - ein »Reich für
sich«. Die besondere, durchaus nicht unästhetische Sphäre des Orts wird hier mit dem
Fächer vom vergangenen Sommer (und den damit verbundenen Erinnerungen)
heraufbeschweren.

Yokoi Yayu legte Wert darauf, als unabhängiger Geist ohne Gruppenanbindung zu gelten.
Seine oft skurrile Perspektive auf die Dinge des täglichen Lebens zeigt sich in seinen Hokku,
aber noch mehr in seinen Prosaskizzen, besonders dem Werk Uzuragoromo (»Das
Wachtelkleid«). Siehe Nelly und W. Naumann, Die Zauberschale (Orig. 1973), dtv 1990, S447-
371.

109)

SENJO (2. Hälfte 17. Jahrhundert)

An der Seidenhaspel
sitzt die Frau – nach Brunnenkresse
duftend

くり台に芹匂はする女かな

くりだいにせりにおはするおみなかな

Brunnenkresse – Frühling

Veröffentlicht 1687.

Eine Dichterin aus der Provinz Echizen, von der sonst absolut nichts bekannt ist. Dies ist
eines der ersten Hokku, die die Brunnenkresse zum zentralen Motiv wählen. Die wild
wachsende Brunnenkresse gehört zu den sieben Kräutern, die zu Beginn des neuen Jahres
gesammelt wurden. Doch erst im Hokku tritt sie selbstständig als Jahreszeitenwort für den
Frühling auf.

Eine Frau hat am Morgen frisch gepflückte Brunnenkresse zubereitet und sitzt nun bei der
Arbeit, indem sie Seidenkokons abwickelt (oder auch Baumwolle haspelt). Noch ist sie vom
attraktiven Duft des Kräutleins umgeben, der mit dem Geruch des Arbeitsmaterials
kontrastiert. Vielleicht dürfte man die Brunnenkresse im Kontext dieser Verse auch rein
metaphorisch auslegen: eine Frau bei der täglichen Arbeit, aber mit einer Ausstrahlung wie
das Frühlingskräutlein Brunnenkresse.

110)

KAGA NO CHIYOJO (1703-1775)

Die Trichterwinde
umrankt mir morgens den Eimer –
Dann halt Wasserholen beim Nachbarn …

朝顔に釣瓶とられてもらひ水

あさがおにつるべとられてもらいみず

Trichterwinde – Herbst

Ein populäres Hokku schon während der Edo-Zeit, verfasst von der bedeutendsten Dichterin
dieser Epoche. Frühmorgens will sie aus dem Ziehbrunnen Wasser schöpfen, doch eine
Trichterwinde hat sich über Nacht um den Schöpfeimer und das Seil gerankt (oder als
Variante auch um die lange Stange, an der der Eimer befestigt ist). Die Winde entzückt mit
ihren blassvioletten Blüten die Betrachterin so sehr, dass diese es nicht übers Herz bringt,
die Ranken wegzureißen. Sie beschafft sich das Wasser anderswo. Die Verse atmen die kühle
Frische eines frühherbstlichen Morgens und zeugen von freudiger Überraschung, Sensibilität
und einem Leben in Einklang mit der natürlichen Umgebung.

Es mag uns befremden, dass die (männlichen) Kommentatoren seit eh und je dieses Hokku
eher abwertend beurteilen, indem sie ihm eine gewisse Spitzfindigkeit, ein allzu explizites
Herausstellen des guten Geschmacks und Feinsinns und das heißt: der eigenen Person
vorwerfen, etwas, das sich im Hokku nicht gehört. Es geht wohl nicht zu weit, wenn man
sagt: Bei solchen Verdikten spielt im Hintergrund die Tatsache mit, dass die Verse von einer
Frau verfasst wurden. Chiyojo fasst die Szene unbewusst als eine Metapher ihrer eigenen
Existenz auf. Sie sieht sich durch die »Kühnheit« der Trichterwinde in ihrem eigenen Tun als
Dichterin bestätigt. (Vgl. Kommentare und Übersetzungsvarianten bei E. May, Chuko, 2006,
S. 110 f. und 416-418).
111)

KAGA NO CHIYOJO (1703-1775)

Sind sie noch unreif, bitter


die Kakifrüchte? Wer weiß schon
… reiß mir die erste vom Baum

しぶかろかしらねど柿の初ちぎり

しぶかろかしらねどかきのはつちぎり

Kaki – Herbst

Veröffentlicht 1790.

Ein Hokku, das der frohen Herbststimmung und dem emotionalen Impuls, endlich in eine
leuchtend gelbe Kaki-Frucht zu beißen, in schöner Spontaneität Ausdruck verleiht.
Merkwürdigerweise finden sich diese Verse in keiner Sammlung zu Lebzeiten Chiyojos,
sondern erst in einer biographischen Notiz nach ihrem Tod, als die Legendenbildung um die
Dichterin schon weit fortgeschritten war. So wurde überliefert, Chiyojo habe es aus Anlass
ihrer Hochzeit geschrieben (wobei umstritten ist, ob sie überhaupt verheiratet war). Da
‚chigin‘ mit anderen Zeichen geschrieben auch >Eheversprechen< bedeuten kann, ergäbe
sich auf einer zweiten Ebene der Hintersinn: »Ist sie wohl ungenießbar bitter, diese Kaki-
Frucht, wer weiß schon ... Erstes Eheversprechen.«

Es scheint empfehlenswert, bei der ersten, konkreten Bedeutung zu bleiben.

112)

KAGA NO CHIYOJO (1703-1775)

Stelldichein der Sterne


Welcher von beiden wird wohl
zuerst etwas sagen?

星合やちからものを言初む

ほしあいやどちからものをいいそめん

Begegnung der Sterne (Tanabata) – Herbst


Das Sternenfest (Tanabata) ist eines der fünf wichtigsten Feste im Jahreszyklus. Es geht auf
eine chinesische Legende von den Sternen Altair und Wega zurück, die als Hirte und Weberin
personifiziert werden. Dieses Liebespaar ist (nach einer langen Vorgeschichte) durch den
Himmelsfluss (die Milchstraße) getrennt und kann nur einmal im Jahr, am 7. Tag des 7.
Monats, zusammenkommen. Die Legende bricht allerdings hier ab und sagt nichts darüber,
wie sich dieses jährliche Treffen abspielt. Hier setzt die Dichterin mit ihrer (weiblichen?)
Neugier an: Wer tut wohl zuerst den Mund auf? Was haben sie sich zu sagen?

113)

SEGAWA (2. Hälfte 17. Jahrhundert)

Durchlässiger Bambusvorhang
vereiste Tatami-Matten
Was für ein Schneegestöber!

翠簾もれて畳に氷る吹雪かな

すだれもれてたたみにこおるふぶきかな

Vereist /Schneesturm – Winter

Veröffentlicht I6 97.
Ein eindrucksvolles Bild vom Einbruch des Winters bis ins Innere des Hauses. Das sind
dramatische, ausdrucksstarke Verse einer Frau; von der man nichts weiß, als dass sie zum
Stand der künstlerisch hochgebildeten Kurtisanen (yujo) gehörte.

114)

TAN TAIGI (1709-1771)

Erste Liebe –
zur Bon-Laterne hin neigt sich
Gesicht an Gesicht

初恋や灯籠によする顔と顔

はつこいやとうろうによするかおとかお

Bonfest – Laterne – Herbst


Veröffentlicht1772.
Dies ist eines der seltenen Hokku aus der Edo-Zeit über das Thema »Liebe«. Zwar gehört im
Kettengedicht »Liebe« zu den festen wiederkehrenden Motiven. Aber im selbstständig
gewordenen Hokku finden sich merkwürdigerweise nur wenige Belege. toro ist eine Laterne,
eine Fackel, ein Gebinde, hergestellt als Opfergabe für die Totenseelen beim Bon-Fest am
15. Tag des 7. Monats (entspricht ungefähr Mitte August nach westlichem Kalender). Dieser
Hintergrund stellt die schüchternen Annäherungsgesten des jungen Paars in einen weiten
Kontext von jahreszeitlichen und familiären Bezügen. Der Lichtschein der Laterne und das
Erröten fallen in eins. Das Gedenken an die neue Verbindung überlagert sich in der
Vorstellung.

115)

TAN TAIGI (1709-1771)

Schlaf endlich! Ruft nachts


der aus dem Schlaf gerissene Gatte
zwischen das Klatschen des Walkschlegels

寝よといふ寝ざめの王や小夜砧

ねよというねざめのおうとやさよきぬた

Walkschlegel – Herbst

Schon das Waka kennt, im Rückgriff auf einen Vers des chinesischen Dichters Li Bo, den
Klang des Walkschlegels, der mit Liebesverhältnissen in Verbindung gebracht wird. Auch in
Bezug auf dieses Hokku sind die Kommentare der Meinung, der Mann wende sich liebend
und mitfühlend an die Frau, es sei schon spät, sie möge es doch gut sein lassen. Es würde
meiner Meinung nach aber zur Umdeutung klassischer Motive im Hokku passen, dass er -
ungehalten über das hartnäckige Klatschen – sie eher ärgerlich auffordert, nun endlich Ruhe
zu geben und schlafen zu gehen. Auffallend ist die Wiederholung (ne- ne-, »schlaf«
»Schlaf»), die gleichsam des aufdringliche Klatschen nachahmt. Eine selten hübsche,
humorvolle Szene, eingebettet in die Stimmung einer Herbstnacht.
116)

TANGUCHI DENJO (1713-1779)

Kuckucksruf –
ein Abend, da ins Herz hinein
der Regen fällt

子親こころに雨のふる夜かな

ほととぎすこころにあめのふるよるかな

Veröffentlicht 1789.
Der japanische Kuckuck eine kleinere Art mit komplexeren Lauten (Im Deutschen als
Gackelkuckuck bezeichnet) ist seit jeher der beliebteste Sommervogel. Sehnsüchtig wartet
man auf seine ersten Rufe. Hier ist der Kuckucksruf mit Melancholie verbunden. Bessho
Maiko, die Autorin eines Werks über die Hokku-Dichterinnen der Edo -Zeit, stellt dieses
Hokku an den Anfang ihres Buches und zitiert daneben die Verse von Paul Verlaine
(Romances sans paroles, 1874, »Ariettes oubliées« III): »Ill pleut dans mon coeur / Comme il
pleut sur la ville …» Herz / Wie es regnet auf die Stadt . . .«). Bessho fügt die Bemerkung
hinzu: Denjo hat diese moderne poetische Ausdrucksweise um hunderte Jahre
vorweggenommen! Freilich ohne dadurch als Dichterin weltberühmt zu werden…

117)

ARII SHOKYU (1714-1781)

Blühende Deutzien!
Ich schäme mich meines
handgewobenen Kleids

うの花や手織の布の恥かしき

うのはなやておりのぬののはずかしき

Veröffentlicht 1786.
Neben Chiyojo ist Shokyu-ni (»die Nonne Shokyu«) wohl die fruchtbarste Hokku-Verfasserin
des 18. Jahrhunderts. Auch bei ihr kommt der »weibliche Blick« zur Geltung. In diesem
Hokku werden die prachtvollen weißen Deutzienblüten implizit mit kostbarem, schimmernd-
weißem Seidenstoff gleichgesetzt, gegen den der grobe (Baumwoll-)Stoff des eigenen Kleids
abfällt. Vielleicht darf man daraus schließen, dass diese Verse auf ihr Nonnendasein
hinweisen und dass sie früher als Frau eines angesehenen Arztes in Osaka Besseres gewohnt
war.

118)
ARII SHOKYU (1714-1781)

Scheidender Frühling –
… blickt weit über Meer
der Rabenjunge

行春や海を見て居る鴉の子

ゆくはるやうみをみているからすのこ

Veröffentlicht 1786.
Wenn der Frühling, die Jahreszeit des Aufbruchs, des Blühens, der Farben und Stimmungen,
zu Ende geht, ist das im Hokku mit Abschiednehmen und Melancholie verbunden. Hier
allerdings scheint es eher umgekehrt: Zum japanischen Frühjahr gehören nebelartiger Dunst,
atmosphärische Trübungen, die sich gegen das Ende zu mehr und mehr lichten, die Sicht
freigeben und hier im Besonderen die Weite des Meers, die Lichtflut über der Wasserfläche
vor Augen führen. Die »Pointe« besteht darin, dass die Entdeckung solcher Veränderungen
nicht einem Menschen, sondern einem erst in diesem Jahr geschlüpften, ahnungslosen
Rabenjungen zugeschrieben wird. Ein junger Vogel vor dem Abheben - er verkörpert in
reinster Weise Streben ins Weite, unreflektierte Einheit mit der Welt.

119)

YOSA BUSON (1716-1783)

Herr Affe, wie geht’s?


In kalter Herbstnacht kommt Besuch
es ist Freund Hase

猿どの々夜寒訪ゆく兎かな

さるどののよさむといゆくうさぎかな

Nächtliche Kälte – Herbst

Datierung: 1751. Vorspann: »Übernachtung in einem Haus in den Bergen.«

Das Hokku entstand wahrscheinlich, als Buson im Spätherbst 1751 von Edo über das Kiso-Tal
in den Bergen Zentraljapans nach Kyoto wanderte. Es gehört also zu Busons ganz frühen
Werken. Er kleidet seinen Besuch bei einem Freund in vergnüglicher, selbstironischer Manier
in ein Fabelgewand, wohl in Anlehnung an eine Darstellung in der berühmten
humoristischen Bilderrolle Choju giga (»Karikaturen zu Vögeln und [anderen] Tieren) aus
dem 12. Jahrhundert. (Vgl. z.B. Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 17, Frankfurt a.M. / Berlin
1968, Nr. 310.)
120)

YOSA BUSON (1716-1783)

Mit schnellem Strich


verpasst ein Pilger im Vorübergehn
dem Flaschenkürbis Augen Nase

巡礼の目鼻書ゆくふくべ哉

じゅんれいのめはなかきゆくふくべかな

Flaschenkürbis – Herbst

Datierung: vor 1762.


Man stelle sich vor: Eine viel begangene Straße im Umkreis eines Wallfahrtstempels oder -
schreins. Am Wegrand reihen sich die Teehäuser, Buden und Verkaufsstände fast eine
Jahrmarktsatmosphäre. Nun kommt ein Pilger daher, sieht an einem Gestell ein paar
Flaschenkürbisse herunterbaumeln und macht sich einen Jux daraus, in einem unbemerkten
Augenblick mit geübter Hand ein Gesicht darauf zu malen, um dann mit argloser Miene
weiter zu schlendern. Vergnügliche, leichte, spielerische Verse, typisch für Buson in der
frühen Phase seiner Hokku-Karriere.

121)

YOSA BUSON (1716-1783)

Frühlingsmeer
Wellenspiel den ganzen Tag
hin und her hin und her

春の海終日のたりのたりかな

はるのうみひねもすのたりのたりかな

Frühlingsmeer – Frühling
Datierung: nicht später als 1762.

Ein schon zu Busons Zeiten sehr bekanntes Hokku, über dessen Wert sich allerdings die
Kommentatoren nicht einig sind. Es gibt solche, die es rundweg als einfältig bezeichnen.
Andere schätzen seinen kindlichen Duktus, seine lautmalerischen, musikalisch-rhythmischen
Qualitäten hoch ein. Offensichtlich steht die Nachahmung der Wellenbewegung durch notari
notari, rhythmisch kunstvoll gebrochen durch die Aufteilung auf die Verse 2 und 3, im
Vordergrund. Eigentlich handelt es sich um ein lyrisches Stimmungsbild beinahe im
romantischen Sinn. In der Übersetzung mag daher neben der Rhythmisierung für einmal
auch ein Reim angezeigt sein. Yosa Buson war in verschiedener Hinsicht ein Wegbereiter
moderner Formen und Ausdrucksweisen.

122)

YOSA BUSON (1716-1783)

Als lockeres Fingerspiel


will ich den Fächer bemalen
mit dem Saft der Gräser

手すさびの団画ん草の汁

てすさびのうちわえがかんくさのしる

Flacher Fächer – Sommer

Datierung: 26. Tag des 5. Monats 1768. Geschrieben über das vorgegebene Thema »Uchiwa«
anlässlich eines Dichtertreffens im Haus des Kuroyanagi Shoha. Ein leicht hingeworfenes
Wortgebilde, ein bezaubernder Einfall so richtig dem genialen Maler Yosa Buson
angemessen. Man spürt förmlich das befreite Aufatmen in der ländlichen Umgebung, im
Kreis der Freunde.

123)

YOSA BUSON (1716-1783)

Erdstöße rütteln
den abgestellten Tragkorb –
weites Sommerfeld
おろし置笈に地震なつ野哉

おろしおくおいにじしんなつのかな

Sommerfeld – Sommer

Datierung: 1768.

Tragkörbe wurden häufig von Wandermönchen benutzt. Hier macht ein solcher Wanderer
Rast, mitten in der Weite und Hitze eines offenen Feldes. Plötzlich beginnt der auf den
Boden gestellte Tragkorb zu zittern und zu schwanken. Eine merkwürdige, gespenstische
Szene und ein singulärer Fall, dass im Hokku des 17. /18. Jahrhunderts ein Erdbeben
thematisiert wird.

124)

YOSA BUSON (1716-1783)

Fleischverzehr
als Medizin – sag’s nicht weiter
in Hirschenthal

くすり喰人に語るな鹿ケ谷

くすりぐいひとにかたるなししがたに

Fleischverzehr – Winter

Ein Hokku, das mit augenzwinkerndem Humor und spielerischen Assoziationen zwei
Bedeutungsebenen übereinander schiebt. Der Verzehr von Wildfleisch war vor
buddhistischem Hintergrund eigentlich verpönt, wurde aber vor allem in der kalten
Jahreszeit zur Stärkung der Gesundheit toleriert, und zwar unter dem Euphemismus
»Medizin«. kusurigui avancierte sogar zum Jahreszeitenwort. Aber, so Buson, man sollte
besser darüber nicht sprechen, besonders nicht an einem Ort namens »Tal der Hirsche« (ein
Ortsname in Kyoto am Fuß der Ostberge).

An diesem selben Ort Shishi-ga-tani (in der Übersetzung absichtlich als »Hirschenthal«
geschrieben) hatte es 600 Jahre zuvor eine in der Geschichte des Mittelalters berühmte
Verschwörung zum Sturz des Heike-Clans gegeben, die infolge Unvorsichtigkeit der
Beteiligten lasch aufgedeckt und vereitelt wurde (vgl. Heike monogatari, Buch 1, Kap. 12).
Die Aufforderung zum Nicht-Weitersagen steht also auch mit diesem Geheimtreffen in
Zusammenhang.

125)

YOSA BUSON (1716-1783)

»…Hätt nicht verlieren dürfen! »


klagt der Sumo-Ringer beim Bett-
geflüster…

負まじき角力を寝ものがたり哉

まくまじきすまいをねものがたりかな

Sumo –Ringkämpfer – Herbst

Datierung: 1768.

Der Sumö-Ringkampf (alte Form: sumai) wurde ursprünglich als Hofzeremoniell im Herbst
abgehalten; daher die Funktion als Jahreszeitenwort.
In diesem Hokku Wird eine ganze Geschichte in einem absoluten Minimum an Aussagen
kondensiert. Ein Sumo-Ringer kommt nicht über seine Niederlage hinweg. Doch seiner
Frustration kann er erst abends im Bett gegenüber seiner Frau Ausdruck geben, und er lässt
sich von ihr trösten. Das lange Wort ne-monogatari (wörtlich: Schlaf-Erzählung) und das
zusätzliche Gestaltungselement, dass das Wort über die Versgrenze hinweg gebrochen
erscheint, weist ironisch auf das langfädige, unreife Klagen des Schwerenöters hin. Buson
benutzt zudem das altertümliche, auf die höfische Kultur verweisende sumai (anstelle von
sumo), wohl um das Gefälle zwischen der strikt geregelten Sumo-Welt und dem
Bettgeflüster hervorzuheben.

126)

YOSA BUSON (1716-1783)

Der erste Gesang


der Grasmücke im Lenz – als wäre sie
neben den Ast getreten
うぐひすの枝ふみはづす初音哉

うぐいすのえだふみはづすはつねかな

Erster Gesang – Neujahr


Datierung: 1769.
Ein köstliches Beispiel dafür, wie im Hokku gerade auch altehrwürdige, durch das Waka
geadelte Motive ins Komische gedreht oder parodiert werden können. Ob man nun
annimmt, dass der kleine Vogel tatsächlich mit einem Bein den Ast verfehlt und deshalb sein
Gesang ins Stottern gerät, wie ein Kommentator erläutert, oder ob der Vogel zu Beginn
einfach noch ungeschickt und ungeübt im Singen ist, so als wäre er danebengetreten, kommt
letzten Endes auf dasselbe heraus. Aus dem Jahr 1671 gibt es ein ähnlich lautendes Beispiel,
das eindeutig die zweite Interpretation nahelegt.

127)

YOSA BUSON (1716-1783)

Frühling vorbei
die nicht mehr passende Brille
verloren

ゆく春や眼に逢ぬめがねうしなひぬ

ゆくはるやめにあわぬめがねうしないぬ

Scheidender Frühling – Frühling

Datierung: 1769.
Dem Ende des Frühlings, der Zeit des Aufbruchs, des Blühens, der Träume und Hoffnungen
sieht man allgemein mit Bedauern und Wehmut entgegen, wie das häufig verwendete
Jahreszeitenwort beweist. In die Kombination von Frühlingsende und nicht mehr passender
Brille mischt sich allerdings eine Prise Komik und Selbstironie. Das Verbindende dürfte wohl
darin liegen, dass die Dunstschleier des Frühjahrs sich auflösen und gleichzeitig auch die
leicht getrübte oder verschwommene Sicht durch die unpassende Brille nicht Wiederkehrt:
Also ein doppelter »Verlust«.

128)

YOSA BUSON (1716-1783)


Auch aus dem Fußbad-Zuber
sickert das Wasser –
scheidender Frühling

洗足の盥も漏りてゆく春や

せんそくのたらいももりてゆくはるや

Scheidender Frühling – Frühling

Datierung: 1769.
Die allmählichen, kaum bemerkbaren Veränderungen der Natur im Übergang vom Frühling
zum Sommer nehmen im überraschenden und doch unmittelbar ansprechenden Sinnbild
des heraussickemden Wassers Gestalt an. Das Fußbad setzt zudem eine Assoziationskette in
Gang: Die Person ist offensichtlich in der grünenden und blühenden Landschaft unterwegs
gewesen. Indem sie sich nun erfrischt und dabei das versickernde Wasser bemerkt, macht
sie sich bewusst, dass es mit solch freudigem Umherstreifen bald zu Ende sein wird. Denn in
der anbrechenden Regenzeit und nachfolgenden Sommerhitze herrschen andere
Bedingungen. Die leise Melancholie des scheidenden Frühlings ist so nachvollziehbar.

129)

YOSA BUSON (1716-1783)

Einzig der Fuji


bleibt übrig in den Fluten
des jungen Laubs

不二ひとつうづみのこして若葉哉

ふじひとつうづみのこしてわかばかな

Junges Laub – Sommer

Datierung: 1769.
Ein weiteres prachtvolles Gemälde des Malers Buson. Die ausgedehnten Wälder an den
Abhängen und am Fuß des Berges Fuji bilden nun im Frühsommer ein wogendes Meer von
jungen, grünen Blättern, das alles zudeckt. Nur der mächtige Kegel des Bergs ragt daraus
hervor mit seinen in der Mitte kahlen grauen Hängen und mit dem noch immer
schneebedeckten Gipfel. Diese implizite Farbkombination wird wohl absichtlich nicht in
Worte gefasst.
Sie soll in der Vorstellung des Lesers aufgrund von Andeutungen und aufgrund seines
Vorwissens ergänzt werden.

130)

YOSA BUSON (1716-1783)

Fressen und schlafen –


werde zum Ochsen, sei‘s drum!
Unter Pfirsichblüten!

喰ふて寝て牛にならばや桃の花

くうてねてうしにならばやもものはな

Pfirsichblüte – Frühling

Datierung: 1771.
Ein so feinsinniger Ästhet wie Buson kann gelegentlich auch ganz schon ordinär werden, das
liegt in der Spannweite des Hokku. Hier lehnt er sich an ein Sprichwort an, das mahnend
besagt: Wer isst und sofort einschläft, wird in einen Ochsen (oder eine Kuh) verwandelt. Nur
zu! sagt Buson, allerdings mit einer Bedingung: Unter blühenden Bäumen sollte es schon
sein! Mit diesem Kontrapunkt wahrt er die Sphäre des Hokku.

131)

YOSA BUSON (1716-1783)

Hab Sushi eingelegt –


doch weit und breit kein Mensch
auf den ich warte

鮓つけて誰待としもなき身哉

すしつけてたれまつとしもなきみかな
Gepökelt /Sushi – Sommer

Datierung: 16. Tag des 5. Monats 1771.


Sushi war zu Busons Zeiten etwas anderes, als was man heute auch im Westen darunter
versteht: Bestimmte Fischsorten wurden mit Salz und Reis für Wochen oder gar Monate
eingelegt und gepresst, was zu einem natürlichen, streng riechenden Fermentierungsprozess
führte eine Konservierungsmethode besonders für den heißen Sommer (heute narezushi
genannt). Das Anlegen eines solchen Vorrats war offensichtlich eng mit der Vorstellung
gemeinsamen Essens im Familien- und Freundeskreis verbunden. Einige Kommentare sehen
zwar in diesem Hokku den Ausdruck von Erleichterung und Gelassenheit, von Befreiung aus
weltlichen Bindungen und Pflichten. Andere aber verstehen es als melancholische
Anwandlung, als Ausdruck von Verlassenheit eines Menschen, der sich fragt: Ach, wozu habe
ich das nun eigentlich getan? Ein ähnliches Hokku von Buson spricht von sabishii kokoro
(»einsames Herz«). Es lautet: »Hab Sushi gepökelt / danach für eine Weile / Leere im
Herzen«.

132)

YOSA BUSON (1716-1783)

Blühendes Rapsfeld
Vollmond in östlicher Richtung
Sonne im Westen

なの花や月は東に日は西に

なのはなやつきはひがしにひはにしに

Rapsblüten – Frühling

Datienmg:1774.
Nur in der Mitte des Monats, nach dem alten Mondkalender, also bei Vollmond, stehen
Sonne und Mond jeweils am Abend scheinbar in gleicher Größe am Himmel, wenn sich die
Sonne zum westlichen Horizont neigt und gleichzeitig der Mond am östlichen Rand aufsteigt.
Das ist ein bereits in der älteren Dichtung beliebtes Motiv. Man vergleiche etwa das Waka
von Hitomaro vom Ende des 7. Jahrhunderts (Manyoshü, Nr. 48, übersetzt in Gäbe es keine
Kirschblüten..., Reclam 2009, S. 17); dort geht es allerdings umgekehrt um die aufgehende
Sonne und den niedergehenden Mond.
Buson hat das Motiv also ins Hokku übertragen, mit einem für ihn bezeichnenden, dezenten
farblichen und malerischen Effekt: ausgedehnte gelbe Rapsfelder im letzten Schein der
Abendsonne, im Osten die vorerst nur matt glänzende runde Mondscheibe. Erst im Hokku
findet die Rapsblüte einen Platz.

133)

YOSA BUSON (1716-1783)

Der Alte möchte Liebe


Leidenschaft vergessen – doch gerade da:
Sprühregen im Winter!

老が恋わすれんとすれば時雨哉

おいがこいわすれんとすればしぐれかな

Sprühregen – Winter

Datierung: in einem Brief vom 23. Tag des 9. Monats 1774. Vorspann: »Zum Thema shigure
anlässlich einer Dichterzusammenkunft bei Takai Kito. «
Obwohl auf ein vorgegebenes Thema geschrieben, sind dies psychologisch tiefgründige
Verse des alternden Dichters. shigure, seit jeher ein häufig benutztes Jahreszeitenwort,
bedeutet: plötzlicher Regenschauer im Übergang vom Herbst zum Winter. Im Hokku wird es
dem Frühwinter zugeordnet. Doch ist shigure kein kalter, garstiger Winterregen, sondern
eine kurze Witterungslaune, eventuell sogar ein angenehmes Rieseln. In diesem Sinn Wird
»Sprühregen» hier umgedeutet als eine späte leidenschaftliche Aufwallung des Alten, die
aber kraftlos bleibt und zu nichts führt eine für das Hokku neue Ausdeutung des
Naturphänomens. Dass dies so gemeint ist, beweist der Brief, in dem Buson ausdrücklich auf
ein Waka des Mönchs Jien, ein Liebesgedicht, mit vergleichbarer Aussage verweist: » Oh,
meine Liebe -/ der Sprühregen, die Kiefer / kann er nicht färben; / das Gerank auf der Heide
/
durchwütet stürmisch der Wind. « (Siehe: Shinkokinwakashu, hrsg. von H. Hammitzsch und
L. Brüll, Reclam 1964, S. 113, Nr. 1030.)

134)

YOSA BUSON (1716-1783)


Zwischen Narzissen
spielen da nicht Füchse? Nachts
unter fahler Mondsichel

水仙に狐あそぶや宵月夜

すいせんにきつねあそぶやよいづきよ

Fuchs / Narzisse – Winter

Datierung: 1775. Vorspann: »Auf einem verlassenen Grabhügel.«


Nochmals präsentiert uns Buson hier eine jener schaurig-schönen Szenerien, wie er sie liebte
und wie sie dem Zeitgeschmack entsprachen. Die weiß-gelbe Narzisse ist in Japan eine
Winterblume. Sie harmoniert bestens mit dem kalten Schimmer der Drei-Tage-Mondsichel.
Die Kombination von spielenden (Zauber-)Füchsen‚ Narzissen, schmaler Mondsichel und
Grabhügel ergibt ein perfektes Bild und lässt darüber hinaus der Fantasie alle Möglichkeiten
offen.

135)

YOSA BUSON (1716-1783)

Goldener Stellschirm
leuchtend im vollen Glanz
Päonienblüten

金屛のかくやくとしてぼたんかな

きんびょうのかくやくとしてぼたんかな

Päonie – Sommer

Datierung: 1777.
Eine Kombination luxuriöser Bildvorstellungen nach dem Geschmack von Buson: Ein auf die
Gartenanlage hin offen stehender Empfangsraum einer vornehmen Villa. Drinnen glänzt der
auf goldenem Hintergrund bemalte Stellschirm, draußen glänzen die in natürlicher Fülle
erblühten Päonien. Kunst und Natur heben sich gegenseitig hervor, verbinden sich in einer
opulenten Harmonie. Der schwere sinojapanische Ausdruck, der den ganzen zweiten Vers
beansprucht, greift auf ein klassisches chinesisches Gedicht zurück. Er bezieht sich
gleichermaßen auf den voranstehenden wie auf den nachfolgenden Vers. Er verstärkt den
Eindruck geradezu exotischer Prunkentfaltung.

136)

YOSA BUSON (1716-1783)

Tag des Sakewärmens


Festgelage – in die Frau des Hauses
bin ich ganz vernarrt

酒を煮る家の女房ちょとほれた

さけをにるいえのにょうぼうちょとほれた

Sake erhitzen – Sommer

Datierung: 1777.
Früher wurde der im Winter gebraute Reiswein im 5. Monat (Juni nach westlichem Kalender)
auf etwa 60 Grad erhitzt, um die Vermehrung von Mikroorganismen zu stoppen und ihn
haltbar zu machen. Dies war der Anlass für ein Brauereifest mit Bewirtung. Die Gastgeberin
ist hier so liebenswürdig, dass der Gast wohl nicht ohne Zutun des ausgeschenkten Sakes
sich auf der Stelle in sie verliebt. Dass die Aussage nicht ganz ernst zu nehmen ist, zeigt sich
darin, dass die Diktion des dritten Verses einen parodistischen Beiklang besitzt, indem sie an
populäre Lieder, also »Schlager«, jener Zeit anklingt.

137)

YOSA BUSON (1716-1783)

Sommerregenzeit
mächtig angeschwollener Strom
davor zwei Häuschen

さみだれや大河を前にいえ二軒

さみだれやたいがをまえにいえにけん
Sommerregen – Sommer

Datierung: 1777.
samidare, wörtlich: Regen im 5. Monat, fällt nach westlichem Kalender im Juni bis Anfang
Juli. Diese klimatisch bedingte frühsommerliche Regenzeit führt nicht selten zu Hochwasser
und Überschwemmungen. Dass es hier gerade zwei Häuser sind, die den Naturgewalten
ausgeliefert scheinen, wird von den Kommentaren als bewusste glückliche Wahl bezeichnet.
Die Häuser erscheinen klein und zerbrechlich (daher scheint der Diminutiv angebracht),
erhalten aber dadurch, dass sie sich gleichsam einander zuneigen, sich gegenseitig stützen
und eine Balance herstellen, etwas Hoffnungsvolles, etwas geradezu Menschliches.

138)

YOSA BUSON (1716-1783)

Morgenkühle!
Von der Glocke löst sich, entschwebt
die Glockenstimme

涼しさや鐘をはなる々鐘の聲

すずしさやかねをはなるるかねのこえ

Kühle – Sommer

Datierung: 1777.
Alle Kommentatoren verstehen suzushisa als Kühle an einem Sommermorgen, bei
Tagesanbruch. Der Klang der Tempelglocke wird als »Stimme« wahrgenommen, die sich
selbstständig macht und in alle Richtungen ausbreitet. Klang/Stimme und Empfindung der
Kühle überlagen sich und verschmelzen in eins. Die Wiederholung von kane - kane (»Glocke«
»Glocke«) wirkt wie wiederholte Glockenschläge. In einem Brief betont Buson persönlich,
dieses Hokku hebe sich vom damaligen »modischen Tonfall (ryuko no shirabe) ab.

139)

YOSA BUSON (1716-1783)

Ein Schauer durchfährt ihn:


Im Schlafraum tritt er auf den Kamm
seiner verstorbenen Frau

身にしむや亡妻の櫛を閨に踏

みにしむやなきつまのくしをねやにふむ

Empfindung herbstlicher Kälte – Herbst

Datierung: 1777.
Ein ziemlich ausgefallenes Hokku des großen Poeten. Es kann sich unmöglich auf Busons
eigene Lebensumstände beziehen. Seine Frau starb 1814, hat ihn also um mehr als dreißig
Jahre überlebt. Was hier formuliert wird, ist reine Fiktion. Die Kommentare sprechen von
einem höchst eigenwilligen, romanhaften Motiv oder vom Kern einer Theaterszene. (In der
Übersetzung scheint es daher angezeigt, eine Formulierung in der dritten Person, nicht in
der ersten, zu wählen).

Interessant ist die Ausdeutung des Jahreszeitenworts. mi ni shimu meint die Herbstkälte, die
plötzlich spürbar ist, die den Leib durchdringt. Hier aber ist es in erster Linie Betroffenheit,
Erschrecken, ein unheimliches Gefühl, das bewirkt, dass es dem Mann kalt den Rücken
hinunterläuft.

140)

YOSA BUSON (1716-1783)

Über den Hag hinweg


ausgiebiges Plaudern
beim Pfropfen der Bäume

垣越にものうちかたる接木哉

かきごしにものうちかたるつぐきかな

Pfropfen – Frühling

Datierung: 1777.
Eine zeitlose kleine Szene aus dem Leben des »entfachen Mannes«, wie sie überall
stattfinden kann. Jedermann kann sich das Gespräch, sei es mit dem Nachbarn, sei es mit
einem Passanten auf dem Weg jenseits der Hecke, leicht vorstellen. Durch die Tätigkeit das
Pfropfens, das vielleicht erst in vielen Jahren Früchte bringt, wird die banale Alltagssituation
gleichsam mit »Obertönen« ausgestattet. Über allem liegt eine heitere, erwartungsvolle, auf
die Zukunft gerichtete Frühlingsstimmung.

141)

YOSA BUSON (1716-1783)

Keine Zeit für Gedichte


Liebesnacht – schmerzlicher Abschied!
Aber der Kuckuck ruft …

哥なくてきぬぎぬつあし時鳥

うたなくてきぬぎぬつらしほととぎす

Japanischer Kuckuck – Sommer

Datierung: 9. Tag des 4. Monats 1778.


Ein Hokku aus einer Reihe zum Thema »Hototogisu« (kleiner japanischer Kuckuck, auf
Deutsch: Gackelkuckuck). Es will, einer Mode der Zeit entsprechend, die nostalgische Welt
des Genji monogatari (»Geschichte vom Prinzen Genji«) und der darin beschriebenen
Liebesbeziehungen aufleben lassen. Nach dem Abschied bei Tagesanbruch sollen nach
höfischem Brauch Gedichte ausgetauscht werden. Der Mann lässt ein Waka überbringen und
wartet auf das Antwortgedicht der Frau. Doch das muss hier, im Hokku -aus welchen
Gründen auch immer – unterbleiben. Nur die sehnsüchtigen Rufe des kleinen Kuckucks sind
zu hören, sei es als Ausdruck des Abschiedsschmerzes, sei es als Trost -quasi als
Gedichtersatz.

142)

YOSA BUSON (1716-1783)

Klause bei Vollmond –


Der Meister, wo ist er?
Beim Kartoffelngraben …
庵の月主をとへば芋掘に

いおのつきあるじをとえばいもほりに

Mond – Herbst

Datierung: 1778-80.
Jemand besucht den Einsiedler zur gemeinsamen Mondschau am 15. Tag des 8. Monats.
Doch der Meister arbeitet bis in die Nacht hinein auf seinem Feld. Es mag komisch wirken,
dass einer ausgerechnet am Tag des spektakulärsten Vollmonds in der Erde nach
(Taro-)Kartoffeln buddelt. Doch das ist nicht so abwegig, wie es scheint. Die um diese Zelt
reifen Kartoffeln wurden nämlich dem Mond als Opfergabe dargebracht. Man sprach
deshalb vom »Kartoffel-Vollmond« - imo meigetsu (im Unterschied zum »Kastanien-
Vollmond« einen Monat später, vgl. Nr. 22).
Die Kommentare weisen überdies darauf hin, dass Buson wahrscheinlich von einer Anekdote
im Klassiker Tsurezurgusa des mittelalterlichen Mönchs Yoshida Kenko angeregt wurde
(deutsch unter dem Titel: Draußen in der Stille, Berlin 1993, Abschnitt 60). Dort ist die Rede
vom Abt Joshin, einem Sonderling und großen Kartoffel-Esser.

143)

YOSA BUSON (1716-1783)

Als Edelknabe
posiert der verwandelte Fuchs
Frühlingsabenddämmerschein

公達に狐化たり宵の春

きんだちにきつねばけたりよいのはる

Frühlingsabend – Frühling

Datierung: 1782/83.
Die Verwandlungskunst der Füchse ist ein immer Wiederkehrendes Motiv der
Volksüberlieferung. kindachi bezieht sich auf einen Jungen aus dem Umkreis des Adels der
Heian-Zeit. Hier verbindet sich Busons Vorliebe für die höfische Welt früherer Zeiten mit
seiner Neigung zu mysteriösen, unheimlichen, traumhaft-romantisierenden Vorstellungen,
wie sie besonders in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts im Schwange waren, etwa in den
bekannten Gespenstergeschichten Unter dem Regenmantel von Ueda Akinari
(Erscheinungsdatum 1776). Die Atmosphäre des Frühlings, die Dunstschleier, der Glanz der
Blüten und besonders das abendliche Zwielicht -dies alles leistet solchen Erscheinungen und
Einbildungen Vorschub.

144)

OSHIMA RYOTA (1718-1787)

Auf geliehenem Pferd


verlieren wir uns abwechselnd
im Frühjahrsdunst

馬借りてかはるがはるに霞みけり

うまかりてかはるがはるにかすみけり

Frühlingsdunst – Frühling

Erstveröffentlichung: 1777. Vorspann: »Auf Reisen.« In einer späteren Ausgabe hat jemand
noch beigefügt: »Drei Leute auf einem Ausflug an den Fluss Tamagawa - Das liegt nun schon
weit zurück in der Vergangenheit. « Man kann also annehmen, dass es sich um einen
gemächlichen Tagesausflug von Edo aus handelte. Das abwechselnd benutzte geliehene
Pferd verschwand wegen der schnelleren Gangart jeweils in den für die Jahreszeit
charakteristischen Dunstschleiern (und wohl auch hinter den blühenden Kirschbäumen),
machte dann Halt, bis die Zurückgebliebenen aufgeholt hatten. Eine beschwingte,
frühlingshafte Reminiszenz.

145)

TAKEBE RYOTAI (1719-1774)

Mit den Lippen


wendet er die Seiten des Buchs –
vergraben im Winterquartiert

くちびるで草紙かへすや冬ごもり

くちびるでそうしかえすやふゆごもり
Rückzug ins Winterquartier – Winter

Veröffentlicht 1763.
Ein köstliches Genrebild: Da hat sich einer zum Überwintern völlig in seine Behausung
zurückgezogen und frönt seiner Lektüre, wahrscheinlich in einem Wärmenden Kotatsu
sitzend (ein Tischchen mit einem im Boden eingelassenen Kohlenbecken darunter; seitlich
rundherum abgeschirmt mit einer wattierten Decke, um die Wärme zurückzuhalten). Da es
auch im Haus drinnen bitterkalt ist, lässt er seine Hände lieber unter der Decke und wendet
die Seiten des auf dem Tisch liegenden Buchs mit den Lippen. Ryotai war Hokku-Dichter,
Erzähler und Gelehrter. Ohne Zweifel spricht er hier, mit Humor, aus eigener Erfahrung.

146)

TAKAKUWA RANKO (1726-1798)

Erster Tag im Jahr!


Mit diesem Herzen möchte ich
in der Welt leben

元日や此心にて世に居たし

がんじつやこのこころにてよにいたし

Neujahr / erster Tag – Neujahr

Veröffentlicht 1787.
Ein einfaches Hokku, das man je nach Standpunkt als banal empfinden kann oder umgekehrt
als Quintessenz dessen, was Japaner an Stimmungen, Gefühlen und Vorsätzen im positiven
Sinn mit dem Neujahrstag verbinden. In der Tat hängt es davon ab, wie man die beiden
Wörter kono kokoro mit Sinn auflädt. Ohne Zweifel fasst der Autor darin alles zusammen,
was den ersten Tag des Jahres zum höchsten Festtag im Jahreszyklus macht: ein Innehalten
in den täglichen Abläufen, Reinlichkeit, Offenheit, Geborgenheit und Rücksichtnahme im
natürlichen und menschlichen Umkreis; daraus folgend Hoffnung auf Neubeginn,
Hochgestimmtheit, Freude und das, was man pathetisch, aber durchaus angemessen mit
»Reinheit des Herzens« umschreiben mag. Dass dies alles letztlich zu Überforderung führt,
weiß auch Ryotai steht doch in derselben Sammlung auch das folgende Hokku:

»Neujahr! / Wenn drei Tage vorbei sind / ist der Mensch wieder der alte. «

147)
KUROYANAGI SHOHA (1727-1771)

Im Glanz des Herbstmonds


frönt er auf dem Abort seinem Laster:
bastelt chinesische Verse

名月や側にて詩の案じぐせ

めいげつやかわやにてしのあんじぐせ

Herbstvollmond – Herbst

Veröffentlicht 1777.

Dieses Hokku darf als ironische Selbstdarstellung betrachtet werden. Denn Shoha, ein enger
Freund Busons, hatte seit seiner Jugend klassische chinesische Dichtung studiert. Eine Anzahl
eigener Gedichte im chinesischen Stil (kanshi) finden sich in verschiedenen Anthologien
unter dem Pseudonym »Ryuko«. In der Übersetzung habe ich die Er-Form gewählt, weil sie
die selbstironische Distanzierung verstärkt. Die im Hokku häufige Kontrastierung von
Erhabenem (herbstlicher Vollmond, chinesische Poesie) und Banalem (Abort) wird hier auf
die Spitze getrieben.

148)

ENOMOTO SEIFU (1732-1814)

Die Nacht wird länger …


von Erinnerungen überwältigt
sinke ich weinend in Schlaf

長き夜や思ひあまりの泣寝入

ながきよやおもいあまりのなきねいり

Länger werdende Nacht – Herbst

Datierung: 1791. Vorspann: »An diesem Abend der Trauer um den Meister Shirao.« Seifu-ni
(»die Nonne Seifui) gehört zu den besten Hokku-Dichterinnen der Edo-Zeit. Sie stand in
einem engen Schülerverhältnis zu Kaya Shirao. Dieser starb am 13. Tag des 9. Monats 1791.
Das Hokku dürfte daher am Abend der Totenzeremonie entstanden sein. Besonders
eindrucksvoll ist es, wie hier das für den Herbst stehende Jahreszeitenwort mit dem
konkreten Anlass, dem Schmerz und der Trauer um den verehrten Meister, korrespondiert.

149)

ENOMOTO SEIFU (1732-1814)

Weiße Deutzienblüten –
An meiner Türe geht er vorüber
der Spiegelschleifer

卯の花や門を過行く鏡とぎ

うのはなやかどをすぎゆくかがみとぎ

Deutzien – Sommer

Veröffentlicht 1793. Vorspann: »Grässlich [für eine Frau] sind Anzeichen des Alterns, wenn
man abends an frühere Zeiten zurückdenkt und allein dasitzt. « In der Edo-Zeit hatte man
nur Spiegel aus Bronze oder Zinn, die periodisch geschliffen und poliert werden mussten. Da
die Frau nicht mehr in den Spiegel schauen möchte, lässt sie den Spiegelschleifer
vorüberziehen. Das Weiß der Deutzienblüten, ein schon im klassischen Waka unendlich
abgewandeltes Motiv, steht für die Jahreszeit, aber dient auch als Symbol für ihre guten
Erinnerungen und ihre Schönheit in vergangenen Zeiten. Das Hokku entstand wohl um die
Zeit, als die Autorin in den geistlichen Stand trat.

150)

KATO KYOTAI (1732-1792)

Die Nüsse der Scheinkastanie


rollen übers Schindeldach –
Kalt ist die Herbstnacht

椎の実の板屋を走る夜寒哉

しいのみいたやをはしるよさむかな
Nüsse / nächtliche Kälte im Spätherbst – Herbst

Der mächtige Shii-Baum (Castanopsis cuspidata) ist in Ostasien heimisch. Eine geläufige
deutsche Bezeichnung gibt es nicht, oft wird »Scheinkastanie« verwendet. Seine essbaren
Früchte sind den Eicheln sehr ähnlich, aber kleiner. Wenn sie reif sind, prasseln sie herunter
wie ein kleiner Hagelschauer hier in offensichtlich ländlicher Umgebung auf eine
danebenstehende Hütte, die mit Holzschindeln gedeckt ist. Das Prasseln und Rollen erweckt
ein Frösteln, das perfekt mit dem nächtlichen Kälteeinbruch korrespondiert. Die
Wahrnehmungen des Gehör- und Tastsinns decken und verstärken sich. Ein schönes Beispiel
für die delikaten Naturbeobachtungen dieses Meisters aus dem späten 18. Jahrhundert.

151)

UEDA MUCHO (1734-1809)

Kirschblüten Kirschblüten
fallen ohn‘ Ende hinein
in den Traum der Schönen

さくらさくら散って佳人の夢に入る

さくらさくらちってかじんのゆめにいる

Kirschblüte – Frühling

Veröffentlicht 1776.

Ein sehr »modernes« Hokku, weil es äußere und innere Welt ohne Grenze in eins
verschränkt. Was man über Tag intensiv und unausgesetzt betrachtet, sieht man schließlich
auch mit geschlossenen Augen, und das kann sich bis in die Innenwelt des Traums
fortsetzen. Dadurch, dass die herabwirbelnden Blütenblätter nach einem unter
Kirschbäumen zugebrachten Tag gleichsam ins »Traumgefäß« der Schönen fallen, wird auch
sprachlich ein Kontinuum hergestellt. Das ist großartig! Doch kein Wunder: »Mucho« ist das
Haikai-Pseudonym eines der wichtigsten Literaten der Edo-Zeit, Ueda Akinari, Verfasser der
berühmten fantastischen Geschichten Unter dem Regenmond und anderer herausragender
Werke.

152)

KAYA SHIRAO (1738-1791)


Knabenfest – Kalmus-Bad:
Die Kalmusblätter treiben zu mir her
berühren die Brust

さうぶ湯やさうぶ寄りくる乳のあたり
しょうぶゆやしょうぶよりくるちのあたり

Kalmus-Bad – Sommer

Datierung:1774. Geschrieben in Ueda (Nagano-Präfektur), auf der Reise. Nur einmal im Jahr,
zum Knabenfest am 5. Tag des 5. Monats, wurden dem heißen Bad Blätter der aromatisch
riechenden, an ätherischen Ölen reichen Shobu-Pflanze (Kalmus / Acorus calamus)
beigegeben. Dieser Pflanze wurden seit alters stärkende, ja magische Kräfte zugeschrieben.
Man muss sich im Kontext der japanischen Badekultur die entspannende Wirkung dieses
Bades und die festliche Hochstimmung an diesem besonderen Tag vorzustellen versuchen.
Die schwertlilienähnlichen Blätter treiben auf der Wasserfläche langsam herbei…
In der Übersetzung steht das Wort »Knabenfest«, obwohl es im Original nicht eigens
erwähnt wird. In der Vorstellung der Japaner ist shobuyu eben untrennbar mit dem
Knabenfest verbunden.

153)

KAYA SHIRAO (1738-1791)

Allein sitzt draußen


vor dem Haus ein blindes Kind –
Hibiskusblüten

めくら子の端居さびしき槿哉
めくらごのはしいさびしきむくげかな

Hibiskus/Eibisch – Herbst

Datierung: 8. Monat 1784, in einem Brief an einen Schüler.

Thematisch ungewöhnlich ist dieses Hokku. Shirao war eine höchst eigenwillige
Persönlichkeit. In seinen späteren Jahren hat er wiederholt über arme, bemitleidenswerte,
ausgegrenzte Menschen geschrieben, freilich nicht in einer klagenden oder gar anklagenden
Art, aber doch so, dass sein Mitgefühl im Hintergrund spürbar ist. Dieses Hokku lädt den
Leser ein, sich selbst die Umstände oder die Geschichte dahinter auszumalen. Auch bleibt es
offen, was die Hibiskusblüten als Kontrapunkt aussagen wollen. Bilden sie in ihrer Fülle und
Pracht einen Kontrast zu dem armen Kind, das sie nicht sehen kann? Oder soll vielmehr eine
Ähnlichkeit suggeriert werden zwischen ihrer zarten Zerbrechlichkeit und dem behinderten
Kind, das man sich dann als hübsches kleines Mädchen vorzustellen hätte? Die Kommentare
lassen das offen, zeigen sich aber durchweg fasziniert von dieser Gestaltungsweise.

154)

TAKAI KITO (1741-1789)

Würdevoll sanft
bahnt er sich einen Weg durch die Menge
der Sumo-Sieger

やはらかに人分け行くや勝ちすまふ

やわらかにひとわけゆくやかちずもう

Sumo-Ringkampf – Herbst

Datierung: 1775.
Das Wort, dem der Abgang des Siegers im Sumo-Ringkampf charakterisiert wird - yawaraka
ni (»weich», »sanft») erregt die Bewunderung der japanischen Hokku-Liebhaber. In der Tat,
wenn man sich die geballte Kraft, diesen Berg von einem Mann, vorstellt, so erstaunt der
Ausdruck zwar auf den ersten Augenblick. Doch ist darin und in der damit assoziierten Gestik
und Gehweise alles enthalten: Siegesstolz, Würde, majestätische Zurückhaltung, huldvolle
Entgegennahme des Beifalls, Selbstbewusstsein und Selbstgefälligkeit. Der Verfasser blickt
mit einer Mischung aus Sympathie, Ehrerbietung und doch auch einem Quäntchen Ironie auf
das Spektakel.

Vgl. Übersetzung und Kommentar bei E. May, Chükö, 2006, S. 333. May weist auch auf die
klanglichen Qualitäten der Verse hin mit den Silben yawa-, wa-‚ yu-‚ ya -‚ welche den
Eindruck des Sanften und Geschmeidigen verstärken.

155)

NATSUME SEIBI (1749-1816)

Eine Fliege geklatscht


Nun müssen alle dran glauben!
So ist das Menschenherz

蠅打ちてつくさむとおもふこ々ろ哉

はえうちてつくさんとうもうこころかな

Fliege – Sommer

Datierung: 1806.

Ein häufig zitiertes und kommentiertes, eher ungewöhnliches Hokku, das eine allgemeine
Einsicht in menschliche Impulse und Reaktionsweisen zwar mit Humor, aber beinahe
sentenzenhaft formuliert. Einige Kommentatoren stellen eine Verbindung her zur Tatsache,
dass Seibi, der Erbe und Inhaber eines Bankgeschäfts in Edo, seit seinem 18. Altersjahr stark
gehbehindert war und seine Tage vor allem in seiner Residenz zubringen musste. Er sei
deshalb gleichsam anfällig gewesen für Reaktionen der geschilderten Art. Eine solche
Einengung auf das Biographische scheint mir besonders in diesem Fall völlig abwegig. Es ist
geradezu genial, wie der Verfasser in drei Schritten aus einem lächerlichen Detail eine quasi
psychologische Gesetzmäßigkeit ableitet.
156)

RYOKAN (1758-1831)

Mit einem Handtuch


verheimlicht er sein Alter
beim Bon-Fest-Tanzen

手ぬぐひて年をかくすや盆踊

てぬぐいでとしをかくすやぼんおどり

Tanz beim Bon-Fest – Herbst

Der unkonventionelle Zen-Mönch und Dichter Ryokan hat sich vor allem mit Waka und mit
Gedichten im chinesischen Stil einen Namen gemacht. Aber auch als Hokku-Verfasser gehört
er zu den Ausnahmeerscheinungen seiner Zeit. Seine Hokku gelten als leicht und rasch aus
der Situation hingeworfene Verse, die Naturphänomene oder Persönliches skizzieren. Im
vorliegenden Beispiel umschlingt er das Haupt mit einem Handtuch, weil er sich schämt, in
seinem Alter noch so enthusiastisch im Kreis der Bon-Tänzer mitzutun.

157)
RYOKAN (1758-1831)

Ging Feuer holen


steige nun über die Brücke
Beißende Kälte!

火貰ひに橋越て行く寒さかな

ひもらいにはしこえてゆくさむさかな

Kälte – Winter

In früheren Zeiten musste man darauf achten, tief in der Asche vergraben immer ein Stück
glühende Holzkohle aufzubewahren, um Feuer entfachen zu können. Wenn die Glut erlosch,
blieb nichts anderes übrig, als in der Nachbarschaft darum zu bitten - (zumindest wenn man
das mühsame eigene Feuerschlagen vermeiden wollte). Dieses Hokku spielt mit dem
Kontrast, dass da einer » Feuer« über die Brücke trägt und ihm dennoch der eisige
Winterwind durch Mark und Bein fährt.

158)

NARITA SOKYU (1761-1842)

Wasserspiegelung – der Widerschein


reicht jetzt herein bis an den Pfosten
Heute morgen: Herbstbeginn

江のひかり柱に来たりけさのあき

えのひかりはしらにきたりけさのあき

Morgen des Herbstanfangs – Herbst

Ein Haus am Wasser. Der Bewohner weiß aus Erfahrung: Wenn die Morgensonne in einem
bestimmten Winkel auf die Wasseroberfläche (des Sees, des breiten Flusses, der
Meeresbucht) fällt, so dass die Spiegelung bis hin zum Pfosten im Innern des Hauses reicht,
dann ist der Herbst gekommen. Der kaum wahrzunehmende Übergang wird mit der
Beobachtung eines kleinen Details fassbar gemacht. Ein Aufatmen ist die Folge, ein Hauch
von Frische scheint sich auszubreiten. Die lautlichen Anklänge (hikari - kitari), die Häufig von
k-Lauten unterstützen dieses prickelnde Gefühl. Die japanische Obsession mit dem Wechsel
und Fluss der Jahreszeiten findet hier einen besonders geglückten Ausdruck.

159)

TAGAWA HORO (1762-1845)

Bergwald – zwischen Bäumen


glänzt tief unten klares Wasser
Sommermonat

深山木の底の水澄む五月かな

みやまぎのそこにみずすむさつきかな

5. Monat / Sommermonat – Sommer

Der 5. Monat ist nach dem Mondkalender der mittlere Sommermonat; er entspricht
ungefähr dem Juni nach westlicher Zeitrechnung. Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts
ist dies ein ungewöhnliches Hokku. Es geht darin offensichtlich um eine Bergwanderung, um
einen Blick von oben auf einen in der Tiefe liegenden stillen See, mitten im Grün der Bäume.
Auch wenn man hier nicht an eine Hochgebirgsszenerie denken sollte, haben wir es doch mit
einer Überblicksperspektive aus der Höhe zu tun, wie sie eigentlich erst am Ende des 19.
Jahrhunderts, unter westlichem Einfluss, aufkommt. Die Art, wie hier eine weiträumige
Landschaft in klarer Strukturierung erfasst wird, weist auf die Moderne voraus.

160)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Dichter noch und noch:


Aus allen Zweigen sprießen
die jungen Knospen

木々おこおの名乗り出でたる木の芽哉

きぎおのおのなのりいでたるこのめかな
Knospe – Frühling

Datierung: 1789.
Eines der ersten überlieferten Hokku Issas. Bereits 1781 soll er sich in Edo der Kurzform
zugewandt haben. Er schloss sich der Katsushika-Schule an (Katsushika war die östlich an
Edo anschließende ländliche Gegend). Damals gab es in und um Edo eine beträchtliche
Anzahl von Schulen und Zweigschulen in der Basho-Nachfolge. Sie hat Issa im Auge, wenn er
von all den vielen Bäumen oder Zweigen spricht (kigi ono-ono). In dieser »Neuen Blüte«
(Chuko) traten laufend junge Talente hervor und versuchten sich einen Namen zu machen.
Der junge Poet zeigt mit diesen Versen, dass er sich auch dazu zählt. Von 1790 an signiert er
mit dem Pseudonym »Issa». Die Übersetzung nimmt sich hier die Freiheit, im ersten Vers
den im Original nur implizierten doppelten Sinn zu benennen.

161)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Frühlingsblütendunst
für drei Groschen –
beäugt durchs Fernrohr

三文が霞見にけり遠眼鏡

さんもんがかすみみにけりとおめがね

Frühlingsdunst – Frühling

Datierung: 1790. Vorspann: »Über Mittag die Anhöhe von Yushima bestiegen. «
Ein frühes Hokku von Issa. Yushima war eine zentral gelegene kleine Erhebung in Eda mit
Schrein, Aussichtspunkt, Gaststätten und Buden, von wo man in der Edo-Zeit noch einen
Rundblick auf die östlichen Ausläufer der Stadt (Ueno, Shinobazu-Teich, Asakusa) hatte. Man
konnte sich auch für 3 Mon ein Fernrohr leihen. Issa macht sich wiederholt lustig über die
damalige Tendenz der Edo-Leute, bei allen möglichen Gelegenheiten ein paar Münzen Profit
herauszuschlagen. Aber auch seine typische Selbstironie klingt hier mit, Geld verschwendet
zu haben, nur um den Frühlingsdunst in der Ferne zu begutachten.

162)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Mach dich nur lustig über


mein Schütteln beim Wasserlösen
Grashüpfer du!

小便の身ぶるひ笑へきりぎりす

しょうべんのみぶるいわらえきりぎりす

Heuschrecke – Herbst

Entstanden in den 1790er Jahren. Anthologien und Kommentare weichen diesem Hokku
geflissentlich aus. Dabei ist es charakteristisch für die Vorstellungswelt und den
erdverbundenen Humor des »Bauern-Dichters» Issa. Das Bedürfnis und die Notwendigkeit,
sein Geschäft in freier Natur zu verrichten und dabei von einem zirpenden Heuschreck
ausgelacht zu werden diese Kombination zeugt von einer ausgesprochenen Begabung für
direkte, ungeschminkte, arglos-naive
Komik. Dieses Hokku steht keineswegs alleine da. Aus den Jahren 1816-21 sind drei weitere
ähnliche Stücke mit denselben »Protagonisten« überliefert.

163)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Der Abend dämmert –


Einsamkeit eines Rückens
unter den Herbstfarben

日の暮の背中淋しき紅葉哉

ひのくれのせなかさびしきもみじかな

Herbstlaub, -farben – Herbst

Datierung: 1803.
Da ist einer, der ungeachtet der prachtvollen herbstlichen Stimmung in der Abendstille
gebückt vor sich hin kauert. Meist wird das biographisch ausgedeutet. Issa beobachtet sich
quasi objektiv, aus der Distanz von hinten und stellt so die depressive Aura, unter der er in
diesem Lebensabschnitt leidet, bildlich dar.
164)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Die Pflaumenblüten duften


Doch da mag kommen wer will
meine Teeschalen – alle beschädigt!

梅が香やどなたが来ても欠茶碗

うめがかやどなたがきてもかけちゃわん

Pflaumenblütenduft – Frühling

Datierung: 1804.
Wie schon das vorangehende Hokku zeigt, führte Issa in diesen Jahren das unstete Leben
eines Poeten mit wechselnden Adressen in Edo, unterstützt allenfalls von seinem
Dichterfreund Natsume Seibi. In diesen Versen streicht er den Gegensatz zwischen dem
Reichtum der Natur und seiner äußeren (beschämenden) Bedürftigkeit hervor: Der blühende
Pflaumenbaum ist sozusagen sein einziges Kapital, das die Menschen anzieht. Aber seine
Gäste kann er nur mit einem Schluck Tee aus halbzerbrochenen Schalen bewirten.

165)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Herbstwind bläst –
Der Blick des Bettlers taxiert mich
als senesgleichen

秋の風乞食ハ我を見くらぶる

あきのかぜこじきはわれをみくらぶる

Herbstwind – Herbst

Datierung! 1804. Laut Kaneko Tota (1983) durchlebte Issa nach dem Tod seines Vaters im
Jahr 1801 bis etwa 1807 seine schwierigste Zeit als völlig mittelloser Wanderpoet. Dabei war
er weit davon entfernt, diesen Zustand wie das Basho getan hatte zu kultivieren und zu
idealisieren. Er hatte kaum wohlhabende Gönner, mit Ausnahme des Börsenmaklers und
Dichterfreunds Natsume Seibi (vgl. Nr. 155). Zudem nagte das Bewusstsein an ihm, dass der
Vater ihm ja ein existenzsicherndes Erbteil vermacht hatte, das ihm nur durch die
Machenschaften der Stiefmutter und des Halbbruders vorenthalten wurde. Das vorliegende
Hokku bringt diese Gefühlslage zum Ausdruck. Es war ihm unangenehm, auf die Stufe eines
Bettlers gestellt zu werden.

166)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Der Frühling ist da!


Dreiundvierzig Jahre leb ich nun
vom Reis der anderen

春立や四十三年人の飯

はるたつやよんじゅうさんねんひとのめし

Frühlingsanfang – Frühling

Datierung: 1805.
Wie schon bei Nr. 165 bemerkt, durchlebte Issa in den Jahren 1801-07 seine schwierigste
Zeit als freischwebender Hokku-Poet. Nach dem Tod des Vaters und mit dem Überschreiten
des 40. Altersjahrs suchte er immer öfter nach einem Ausweg aus seiner prekären Situation.
»Der Frühling ist da« bedeutet hier wohl: »Schon wieder hat ein Jahr begonnen, und es gibt
keine Aussicht auf eine Verbesserung. « Die Unsicherheit und die Abhängigkeit von anderen
bedrücken ihn mit zunehmendem Alter. (Vgl. auch Nr. 167.)

167)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Ein gewisses Schuldgefühl


nicht zu ackern, nicht zu pflanzen …
so geht das Jahr zu Ende

耕さぬ罪もいくばく年の暮

たがやさぬつみもいくばくとしのくれ
Jahresende – Winter

Datierung: 1805.
Noch deutlicher als im vorangegangenen Hokku formuliert Issa hier seine latente
Ungewissheit in Bezug auf seinen weiteren Lebensweg. Als Bauernsohn nichts Materielles
zur Deckung seiner unmittelbaren Bedürfnisse beizutragen, empfindet er als tsumi (»Sünde»,
»Schuld»). Nicht so sehr die Armut an sich als vielmehr das Gefühl, ein parasitäres Dasein zu
fristen, Wird allmählich zur Belastung und zum Antrieb, schließlich sein ihm vorenthaltenes
Erbteil aktiv einzufordern und ein paar Jahre später in sein Heimatdorf in den Bergen der
Provinz Shinano zurückzukehren.

168)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Katsushika – ländliche Gegend


Sogar im Plumpsklo
ein Frühlingsfalter

かつしかや雪隠の中も春のてふ

かつしかやせっちんのなかもはるのちょう

Frühlingsfalter – Frühling

Datierung :1806.
Katsuihika ist heute ein Stadtbezirk von Tokyo, früher jedoch bezeichnete es die weite
Landschaft die östlich an die Stadt Edo grenzte. Dieser Landstrich scheint Issa immer wieder
angezogen zu haben. Im Frühjahr 1806 streifte er zwei Wochen lang durch die Gegend,
besuchte Tempel und Schreine und stieg bei Bekannten und Haikai-Freunden ab.

Das Hokku entstand wohl bei dieser Gelegenheit. Es sind leichte Verse, die mit dem
Endlichen Ambiente, mit dem Gegensatz von prosaischer Örtlichkeit und zarten poetischen
Frühlingsboten spielen. In der Übersetzung scheint mir der erläuternde Zusatz zum
Ortsnamen »ländliche Gegend« --für das Verständnis unumgänglich zu sein.

169)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)


Schon wieder einer
der mich im Eilschritt überholt
Abend im Herbst

又人にかけ抜れけり秋の暮

またひとにかけぬかれけりあきのくれ

Herbstabend – Herbst

Datierung: 9. Tag, 9. Monat 1806.


An diesem Tag besuchte Issa zusammen mit dem viel älteren Dichterkollegen Kato Yaitsu ein
Schreinfest und ein Puppentheater in Kanamachi. Auf dem Heimweg soll dieses Hokku
entstanden sein.
Der Ärger, von anderen überholt zu werden, erscheint hier offensichtlich in einem
abstrahierten Sinn auf die damalige Lebenssituation Issas übertragen. Eine gewisse
Frustration in jenen Jahren wird in manchen Versen spürbar. Hier bricht sie auch in der
Lautgestalt durch, in der wohl absichtlichen Häufung von k-Lauten.

170)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Sie blenden die Vögel


lassen sie zetern – und genießen gleichgültig
die Kühle am Tor

目をぬひて鳥を鳴かせて門涼

めをぬいてとりをなかせてすずみ

Sich am Hauseingang abkühlen – Sommer

Datierung: 1807.
Ein Hokku der Empörung und Kritik an der menschlichen Grausamkeit und Gier. In einem
kurzen Prosatext von 1807 schildert Issa, wie in einem Haus beim Fischmarkt in Edo
Wildgänse und Enten gehalten werden. Sie werden schon als Küken geblendet und unter
engsten Verhältnissen gemästet, um dann als Leckerbissen auf den Tischen reicher Kunden
zu enden - ein in den Augen der Produzenten ehrenwertes, seit Generationen betriebenes
Geschäft. Zwei weitere Hokku zum selben Thema aus jenen Jahren zeigen, Wie stark Issa
solches beschäftigt hat.

171)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Herbst wind –
… war ja früher auch mal
ein hübscher Junge

秋風やあれも昔は美少年

あきかぜやあれもむかしはびしょうねん

Herbstwind – Herbst

Datierung: 1810.
Worauf oder auf wen bezieht sich das hinweisende Pronomen are (»jener/jenes»)? Ist es
irgendein älterer Mann, dessen Aussehen an den kalten Herbstwind erinnert? Ist es der
Dichter selbst, der sich gleichsam aus der Ferne beobachtet und spöttisch auf sein Alter
Bezug nimmt? Aber es kann durchaus auch der Wind selbst gemeint sein, der irgendwann
einmal eine angenehme, erfrischende Brise gewesen ist. Eine solche leicht surrealistische
Deutung scheint mir vertretbar und attraktiv.

172)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Frühlingsbriese – im Schlepptau
des Ochsen unverhoffte Wallfahrt
zum Zenkoji Tempel

春風や牛に引かれて善光寺

はるかぜやうしにひかれてぜんこうじ

Frühlingsbriese – Frühling
Datierung: 1811. Vorspann: »Vom 25. Tag des 2. Monats an Schreinöffnung [kaicho].«

Der Zenko-ji in Nagano (unweit von Issas Geburtsort) gilt als einer der ältesten
Wallfahrtstempel Japans. In Abständen von 6 Jahren erhält das Publikum für ein paar
Wochen Zutritt zum zentralen Heiligtum. Die Frühlingsbrise verweist auf den Zeitpunkt
dieses Ereignisses. Zudem wird auf eine Tempel-Legende Bezug genommen: Eine von Gier
getriebene alte Frau, die sich der Lehre Buddhas widersetzt, hängt ein Tuch zum Trocknen
auf. Da erscheint unvermittelt ein Ochse, nimmt das Tuch auf die Hörner und macht sich
davon. Die Frau rennt blindlings hinterher, bis der Ochse verschwindet und sie bemerkt, dass
sie vor der Halle des Zenkö-ji angelangt ist. Sie hat also unbewusst die Wallfahrt zum Tempel
vollzogen, was sie schließlich in ihrem Lebenswandel zur Besinnung bringt. Daraus entstand
das Sprichwort: »Im Schlepptau des Ochsen zum Zenko-ji Wallfahren, d.h. eine Sache nimmt
ohne Absicht und eigenes Dazutun eine glückliche Wendung. Issa verknüpft also nur das
Sprichwort mit der Frühlingsbrise eine Hommage an den berühmtesten Tempel seiner
Heimat. Dieses Hokku erlangte ungeheure Popularität.

173)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Herbstnacht
Das Loch im Papier der Schiebetür
bläst Flöte

秋の夜や障子の穴の笛を吹く

あきのよやしょうじのあなのふえをふく

Herbstnacht – Herbst

Datierung: 1811.
Vielleicht weist die durchlöcherte Schiebetür auf ärmliche, heruntergekommene
Verhältnisse hin. In der Nacht kommt ein kalter, stürmischer Herbstwind auf und erzeugt
seltsame Geräusche. Eine eher unheimliche, gespenstische Szene, die einen frösteln lässt.
Doch wird sie abgemildert durch die humorvolle Personifizierung des Lochs, das zu flöten
beginnt. In einer vorausgehenden Fassung lautete der zweite Vers: »Das kleine Loch im
Fenster ...: lssa stellt also doch wohl eher den unerwarteten akustischen Effekt einer kleinen
Öffnung in den Vordergrund.

174)
KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Flatternd
wie ein Mohnblütenblatt
der Vorderzahn

花げしのふはつくやうな前歯哉

はなげしのふわつくようなまえばかな

Mohnblüte – Sommer

Datierung: 1812.
In diesem Jahr wurde Issa fünfzig. Angesichts der geringen durchschnittlichen Lebensdauer
in jener Zeit stand man mit Fünfzig bereits an der Schwelle des Alters. Andererseits war dies
für Issa das Jahr, da sich endlich die Gewissheit abzeichnete, dass er sich mit seinem Erbe als
kleiner Grundbesitzer würde etablieren und bald auch würde heiraten können. Es stand also
ein nochmaliger energischer Aufbruch bevor. Deshalb ist dieses Hokku wohl zu den
ironischen Selbststilisierung zu zählen, wie sie für Issa typisch sind. Ungewöhnlich kühn und
doch sinnfällig ist der Gedankensprung vom Jahreszeitenwort »Mohnblüte« zum Thema
»Alterserscheinung / wackelnder Zahn«.

175)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Gegen den Abend-Fuji


reihen sich ihre Hintern
und quaken – die Frösche

夕不二に尻をならべてなく蛙

ゆうふじにしりをならべてなくかわず

Frosch –Frühling

Datierung: 1812. Nach meiner bevorzugten Interpretation strecken ein paar Frösche am
Rand eines Reisfelds dem Fuji ihre Hintern zu und quaken, so als wollten sie gegenüber der
in Abendbeleuchtung auftrumpfenden Bergsilhouette ihr Desinteresse oder gar ihre
Verachtung ausdrücken. Der Kontrast »Klein - Groß«, »Nah - Fern, »Profan - Erhaben«
erinnert an manche Holzschnitt-Darstellungen des Fuji von Katsushika Hokusai, mit dem
dominierenden Vordergrund und dem kleinen Fuji tief im Hintergrund. Die Frösche tun das,
was sie können; sie sind ganz bei sich. Könnte es sein, dass hier der Betrachter, der Mensch
mit seinem Drang in die Weite, mit seiner ganzen Ästhetik ironisiert werden soll?
Die sprachliche Reduktion bringt es allerdings mit sich, das der Sachverhalt auch so deutbar
ist: Gegen den Abend-Fuji hin quaken die Frösche, indem sie ihre Hintern nebeneinander
setzen. Sie reihen sich also dem Fuji zugewandt nebeneinander. Das hieße, dass die kleine
Kreatur, ähnlich wie der Mensch, vor lauter Begeisterung über die Schönheit des Fuji in
lautes Quaken ausbricht. Auch dies eine Vorstellung voller Komik und Ironie.

176)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Von heute an
seid ihr japanische Wildgänse
schlaft ohne Sorgen!

けふからは日本の雁ぞ楽に寝よ

きょうからはにほんのかりぞらくにねよ

Wildgans – Herbst

Datierung: 1812. Vorspann: »Soto-ga-hama.«


Die Wildgänse fliegen im Frühjahr nach Norden, in Richtung Sibierien, im Herbst kehren sie
zurück. Issa heißt sie willkommen mit der Versicherung, dass sie nun wieder in Japan sind
und ruhig schlafen können eine bemerkenswerte, für ein Hokku ungewöhnliche, in einem
weiten Sinn politische Aussage. In jenen Jahren gelangten russische Schiffe nach Ezo
(Hokkaido). Ein Interesse für Außenbeziehungen im Norden und für mögliche Bedrohungen
machte sich breit. Das im Vorspann genannte Soto-ga-hama ist die äußerste Küste im
Nordosten der Hauptinsel Honshu, im Umkreis der Tsugaru-Halbinsel. Obwohl Issa selbst,
soviel bekannt ist, nie bis dorthin vorgestoßen ist, nennt er diese Küste gleichsam als
Einfallstor für die Wildgänse (und wer weiß für nördliche Barbaren?). Jedenfalls scheint der
Dichter gerade dieses Hokku besonders geschätzt zu haben, da es in manchen
eigenhändigen Bild-Schrift-Versionen erhalten geblieben ist.

177)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)


Das wird nun also
meine letzte Wohnstatt sein?
Fünf Fuß tief der Schnee…

是がまあつひの栖か雪五尺

これがまあついのすみかかゆきごしゃく

Schnee – Winter
Datierung: 1812. Vorspann: »Am 24. Tag des 12. Monats kam ich in der alten Heimat an. «
In Wahrheit war Issa schon einen Monat früher in seinem Geburtsort Kashiwabara in den
Bergen der Provinz Shinano angekommen, einer äußerst schneereichen Gegend, schon
gegen die Küste des japanischen Meers zu gelegen. Er hatte sich aber noch in den
Nachbardörfern umgesehen und sich wahrscheinlich erst am angegebenen Datum endgültig
entschieden, sein Lebensende nach 36jähriger Wanderschaft hier zu verbringen. Bald danach
kam auch der langjährige Streit um seine Erbschaft zu einem positiven Ende.
Dieses Hokku ist gleichsam ein Seufzer aus tiefstem Herzen: einerseits Hoffnung, Freude
über die feste Bleibe und den Wiedergewinn der Heimat, andrerseits leiser Zweifel an der
Weisheit der Entscheidung, auch angesichts des langen und harten Winters; schließlich das
Bewusstsein, nun bereits das Alter erreicht zu haben. (Die durchschnittliche
Lebenserwartung betrug noch am Ende des 19. Jahrhunderts nur 44 Jahre.)

178)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Im Frühlingsregen
schnattern die Enten, die der Fressgier
bisher nicht zum Opfer fielen

春雨や喰れ残りの鴨が鳴

はるさめやくわれのこりのかもがなく

Frühlingsregen – Frühling

Datierung: 1813.
Enten sind Zugvögel, die gleich wie die Wildgänse in Japan überwintern und im Frühling
nordwärts ziehen. Sie sind eine beliebte Jagdbeute.
Fast durchweg heben die Kommentare hervor, ein »normaler« Hokku-Dichter würde es beim
Ruf der Enten im Regen zur Charakterisierung einer bestimmten Frühjahrsstimmung
bewenden lassen. Doch Issa fügt die drastische Wendung kuwarenokori (wörtlich: vom
Gefressen werden übrig bleibend) hinzu, die alle »gehobene« Stimmung zunichte macht und
einen direkten, prosaischen, ja kritisch-zynischen Ton anschlägt. In solchen
Gestaltungsweisen äußert sich die echte, kraftvolle Individualität und Eigenwilligkeit dieses
»Bauern Dichters«.

179)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Diese Pracht! Durch ein Loch


im Papier der Schiebetür
die Milchstraße

うつくしや障子の穴の天の川

うつくしやしょうじのあなのあまのがわ

Milchstraße – Herbst

Datierung: 7. Tag, 7. Monat 1813. Vorspann: »Während einer Krankheit.« »Zur Zeit des
Sternenfestes [tanabata].«
Noch einmal spielt Issa mit dem »Loch im Papier der Schiebetür« (vgl. Nr. 173). Hier dient es
als winziges Tor zum Universum. Das ist sozusagen der Inbegriff einer Haikai-Perspektive: die
unvermittelte Koppelung des Kleinen, Unzulänglichen, Defekten mit dem Allumfassenden.
Dabei geht es nicht um etwas abstrakt Imaginiertes, Erfundenes, sondern um etwas in einer
konkreten Situation Gefundenes. Über die Umstände sind wir in diesem Fall ziemlich genau
unterrichtet. Nach seiner Rückkehr in die Heimat Anfang 1813 logiert Issa für einige Zeit
zunächst abwechselnd bei Freunden. Im 6. Monat wird er von schmerzhaften Geschwüren
heimgesucht. Ganze 75 Tage findet er Unterschlupf bei seinem Schüler und Vertrauten, dem
Arzneihändler Uehara Bunro, im Stadtbezirk des Tempels Zenko-ji in Nagano. Am Tag des
Tanabata-Festes (7. Tag, 7. Monat) tritt eine gewisse Besserung ein. Von seinem
Krankenlager aus fällt sein Blick durch ein Loch auf den Nachthimmel und die Milchstraße.
Dabei notiert er das vorliegende Hokku.

180)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Wenn sich jemand nähert


werde einfach zum Frosch
gekühlte Melone

人来たら蛙となれよ冷し瓜

ひときたらかわずとなれよひやしうり

Frosch – Frühling

Datierung: 1813. Im heißen Sommer schwimmt die Melone zur Kühlung im Wasser. Die über
dem Wasserspiegel sichtbare, grünlich gestreifte Oberfläche mag an einen Frosch erinnern.
Der Gedankensprung, dass die Melone als Frosch einen möglichen Dieb abschrecken könnte,
ist eine vergnügliche, märchenhafte Idee, die sich zwar entfernt an einem Waka und einer
kleinen Geschichte im Ise monogatari (Abschnitt 6) inspiriert, aber vor allem für das kindlich-
naive Gemüt des Dichters steht.
180)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Solch eine schäbige Welt –


und doch von blühenden Kirschen
über- und übervoll!

此やうな末世を櫻だらけ哉

このようなまっせをさくらだらけかな

Kirschblüte – Frühling

Datierung: 1814.
Issa betrachtete den Lauf der Welt im Kleinen wie im Großen immer mit dem ihm eigenen
kritischen Blick und Sarkasmus. Das änderte sich auch nicht, als er sich in seine Heimat
zurückgezogen hatte. Als Ausdruck seiner kritischen Haltung wählt er hier ‚den
buddhistischen Begriff masse («Spätzeit«, «Zeit des Niedergangs«). Dass in einer solchen
Welt dennoch die Kirschblüten überall in unverminderter Fülle hervorbrechen, nimmt er
einerseits mit einem Kopfschütteln, andererseits mit Bewunderung zur Kenntnis.

182)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)


Komm doch her
spiel mit mir! Du kleiner
verwaister Spatz

我と来て遊べや親のない雀

われときてあそべやおやのないすずめ

Junger Spatz – Frühling

Datierung: 1814. Vorspann: »Yataro sechsjährig.«


»Yataro« ist Issas Kindername. Der Dichter hat dieses Hokku offensichtlich in Erinnerung an
seiner wenig glückliche Kinderzeit geschrieben, in einem bewusst naiven Ton. Im Mitleid für
das verwaiste Spatzenkind spiegelt sich sein eigenes Los. Auch er war verwaist, da er die
Mutter im Alter von drei Jahren verloren hatte. Jahre später starb auch die geliebte
Großmutter. Von der Stiefmutter aber hatte er nichts Gutes zu erwarten. Der Konflikt führte
schließlich zu seinem vorzeitigen Abgang nach Edo, als Fünfzehnjähriger, und viel später zu
beinahe unendlichen Erbzwistigkeiten.

Doch unabhängig von diesem biographischen Hintergrund sind die Zeilen ein schönes
Beispiel für einen Grundzug Issas das tiefe Mitgefühl, das er den schwachen, einsamen,
ausgegrenzten Wesen aller Art zukommen lässt.

183)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Endlich schmilzt der Schnee –


das Dorf wimmelt nur so
von fröhlichen Kindern

雪とけて村一ぱいの子ども哉

ゆきとけてむらいっぱいのこどもかな

Schneeschmelze - Frühling

Datierung: N ujahr 1814.


Eine Szene aus Issas Heimat, dem Schneeland in den Bergen der Provinz Shinano (heute:
Präfektur Nagano), wohin er nach einem 36 Jahre dauernden Wanderleben zurückgekehrt
ist. Nach dem langen, harten, schneereichen Winter bricht plötzlich die Wärmende
Frühlingssonne und die Schneeschmelze mit Macht herein. In einer Zeit vor 200 Jahren, als
sportliche Winteraktivitäten im Schnee noch unbekannt waren, ist dies das Zeichen für die
Kinder, sich ins Freie zu stürzen, so dass der abgelegene Ort nur so vor Energie und
Lebenskraft strotzt. Der Betrachter wundert sich, dass es da überhaupt so viele Kinder gibt,
ein Erstaunen, das in der umgangssprachlichen Wendung mura ippai (»das Dorf übervoll
von», »das Dorf Wimmelt von ... ») seinen sprachlich geglückten Ausdruck findet.

184)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Der Rettichzieher –
mit einem Rettich
wies er den Weg

大根引大根で道を教えけり

だいこんひきだいこんでもちをおしえけり

Rettichernte – Winter

Datierung: 12. Monat 1814.


Eine Geste voll Komik, die sich unmittelbar einprägt, eine Trouvaille! Nach dem Weg gefragt,
streckt der Bauer auf seinem Acker den eben herausgezogenen, noch mit Erde behangenen
weißen Rettich leichthin in die Richtung, die der Wanderer einschlagen soll. Bei allem
drastischen Realismus, bei aller Erdverbundenheit des Bildes kann es aber auch in einen
geradezu philosophischen Hintersinn umschlagen: Der Rettichzieher, oder gar der Rettich
selbst, wird zur Instanz, die weiß, welche Richtung der Wanderer auf seinem Weg in der
Bedeutetem von »Lebensweg« einzuschlagen hat. In einem solchen surreal-metaphysischen
Sinn zitiert der Dichter Klaus Merz dieses Hokku in seinem neuesten Gedichtband Helios
Transport (Innsbruck: Haymon Verlag, 2016), wobei er das Verb absichtlich ins Präsens setzt.
»Schön / so langsam / aus allen Kurven / getragen zu werden. // Aber der Rettichzieher /
Wie Issa sagte / mit dem Rettich / weist er den Weg.« (Gedicht mit dem Titel »Siebzig
vorbei«, 3.41.)

185)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

An den Rockschößen
des Meisters Basho hängend
genieße ich die Abendbriese
芭蕉様の臑をかぢって夕涼み

ばしょうさまのすねをかぢってゆうすずみ

Abendkühle – Sommer

Datierung: wahrscheinlich im Zeitraum 1814-16. Man kann vermuten, dass dieses Hokku
nach der Beilegung des Erbstreits und nach Issas endgültiger Rückkehr in sein Heimatdorf
entstanden ist. Es drückt einerseits seine Verehrung für Basho aus, zeugt aber andererseits
von Freude und Erleichterung darüber, dass er selbst nun nach jahrzehntelanger unsteter
Wanderschaft zur Ruhe gekommen ist und als Meister des Hokku anerkannt wird.

186)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Die Pfote des Kätzchens


hascht nach fallenden Blättern
drückt sie leicht nieder

猫の子がちょういと押へるおち葉哉

ねこのこがちょいとおさえるおちばかな

Fallendes Laub – Herbst

Datierung: 1815. Wiederum malt Issa eine kleine Tierszene. Entzückt beobachtet er das
possierliche Spiel des Kätzchens, das immer wieder noch etwas zögerlich, ungeschickt, halb
neugierig, halb ängstlich -ein herunterschwebendes Blatt zu erwischen sucht und es dann
quasi als Beute kurz zu Boden drückt.

187)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Abgemagerter Frosch
lass dich nicht unterkriegen!
Issa ist da!
痩蛙まけるな一茶是に有

やせがえるまけるないっさこれにあり

Frosch – Frühling

Datierung: 4. Monat 1816. Vorspann: »In Take-no-tsuka in der Provinz Musashi gab es einen
Froschkrieg. Ich ging hin, um mir das anzuschauen, am 20. Tag des 4. Monats. «
Mit »Krieg der Frösche« wurde das massenweise kompetitive Paarungsverhalten der Frösche
bezeichnet, ein Spektakel, das immer wieder Schaulustige anzog. Auch Issa scheint sich das
angesehen zu haben, damals, als er noch in Edo wohnte. Das Hokku ist also aus der
Erinnerung an diese Zeit niedergeschrieben. Oberflächlich sieht man in diesem Hokku eine
bei Issa oft zu beobachtende Parteinahme für den Schwächeren, die zusätzlich mit dem
humoristisch gemeinten Schlachtruf »Issa ist da! « versehen ist. kore ni ari parodiert nämlich
den Kampfauftritt eines mittelalterlichen Kriegers, der seinem Gegner herausfordernd
gegenübertritt und dabei seinen Namen nennt.
Einige Kommentatoren sehen aber mehr dahinter, nämlich ein ironisches Selbstbild: Issa,
dem abgemagerten Frosch, war es schließlich in seinem 52. Lebensjahr, nach langem
Erbschaftsstreit, doch noch geglückt, zu heiraten und in seiner alten Heimat eine Familie zu
gründen, und zwar genau zwei Jahre vorher, am 21. Tag des 4. Monats 1814. Die
Übersetzung könnte dann auch so lauten: »Abgemagerter Frosch! / Lass dich ja nicht
unterkriegen, Issa! / Hier bin ich! «

188)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)


Den Münzen wachsen
Flügel – sie fliegen davon
am Jahresende

羽生へて銭がとぶ也としの暮

はねはえてぜにがとぶなりとしのくれ

Zu Ende gehendes Jahr – Winter

Datierung: 1816.
Issa war wie wenige Poeten der Edo-Zeit von seiner Herkunft wie von seinem ganzen Habitus
und Lebensstil her gesehen ein shomin, ein Mann des einfachen Volks, und als solcher ein
mit allen Kleinigkeiten und Widrigkeiten des Alltags vertrauter Realist. So gehören auch die
Münzen das Kleingeld zu seinen wiederholt aufgegriffenen Themen. In diesem Hokku weist
er mit seinem ihm eigenen, unnachahmlichen Humor auf den von vielen gefürchteten
sprichwörtlichen Abrechnungstermin zum Jahresende hin.

189)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Zur Mandarine schielt und schielt das Kind –


Belohnung für die erste Pinselschrift
am Neujahrstag

書賃のみかんみいみい吉書哉

かきちんのみかんみいみいきっしょかな

Erste Kalligraphie – Neujahr

Die ersten zeremoniellen Pinselzüge gehörten zum Neujahrstag fast wie der Sonnenaufgang.
Auch kleine Kinder mussten sich der Sitte beugen, oft Widerstrebend, und unter den Augen
der Angehörigen ein Zeichen zu Papier bringen. Das Kind hier ist aber nicht bei der Sache,
sondern sein Sinn ist auf die Belohnung gerichtet. Nach jedem Strich setzt es ab und schielt
zur versprochenen Frucht hin. Die heitere Komik der Szene ist schon so perfekt, wird aber
noch gesteigert durch die Lautmalerei des mittleren Verses.

190)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Krieche nur lache nur


Schon bist du zwei Jahre alt!
Seit heute morgen

這へ笑へ二ッになるぞけさからハ

はえわらえふたつになるぞけさからは

Heute morgen, 1. Tag im Jahr – Neujahr


Datierung: Neujahrstag 1819. Vorspann: »Meiner im 5. Monat des Vorjahrs geborenen
Tochter präsentiere ich das Esstischchen mit einer Portion vom Neujahrsgericht.
Nach traditioneller Zählung ist ein Kind bei der Geburt bereits ein Jahr alt, und beim
darauffolgenden Jahreswechsel wird es zweijährig. Deshalb ist Issas Töchterchen Satojo,
obwohl erst etwa sieben Monate in dieser Welt, am Neujahrsmorgen schon zwei Jahre alt.
Die ungeheure Freude des alternden Vaters an diesem Kind zeigt sich sowohl im Hokku wie
im Vorspann, nämlich in der Geste, dass er ihm zeremoniell das Esstischchen vorsetzt. Es war
für ihn ein Schicksalsschlag, dass auch dieses Kind schon ein halbes Jahr später den Pocken
zum Opfer fiel. (Siehe dazu seine Aufzeichnungen Ora ga haru »Mein Frühling«‚ übers. von
G. S. Dombrady.)

191)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Spatzenkind
weg da weg da das Hohe Ross
trabt vorüber

雀の子そこのけそこのけ御馬が通る

すずめのこそこのけそこのけおうまがとおる

Spatzenkind – Frühling

Datierung: 1819.
Dies ist wohl Issas berühmtestes Spatzengedicht. Seine Wirkung liegt in seinem kindlichen
Ton mit den vielen drohenden o-Lauten und in seiner universellen Bildhaftigkeit, die sich in
verschiedene Richtungen interpretieren lässt. Wer spricht die Warnung aus? Sind es die
Eltern-Spatzen oder Issa selbst? Handelt es sich um ein Kinderspiel, bei dem sich ein Junge
auf seinem Bambuspferd großspurig den Weg freimacht? Oder ist ein echtes Pferd im Anzug,
etwa in einer Daimyo-Prozession, bei der jedermann auf Zuruf selbstverständlich
auszuweichen hatte? So gesehen wäre das Hokku auf alle gemünzt, die sich im wirklichen
wie im übertragenen Sinn aufs Hohe Ross setzen und die Kleinen zu zertrampeln drohen. Die
Verse 2 und 3 wandeln übrigens die Schlusszeilen aus dem Kyogen (komisches Zwischenspiel
des No -Theaters) Tsushima matsuri in parodistischer Weise ab.

191)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)


Der Große Buddha
Sogar wenn er zu schlafen geruht
gibt’s Blüten und Münzen

御仏や寝てごさっても花と銭

みほとけやねてござってもはなとぜに

Liegender Budda / Kirschblüte – Frühling

Datierung. 15. Tag des 2. Monats 1819.


Auf dieses Datum Fällt der Todestag Buddhas, d. h. die Jahresfeier zu Buddhas Eingang ins
Nirwana. Das Hokku bezieht sich auf die Statue des auf dem Totenbett Liegenden (ne-han-
zo). Issa war zeitlebens ein Anhänger des Amida-Buddhismus und besuchte regelmäßig
Tempel, Schreine und entsprechende Feierlichkeiten auch in dieser Hinsicht war er ein
typischer Mann aus dem Volke. Das hindert ihn natürlich nicht, sich hier mit Humor (und
vielleicht auch ein bisschen neidisch) über den erhabenen Buddha zu äußern, dem selbst im
Liegen die Münzen zufliegen.

193)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Ameisenstraße –
Aus Wolkengebirgen kommen sie
ziehen sich wohl endlos ins Weite …

蟻の道雲の峰よりつづきけん

ありのみちくものみねよりつづきけん

Ameisenstraße / Gewitterwolke – Sommer

Datierung: 1819.
Ein erstaunliches Hokku, das die große Spannweite von Issas Gestaltungsmöglichkeiten
aufzeigt. Viele Kommentatoren haben ihm ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Sie sehen darin
den bekannten Kontrast von »Nah - Fern«, »Klein - Groß«, die zahllosen schwarzen
dahinkrabbelnden Lebewesen und die weiße, mächtig sich auftürmende Gewitterwolke am
Horizont: ein fantastisches Traumbild unter der Sommerhitze.
Das wird diesem Hokku, so scheint mir, nicht wirklich gerecht. Die Verknüpfung von
Cumuluswolke und Ameisenstraße ist so außergewöhnlich, dass sie eine traditionelle
Deutung und Ästhetik hinter sich lässt. Hier wird ein surrealistisches Raum- und Bildkonzept
vorweggenommen. Von einem Punkt in weiter Ferne türmt sich mit unfassbarer Energie die
Gewitterwolke in die Vertikale hinauf. Vom selben Punkt ausgehend erstreckt sich die Straße
der winzigen Tiere mit kaum geringerer Energie in die Horizontale, führt am Beobachter
vorbei, weiter in unbestimmte Fernen. Der Horizontalen wie der Vertikalen wird was das
strukturelle Konzept unterstützt je ein Jahreszeitenwort zugeordnet.

194)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Farbenprächtige
Drachen steigen
über den Bettlerhütten

美しき凧あがりけり乞食小屋

うつくしきたこあがりけりこじきごや

Papierdrachen – Neujahr – Frühling

Datierung: 1820.
Das Spiel mit den steigenden Drachen wird je nach Gegend von Neujahr an den ganzen
Frühling hindurch gepflegt und kann sich sogar zu wettkampfähnlichen Anlässen zwischen
Gruppen oder Dörfern entwickeln.
Von Issa sind nicht weniger als 68 Hokku aus allen Lebensphasen mit dem Jahreszeitenwort
tako erhalten. In diesem erst seit kurzem registrierten und beachteten Beispiel kommt die
für den Dichter charakteristische »soziale« Perspektive zum Zug: Auch über den ärmlichsten
Behausungen ziehen die Drachen als hoffnungsspendende Frühlingsboten mit
unverminderter Pracht ihre Bahnen am blauen Himmel.

195)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)


He, schlag sie nicht tot!
Die Fliege reibt bittend die Hände
sie reibt die Füße
やれ打つな蝿が手を摺足をする

やれうつなはえがてをすりあしをする

Fliege – Frühling

Datierung: 1821. Unter den vielen Hokku, in denen sich Issa liebevoll kleinen, unscheinbaren,
oft lästigen Lebewesen zuwendet, ist dies wohl das populärste. Genau beobachtet er die
Bewegungsmuster der Fliege und deutet sie in einer anthropomorphisierenden Weise aus
ein Geniestreich an Empathie und knapp formuliertem, prägnantem Humor. Dahinter
verbirgt sich sein lebenslanger Komplex, ein Dasein als Waisenkind, Landei und armer
Schlucker zu fristen.

196)

KOBAYASHI ISSA (1763-1827)

Hat eine Schraube locker


dieser Hausknecht! wischt den Schnee
auch beim Nachbarn

ちとたらぬ僕や隣の雪もはく

ちとたらぬぼくやとなりのゆきもはく

Schnee – Winter

Datierung: 1824.
Issa hinterließ eine Reihe von Hokku über das Schneeräumen. Alle entstanden in den späten
Jahren, als er in sein schneereiches Heimatdorf zurückgekehrt war. Das vorliegende Beispiel
scheint sich aber eher auf eine Erinnerung an seine Zeit in Edo zurück zu beziehen Der
Diener in einem Geschäft oder vornehmen Haus Wischt -aus Gutmütigkeit oder Dummheit?
den Schnee auch beim Nachbarn. Gut möglich, dass dahinter sogar eine persönliche
Erfahrung steht, als Issa sich als junger Bursche und Landei in der Stellung eines Hausdieners
bei verschiedenen Dienstherren durchschlagen musste.

197)
SAKURAI BAISHITSU (1769-1852)

Beim Reisaufpflanzen:
Wie kann sie die entblößte Brust verbergen
mit schlammverschmierten Händen

乳を隠す泥手わりなき田植かな

ちをかくすどろてわりなきたうえかな

Aussetzen der Reisschösslinge – Sommer

Veröffentlicht 1839.
Baishitsu versteht es, eine erstaunliche Assoziationsfülle in dieses Hokku einzubringend
obwohl heute beim Reispflanzen alles maschinell vor sich geht, haben wir noch Aufnahmen
im Kopf, in denen junge, oft farbenfroh kostümierte Frauen mit Binsenhüten in einer Reihe
im überfluteten Feld stehen und im Takt die Setzlinge ins schlammige Erdreich stecken. Das
Jahreszeitenwort ruft dieses allgemeine Bild in uns auf. Danach fokussiert sich der Blick auf
eine einzelne Arbeiterin. Durch das ständige Bücken hat sich ihr Gewand gelockert und
verschoben, die Brüste sind entblößt. Unwille über ihr Missgeschick und über die Störung
des Arbeitsrhythmus, peinliche Gefühle, Scham, vielleicht sogar Angst vor Sticheleien und
anzüglichen Bemerkungen bedrängen sie. Der Versuchung, das Kleid zurechtzurücken und es
dabei in grober Weise zu beschmutzen, mag sie aber auch nicht nachgehen. Ein Dilemma,
das natürlich auch erotische Komponenten enthält.

198)

ICHIHARA TAYOME (1776-1865)

Zu lange gelebt
auch mir macht die Kälte zu schaffen –
Eine Fliege im Winter

生きすぎて吾も寒いぞ冬の蝿

いきすぎてわれもさむいぞふゆのはえ

Fliege im Winter – Winter


Datierung: Eine Angabe fehlt, aber angesichts der langen Lebensdauer der Dichterin wird das
Hokku in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sein.
Über ihre Zeit hinaus hat die Fliege ihr Leben gefristet und kommt nun bei ein paar
Wärmenden Sonnenstrahlen plötzlich taumelnd zum Vorschein; dies hat sich als
Jahreszeitenmotiv für den Winter bereits frühzeitig durchgesetzt. Die Art, wie das
persönliche Schicksal der Dichterin mit dem Leben des meist als lästig empfundenen Insekts
in eins gesetzt wird so dass sich das »Ich« bzw. das »Mir« (ware) gleicherweise auf beide
beziehen kann‚ verleiht diesen Versen ihre merkwürdig insistierende Dringlichkeit.

199)

ANONYMUS

Neujahrstag
Der Gläubiger-Teufel von gestern
kommt jetzt zur Glückwunschrunde

元日やきのふの鬼が礼に来る

がんじつやきのうのおにがれいにくる

Erster Tag des Jahres – Neujahr

Schon wiederholt wurde auf die Edo-zeitliche Sitte hingewiesen, wonach auf das Jahresende
hin alle Schulden zu bezahlen waren und allen finanziellen Verpflichtungen nachgekommen
werden musste (vgl. Nr. 13 und 15). Für viele war das ein Riesenstress, der in populären
Erzählungen, Gedichten und Theaterstücken immer wieder thematisiert wurde. In diesem
Hokku erscheint die Situation auf die Spitze getrieben: Derselbe, der am Vorabend seinen
Schuldnern noch die Hölle heiß machte, hat die Stirn, sich am Tag darauf als Gratulant
aufzuspielen.

200)

NAITO MEISETSU (1847-1926)

Der Kiso-Fluss
schäumt vor Wut – die Kiso-Berge
sie lachen!
木曽川は怒り木曽山は笑ふなり

きそがわはいかりきそやまはわらうなり

Der Berg lacht – Frühling


Das Kiso-Tal ist ein langgezogenes Bergtal in Zentraljapan, in der Edo-Zeit eine Wichtige
West-Ost-Verbindungsstraße (vgl. Kommentar zu Nr. 119).
Naito Meisetsu gehörte in der Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert zu den
Erneuerern des Hokku (für das von nun an der moderne Begriff »Haiku« verwendet wird).
Seine Naturdarstellungen sind oft erfrischend unkonventionell. Hier scheinen Berge und
Fluss eine kleine Theaterszene mit wütendem Aufbegehren und Auslachen vorzuführen. In
Wahrheit geht es aber um den kraftvollen Einbruch des Frühlings: Der Fluss führt
schäumendes Schmelzwasser, und die Berge ringsum überziehen sich mit zartem Grün, sie
beginnen zu »lachen». Es ist genial, Wie diese beiden Bedeutungsebenen im Original in nur
vier sinntragenden Wörtern übereinander geschoben werden.

201)

MURAKAMI KIJO (1865-1938)

In stetem Wechsel
von der Wieder-Geburt und Wieder-Sterben
das Reisfeld ackern

生きかはり死にかはりして打つ田かな

いきかはりしにかはりしてうつたかな

Das Feld ackern – Frühling

Geschrieben 1915.
Die Arbeit der Bauern, die von Generation zu Generation jedes Jahr mühevoll dasselbe Feld
bestellen, gibt unter Anspielung an die Reinkarnationslehre einen Anstoß zur Meditation
über das menschliche Schicksal und die Kreisläufe des Lebens. Eigene Rückschläge und
schwierige Lebensumstände haben Murakami Kijö veranlasst, sich in seinem Werk oft den
Schwachen, Armen und Angehörigen nicht begünstigter Gesellschaftssichten zuzuwenden.

202)

NATSUME SOSEKI (1867-1916)


Ich, die Vogelscheuche
Stets zu Ihren Diensten
Herr Spatz!

某は案山子にて候雀どの

それがしはかかしにてそうろすずめどの

Vogelscheuche – Herbst

Veröffentlicht am 10. November 1897 in der Zeitung Nihon.


Natsume Söseki, einer der großen Romanciers, ein moderner Klassiker des 20. Jahrhunderts,
hat vor allem zu Beginn seiner Karriere auch intensiv Haiku verfasst. Die Verse 1 und 2 in
diesem Beispiel ahmen die Namensnennung (nanori) am Anfang von No- und Kyogen
Stücken nach, sind eine Parodie dieser altertümlich-gestelzten Ausdrucksweise, mit der hier
die Vogelscheuche charakterisiert wird. Die gespielte Ehrerbietung gegenüber dem Herrn
Spatz und der vorausgehende formalistische Stil sind in der Übersetzung mit der Floskel
»stets zu Ihren Diensten« angedeutet. Vergnüglich an diesem Haiku ist das Doppelbödige:
das großspurige, drohende Auftrumpfen, das nur die Machtlosigkeit überspielt, und die
falsche Höflichkeit, hinter der sich Geringschätzung verbirgt. Es ist dem Leser unbenommen,
dies auf menschliche Verhältnisse zu übertragen.

203)

NATSUME SOSEKI (1867-1916)

Auf der Sonnenseite –


das Gemüt im Zustand einer
reifen Kakipflaume

日當りや熟柿のごとき心地あり

ひあたりやじゅくしのごときここちあり

Reife Kaki-Frucht – Herbst

Angenehmes Dahindösen auf der Veranda, unter den Wärmenden Strahlen der Herbstsonne
Die Süße und Konsistenz einer vollreifen Kaki ist in der Tat eine unschlagbar treffende
Metapher für diese Stimmungslage und Seelenverfassung. Ein für den begnadeten
Humoristen Soseki typischer Fund!
204)

MASAOKA SHIKI (1867-1902)

Ich beiße in eine Kaki


Ein Klang – ein Glockenschlag
vom Horyu-Tempel

柿くへば鐘が鳴るなり法隆寺

かきくえばかねがなるなりほうりゅうじ

Kaki-Frucht – Herbst

Datierung: 25. Oktober 1895. Vorspann des Autors: »Beim Ausruhen in einem Teehaus am
Horyu-Tempel.«
Das wohl bekannteste Haiku Masaoka Shiki’s bringt zwei Dinge, die an sich nichts
miteinander zu tun haben das Geschmackserlebnis einer reifen Kaki-Frucht und den
Höreindruck einer aus dem Tempelbezirk herüberschallenden Glocke - zu einer intensiven
Wechselwirkung. Der Horyu-Tempel (Horyu-ji) ist eine der ältesten Kulturstätten südlich von
Nara. Und die Kaki aus dieser Gegend der Yamato-Ebene galten als besonders schmackhaft,
so dass sie an den Kaiserhof geliefert wurden. Beide Elemente verkörpern die glänzende
Atmosphäre eines schönen Herbsttages in einer traditionsgesättigten Landschaft. Das
Zusammentreffen der beiden unterschiedlichen Sinneseindrücke in einem einzigen
Augenblick steigert jedoch zusätzlich die Emotion und fährt dem Dichter gleichsam durch
Mark und Bein.

205)

MASAOKA SHIKI (1867-1902)

Unter Kürbisblüten
vom Auswurf verstopfte Kehle
an der Todesschwelle – ein Buddha

糸瓜咲て淡のつまりし仏かな

へちまさいてたんのつまりしほとけかな
Kürbisblüte – Sommer

Datierung: 18. September 1902. Eines der drei »Abschiedsgedichte von dieser Welt« (iisei).

hechima ist genau genommen ein Schwammkürbis oder eine Schwammgurke (Luffa
cylindrica), eine Kletterpflanze, deren Saft gegen Husten und Auswurf verwendet wurde. Die
an einem freistehenden Holzgitter hochgezogene Pflanze mit ihren glockenförmigen gelben
Blüten diente zudem als Sonnenschutz vor dem Zimmer des kranken Masaoka Shiki. hotoke,
der japanische Ausdruck für »Buddha«, bezeichnet in zweiter Linie auch einen Leichnam,
einen Toten. Der Schluss des Haiku meint also: Ich bin schon so gut wie tot, einer der ins
Land des Buddha hinübergegangen ist. Die Zeitung Nippon veröffentlichte die drei
Abschiedsgedichte mit dem Zusatz: »Das sind Shiki’s letzte Haiku, die er zwölf Stunden vor
seinem Ableben, das heißt am 18. September vormittags um elf Uhr, im Bett auf dem
Rücken liegend, mit völlig abgemagerter Hand zu Papier gebracht hat.« Die originale
Handschrift befindet sich in der Nationalbibliothek (Kokuritsu Toshokan).

206)

SASSA SEISETSU (1872-1917)

Verfallener Tempel –
Der grimmige Wächter am Tor
überwuchert vom jungen Laub

寺荒れて仁王にせまる若葉かな

てらあれてにおにせまるわかばかな

Junge Blätter – Sommer

Bei vielen buddhistischen Tempeln passiert man zunächst das Haupttor mit den grimmig
blickenden Wächterstatuen, den zwei Devas (Nio), zu beiden Seiten. Hier ist die
Tempelanlage verfallen. Der Gegensatz von gleichsam in die Vergangenheit starrenden
Figuren und wuchernder Lebenskraft der Natur ergibt ein eindrückliches Stimmungsbild.
Gleichzeitig tritt im Hintergrund die historische Krise des japanischen Buddhismus und seiner
Institutionen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ins Bewusstsein.

207)

KAWAHIGASHI HEKIGOTO (1873-1937)


Stielblütengras verdorrt
draußen am Weiher
von der Fabrik herüber
lautes Lärmen

薄枯れし池に出づ工場盛る音を

すすきかれしいけにいづこうばさかるねを

Verdorrtes Stielblütengras – Winter

Datierung: 5. Dezember 1910.


Der Dichter wandert aus der Stadt hinaus, bis sich der Blick auf das freie Feld und einen
Teich mit Winterdürrem Stielblütengras weitet. Eine an sich traditionelle Szenerie, Wie das
Jahreszeitenwort bezeugt. Doch wird nun die frostige Stille durchbrochen vom Lärm einer
neuen Epoche. Vermerkt der Dichter dies im kritischen Sinn oder ist er im Gegenteil erfreut
darüber? Man hat den Eindruck, er registriert einfach, was er vorfindet eine Haltung, die den
Einfluss des literarischen Naturalismus in Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Widerspiegelt.
Nach einer ersten Schaffensperiode unter seinem Lehrer Masaoka Shiki entwickelt sich
Kawahigashi Hekigoto nach 1907 zum Protagonisten der »Neuen Tendenz im Haiku«
(shinkeiko haiku). Das bedeutet Loslösung von der überkommenen Ästhetik und strengen
Form. Im vorliegenden Haiku ist eine Gliederung in vier Gruppen zu 6-5-3-5 Moren
anzunehmen (vgl. Kommentar von Ogata Tsutomu). Später verzichtet man auch auf
Jahreszeitenwörter und geht zur modernen Umgangssprache über. Kawahigashi Hekigoto ist
ein Hauptvertreter der erneuerten, »modernen« Haiku-Dichtung in den zehner und
zwanziger Jahren.

208)

TAKAHAMA KYOSHI (1874-1959)

So etwas wie Feinde


das gibt es jetzt nicht mehr
glänzender Herbstmond

敵といふもの今は無し秋の月

てきというものいまはなしあきのつき
Herbstmond – Herbst

Datierung: 22. August 1945. Vorspann des Autors: »Den kaiserlichen Erlass mit Ehrfurcht
entgegennehmend.« Das Haiku bezieht sich offensichtlich auf die Rundfunkansprache des
Kaisers vom 15. August 1945, in der er die bedingungslose Kapitulation verkündete. Diese
Rede versetzte die Menschen bei aller Erleichterung zunächst in einen Schockzustand des
ungläubigen Staunens, des Stupors, der Leere, angesichts des gewaltigen Umbruchs, der sich
da ankündigte. Takahama Kyoshi gelingt es, etwas von der Komplexität dieses
Seelenzustands einzufangen. Der herbstliche Vollmond ist nicht nur ein zentrales Naturmotiv
der klassischen Ästhetik, sondern wird mit verschiedensten mythischen Vorstellungen bis hin
zur Erleuchtung des Zen-Buddhismus verbunden.

209)

TAKAHAMA KYOSHI (1874-1959)

Altes neues Jahr


wie von einem Stock durchbohrt …
etwas dergleichen

去年今年貫く棒の如きもの

こぞことしつらぬくぼうのごときもの

Altes und neues Jahr – Jahreswechsel – Neujahr

Datierung: 20. Dezember 1950 (Aufnahmedatum einer Radiosendung zum Jahreswechsel).


Ein merkwürdig abstraktes und doch suggestives Bild. Man spricht vom Fluss der Zeit, von
Wechsel und Neubeginn, aber hier werden die Jahre wie von einem Stock oder Balken
durchstochen und zusammengehalten. Die Kommentare deuten zwei Möglichkeiten der
Interpretation an: Der 76 jährige Dichter verfolgt unbeirrt seinen »stockgeradem Weg. Oder:
Die Erstattung in der Routine, im täglichen Trott zeigt sich im Bild des groben,
unbeweglichen Stocks, der die Jahre verbindet. Etwas Unheimliches, Lebensfeindliches
scheint davon auszugehen. Der Nobelpreisträger Yasunari Kawabata zitiert dieses Haiku in
einem Vortrag von 1969 und fügt bei: »Dieses tsuranuku bo no gotoki mono überraschte
mich, ich war erschüttert. Es ist großartig gesagt. Mir war, als ob ein Zen-Meister mich
angedonnert hätte ».
(Vgl. die Kawabata-Nummer der Asiatischen Studien 29,1, 1975, S. 7f.)

210)
HONDA AOI (1875-1939)

Es nieselt draußen
Sehnliches Warten auf die Lichter
der No-Bühne

しぐる々や灯待たる々能舞臺

しぐるるやあかりまたるるのうぶたい

Nieselregen – Winter

Datierung: 1919. Honda Aoi war sowohl No-Spezialistin Wie Haiku-Dichterin. Deshalb
beziehen sich
viele ihrer Haiku auf die Welt des No-Spiels, was eine Seltenheit ist. Hier beschwört sie die
freudige Erwartungshaltung des Publikums vor dem Beginn einer Vorstellung herauf, an
einem Wintertag, da draußen der kalte Nieselregen fällt.

211)

TANEDA SANTOKA (1882-1940)

Soweit ich auch


vordringe, tiefer, tiefer hinein –
die blauen Berge

分け入っても分け入っても青い山

わけいってもわけいってもあおいやま

Ohne Jahreszeitenwort

Vorspann des Autors: »Im April 1926 begab ich mich unter der Last von Zweifeln und
Unsicherheiten, die sich nicht beseitigen ließen, auf eine ziellose Reise als Bettelmönch.“

Taneda Santoka ist ein Hauptvertreter des »Freien Haiku«, das sich nicht an Regeln hält. Er
ist zudem einer der letzten Wanderpoeten im Stil von Basho. Nachdem er in seinem
bürgerlichen Leben Schiffbruch erlitten hatte, trat er als 43 jähriger in den Mönchsstand
widmete sich fortan ausschließlich dem Haiku. Das vorliegende Haiku gilt als sein
berühmtestes; es kann als Metapher dieses Weges verstanden werden. Die blauen Berge;
Sie locken, aber können nicht das letzte Ziel sein. Es muss etwas geben, das noch weiter
hinten liegt.

212)

WATANABE SUIHA (1882-1946)

Um ein Geringes
herabgesetzte Miete –
nun gibt’s Muschelsuppe

ほんの少し家賃下がりぬ蜆汁

ほんのすこしやちんさがりぬしじみじる

Muschelsuppe – Frühling

Veröffentlicht 1936.
Nur selten nimmt das Haiku Bezug auf Preise und Konjunktur. Watanabe Suiha lebte in
Tokyo und bekam die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren direkt zu
spüren. Doch wider Erwarten wird er nun von einer bescheidenen Reduktion der Miete
überrascht. So kann er sich beruhigt (und mit einer leichten Selbstironie) der warmen Suppe
mit den kleinen Körbchen-Muscheln (shijimi, Corbicula japonica) zuwenden, die zudem für
die schöne Frühlingszeit stehen.

213)

MAEDA FURA (1884-1954)

Die «Hintere Weißhornspitze«


lässt Schnee aus jener anderen
Welt erglänzen

奥白根かの世の雪をかミやかす

おくしらねかのよのゆきをかがやかす
Schnee – Winter

Veröffentlicht am 17. Januar 1937 in der Zeitung Tokyo nichinichi shinbun als letztes von fünf
Haiku über »Die Berge der Provinz Kai«.
Maeda Fura ist berühmt als Verfasser von Versen über die Erhabenheit der japanischen
Bergwelt, besonders der Gipfel in den japanischen Alpen, die vorher nie Gegenstand der
Haiku-Dichtung gewesen waren. Dieses Haiku bezieht sich auf den nach dem Fuji höchsten
Berg Japans, den in den Südalpen gelegenen Shirane (3192 m), der aus drei Erhebungen
besteht. Der Name kommt jedoch auch andernorts in Japan vor und bedeutet einfach
„weißer Gipfel“. Es scheint mir daher erlaubt, in der Übersetzung einen analogen deutschen
Namen einzusetzen, der ebenfalls an verschiedenen Orten im Gebrauch ist.

214)

OZAKI HOSAI (1885-1926)

Hab kein Gefäß


empfange mit beiden Händen

入れものが無い両手で受ける

いれものがないりょうてでうける

Ohne Jahreszeitenwort

Veröffentlicht 1926. Ozaki Hosai zog sich, nachdem er in persönlicher und beruflicher
Hinsicht wiederholt Schiffbruch erlitten hatte, ganz in seine Haiku-Welt zurück. In seinen
späteren Jahren war er ein entschiedener Vertreter des »Freien Haiku«. Das ausgewählte, in
Japan allbekannte Beispiel besteht nur aus 7-7 Moren und verzichtet auf einen
Jahreszeitenbezug. Es ist ganz umgangssprachlich gehalten. Früher war Sarkasmus und
Selbstverspottung das Markenzeichen des Dichters gewesen. Nach seinem Rückzug gelangt
er zu einer fast kindlich-naiven Haltung, indem er, anders als ein Bettelmönch, nur seine
Hände zur Schale formt.

215)

IIDA DAKOTSU (1885-1962)

Gusseisern schwarz
mit herbstlichen dumpfem Klang
die Windglocke

くろがねの秋の風鈴鳴りにけり

くろがねのあきのふうりnなりにけり

Herbst-Windglocke – Herbst

Ein expressives, beinahe surreales Haiku aus dem Jahr 1933, mit dem sich lida Dakotsu ins
Gedächtnis der Japaner eingeschrieben hat. »Windglocke« ist eigentlich ein
Jahreszeitenwort für den Sommer: Die beim geringsten Luftzug hell bimmelnden Glöcklein
suggerieren Frische und Kühle in der feuchten Hitze. Hier aber ist »Windglocke« auf den
Herbst bezogen: Eine altertümliche eiserne Glocke, die zur Unzeit am Fensterrahmen hängt
und gelegentlich dumpfe Töne von sich gibt. Der Ausdruck kurogane no („gusseisern
schwarz“) ist überdies so platziert, dass man ihn (nach Yamamoto Kenkichi) sowohl auf die
Glocke wie auf den Herbst und auf den Klang beziehen kann. Melancholische
Herbststimmung und düstere Gemütslage des bald fünfzigjährigen Verfassers überlagern
sich.

216)

TOMIYASU FUSEI (1885-1979)

Flanke des Fuji


in Morgenröte – ringsum alles
triefend von Tau

赤富士に露滂沱たる四辺かな

あかふじにつゆぼうだたるしへんかな

Roter Fuji – Spätsommer


Tau – Herbst

Eines von 134 Haiku »am Ufer des Yamanaka-Sees«, aus dem Jahr 1954. Der gealterte
Dichter verbrachte zu dieser Zeit jeweils den Sommer in seinem Berghaus am Yamanaka-See,
einem der fünf Seen am Fuße des Fuji. Die Morgenröte am »hinteren Fuji« (Ostflanke) bei
Sonnenaufgang ist ein kurzes, wechselhaftes‚ eher seltenes Naturschauspiel, nur bei klarem
Himmel im Spätsommer und Frühherbst zu beobachten. Eine reine Naturbeschreibung doch
in Verbindung mit dem triefenden Tau auch ein Ausdruck vibrierender Lebensenergie.
217)

HARA SEKITEI (1886-1951)

Endlich, der Gipfel!


… wie sich die wilden Astern
im Wind wiegen

頂上や殊に野菊の吹かれ居り

ちょうじょうやことにのぎくのふかれおり

Wilde Chrysantheme – Wildaster – Herbst

Dieses 1912 niedergeschriebene Haiku wurde damals als neuartig und kühn empfunden.
Nach Yamamoto Kenkichi liegt dies besonders an Vers 1. Ausdrücke mit ya (oft zusammen
mit rein japanischen Wörtern) haben in der Überlieferung starkes emotionales Gewicht(vg1.
nachfolgend das Beispiel von Takeshita Shizunojo). Hier aber wird ein sinojapanisches Wort
chojo („Berggipfel“) leichthin mit ya verbunden: Na endlich, Gipfel erreicht! Auch der
Ausdruck koto ni („ganz besonders“) wirkt beiläufig und alltäglich. Wir haben es also mit
einem jugendlich unbekümmerten, »modernen« Wanderer zu tun, dem aber dann doch die
kleinen, unscheinbaren Nogiku-Blüten (altes Haiku-Motiv) als erstes in die Augen fallen und
ihn berühren.

218)

ABE MIDORIJO (1886-1980)

Was noch bleibt


mit 90 Jahren … vergiss es
erwarte den Frühling

九十の端を忘れ春を待つ

きゅうじゅうのはしたをわすれはるをまつ

Auf den Frühling warten – Winter


Abe Midorijo, seit den zwanziger Jahren eine führende Vertreterin des Frauen-Haiku,
publizierte dieses Gedicht, als sie 91 Jahre alt war. Ungebrochene Lebensfreude spricht
daraus. Mit den Worten des jüngeren Haiku-Kollegen Mori Sumio: »Es ist, als ließe sie nach
all den angehäuften Jahren noch einmal zu einem Kinderliedchen den Ball springen. «

219)

TAKESHITA SHIZUNOJO (1887-1951)

So kurz die Nacht!


Das Kind schreit nach der Brust …
ins Pfefferland mit dir

短夜や乳ぜり泣く児を須可猞焉乎

みじかよやちぜりなくこをすてっちまおか

Kurze Nacht – Sommer

Geschrieben 1921.
Es ist der Stoßseufzer einer überforderten und übermüdeten Mutter. Vers 3 besteht aus
einer ungewöhnlichen Aneinanderreihung von fünf chinesischen Zeichen, denen die
umgangssprachliche Lesart »soll ich dich wegschmeißen?!« beigegeben ist. Diese
ausgefallene Kombination von intellektueller Pose und Slang, von Heftigkeit und Komik des
Ausdrucks deutet darauf hin, dass der Ausspruch nicht zum Nennwert genommen werden
soll.Wohl aber ist hier, über die persönliche Befindlichkeit hinaus, eine feministisch
inspirierte Attacke auf das Frauenideal der Vorkriegszeit impliziert, dass die Rolle der Frau
auf die »treue Gattin bzw. gute Hausfrau und weise Mutter« (ryosai kenbo) und zwar im
Interesse des Staates reduzierte. Für das Haiku bedeutete dies einen Schritt in eine völlig
neue Dimension.

220)

KUBOTA MANTARO (1889-1963)

Ein Vater
Ein einziges Kind –Leuchtkäfer
glühten
親一人子一人蛍光りけり

おやひとりこひとりほたるひかりけり

Leuchtkäfer – Glühwürmchen – Sommer

Geschrieben 1944. Vorspann des Autors: »Einberufung Koichis.«


Kubota Mantaro’s Sohn Koichi war sein einziges Kind. Nach dem vorzeitigen Hinscheiden der
Mutter (1935) lebten die beiden jahrelange zusammen. Die innige Vater-Sohn-Beziehung
findet in der Erinnerung an das Leuchten der Glühwürmchen Ausdruck, in dem Augenblick,
da sie durch den vorhersehbaren Kriegseinsatz des Sohnes vielleicht für immer vorbei sein
wird. hotaru wird im japanischen Kontext als starkes, emotionsgeladenes Symbol für
geheimnisvolle Schönheit und Vergänglichkeit, oft auch als Erscheinung von toten Seelen
interpretiert.

221)

KUBOTA MANTARO (1889-1963)

Heißer Tofu –
am Ende des Lebens
ein fahles Schimmern

湯豆腐やいのちのはてのうすあかり

ゆどうふやいのちのはてのうすあかり

Gekochter – heißer Tofu – Winter

Geschrieben 1963, wenige Monate vor dem Ableben.


In kochendem Wasser gesottene Tofuwürfel sind eine einfache, beliebte Speise, besonders
im Winter, weshalb sie als Jahreszeitenwort gelten. Es ist genial, wie der im aufsteigenden
Wasserdampf milchig-trübe Schimmer der weißen Masse hier ausgedeutet wird. Die
Kommentatoren jedenfalls sehen in diesen Versen des alternden, vereinsamten Dichters ein
Meisterstück, weil hier ein geläufiges, konkretes, haikugemäßes Alltagsmotiv in
unerwarteter Weise zur umfassenden Metapher emporgehoben wird für die Gemütslage
eines bestimmten Lebensabschnitts, ja für das von wiederkehrenden Unglücks- und
Todesfällen überschattete Leben dieses bedeutenden Literaten allgemein. Die Verbindung
von Schlichtheit, Verständlichkeit, Verankerung im Alltag mit hoher Symbolkraft gilt als
Markenzeichen Kubotas.
222)

SUGITA HISAJO (1890-1946)

Das Blütenschau-Kleid
lege ich ab – und sehe umschlungen
von vielfarbigen Bändern

花衣ぬぐやまつはる紐いろいろ

はなごろもぬぐやまつはるひもいろいろ

Blütenfest-Kleid – Frühling

Geschrieben 1919. Nach der Rückkehr von der Kirschblütenschau will die Frau ihren
festlichen Kimono ablegen. Gürtel und Bänder in allen Farben halten sie aber noch für einen
Augenblick gefangen. Es ist gar nicht so einfach, sich aus der Umschnürung des traditionellen
Gewandes zu befreien. Ein Anflug von Ungeduld vermischt sich mit dem Entzücken über die
Farbenpracht und die Eleganz der eigenen Erscheinung. Takahama Kyoshi lobte das Haiku
mit den Worten: »Es ist anzuerkennen, dass in diesem Haiku ein spezifisch weiblicher
Standpunkt zum Ausdruck kommt, dessen Nachahmung Männern verschlossen bleibt. «
223)

AKUTAGAWA RYONOSUKE (1892-1927)

Grünes Fröschchen!
»Frisch gestrichen»
auch du?

青蛙おおれもペンキぬりたてか

あおがえるおのれもペンキぬりたてか

Grüner Frosch – Laubfrosch – Sommer

Geschrieben im Juli 1918.


Der international berühmte Prosaist Akutagawa Ryunosuke war schon als Grundschüler und
sein ganzes Leben hindurch auch ein versierter Haiku-Verfasser. Dieses Haiku formuliert
zunächst in ungezwungen-humorvoller Weise eine Beobachtung. Der kleine regennasse
Laubfrosch glänzt wirklich Wie »neu angestrichen». Doch das Wörtchen »auch« weist wohl
darauf hin, dass Akutagawa in seiner neuen Rolle als frischgebackener junger Schriftsteiler
sich selbst mit leichter Ironie als »frisch gestrichen« apostrophiert. Es wird zudem darauf
hingewiesen, dass der belesene Akutagawa möglicherweise durch folgende Notiz in Jules
Renards Naturgeschichten (Histoires naturelles, 1894) inspiriert wurde: »Le lézard vert._
Prenez garde ä la peinture! « (»Die grüne Eidechse. Aufgepasst, frischer Anstrich! «)

224)

MIZUHARA SHUOSHI (1892-1981)

Winterchrysanthemen
schimmernd – umhüllt nur
vom eigenen Licht

冬菊のまとふはおのがひかりのみ

ふゆぎくのまとふはおのがひかりのみ

Winterchrysanthemen – Winter

Geschrieben 1948. Im winterlichen Garten fallen nur noch die weißen Blüten der späten
Chrysanthemen ins Auge -als Symbole einer stillen, in sich ruhenden Welt, aber mit einer
geheimnisvollen Ausstrahlung begabt. Es gibt Kommentare, die das Haiku auch als
verhaltene Selbstdarstellung des Autors interpretieren. Übersetzungsvariante bei
Takayasu/Hausmann (Hrsg.), Ruf der Regenpfeifer 1990, 5.109: »Winterchrysanthemen / von
keinem andern Licht umdämmert/ als vom eigenen. «

225)

MIZUHARA SHUOSHI (1892-1981)

Das Wasser stürzt


tosender Widerhall erfüllt
die Welt in Ultramarin

滝落ちて群青世界とどろけり

たきおちてぐんじょうせかいとどろけり

Wasserfall – Sommer
Veröffentlicht 1954.
Ein Haiku über den bekannten Wallfahrtsort des Wasserfalls von Nachi im Süden der Kii-
Halbinsel. gunjo (iro) »ultramarin« ist eine beliebte Farbe in der traditionellen Malerei. gunjo
sekai »ultramarinblaue Welt« ist eine Wortbildung des Autors. Sie überhöht das
Naturphänomen in Richtung eines malerischen Landschaftsideals und eines synästhetischen
Überlappens von Gehör- und Gesichtseindrücken. Das ist charakteristisch für Mizuhara, den
Symbolisten unter den maßgebenden Haiku-Dichtern des 20. Jahrhunderts.

226)

YAMAGUCHI SEISON (1892-1988)

Aus einem einzigen Baum


machten sie einen ganzen Wald –
die Vogelschwärme

一樹にして森なせりけり百千鳥

いちじゅにしてもりなせりけりももちどり

Vogelschwarm – Frühling

Yamaguchi Seison wurde in der Mittelschule von seinem Deutschlehrer stark beeinflusst und
verbrachte kurz vor dem 2. Weltkrieg zwei Studienjahre in Berlin. Er war gleichzeitig
Naturwissenschaftler und Ingenieur (Professor für Bergbauwissenschaft an der technischen
Fakultät der Universität Tokyo) sowie führender Haiku-Poet, ein Mann mit weitem Horizont
also, der genaue Beobachtung mit einem Zug ins Spekulative zu vereinen wusste wie dieses
Haiku verführt.

227)

TAKANO SUJU (1893-1976)

Im Glanz des Schnees


gespeichert die Große Sammlung
buddhistischer Schriften

雪明り一切経を蔵したる

ゆきあかりいっさいきょうをぞうしたる
Schneeglanz – Winter

Veröffentlicht 1953.

Takano Suju war sowohl Gerichtsmediziner wie ein herausragender Haiku-Dichter. 1932-34
verbrachte er zwei Jahre zu Studienzwecken in Heidelberg. Er gilt als derjenige, der am
stärksten dem Ideal des shasei („Abbilden der Natur“), der distanzierten, sachlichen
Darstellung, verpflichtet war, in Anlehnung an seine Vorgänger Masaoka Shiki und Takahama
Kyoshi, aber durchaus auch an die Strömung der »Neuen Sachlichkeit» in Deutschland.
Dieses Haiku erfasst die strenge, überweltliche Atmosphäre in einem Sutrenspeicher
innerhalb eines buddhistischen Tempelkomplexes. Nur Schneeglanz erhellt den Raum.

228)

KURIBAYASHI ISSEKIRO (1894-1961)

Kümmert sich keinen Deut


um Missernten – weiß vor dem Winter-
himmel das Reichstagsgebäude

凶作になんのかかわりもなく冬空に白く国会議事堂

きょうさくになんのかかわりもなくふゆぞらにしろくこっかいぎじどう

Winterhimmel – Winter

Wenigstens ein Beispiel des sogenannten »Proletarischen Haiku« soll hier berücksichtigt
werden. Kuribayashi Issekiro war eine zentrale Figur dieser Gruppierung innerhalb der
»Proletarischen Literaturbewegung« der späten zwanziger und der dreißiger Jahre. Das
Haiku nimmt Bezug auf die Missernten im Nordosten Japans zu Beginn der dreißiger Jahre.
Hungersnöte waren die Folgen, um die sich die Politik aber nicht kümmerte. Kuribayashi war
ein Anhänger des umgangssprachlichen, freirhythmischen Haiku mit nicht festgelegter
Morenzahl. Aber zumindest das Jahreszeitenwort ist hier beibehalten, wenn auch in
sarkastischer Umdeutung.

229)

KAWABATA BOSHA (1897-1941)

Aus Diamant
ein einziger Tropfen Tau
auf einem Stein
金剛の露ひとつぶや石の上

かんごうのつゆひとつぶやいしのうえ

Tau – Herbst

Geschrieben 1931. Ein Haiku mit starken buddhistischen Bezügen. Vordergründig erscheint
der Tautropfen dem Betrachter wie ein Diamant; Die flüchtigste und die härteste Materie
verschmelzen wider Erwarten in eins. Andrerseits stammt der Ausdruck kongo no („äußerst
hart“, „riesig groß“) aus dem Buddhismus: Man spricht von kongokai („Diamantwelt“) oder
vom kongoza, dem Sitz unter dem Bodhibaum, auf dem Buddha zur Erleuchtung gelangte
und der in der Legende als steinerner oder diamantener Lotossitz imaginiert wird. Die
buddhistische Weltsicht löst in letzter Konsequenz alle Gegensätze auf.

230)

HASHIMOTO TAKAKO (1899-1963)

Schneetag – mein Körper


im Bad, mich reut jeder Finger
reut jeder Zeh

雪の日の浴身一指一趾愛し

ゆきのひのよくしんいっしいっしかなし

Schnee – Winter

Geschrieben 1963.

Dieses Haiku erschließt sich erst dann richtig, wenn man weiß, dass es sich um ein
»Abschiedsgedicht von dieser Welt« (iisei) handelt. Die krebskranke Verfasserin hat es am
Tag vor ihrem letzten Krankenhauseintritt notiert und ihrer Tochter hinterlassen. Sie wusste,
dass sie nicht mehr zurückkehren würde. Die Fokussierung auf das Körperliche, auf einzelne
Glieder ist ein Zeichen des Lebenswillens und Protests, wird in dieser Situation aber von
japanischen Kommentatoren als sehr persönlich, eigenwillig, ja narzisstisch empfunden.

231)
MITSUHASHI TAKAJO (1899-1972)

Weißglitzernder Tau –
auch am Tag da ich sterbe
will ich den Gürtel binden

白露や死んでゆく日み帯締めて

しらつゆやしんでゆくひもおびしめて

Weißglitzender Tau – Herbst

Geschrieben 1950.
Die perfekt geformten, im Lichte gleißenden, aber nach kurzer Zeit vergehenden Tautropfen
sind seit alters ein Sinnbild der Schönheit wie der Vergänglichkeit des Lebens. In den Versen
dieser Dichterin ist vom Tod häufig die Rede, besonders von den fünfziger Jahren an. Doch
ihr Anliegen ist im Grunde die Hoffnung auf ein Leben in Würde und Lauterkeit bis zum
letzten Augenblick, symbolisch angesprochen durch die formelle Kleidung mit dem Obi-
Gürtel.

232)

YOKOHAMA HAKKO (1899-1983)

Im Schneegestöber
über das Fallreep hinauf
mit feuchten Augen …

雪霏々と舷梯のぼる眸ぬれたり

ゆきひひとげんていのぼろめぬれたり

Schnee – Winter

Geschrieben 1937. Die Verse suggerieren einen Blick über zahlreiche Treppenstufen hinauf
zu einem Hochseeschiff somit eine weite Reise und einen langen Abschied. Schneeflocken
und Tränen vermischen sich. Man denkt an eine Filmszene, wie sie für die Zwischenkriegszeit
typisch war und auch auf andere Kunstgattungen einwirkte. Yokoyama Hakko wollte in
diesem Sinn das Haiku und die Moderne zusammenbringen.
233)

AWANO SEIHO (1899-1992)

Muss es mir wirklich


den ersten Blick auf den Fuji verstellen
das tiefe Vordach?!

初富士を隠さふべしや深庇

はつふじをかくそうべしやふかびさし

Erster Blick auf den Fuji am 1. Januar – Neujahr

Geschrieben 1928.
Einen ersten Blick auf den Fuji zu werfen ist für die Anwohner ein Ritual des
Neujahrsmorgens. Das tief herabgezogene Vordach des alten japanischen Hauses verhindert
dies zum Ärger des Dichters. Parodistisch greift er im Mittelvers auf eine Formulierung aus
der ältesten Gedichtsammlung, dem Manyoshu (um 760; Nr. 17), zurück. Dort drohen die
Wolken einen Berg zu verhüllen. Im Hintergrund steht wohl der für die zwanziger Jahre
aktuelle Gedanke: Sollte mir wirklich das Alte den Blick auf die glänzende neue Zeit
verwehren?!

234)

AWANO SEIHO (1899-1992)

Renoirs Frauen –
man möchte sie gerne
zum Stricken verleiten

ルノアルの女に毛糸編ませたし

ルノアルのおんなにけいとあませたし

Stricken – Winter

Geschrieben 1949. Das Stricken wurde in der Meiji-Zeit in Japan eingeführt und in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts so populär, dass es im Haiku sogar zum Jahreszeitenwort für den
Winter avancierte. Die Gedankenverbindung vom Hantieren mit weichem Wollgarn zu den
üppigen Frauendarstellungen Renoirs zeigt, wie stark westliche Sitten und Bildvorstellungen
in

die Alltagsrealität der Japaner Eingang gefunden haben. Das Haiku als überall verbreitete
»Volksdichtung« macht da selbstverständlich keine Ausnahme.

235)

ARII SENSUI (1900-1980)

Mandarinenten schwimmen
im Schreingarten vorzeitig
Kamelienblüten

鴛鴦浮いて御苑の椿走り咲き

おしういてぎょえんのつばきはしりさき

Mandarinente – Winter

Veröffentlicht 1977.
Die Mandarinenten leben paarweise zusammen und gelten als Sinnbild ehelicher Liebe und
Treue. Sie halten sich vom Frühling bis in den Herbst an Gewässern der Bergregion auf und
kehren erst im Spätherbst in die bewohnten Niederungen zurück, wo sie gern gesehene
Gäste auf den Teichen von Tempel- und Schreingärten sind. Das prächtige Gefieder des
Männchens verleiht den kalten, trüben Wintertagen Farbe. In diesem Haiku wird zudem
suggeriert, dass die im Winter blühenden Kamelien ihre Blüte gleichsam wetteifernd
vorverlegen, um den Schreingarten trotz Winterdürre in farbigem Glanz erstrahlen zu lassen.
Ein Haiku von klassischer Vollendung.
Der Verfasser lebte als Arzt in der Nähe der berühmten Shinto-Schreine von Ise. Die
Mandarinente war ein zentrales Motiv seiner Dichtung. (Erstabdruck der Übersetzung in: F.
Hindermann, Hrsg., Vögel in der Weltliteratur, Manesse 1986.)

236)

ARII SENSUI (1900-1980)

Kühler Glanz des Monds


Sitzreihen im Schreingarten
Holzpuppen spielen

月冷えの斎庭に桟敷木偶芝居

つきびえのいにわにさじきでこしばい

Kühler Mondschein – Herbst


Datierung: 1974.
Dieses Haiku entstand im Anschluss an einen Besuch des Anori-Puppentheaters, einer
lokalen Tradition auf dem Felsvorsprung von Anori-zaki an der Küste südlich von Ise. Dort
steht der Anori-Schrein, wo am 15. und 16. September im Rahmen des jährlichen
Schreinfestes Amateur-Aufführungen geboten werden. Man spricht auch vom »Anori-
Bumaku«, iniwa (oder yuniwa), ein antikes Wort, das bereits in den ältesten Quellen
vorkommt, ist ein im kultischen Sinn gereinigter, heiliger Ort, ein Schreinbezirk oder
Schreingarten, hier beschienen vom herbstlichen Mond, der bereits eine gewisse Kühle
verbreitet. Diesen Versen gelingt es, die Jahreszeit, die verzauberte Aura des Orts und den
Vorgang, das ländlich-derbe Spiel mit den einfachen Holzpuppen, in suggestiver Weise
festzuhalten.

237)

SAITO SANKI (1900-1962)

Wasser-Kissen
eisiges Schwappen unter dem Kopf
kalt ist das Meer

水枕ガバリと寒い海がある

みずまくらガバリとさむいうみがある

Kälte/kalt – Winter

Geschrieben 1936.
Der Autor sagt dazu: »Es war in meinem Haus in Omori, nicht weit vom Meer. Ich wurde vom
Fieberwahn einer Lungeninfiltration gequält. Als ich den besorgten Mienen der Angehörigen
und Freunde entnahm, dass mein Krankheitszustand keineswegs auf die leichte Schulter zu
nehmen war, bedrängten mich Todesschatten wie eine kalte Meeresflut. «
Dieses Haiku gilt als eines der ersten, die den Einfluss der neuen surrealistischen Strömung
widerspiegeln, wobei das Umschlagen ins Surreale hier aufgrund der Umstände völlig
»logisch« und nachvollziehbar ist.

238)

NAKAMURA TEIJO (1900-1988)

Du armes Kleines
Sachte – so leicht! – zieh ich‘s herbei
im nachtkalten Bettchen

あはれ子の夜寒の床の引けば寄る

あはれこのよさむのとこのひけばより

Nachtkälte – Herbst

Geschrieben 1936. Für das Verständnis sind die japanischen Schlafsitten zu bedenken. Auf
dem Tatamiboden liegen die Futon (Schlafmatten) von Mutter und Kleinkind ausgebreitet. In
einer Aufwallung von Besorgnis und Zuneigung zieht die Mutter das Bettzeug samt dem
Kleinen
näher zu sich heran und erschrickt dabei über das kaum vorhandene Gewicht des schutzlos
daliegenden Wesens. (Dann nimmt sie das Kind ins eigene Bett, mag man sich dazu denken).
Nakamura Teijo schrieb das Haiku nach dem Umzug in den Nordosten Japans, nach Sendai,
wo die herbstliche Nachtkühle sich bereits stärker bemerkbar macht.

239)

NAGATA KOI (1900-1997)

In dieser Traumwelt
pflanze ich ein paar Lauchzwiebeln
Einsames Leben!

夢の世に葱を作りて寂しさよ

ゆめのよにねぎをつくりてさびしさよ
Lauch/Lauchzwiebel – Winter

Geschrieben 1947, also in der entbehrungsreichsten Zeit nach dem Kriegsende. Negi lassen
sich aus der japanischen Küche zwar nicht wegdenken. Sie sind aber nur Gewürz oder
Beilage, vermögen den Hunger nicht zu stillen. In diesem Sinn bilden sie ein Pendant zur
flüchtigen Traumwelt. Ein Kommentator meint sogar, es handle sich um eine
selbstverspottende Apostrophierung des Autors. Nagata Koi näherte sich während des Kriegs
gedanklich dem Zen-Buddhismus an.

240)

NAGATA KOI (1900-1997)

Verdorrtes Gras
Keine Wohnstatt mehr – und dennoch
ist das Leben heiß

枯草や住居無くんば命熱し

かれくさやすまいなくんばいのちあつし

Verdorrtes Gras – Winter

Im Januar 1995 wurde der 95jährige Nagata Koi Opfer des Erdbebens von Kobe. Sein Haus
stürzte in sich zusammen. Er blieb im 1. Stock wie durch ein Wunder unverletzt. Durch sein
wiederholtes Trommeln auf ein Kupferbecken aufmerksam geworden, befreite ihn
schließlich ein junger Nachbar aus den Trümmern. So fand die Wohngemeinschaft des
Dichters mit seinem verletzten Sohn und dessen Gattin ein jähes Ende. Er verlor seine Bleibe,
seine Bibliothek und verbrachte die zwei letzten Lebensjahre in einem Altersheim der 40 km
entfernten Stadt Neyagawa.

Nach dem Erdbeben schrieb er die oben stehenden Verse und bemerkte 1996 in einem
Gespräch dazu: »Als die Auflösung des Haushalts unumgänglich wurde, erfuhr ich mit 95
Jahren erstmals am eigenen Leib, was Alleinsein bedeutet nicht einfach nur Einsamkeit! Der
Mensch ist allein, soweit man auch gehen mag. Und wenn man dem Alleinsein auf den
Grund geht, zeigt sich etwas Lebendiges, das sich der Einsamkeit widersetzt. . . . Auch wenn
kein Haus mehr da ist, auch wenn man allein dasteht, das Leben glüht weiter. Sobald man
sich allein findet, lodert die Flamme des Lebens empor, vielleicht noch stärker als vorher das
ist meine Philosophie. Und ich möchte hinzufügen: Auch Haiku ist Philosophie! Obwohl eine
Kurzform, nur gerade 17 Einheiten, besitzt des Haiku unendliche Weite. Haiku ist ein
unbegrenztes Gefäß des Lebens. Darin verdichtet sich die Weltsicht des jeweiligen
Verfassers. «

241)

HINO SOJO (1901-1956)

Sazanka-Blüten …
eines im Krieg geschla-
genen Landes

山茶花やいくさに敗れたる国の

さざんかやいくさにやぶれたるくにの

Sazanka-Kamelie – Winter

Am 11. November 1945 trat Hino Sojo erstmals wieder bei einem Haiku-Treffen mit
Freunden auf, nachdem er Während des Kriegs unter politischem Druck jahrelang
geschwiegen hatte. Spontan verfasste er dieses Haiku, als er beim Spaziergang im Garten die
blühende Sazanka-Kamelie erblickte. Kamelien blühen im Winter, sie geben der kalten
Jahreszeit Farbe und Leben. Vers 1 zitiert formelhaft eine lange Haiku-Tradition. Die Verse 2
und 3 setzen die Gegenwart in Kontrast dazu, wobei die ungewöhnliche Brechung der
Verbform yaburetaru wohl bewusst den Zustand des Landes sinnfällig machen will. Dennoch,
die Blüte im Winter verspricht einen Neuanfang.

242)

AKIMOTO FUJIO (1901-1977)

Hoch oben ein Vogelzug


während ich ruck zuck, ruck zuck
die Konservendose knacke

鳥わたるこきこきこきと鑵切れば

とりわたるこきこきこきとかんきれば
Vogelzug – Herbst

Geschrieben 1946.
Für unser Gefühl ist dies eine krasse Zusammenstellung von Zugvögeln (dem traditionellen
Jahreszeitenwort) mit einer Konservendose‚ was nur aus den Zeitumständen zu verstehen
ist. Konserven waren in jenen Hungerjahren ein äußerst wertvolles Gut. Akimoto hatte als
Vertreter des »Neuen Haiku« (shinko haiku) Während des Kriegs zwei Jahre im Gefängnis
verbracht. Das Kriegsende erlebte er als ungeheure Befreiung, in geistiger (Vogelzug) wie
auch in materieller Hinsicht (Konserve). Akimoto liebte onomatopoetische Ausdrücke. Man
beachte die Häufung von k-Lauten in den Versen 2 und 3, die das Aufschneiden des
Konservendeckels mit einem altmodischen Büchsenöffner nachbilden. Selten genug vermag
sich die Übersetzung in solchen Fällen dem Original anzunähern.

243)

AKIMOTO FUJIO (1901-1977)

Weihnachten kam
auf Erden – doch Vater Mutter
rudern das Boot

クリスマス地に来ちちははは舟を漕ぐ

クリスマスちにちちはははふねをこぐ

Weihnachten – Winter

Veröffentlicht 1940 und geschrieben aus der Perspektive des Kindes einer Schifferfamilie auf
einem Lastkahn, eine Szene, von welcher der Autor nach eigenem Bekunden in Yokohama
angeregt wurde. In dieser Hafenstadt mit den vielen Ausländern war er selbst unter
ärmlichen Umständen aufgewachsen. Das Weihnachtsfest als Brauchtum fand nach der
Öffnung des Landes rasch Eingang in die japanische Gesellschaft und konnte so auch im
Haiku zum Jahreszeitenwort mutieren. Allerdings steht es hier für die äußerliche Glitzerwelt
einer westlich geprägten Gesellschaftsschicht, die zwar »auf Erden« sich breitmacht, aber
nicht bis in die sozialen Niederungen der Kanäle hinabreicht. Es steckt also einiges an Ironie
und sozialer Anklage in diesem Haiku. Ob der Verfasser im Hintergrund eine Parallele
zwischen der prekären Situation der Familie auf dem Schiff und der heiligen Familie im Stall
ins Spiel bringen wollte, ist nicht eindeutig auszumachen.

244)
NAKAMURA KUSATO (1901-1983)

Mut ist
das Salz der Erde – Reines Weiß
der Pflaumenblüte

勇気こそ地の塩なれや梅真白

ゆうきこそちょのしおなれやうめましろ

Pflaumenblüte – Frühling

Geschrieben 1944. Vorspann des Autors: »Beim Gespräch mit einem Schüler, der vor der
Einberufung stand, wies ich auf das folgende Haiku hin. « Dies ist keine Aufforderung, sich
der herrschenden Kriegsideologie unterzuordnen.
Nakamura Kusatao spricht sich selber und anderen Mut zu in der höchst unsicheren
Situation das Jahrs 1944. Er versucht, bei aller Beachtung der traditionellen Ästhetik, dem
Haiku mehr gedankliches Gewicht und gesellschaftliche Relevanz zu geben. Das zeigt sich
hier in der Verknüpfung der bewährten jahreszeitlichen Symbolik mit einer
neutestamentlichen Metapher (Salz der Erde).

245)

NAKAMURA KUSATO (1901-1983)

Trauben verzehren
Beere um Beere
wie Wort für Wort

葡萄食ふ一語一語の如くにて

ぶどうくういちごいちごのごとくにて

Trauben – Herbst

Geschrieben 1947.
Trauben waren unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg seltene und kostbare Früchte. Der
Dichter genießt in Ruhe jede einzelne Beere, so wie er als Haiku-Poet jedes Wort gewichtet
und auf der Zunge zergehen lässt. Ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung und
Befreiung äußert sich im Luxus des Traubenessens wie des befreiten sprachlichen Ausdrucks.

246)

YAMAGUCHI SEISHI (1901-1994)

Träger Sommerfluss
Das Ende einer rostroten Kette
dümpelt im Wasser

夏の川赤き鉄鎖のはし浸る

なつのかわあかきてっさのはしひてる

Sommerfluss – Sommer

Geschrieben 1937. Das erste aus einer Gruppe von fünf thematisch zusammenhängenden
Haiku. Daraus ist zu entnehmen, dass es sich um eine trostlose, zubetonierte
Industrielandschaft im Umkreis einer Großdruckerei handelt, die in der Sommerhitze vor sich
hin brütet. Solche Haiku-Folgen werden etwa mit der filmischen Montagetechnik, mit der
Abfolge von Filmeinstellungen verglichen. Formal ist dieses Haiku regelkonform, aber in der
Ästhetik weit entfernt von der Tradition.

247)

YAMAGUCHI SEISHI (1901-1994)

Wenn er aufs Meer hinaus treibt


der Wintersturm – dann gibt’s
kein Zurück mehr

海に出て木枯帰るところなし

うみにでてこがらしかえるところなし

Wintersturm – Winter
Geschrieben 1944.
Selbst die garstigen Sturmwinde, die im Spätherbst und Winter das Land überziehen, alles
ausdörren und zerzausen, lösen sich in den Weiten des Meeres in Nichts auf. Einige
Kommentare sehen darin eine allgemeine Aussage, dass alles Große, Heftige, Machtvolle
schließlich vergeht. Yamaguchi Seishi, der selbst dieses Haiku besonders schätzte, hat später
den Kommentar dazu gegeben: »Dieser Wintersturm ist nicht weniger erbärmlich als jenes
Einbahn-Sonderangriffscorps. « (Damit sind die sogenannten kamikaze, Selbstmordpiloten
im 2. Weltkrieg, gemeint.) Angesichts der Entstehungszeit dieses Haiku liegt es auf der Hand,
dass der Verfasser auf ein baldiges Ende der faschistoiden politisch-ideologischen
Verhältnisse in seinem Land hoffte.

248)

TOMIZAWA KAKIO (1902-1962)

Ein Schmetterling stürzt …


mit gewaltigem Knall
in die Eiszeit

蝶墜ちて大音響の結氷期

ちょうおちてだいおんきょうのけっぴょうき

Frost/Eisbildung – Winter

Geschrieben 1941 und im selben Jahr in die Sammlung Ten no okami (»Himmelswolf«)
aufgenommen.
Das ist die letzte herausragende Veröffentlichung der avantgardistischen »Neues Haikuu
Bewegung, welche im Zeitraum 1940/41 von der Geheimpolizei zum Schweigen gebracht
wurde. Es handelt sich eigentlich um ein surrealistisches Gedicht, dessen politischer
Hintersinn unübersehbar ist. Das Jahreszeitenwort keppyo nimmt hier eine völlig neue
metaphorische Bedeutung an. Die Zusammensetzung keppyo-ki („Zeit/Epoche des
Zufrierens“) ist eine Neubildung, die jedoch automatisch an den geläufigen Begriff »Eiszeit«
anklingt.

249)

ENOMOTO KOZAN (1902-1983)


Schneeschmelze am Fuji
Von den Wasserrädern spritzt
Gischt in die Höhe

雪解富士水車しぶきを宙にあげ

ゆきげふじすいしゃしぶきをちゅうにあげ

Schneeschmelze am Fuji – Sommer

Enomoto Kozan lebte in Kofu, in der Nähe des Berges Fuji, und war fest in seiner lokalen
Umgebung verankert. Von seinen zahlreichen Haiku über die natürlichen Gegebenheiten
dieser Gegend wird besonders das vorliegende oft zitiert. Wenn die Schneeschmelze hoch
oben am Fuji einsetzt, fließen rings um den Berg gewaltige Wassermassen oberirdisch und
unterirdisch ab. Sie stehen hier für den machtvollen Aufbruch in den Sommer und für
quirlende Lebendigkeit. Sehr schön wird dies auch in der lautlichen Gestaltung sinnfällig
gemacht: in der Häufung von s-‚ sh- und ch-Lauten in Verbindung mit i (etwas, was die
Übersetzung in einem gewissen Grad nachzubilden versucht).

250)

HOSHINO TATSUKO (1903-1984)

Das Papier-Fenster
schiebe ich zu – und spüre nun
rings die Farben des Herbstes

障子しめて四方の紅葉を感じをり

しょうじしめてよものもみじをかんじをり

Herbstlaub – Herbstfarben – Herbst

Geschrieben 1949.
Schiebefenster und Türen (shoji) in japanischen Häusern sind meist mit weichem, weißem
Japan-Papier bespannt, das eine eigene Atmosphäre von Wärme und Reinheit hervorbringt.
Die Autorin sucht diese Geborgenheit, um sich im erweiterten Raum ihrer Imagination die
vorher geschaute Farbenpracht umso intensiver und umfassender vorzustellen. Eine
symbolistische Überhöhung des Natureindrucks, die sich gerne lyrischer Kurzformen bedient.
Man vergleiche etwa das Tanka von Nagatsuka Takashi aus dem Jahr 1907: »Mit leise
schwankenden / Fühlern des Grashüpfers / zeigt sich der Herbst an / Bedenke ihn, schau ihn
/ geschlossenen Auges« (in: Gäbe es keine Kirschblüten. I., Reclam 2009, S. 27).

251)

ONO RINKA (1904-1982)

Auf Reisen ein Feuerwerk –


selbst wenn ich schlafe, entfaltet es sich
in meinem Inneren

ねむりても旅の花火の胸にひらく

ねむりてもたびのはなびのむねにひらく

Feuerwerk – Sommer

Geschrieben 1947.
Feuerwerke gehören seit je zum japanischen Sommer. Während des Kriegs aber wurden sie
ausgesetzt. Der Verfasser nahm auf einer Reise zu einer Zeit, als noch überall Mangel
herrschte im Haus eines Haiku-Freundes in Toyokawa (50 km südöstlich von Nagoya) an
einem Dichtertreffen teil und wurde reichlich bewirtet. Er beschreibt den Anlass zu diesem
Haiku wie folgt: »Nach dem Festmahl machte jemand auf das Knallen eines Feuerwerks
aufmerksam. Auch dies war etwas, das im Krieg völlig in Vergessenheit geraten war. Ich trat
hinaus und positionierte mich in der Nähe des Bahnübergangs der Iida-Linie. Das Feuerwerk
war jenseits der Felder in Richtung Toyohashi zu sehen. Ich war aufs Höchste erregt und
dachte mit Inbrunst: Was für eine Pracht! Und das setzte sich fort, auch nachdem ich
schlafen gegangen war. Zutiefst fühlte ich die Wohltat des Friedens. «

252)

SHINOHARA HOSAKU (1905-1936)

Weiter weiter …
bis sich die Lunge blau färbt
Fahrt übers Meer

しんしんと肺碧きまで海のたび

しんしんとはいあおきまでうみのたび
Ohne Jahreszeitenwort

Eines von fünf Haiku, überschrieben mit »Meerfahrt«, entstanden 1934. Shinohara war ein
Bannerträger der »Neues Haiku«-Bewegung (shinko haiku), zu deren Programm unter
anderem der Verzicht auf Jahreszeitenwörter gehörte. Er war zudem der Dichter eines
jugendlich-schwungvollen Aufbruchs. Von ihm stammt die Formel. »Wer den poetischen
Funken und die Peitsche der Reduktion auf die 17-Einheiten-Form besitzt, der darf alles
andere ignorieren... «

253)

KATO SHUSON (1905-1993)

Stumme Kröten!
Soll doch einer was sagen
so laut er kann

蟇誰かものいへ声かぎり

ひきがえるたれかものいえこえかぎり

Kröte – Sommer

Geschrieben 1939, in einer Zeit zunehmender Unterdrückung jeglicher freien


Meinungsäußerung. Ein Ausbruch plötzlichen Aufbegehrens, für das Haiku neu und
ungewohnt. Vers 1 kann Einzahl oder Mehrzahl sein, kann ebenso gut an eine schweigende
Mehrheit wie selbstironisch an die eigene Person des Verfassers gerichtet sein. Jedenfalls ist
damit eine totale Umdeutung des Jahreszeitenworts verbunden.

254)

KATO SHUSON (1905-1993)

Stechend klaren
offenen Auges hängt der Fasan
zum Verkauf aus

雉子の眸のかうかうとして売られけり
きじのめのこうこうとして売られけり

Fasan – Frühling

Geschrieben 1945. Die Haiku-Tradition sieht im Fasan, der sich im Frühjahr durch laute
Werberufe bemerkbar macht, ein Symbol des Liebesverlangens wie auch der Elternliebe.
Hier soll der erlegte, aber den Betrachter immer noch mit eindringlichem, anklagendem Blick
anstarrende Vogel für alle verführten, verratenen, verkauften und verheizten Opfer der
zurückliegenden Jahre stehen. Das Bild mag uns befremden, aber dieses Haiku wird in Japan
besonders hoch geschätzt und als Ausdruck der gesellschaftlichen Situation unmittelbar nach
dem Ende des Kriegs, ja als quälende Frage an die Überlebenden nach der
Kriegsverantwortung interpretiert.

255)

HIRAHATA SEITO (1905-1997)

Schritt für Schritt für Schritt


geht es voran – im Mondlicht
kriegsgefangen

徐々に徐々に月下の俘虜として進む

じょじょにじょじょにげっかのふりょとしてすすむ

Im Mondlicht – Herbst

Geschrieben 1945. Hirahata war Psychiatriearzt. Als Sanitätsoffizier wurde er 1944 nach
China verlegt. Bei Kriegsende war er in Kunshan (Provinz Jiangsu) stationiert und musste sich
als Kriegsgefangener auf einem langen Marsch nach Shanghai zurückbegeben. Vers 1 macht
mit dem onomatopoetischen Ausdruck und einer im Original über die Regellänge
hinausgehenden Morenzahl den endlosen Trott des Marschierens sinnfällig. Doch die
Mondhelle hebt die Situation ins Unwirkliche, macht sie erträglicher, verklärt sie vielleicht
sogar. Zweifellos schwingt hier auch ein Erstaunen mit, noch am Leben zu sein, sowie
Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat.

256)

MATSUMOTO TAKASHI (1906-1956)


Im Traum das No zu tanzen …
Wunderbar! – In Wahrheit bloß
ein Winterschlaf

夢に舞ふ能美しや冬籠

ゆめにまうのううつくしやふゆごもり

Rückzug ins Winterquartier – Winterschlaf – Winter

1941, im Alter von 36 Jahren, schrieb Matsumoto Takashi dieses Haiku auf dem Hintergrund
eines ganz persönlichen Schicksals. Er war der älteste Sohn eines berühmten No-
Schauspielers der Hosho-Schule, Matsumoto Nagashi. Als solcher war er zum Nachfolger
ausersehen, übte schon als Sechsjähriger unter der Anleitung des Schuloberhaupts, trat als
Neunjähriger erstmals auf und spielte als Zwölfjähriger die Shite -Hauptrolle im Stück Shojo.
Mit fünfzehn machte eine Krankheit seine weitere Karriere zunichte, was er wohl nie
verwinden konnte.
Auch wenn er als Haiku-Verfasser Anerkennung fand, kam ihm sein restliches Leben wie ein
Winterschlaf vor.

257)

SUYUKI MASAJO (1906-2003)

Leichtes Sommergewebe …
stürzt dich in Kummer und Not
wenn du verliebt bist

羅や人悲します恋をして

うすものやひとかなしますこいをして

Dünner Seidenstoff – leichte Kleidung – Sommer

Geschrieben 1954.
Die Kommentare heben den Gedankensprung von dünner, luftiger, halb durchsichtiger
Sommerkleidung zu Erotik und Liebeskummer hervor und sehen darin typisch weibliches
Empfinden. Unvermeidlich sind Hinweise auf unglückliche Umstände in der Biographie der
Dichterin. Sie selbst gab später zu Vers 2 und 3 folgenden Kommentar: »Wenn eine
verheiratete Frau sich in Liebeshändel verstrickt, kann das kaum zu einem glücklichen
Ausgang führen. So habe ich über mehrere Partner Leid und Kummer gebracht -das heißt,
sowohl über mich wie über die Partner. «

258)

AZUMI ATSUSHI (1907-1988)

Marienkäfer!
Ich, Soldat, ich bin dem Tod
Entronnen

てんと虫一兵われの死なざりし

てんとむしいっぺいわれのしなざりし

Marienkäfer – Sommer

Vorspann: »15. August, Kriegsende.« Im Juli 1944 wurde Azumi Atsushi einberufen und
einem Selbstmordkommando zugeteilt, dessen Angehörige sich bei einer Invasion Japans
den Panzern entgegenwerfen sollten. Er übte also ein Jahr lang seinen Einsatz im Angesicht
des sicheren Todes. Die Kapitulationserklärung war für ihn deshalb wohl noch ein größerer
Schock als für die meisten seiner Landsleute. In diesem Augenblick wendet er sich einem
winzigen Insekt zu, das ihm zufliegt, stellt sich auf dieselbe Stufe um das Leben zu feiern.

259)
ISHIBASHI HIDENO (1909-1947)

Zikadengewitter –
Umsonst versucht das Kind
die Krankenbahre einzuholen

蝉時雨子は担送車に追ひつけず

せみしぐれこはたんそうしゃにおいつけず

Zikadengewitter – Sommer
Vorspann der Autorin: »Krankenhauseintritt am 21. Juli.«
Auch dieses Haiku ist nur vor einem ganz persönlichen Hintergrund zu verstehen. Ishibashi
Hideno war die Frau des bekannten Kritikers Yamamoto Kenkichi (mit bürgerlichem Namen
Ishibashi Sadakichi). Von den Entbehrungen der Kriegszeit geschwächt, wurde sie 1947 ins
Krankenhaus überführt (wo sie zwei Monate später starb). Während ihr Mann mit
Aufnahmeformalitäten beschäftigt war, wurde die Kranke auf eine Tragbahre gelegt und im
Eiltempo weggebracht‚ so dass das viereinhalb Jahre alte Töchterchen nicht zu folgen
vermochte. Dies ist ihr letztes Haiku. Begleitet wird die Szene vom unangenehm
durchdringen den Schrillen der Zikaden (»Zikadengewitter«), wie es für den japanischen
Sommer charakteristisch ist.

260)

TAKAYA SOSHU (1910-1999)

In meinem Kopf
liegt ausgebreitet, weiß
ein Sommerfeld

頭の中で白い夏野となってゐる

あたまのなかでしろいなつのとなっている

Sommerfeld – Sommer

Geschrieben 1932. Eines der ersten und wichtigsten Beispiele für die »Neues Haiku«-
Bewegung zu Beginn der dreißiger Jahre. Das Jahreszeitenwort wird in eine innere
Landschaft umgedeutet, verweist auf einen Seelenzustand. Während »Sommerfeld« in der
Tradition meist dicht gewachsenes Grün suggeriert, ist es hier blendend weiß. Schwer zu
sagen, ob damit der Glanz jugendlicher Imagination gemeint ist (Wie zwei Kommentatoren
meinen) oder aber innere Leere.

261)

NOMURA TOSHIRO (1911-2001)

Ich fache Feuer an –


Jenseits am Horizont der kahlen Felder
geht einer seines Wegs
火を焚くや枯野の沖を誰か過ぐ

ひをたくやかれののおきをたれかすぐ

Feuer anfachen und kahles, verdorrtes Feld – Winter

Geschrieben 1956.
Diese Verse gelten als Meilenstein in der Entwicklung des modernen Haiku. Das liegt an der
bisher unüblichen Kombination von nicht zur zwei, sondern drei unterschiedlichen Motiven:
ein aufflammendes Feuer, eine weite, kahle Ebene im Winter (wobei der Ausdruck kareno no
oki die Weite des Meeres auf das Winterfeld überträgt) und eine schemenhafte Gestalt weit
drüben am Horizont. Wie hängen diese Elemente zusammen? Man kann das Ganze durchaus
als reale Szenerie sehen. Aber man kann es auch als imaginäre, innere Landschaft
betrachten. Die schattenhafte Figur am Horizont wird durch die Hitze des Feuers und den
aufsteigenden Rauch verzerrt und gerät ins Schwanken. Ist sie gar eine Projektion des Ichs?

262)

ISHIDA HAKYO (1913-1969)

Wildgänse – alles
was sonst noch zurückbleibt
erglänzt in Schönheit

雁やのこるものみな美しき

かりがねやのこるものみなうつくしき

Wildgans – Herbst

Am 23. September 1943 erreichte der Einberufungsbefehl den dreißigjährigen Haiku-Dichter.


Das bedeutete potenziell Abschied ohne Rückkehr. Später schrieb er dazu: »[Trotz des
Aufgebots] unterschieden sich die Wildgänse nicht vom Abend zuvor, und das Abendrot war
gleicherweise prachtvoll. Alles stand plötzlich im Glanz seiner Schönheit vor meinen Augen,
und dies alles musste ich nun zurücklassen. « (Ishida wurde nach China verlegt, gelangte
aber aus gesundheitlichen Gründen noch vor Kriegsende zurück nach Japan).

263)

ISHIDA HAKYO (1913-1969)


Vogelmiere –
Spatzen von gleicher Farbe
wie die verbrannte Erde

はこべらや焦土のいろの雀ども

はこべらやしょうどのいろのすずめども

Vogelmiere – Frühling

Veröffentlicht 1946.

Vogelmiere ist ein überall an Wegrändern usw. vorkommendes unscheinbares Kraut mit
winzigen weißen Blüten, bei Spatzen und anderen kleinen Vögeln beliebt als Weide. Es
gehört zu den sieben traditionellen Frühlingskräutern (haru no nanakusa), die nach Anbruch
des neuen Jahrs gepflückt wurden. Der Verfasser drückt hier sein Mitgefühl für die
bescheidenen Regungen des Lebens in den brandversehrten Städten aus. Im weiteren Sinn
steht das Haiku für die tristen Verhältnisse unmittelbar nach dem Kriegsende, für die
Menschen, die wie die Spatzen sich in den Ruinenfeldern irgendwie durchzuschlagen
versuchten.

264)

WATANABE HAKUSEN (1913-1969)

Aufrecht stand der Krieg


in der hintersten Ecke
des Korridors

戦争が廊下の奥に立ってゐだ

せんそうがろうかのおくにたっていた

Ohne Jahreszeitenwort

Geschrieben 1939.
Hier wird der Krieg personifiziert als Schreckgespenst im hintersten, düstersten Winkel eines
langen Korridors zum Thema eines Haiku gemacht. Die Verse bezeugen, wie sich unter
ständig zunehmendem Druck in diesen Jahren die Angst und Unsicherheit allmählich in die
Privatsphäre der Menschen im Innern des Landes einnistete. Watanabe Hakusen gehört
auch zur kritischen »Neues Haiku«-Bewegung.

265)

NAKAMURA SONOKO (1913-2001)

Sollte ich nicht zurückkommen


werden auf meinem leeren Sitz
die Kirschblüten fallen

帰らざればわが空席に散るさくら

かえらざればわがくうせきにちるさくら

Kirschblüten – Frühling

Veröffentlicht 1993.

Ein denkbar einfaches Bild, aber von großer Ausstrahlung. Man mag sich ein Konzert oder
Theater im Freien denken. Eine Person entfernt sich von ihrem Platz und kehrt nicht zurück,
was auch immer der Grund sein mag. Auf den Sitz fallen die Blüten. Aber warum weiß das
diese Person? Sie stellt es sich vor, sie möchte, dass es so ist. Damit weitet sich der Blick:
nicht zurückkehren heißt auch, aus dem Leben scheiden. Das hat die achtzigjährige Dichterin
ohne Zweifel mitbedacht. „Wenn doch wenigstens Blüten für kurze Zeit der Leere etwas
entgegenhalten!“

266)

KATSURA NOBUKO (1914-2004)

Leicht und locker


gekleidet treffe ich jemanden …
Glühwürmchen-Abend

ゆるやかに着てひとと逢ふ蛍の夜

ゆるやかにきてひととあうほたるのよ
Glühwürmchen – Sommer

Geschrieben 1948. Ein Liebes-Haiku von seltener Finesse und Dezenz. Es arbeitet mit einer
quasi neutralen Andeutung (hito ni au „einen Menschen / jemanden treffen“), aber lässt
doch kaum einen Zweifel daran, dass es sich um ein romantisches Rendezvous handeln
muss, um die Begegnung mit einem geliebten Partner, dem man sich leicht und locker, ohne
Zurückhaltung und Förmlichkeit anvertraut. Die Kleidung richtet sich nach der Jahreszeit,
dem heißen japanischen Sommer, aber scheint doch auch ein sinnliches Versprechen
auszudrücken, das mit dem Glühwürmchen-Motiv verstärkt wird; gelten die Glühwürmchen
doch in der altjapanischen Dichtung unter anderem als Sinnbilder brennenden
Liebesverlangens.

267)

FUBASAMI FUSAE (1914-2014)

Aus glühendem Himmel


ein einziger Fetzen Papier
der über die Menschen kommt

炎天の一片の紙人間の上に

えんてんのいっぺんのかみひとのうえに

Sonnenglut – glühender Himmel – Sommer

Geschrieben 1941.
Mit dem Papierfetzen ist der Einberufungsbefehl gemeint, der für viele Japaner in diesen
Jahren gleichsam von oben herab geflattert kam und ihr Schicksal bestimmte. Die
Verfasserin war 27 Jahre alt und eben erst Mutter geworden, als dieses ominöse Papier den
Mann von ihrer Seite riss. Man meint, die große Anspannung, aber auch die innere Kraft und
Konzentration zu spüren, die es dieser Dichterin ermöglichte, ihre persönliche Lage in eine
solche Kurzform, in ein solches Bild von hoher Expressivität zu gießen. Eindrücklich ist es,
Wie hier das überlieferte Jahreszeitenmotiv, das einfach die lastende Hitze des japanischen
Sommers anspricht, in ein umfassendes, glühendes, lebensbedrohendes Verhängnis
umgedeutet wird.
Nicht minder eindrücklich ist der Werdegang dieser Frau, die nach acht Jahrzehnten
unausgesetzter Haiku-Aktivitäten 99 jährig als älteste je ausgezeichnete Preisträgerin mit
dem Dakotsu-Preis bedacht wurde.
268)

NOMIYAMA ASUKA (1917-1970)

Die Blüte der Spinnenlilie


fällt ab – ihre eigene Röte ist
ihr unerträglich

曼珠沙華散るや赤きに耐へかねて

まんしゅしゃげちるやあかきにたえかねて

Spinnenlilie – Herbst

Geschrieben 1946. manjushage oder higanbana (Lycoris radiata) trägt den deutschen
Namen »Rosarote Spinnenlilie«, ist aber meist von intensivem Rot. Sie ist überall in Ostasien
eine auffällige und mysteriöse Erscheinung, weil ihre prächtigen Blütenstände unvermittelt
welken und verschwinden. Da sie häufig an Wegrändern und in der Umgebung von
Friedhöfen blüht, wird sie auch mit Vergänglichkeit und Tod in Verbindung gebracht. Die
Vorstellung, dass sie ihr eigenes Rot nicht erträgt, wird von den Kommentatoren als
faszinierend, aber höchst eigenwillig bezeichnet. Diese Vorstellung nährt sich wohl aus der
Mischung von Lebenshunger und Todesahnung, der der Autor in der Kriegszeit während
langjährigen Sanatoriumsaufenthalten ausgesetzt war. Später machte er die Formel
»Dichtung als Ausdruck des Lebensdranges« (seimei fuei) zu seinem Wahlspruch.

269)

ISHIHARA YATSUKA (1919-1998)

Goldener Lotos
auf den Wassern des Nils
in voller Blüte

ナイル河の金の睡蓮ひらきけり

ナイルがわのきんのすいれんひらきけり

Lotosblume – Sommer
Veröffentlicht 1997.
Auf der Grundlage traditioneller Vorgaben im Umkreis von Iida Dakotsu tendierte Ishihara
Yatsuka im Alter mehr und mehr zur Verinnerlichung und zu einem über Japan hinaus
greifenden Symbolismus. In den achtziger Jahren weiteten Reisen nach China und nach
Ägypten seinen Horizont zu einer Haltung, die er selbst mit »Universelle Wahrnehmung /
Kosmisches Empfinden» (uchu kankaku) umschrieb. Die goldenen Lotosblüten mögen
vielleicht an tatsächlich gesehene gelbe Seerosen an den Ufern des Nil erinnern. Sie
verweisen darüber hinaus auf den Glanz und die Spiritualität der alten Kulturen des
Buddhismus und Ägyptens.

270)

SAWAKI KIN’ICHI (1919-2001)

Auf den Salzfeldern


hundert Tage Furchen ziehn
ohne Unterbruch

塩田に百日筋目つけ通し

えんでんにひゃくにちすじめつけどうし

Salzfeld – Sommer

Eines von 25 Haiku über die Salzfelder an der Küste von Sosogo (Noto -Halbinsel)‚
geschrieben 1955. Seit Jahrhunderten wurde dort im Sommer während rund hundert Tagen
in aufwendiger Handarbeit Meersalz gewonnen. Letzte Salzfelder existierten bis 1959. Der
aus der Nachbarschaft Toyama stammende Sawaki Kin’ichi wollte damit den schwer
arbeitenden Menschen seiner Heimat ein Denkmal setzen. Er war ein Protagonist des »Sozial
ausgerichteten Haiku» (shakaisei haiku) nach dem 2. Weltkrieg.

271)

SUZUKI MURIO (1919-2004)

Unter stechenden Blicken


fault das »20. Jahrhundert»
seinem Ende entgegen
見つめられ二十世紀の腐りゆく

みつめられにじゅうせいきのくすりゆく

Nashi (japanische Birne) – Herbst

Veröffentlicht 1999 in der Sammlung mit dem programmatischen Titel 9. Monat 1999. Wir
haben hier das desillusionierte, sarkastische Fazit eines Haiku-Dichters vor uns, der seine
Laufbahn im Rahmen der »Neues Haiku«-Bewegung in den dreißiger Jahren begann, der
dann als zwanzigjähriger Soldat verwundet aus dem Krieg zurückkehrte und in der Folge
einen großen Teil seines preisgekrönten Schaffens der kritischen Auseinandersetzung mit
der Kriegsthematik widmete. Gerade an einem Beispiel wie dem vorliegenden mag man den
weiten Weg ermessen, den das Haiku im letzten Jahrhundert zurückgelegt hat.
Auf eine Doppelbedeutung ist hinzuweisen, die den Sarkasmus auf geniale Weise steigert, in
der Übersetzung aber nur durch Anführungszeichen angedeutet werden kann: nijusseiki „20.
Jahrhundert“ ist nämlich auch eine Sortenbezeichnung für eine japanische Birne (nashi).
Deshalb ist das Verb »faulen« hier sowohl im konkreten wie im übertragenen Sinn
angebracht.

272)

MORI SUMIO (1919-2010)

In der Neujahrsnacht –
Weiß wie ein Schwan
meine Frau im Bade

除夜の妻白鳥のごと湯浴みをり

じょやのつまはくちょうのごとゆあみをり

Letzte Nacht des Jahres – Neujahrsnacht – Winter

Geschrieben 1953.

Für das volle Verständnis dieses Haiku muss man die japanischen Gebräuche zum Jahresende und
Jahresanfang kennen. Neujahr ist der höchste Feiertag im Kalender. Zuvor wird tagelang geputzt, und
die besonderen Neujahrsspeisen werden vorbereitet. Am Ende dieser Anstrengungen folgt, meist
schon in tiefer Nacht, das letzte Bad, die Reinigung des Körpers, die einen fast rituellen Anstrich hat
und mit Befriedigung über das Getane und Vorfreude auf den Sonnenaufgang des ersten Tages im
neuen Jahr verbunden ist. Hier bewundert der Mann die Schönheit und Tatkraft seiner Frau mit
Gefühlen der Zuneigung und Dankbarkeit.
Es ist ein Liebesgedicht der besonderen Art. Vielleicht verstärkt sich der Eindruck noch, wenn man
um die damaligen Lebensumstände des Paars weiß, acht Jahre nach Kriegsende. Die Frau stammte
aus begütertem Haus und hatte den mittellosen Lehrer und Dichter gegen den Willen ihrer Familie
geheiratet. Das Paar lebte mit drei Kindern in prekären und räumlich äußerst beengten Verhältnissen
in einem abgelegenen Außenbezirk von Tokyo. Der Badezuber wurde im Winter auf den Erdboden im
Eingangsbereich platziert und beheizt. Dieser Hintergrund verleiht dem weißen Schwan fast etwas
Märchenhaftes.

273)

KANEKO TOTA (1919)

Auf krummen Wegen


taumelnd, brandversehrt – ein Marathon
rund um das Hypozentrum

彎曲し火傷し爆心地のマラソン

わんよくしかしょうしばくしんちのマラソン

Ohne Jahreszeitenwort

Geschrieben 1958, als der Verfasser beruflich nach Nagasaki versetzt wurde.

Der Begriff bakushinchi (Umkreis um den Explosionsmittelpunkt) bezieht sich für Japaner klar auf die
Gebiete um die Hypozentren der Atombombenabwürfe. Das Bild eines einmal hierhin, einmal
dorthin sich wendenden Zugs von Maradmnläufern fiel dem Autor nach eigenem Bekunden zu, als er
sich wandernd im hügeligen Umfeld des Hypozentrums von Nagasaki bewegte. In diesem Bild
überblenden sich verschiedene Ebenen. Vordergründig und auf die Gegenwart bezogen kann das an
diesem Ort unerwartete Auftauchen einer Gruppe von jungen Sportlern gemeint sein. Im
Hintergrund steht die Erinnerung an die Züge flüchtender, hilfesuchender, verwundeter, versengter
und dahinsiechender Menschen nach dem Bombenabwurf. Allenfalls verweist »Marathon« auch auf
die gewaltigen Anstrengungen der Überlebenden, heraus aus den Trümmern des Kriegs hin zu einer
immer noch gefährdeten Normalität.
Kaneko Tota war die eine von zwei Leitfiguren des »Avantgardistischen Haiku« (zenei haiku), das in
den fünfziger Jahren aufkam. Obwohl bald hundertjährig, ist er auch heute noch unvermindert aktiv.

274)

KANEKO TOTA (1919)

Auf Wein verzichten?! Wie?


Was bleibt mir an Begierden
noch zum Spielen übrig?

酒止めようかどの本能と遊ぼうか

さけやめようかどのほんのうとあそぼうか

Ohne Jahreszeitenwort

Eines von sechs Haiku, die unter dem Vorspann »Tsufusho« (»Ausgewählte Haiku über die
Gicht«) 1995 veröffentlicht wurden. Der offenbar gichtgeplagte, etwa 75 jährige Verfasser beklagt
seinen Zustand. Der Ausdruck »mit Begierden spielen wird von den japanischen Lesern als besondere
Trouvaille empfunden. Diese nach außen hin etwas kindische, weinerliche, von Selbstmitleid
triefende Formulierung, die in Wahrheit aber selbstironisch gemeint ist, hat dieses Haiku populär
gemacht. Kaneko Tota hat 2007 ein Buch mit autobiographischen Texten herausgebracht, das dieses
Haiku als Titel trägt. »Sake« steht hier für alle möglichen alkoholischen Getränke.

275)

NOZAWA SETSUKO (1920-1995)

Wintertag! Krank lieg ich


schaue empor: meine Koto
in ihrer ganzen Größe

冬の日や臥して見あぐる琴の丈

ふゆのひやふしてみあぐることのたけ

Wintertag – Winter

Geschrieben 1949. Auch dieses Haiku erschließt sich nur vor einem ganz persönlichen Hintergrund.
Nozawa Setsuko erkrankte mit 14. Jahren, musste die Eliteschule für Frauen, in die sie eingetreten
war, aufgeben und verbrachte die nächsten 24 Jahre im Krankenbett. In diesem Haiku blickt
sie, auf den Tatami, = das heißt auf Bodenhöhe, liegend, zu ihrer geliebten Koto hinauf. Das
Saiteninstrument im Deutschen mit dem Fachbegriff »Wölbbrettzither« bezeichnet - hat eine Länge
von 1,8 m und wird bei Nichtgebrauch aufrecht an die Wand gelehnt. Es erscheint hier als
Verkörperung der nunmehr unerreichbaren hochgesteckten Hoffnungen und Aspirationen, nicht nur
in Bezug auf die Musik.
276)

MITSUHASHI TOSHIO (1920-2001)

Ganze Fliegenschwärme
die sich am Kriege mästen
in aller Stille …

戦争にたかる無数の蝿しづか

せんそうにたかるむすうのはえしづか

Fliege – Sommer

Geschrieben 1984.
Ein beißend-spöttisches, ja geradezu wütendes Haiku, wie man es sonst kaum je antrifft. Mit den
»zahllosen Fliegen« oder den Fliegenschwärmen, die sich am Krieg mästen wie an einem Kadaver,
sind nicht nur Fanatiker, Kriegstreiber und Potentaten anvisiert, sondern auch breite Kreise von
Nutznießern, Waffenschiebern, politischen Opportunisten und ihrer Klientele. Mitsuhashi stand vor
dem Krieg der Bewegung »Neues Haiku« nahe und war von den fünfziger Jahren an ein wichtiger
Vertreter des »Sozial ausgerichteten Haiku«. Er griff immer wieder auf die Kriegsthematik zurück.

277)

KUSAMA TOKIHIKO (1920-2003)

Winterrosen –
mit gestutzten Bonus
bin ich Dichter

冬薔薇や賞与劣り一詩人

ふゆばらやしょうよおとりしいちしじん

Winterrose –Bonus – Winter

Geschrieben 1954 mit dem Vorspann: »In der Position eines Angestellten. «
Kusama Tokihiko führte von 1951 an das Leben eines normalen Firmenangestellten (salary man). Als
solcher musste er die Erfahrung machen, dass man ihm den Bonus zum Jahresende kürzte. Das
wurmte den Verfasser. Ein Interpret meint sogar, dass diese Zurücksetzung mit den dichterischen
Aktivitäten zusammenhing. Jedenfalls hält Kusama den Vorgang mit einer Mischung aus Selbstironie
und Selbstmitleid fest, wobei das Jahreszeitenwort »Winterrose« von den Kommentaren einmal als
Trost für den Verfasser, einmal als Symbol für die Kälte dieser Firmenwelt aufgefasst wird. Kusama
war ein Protagonist des damals verbreiteten »Salaryman-Haiku«. Das hier übersetzte Beispiel fand
einige Beachtung und gab Anlass zu Diskussionen.

278)

IIDA RYUTA (1920-2007)

Vater Mutter – tot


Die Hintertür steht offen
zum Berg der kahlen Bäume

父母の亡き浦口開いて枯木山

ふぼのなきうらぐちあいてかれきやま

Kahler Baum im Winter – Winter

Geschrieben und veröffentlicht 1965. Dieses Haiku besitzt durch die Überlagerung von liebevollem
Gedenken und einer fröstelnden, beinahe unheimlichen Atmosphäre eine magische Ausstrahlung.
Wer hat die im alltäglichen Leben meistens bevorzugte hintere Eingangstüre zum Haus geöffnet und
(un-) absichtlich offen gelassen? Sind die Eltern nur kurz für eine alltägliche Verrichtung
hinausgegangen und kommen gleich zurück? Ist der kahle winterliche Bergwald ein düsterer
Durchgangsbereich zur Totenwelt, oder ist sein Anblick doch eher tröstlich, Wie eine Äußerung des
Dichters suggeriert. Und ist der hintere (informelle) Hauseingang eine Hintertür, durch die der Tod
sich jederzeit freien Zutritt verschaffen kann?
Iida Ryuta war der als Haiku-Dichter angesehene Sohn des noch berühmteren Vaters Iida Dakotsu. Er
lebte im Elternhaus im Berggebiet von Zentraljapan. Nachdem er schon drei Brüder durch den Krieg
und durch Krankheit verloren hatte, starben der Vater 1962 und die Mutter 1965, Ereignisse, die ihm
offensichtlich nahegingen. Eindrücklich ist die Fähigkeit, den eigenen konkreten Lebensumkreis zu
einer starken, mehrdeutigen Metaphorik zu verdichten.

279)

MANEBE KUREO (1920-2012)

Der Körper zeigt sich


wie von einem Hof umgeben –
heftiges Niesen

現身の暈顯れしくさめかな
うつしみのかさあらわれしくさめかな

Niesen – Winter

Veröffentlicht 1992.

Eine einfache körperliche Reaktion führt zu einer verfremdenden Wahrnehmung. Der eigene Körper
scheint für Augenblicke von einem Halo, von einer schwach leuchtenden Aura, umringt, wie das etwa
beim Mond zu beobachten ist. Das mag leicht komisch wirken. Im Lichte vieler anderer Haiku von
Manabe aus derselben Sammlung mit dem Titel Yukionna (»Schneefrau«) überwiegt aber eine
unheimliche Note. Der Verfasser, der während Jahrzehnten nur als Prosaist hervortrat, kommt darin
immer wieder auf geisterhafte Phänomene, auf einen Zwischenbereich zwischen der realen und
einer anderen Welt, zwischen Leben und Tod zurück. Auch in den vorliegenden Versen wird in
abgeschwächter Form eine Verunsicherung, ein Gefühl des Selbstzweifels und der
Selbstentfremdung spürbar.

280)

TSUDA KIYOKO (1920-2015)

Ein doppelter Regenbogen!


Auch die Götter strahlen
im Liebestaumel

虹二重神も恋愛したまへり

にじふたえかみもえんあいしたまえり

Regenbogen – Sommer

Geschrieben1949.
Tsuda Kiyoko schrieb zunächst Tanka und wandte sich erst 1948 dem Haiku zu. Diese Verse stammen
also aus der ersten Zeit von Tsudas Haiku-Aktivität, Verse, die ihren Lehrer Yamaguchi Seishi in
Erstaunen versetzten. Die besondere Wirkung hängt mit dem Wort ren ai zusammen, das
romantische Liebe zwischen ebenbürtigen Partnern bedeutet -ein wesentliches Konzept, welches in
Japan von 1890 an allmählich Einzug hielt, aber erst nach 1945 breite Popularisierung erfuhr. Das
Wort ist eine Neubildung zur Wiedergabe von »Iove«/»Liebe«. Es muss auch 1949 noch immer
ungemein frisch und jugendlich gewirkt haben. Dass dieses Konzept hier mit der seltenen
Erscheinung des Doppel-Regenbogens und überdies mit der altjapanischen Götterwelt verschränkt
wird, ist das Neue und Faszinierende. Ein Kommentator schreibt: »Alles, was zu dieser Thematik
später folgte, war nichts weiter als ein Neuaufguss dieses einen Haiku. «
281)

FUKAMI KENJI (1922)

Wieder ein Goldfisch


im Herzen schwebend –
in seiner Abwesenheit

金魚また留守の心に浮いてをり

きんぎょまたるすのこころにういてをり

Goldfisch – Sommer

Veröffentlicht 1956.
Fukami Kenji ist ein weiteres Beispiel in der Reihe von Autoren, die ihre naturwissenschaftliche
Karriere (in diesem Fall als Metallurg, als Ingenieur und Spezialist der Hüttenkunde) und ihre Karriere
als Haiku-Dichter von Jugend an parallel vorantrieben. Als Schüler von Takahama Kyoshi war er der
genauen Beobachtung und Abbildung verpflichtet. Doch wie das hier berücksichtigte Haiku beweist,
gehen seine Verse oft weit über diesen Bereich hinaus. Meint die Abwesenheit des Herzens im
positiven Sinn einen Zustand vollkommener innerer Gelassenheit und Freiheit, als Voraussetzung
dafür, dass die Goldfische, das heißt die wesentlichen schöpferischen Impulse, auftauchen können?

282)

TAKAYANAGI SHIGENOBU (1923-1983)

Regenbogen der sich rücklings nach oben biegt


bis zum Scheitelpunkt
– ein Galgen

身をそらす虹の絶巓処刑台

みをそらすにじのぜってんしょけいだい

Regenbogen – Sommer

Veröffentlicht 1950.
Takayanagi war ein Hauptvertreter des avantgardistischen Haiku nach dem 2. Weltkrieg.
Offensichtlich war er beeinflusst vom Modernismus westlicher Lyrik. Klassische Regeln und
Morenzahl waren für ihn nicht maßgebend. Wichtiger ist bei ihm die graphische Aufteilung in drei bis
fünf oder noch mehr Zeilen verschiedenster Länge, zum Teil mit Einrückungen oder gar Leerzeilen.
Das führt zu einer völlig neuen Dynamik, zu starken Spannungen und Umbrüchen. Oft wird in diesem
Zusammenhang von Montagetechnik gesprochen. Das übersetzte Stück ist eines seiner bekanntesten
aus dem ersten Haiku-Band. Es verknüpft den Regenbogen mit dem Bild eines nach hinten
gebogenen, aufwärts blickenden Körpers. Wenn der höchste Punkt erreicht ist, kippt das Bild, nach
einer langen Unterbrechung (einer langen Atempause?)‚ in einen Galgen um. Zwar bedeutet
shokeidai streng genommen ein Schafott. Doch um eine gewisse Kontinuität in der Bildassoziation zu
wahren, scheint mir die gewählte Übersetzung vertretbar.
Takayanagi erzählte seiner Tochter, die ihn als 19jährige nach der Bedeutung fragte, zwar etwas über
den Anlass, der zu dem Haiku führte, fügt aber dann bei: »Na ja, jedesmal wenn ich gefragt werde,
möchte ich gern eine andere, abweichende Antwort geben. Das, was der Autor selbst sagt, ist am
allerfragwürdigsten. «

283)

TAKAYANAGI SHIGENOBU (1923-1983)

Wälder
Täler
auch
zur Schlafenszeit
rot
gestaffelte
Herzlawinen

森や
谷間

眠るとき
あかく
つらなる
こころの雪崩

もりやたにまもねむるときあかくつらなるこころのなだれ

Schneelawine – Frühling

Diese traumhafte Sequenz erinnert uns in ihrer Struktur und Darstellung eher an ein konkretes
Gedicht als an ein Haiku. Trotzdem betrachtete sich Takayanagi immer als Haiku-Dichter, Wie man
sieht, können sich die Tradition der Haiku-Poesie einerseits und die moderne westliche Lyrik des 20.
Jahrhunderts andererseits auf konvergenten Bahnen ohne weiteres aufeinander zu bewegen. Die
graphische Anordnung der Zeilen entspricht dem Original, allerdings von der Vertikalen in die
Horizontale gedreht.

284)

FUJITA SHOSHIN (1926-2005)

Hell glänzender Mond –


als eine Schattenspur
gehe ich meines Wegs

月明の一痕としてわが歩む

げつめいのいっこんとしてわがあゆむ

Mond – Helligkeit des Monds – Herbst

Veröffentlicht 1993. Eine einfache Szenerie: Da ist einer, der in kühler Herbstnacht unter dem hellen
Mondlicht dahinwandelt, indem er seinen Schatten beobachtet. Aber natürlich ist damit auch noch
etwas anderes gemeint. Nämlich die Projektion der eigenen Gestalt und des eigenen Wegs als Haiku-
Poet. Der 67jährige Dichter, der im Herbst des Lebens steht, sieht sich - bescheiden zwar, aber
durchaus nicht ohne Selbstbewusstsein - als deutlich umrissene Schattenfigur der großen,
glänzenden Haiku-Tradition.

285)

KAWASAKI TENKO (1927-2009)

Der Ball beim Spielen


weggespickt in die falsche Richtung –
dieser Erdball!

あらぬ方へ手毬のそれし地球かな

あらぬかたへてまりのそれしちきゅうかな

Spielball – Neujahr
Veröffentlicht 2003.
Kawasaki Tenko war einer der einflussreichsten und sensibelsten Haiku-Dichter nach dem 2.
Weltkrieg, mit einer ungewöhnlich breiten Palette an Gestaltungsmöglichkeiten. Man könnte dieses
Haiku zwar auch so verstehen, dass der kleine Ball von der Erdkugel wegspickt in eine unerwünschte,
unkontrollierte Richtung. Aber die Brisanz dieser Verse enthüllt sich erst dann, wenn der
unbotmäßige Ball in einem Gedankensprung als Metapher für die Erde mit ihren andauernden
Fehlentwicklungen aufgefasst wird. Die Aktualität des Haiku wird sich kaum je erschöpfen, ob man es
nun auf die vergangenen und gegenwärtigen Kriege, auf den Umgang mit der Atomkraft oder auf die
aktuellen Flüchtlingskrisen bezieht. Auch die geschicktesten Ballkünstler haben das Spiel nicht in der
Hand. Ein grimmiger sardischer Gedanke, der seine Bitterkeit durch den Bezug auf den Jahresanfang
noch verstärkt.

286)

OKAMOTO HITOMI (1928)

Wolkengebirge –
allein bewohne ich das Haus
allein reise ich ab

雲の峰一人の家を一人発ち

くものみねひとりのいえをひとりたち

Wolkengebirge – Gewitterwolke – Sommer

Veröffentlicht 1983.
Die Kommentare sind sich einig, dass dieses Haiku keine Klage über Einsamkeit ist.
Auch geht es nicht um einen endgültigen Abschied und Auszug. Die Hausbewohnerin begibt sich auf
Reisen. Die Betonung des allein Wohnens und des allein Abreisens zeugt von Selbstbewusstsein, hat
beinahe etwas Trotziges an sich. Die für den japanischen Sommer typische majestätische
Gewitterwolke im Hintergrund wird hier nicht mit Bedrohung assoziiert, sondern ist Ausdruck
machtvoller Energie. Durch sie wird die Verfasserin in ihrer autonomen Lebenshaltung bestärkt.
Dahinter stehen leidvolle Erfahrungen, vor allem der vorzeitige Tod ihres Mannes im Jahr 1976.

287)

KATO IKUYA (1929-2012)

Regenzeit bricht an!


Wie ein Schlag mit der Axt
dieses Wiedersehen
雨季来りなむ斧一振りの再会

うききたりなんおのひとふりのさいかい

Ohne Jahreszeitenwort

Ein wegweisendes Stück dieses avantgardistischen Autors, der auch moderne Lyrik im westlichen Stil
gedichtet hat, aus seiner ersten Haiku-Sammlung von 1959. Ein Kollege charakterisiert Kato wie folgt:
»Ikuyas Haiku durchbrechen alle bisherigen Konventionen dieser Gattung. Den Rahmen der 17
Einheiten überflutet er mit moderner Lyriksprache. Selbst wenn es Jahreszeitenwörter geben sollte,
sind sie nicht als solche eingesetzt; selbst wenn es „Schnittwörter“ [zur Markierung von Zäsuren]
gibt, wirken sie nicht als solche. Es handelt sich um rein moderne Gedichte in einer Zeile. « Der
Vergleich des heftig einsetzenden, peitschenden Regens mit einem Axthieb lässt in der Tat die
traditionelle Haiku-Ästhetik weit hinter sich.

288)

HIROSE NAOTO (1929)

Neujahrsschnee
fällt hinein in lautere
frische Wasser

正月の雪真清水の中に落つ

しょうがつのゆきましみずのなかにおつ

Neujahrstag – Neujahr

Geschrieben 1972. Ein Haiku von äußerster Einfachheit und dennoch großer Ausstrahlung. Es fasst
das Wesentliche zusammen, was Japaner idealerweise mit dem Jahresanfang verbinden: Lauterkeit,
Reinheit, Glanz des Neubeginns, eine Haltung, die man im weiten Sinn als religiös bezeichnen darf.
Am Neujahrstag gefallener Schnee ist bereits Sinnbild dieser Einstellung. Nun fällt dieser angehäufte
Schnee etwa von einem Ast oder einem Wasserrohr hinab auf die Wasserfläche, lautlos. Die seltene
Wortfügung mashimizu hat einen ungemein reizvollen, unverbrauchten Beiklang. Die Vorsilbe ma
bewirkt eine höchste Steigerung in dem Sinn, dass es sich um durch und durch reines, lebendiges,
wahrhaftes (Quell-)Wasser handelt.
Im Gegensatz zu den avantgardistischen Kollegen hält sich Hirose konsequent an die klassischen
Regeln und Vorgaben.

289)

OMINE AKIRA (1929)


In frostiger Nacht
ein Klang vom
Kreislauf der Gestirne

氷る夜の星辰めぐる音すなり

こおるよのせいしんめぐるおとすなり

Gefrieren – Frost – Winter

Es liegt wohl nahe, dass dieses Haiku von der Vorstellung der Sphärenmusik oder Sphärenharmonie
in der pythagoreischen Kosmologie inspiriert wurde. Der Autor Omine Akira, Professor für
Religionsphilosophie und Fichte-Spezialist, aber lange Jahre auch Vorsteher eines Tempels der
Honganji-Schule, ist überdies Zeit seines Lebens als Haiku-Dichter hervorgetreten. Viele seiner Werke
sind geprägt von allgemeinen philosophischen Einsichten und kosmischen Ausblicken. Im
Jahreszeitenzyklus sieht er ein grundlegendes Prinzip der menschlichen Existenz.

290)

ARIMA AKITO (1930)

Meine schwangere Frau verkündet:


Das Kind ist jetzt etwa so schwer
wie ein weißer Pfirsich

妻告ぐる胎児は白桃程の重さ

つまつぐるたいじははくとうほどのおもさ

Weißer Pfirsich – Herbst

Veröffentlicht1972.
Dies ist ein Haiku voller zärtlicher Zuwendung und doch mit einem humorvollen Unterton, der aus
den abweichenden Perspektiven von Mann und Frau resultiert. Der Vergleich des Embryos mit einem
köstlichen weißen Pfirsich wird als besonders geglückt und unverbraucht empfunden. Arima war ein
international bekannter Atomphysiker, Rektor der Universität Tokyo, Abgeordneter, Minister für
Bildung, Wissenschaft und Kultur und hat dennoch zeit seines Lebens Haiku gedichtet, ist als Haiku-
Vermittler und -juror im Fernsehen aufgetreten und hat sogar eine eigene Haiku-Zeitschrift
gegründet. In seiner Haltung setzte er sich den avantgardistischen Tendenzen vieler Zeitgenossen
eher entgegen.
291)

TAKAHA SHUGYO (1930)

Säuglingspuder
Mein Kind – entblößt – im wahrsten Sinn
»frei von allen Dingen«

天瓜粉しんじつ吾子は無一物

てんかふんしんじつあこはむいちぶつ

Säuglingspuder – Sommer

Geschrieben 1964.

muichibutsu („völlig besitzlos“ / „mittellos“) ist eine zentrale Formel des Zen-Buddhismus (dort
muichimotsu ausgesprochen) und bezeichnet die totale innere Freiheit von allen äußeren Dingen,
eine Geistesverfassung, die der Zen-Adept idealerweise zu erreichen trachtet. Der Elternteil, der das
Neugeborene pflegt, erinnert sich beim Anblick des schutzlosen Säuglings, der aber mit sich und der
Welt noch völlig eins zu sein scheint, an dieses Zen-Ideal. Das Haiku lebt also von diesem
Gedankensprung. Es regt den Leser zur Meditation an über die gewaltige, das ganze Dasein
umfassende Spannung zwischen Lebensanfang und einer nur schwer zu erreichenden Rückkehr zu
innerer Einheit und Ganzheit.

292)

TAKAHA SHUGYO (1930)

Hoher Herbsthimmel
Was bleibt: die Felsen
Was geht: die Rinder

秋高しとどまるは岩行くは牛

あきたかしとどまるはいわゆくはうし

Hoher – klarer Herbsthimmel – Herbst

Geschrieben 1989 auf einer Haiku-Reise durch die Schweiz, während der Bahnfahrt mit dem Glacier-
Express durch das Vorderrheintal (Surselva), Kanton Graubünden.
Die heitere und doch karge Landschaft des langgestreckten Bergtals zieht an den Augen vorüber. Auf
den gegenüberliegenden Talhängen, die durchzogen sind von mächtigen Steinbrocken oder
Felsabbrüchen, bewegen sich langsam grasende Viehherden. Darüber am Horizont bereits
verschneite Berggipfel und die Klarheit des Herbsthimmels. Es ist eine konkrete, genau beobachtete,
mit zwei drei »Pinselstrichen« angedeutete pastorale Herbstszenerie, die aber durch das Motiv des
Verharrens (Felsen) und des Gehens (Rinder) einen weiten Raum öffnet und geradewegs in eine
urjapanische Thematik die Meditation über die Vergänglichkeit alles Lebendigen hineinführt. Dies ist
ein besonders schönes Beispiel dafür, wie ein bedeutender Haiku-Meister auch in fernen
Weltgegenden mit nicht japanischen Motiven arbeiten kann.
(Vgl. E. Klopfenstein, Aufbruch zur Welt hin, 2013, S. 500 f.)

293)

INAHATA TEIKO (1931)

Kamelienblüten
fallen ab – und plötzlich ein Fest
von leuchtenden Farben

落椿とはとつぜんんい華やげる

おちつばきとはとつぜんんいはなやげる

Abfallende Kamelienblüten – Frühling

Geschrieben 1980.
Inahata Teiko vertritt als Enkelin von Takahama Kyoshi ein klassisches, abbildendes Haiku-Ideal. Die
Blüten der im Winter blühenden Kamelien fallen gegen den Frühling zu unvermittelt still zu Boden
und bilden einen Teppich. Das vorliegende Haiku gewinnt seinen Reiz aus dem Widerspruch, dass
abfallende Blüten, die normalerweise mit Vergänglichkeit und Verwelken assoziiert werden, hier im
Gegenteil eine besondere Farbenpracht und Lebendigkeit entwickeln.

294)

KOHIYAMA SHIGEKO (1931)

Heimat: Das ist


eine Wagenspur – darin
hängen gebliebene Schmetterlingslügen

古里は轍に掛かる蝶の羽

ふるさとはわだちにかかるちょうのはね
Schmetterling – Frühling

Veröffentlicht 1984. Im Vorspann steht: »Wenn ich an meine alte Heimat Karafuto [Sachalin]
zurückdenke ...« Die Dichterin verbrachte ihre Jugend bis zum Kriegsende auf der nach 1945 an
Russland gefallenen nördlichen Insel Sachalin. Ihre Heimat blieb danach in ihrem Gedächtnis
gegenwärtig, war aber unerreichbar. Das Nebeneinanderstellen der Erinnerungsfetzen »Wagenspur«
und »Schmetterlingsflügel« mag uns seltsam, beinahe surrealistisch anmuten. Die tief in Erde und
Schlamm eingeprägte Wagenspur verweist wohl auf schlechte Wege und schwierige
Lebensumstände auf der noch rückständigen ehemaligen russischen Gefängnisinsel. Die
Schmetterlingsflügel dagegen stehen für die trotz allem kostbaren Kindheitserinnerungen. Eine
kühne, stark von Kohiyamas Lehrer Kata Shuson beeinflusste Ausdrucksweise.

295)

UEDA GOSENGOKU (1933-1997)

Zugvögel im Flug
Zusehens werde ich
kleiner und kleiner

渡り鳥みるみるわれの小さくなり

わたりどりみるみるわれのちいさくなり

Zugvögel – Herbst

Geschrieben 1965.
Ueda war ein Poet, der sich gerne zurücknahm, der aber zur Phalanx der Haiku-Erneuerer nach dem
2.. Weltkrieg im Umkreis von Akimoto Fujio gehörte. Zu den hier ausgewählten Versen sagte er
selbst: »Dass die >Zugvögel< >zusehends kleinen wurden, bis sie sich weit drüben im Herbsthimmel
verloren, ist ein Faktum [jijitsu]. Aber dass ich als Beobachter dastand und das Gefühl hatte, selbst
zusehends kleinen zu werden, ist eine innere Wahrheit [shinjitsu]. Nach meiner Erinnerung empfand
ich eine Art schwindelähnlichen Schock, den ich in die Zugvögel hineinprojizierte. Damals dachte ich
man würde nicht verstehen, warum ich eine solche paradoxe Ausdrucksweise gewählt hatte. Aber
jetzt zählt das Haiku zu meinen repräsentativsten Stücken. «

296)

TOMOOKA SHIKYO (1934)

Flug über den Sprungkasten


handgestützt – in diesem Moment
spürst du: Der Winter kommt!
跳箱の突き手一瞬冬が来る

とびばこのつきていっしゅんふゆがくる

Winter kommt – Winter

Veröffentlicht 1980.
Tomooka schreibt von jugendlichem Elan getragene, gefühlvolle, eher traditionell ausgerichtete
Verse. Für das Haiku ungewöhnlich ist hier nur das Milieu sportlicher Betätigung Im Augenblick, da
der Turner über den Springkasten (ein Sportgerät) fliegt, fühlt er (ohne Zweifel mit Freude): »Ah, der
Winter liegt in der Luft!«

297)

TERAYAMA SHUJI (1935-1983)

Ursprung des Buchs –


Im Winter: das Auf- und Zuklappen
der Handflächen

書物の起源冬のてのひら閉じひらき

しょもつのきげんふゆのてのひらとじひらき

Winter

Geschrieben zu Beginn der fünfziger Jahre.


Terayama Shuji ist einer der bedeutenden Literaten des 20. Jahrhunderts, der sich auf
unterschiedlichsten Gebieten als Avantgardist hervorgetan hat: als Tanka und Haiku-Verfasser
ebenso wie als Prosaist und Theaterautor beziehungsweise als Theaterleiter. Den größten Teil seiner
Haiku schrieb er als Mittelschüler im Alter von 15-19 Jahren, im Umkreis der Haiku-Erneuerer nach
dem 2. Weltkrieg.
Dieses Haiku kümmert sich wenig um traditionelle Vorgaben. Es zeugt von der Imaginationskraft des
jungen Poeten. Die Verknüpfung von Buch und Handflächen verblüfft zunächst und Wirkt dann doch
irgendwie überzeugend. Im Zentrum steht die Bewegung des Auf und Zu. Vordergründig ist es die
Kälte, die die Handbewegungen verursacht und sie mit dem Umblättern, dem Öffnen und Schließen
des Buchs zusammenbringt. Dann verzweigen sich die Assoziationen. Könnte es sein, dass die Linien
der Handflächen wie Zeichen einer fremden Schrift und Sprache wirken und zum Lesen und
Umblättern animieren?
298)

KURODA MOMOKO (1938)

Blitze übergießen
den weiten Horizont der Felder
mit grüner Bleiglasur

稲妻の緑釉を浴ぶ野の果に

いなづまのりょくゆうをあぶののはてに

Blitz – Herbst

Kuroda Momoko hat den Ruf, für jedermann unmittelbar verständliche und nachvollziehbare Haiku
zu schreiben. In diesem Sinn ist sie traditionell ausgerichtet. Sie betont aber, wie Wichtig es für sie
ist, immer an Ort und Stelle beobachtete und erlebte Jahreszeitenbezüge aufzugreifen, und ist
deshalb immer unterwegs. So erreicht sie unverbrauchte assoziative Wirkungen von ungewöhnlicher
Prägnanz. Die metaphorische Verknüpfung der farblichen und atmosphärischen Ausstrahlung von
Blitzen mit einer frisch gebrannten grünen Bleiglasur ist ein schönes Beispiel dafür. Sekundär
schwingt auch noch eine Parallele von elektrischer Energie und Hitze mit dem Brennvorgang von
Keramik mit.

299)

KURODA MOMOKO (1938)

Weiße Lauchstängel –
diesen Lichtstab schneide ich
jetzt in Stücke

白葱のひかりの棒をいま刻む

しろねぎのひかりのぼうをいまきざむ

Lauch – Lauchzwiebel – Winter

Geschrieben 1977.
Diese Bildassoziation ist eine Trouvaille. Die allergewöhnlichste Küchentätigkeit kippt für Augenblicke
in eine überwirkliche, poetische Sphäre um. Der Vergleich des langen, schneeweiß schimmernden,
geschmeidigen, zarten Stängels eines japanischen Lauchs (shironegi, eher unserer Frühlingszwiebel
oder Lauchzwiebel zu vergleichen) mit einem magischen Lichtstab ist überraschend und doch
unmittelbar einleuchtend.

300)

TSUBOCHI TOSHINORI (1944)

Aus dem Dunkel des Regenmonds


kommt es, offenen Mundes
– das Neugeborene

皐月闇口あけて来る赤ん坊

さつきやみくちあけてくるあかんぼう

Dunkelheit im Regenzeit-Monat – Sommer

Veröffentlicht 1976.
saisuki, der 5. Monat nach dem Mondkalender, entspricht ungefähr dem Juni, dem Monat der
Regenzeit mit ihrer manchmal fast unheimlichen feuchten Düsternis. Dem jungen Vater scheint sein
Kind bei der Geburt aus einer vergleichbaren Dunkelheit herausgekommen zu sein. Das Dunkel der
Regenzeit (des Regenmonats) ist eine starke Metapher für Mutterleib und Geburt, aber auch für die
ambivalenten Gefühle und die Unsicherheit des Vaters.

301)

MASAKI YUKO (1952)

In einem früheren Dasein


war einmal ein Wal –
einsam war’s, einsam ….

いつの生か鯨でありし寂しかりし

いつのよかくじらでありしさびしかりし

Wal – Winter
Veröffentlicht 1986.
Masaki Yuko ist eine in politischen und Umweltfragen engagierte Dichterin. Zur Entstehung dieses
Haiku bemerkte sie: »Vor einiger Zeit sah ich einen Film über einen Wal, der ganz allein den Pazifik
durchquerte. Damals entstand dieses Haiku. Wie einsam muss er sich fühlen! dachte ich . . ‚« Da
Wale sich in der Regel in Formationen bewegen, ist hier eine Kritik am Walfang und der Dezimierung
der Bestände herauszuhören. (Es war übrigens 1985, dass der kommerzielle Walfang verboten
wurde). Die Autorin identifizierte sich mit dem Wal und beklagte so seine Vereinzelung und
Gefährdung.

302)

MASAKI YUKO (1952)

Hunderttausend Jahre später


Wenn ich dran denke: nichts mehr –
nur noch der Mondschein!

十万年のちを思へばただ月光

じゅうまんねんのちをおもえばただげっこう

Mondschein – Herbst

Geschrieben im Anschluss an die Dreifachkatastrophe von Fukushima 2011. Angesichts der


Perspektive, die dieses Haiku eröffnet, erübrigt sich eigentlich jedes Jahreszeitenwort und auch jeder
Kommentar.

303)

HASEGAWA KAI (1954)

Gezähntes, durchsichtig
blitzendes Blatt der Elektrosäge
lässt mich schaudern vor Kälte

電動鋸すきとほる刃の涼しさよ

でんどうのこすきとうるはのすずしさよ

Kühl – Kälte – Sommer

Veröffentlicht 1985.
Haiku, die den Umgang mit modernen technischen Geräten als Motiv aufgreifen, sind selten. Hier
wird die subjektive Reaktion eines Heimwerkers oder eines Zuschauers angesichts des gefährlich
blitzenden Sägeblatts in eindrücklicher Weise mit der Hitze des japanischen Sommers in Kontrast
gesetzt. Der Verfasser, eine ehemaliger Journalist, der nach 22 Jahren das Haiku zu seinem Beruf
gemacht hat, ist bekannt für seine aus dem konkreten Alltag gegriffenen und doch neuartigen
Themen.

304)

NATSUISHI BAN’YA

Aus der Zukunft ein Windstoß


fährt in den Wasserfall, teilt ihn
bläst ihn zu Staub

未来より滝を吹き割る風来たる

みらいよりたきをふきわるかぜきたる

Wasserfall – Sommer

Veröffentlicht 1985.
Der Avantgardist und Gründer der »World Haiku Association«, Natsuishi Ban’ya, hat dieses Haiku
selbst auf folgende Weise paraphrasiert: »Ein mit überwältigender, blendender Energie
ausgestatteter Windstoß fährt aus einer anderen, entfernten Dimension, die sich »Zukunft« nennt,
daher, indem er die Hürde der unumkehrbaren Zeit überwindet. Der Wasserfall, der große Mengen
klaren Wassers über einen langen Zeitraum abstürzen ließ, zerstiebt von diesem heftigen Wind
frontal getroffen - in alle Richtungen. «
Man kann dies als Spekulation in Haiku-Form nicht: ohne Pathos über geschichtliche Umbrüche oder
den Untergang von Kulturen betrachten.

305)

MINAYOSHI TSUKASA (1962)

Der Juli ist da!


Den Apfel wasche ich
unter der Dusche

七月や林檎をシャワーもて洗ふ

しちがつやりんごをシャワーもてあらう
7. Monat – Juli – Sommer

Veröffentlicht 1984.
Ein Haiku voll jugendlicher Frische und Unbekümmertheit, das diese Anthologie mit einem
beschwingten Ton zum Abschluss bringen soll.
Um der heiß-feuchten Sommerhitze zu entgehen, stellt sich der junge Mann unter die Dusche, nimmt
gleichzeitig einen Apfel mit, wäscht ihn unter dem Wasserstrahl und beißt hinein. Die Vorstellung
vom nackten Körper und von dem zu dieser Jahreszeit ohne Zweifel frisch gepflückten, Vielleicht
noch nicht ganz reifen, knackigen Apfel ergibt eine erheiternde Korrespondenz».
In der Gegenüberstellung von Nr. 304 und 305 manifestiert sich, anhand der vergleichbaren Motive
von fallendem Wasser, noch einmal die ungeheure Spannweite in den gedanklichen Dimensionen
und Ausdrucksmöglichkeiten des Haiku.

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