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Heinz Kimmerle, Zoetermeer

DER ZUSAMMENHANG VON SPRACHE UND ZEIT


BEI HEGEL, HEIDEGGER UND GERNOT BÖHME

Einleitung

Die Probleme der Sprache und der Zeit können als die zentralen Probleme der europäisch-westlichen
Philosophie des 20. Jahrhunderts gelten. Der »linguistic turn«, der für den Pragmatismus und die Analy-
tische Philosophie im angelsächsischen Raum, aber auch für die Existenzphilosophie und die Herme-
neutik, sowie für die Metaphysikkritik und das Differenzdenken in der europäisch-kontinentalen Philo-
sophie von einschneidender Bedeutung war, ist oft zitiert worden. Das Paradigma der Sprache ist an die
Stelle des transzendentalen Bewusstseins und der überall in gleicher Weise anzutreffenden Vernunft ge-
treten. Die Bindung des Denkens an die Sprache als ein Phänomen der menschlich-geschichtlichen Welt,
das sich aber zugleich in seinem Entstehen und den Bedingungen seiner Entwicklung der genauen und
vollständigen Erfassbarkeit entzieht, sollte die spekulativen Überhöhungen philosophischer Aussagen
ersetzen, die mit dem Anspruch auf Universalität oder Absolutheit auftraten.
Es war die Einsicht in die Endlichkeit des menschlichen Lebens und der Welt, die dem philosophi-
schen Denken des 20. Jahrhunderts in der westlichen Hemisphäre eine neue Wendung gegeben hat. End-
lichkeit bedeutet aber auch radikale Bestimmtheit durch die Zeit. Dem metaphysischen Denken, das mit
zeitlosen, ewigen oder unendlichen Vorstellungen umzugehen wusste, wurde eine definitive Absage er-
teilt. Heidegger, den ich als einen der Hauptrepräsentanten der europäischen Philosophie des 20. Jahr-
hunderts bevorzugt heranziehe, stellt die Seinsfrage neu gegenüber der gesamten Geschichte der euro-
päisch-westlichen Philosophie, die er auch die Geschichte der Metaphysik nennt, indem er die Zeit als
den »möglichen Horizont eines jeden Seinsverständnisses« interpretiert. Für Heidegger ist die Zeit aber
nicht das Gegenbild der Zeitlosigkeit oder Ewigkeit, sie ist nur, indem sie vom und im menschlichen
Dasein gezeitigt wird.1
Wie aber sind diese beiden philosophischen Kernfragen des 20. Jahrhunderts miteinander verknüpft?
Offenbar ist ihre Wichtigkeit durch die Verarbeitung der Erfahrung der Endlichkeit des menschlichen
Lebens und der Welt bedingt. Warum führt die Verarbeitung dieser Erfahrung auf die Probleme der
Sprache und der Zeit? Wie hängen diese beiden Probleme zusammen, und kann deren gegenseitiger Zu-
sammenhang bei den Versuchen des Verständnisses der zugrundeliegenden Erfahrung weiter helfen?
Um die Klärung dieser Fragen anzugehen, wird es notwendig sein zu untersuchen, wie der Schritt
vom transzendentalen Bewusstsein zur Sprache und von den zeitlosen Grundgegebenheiten der Vernunft
und des Denkens zur radikalen Zeitlichkeit des Seins und des menschlichen Daseins in der europäisch-
westlichen Philosophie vollzogen worden ist. 1st dieser Schritt in sich stimmig und konsistent oder gibt
es Unklarheiten, Brüche, fehlerhafte Argumentationen? Einer der letzten Vertreter der europäisch-west-
lichen Philosophie, die sich in ihrem Kern als Metaphysik versteht und das transzendentale Bewusstsein
als die entscheidende Instanz betrachtet, ist Hegel. Die Kritik an der Metaphysik und das Ernstnehmen
der Endlichkeit der Welt und des menschlichen Lebens vollzieht in grundlegender Weise Heidegger. Um
den Zusammenhang von Sprache und Zeit in seinem Hauptwerk Sein und Zeit konkreter zu erfassen,
bietet sich die genauere Ausarbeitung dieses Zusammenhangs in Gernot Böhmes Studie Über die Zeit-
modi (1966) an.

1 M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 19537, 1.


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1. Der Zusammenhang von Sprache und Zeit bei Hegel


Wie schon Aristoteles am Anfang der hier thematisierten philosophischen Tradition behandelt Hegel das
Problem der Zeit in der »Naturphilosophie«. Während die Bestimmungen des reinen Denkens bei Hegel
jederzeit gültig sind und in einem Prozess zeitlosen Werdens hervortreten, hat es das Wissen der ver-
nünftigen Wesen bei den Naturerscheinungen mit Begriffen zu tun, die diese Erscheinungen insgesamt
in den Horizonten der Zeit und des Raumes erfassen. Anders als bei Aristoteles, für den das Jetzt die
Grenze der Zeit ist, die Vergangenheit und Zukunft von einander trennt, führt Hegel aus, dass der Jetzt-
punkt der elementare Baustein der Zeit ist, die als Aneinanderreihung solcher Jetztpunkte verstanden
wird. Auf diesen Sachverhalt und einige weitere Fragen der Hegeischen Philosophie der Zeit habe ich in
früheren Beiträgen hingewiesen. Es geht mir im gegenwärtigen Kontext, wie bereits erwähnt, um den
Zusammenhang der Probleme der Sprache und der Zeit. Dafür wende ich mich dem Anfang der Phäno-
menologie des Geistes zu.
Die Kategorien der Logik, die das zeitlos gedachte Werden ausmachen, das den Prozess des Ausein-
ander-Hervorgehens der Bestimmungen des reinen Denkens hervorbringt und trägt, sind bekanntlich das
Sein und das Nichts. Dem entspricht in der »Naturphilosophie«, wie soeben angegeben, der Punkt als der
elementare Baustein der Zeit und auch des Raumes. Der Punkt »ist«, sofern aus seiner Aufeinanderfolge
die Linie hervorgeht, und er »ist nicht«, sofern er selbst keine Ausdehnung in der Zeit oder im Räume
hat. Dieser paradoxe Sachverhalt nimmt am Anfang der Phänomenologie des Geistes folgende Gestalt
an. Die einfachste Form des Wissens, sein »reines Sein« oder seine »reine Unmittelbarkeit«, wie Hegel
sagt, stellt sich so dar, dass ein »Dieses als Gegenstand« und ein »Dieses als Ich« unterschieden werden.
Das »Dieses als Gegenstand« ist näher bestimmt als ein Jetzt und ein Hier. Von einem sinnlich erfassten
Dieses als Jetzt meine ich, dass es gewiss sei. Ich kann aber diese Meinung nicht aussprechen. Denn der
Satz »Jetzt ist Nacht« wird widerlegt, wenn es inzwischen Nachmittag ist. Was in der Weise der reinen
Unmittelbarkeit sinnlich gewiss ist, ein Dieses als Jetzt, wird ein Allgemeines, das heißt ein Nichtdieses,
wenn wir es aussprechen. Wenn wir sprechen, sprechen wir »schlechthin nicht, wie wir es in dieser
sinnlichen Gewißheit meinen«. Die Sprache nimmt das sinnlich Gewisse als ein Allgemeines. Deshalb
»ist es gar nicht möglich, daß wir ein sinnliches Sein«, wie die zeitliche Bestimmtheit des Dieses als
Jetzt, »das wir meinen, je sagen können«. 2
Das »Dieses als Ich« hält aber die Bestimmtheit des Jetzt insofern fest, als dessen Gewissheit an sein
Sehen oder Hören gebunden ist. Das führt indessen noch nicht zur Allgemeinheit dieses Jetzt. Denn es
muss beachtet werden, dass es sich um ein Ich als Dieses, das heißt um ein einzelnes Ich handelt. Ein
anderes Ich kann jetzt oder zu anderer Zeit etwas anderes sehen oder sonstwie sinnlich erfassen. Die
Allgemeinheit dieses Ich ist nicht die der Sprache, die auch für andere verständlich und verbindlich aus-
spricht, was es zu sehen oder zu hören gibt. Das Kommunikationsmttel auf dieser Ebene ist das Zeigen.
»Zeigen müssen wir es uns lassen«: Ich als Dieses sehe das Jetzt und Hier als Diese. Aber wenn »das
Jetzt gezeigt« wird, »hat es schon aufgehört zu sein«, ist es bereits »ein anderes als das gezeigte«. Als
Vergangenes ist es jetzt nicht mehr. Dies führt zu einer Bewegung vom Zeigen eines Jetzt, das als ver-
gangenes nicht mehr ist, zu einer erneuten Negation seines Nicht-mehr-seins im seiner selbst gewissen
Ich. Das bedeutet: Ich kehre »zur ersten Behauptung zurück, daß Jetzt ist«, nun aber als denkend durch-
gehaltenes und als solches aussprechbar. Diese Bewegung ist nach Hegel die »Erfahrung«, die das Be-
wusstsein macht, die es auf dieser Stufe der sinnlichen Gewissheit zum ersten Mal und gewissermaßen
paradigmatisch macht und die es auf jeder neuen Stufe wiederum machen wird.
Die(se) Erfahrung des Bewusstseins kann also in der Sprache artikuliert werden, was ja in der Phä-
nomenologie des Geistes, sofern sie auch »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins« ist, von Hegel
selbst ausgeführt worden ist. Die Zeitlichkeit des gezeigten Jetzt ist grundlegend für alle Formen des
endlichen Wissens, die in diesem Zusammenhang durchlaufen werden. Aber das Bewusstsein verliert

2 G.W.F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, hg. von H.-F. Wessels und H. Clairmont, Hamburg
1988, 70-72, siehe zum Folgenden 72-77.
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auf diesem Weg seine Sprache nicht mehr, sondern artikuliert diese Bewegung in genauer Entsprechung
zur jeweiligen Stufe des erscheinenden Geistes. Weil es endliche Gestalten des Wissens sind, werden sie
jeweils als Scheingestalten des Geistes qualifiziert, so dass zu einer neuen höheren Stufe fortgeschritten
werden muss. Bekanntlich wird am Ende eine letzte höchste Stufe erreicht, die des »absoluten Wissens«.
Auf dem Weg zu dieser Endgestalt wird die sprachliche Ausformulierung der Gestalten des erscheinen-
den Geistes stets adäquater, weil der Geist sich in den Gestalten seines Erscheinens stets besser wieder
erkennt und dies auch aussprechen kann. Die Bindung an die Zeit jedoch wird stets geringer. Sie ist Aus-
druck dessen, dass der Geist der Natur verhaftet bleibt. Im reinen Sichwissen des Wissens ist dieses Ver-
haftetsein definitiv überwunden. Die Zeit wird getilgt, das heißt sie verschwindet, ohne auf der nächst-
höheren Stufe als Moment wieder aufgenommen zu werden. Diese Denkfigur passt jedoch ganz und gar
nicht in die Bewegung des »Aufhebens«, die sonst überall für das Hegeische Denken charakteristisch ist.
Das habe ich in einer früheren Veröffentlichung ausführlich gezeigt.3
Außerdem scheint Hegel zu vergessen, dass auch die Sprache eine Naturseite hat. Sie ist die Sprache
eines Volkes in einer bestimmten geschichtlichen Epoche. Als gesprochene Sprache ist sie auf die Kör-
perorgane angewiesen, mit denen Laute hervorgebracht werden und als Schrift sind die materiellen Vor-
aussetzungen der Hand, der Schreibunterlage und des Stiftes (eventuell mit einer bestimmten Füllung)
erforderlich. Heutzutage wird bekanntlich in aller Regel noch eine vom Computer gesteuerte Maschine
dazwischen geschaltet. Wenn Hegel die Bestimmungen des reinen Denkens in der Wissenschaft der Lo-
gik in ihrem zeitlosen Werden darstellt, tut er dies mündlich und vor allem schriftlich in der deutschen
Sprache des beginnenden 19. Jahrhunderts. Die Sprache hat zwar eine größere Allgemeinheit als das
Jetzt. Aber auch sie ist an die endlichen Formen des Wissens gebunden.
Es ist nicht konsequent, im Übergang zum reinen Denken die Zeit zu tilgen und die Sprache beizube-
halten. Das eigentliche Problem liegt dabei nicht in der ungleichen Behandlung der Zeit und der Spra-
che, sondern darin, dass dieser Übergang das menschliche Denken überfordert. Für Hegel wird dieser
Übergang vollziehbar, weil es der Geist ist, der im Bewusstsein (mit seiner im Prinzip immer gleichen
Erfahrung) erscheint und der sich im reinen Denken selbst erfasst. Eben dieser Geist manifestiert sich
dann in der Natur und in der menschlich-geschichtlichen Welt. Dabei ist Hegels Geist-Philosophie zu-
gleich auch Bewusstseinsphilosophie, sofern es auch in der Behandlung der menschlich-geschichtlichen
Welt wieder eine »Phänomenologie des Geistes« gibt, in der aufgezeigt wird, was die »Erfahrung des
Bewußtseins« im Kern ausmacht, nämlich dass in ihm, nicht im Bewusstsein eines einzelnen Menschen,
sondern des Menschen als solchen, der Geist zu sich selber kommt, sich selbst begreift. Der alles umfas-
sende und durchdringende Geist in seiner Totalität und Unendlichkeit, wenn es ihn gibt oder geben
sollte, kann sich aber nicht oder jedenfalls nicht vollständig im Bewusstsein des Menschen selbst be-
greifen. Denn dieses bleibt in seinen Möglichkeiten an die Zeit und an die Sprache gebunden, wenn auch
auf unterschiedliche Weise.

2. Die zeitlichen Charaktere der Sprachgebilde< bei Heidegger und deren konkrete
Ausarbeitung durch Gernot Böhme
Zur Behandlung der Problematik des Zusammenhangs von Sprache und Zeit hat Heidegger zweifellos
besonders aufschlussreiche Beiträge geleistet. Ich sehe den wichtigsten Beitrag darin, dass er die Spra-
che in ihrem Entstehen und ihrer Einteilung aus den ihr eigenen zeitlichen Charakteren erklärt. Für die
grundlegende Fragestellung Heideggers, die Frage nach dem Sein selbst, die er dem Verständnis näher
bringen will, ist der kritische Bezug auf die europäisch-westliche Philosophie im Ganzen konstitutiv, die
sich im Denken Hegels zugespitzt und zusammengefasst hat. Von der Tradition dieser Philosophie im
Ganzen und somit von Hegel im Besonderen setzt er sich ab, wenn er sagt, die »Interpretation der Zeit«
sei »der mögliche Horizont eines jeden Seinsverständnisses«. Das kommt bereits im Titel seines Haupt-

3 H. KIMMERLE, »Kann Zeit getilgt werden?«, in: Hegel-Jahrbuch 2001. Phänomenologie des
Geistes, Erster Teil, Berlin 2002, 259-268.
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werkes Sein und Zeit programmatisch zum Ausruck, dem ja bekanntlich ein zweiter Teil folgen sollte
mit der umgekehrten Formulierung: »Zeit und Sein«.
Es ist im Rahmen der Fragestellung Heideggers zwar nur ein vorläufiges, aber doch unverzichtbares
Ziel, das Sein des Menschen als eines Daseins zwischen Geburt und Tod zu erforschen, weil es gegen-
über allem anderen Seienden dadurch ausgezeichnet ist, dass es sich selbst in seinem Sein verstehen
kann. Die Endlichkeit des menschlichen Daseins ist ein Ausdruck für den wesenhaften Bezug des Seins
auf die Zeit. Die europäisch-westliche Philosophie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie diesen Bezug,
etwa im Begriff des Geistes bei Hegel, meint überschreiten zu können. Die Zeit als Horizont jedes mög-
lichen Seinsverständnisses und die Endlichkeit des menschlichen Daseins bilden ebenso sehr einen Ge-
genentwurf zu dem Gedanken der Tilgung der Zeit wie zu dem Anspruch in einer menschlich-ge-
schichtlichen Sprache das reine Denken zu artikulieren.
Was sich nach Heidegger in der Sprache artikuliert, ist die volle Struktur dessen, das sich dem
menschlichen Dasein als sein spezifisches Sein erschließt. Dabei ist das Dasein nicht in sein Bewusst-
sein eingeschlossen, in dem ihm Gegenstände begegnen, denen gegenüber es sich in irgendeiner Weise
als übergeordnete Instanz erweist. Das Dasein ist immer schon draußen bei den Gegenständen in der
Welt, die sich im Umgang mit ihnen als Zuhandenes oder Gebrauchsgegenstände und als Vorhandenes,
nicht unmittelbar auf den Gebrauch bezogene Gegenstände strukturieren. Die Erschlossenheit des In-
der-Welt-seins wird durch Befindlichkeit und Verstehen konstituiert, das heißt durch ein Sichvorfinden
in einer Stimmung oder Gestimmtheit und durch das Sichöffnen der Möglichkeit, so oder auch anders
sein zu können. Dabei unterscheidet Heidegger die Rede als eine Struktur des Sichverstehens von der
Sprache, in der diese sich ausspricht. Schon in der Rede entstehen aus der »befindlichen Verständlich-
keit« einzelne Bedeutungen, in denen auch das Ganze ihrer Bedeutung gegenwärtig ist. Der Vorgang des
Zur-Sprache-kommens geschieht, indem dieser Bedeutungsganzheit des Sichverstehens »Wörter zu-
wachsen«. Einzelne Wörter, Heidegger sagt: »Wörterdinge«, sind gegenüber der Bedeutungsganzheit
sekundär. Sie stehen immer schon in Mitteilungen, Aufforderungen, Warnungen, Wünschen und der-
gleichen oder auch in vermeintlich objektiven Aussagen, das heißt insgesamt in modalen Kontexten.
Darin »teilt sich die Rede mit«, wobei Mitteilung in einem »ontologisch weiten Sinn verstanden wer-
den« muss. 4
Die Zeit ist also nicht etwas, das in der Sprache nicht gesagt werden kann. Die Rede ist vielmehr
selbst zeitlich strukturiert. Dabei wird sie nicht als ein Jetzt verstanden, das den Baustein der Zeitabfolge
bildet. Sondern sie gründet im besorgenden Umgehen mit der Welt. Darin sieht Heidegger einen Gegen-
entwurf zu dem von ihm so genannten »vulgären« Zeitverständnis, das er in zugespitzter Form bei Hegel
findet und irrtümlich schon bei Aristoteles meint annehmen zu können. In seiner vollen Struktur ge-
schieht das besorgende Umgehen mit der Welt als das aus der Zukunft in der Gegenwart auf die Ver-
gangenheit als Gewesenheit Zurückkommen. »Weil jedoch die Rede faktisch sich zumeist in der Spra-
che ausspricht und zunächst in der Weise des besorgend-beredenden Ansprechens der >Umwelt< spricht,
hat [...] das Gegenwärtigen eine bevorzugte konstitutive Funktion.« Anders als in der Sorge-Struktur
selbst, in der die Zukunft die primäre Dimension ist, spielt also in der Sprache die Gegenwart eine be-
vorzugte Rolle.
Diese Feststellung trifft Heidegger im Blick auf die Sprachwissenschaften und ihre Ausführungen
über die verschiedenen Tempora, sowie über die »übrigen zeitlichen Phänomene der Sprache« wie »Ak-
tionsarten« und »Zeitstufen«. Aber nach Heideggers Darstellung entspringen diese Phänomene »nicht
daraus, daß die Rede sich >auch< über >zeitliche<, das heißt >in der Zeit< begegnende Vorgänge aus-
spricht«. Sie haben ihren Grund auch nicht darin, wie Bergson gemeint hat, »daß das Sprechen >in einer
psychischen Zeit< abläuft«. All diesen Theorien liegt zugrunde, dass »die Rede... an ihr selbst zeitlich«
ist. Deshalb müssen die »zeitlichen Charaktere der Sprachgebilde«, insbesondere natürlich der Zeitwör-
ter, »aus der Problematik der Zeitlichkeit« als solcher hergeleitet werden.5 Dieser Aufgabe hat sich

4 HEIDEGGER, Sein und Zeit, ebd., 134-140, 142-148 und 160-166.


5 Ebd., 349-350.
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Heidegger nicht unterzogen. Er hat später Sprache und Zeit in ganz anderem Sinn vom Sein selbst aus
bedacht. Darauf gehe ich hier nicht näher ein.
Entscheidendes Material zur Lösung der von Heidegger in Sein und Zeit gestellten Aufgabe findet
sich in dem Buch von Gernot Böhme Über die Zeitmodi. Darin sucht er die zeitlichen Charaktere der
Zeitwörter oder Verben aus grammatischen Gegebenheiten der Sprache herzuleiten. Er bezieht sich be-
sonders auf die europäischen Sprachen und ihre Wurzeln im antiken Griechisch. Und er geht davon aus,
dass sich in den grammatischen Kategorien, insbesondere sofern sie sich auf die Konjugation des Verbs
beziehen, Elemente des »natürlichen Verstehens von Zeit« finden lassen. Dabei ist er auch kritisch ge-
genüber dem »natürlichen« Zeitverständnis, das er indessen nicht mit dem von Heidegger als »vulgär«
charakterisierten Zeitverständnis gleichsetzen will. Die »zunehmende Herrschaft der Uhrzeit«, die dem
Hegeischen Zeitbegriff entspricht und die Heidegger mit dem Begriff »vulgär« belegt, eine Zeitauffas-
sung, in der gleiche Zeiteinheiten aneinander gereiht werden, ist nach Böhme mit den grammatischen
Befunden nicht in Übereinstimmung. Mit dieser grundsätzlichen Feststellung bringt Böhme das Zeitver-
ständnis der »natürlichen« Sprachen in die Nachbarschaft der Heideggerschen Analyse der Zeitlichkeit
des menschlichen Daseins. Das zeigt sich auch darin, dass für ihn die Strukturierung des Verhältnisses
von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft (bei Böhme sogleich in dieser Reihenfolge) zwar nicht im
besorgenden Umgehen mit der Welt, wohl aber in der Handlung gründet.6
»Die Grundleistung der Zeitworte oder Verben ist, Handlungen zu bezeichnen.« In dieser Formulie-
rung will Böhme Handlungen aber nicht auf »ein aus eigenem Antrieb agierendes Lebewesen oder gar
einen Menschen« begrenzen, sondern, selbst von der Physik herkommend, will er auch die »unbeseelten
Vorgänge der bloßen Natur« unter diesen Begriff fassen. Seine Position ist also sowohl auf den Men-
schen, sein Erkenntnis- und Sprachvermögen, bezogen als auch auf die (Vorgänge in der) Natur. Er
meint mit Handlung nicht einen Vorgang, der bereits »in seiner Ganzheit vorliegt«, sondern »den Vor-
gang, insofern er geschieht«, noch im Gange ist. Von Handlungen in diesem Sinn lässt sich sagen, dass
sie »als solche die zeitliche Form der >Dauer< haben«. Mit dieser Auffassung schließt Böhme ausdrück-
lich bei Bergsons Begriff durée an. Es klingt indessen eher Heideggerisch, wenn er sagt, dass die Hand-
lung, »indem sie geschieht«, die Einheit der Zeit »stiftet« oder »erzeugt«, allerdings nicht in der vollen
Sorge-Struktur einer Zuordnung von Zukunft, Gegenwart und Gewesenheit, sondern zunächst und zu-
meist und auch grundlegend »als Dauer«. Dabei geht es nicht um die Absicht der Handelnden, sofern sie
vorliegt, sondern um die »zeitliche Erstreckung« ihrer Handlungen.
Die zeitlichen Charaktere der Zeitwörter lassen sich weiter differenzieren, wenn man ihre »Aktions-
arten« und ihre »Aspekte« berücksichtigt. Wie dies im Einzelnen ausgeführt wird, muss hier aus Grün-
den des begrenzten Raums beiseite bleiben. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Gegenwart als
Dauer Zukunft und Vergangenheit als Momente in sich enthält. Im Handeln wird Zeit als Dauer erzeugt.
Im Sprechen, durch das das Handeln sich artikuliert, treten Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft her-
vor. Dabei ist das modale Verständnis der Zeitstufen und deren Überlappung charakteristisch, die einer-
seits durch die Zeitform der Handlung und andererseits durch deren sprachliche Artikulation zustande
kommen. Auf diesem Weg kann Böhme durch seine Analyse des natürlichen Sprechens im Zusammen-
hang der indogermanischen Sprachen deutlich machen, was die »zeitlichen Charaktere der Sprachge-
bilde« sind und was es heißt, dass die Rede und ihr Herausgesprochensein als Sprache »an ihr selbst
zeitlich« sind.

Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Kimmerle


Nieuwewater 35
NL-2715 BP Zoetermeer
kimmerle @ cistron.nl

6 G. BÖHME, »Zeitliche Interpretation der Grammatik«, in: ders., Über die Zeitmodi. Eine Untersu-
chung über das Verstehen von Zeit als Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mit besonderer Be-
rücksichtigung der Beziehungen zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, Göttingen 1966, 15-
35, s. auch zum Folgenden.
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