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Christlicher Aussteiger

Persönliches, Nachdenkliches, Provozierendes und anderes aus dem peruanischen Hochland


TAGGED WITH JOHN NELSON DARBY

Der Dispensationalismus – Theologie aus zweifelhafter Quelle


Warum ein Artikel über den Dispensationalismus? – Dispensationalisten haben sich ziemlich
hervorgetan im Analysieren und Zurückweisen aller Arten von „endzeitlichen Verführungen“. Das ist
eine gute und nötige Arbeit. Aber wenn sie von dispensationalistischer Seite kommt, dann werden
dafür einfach andere, eben dispensationalistische Fehler in die Gemeinde Jesu eingeführt. Deshalb
muss auch der Dispensationalismus analysiert werden. Das ist – insbesondere im deutschen
Sprachraum – noch viel zu wenig gemacht worden. In manchen Kreisen gilt anscheinend die
Gleichung „bibeltreu = dispensationalistisch“. Ich möchte hier aufzeigen, warum diese Gleichung
nicht so ohne weiteres aufgeht.
Ich habe dabei nicht vor endgültig zu beweisen, ob der Dispensationalismus an sich „falsch“ oder
„richtig“ sei – ich denke, das ist rein argumentativ nicht zu entscheiden. Ich möchte einfach einige
wenig bekannte Hintergründe aufzeigen, die Sinn machen, wenn ich sie mit der
Argumentationsweise und dem Verhalten von mir bekannten Dispensationalisten vergleiche. Und die
begründen, warum ich den Dispensationalismus als zumindest „zweifelhaft“ bezeichne.

Die theologische Strömung des Dispensationalismus wurde im wesentlichen von John Nelson Darby
anfangs des 19.Jahrhunderts ins Leben gerufen. Es handelt sich um ein Auslegungsschema, welches
jede Bibelstelle einer bestimmten heilsgeschichtlichen „Dispensation“ zuweisen will und je nachdem
die Anwendbarkeit der betreffenden Bibelstelle einschränkt. In Anwendung dieses Schemas kommen
dispensationalistische Ausleger teils zu durchaus zutreffenden Schlussfolgerungen (z.B. dass
bestimmte Bibelstellen nur auf das Volk Israel wörtlich anwendbar sind, andere wiederum nur auf die
an Jesus Gläubigen); teils aber zu haarsträubenden Gedankensprüngen. Z.B. dass die Zehn Gebote für
Christen nicht gelten würden, ausser sie würden durch ausdrückliche Wiederholung im Neuen
Testament erneut gültig gemacht. Oder dass die Bergpredigt erst nach der Wiederkunft Jesu
Gültigkeit erlangen werde. Oder dass es zwei verschiedene Evangelien gebe, ein „Evangelium vom
Reich“ nur für die Juden, und ein „Evangelium der Gnade“ nur für die Heiden.

Damit ist bereits ein wesentliches Problem des Dispensationalismus angesprochen: Manche
Bibelstellen lassen sich von ihrer Aussage und ihrem Zusammenhang her nicht eindeutig einer
einzigen, bestimmten „Dispensation“ zuordnen. (Ganz abgesehen davon, dass der Begriff der
„Dispensation“ an sich in der Bibel nirgends im Sinne des Dispensationalismus definiert oder
verwendet wird). In diesen Fällen nimmt der Dispensationalist die Zuordnung nach willkürlichen und
oft fragwürdigen Kriterien vor, und hält dann dogmatisch an der einmal getroffenen Zuordnung fest.
Es handelt sich nicht um ein vorurteilsloses Herangehen an die Bibel, sondern um ein zum voraus
festgelegtes Auslegungsschema, das dann der Bibel übergestülpt wird.

Verbreitet wurde der Dispensationalismus seit Anfang des 20.Jahrhunderts vor allem durch die
Kommentare der „Scofield-Bibel“, die sich auch heute noch in gewissen Kreisen grosser Beliebtheit
erfreut. Durch die kritiklose Aufnahme dieser Kommentare haben sich manche Gläubige ein sehr
einseitiges Bibelverständnis angeeignet, sodass sie den Bibeltext nur noch durch die
dispensationalistische Brille lesen und verstehen können. (Dieselbe Gefahr besteht natürlich bei
Bibelkommentaren jedweder theologischen Ausrichtung. Doch habe ich bei Dispensationalisten
beobachtet, dass sie sich ganz besonders an ihr spezifisches Auslegungsschema klammern und jede
Kritik daran als eine Kritik an der Bibel selbst werten. – Persönlich ziehe ich es vor, ganz ohne
Bibelkommentare auszukommen. Wenn es aber doch einmal notwendig sein sollte, dann versuche
ich, zur selben Stelle zwei oder drei Kommentare aus gegensätzlichen theologischen Richtungen zu
finden und vergleiche sie miteinander.)
Weiter waren führende Dispensationalisten anfangs des 20.Jh. sehr aktiv in der Begründung des
amerikanischen „Fundamentalismus“. (Das war damals noch kein Schimpfwort, sondern bezeichnete
einfach die Haltung, auf der biblischen Wahrheit als „Fundament“ aufzubauen, und an den
„fundamentalen“ Glaubenswahrheiten festzuhalten.) Dadurch ist ein grosser Prozentsatz ernsthafter
Christen dispensationalistisch infiziert worden, sodass es eben zu der Auffassung kam, nur die
dispensationalistische Auslegung sei bibeltreu.
Die Bestseller-Autoren Hal Lindsey und Tim La Haye haben in den letzten Jahrzehnten weiter
beigetragen zur Popularisierung des Dispensationalismus – insbesondere dessen spekulativer
Auslegung der biblischen Endzeitprophetien.

Der Ursprung des Dispensationalismus – eine neue Lehre

Wenden wir uns nun dem Ursprung des Dispensationalismus zu. Die Anfänge dieser Strömung sind
eng verflochten mit den Auseinandersetzungen um die Person J.N.Darbys bei den damaligen
Plymouth-Brüdern, aus denen später die Denominationen der „Offenen Brüder“ (open brethren) und
der „Geschlossenen Brüder“ (exclusive brethren) hervorgingen. Darby war eine führende
Persönlichkeit – während längerer Zeit die dominante Persönlichkeit – in der Brüderbewegung, und
er versuchte seinen Dispensationalismus als die verbindliche Theologie dieser Bewegung
durchzusetzen. Dem widersetzten sich jedoch andere leitende Brüder, u.a. Georg Müller (der
bekannte „Waisenvater“ von Bristol) und der Theologe Samuel Prideaux Tregelles (bekannt als
biblischer Textforscher). Georg Müller sagte einmal, er sähe sich gezwungen, zwischen Darby und der
Bibel zu entscheiden, und er wähle die Bibel. (Mark Dankof, „A Historical Critique of
Dispensationalism, Zionism, and Daniel’s Prophecy of 70 Weeks“)
Auseinandersetzungen und Spaltungen in der Brüderbewegung entstanden nicht nur aufgrund des
Dispensationalismus, sondern auch aufgrund der autoritären und anmassenden Persönlichkeit
Darbys. Doch das nur am Rande.

Darbys Selbstzeugnis

Gemäss Darbys eigenem Zeugnis erhielt er die „dispensationalistische Wahrheit“, während er sich
von einer schweren Verletzung nach einem Reitunfall erholte und die Bibel las:

„Das 32.Kapitel von Jesaja lehrte mich klar, von Gott her, dass noch eine von Ihm angeordnete
Ökonomie (Dispensation) bevorstand; ein Zustand der Dinge, der noch in keiner Weise hergestellt ist.
Das Bewusstsein meiner Vereinigung mit Christus hatte mir den gegenwärtigen himmlischen Anteil
der Herrlichkeit gegeben, während dieses Kapitel klar den dazugehörigen irdischen Anteil darlegt. Ich
konnte damals diese Dinge noch nicht an ihren jeweiligen Platz stellen oder sie der Reihe nach
anordnen, wie ich es jetzt kann; aber die Wahrheiten selbst wurden (mir) damals von Gott offenbart,
durch das Wirken Seines Geistes beim Lesen Seines Wortes.
Was musste getan werden? Ich sah in jenem Wort das Kommen Christi, um die Gemeinde zu sich zu
nehmen in der Herrlichkeit. (…)“
(Nach Thomas Ice, „When did J.N.Darby discover the Rapture?“)

Dieses Zeugnis fasst kurz, und nicht allzu klar, die zwei Hauptlehren zusammen, die Darby – erst
mehrere Jahre später – zu verkündigen begann:
1. Israel und die Gemeinde sind zwei so völlig unterschiedliche Körperschaften, dass Bibelstellen, die
für Israel gelten, nicht zugleich für die Gemeinde gelten können, und umgekehrt. Insbesondere
beziehen sich die alttestamentlichen Prophezeiungen über die zukünftige Herrlichkeit Israels
ausschliesslich auf die Rolle Israels im tausendjährigen Reich, und dürfen nicht auf die christliche
Gemeinde übertragen werden. Das Zeitalter der Gemeinde war „unsichtbar“ für die Autoren des
Alten Testaments.
2. Die Wiederkunft Jesu findet in zwei unterschiedlichen „Etappen“ statt: zuerst ein „geheimes“
Kommen, das nur von der Gemeinde wahrgenommen wird und bei dem diese entrückt wird (noch
vor der „grossen Trübsal“); später ein öffentliches Kommen zum Weltgericht.
Mit der Zeit wurden diese Ideen weiter ausgearbeitet (hauptsächlich von Scofield) zu einem
kompletten System von „Dispensationen“.

Darby hatte übrigens eine äusserst negative Sicht von allen Dispensationen, einschliesslich der
gegenwärtigen:

„In jedem Beispiel gab es ein völliges und unmittelbares Versagen seitens des Menschen; dennoch
konnte die Langmut Gottes aus Gnade die Dispensation tolerieren und zu Ende bringen, in welcher
der Mensch von Anfang an versagt hatte; und ausserdem wurde uns nicht ein einziges Beispiel der
Wiederherstellung irgendeiner Dispensation gegeben, obwohl es teilweise Wiederbelebungen
[bestimmter Dispensationen] durch den Glauben geben konnte.“
(Gesammelte Werke J.N.Darbys, zitiert in Edmund Hamer Broadbent, „The Pilgrim Church“)

Broadbent fasst die Lehre Darbys zu diesem Punkt weiter zusammen:

„Die Beispiele, die er von diesem Versagen am Anfang jeder Periode gibt, sind: die Trunkenheit
Noahs, der Fall Abrahams, der nach Ägypten ging und dort Sara verleugnete, und das goldene Kalb,
das die Israeliten anbeteten.
Dasselbe behauptete er von der Gemeinde: ‚Innerhalb der Christenheit fand eine moralische
Abweichung von Gott statt.‘ Sogar im Leben der Apostel waren der ‚Abfall‘, die ‚gefährlichen Zeiten‘,
‚die letzte Stunde‘ und das Werk des ‚Geheimnisses der Gesetzlosigkeit‘ bereits gegenwärtig. Die
Apostel versagten in der Ausführung des Auftrags des Herrn, in die ganze Welt zu gehen und das
Evangelium allen zu predigen. Ausserdem blieben sie in Jerusalem, als sie von dort hätten fliehen
sollen. Ein neuer Heidenapostel musste erstehen, um ihr Ungenügen zu kompensieren. ‚So‘, schreibt
Darby, ‚versagte diese Periode, genau wie die anderen, und wurde gleich zu Anfang unterbrochen (…)
kaum war sie voll eingesetzt, als sie bereits scheiterte.‘
Er fragt dann, ob die Gläubigen ‚in unseren Tagen kompetent seien, Gemeinden zu organisieren nach
dem Modell der ursprünglichen Gemeinden, wie sie annehmen‘, und ‚ob die Formierung solcher
Körperschaften dem Willen Gottes gemäss sei‘. Seine Antwort ist ’nein‘, weil ‚die Kirche sich im
Zustand einer Ruine befindet (…) die erste Abweichung ist fatal und ist eine Grundlage für das Gericht
(…) die Schrift registriert nirgends eine Wiederherstellung eines solchen Zustandes (…) Wenn wir
anerkennen, dass wir in einem Abfall leben, der sich verschnellert bis zu seiner schliesslichen
Vollendung, statt in einer Gemeinde oder einer Periode, die Gott durch seine Gnadentreue unterhält,
dann verändert das die ganze Stellung der Seele‘, sagt Darby.“
(Broadbent, a.a.O.)

Es ist mir nicht bekannt, inwieweit heutige Dispensationalisten diese pessimistische Sicht von der
Gemeinde teilen. In gewisser Hinsicht kann ich Darby ja verstehen: Wenn man den gegenwärtigen
Zustand der Gemeinde sowie die Kirchengeschichte ansieht, dann findet man tatsächlich viel mehr
Anzeichen von Abfall als von Erweckung. Und sogar manches, was als Erweckung ausgegeben wird
und wurde, ist in Wirklichkeit ein noch weiteres Abweichen von Gott. Ich kann von daher auch
nachvollziehen, dass Dispensationalisten sehr misstrauisch sind gegenüber allem, was nach
Erweckung riecht.
Wenn man aber daraus schliesst, dass der Abfall die unvermeidliche Norm sei, und das seit den
ersten Anfängen der Kirchengeschichte, dann ist das nicht Schriftauslegung, sondern
Erfahrungstheologie. Die Schrift spricht nicht nur von Abfall, sondern sie sagt auch: „Und siehe, ich
bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.“ (Matthäus 28,20) – „…und niemand wird sie aus
meiner Hand reissen.“ (Johannes 10,28) – „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ (Römer 8,31) –
„Er wird aber stehenbleiben, denn der Herr vermag ihn aufrechtzuhalten.“ (Römer 14,4) – „Gott aber
ist treu, der euch nicht über euer Vermögen wird versucht werden lassen, sondern mit der
Versuchung auch den Ausgang schaffen wird, sodass ihr sie ertragen könnt.“ (1.Korinther 10,13) –
„Und sie haben ihn überwunden um des Blutes des Lammes und um des Wortes ihres Zeugnisses
willen, und haben ihr Leben nicht liebgehabt bis zum Tode.“ (Offenbarung 12,11)
– Alle diese Verheissungen (und es gibt noch weitere) zeigen, dass Gott willens und mächtig ist, die
Seinen (d.h. die wahre Gemeinde) im Glauben zu bewahren. Die Behauptung, der Abfall sei
notwendig und unvermeidlich, zeugt von Kleinglauben diesen Verheissungen gegenüber.

Nun ging Darby ja noch viel weiter als das, wie die obigen Zitate zeigen. Er leugnete nicht nur die
Legitimität von Erweckungen oder des Wunsches nach Erweckung. Er leugnete überhaupt die
Legitimität eines jeden Unterfangens, neutestamentliche Gemeinde zu bauen, von der
nachapostolischen Zeit bis heute! Nach Darby hat „Gemeinde“ im Sinne des Neuen Testaments
aufgehört zu existieren, sobald die Apostel nicht mehr da waren. Von daher leugnete er auch die
Gültigkeit neutestamentlicher Verheissungen oder Anweisungen an die Gemeinde für die
nachapostolische Zeit. Die echten Christen heute sollten sich zwar als „zwei oder drei“ versammeln,
aber sie dürften sich in keiner Weise anmassen, eine „Gemeinde“ zu bilden. (Es ist mir ein Rätsel, wie
Darby diese seine Lehre vereinbaren konnte mit seiner späteren Forderung nach strenger
Gemeindezucht – sogar in Fällen, wo eine solche gar nicht angebracht war.)

Zweifel an der Aufrichtigkeit Darbys

Der weiter oben erwähnte S.P.Tregelles – ein Insider der damaligen Brüderbewegung –
veröffentlichte jedoch eine von Darby abweichende Version über den Ursprung des
Dispensationalismus: Die Lehre einer „geheimen Entrückung“, und eines „geheimen“ Kommens Jesu,
war bereits 1811 veröffentlicht worden in einem spanischen Buch mit dem Titel „La venida del
Mesías en gloria y majestad“ (Das Kommen des Messias in Herrlichkeit und Majestät), von einem
gewissen Juan Josafat Ben Ezra. Das war das Pseudonym des jesuitischen Priesters Emanuel Lacunza.
Es ist spekuliert worden, dass Lacunza unter diesem Pseudonym schrieb, um sein Buch für
Protestanten akzeptabel zu machen. Ob das seine Absicht war oder nicht, es funktionierte: Das Buch
wurde vom Vatikan auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, was es für Protestanten erst recht
interessant machte.
Dieses spanische Buch wurde 1827 von dem schottischen Prediger Edward Irving auf Englisch
übersetzt und verbreitet. (Interessanterweise ist 1827 das Jahr, das Darby angibt als den Beginn
seiner öffentlichen Lehre des Dispensationalismus. Nachgewiesen werden kann seine Lehre über
diese Themen aber erst ab 1833.) Nun hatte Darby in jener Zeit recht engen Kontakt mit Irving und
seinen Anhängern, und nahm an mehreren ihrer Zusammenkünfte und Konferenzen (u.a. über
biblische Prophetie) teil. Tregelles versichert, Darby hätte seine Ansichten über die Entrückung von
Irvings Gruppe übernommen. (Angaben grösstenteils nach Wikipedia, Artikel „Rapture“ und „Edward
Irving“ (englisch)

„Ich weiss nichts über irgendeine definitive Lehre, dass es eine geheime Entrückung der Gemeinde
anlässlich einer geheimen Wiederkunft gäbe, bevor dies in Herrn Irvings Gemeinde ausgesprochen
wurde als eine ‚Eingebung‘ von – wie es damals angenommen wurde – der Stimme des Geistes. Aber
[unabhängig davon] ob jemand irgendwann [zuvor] so etwas behauptet hatte oder nicht, von dieser
angeblichen Offenbarung war es, wo die moderne Lehre und die diesbezügliche moderne
Ausdrucksweise herstammte. Sie kam nicht aus der Heiligen Schrift, sondern von etwas, was
fälschlicherweise behauptete, Gottes Geist zu sein.“
(S.P.Tregelles, „The Hope of Christ’s Second Coming“, zitiert bei Ed Tarkowski, „In Search Of The
Origins Of The Pretrib Doctrine“)

Ein anderer der frühen Plymouth-Brüder war Robert Baxter. Er schrieb:

„In einigen der Schriften von Herrn Irving wurde die Meinung ausgesprochen, dass vor dem zweiten
Kommen Christi, und vor dem Anbruch des Tages der Rache über die Welt, wie er in der Schrift
nachdrücklich genannt wird, die Heiligen zum Himmel entrückt würden wie Henoch und Elias, und so
vor der Zerstörung dieser Welt gerettet würden, wie Noah in der Arche gerettet wurde, und wie Lot
aus Sodom gerettet wurde. Das war eine Meinung, der ich mich nie anschliessen konnte; da ich
annahm, unsere Zuflucht in und durch die Tage der Rache würde irgendein irdisches Heiligtum sein,
bis der Herr käme, die Toten auferweckt würden, und die am Leben gebliebenen entrückt würden
(1.Thess.4,17).“
(Robert Baxter, „Narrative of Facts“, 1833, zitiert a.a.O.)

Die „Irvingiten“ waren eine Art charismatische Splittergruppe, die das Zungenreden und
prophetische Eingebungen pflegten. Bekannt geworden ist eine dieser Eingebungen, die im Jahre
1830 der fünfzehnjährigen Margaret MacDonald gegeben wurde. Diese lehrt ein „geheimes“
Kommen Jesu und eine geheime Entrückung als ein separates Ereignis, verschieden vom öffentlichen
zweiten Kommen Jesu. Einige Forscher vermuten, dass Darby auch anwesend war, als dieses Wort
weitergegeben wurde – jedenfalls war er mit Margaret MacDonald bekannt. (Dave MacPherson,
„The Incredible Cover-Up: The True Story of the Pre-Trib Rapture“, 1975) Es ist nicht klar, ob Tregelles
sich auf diese selbe Eingebung bezieht oder auf eine andere. Jedenfalls sagt er, seines Wissens hätte
zuvor niemand (also auch Darby nicht) eine geheime Entrückung gelehrt.
Die Irvingiten entwickelten zunehmend abwegigere Lehren und Praktiken, sodass Darby sich gegen
sie wandte und sie schliesslich entschieden ablehnte. Auch die schottische Kirche schloss Irving im
Jahre 1833 wegen Irrlehre aus ihrer Mitte aus. (Wikipedia, Artikel „Edward Irving“ (englisch)

Die Diskussion darüber, ob das Selbstzeugnis Darbys oder das Zeugnis Tregelles‘ glaubwürdiger sei,
dauert bis heute an. Verteidiger des Dispensationalismus, welche das Zeugnis Tregelles‘ ablehnen,
haben wortreich argumentiert, die Irvingiten hätten nicht wirklich eine Entrückung vor der Trübsal
gelehrt, und ihre dementsprechenden Äusserungen könnten auch als Entrückung während oder nach
der Trübsal ausgelegt werden. (Lacunza z.B. nahm einen Zeitraum von 45 Tagen zwischen der
Entrückung und der Wiederkunft Jesu an.) Aber damit wird die Auseinandersetzung auf einen
Nebenschauplatz abgelenkt. Der Kern der neuen Lehre besteht nicht darin, ob die Entrückung „vor“
oder „nach“ der Trübsal stattfinde, sondern ob es überhaupt eine „geheime“ Entrückung gibt, d.h.
ein „geheimes“ Kommen Jesu, verschieden von seiner öffentlichen Wiederkunft. Diese Idee von
„zwei Etappen“ der Wiederkunft Jesu wurde von Lacunza, sowie von Irving und seinen Anhängern
unmissverständlich gelehrt.

Einerseits ist die Anfrage berechtigt, ob Darby tatsächlich einen seiner Schlüsselgedanken von einer
Gruppierung übernommen haben sollte, die er letztendlich heftig ablehnte. Andererseits wäre das
aber gerade eine Erklärung dafür, warum er die Herkunft dieser Idee verschwieg, obwohl er als
Teilnehmer an Irvings Konferenzen mit dessen Lehre vertraut gewesen sein muss. Da er sich
öffentlich gegen die Irvingiten ausgesprochen hatte, konnte er ja nicht gut sagen, dass er eine ihrer
Lehren zu einem Grundstein seines theologischen Systems gemacht hatte! – Man bedenke, dass der
Brief, in dem Darby erstmals seine „Erleuchtung“ nach seinem Reitunfall schildert, dreissig Jahre nach
dem Ereignis geschrieben wurde. Er hat also dreissig Jahre lang überhaupt keine Erklärung für den
Ursprung seiner Lehre geliefert.

So oder so: Der Dispensationalismus ist eine „neue Offenbarung“

Auch wenn Darby die Wahrheit gesagt haben sollte: Er selber führt seine Lehre auch auf eine „neue
Offenbarung“ zurück. („Die Wahrheiten selbst wurden damals von Gott offenbart…“) Zwar eine
„Offenbarung“, die ihm beim Lesen der Heiligen Schrift kam – aber eben doch eine „neue
Offenbarung“, die ihn dazu führte, die Bibel auf eine Art und Weise auszulegen, wie sie vor ihm in der
ganzen Kirchengeschichte noch nie ausgelegt worden war. Die Wendung „Gott offenbarte mir…“
erscheint noch an weiteren Stellen in Darbys Schriften, wo er auf seine Entdeckung der
„dispensationalistischen Wahrheit“ Bezug nimmt. (Quellen bei Stephen Sizer , „John Nelson Darby
(1800-1882) The Father of Premillennial Dispensationalism“.)

Das ist ein wichtiger Kritikpunkt gegen den Dispensationalismus: Es handelt sich um eine neue Lehre,
die allen vorangegangenen Theologien widerspricht. Sollten sich tatsächlich alle Gottesmänner der
ganzen Kirchengeschichte vor Darby geirrt haben? Jede andere ernstzunehmende theologische oder
denominationelle Strömung hat historische Vorgänger, mit denen sie im Einklang steht. Die
Reformatoren konnten auf Augustin, auf Wyclif und auf Hus zurückverweisen. Die Täufer waren
geistliche Nachfahren der Waldenser, sowie der Gemeinde der ersten Jahrhunderte und natürlich der
Apostel selber. Die Pfingstbewegung hat Vorgänger im Montanismus, in John Wesley, und ebenfalls
in der Praxis der Urgemeinde. Auch die Hausgemeindebewegung kann auf die Urgemeinde
zurückverweisen, sowie auf Minucius Felix, auf Schwenckfeld, die Quäker, den frühen Methodismus,
und andere. Der Dispensationalismus hat keine solchen historischen Vorgänger.
Diese Tatsache ist eine grosse Verlegenheit für die Verteidiger des Dispensationalismus. Wenn sie
das Selbstzeugnis von Darby annehmen wollen, dass seine Lehre tatsächlich seine eigene originale
Erfindung (bzw. „Offenbarung“) war, dann müssen sie erklären, warum niemand vor ihm auf diese
Idee kam, und warum alle Theologen vor ihm die Bibel „falsch“ ausgelegt haben. Wenn sie dagegen
nach historischen Vorgängern suchen wollen, dann landen sie bei einem jesuitischen Priester und
einem charismatischen Sektengründer.

Pikant daran ist, dass die Dispensationalisten – zumindest in Deutschland – führend sind in der
Opposition gegen die Pfingst- und die charismatische Bewegung. Da „darf“ es natürlich nicht wahr
sein, dass ihr eigener Ursprung in einer charismatischen Bewegung und in einer „neuen
Offenbarung“ liege!
Das Verhältnis zwischen Dispensationalisten und Pfingstlern ist doppelt paradox. Einmal eben wegen
dieses Ursprungs des Dispensationalismus in einer „neuen Offenbarung“. Ob es Lacunza, Irving oder
Darby war, der diese „Offenbarung“ als erster erhielt, ist hierbei ziemlich unwesentlich. Manche
Vorwürfe der Dispensationalisten gegen die Pfingstbewegung (z.B. das Akzeptieren „neuer
Offenbarungen“, oder unsachgemässer Umgang mit der Schrift) fallen damit auf sie selbst zurück.
Aber auch die Haltung der Pfingstler in dieser Frage ist widersprüchlich: Während sie einerseits an
der fortdauernden Gültigkeit aller Gaben des Heiligen Geistes festhalten, haben sie andererseits die
meisten Postulate des Dispensationalismus unkritisch übernommen. Es gibt kaum eine pfingstliche
Kirche oder Denomination, wo nicht dispensationalistische Auslegungsprinzipien und das
dispensationalistische Endzeitschema gelehrt werden. (Mit Ausnahme der dominionistischen Kreise
in den USA, die inzwischen auch unter Charismatikern an Einfluss gewinnen.) Als ich einmal in einer
kleineren pfingstlichen Buchhandlung nach Büchern über biblische Prophetie fragte, wurde mir als
einziger Titel ein Buch von Tim La Haye angeboten. J.M.Thekkel, ein glühender Verfechter des
Dispensationalismus, behauptet (wahrscheinlich ein wenig übertrieben), dass „100% der Pfingstler,
98% der Plymouth-Brüder und 95% der Südlichen Baptisten an die Entrückung vor der Trübsal
glauben“. (John Mathew Thekkel, „The Origins of the Pre-Tribulation Rapture“).

Wie legt das Neue Testament das Alte aus?

Was die kirchengeschichtliche Neuheit des Dispensationalismus betrifft, so ist auch der Umstand von
Gewicht, dass das Neue Testament nirgends eine „dispensationalistische“ Auslegung
alttestamentlicher Texte nahelegt. Ganz im Gegenteil: der Umgang neutestamentlicher Autoren
(inbegriffen Jesus selbst) mit alttestamentlichen Texten widerspricht dispensationalistischen
Auslegungsprinzipien diametral. Da werden Prophetien aus dem Alten Testament mit aller
Selbstverständlichkeit wörtlich auf die christliche Gemeinde angewandt. Einige Beispiele mögen dies
zeigen:

„Da sagt Jesus zu ihnen: Ihr werdet in dieser Nacht alle an mir Anstoss nehmen; denn es steht
geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen.“
(Matth.26,31)

Jesus wendet das alttestamentliche Wort, das über das (ganze) Volk Israel gesprochen worden war,
auf die exklusive Gruppe seiner elf Jünger an.
„Da öffnete er ihnen den Sinn, damit sie die Schriften verständen, und sprach zu ihnen: Es steht
geschrieben, dass der Christus auf diese Weise leiden und am dritten Tage auferstehen werde, und
dass auf seinen Namen hin Umkehr zur Vergebung der Sünden verkündet werden solle unter allen
(Heiden-)Völkern, beginnend mit Jerusalem.“ (Lukas 24,45-47)

Jesus lehrte seine Jünger offensichtlich nicht die dispensationalistischen Auslegungsmethoden! Er


öffnete ihr Verständnis für die (alttestamentlichen) Schriften in dem Sinne, dass dort die Erfüllung
des Missionsauftrags vorausgesagt wird, also die Ausbreitung der christlichen Gemeinde unter alle
Völker.

„Denn es steht geschrieben im Buch der Psalmen: Seine Behausung soll veröden, und niemand soll
dasein, der darin wohnt, und: Sein Vorsteheramt soll ein anderer empfangen.“ (Apg.1,20)

Diese alttestamentlichen Stellen werden von den Aposteln als wörtliche und direkte Anweisung in
ihrer Situation verstanden, einen Nachfolger anstelle von Judas zu wählen.

„Und Paulus und Barnabas sagten freimütig: Euch (Israeliten) zuerst musste das Wort Gottes
verkündigt werden; da ihr es von euch stosst und euch des ewigen Lebens selbst nicht für würdig
achtet, siehe, so wenden wir uns zu den Heiden. Denn so hat uns der Herr geboten: Ich habe dich
zum Licht der Heiden gesetzt, damit du zum Heil gereichest bis an das Ende der Erde.“ (Apg.13,46-47)

Hier sehen Paulus und Barnabas im Alten Testament die christliche Heidenmission vorausgesagt. –
Ebenso Jakobus in Apg.15,14-17.

„Das Jerusalem droben aber ist eine Freie, und das ist unsere Mutter. Denn es steht geschrieben: Sei
fröhlich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierst; brich in Jubel aus und jauchze, die du nicht in Wehen
liegst! Denn viele Kinder wird die Vereinsamte haben, mehr als die, welche den Mann hat.“ (Galater
4,26-27)

Paulus wendet dieses Wort aus Jesaja auf die Heidenchristen in Galatien an.

Nun mag ein Dispensationalist einwenden, es handle sich bei solchen apostolischen
Bibelauslegungen um göttlich inspirierte Ausnahmen, die während der apostolischen Dispensation
unter der direkten Leitung des Heiligen Geistes zulässig gewesen seien, heute aber nicht mehr. So
kommt ihm sein eigenes Dispensationen-Schema zu Hilfe, um dasselbe zu retten – wie
Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zog.

Paulus will aber offensichtlich seine Art der Auslegung nicht als Ausnahme verstanden wissen. In
1.Korinther 10 fasst er kurz die Wüstenwanderung Israels nach dem Auszug aus Ägypten zusammen
und sagt dann in Vers 6:

„Diese Dinge aber sind als Vorbilder für uns geschehen, damit wir uns nicht nach Bösem gelüsten
lassen … (usw.)“

Damit wird nicht eine einmalige apostolische inspirierte „Ausnahme-Auslegung“ angesprochen,


sondern ein allgemeines Auslegungsprinzip: Die im Alten Testament berichteten Ereignisse sind
„Vorbilder“ für die christliche Gemeinde.

In einem zweiten Teil werde ich näher auf einige Aspekte der dispensationalistischen Bibelauslegung
eingehen.

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