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Zur Akteur-Netzwerk-Theorie
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Gustav Roßler
Technische Universität Berlin
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Gustav Roßler
Inhalt:
1. Semiotik ............................................................................................................... 3
2. Ontologie .............................................................................................................. 4
3. Methode ............................................................................................................... 7
1 14.08.2019
Warum den Text Über die Akteur-Netzwerk-Theorie. Einige
Klarstellungen von 1996 als Grundlage nehmen, um in die Akteur-
Netzwerk-Theorie einzuführen und sie näher zu bestimmen?1 Denn Bruno
Latour hat inzwischen umfassendere und neuere Texte vorgelegt sowohl
zur Akteur-Netzwerk-Theorie – etwa die als „Einführung in die Akteur-
Netzwerk-Theorie“ untertitelte Neue Soziologie für eine neue Gesellschaft2
– als auch zu Kunst, Literatur oder Ästhetik – etwa das Fiktionskapitel in
den Existenzweisen.3
Der hier in deutscher Übersetzung vorliegende Aufsatz Über die
Akteur-Netzwerk-Theorie ist zum einen kurz und prägnant, vor allem aber
liefert er eine klare Differenzierung der verschiedenen Dimensionen der
Akteur-Netzwerke in semiologischer, ontologischer und methodologischer
Hinsicht.4 Latour spricht nicht von Dimensionen, sondern von Strängen,
(„strands of preoccupations“5); man könnte also auch von einer
Differenzierung der verschiedenen Analyse- bzw. Interpretationspraktiken
der Akteur-Netzwerk-Theorie sprechen.
1
Bruno Latour: „Über die Akteur-Netzwerk-Theorie. Einige
Klarstellungen“, aus dem Englischen übersetzt von Eike Kronshage, in
Lore Knapp (Hg.), Literarische Netzwerke im 18. Jahrhundert. Mit den
Übersetzungen zweier Aufsätze von Latour und Sapiro, Bielefeld:
Aisthesis Verlag 2019, S. 45-66. Vgl. das Original: Bruno Latour: „On
actor-network theory. A few clarifications“, Soziale Welt (Heft 4), 1996,
369–381. [Die Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf letztere
Version]
2
Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft.
Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
2007. Siehe weiterhin Bruno Latour: „Über den Rückruf der ANT“, in: A.
Belliger und D. J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch
zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript, 2006, 561–572; Bruno
Latour: How Better to Register the Agency of Things. Tanner Lectures,
Yale 2014. http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/137-YALE-
TANNER.pdf (abgerufen am 8.10.2019).
3
Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen,
Berlin: Suhrkamp, 2014, 331ff.
4
Neben manchen anderen interessanten Bemerkungen wie etwa zu der
Maßstäblichkeit (371f.) oder zu den Quasi-Objekten (379), auf die ich hier
aber nicht eingehe. Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf
die engl. Version.
5
Latour: On actor-network theory, 373.
2 14.08.2019
Weiterhin lässt sich der Text als ein Schritt auf dem Weg zu Eine neue
Soziologie begreifen – oder vielleicht sogar als Anfangsschritt, denn der
Text ist auf dasselbe Jahr datiert (1996), in dem Latour mit einer ersten
Vorlesungsreihe begonnen hat, die sich laut dem Autor als eine Vorversion
von Eine neue Soziologie verstehen läßt.6 Wer nach einer genaueren
Darstellung oder einem Begriffsinstrumentarium der Akteur-Netzwerk-
Theorie sucht, sollte ohnehin zu diesem Buch greifen. Darin findet sich
auch eine Definition der Akteur-Netzwerk-Theorie, auf die noch
zurückzukommen sein wird.
Dennoch scheint mir der vorliegende Text in seiner Auffächerung
zwischen Semiotik, Methode und Ontologie interessant und zur Klärung
dessen, was unter dieser Theorie zu verstehen ist, nützlich zu sein. Man
sollte aber nicht vergessen: diese drei Aspekte gehören zusammen.
1. Semiotik
6
Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 453.
7
Auf 373 heißt es: „an extraordinary liberty of analysis“; in Latour: Eine
neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 96, ist von der durch die
Semiotik gewonnenen „Bewegungsfreiheit“ die Rede.
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an einer alles erklärenden soziologischen Metasprache und als Gegenmittel
(377).8 Die Gesellschaft bildet nicht den Rahmen, aus dem sich alles
andere ableitet.
Nebenbei ist dieser semiotische ‚Strang‘ der Akteur-Netzwerk-Theorie
auch deshalb interessant, weil Latour die Akteur-Netzwerk-Theorie
dadurch historisch situiert: er ordnet sie nämlich in die große Bewegung
einer strukturalistischen Semiotik und den sogenannten linguistic turn ein,
die in den swinging seventies die Diskussion erobert hatten (373 ff.). Aber
sie geht nicht darin auf, sondern erstreckt sich außerdem auf Ontologie und
Methode.
2. Ontologie
8
„Die Infrasprache der Semiotik schützt gegen die Metasprache der
Soziologie“, Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 96.
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durchgespielt hat.9 Bei technischen Innovationen wird ein
Handlungsverlauf dadurch verändert, daß einzelne Handlungsglieder durch
nicht-menschliche Entitäten ersetzt werden (die vertikale oder
paradigmatische Dimension) oder indem man neue verknüpfend hinzufügt
(die sequentielle oder syntagmatische Dimension). Ersetzt wird hier etwa
die Ermahnung des Hoteliers, die Schlüssel an der Rezeption abzugeben,
durch ein Schild mit der entsprechenden Aufforderung oder durch einen
schweren Schlüsselanhänger, der die Taschen der Hotelgäste aufbläht,
wenn sie vergessen, ihn abzugeben. Die syntagmatische Dimension findet
sich im veränderten Handlungsverlauf wieder bzw. in Erweiterungen der
Handlung, die an diese (wie Satzergänzungen) angehängt werden.10
Verabschieden sollte man sich von der „absoluten Unterscheidung
zwischen Repräsentation und Dingen“ (375) oder zwischen einer Welt des
Symbolischen einerseits und einer Welt der Materie (oder der kausalen
Wirkkräfte) andererseits. Mit der absoluten Unterscheidung zwischen
Repräsentation und Dingen zu brechen, also mit einem Dualismus, der
diese in zwei strikt getrennten ontologischen Bereichen ansiedelt, heißt
aber nicht, jegliche Differenz zwischen Repräsentation und Wirklichkeit
aufzuheben oder zu leugnen.11
Aber die Grenze lässt sich überschreiten und es gibt Zwischenstadien.
Ein anschauliches Beispiel dafür bilden Übergänge und Gradualisierungen
9
Bruno Latour: „Das moralische Gewicht eines Schlüsselanhängers“, in
Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der
Wissenschaften, Berlin: Akademie, 1996, 37–61. Zu den beiden Achsen
der Sprache siehe beispielsweise Roland Barthes: „Éléments de
sémiologie“, Communications 4, 1964, 91–135, hier: 114f. Vgl. auch
Latour: Die Hoffnung der Pandora, 373, s.v. „Assoziation“.
10
Etwas komplexer als der Schlüsselanhänger ist das Beispiel des
futuristischen Nahverkehrsmittels Aramis, vgl. dazu Bruno Latour:
Aramis: oder Die Liebe zur Technik, Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, 83-
121.
11
Man sollte darin vielmehr die Kritik an und Alternative zu einer
dualistischen Ontologie sehen, welche das Soziale, das Symbolische etc.
auf dem Hintergrund einer physischen oder materiellen Welt
unbestreitbarer Tatsachen situiert. Siehe dazu genauer Gustav Roßler: Der
Anteil der Dinge an der Gesellschaft. Sozialität – Kognition – Netzwerke,
Bielefeld: transcript, 2016, Kap. 2.1, 60–83.
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zwischen den beiden meist dichotomisch getrennten Bereichen, etwa bei
der Realisierung eines technischen Projekts, wo die sukzessiven
‚Übersetzungen‘12 zwischen Texten, Blaupausen, Prototypen und
benutzbaren technischen Objekten Teil des Prozesses und der Realisierung
sind. So heißt es in Aramis, wo das neu zu entwickelnde Verkehrsmittel
den Namen eines der drei Musketiere trägt:
Einer fiktiven Geschichte ist leicht zu folgen, nie verlassen wir Form
und Material des Textes. Wie weit wir uns auch in die Erzählung der
Drei Musketiere hineinbegeben, zu jedem Zeitpunkt sind Porthos,
Athos und Aramis Figuren der Erzählung. Der Geschichte einer
Fabrikation ist ein wenig schwerer zu folgen, denn jede Figur kann
außerdem vom Text zum Objekt oder vom Objekt zum Text
übergehen und alle nur denkbaren semiotischen Zwischenetappen
durchlaufen. Um einem technischen Projekt zu folgen, muß man nicht
nur das narrative Programm verfolgen, sondern auch den
„Realisierungs“-Grad jeder einzelnen Aktion.13
Unter Ontologie versteht Latour ohnehin nicht die Bestimmung von letzten
Bestandteilen der Wirklichkeit oder des Seins, sondern eine Pluralität oder
Differenz verschiedener Seinsweisen. Und auch diese werden eher
prozessual gedacht, wie etwa die zunächst flüchtige Seinsweise der im
Labor in Erscheinung tretenden Entitäten, die dann zu Substanzen oder
wissenschaftlichen Tatsachen stabilisiert wird.14 Daher ist schon früh die
12
„Übersetzung“ bezeichnet „all die Verschiebungen durch andere
Akteure, ohne deren Vermittlung keine Handlung stattfindet.
Übersetzungsketten treten an die Stelle einer starren Opposition zwischen
Kontext und Inhalt“, Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora.
Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 2000, 381.
13
Bruno Latour: Aramis, 80.
14
Vgl. Bruno Latour: „Haben auch Objekte eine Geschichte? Ein
Zusammentreffen von Pasteur und Whitehead in einem Milchsäurebad“,
in: Latour, Der Berliner Schlüssel, 87–112; Hans-Jörg Rheinberger:
Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der
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Rede von variablen Ontologien15 und später von den pluralen Ontologien
der Existenzweisen.16 Die verschiedenen Existenzweisen lassen sich auch
als verschiedene Erweiterungsmodi von Netzwerken verstehen.17 Auf
dieses Buch weisen im übrigen die Schlusszeilen des vorliegenden Textes
voraus, wo es heißt, dass die nächste Aufgabe darin bestehe, verschiedene
Typen oder Modi von Akteur-Netzwerken deutlicher zu differenzieren
(380).
3. Methode
19
Siehe Latour: Die Hoffnung der Pandora, 372. Im vorliegenden Text
unterscheidet Latour nicht klar zwischen „Akteur“ und „Aktant“. Aktant
ist eine Art neutrale Hülle für das Agierende, Handelnde, bevor es noch
eine Figuration erhalten hat im Sinne eines handelnden Menschen,
agierenden Akteur-Netzwerks oder einer handelnden Institution. Vgl.
Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 93ff. Siehe auch
Algirdas Julien Greimas und Joseph Courtés: Sémiotique. Dictionnaire
raisonné de la théorie du langage, Paris: Hachette,1979, 3f., 7f. Zur Kritik
an einer ungenügenden Klärung des Unterschieds siehe Ingo Schulz-
Schaeffer: „Technik in heterogener Assoziation. Vier Konzeptionen der
gesellschaftlichen Wirksamkeit von Technik im Werk Latours“, in: Georg
Kneer, Markus Schroer und Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours
Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 108–152.
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Wissenschaft können so als Aktanten bzw. Akteure verstanden werden.20
In der Soziologie bedeutet dies, dass die sogenannten Akteurskategorien,
d.h. die Art und Weise, wie die Akteure selbst ‚Handeln‘ verstehen und
zuschreiben, von der soziologischen Analyse nicht als erstes hinterfragt
und durch einen anspruchsvollen Handlungsbegriff interpretiert oder gar
ersetzt werden muss.
Dennoch läßt sich nicht ignorieren, daß zu den meisten Akteur-
Netzwerken und -konstellationen Menschen gehören, und für deren
Handeln ist in der Soziologie (und Philosophie) ein anspruchsvolles
analytisches Vokabular entwickelt worden. Dementsprechend wurde öfters
an der Akteur-Netzwerk-Theorie kritisiert, dass sie über keinen
anspruchsvollen Handlungsbegriff verfügt.21 Es muss aber nicht so sein,
dass sich ausgehend von einem schwachen bzw. weiten (semiologischen)
Handlungsbegriff anspruchsvolles, komplexes menschliches Handeln nicht
beschreiben oder interpretieren lässt. Möglicherweise ist ja ein weiter
Handlungsbegriff als Default durchaus sinnvoll, zumindest eine Option.
Aber man sollte dann dennoch thematisieren, wo und wann das
anspruchsvolle Vokabular angemessen wäre, jedenfalls es nicht
kategorisch ausschließen, was Latour auch nicht tut.22 Von der Akteur-
20
Genauer: als „Ereignisse“, vgl. „Haben auch Objekte eine Geschichte?
Ein Zusammentreffen von Pasteur und Whitehead in einem
Milchsäurebad“, in: Latour, Der Berliner Schlüssel, 87–112. Andernorts
schlägt Latour den Ausdruck „Aktionsname“ für das vor, was noch nicht
einem eindeutigen Akteur oder Verursachungszusammenhang zugeordnet
werden kann: Latour: Die Hoffnung der Pandora, 372.
21
Werner Rammert und Ingo Schulz-Schaeffer: „Technik und Handeln.
Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische
Abläufe verteilt“, in: W. Rammert und I. Schulz-Schaeffer (Hg.), Können
Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch
und Technik, Frankfurt a. M./New York: Campus, 11–64, Karl H.
Hörning, „Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und
kultureller Praktiken“, in: S. Moebius und S. Prinz (Hg.), Das Design der
Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript, 29–
47, hier: 39.
22
Die Frage der Angemessenheit wäre aber zumindest zu erörtern, d.h. wo
ein anspruchsvoller Handlungsbegriff zu verwenden sinnvoll oder
notwendig wäre: etwa in öffentlichen Diskursen, Praktiken, wo die
personale Verantwortung großgeschrieben wird, wie im Recht oder in der
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Netzwerk-Theorie her könnte man hier die Selbstinterpretation der
Akteure als Kriterium anführen („follow the actors“).
Andererseits ist ein anspruchsvoller Handlungsbegriff nicht
notwendigerweise zur empirischen Beschreibung gedacht, sondern könnte
als implizite Voraussetzung zu verstehen sein. Dann bliebe die Frage, ob
diese in Richtung einer Handlungskompetenz, Handlungspotentialität, ja
eines generellen Wirkvermögens, agency, zu verfolgen wäre oder in
Richtung einer gesellschaftlichen Handlungsvoraussetzung, wonach als
Handeln nur das absichtliche Handeln bzw. Verhalten menschlicher
Personen gilt.23 Aber auch ein solcher Handlungsbegriff sollte Kriterien
seiner Angemessenheit beinhalten.
26
Ebd., 27.
27
Vgl. Latour: Existenzweisen.
28
Siehe Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 241,
424ff.
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