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Gifte in der Weltgeschichte, Historische Giftsuche und moderne Analytik, Farbenspiele ersetzen Geschmacksproben auf organische Gifte, Optik und Elektronik, die Ära der modernen instrumentellen Analytik, Januskopf der Chemie, von den alten Griechen bis um Seveso Unglück, Wie gefährlich ist Dioxin ?, Barbiturate die klassischen Selbstmordgifte, Psychopharmaka - Sonnenbrillen für die Seele ?
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Gifte in der Weltgeschichte, Historische Giftsuche und moderne Analytik, Farbenspiele ersetzen Geschmacksproben auf organische Gifte, Optik und Elektronik, die Ära der modernen instrumentellen Analytik, Januskopf der Chemie, von den alten Griechen bis um Seveso Unglück, Wie gefährlich ist Dioxin ?, Barbiturate die klassischen Selbstmordgifte, Psychopharmaka - Sonnenbrillen für die Seele ?
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Dr. rer. nat. Dieter Martinetz
Dr. sc. nat. R. Klaus Miiller
Gifte in unserer Hand
——————
Blausaure - Lachgas — Dioxin
Urania-Verlag Leipzig-Jena BerlinInhalt
SS aS
Gijte in der Weltgeschichte 5 Lei
Gifte finden und nachweisen — die Entwicklung der
toxikologischen Analytik 11
Historische Giftsuche und moderne Analytik 13
Dic Marsh'sche Probe — Anfang yom Ende des »klassischeno
Mordgiftes Arsenik 16
Stas und der Nachweis von Pflanzenalkaloiden
in Leichenorganen 19
Farbenspicle ersetzen Geschmacksproben auf organische
Gifte 23
Promaine oder sLeichenalkaloides — der griGte Riickschlag dee
Alkaloidfarbreaktionen 27
Noch cin Farbenspiel - die Chromatographie 29
Optik und Elektronik — dic Ara der modernen instrumentellen
Analytik auch beim Giftnachweis 35
Der Januskop| der Chemie — Fortschritt und Risiko
Das positive Gesicht 50
Das negative Gesicht 52
Gilte in der Unnwelt gestern und heute
Von den alten Griechen bis zum Seveso-Ungliick 59
Von gefihrlichem Ingwerschnaps, Gefahren in Rapsal
und Bier 67
Uberall Lésungsmittel 75
Wie gefahrlich ist Dioxin? 82
Problem: Umweltchemikalien 84Unsichtbare Gefabren — toxische Gase
Kohlenmonoxid und Blausiure — die Giftgase der
Kriminalromane 100
Die Oxide des Stickstoffs und Schwefels 108
Der Geruch nach faulea Eiern — lebensgefithrlich? 112
Phlangenschutzmittel - gezielte Herstellung von Giften
gegen Insekten, Mikroorganismen 114
Arzneimittel als Gifte
Heilendes kann auch schaden: Wherdosierung — Mifbrauch —
Unvertraglichkeir 118
Sulfonamide — Nebenwirkungen im Visier 126
Analgetika — bei jedem kleinen Schmerz zur Hand? 130
Barbiturate — die oklassischens Selbstmordgifte 133
Psychopharmaka — Sonnenbrillen fiir die Seele? 139
Ein finsteres Kapitel: chemische Kamp|stoffe — die
gefdbrlichsten synthetischen Gifte 141
Literatur 150
Gifte in der Weltgeschichte
a
Wie in alten Schriften nachzulesen ist, stand schon an den pon-
tischen, pergamenischen und alexandrinischen Hifen das Wissen
um Gifte in hoher Blite; Giftpflanzen wurden kultiviert und
deren Wirkung an Tieren, an miGliebigen Zeitgenossen, Verbre-
chern und mitunter auch an den jeweiligen Regenten erprobt.
Die Erziihlungen von Medea und Kirke berichten von deren
Kenntnissen fiber todbringende und heilende Pflanzen in Kolchis.
Auch Iberien und Thessalien waren reich an Giftkriutern und sic
verarbeitenden Giftmischerinnen.
Von den rimischen Kaisern Caligula (12-41) und Caracalla
(188-217) ist Gberlicfert, da sie sich fir teures Geld groBe Samm-
Jungen von Giften aus dem Orient beschaffen lieBen,
(Grof war aber auch die Furcht der Reichen und Gekranten vor
dem Meuchelmord mie Gift. Es hat deshalb nie an Versuchen
gefehit, sogenannte giftanzeigende Mittel, Vorbeugungsmittel und
Gegengifte zu finden. So enthiilt z. B. das altindische Gesetzbuch
des Manu (Manava-Dharma-Sastra, lib. VIL, § 217-218) die An-
gabe, da® die Augen eines Rebhuhns rot wiirden, wenn man ihm
vergiftete Speisen zcigte. Man ordnete an, den Nahrungsmitteln
eGegengiftee beizumischen. Es war Mode, Edelsteine zu tragen,
die diese Gitewirkungen aufheben kinnten; dancben schitzte man
das Horn des sagenumwobenen Einhornes als »toxikologisches
Amulet, aber ersatzweise begniigee man sich auch mit dem Nar-
walzahn. Ktesias, der Leibarzt des persischen Grobkonigs Artaxer-
xex IL, Mnemon, scheieb um 405 y. u. Z., dad die wilden indischen
Brel von der Grifte cines Pferdes seien, da sie einen weiben
Leib, cinen purpurroten Kopf und auf der Stirn cin Horn von
einer Elle Linge besiifen. Wenn man von dicsem Horn Spiine in
das Getriink gebe, so kinne man erfahren, ab Gift dacin enthalten
5sei, und wenn man aus cinem Gefa® trinke, das aus diesem Horn
hergestellt sei, so sei man gegen Gift sowie gegen Krankheiten
allec Art gefeit. Gemeint ist sehr wahrscheinlich das Hora des
Nashorns.
An den wertvollen Salzfifchen war an einer kleinen Kette oft-
mals cin Schlangenzahn als Giftanzeigers befestigt, der sich jedoch
in Wirklichkeit meist als Haifischzahn erwies.
Die Zahl der sogenannten giftanzeigenden Mittel stieg beson-
ders im Italien des Mittelalters stark an, yon den Hoenchen der
Hornviper ber verschiedenste Edcelsteine, Harec, Balsame und
fitherische Ole bis zu Kandelabern aus AdierfiiBen, die bei Gift-
anwesenheit verléschen sollten.
Schon im alten Rom lieBen Herrscher die Speisen von cinem
Vetkoster probieren; spiiter waren unter anderen Ludwig XIV,
(1638-1715) und XV. (1710-1774) von Frankreich dafir bekannt.
Kardinal Richelieu (1585-1642) gab von jeder Speise zuniichst
seinen geliebten Katzen. Absoluten Schutz brachte dies freilich
nicht, denn wohlweislich wurden auch Gifte gewahit, die erst nach
einer gewissen Zeit wirken,
Uber Jahrtausende glaubte man an die Wunderwirkung der so-
genannten Aléxipharmaka, d.h. Schutz- oder Heilmittel gegen
einzelne oder auch alle Gifte. So meinte man im Theriak, dem
Antidotum Mithridaticum, der Opium und dazu bis zu 100 wei-
tece Ingredienzicn enthielt, cin Universalgegengift gefunden zu
haben, das yon Quacksalbern lauthals angepriesen wurde. Nach
Uberlieferungen soll das Rezept von Kénig Mithridates von Pon-
tos (124-62 v. u. Z.) stammen,
Auch viele weltliche und geistliche Hetrscher vertrauten solchen
Mitteln. So ist im Zeremonienbuch des byzantinischen Kaisers Kon-
stantin VIIL., Porphyrogennetos (905-959) festgelest, dah der
Zeremonicnmeister den Theriak, das Hindschin (vermutlich das
Gummiharz Asa foetida) und andere giftwidrige Substanzen auf-
zubewahren und Vergifteten xu reichen habe.
Diese — wenn auch wirkungslosen — VorbeugungsmaGnahmen
waren im Altertum und Mictelalter nicht verwunderlich. Die
Historie kennt viele groBe Giftmischer, die ihre Opfer mit ver-
gifteten Speisen und Frichten titeten, aber auch durch vergiftete
Kleidungsstiicke, Briefe, Blumen, Biicher und vicles andere.
Einen Hohepunkt erlebte diese Entwicklung im Italien der
Renaissancezeit. Genannt seien nur die beriichtigten Familien der
Visconti, Sforza und Medici. Orto Lange schreibt in seinem Buch
»Mineral- und Pflanzengifrew (Sturtgart, 1929) unter anderem fol-
gendes: rEs mutet wie eine Erzahlung aus dem Fabelreich an,
6
wenn man hért, daS... staatlich konzessionierte Vergifter den
Dogen von Venedig Preisverzeichnisse vorlegten, in denen die Ver-
giftung hervorragender Persénlichkeiten bei garantiert prompter
und sorgfiltiger Bedienung zu festen Satzen empfohlen wurde.
Papste waren billig; ihre Bescitigung kostete nur 100 Dukaten.
Pir dic Vergiftung cincs Sultans dagegen wurden 500 Dukaten
gefordert!« Aus literarischen Darstellungen sind als »Giftmischera
auch Iwan (IV.) der Schreckliche yon RuBland (1530-1584) und
die 1676 in Paris enthauptete Marquise de Brinvillier sehr bekannat
peworden,
The italienisches Gegenstiick war — ebenfalls im 17. Jahrhun-
dert — Teofania di Adamo, genannt Tofana. Nachdem diese in
Palermo vermutlich 1709 den Tod erlitten hatte, setzte cine #Schi-
letine, die sich ebenfalls Tofana nannte, in Rom deren Geschiift
mit cinigen Gehilfinnen fort.
Bei der Hincichtung dieser finf Giftmischeginnen sollen gute
Pensterplitze zu 30 Dukaten vermietet worden sein. Trotzdem
war das noch nicht das Ende ihres Giftes, des eAqua Totanac,
einer Arseniklésung, denn 70 Jahre spater stand in Neapel cine
Dritte, die sich Tofana nannte, vor Gericht. Sie hatte das Gift als
»Manna yon Sankt Nikolaus von Baria in Glasflaschon mit dem
Bildnis dieses heiligen Bischofs auch auficrhalb Neapels zum Ver-
sand gebracht.
Woahclich »gchauste haben dic Giftmischer vom 9. bis 15. Jahr-
hundert unter den hohen kirchlichen Wiirdentriigern und Papsten,
wobei allerdings die Papste selbst kriftig smitmischtene. Eine der
finstersten Gestalten des Papsttums war Alexander VI. (1431 bis
1803) aus der beriichtigten Familie der Borgia, ebenso sein Sohn
CAsar (1475-1507). Das Gift der Borgia »Cantarellag enthielt ver-
mutlich als Hauptbestandtell arsenige Siure. Im Jahre 1503 fel
schlieBlich Alexander selbst ciner Arsenikvergiftung zum Opfer.
Eine grofte kulturgeschichtliche Rolle spicltes Gifte auch bei
sogenannten Gottesgerichten (im 20. Jahrhundert noch bei vielen
Naturvalkern), zB. bei dea Griechen und Rémern zur Zeit des
‘Tacitus (um 55 bis um 120), aber auch in néedlicheren Gefilden
waren sic bekannt.
So verordnete Karl der Grofe im Jahre 809, dai jedermann
dem Urteile Gottes yollkommenen Glauben beimessen solle. 1215
verbor schlieBlich die Kirche Gottesurteile.
Die Gottesurteile durch Gifte spielten vor allem in Afrika und
Séidamerika cine grofe Rolle. Die Schuld wurde durch den Tod
bewiesen, dic Unschuld durch Erbrechen der giftigen Pflanzen-
extrakte oder -produkte.In Zentral- und Westafrika diente dazu die Calarbohne (Physo-
Stigma venenosurt), die das Alkaloid Physostigmin enthilt. In an-
deren Gegenden Afrikas verwendet man dic Alkaloide des Rot-
wasserbaumes (Erythropblewm suaveolens), im Kongogebiet
Sérychnas-Arten und auf Madagaskar die giftigen Samen des Bau-
mes Tenghinia venenifera, der wuf Betehl der damaligen franzd-
sischen Behdrden nahezu ausgerottet wurde.
Aus Nordamerika wurde die Verwendung der Grinen Nies-
wurz, aus Sidamerika die von Sérychnos-Acten bekaunt,
Doch das Schicksal der Delinquenten lag haufig in der Hand
des Mecizinmannes, der sich sehr gut in den Fragen der Dosierung
auskannte oder aber cin Brechmittel beimischen konnte. Dies
diirfte Hauptlingen und szahlungskriftigens Verurteilten mitunter
das Leben gerettet haben.
Aber nicht nur Gottesurteile wurden mit Giften vollzogen, bei
bestimmten Vilkerschaften auch Hinricheungen, im alten Pate
beispielsweise durch blausdurehaltige Pirsichkerne oder Schlangen-
bi. Uber den Tod des Sokrates im Jahre 399 v.u.Z, durch den
beriichtigten »Schierlingsbechers wird von Platon (427-347 v. u. Z.)
berichtet.
Eine sehr grofe Rolle spielten Gifte auch in den halluzinogene
Nachtschattengewiichse enthaltenden Hexensalben und Liebesteiin-
ken des Altertums und Mittelalters. So stand das Deutschland des
15, Jahrhunderts im Rufe, cin Land voller Zauberer und Hexen
ZU Sscin.
Bei den Inhaltsstoffen von Liebestrinken handelte es sich ent-
weder um Gifte, die in das Zentralnervensystem cingreifen oder
in irgendeiner Weise den Geschlechtsapparat direkt krankhafr
reizen,
Noch im Jahre 1697 verktindete die Leipziger Universitit, da
oLiebestrankee und noch mehr omagische Mittele Liebe zu erzwin-
gen vermégen. Andererseits: zweifelten aber schon im Altertum
aufgeschlossene Geister an ciner solchen Wirkung. So meinte der
rémische Dichter Ovid (43 v. u.Z. bis um 18 u. Z.) in seiner »Ars
amandie: eDerjenige betriigt sich, der seine Zuflucht zu magischen
Kiinsten nimmt... Die Keauter dee Zauberin Medea und die mit
magischen Ténen verbundenen Medikamente werden niche bewir-
ken, dab die Licbe rege werden
Auch Abortiva haben im Altertum und Mittelalter cine oft ver-
hiingnisvolle Rolle gespielt und zahlreiche Todesopfer gefordert.
Im alten Rom wurden auf die Verabreichung yon Liebestranken
und Abortiva Strafarbeit in den Bergwerken und fir die Vorneh-
men Verbannung angedroht; tédlicher Ausgang wurde mit dem
8
Tode bestraft, Kaiser Justinian 1. (482-565) stellte die Licbes-
trlinke der eZaubereia gleich und bestrafte Personen geringen Stan-
des nach dem Lex Corncliaw mit Kreuzigung oder Vorwerfen vor
wilde Tiere, Vornchme mit Hinrichrung.
Selbst im Preuficn des 18. Jahrhunderts hatte das allgemeine
pecufische Landrecht fir die Verabreichung solcher Triinke Stra-
fen vorgesehen; rédlicher Ausgang wurde mit 10 bis 15 Jahren
Festung geahndet. :
Sehr bekannt wurde im Jahre 1680 die Franzisische Hebamme
Catherine Voisin, die nicht nur einen schwunghaften Handel mit
Giften und Liebestriinken trieb, wobei der Hof des Sonnenkinigs
su ihren besten »Kundent zihlte, sondern auch erwa 2 500 Abtrei-
bungen vorgenommen hatte, die nicht selten tédlich endeten. Nach
ihren eigenen Angaben verwendete sic dabei haupesiichlich Mi-
schungen aus Bilsenkeaut, Stechapfel und Spanischen Fliegen,
SchlieBlich haben in der Geschichte die Pfgilgifte cine heraus-
ragende Rolle spielt, gréBtenteils zur Jagd, aber auch schon ais
cine Art chemische Waffe im Kampf, Homer (8. Jahrhundert y. u-Z.)
lit Odysseus beispielsweise nach dem korinthischen Rfyea fahren;
er solle sich dort mit den menschentétencen Siiften zum Vergiften
seiner gefiederten Pfeile versorgen.
Pfeilgifte wurden von allen alten Vélkerschaften sowie yon
den verschiedensten Naturvélkern verwendet; im alten Europa
vor allem Aconitum-Arten, Weibe Mieswurz (Germer), Oleander
und Nachtschattenarten, Auf dem Malayischen und Westindischen
Archipel war es der Milchsaft des Upasbaumes (Antiaris toxi-
caria), in Afrika neben dem Rindenextrakt des Roewasserbaumes —
je nach Gegend — Ewpborbia- und Stropbanius-Arten, Acocan-
thera-Acten sowie bestimmte sekundae giftige Kafer, Die Indianer
Nordamerikas bedienten sich des Klapperschlangengiftes, die siid-
amerikanischen Indianer des nahezu legendiren Curare aus Strych-
wos- und Chondrodendron-Arten.
SchlicBlich haben dic Rauschgifte oder besser -drogen bis heute
ihre verhingnisvolle Wirkung beibchalten.
Auf alle diese Gifte, die aus dem grofen Reich der Natur
stammen, sind wir bercirs in unserem im selben Verlag erschicac-
nen Buch »Arsenik, Curare, Coffein. Gifte in unserer Welte. cin-
gegangen, ebenso darauf, was man unter einem wGifte versteht.
Die wohl wesentlichste Aufgabe der Toxikologie der vergan-
genen Jahrhunderte war die Erkennung von Vergiftungen, und
nicht selten waren es spektakulare Giftmorde, die zur Entwick-
lung der toxikologischen Analytik beigetragen haben, Heute stel-
len diese Fragen nur cinen Teilbercich der Toxikologie bew. der
9toxikologischen Analytik dar, die unter anderem auf dem Sektor
der Arbeitssicherheit oder dem komplexen Gebiet der Umwelt-
iberwachung Wesentliches leistet, Auf einige wichtige Etappen
dieser Entwicklung méchten wir hinweisen, ebenso auf den Nut-
zen und die Gefahren von eGiften aus Menschenhande. Einige
charakteristische Vecgiftungsfille sollen die Symptomatik und den
Nachweis haufig vorkommender Intoxikationen dokumentieren,
Der Umfang des Bichleins zwingt uns naturgemaG zu einer star-
ken Beschriinkung auf ausgewihlte Beispiele.
ES
Gifte auffinden und nachweisen—
dic Entwicklung der toxikologischen Analytik
ET
Gifte sind Stoffe mit zwei Gesichterns. Sie wirken nur unter
bestimmten Bedingungen schadlich, konnen aber auch heilsam oder
nitzlich, ja geradeza unentbehrlich sein. Umgekehrt konnen viele
normalerweise als harmlos betrachtete Stoffe — wie Zucker, Koch-
salz, Vitamine, Arzneimittel - unter besonderen Umstanden oder
bei unsachgemiBer Verwendung (besonders aber bei Uberdosis)
giftig, ja tédlich wirken,
Die Giftwirkung und sdie Gifter haben also etwas Relatives
an sich, das diese Eigenschaften nur unter bestimmten Umstinden
auftreten laBt. Umgekehrt sind bestimmte Stoffe nicht unter allen
Umastanden Gifte. Hauptsichlich hingt das Auftreten oder Aus-
bleiben der Giftwirkung aufler von der Art des Stoffes von dessen
Menge (von der Dosis oder der Einwirkungskonzentration und
zeit) ab. Dazu kommen weitere Bedingungen, zB, die Verab-
reichungsform (Element oder Salz, Wertigkeit, Feststolf, Lésung,
Gas oder Staub usw.) und die Art der Aufnahme (Verschlucken,
Einatmen, Injektion usw.).
Als Kriterium fiir die akute Giftigkeit, die akute Toxizitar, wird
daher cine unter normierten Bedingungen an Versuchstieren ermit-
telte Dosis (oder Kionzentration) verwendet, Aus mathematisch-
statistischen Griinden kénnen am verlafilichsten dic Dosen ermit-
telt werden, deren Anwendung die berreffende Wirkung bei 50%
der Versuchstiere cintreten lift. So hat sich die sogenannte LDoo
(Letaldosissa) als Toxizititema durchgesetet: die Dosis, bei deren
Applikation unter den angegebenen Bedingungen 50 "jy der Ver-
suchstiere getétet werden,
Diese Dosis ist jedoch nuc ein Richtwert und im fbrigen fir
jede Tierart unterschiedlich, Riickschliisse auf den Menschen las-
gen sich nur mit grofec Vorsicht zichen. Andererseits sind Beob-
11achtungen von Vergiftungen an Menschen selbstverstiindlich auf
das unbeabsichtigte, xufillige Eintreten beschrankt und somit erst
recht kaum fir die Binschitzung der Giftigkeit und des Einsatz-
risikos von Stoffen gecignet.
Neben der akuten Wirkung nach Verabreichung einer einmali-
gen Dosis, konnen verschiedene Gifte nach Verabreichung meh-
rerer Einzeldosen diber liingere Zeit auch chronische Vergiftungen
auslésen.
Zunchmendes Augenmerk muf speziell den Auswirkungen ge-
ringer Mengen cines kumulierbaren Schadstoffes Gber Jahre, be-
sonders seinen mutagenen und carcinogenen Wirkungen geschenkt
werden (sogenannte Spatschaden, die aber im Extremfall auch
schon nach kurzzeitiger, ja cinmaliger Verabreichung auftreten
konnen; vgl. $.94). Wihrend im Extremfall chemische Eingriffe
durch Gifte zum Zelltod fahren, kdnnen schon sehr geringe Sti~
tungen durch bestimmee Chemikalien die vermchrungsfihig blei-
benden Zellen so werdndern, dali falsche Informationen an dic
Tochterzellen weitergegeben werden, entweder im betroffenen Or-
ganismus (Carcinogenese), den folgenden Generationen (Muta-
genese) oder der Leibesfrucht (Teratogenese). Durch carcinogene
Stoffe werden hiufig auch Erbgutanderungen (mutagene Anderun-
gen) ausgclést, wobei ursichliche Zusammenhiinge angenommen
werden. Jedoch muf nicht jeder carcinogene Stoff cin mutagenes
Potential besitzen und umgekehrt.
Vom chemischen Standpunkt aus wird das noch komplizierter,
da die Gifte keine gemeinsamen chemischen Merkmale (Molekil-
aufbau, Reaktionsfahigkeit oder sonstige chemischen Eigenschaf-
ten) aufweisen. Gifte finden wir vielmehr in praktisch allen orga-
nisch-chemischen Verbindungsklassen, und auch die meisten chemi-
schen Elemente kénnen giftige Verbindungen cingehen.
Fiir den chemisch-analytischen Nachweis von Giften ist das sehr
bedeutsam, denn das Fehlen gemeinsamer — far Gifte charakte-
tistischer - chemischer Eigenschaften macht den Nachweis (oder
den Ausschlub, den Beweis der Nichtanwesenheit) von Giften
schlechthin mit cinfachen Mitteln unmiéglich.
Den Chemiker und den Toxikologen wundert das niche — manch-
mal begegnet man aber doch noch der illusionaren Ansicht, irgend-
ein Teststreifen oder Wundergeriit miisse doch die An- oder Ab-
wesenheit von Giften sanzeigeny konnen. So einfach wie beim
Aufspiren radioaktiver Elemente geht das aber nicht, und das
liegt bei den Giften in dee Natur dee Sache - in der schillernden
Vielfalt der »Welt der Giftes,
Pir die Praxis des Giftnachweises sind dicse Tatsachen aber
12
lediglich dann cin Problem, wenn auf Gifte ganz allgemein (2. B.
ohne gecichteten Verdacht auf die fiir cinen fraglichen Vergiftungs-
fall in Betracht kommenden Ursache) untersucht werden soll, Das
ist bei bewuftlos in Kliniken eingelieferten Patienten ebenso hiiu-
fig der Fall wie bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung un-
klarer Todesfille. Fir diese »Problemfille des Vergiftungsnach-
weisese sind aufwendige Verfahren erforderlich, dic angesichts
der groBen und noch wachsenden Zahl von stoxikologische rele-
vantene! Seoffen in unserer Umwelt stindig weiterentwickelt wer-
den miissen. Dazu bendtigt man cin ganzes Arsenal analytischer
Methoden — Icider meist auch teurer Geriite — und breitangelegte,
systematisch betriebene Forschungsarbeiten als Vorlauf.
Die meisten toxikologischen Fragestellungen sind allerdings
analytisch viel leichter zu lisen; meist geht cs um den empfind-
lichen und sicheren Nachweis cinzelner Gifte und deren verlall-
liche Konzentrationsbestimmung. Hierfiie erdffmet die moderne
chemische Analytik — insbesondere mit den instrumentellen Ana-
lysenverfahren — faszinierende Méglichkeiten.
Historische Giftsuche und moderne Analytik
Die Entwicklung der exakten analytischen Methoden zum Gift-
nachweis hat im vorigen Jahrhundert cingesetzt und in den letzten
Jahezehnten mit einer kaum mehr tiberschaubaren Zahl der unter-
schiedlichen. Verfahren den Nachweis praktisch aller Gifte und
Vergiftungen erméglicht.
Die Zunahme der Méglichkeiten des Giftnachweises hat offen-
bar sogar die Haufigkeiten der cinzelnen Vergiftungsarten beein~
fluSt und daciber hinaus viele Gefdhrdungen durch toxische Stoffe
(z. B. bei beruflichem Umgang oder in der Umwelt) erst erkennen
lassen, Gebérten friher Giftmorde gewissermaften zum Alltig-
lichen, sind sie heute — wohl nicht zuletzt wegen der exakten Nach-
! Toxikologisch relevant sind solche Stoffe, dic unter Umstinden toxisch
(giftig) wirken, also toxikologisch bedeuteam oder interessant sind. Dieser
Begriff trigt der eelliueerten Tatsache Rechnung, dafh gemeinhin nicht als
eGiftes beaeichnete Stoffe wie Arzneimirtel usw. doch zu Vergifrungen fih-
ret kinnen.
Sowoh! die Untersuchung und Charakterisierung der Toxizitit (Giftigkeit)
als auch der analytischen Nachweisbarkeit sind daher fiir viel mehr Staffe
als fir die Gifte in unserem Sinne (ccwa dic im Giftgersetz aufgefitrten)
notwendig.
13