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Zur Akteur-Netzwerk-Theorie

Chapter · August 2019

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Gustav Roßler
Technische Universität Berlin
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Zur Akteur-Netzwerk-Theorie

Gustav Roßler

[Erschienen in: Lore Knapp (Hg.), Literarische Netzwerke im 18.


Jahrhundert. Mit den Übersetzungen zweier Aufsätze von Latour und
Sapiro, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2019, S. 35-43. Für genauen Wortlaut
und Zitierung sei auf die Druckfassung verwiesen]

Inhalt:

I. DIE DREI DIMENSIONEN DER AKTEUR-NETZWERKE .................................... 3  

1. Semiotik ............................................................................................................... 3  

2. Ontologie .............................................................................................................. 4  

3. Methode ............................................................................................................... 7  

4. Integrales Vorgehen ............................................................................................. 8  

II ZWEI KURZE DEFINITIONEN DER AKTEUR-NETZWERK-THEORIE ............. 10  

1. Die drei Kriterien aus „Eine neue Soziologie“: ................................................. 10  

2. Eine vorläufige Definition ................................................................................. 11  

1 14.08.2019
Warum den Text Über die Akteur-Netzwerk-Theorie. Einige
Klarstellungen von 1996 als Grundlage nehmen, um in die Akteur-
Netzwerk-Theorie einzuführen und sie näher zu bestimmen?1 Denn Bruno
Latour hat inzwischen umfassendere und neuere Texte vorgelegt sowohl
zur Akteur-Netzwerk-Theorie – etwa die als „Einführung in die Akteur-
Netzwerk-Theorie“ untertitelte Neue Soziologie für eine neue Gesellschaft2
– als auch zu Kunst, Literatur oder Ästhetik – etwa das Fiktionskapitel in
den Existenzweisen.3
Der hier in deutscher Übersetzung vorliegende Aufsatz Über die
Akteur-Netzwerk-Theorie ist zum einen kurz und prägnant, vor allem aber
liefert er eine klare Differenzierung der verschiedenen Dimensionen der
Akteur-Netzwerke in semiologischer, ontologischer und methodologischer
Hinsicht.4 Latour spricht nicht von Dimensionen, sondern von Strängen,
(„strands of preoccupations“5); man könnte also auch von einer
Differenzierung der verschiedenen Analyse- bzw. Interpretationspraktiken
der Akteur-Netzwerk-Theorie sprechen.

1
Bruno Latour: „Über die Akteur-Netzwerk-Theorie. Einige
Klarstellungen“, aus dem Englischen übersetzt von Eike Kronshage, in
Lore Knapp (Hg.), Literarische Netzwerke im 18. Jahrhundert. Mit den
Übersetzungen zweier Aufsätze von Latour und Sapiro, Bielefeld:
Aisthesis Verlag 2019, S. 45-66. Vgl. das Original: Bruno Latour: „On
actor-network theory. A few clarifications“, Soziale Welt (Heft 4), 1996,
369–381. [Die Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf letztere
Version]
2
Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft.
Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
2007. Siehe weiterhin Bruno Latour: „Über den Rückruf der ANT“, in: A.
Belliger und D. J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch
zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript, 2006, 561–572; Bruno
Latour: How Better to Register the Agency of Things. Tanner Lectures,
Yale 2014. http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/137-YALE-
TANNER.pdf (abgerufen am 8.10.2019).
3
Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen,
Berlin: Suhrkamp, 2014, 331ff.
4
Neben manchen anderen interessanten Bemerkungen wie etwa zu der
Maßstäblichkeit (371f.) oder zu den Quasi-Objekten (379), auf die ich hier
aber nicht eingehe. Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf
die engl. Version.
5
Latour: On actor-network theory, 373.
2 14.08.2019
Weiterhin lässt sich der Text als ein Schritt auf dem Weg zu Eine neue
Soziologie begreifen – oder vielleicht sogar als Anfangsschritt, denn der
Text ist auf dasselbe Jahr datiert (1996), in dem Latour mit einer ersten
Vorlesungsreihe begonnen hat, die sich laut dem Autor als eine Vorversion
von Eine neue Soziologie verstehen läßt.6 Wer nach einer genaueren
Darstellung oder einem Begriffsinstrumentarium der Akteur-Netzwerk-
Theorie sucht, sollte ohnehin zu diesem Buch greifen. Darin findet sich
auch eine Definition der Akteur-Netzwerk-Theorie, auf die noch
zurückzukommen sein wird.
Dennoch scheint mir der vorliegende Text in seiner Auffächerung
zwischen Semiotik, Methode und Ontologie interessant und zur Klärung
dessen, was unter dieser Theorie zu verstehen ist, nützlich zu sein. Man
sollte aber nicht vergessen: diese drei Aspekte gehören zusammen.

I. Die drei Dimensionen der Akteur-Netzwerke

1. Semiotik

Akteur-Netzwerke lassen sich semiotisch verstehen, das heißt: aus dem


riesigen Arsenal der Semiotik und Linguistik als Werkzeugkasten lassen
sich Begriffe entnehmen und für die soziologische Analyse und
Interpretation verwenden (373), wie beispielsweise Greimas’ Begriff des
Aktanten oder die Konzepte der paradigmatischen bzw. syntagmatischen
Dimension eines Textes. Manche dieser Begriffe haben allerdings zu
prinzipiellen Diskussionen geführt („können nicht-menschliche Aktanten
handeln?“), so dass der Nutzen der semiotischen Werkzeuge davon
verdeckt wurde. Denn die semiotische Dimension soll der soziologischen
Analyse und Interpretation neue Freiheit und Bewegungsspielraum
verschaffen.7 Die semiotische ‚Infrasprache‘ versteht sich auch als Kritik

6
Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 453.
7
Auf 373 heißt es: „an extraordinary liberty of analysis“; in Latour: Eine
neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 96, ist von der durch die
Semiotik gewonnenen „Bewegungsfreiheit“ die Rede.
3 14.08.2019
an einer alles erklärenden soziologischen Metasprache und als Gegenmittel
(377).8 Die Gesellschaft bildet nicht den Rahmen, aus dem sich alles
andere ableitet.
Nebenbei ist dieser semiotische ‚Strang‘ der Akteur-Netzwerk-Theorie
auch deshalb interessant, weil Latour die Akteur-Netzwerk-Theorie
dadurch historisch situiert: er ordnet sie nämlich in die große Bewegung
einer strukturalistischen Semiotik und den sogenannten linguistic turn ein,
die in den swinging seventies die Diskussion erobert hatten (373 ff.). Aber
sie geht nicht darin auf, sondern erstreckt sich außerdem auf Ontologie und
Methode.

2. Ontologie

Die von der Semiotik entwickelten Figuren und Konstellationen finden


sich nicht allein in Texten, sondern auch in der Wirklichkeit, unter den
Dingen (und Menschen), und das ist zunächst mit Ontologie gemeint.
Damit aber wird die semiotisch gewonnene Bewegungsfreiheit wieder
eingeschränkt. Denn nun sind ein Wahrheitsanspruch oder eine empirische
Einlösbarkeit, die über die Interpretation von Texten hinausgehen, mit den
Figuren und Akteuren verbunden, mittels derer man eine Situation oder
einen Handlungsverlauf interpretiert. In gewissem Sinn fährt man mit der
semiotischen Analyse einfach fort, auch wenn es sich um Dinge handelt.
Aber es bleibt zu berücksichtigen, dass man mit der Semiotik nun
Netzwerken folgt, genauer gesagt aktiven, Wege bahnenden, heterogenen
Netzwerken. Latour spricht gar von einer „netzförmigen“ (networky)
Ontologie (373, vgl. auch 370). Schematisch und vereinfacht gesagt: diese
Bewegungen und Verbindungen werden mit semiotischen Begriffen
erfasst (aber natürlich nicht ausschließlich).
Das ist etwa der Fall, wenn eine paradigmatische und eine
syntagmatische Achse bei technischen Neuerungen – analog der Sprache –
aufgefunden werden, wie Latour es anhand eines Hotelschlüssels

8
„Die Infrasprache der Semiotik schützt gegen die Metasprache der
Soziologie“, Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 96.
4 14.08.2019
durchgespielt hat.9 Bei technischen Innovationen wird ein
Handlungsverlauf dadurch verändert, daß einzelne Handlungsglieder durch
nicht-menschliche Entitäten ersetzt werden (die vertikale oder
paradigmatische Dimension) oder indem man neue verknüpfend hinzufügt
(die sequentielle oder syntagmatische Dimension). Ersetzt wird hier etwa
die Ermahnung des Hoteliers, die Schlüssel an der Rezeption abzugeben,
durch ein Schild mit der entsprechenden Aufforderung oder durch einen
schweren Schlüsselanhänger, der die Taschen der Hotelgäste aufbläht,
wenn sie vergessen, ihn abzugeben. Die syntagmatische Dimension findet
sich im veränderten Handlungsverlauf wieder bzw. in Erweiterungen der
Handlung, die an diese (wie Satzergänzungen) angehängt werden.10
Verabschieden sollte man sich von der „absoluten Unterscheidung
zwischen Repräsentation und Dingen“ (375) oder zwischen einer Welt des
Symbolischen einerseits und einer Welt der Materie (oder der kausalen
Wirkkräfte) andererseits. Mit der absoluten Unterscheidung zwischen
Repräsentation und Dingen zu brechen, also mit einem Dualismus, der
diese in zwei strikt getrennten ontologischen Bereichen ansiedelt, heißt
aber nicht, jegliche Differenz zwischen Repräsentation und Wirklichkeit
aufzuheben oder zu leugnen.11
Aber die Grenze lässt sich überschreiten und es gibt Zwischenstadien.
Ein anschauliches Beispiel dafür bilden Übergänge und Gradualisierungen

9
Bruno Latour: „Das moralische Gewicht eines Schlüsselanhängers“, in
Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der
Wissenschaften, Berlin: Akademie, 1996, 37–61. Zu den beiden Achsen
der Sprache siehe beispielsweise Roland Barthes: „Éléments de
sémiologie“, Communications 4, 1964, 91–135, hier: 114f. Vgl. auch
Latour: Die Hoffnung der Pandora, 373, s.v. „Assoziation“.
10
Etwas komplexer als der Schlüsselanhänger ist das Beispiel des
futuristischen Nahverkehrsmittels Aramis, vgl. dazu Bruno Latour:
Aramis: oder Die Liebe zur Technik, Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, 83-
121.
11
Man sollte darin vielmehr die Kritik an und Alternative zu einer
dualistischen Ontologie sehen, welche das Soziale, das Symbolische etc.
auf dem Hintergrund einer physischen oder materiellen Welt
unbestreitbarer Tatsachen situiert. Siehe dazu genauer Gustav Roßler: Der
Anteil der Dinge an der Gesellschaft. Sozialität – Kognition – Netzwerke,
Bielefeld: transcript, 2016, Kap. 2.1, 60–83.
5 14.08.2019
zwischen den beiden meist dichotomisch getrennten Bereichen, etwa bei
der Realisierung eines technischen Projekts, wo die sukzessiven
‚Übersetzungen‘12 zwischen Texten, Blaupausen, Prototypen und
benutzbaren technischen Objekten Teil des Prozesses und der Realisierung
sind. So heißt es in Aramis, wo das neu zu entwickelnde Verkehrsmittel
den Namen eines der drei Musketiere trägt:

Einer fiktiven Geschichte ist leicht zu folgen, nie verlassen wir Form
und Material des Textes. Wie weit wir uns auch in die Erzählung der
Drei Musketiere hineinbegeben, zu jedem Zeitpunkt sind Porthos,
Athos und Aramis Figuren der Erzählung. Der Geschichte einer
Fabrikation ist ein wenig schwerer zu folgen, denn jede Figur kann
außerdem vom Text zum Objekt oder vom Objekt zum Text
übergehen und alle nur denkbaren semiotischen Zwischenetappen
durchlaufen. Um einem technischen Projekt zu folgen, muß man nicht
nur das narrative Programm verfolgen, sondern auch den
„Realisierungs“-Grad jeder einzelnen Aktion.13

Unter Ontologie versteht Latour ohnehin nicht die Bestimmung von letzten
Bestandteilen der Wirklichkeit oder des Seins, sondern eine Pluralität oder
Differenz verschiedener Seinsweisen. Und auch diese werden eher
prozessual gedacht, wie etwa die zunächst flüchtige Seinsweise der im
Labor in Erscheinung tretenden Entitäten, die dann zu Substanzen oder
wissenschaftlichen Tatsachen stabilisiert wird.14 Daher ist schon früh die

12
„Übersetzung“ bezeichnet „all die Verschiebungen durch andere
Akteure, ohne deren Vermittlung keine Handlung stattfindet.
Übersetzungsketten treten an die Stelle einer starren Opposition zwischen
Kontext und Inhalt“, Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora.
Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 2000, 381.
13
Bruno Latour: Aramis, 80.
14
Vgl. Bruno Latour: „Haben auch Objekte eine Geschichte? Ein
Zusammentreffen von Pasteur und Whitehead in einem Milchsäurebad“,
in: Latour, Der Berliner Schlüssel, 87–112; Hans-Jörg Rheinberger:
Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der
6 14.08.2019
Rede von variablen Ontologien15 und später von den pluralen Ontologien
der Existenzweisen.16 Die verschiedenen Existenzweisen lassen sich auch
als verschiedene Erweiterungsmodi von Netzwerken verstehen.17 Auf
dieses Buch weisen im übrigen die Schlusszeilen des vorliegenden Textes
voraus, wo es heißt, dass die nächste Aufgabe darin bestehe, verschiedene
Typen oder Modi von Akteur-Netzwerken deutlicher zu differenzieren
(380).

3. Methode

Aber die Akteur-Netzwerk-Theorie ist nicht nur eine bestimmte


Verwendungsweise (oder Zweckentfremdung) der Semiotik, nicht nur ein
bestimmter Anspruch auf Ontologie, sondern auch, wenn nicht vor allem
und anders, als ihr Name nahelegt, weniger eine Theorie als vielmehr eine
Methode (374). Oder anders gesagt: die Akteur-Netzwerk-Theorie trifft
zwar einige starke theoretische Aussagen, aber diese bilden eher so etwas
wie leere Rahmen (ebd.), die mit empirischen Beobachtungen und
konkreten Fällen zu füllen sind.18
Eine bessere Analogie als ein Rahmen bildet ein „Aufzeichnungsgerät“
(recording device): das Gewicht der Theorie liegt auf der Aufzeichnung,
nicht auf einer spezifischen Gestalt, die aufgezeichnet wird. (vgl. 374)
Wenn daher ein Akteur menschlich oder nicht-menschlich sein kann oder
als unendlich plastisch gilt, so wird damit nicht ein wirklicher beobachteter
Akteur charakterisiert, sondern eine notwendige Bedingung dafür
formuliert, „dass die Beobachtung und die Aufzeichnung von Akteuren
möglich sind“ (ebd.).

Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein, 2001; Roßler, Der


Anteil der Dinge an der Gesellschaft, 49.
15
Latour: Aramis, 144ff.; Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen.
Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin: Akademie, 1995,
115ff.
16
Latour: Existenzweisen, 266.
17
Ebd., 275.
18
Auf S. 373 ist die Rede von einem „methodological framework“, das
erforderlich ist, um Netzwerkbildung zu untersuchen.
7 14.08.2019
4. Integrales Vorgehen

Man könnte die Akteur-Netzwerk-Theorie mit einem feinstrebigen


Gewölbe vergleichen, das auf den drei Pfeilern Semiotik, Methode,
Ontologie ruht. Läßt man einen von ihnen weg, fällt das Gebäude in sich
zusammen. Latour betont dies mit anderen Worten: Die Begrenztheiten der
drei Dimensionen lassen sich nur dann überwinden, wenn sie in einer
integrierten Forschungspraxis verschmolzen werden (vgl. 373).
Die methodologische Dimension wird prägnanter, wenn man sie auf
dem Hintergrund der beiden anderen denkt. Die so oft anlässlich der
Akteur-Netzwerk-Theorie aufgeworfene Frage ‚Können nicht-menschliche
Entitäten handeln?‘ erweist sich dann als Verabsolutierung der
ontologischen Dimension. Übersehen wird die methodologische Vorsicht,
die es der konkreten, im Zweifelsfall empirischen Untersuchung überlässt,
ob und in welcher Hinsicht nicht-menschliche Entitäten handeln bzw.
agieren können. Und ignoriert wird die Bewegungsfreiheit, die durch die
semiotische Perspektive eröffnet wird.
In dieser Perspektive läßt sich ‚Handeln‘ als eine relativ anspruchslose
Beschreibungskategorie verwenden. Aktant ist, wer oder was in einer
Erzählung, einem Bericht oder einer Erklärung handelt.19 Auch nicht-
menschliche Akteure können also handeln, wie Tiere und Pflanzen im
Märchen oder genereller in der Fiktion. Aber auch ‚Ursachen‘ in der

19
Siehe Latour: Die Hoffnung der Pandora, 372. Im vorliegenden Text
unterscheidet Latour nicht klar zwischen „Akteur“ und „Aktant“. Aktant
ist eine Art neutrale Hülle für das Agierende, Handelnde, bevor es noch
eine Figuration erhalten hat im Sinne eines handelnden Menschen,
agierenden Akteur-Netzwerks oder einer handelnden Institution. Vgl.
Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 93ff. Siehe auch
Algirdas Julien Greimas und Joseph Courtés: Sémiotique. Dictionnaire
raisonné de la théorie du langage, Paris: Hachette,1979, 3f., 7f. Zur Kritik
an einer ungenügenden Klärung des Unterschieds siehe Ingo Schulz-
Schaeffer: „Technik in heterogener Assoziation. Vier Konzeptionen der
gesellschaftlichen Wirksamkeit von Technik im Werk Latours“, in: Georg
Kneer, Markus Schroer und Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours
Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 108–152.
8 14.08.2019
Wissenschaft können so als Aktanten bzw. Akteure verstanden werden.20
In der Soziologie bedeutet dies, dass die sogenannten Akteurskategorien,
d.h. die Art und Weise, wie die Akteure selbst ‚Handeln‘ verstehen und
zuschreiben, von der soziologischen Analyse nicht als erstes hinterfragt
und durch einen anspruchsvollen Handlungsbegriff interpretiert oder gar
ersetzt werden muss.
Dennoch läßt sich nicht ignorieren, daß zu den meisten Akteur-
Netzwerken und -konstellationen Menschen gehören, und für deren
Handeln ist in der Soziologie (und Philosophie) ein anspruchsvolles
analytisches Vokabular entwickelt worden. Dementsprechend wurde öfters
an der Akteur-Netzwerk-Theorie kritisiert, dass sie über keinen
anspruchsvollen Handlungsbegriff verfügt.21 Es muss aber nicht so sein,
dass sich ausgehend von einem schwachen bzw. weiten (semiologischen)
Handlungsbegriff anspruchsvolles, komplexes menschliches Handeln nicht
beschreiben oder interpretieren lässt. Möglicherweise ist ja ein weiter
Handlungsbegriff als Default durchaus sinnvoll, zumindest eine Option.
Aber man sollte dann dennoch thematisieren, wo und wann das
anspruchsvolle Vokabular angemessen wäre, jedenfalls es nicht
kategorisch ausschließen, was Latour auch nicht tut.22 Von der Akteur-

20
Genauer: als „Ereignisse“, vgl. „Haben auch Objekte eine Geschichte?
Ein Zusammentreffen von Pasteur und Whitehead in einem
Milchsäurebad“, in: Latour, Der Berliner Schlüssel, 87–112. Andernorts
schlägt Latour den Ausdruck „Aktionsname“ für das vor, was noch nicht
einem eindeutigen Akteur oder Verursachungszusammenhang zugeordnet
werden kann: Latour: Die Hoffnung der Pandora, 372.
21
Werner Rammert und Ingo Schulz-Schaeffer: „Technik und Handeln.
Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische
Abläufe verteilt“, in: W. Rammert und I. Schulz-Schaeffer (Hg.), Können
Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch
und Technik, Frankfurt a. M./New York: Campus, 11–64, Karl H.
Hörning, „Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und
kultureller Praktiken“, in: S. Moebius und S. Prinz (Hg.), Das Design der
Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript, 29–
47, hier: 39.
22
Die Frage der Angemessenheit wäre aber zumindest zu erörtern, d.h. wo
ein anspruchsvoller Handlungsbegriff zu verwenden sinnvoll oder
notwendig wäre: etwa in öffentlichen Diskursen, Praktiken, wo die
personale Verantwortung großgeschrieben wird, wie im Recht oder in der
9 14.08.2019
Netzwerk-Theorie her könnte man hier die Selbstinterpretation der
Akteure als Kriterium anführen („follow the actors“).
Andererseits ist ein anspruchsvoller Handlungsbegriff nicht
notwendigerweise zur empirischen Beschreibung gedacht, sondern könnte
als implizite Voraussetzung zu verstehen sein. Dann bliebe die Frage, ob
diese in Richtung einer Handlungskompetenz, Handlungspotentialität, ja
eines generellen Wirkvermögens, agency, zu verfolgen wäre oder in
Richtung einer gesellschaftlichen Handlungsvoraussetzung, wonach als
Handeln nur das absichtliche Handeln bzw. Verhalten menschlicher
Personen gilt.23 Aber auch ein solcher Handlungsbegriff sollte Kriterien
seiner Angemessenheit beinhalten.

II Zwei kurze Definitionen der Akteur-Netzwerk-


Theorie

Zum Abschluss zwei kurze Definitionsversuche zur Akteur-Netzwerk-


Theorie.

1. Die drei Kriterien aus „Eine neue Soziologie“:

Gleich zu Beginn seines Soziologie-Buchs24 liefert Latour, indirekt, eine


Definition der Akteur-Netzwerk-Theorie, wenn er einige Kriterien
benennt, an denen sich eine Akteur-Netzwerk-Untersuchung erkennen
lässt.25 Die beiden Hauptkriterien sind folgende:
1. Wird nicht-menschlichen Entitäten eine entscheidende Rolle als
(soziale) Akteure zuerkannt?

politischen, publizistischen und Kunst-Öffentlichkeit. Vgl. dazu Gustav


Roßler: „Haben Bilder Handlungsmacht? Ein Beitrag zur Agency-Debatte
anhand von Kunstwerken und Bildakten“, in: Cornelius Schubert und Ingo
Schulz-Schaeffer (Hg.), Berliner Schlüssel zur Techniksoziologie, Berlin:
Springer, i.V.
23
Es würde zu weit führen, diese Fragestellung hier ausführlicher
weiterzuverfolgen. Siehe Roßler, Der Anteil der Dinge an der
Gesellschaft, 84–118.
24
Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 25–27.
25
Eine Definition von „Netzwerk“ und eine Diskussion der damit
verbundenen Schwierigkeiten findet sich ebd., 228ff.
10 14.08.2019
2. Wird das Soziale, der Begriff des Sozialen erweitert (und nicht als
reduktionistisches Erklärungsschema, als Metasprache verwendet)?
Neben diesen beiden Hauptkriterien nimmt sich das dritte etwas
komplizierter aus, denn es antwortet auf den Vorwurf einer postmodernen
Zersplitterung und Beliebigkeit, der manchmal gegen Untersuchungen in
der Wissenschafts- und Technikforschung (den Science & Technology
Studies) erhoben wird. Es betont nämlich die Bewegung der Sammlung
oder Versammlung:
3. Wird das Soziale im Text, in der Untersuchung versammelt (anstatt
es zu partikularisieren und dekonstruieren…)?
Wichtiger als Kritik sei es „herauszufinden, welches die neuen
Institutionen, Verfahren und Konzepte sind, um das Soziale zu sammeln
und wieder zu verknüpfen“.26 Darin könnte man auch eine differenziertere
Fassung des zweiten Kriteriums einer Erweiterung des Sozialen sehen.

2. Eine vorläufige Definition

Eine Untersuchung im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie rekonstruiert


und interpretiert das Soziale ausgehend von Assoziations- oder
Übersetzungsketten, die sich semiotisch und ontologisch verstehen lassen.
Sie beschreibt diese methodisch als Akteur-Netzwerke, die sich zusätzlich
qualifizieren lassen als verschiedene Existenzweisen, Seinsmodi oder
Wahrheitsregime.27 Ihr ist keine Sozialontologie im traditionellen Sinne
eigen, es sei denn die eines heterogenen, pluralen und emergenten
Sozialen. Als gelungene Untersuchung ist sie gleichzeitig selbst die
Instantiierung eines so verstandenen Sozialen, dessen (Wieder-)Ver-
sammlung – auf dem Papier, wenn man so will.28

26
Ebd., 27.
27
Vgl. Latour: Existenzweisen.
28
Siehe Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 241,
424ff.
11 14.08.2019

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