Sie sind auf Seite 1von 76
Dr. rer. nat. Dieter Martinetz Dr. sc. nat. R. Klaus Miiller Gifte in unserer Hand —————— Blausaure - Lachgas — Dioxin Urania-Verlag Leipzig-Jena Berlin Inhalt SS aS Gijte in der Weltgeschichte 5 Lei Gifte finden und nachweisen — die Entwicklung der toxikologischen Analytik 11 Historische Giftsuche und moderne Analytik 13 Dic Marsh'sche Probe — Anfang yom Ende des »klassischeno Mordgiftes Arsenik 16 Stas und der Nachweis von Pflanzenalkaloiden in Leichenorganen 19 Farbenspicle ersetzen Geschmacksproben auf organische Gifte 23 Promaine oder sLeichenalkaloides — der griGte Riickschlag dee Alkaloidfarbreaktionen 27 Noch cin Farbenspiel - die Chromatographie 29 Optik und Elektronik — dic Ara der modernen instrumentellen Analytik auch beim Giftnachweis 35 Der Januskop| der Chemie — Fortschritt und Risiko Das positive Gesicht 50 Das negative Gesicht 52 Gilte in der Unnwelt gestern und heute Von den alten Griechen bis zum Seveso-Ungliick 59 Von gefihrlichem Ingwerschnaps, Gefahren in Rapsal und Bier 67 Uberall Lésungsmittel 75 Wie gefahrlich ist Dioxin? 82 Problem: Umweltchemikalien 84 Unsichtbare Gefabren — toxische Gase Kohlenmonoxid und Blausiure — die Giftgase der Kriminalromane 100 Die Oxide des Stickstoffs und Schwefels 108 Der Geruch nach faulea Eiern — lebensgefithrlich? 112 Phlangenschutzmittel - gezielte Herstellung von Giften gegen Insekten, Mikroorganismen 114 Arzneimittel als Gifte Heilendes kann auch schaden: Wherdosierung — Mifbrauch — Unvertraglichkeir 118 Sulfonamide — Nebenwirkungen im Visier 126 Analgetika — bei jedem kleinen Schmerz zur Hand? 130 Barbiturate — die oklassischens Selbstmordgifte 133 Psychopharmaka — Sonnenbrillen fiir die Seele? 139 Ein finsteres Kapitel: chemische Kamp|stoffe — die gefdbrlichsten synthetischen Gifte 141 Literatur 150 Gifte in der Weltgeschichte a Wie in alten Schriften nachzulesen ist, stand schon an den pon- tischen, pergamenischen und alexandrinischen Hifen das Wissen um Gifte in hoher Blite; Giftpflanzen wurden kultiviert und deren Wirkung an Tieren, an miGliebigen Zeitgenossen, Verbre- chern und mitunter auch an den jeweiligen Regenten erprobt. Die Erziihlungen von Medea und Kirke berichten von deren Kenntnissen fiber todbringende und heilende Pflanzen in Kolchis. Auch Iberien und Thessalien waren reich an Giftkriutern und sic verarbeitenden Giftmischerinnen. Von den rimischen Kaisern Caligula (12-41) und Caracalla (188-217) ist Gberlicfert, da sie sich fir teures Geld groBe Samm- Jungen von Giften aus dem Orient beschaffen lieBen, (Grof war aber auch die Furcht der Reichen und Gekranten vor dem Meuchelmord mie Gift. Es hat deshalb nie an Versuchen gefehit, sogenannte giftanzeigende Mittel, Vorbeugungsmittel und Gegengifte zu finden. So enthiilt z. B. das altindische Gesetzbuch des Manu (Manava-Dharma-Sastra, lib. VIL, § 217-218) die An- gabe, da® die Augen eines Rebhuhns rot wiirden, wenn man ihm vergiftete Speisen zcigte. Man ordnete an, den Nahrungsmitteln eGegengiftee beizumischen. Es war Mode, Edelsteine zu tragen, die diese Gitewirkungen aufheben kinnten; dancben schitzte man das Horn des sagenumwobenen Einhornes als »toxikologisches Amulet, aber ersatzweise begniigee man sich auch mit dem Nar- walzahn. Ktesias, der Leibarzt des persischen Grobkonigs Artaxer- xex IL, Mnemon, scheieb um 405 y. u. Z., dad die wilden indischen Brel von der Grifte cines Pferdes seien, da sie einen weiben Leib, cinen purpurroten Kopf und auf der Stirn cin Horn von einer Elle Linge besiifen. Wenn man von dicsem Horn Spiine in das Getriink gebe, so kinne man erfahren, ab Gift dacin enthalten 5 sei, und wenn man aus cinem Gefa® trinke, das aus diesem Horn hergestellt sei, so sei man gegen Gift sowie gegen Krankheiten allec Art gefeit. Gemeint ist sehr wahrscheinlich das Hora des Nashorns. An den wertvollen Salzfifchen war an einer kleinen Kette oft- mals cin Schlangenzahn als Giftanzeigers befestigt, der sich jedoch in Wirklichkeit meist als Haifischzahn erwies. Die Zahl der sogenannten giftanzeigenden Mittel stieg beson- ders im Italien des Mittelalters stark an, yon den Hoenchen der Hornviper ber verschiedenste Edcelsteine, Harec, Balsame und fitherische Ole bis zu Kandelabern aus AdierfiiBen, die bei Gift- anwesenheit verléschen sollten. Schon im alten Rom lieBen Herrscher die Speisen von cinem Vetkoster probieren; spiiter waren unter anderen Ludwig XIV, (1638-1715) und XV. (1710-1774) von Frankreich dafir bekannt. Kardinal Richelieu (1585-1642) gab von jeder Speise zuniichst seinen geliebten Katzen. Absoluten Schutz brachte dies freilich nicht, denn wohlweislich wurden auch Gifte gewahit, die erst nach einer gewissen Zeit wirken, Uber Jahrtausende glaubte man an die Wunderwirkung der so- genannten Aléxipharmaka, d.h. Schutz- oder Heilmittel gegen einzelne oder auch alle Gifte. So meinte man im Theriak, dem Antidotum Mithridaticum, der Opium und dazu bis zu 100 wei- tece Ingredienzicn enthielt, cin Universalgegengift gefunden zu haben, das yon Quacksalbern lauthals angepriesen wurde. Nach Uberlieferungen soll das Rezept von Kénig Mithridates von Pon- tos (124-62 v. u. Z.) stammen, Auch viele weltliche und geistliche Hetrscher vertrauten solchen Mitteln. So ist im Zeremonienbuch des byzantinischen Kaisers Kon- stantin VIIL., Porphyrogennetos (905-959) festgelest, dah der Zeremonicnmeister den Theriak, das Hindschin (vermutlich das Gummiharz Asa foetida) und andere giftwidrige Substanzen auf- zubewahren und Vergifteten xu reichen habe. Diese — wenn auch wirkungslosen — VorbeugungsmaGnahmen waren im Altertum und Mictelalter nicht verwunderlich. Die Historie kennt viele groBe Giftmischer, die ihre Opfer mit ver- gifteten Speisen und Frichten titeten, aber auch durch vergiftete Kleidungsstiicke, Briefe, Blumen, Biicher und vicles andere. Einen Hohepunkt erlebte diese Entwicklung im Italien der Renaissancezeit. Genannt seien nur die beriichtigten Familien der Visconti, Sforza und Medici. Orto Lange schreibt in seinem Buch »Mineral- und Pflanzengifrew (Sturtgart, 1929) unter anderem fol- gendes: rEs mutet wie eine Erzahlung aus dem Fabelreich an, 6 wenn man hért, daS... staatlich konzessionierte Vergifter den Dogen von Venedig Preisverzeichnisse vorlegten, in denen die Ver- giftung hervorragender Persénlichkeiten bei garantiert prompter und sorgfiltiger Bedienung zu festen Satzen empfohlen wurde. Papste waren billig; ihre Bescitigung kostete nur 100 Dukaten. Pir dic Vergiftung cincs Sultans dagegen wurden 500 Dukaten gefordert!« Aus literarischen Darstellungen sind als »Giftmischera auch Iwan (IV.) der Schreckliche yon RuBland (1530-1584) und die 1676 in Paris enthauptete Marquise de Brinvillier sehr bekannat peworden, The italienisches Gegenstiick war — ebenfalls im 17. Jahrhun- dert — Teofania di Adamo, genannt Tofana. Nachdem diese in Palermo vermutlich 1709 den Tod erlitten hatte, setzte cine #Schi- letine, die sich ebenfalls Tofana nannte, in Rom deren Geschiift mit cinigen Gehilfinnen fort. Bei der Hincichtung dieser finf Giftmischeginnen sollen gute Pensterplitze zu 30 Dukaten vermietet worden sein. Trotzdem war das noch nicht das Ende ihres Giftes, des eAqua Totanac, einer Arseniklésung, denn 70 Jahre spater stand in Neapel cine Dritte, die sich Tofana nannte, vor Gericht. Sie hatte das Gift als »Manna yon Sankt Nikolaus von Baria in Glasflaschon mit dem Bildnis dieses heiligen Bischofs auch auficrhalb Neapels zum Ver- sand gebracht. Woahclich »gchauste haben dic Giftmischer vom 9. bis 15. Jahr- hundert unter den hohen kirchlichen Wiirdentriigern und Papsten, wobei allerdings die Papste selbst kriftig smitmischtene. Eine der finstersten Gestalten des Papsttums war Alexander VI. (1431 bis 1803) aus der beriichtigten Familie der Borgia, ebenso sein Sohn CAsar (1475-1507). Das Gift der Borgia »Cantarellag enthielt ver- mutlich als Hauptbestandtell arsenige Siure. Im Jahre 1503 fel schlieBlich Alexander selbst ciner Arsenikvergiftung zum Opfer. Eine grofte kulturgeschichtliche Rolle spicltes Gifte auch bei sogenannten Gottesgerichten (im 20. Jahrhundert noch bei vielen Naturvalkern), zB. bei dea Griechen und Rémern zur Zeit des ‘Tacitus (um 55 bis um 120), aber auch in néedlicheren Gefilden waren sic bekannt. So verordnete Karl der Grofe im Jahre 809, dai jedermann dem Urteile Gottes yollkommenen Glauben beimessen solle. 1215 verbor schlieBlich die Kirche Gottesurteile. Die Gottesurteile durch Gifte spielten vor allem in Afrika und Séidamerika cine grofe Rolle. Die Schuld wurde durch den Tod bewiesen, dic Unschuld durch Erbrechen der giftigen Pflanzen- extrakte oder -produkte. In Zentral- und Westafrika diente dazu die Calarbohne (Physo- Stigma venenosurt), die das Alkaloid Physostigmin enthilt. In an- deren Gegenden Afrikas verwendet man dic Alkaloide des Rot- wasserbaumes (Erythropblewm suaveolens), im Kongogebiet Sérychnas-Arten und auf Madagaskar die giftigen Samen des Bau- mes Tenghinia venenifera, der wuf Betehl der damaligen franzd- sischen Behdrden nahezu ausgerottet wurde. Aus Nordamerika wurde die Verwendung der Grinen Nies- wurz, aus Sidamerika die von Sérychnos-Acten bekaunt, Doch das Schicksal der Delinquenten lag haufig in der Hand des Mecizinmannes, der sich sehr gut in den Fragen der Dosierung auskannte oder aber cin Brechmittel beimischen konnte. Dies diirfte Hauptlingen und szahlungskriftigens Verurteilten mitunter das Leben gerettet haben. Aber nicht nur Gottesurteile wurden mit Giften vollzogen, bei bestimmten Vilkerschaften auch Hinricheungen, im alten Pate beispielsweise durch blausdurehaltige Pirsichkerne oder Schlangen- bi. Uber den Tod des Sokrates im Jahre 399 v.u.Z, durch den beriichtigten »Schierlingsbechers wird von Platon (427-347 v. u. Z.) berichtet. Eine sehr grofe Rolle spielten Gifte auch in den halluzinogene Nachtschattengewiichse enthaltenden Hexensalben und Liebesteiin- ken des Altertums und Mittelalters. So stand das Deutschland des 15, Jahrhunderts im Rufe, cin Land voller Zauberer und Hexen ZU Sscin. Bei den Inhaltsstoffen von Liebestrinken handelte es sich ent- weder um Gifte, die in das Zentralnervensystem cingreifen oder in irgendeiner Weise den Geschlechtsapparat direkt krankhafr reizen, Noch im Jahre 1697 verktindete die Leipziger Universitit, da oLiebestrankee und noch mehr omagische Mittele Liebe zu erzwin- gen vermégen. Andererseits: zweifelten aber schon im Altertum aufgeschlossene Geister an ciner solchen Wirkung. So meinte der rémische Dichter Ovid (43 v. u.Z. bis um 18 u. Z.) in seiner »Ars amandie: eDerjenige betriigt sich, der seine Zuflucht zu magischen Kiinsten nimmt... Die Keauter dee Zauberin Medea und die mit magischen Ténen verbundenen Medikamente werden niche bewir- ken, dab die Licbe rege werden Auch Abortiva haben im Altertum und Mittelalter cine oft ver- hiingnisvolle Rolle gespielt und zahlreiche Todesopfer gefordert. Im alten Rom wurden auf die Verabreichung yon Liebestranken und Abortiva Strafarbeit in den Bergwerken und fir die Vorneh- men Verbannung angedroht; tédlicher Ausgang wurde mit dem 8 Tode bestraft, Kaiser Justinian 1. (482-565) stellte die Licbes- trlinke der eZaubereia gleich und bestrafte Personen geringen Stan- des nach dem Lex Corncliaw mit Kreuzigung oder Vorwerfen vor wilde Tiere, Vornchme mit Hinrichrung. Selbst im Preuficn des 18. Jahrhunderts hatte das allgemeine pecufische Landrecht fir die Verabreichung solcher Triinke Stra- fen vorgesehen; rédlicher Ausgang wurde mit 10 bis 15 Jahren Festung geahndet. : Sehr bekannt wurde im Jahre 1680 die Franzisische Hebamme Catherine Voisin, die nicht nur einen schwunghaften Handel mit Giften und Liebestriinken trieb, wobei der Hof des Sonnenkinigs su ihren besten »Kundent zihlte, sondern auch erwa 2 500 Abtrei- bungen vorgenommen hatte, die nicht selten tédlich endeten. Nach ihren eigenen Angaben verwendete sic dabei haupesiichlich Mi- schungen aus Bilsenkeaut, Stechapfel und Spanischen Fliegen, SchlieBlich haben in der Geschichte die Pfgilgifte cine heraus- ragende Rolle spielt, gréBtenteils zur Jagd, aber auch schon ais cine Art chemische Waffe im Kampf, Homer (8. Jahrhundert y. u-Z.) lit Odysseus beispielsweise nach dem korinthischen Rfyea fahren; er solle sich dort mit den menschentétencen Siiften zum Vergiften seiner gefiederten Pfeile versorgen. Pfeilgifte wurden von allen alten Vélkerschaften sowie yon den verschiedensten Naturvélkern verwendet; im alten Europa vor allem Aconitum-Arten, Weibe Mieswurz (Germer), Oleander und Nachtschattenarten, Auf dem Malayischen und Westindischen Archipel war es der Milchsaft des Upasbaumes (Antiaris toxi- caria), in Afrika neben dem Rindenextrakt des Roewasserbaumes — je nach Gegend — Ewpborbia- und Stropbanius-Arten, Acocan- thera-Acten sowie bestimmte sekundae giftige Kafer, Die Indianer Nordamerikas bedienten sich des Klapperschlangengiftes, die siid- amerikanischen Indianer des nahezu legendiren Curare aus Strych- wos- und Chondrodendron-Arten. SchlicBlich haben dic Rauschgifte oder besser -drogen bis heute ihre verhingnisvolle Wirkung beibchalten. Auf alle diese Gifte, die aus dem grofen Reich der Natur stammen, sind wir bercirs in unserem im selben Verlag erschicac- nen Buch »Arsenik, Curare, Coffein. Gifte in unserer Welte. cin- gegangen, ebenso darauf, was man unter einem wGifte versteht. Die wohl wesentlichste Aufgabe der Toxikologie der vergan- genen Jahrhunderte war die Erkennung von Vergiftungen, und nicht selten waren es spektakulare Giftmorde, die zur Entwick- lung der toxikologischen Analytik beigetragen haben, Heute stel- len diese Fragen nur cinen Teilbercich der Toxikologie bew. der 9 toxikologischen Analytik dar, die unter anderem auf dem Sektor der Arbeitssicherheit oder dem komplexen Gebiet der Umwelt- iberwachung Wesentliches leistet, Auf einige wichtige Etappen dieser Entwicklung méchten wir hinweisen, ebenso auf den Nut- zen und die Gefahren von eGiften aus Menschenhande. Einige charakteristische Vecgiftungsfille sollen die Symptomatik und den Nachweis haufig vorkommender Intoxikationen dokumentieren, Der Umfang des Bichleins zwingt uns naturgemaG zu einer star- ken Beschriinkung auf ausgewihlte Beispiele. ES Gifte auffinden und nachweisen— dic Entwicklung der toxikologischen Analytik ET Gifte sind Stoffe mit zwei Gesichterns. Sie wirken nur unter bestimmten Bedingungen schadlich, konnen aber auch heilsam oder nitzlich, ja geradeza unentbehrlich sein. Umgekehrt konnen viele normalerweise als harmlos betrachtete Stoffe — wie Zucker, Koch- salz, Vitamine, Arzneimittel - unter besonderen Umstanden oder bei unsachgemiBer Verwendung (besonders aber bei Uberdosis) giftig, ja tédlich wirken, Die Giftwirkung und sdie Gifter haben also etwas Relatives an sich, das diese Eigenschaften nur unter bestimmten Umstinden auftreten laBt. Umgekehrt sind bestimmte Stoffe nicht unter allen Umastanden Gifte. Hauptsichlich hingt das Auftreten oder Aus- bleiben der Giftwirkung aufler von der Art des Stoffes von dessen Menge (von der Dosis oder der Einwirkungskonzentration und zeit) ab. Dazu kommen weitere Bedingungen, zB, die Verab- reichungsform (Element oder Salz, Wertigkeit, Feststolf, Lésung, Gas oder Staub usw.) und die Art der Aufnahme (Verschlucken, Einatmen, Injektion usw.). Als Kriterium fiir die akute Giftigkeit, die akute Toxizitar, wird daher cine unter normierten Bedingungen an Versuchstieren ermit- telte Dosis (oder Kionzentration) verwendet, Aus mathematisch- statistischen Griinden kénnen am verlafilichsten dic Dosen ermit- telt werden, deren Anwendung die berreffende Wirkung bei 50% der Versuchstiere cintreten lift. So hat sich die sogenannte LDoo (Letaldosissa) als Toxizititema durchgesetet: die Dosis, bei deren Applikation unter den angegebenen Bedingungen 50 "jy der Ver- suchstiere getétet werden, Diese Dosis ist jedoch nuc ein Richtwert und im fbrigen fir jede Tierart unterschiedlich, Riickschliisse auf den Menschen las- gen sich nur mit grofec Vorsicht zichen. Andererseits sind Beob- 11 achtungen von Vergiftungen an Menschen selbstverstiindlich auf das unbeabsichtigte, xufillige Eintreten beschrankt und somit erst recht kaum fir die Binschitzung der Giftigkeit und des Einsatz- risikos von Stoffen gecignet. Neben der akuten Wirkung nach Verabreichung einer einmali- gen Dosis, konnen verschiedene Gifte nach Verabreichung meh- rerer Einzeldosen diber liingere Zeit auch chronische Vergiftungen auslésen. Zunchmendes Augenmerk muf speziell den Auswirkungen ge- ringer Mengen cines kumulierbaren Schadstoffes Gber Jahre, be- sonders seinen mutagenen und carcinogenen Wirkungen geschenkt werden (sogenannte Spatschaden, die aber im Extremfall auch schon nach kurzzeitiger, ja cinmaliger Verabreichung auftreten konnen; vgl. $.94). Wihrend im Extremfall chemische Eingriffe durch Gifte zum Zelltod fahren, kdnnen schon sehr geringe Sti~ tungen durch bestimmee Chemikalien die vermchrungsfihig blei- benden Zellen so werdndern, dali falsche Informationen an dic Tochterzellen weitergegeben werden, entweder im betroffenen Or- ganismus (Carcinogenese), den folgenden Generationen (Muta- genese) oder der Leibesfrucht (Teratogenese). Durch carcinogene Stoffe werden hiufig auch Erbgutanderungen (mutagene Anderun- gen) ausgclést, wobei ursichliche Zusammenhiinge angenommen werden. Jedoch muf nicht jeder carcinogene Stoff cin mutagenes Potential besitzen und umgekehrt. Vom chemischen Standpunkt aus wird das noch komplizierter, da die Gifte keine gemeinsamen chemischen Merkmale (Molekil- aufbau, Reaktionsfahigkeit oder sonstige chemischen Eigenschaf- ten) aufweisen. Gifte finden wir vielmehr in praktisch allen orga- nisch-chemischen Verbindungsklassen, und auch die meisten chemi- schen Elemente kénnen giftige Verbindungen cingehen. Fiir den chemisch-analytischen Nachweis von Giften ist das sehr bedeutsam, denn das Fehlen gemeinsamer — far Gifte charakte- tistischer - chemischer Eigenschaften macht den Nachweis (oder den Ausschlub, den Beweis der Nichtanwesenheit) von Giften schlechthin mit cinfachen Mitteln unmiéglich. Den Chemiker und den Toxikologen wundert das niche — manch- mal begegnet man aber doch noch der illusionaren Ansicht, irgend- ein Teststreifen oder Wundergeriit miisse doch die An- oder Ab- wesenheit von Giften sanzeigeny konnen. So einfach wie beim Aufspiren radioaktiver Elemente geht das aber nicht, und das liegt bei den Giften in dee Natur dee Sache - in der schillernden Vielfalt der »Welt der Giftes, Pir die Praxis des Giftnachweises sind dicse Tatsachen aber 12 lediglich dann cin Problem, wenn auf Gifte ganz allgemein (2. B. ohne gecichteten Verdacht auf die fiir cinen fraglichen Vergiftungs- fall in Betracht kommenden Ursache) untersucht werden soll, Das ist bei bewuftlos in Kliniken eingelieferten Patienten ebenso hiiu- fig der Fall wie bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung un- klarer Todesfille. Fir diese »Problemfille des Vergiftungsnach- weisese sind aufwendige Verfahren erforderlich, dic angesichts der groBen und noch wachsenden Zahl von stoxikologische rele- vantene! Seoffen in unserer Umwelt stindig weiterentwickelt wer- den miissen. Dazu bendtigt man cin ganzes Arsenal analytischer Methoden — Icider meist auch teurer Geriite — und breitangelegte, systematisch betriebene Forschungsarbeiten als Vorlauf. Die meisten toxikologischen Fragestellungen sind allerdings analytisch viel leichter zu lisen; meist geht cs um den empfind- lichen und sicheren Nachweis cinzelner Gifte und deren verlall- liche Konzentrationsbestimmung. Hierfiie erdffmet die moderne chemische Analytik — insbesondere mit den instrumentellen Ana- lysenverfahren — faszinierende Méglichkeiten. Historische Giftsuche und moderne Analytik Die Entwicklung der exakten analytischen Methoden zum Gift- nachweis hat im vorigen Jahrhundert cingesetzt und in den letzten Jahezehnten mit einer kaum mehr tiberschaubaren Zahl der unter- schiedlichen. Verfahren den Nachweis praktisch aller Gifte und Vergiftungen erméglicht. Die Zunahme der Méglichkeiten des Giftnachweises hat offen- bar sogar die Haufigkeiten der cinzelnen Vergiftungsarten beein~ fluSt und daciber hinaus viele Gefdhrdungen durch toxische Stoffe (z. B. bei beruflichem Umgang oder in der Umwelt) erst erkennen lassen, Gebérten friher Giftmorde gewissermaften zum Alltig- lichen, sind sie heute — wohl nicht zuletzt wegen der exakten Nach- ! Toxikologisch relevant sind solche Stoffe, dic unter Umstinden toxisch (giftig) wirken, also toxikologisch bedeuteam oder interessant sind. Dieser Begriff trigt der eelliueerten Tatsache Rechnung, dafh gemeinhin nicht als eGiftes beaeichnete Stoffe wie Arzneimirtel usw. doch zu Vergifrungen fih- ret kinnen. Sowoh! die Untersuchung und Charakterisierung der Toxizitit (Giftigkeit) als auch der analytischen Nachweisbarkeit sind daher fiir viel mehr Staffe als fir die Gifte in unserem Sinne (ccwa dic im Giftgersetz aufgefitrten) notwendig. 13

Das könnte Ihnen auch gefallen