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I
Marx war bekanntlich kein Vernunftkritiker im spezifisch Kantschen Sinn.
Die Unhaltbarkeit der Versuche einiger neukantianisierender Austromarxisten
zur Zeit der II. Internationale, die Marxsche Methode kantianisch umzudeuten
oder den Marxismus mit der Kantschen Erkenntniskritik von außen her zu ergän-
zen, gilt bereits seit langem als erwiesen, insbesondere nach der Veröffentlichung
der Pariser Manuskripte Marxens aus dem Jahre 1844 und des Rohentwurfs des
Kapitalaus den Jahren 1857—58.
In einem anderen Sinn, nämlich als Kritiker aller spekulativen Philosophie
und insbesondere der Hegeischen Vernunftphilosophie, war allerdings Marx ganz
zweifellos ein „Kritiker der Vernunft". In der Kritik der Hegeischen Vernunft
gab Marx seiner Auffassung der Aufhebung aller traditionellen Metaphysik und
Ontologie Ausdruck, und zwar nicht nur der vorkantischen Ontologie, sondern
auch der von Kant ausgehenden spekulativen Transzendentalphilosophie.
Ich möchte weder die neukantianische Reduktion der Marxschen Methode auf
Kant beleben noch mit Homonymen spielen. Folgende Fragen scheinen mir in
diesem Zusammenhang vor allem wichtig:
Ist Marxens Bruch mit der philosophischen Tradition — was den Typus des
wissenschaftlichen Denkens anlangt — eine Rückkehr zum vorkritizistischen
Denken, zur Ontologie des vorkantischen Typs —, oder ist er ein purer Neube-
ginn im theoretischen Denken ohne Kontinuität zu Kant — oder schließlich,
handelt es sich unter anderem um einen Versuch einer neuen Lösung von Fragen
der Kritik der vorkantischen Metaphysik, einer Kritik, die Kant einleitete ?
Wenn das letztere zutreffen sollte, dann: in welchem Sinn ist die vorwiegend
als Kritik der Hegeischen Vernunftphilosophie ausgedrückte und untrennbar mit
der Kritik der bürgerlichen Ökonomie verbundene Marxsche Kritik der Vernunft
bei aller Diskontinuität und bei allem Radikalismus des Neubeginns doch eine
Fortsetzung und Weiterführung des von Kant eingeschlagenen Weges ?
Welche problemgeschichtlichen Zusammenhänge gibt es in diesem Sinne zwi-
schen Kant und Marx, die beide — ihrem Selbstverständnis nach — eine Revolu-
tion in der wissenschaftlichen Denkart bewirkt haben ?
Ich möchte einige Aspekte dieser Fragen behandeln, und zwar vorwiegend auf
Grund einer Interpretation der Marxschen Entwicklung in den Jahren 1844—45,
von den Pariser Manuskripten zur Deutschen Ideologie, a. h. jener Denkphase, die
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) R. Kroner: Von Kant bis Hegel, 2. Aufl. Tübingen 1961, S. 6.
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5
) MEGA L, Bd. 5, S. 533.
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) „Ideologie" in der Bedeutung, wie sie Marx in der Deutschen Ideologie anwendet.
Vgl. MEGA L, Bd. 5, S. 15, 565, 568 u. a.
22
) Ibid.* S. 16.
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) L. Feuerbach: Grundsätze 5 6.
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2
) Marx — Engels Briefwechsel IV, S. 478, Berlin 1950.
2e
) MEGA L, Bd. 5, S. 498.
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IV
Eine fundamentale und zentrale Rolle im philosophischen Standpunkt, zu dem
Marx in den Thesen über Feuerbach und in der Deutschen Ideologie gelangt, hat also
weder die Frage der Beziehung von „Substanz" und „Subjekt", noch der Begriff
„Mensch überhaupt", noch der Begriff „Materie überhaupt"28), noch sonst ein
„Prinzip" im Sinne der alten Ontologie, sondern die praktische Auffassung der
Wirklichkeit und der Wahrheit. Den Platz der alten vorkritizistischen Ontologie
nimmt die niemals abgeschlossene, mit der Entwicklung der menschlichen mate-
riell-geistigen Praxis immer von neuem notwendigerweise sich erneuernde Unter-
suchung und Klärung der onto-praxeo-logischen Problematik ein, d. h. jener
Problematik, die fragmentär und in embryonaler Form in den Thesen über Feuer-
bach skizziert ist.
In diesem Sinne kann man in Marxens praktischer Auffassung der Wirklichkeit
eine neue Antwort, bzw. den Keim neuer Antworten auf jene Fragen sehen, die
die traditionelle Ontologie und auch die deutsche Transzendentalphilosophie ge-
stellt hatte. Es ist dies eine Antwort, die die Destruktion der vorkantischen „dog-
matischen" Ontologie in wesentlichen Punkten voraussetzt und akzeptiert und
auf einem durch die neuzeitliche Transzendentalphilosophie vorbereiteten Boden
emporwächst.
Der ontopraxeologisch-philosophische Standpunkt Marxens knüpft an das
Gedankenmotiv des Transzendentalismus in der Auffassung Kants dadurch an,
daß Marx, ebenso wie vor ihm Kant, die Gegenständlichkeit, die Wirklichkeit
28
) MEGA L, Bd. 5, S. 83.
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