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Die Zeit um 1900 wird oft als eine schaftliche MaBnahmen (Gesetze, Ge-

: Peter Weibel Z Glanzzeit der Wiener Universitat be- nossenschaften) verhindert werden.
: DAS GOLDENE \ zeichnet. Vor allem zwei Wissenschaft- Hier tritt die Reformtàtigkeit in Kraft,
: QUADRUPEL: ler und Philosophen waren es, namlich die sich auf okonomische wie kulturelle
: PHYSIK, PH ILO SO PH IE, \ Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, Angelegenheiten gleichermaBen er-
: e r k e n n t n is t h e o r ie , : welche dem kulturellen Leben Wiens streckt. Auf diese Formel, das System
: SPRACHKRITIK f um 1900 wesentliche Impulse sowohl zwar nicht zu verândern, aber zu ver­
: Die Sch welle Z durch ihre Schriften und Vorlesungen bes sern, konnten sich sowohl Katholi-
■ des 20. Jahrhunderts: ■ wie auch durch ihre Schüler gegeben ken wie auch nichtmarxistische Soziali-
■ Wissenschaftliche Z haben. So nimmt es nicht wunder, daB sten einigen. Die sozialpolitische, die
■ Weltauffassung in Wien ■ Boltzmann 1903 Nachfolger von Mach Frauen-, die Volksbildungs- und die
; um 1900 ( f f l P ' f j Z auf dessen Lehrstuhl fur Geschichte ethische Bewegung sind nur einige Bei-
und Théorie der induktiven Wissen- spiele dafür. 1891 wurde in Anlehnung
u ,« . (> w vJ schaften wurde, wenngleich unter dem an die Fabian Society (G. B. Shaw, S.
anderen Titel „Methode und allgemei- und B. Webb etc.) die „Wiener Fabier-
ne Théorie der Naturwissenschaften“. Gesellschaft“ ins Leben gerufen (Engel-
Für die Entwicklung einer wissen- bert Pernerstorfer, Michael Hainisch
schaftlichen Weltauffassung war Wien etc.). Eines ihrer publizistischen Orga­
um 1900 aus geistesgeschichtlichen und ne war die „Zeit“, redigiert unter ande­
sozialpolitischen Gründen ein beson- ren von Hermann Bahr. Aus den Krei-
ders geeigneter Boden. Denn der Libe- sen der Fabier ging die Sozialpolitische
ralismus war die Anschauung, die nicht Partei hervor. Die starlcsten Person-
nur die meisten Institutionen des of- lichkeiten der Frauenbewegung waren
fentlichen Lebens formte und durch- Rosa Mayreder und Marianne Hai­
drang, sondern auch die beherrschende nisch, die Mutter Michael Hainischs.
politische Richtung der wichtigsten 1894 wurde die „Wiener Ethische Ge-
Kreise des GroBbürgertums, aus dem ja sellschaft“ gegründet. Diese wie der
die Wissenschaft entspringt. Die libera­ Yerein „Freie Schule“ (unter anderen
le Gedankenwelt entstammt der Auf- Pernerstorfer, der Historiker Ludo
klârung, dem Empirismus, Utilitaris- Hartmann) kâmpften gegen die Kleri-
mus und der Freihandelsbewegung kalisierung der Volksschule an.
Englands. Dem Geist der Aufklârung verdankt
Andere groBbürgerliche Kreise sind Wien auch seine Führung in der wis-
christlichsozial oder deutschnational senschaftlich orientierten Volksbil-
orientiert. Die Arbeiterschaft ist in der dung. Volksbildungs vereine (seit
Hauptsache sozialistisch ausgerichtet 1885), volkstümliche Universitatskur-
Das Kleinbürgertum ist liberal, christ­ se, Yolkshochschulen, Volksheime
lichsozial und deutschnational, nur ge- (1904) wurden unter Mitwirkung von
ringfügig sozialdemokratisch gesinnt. Victor Adler, Friedrich Jodl und Ludo
Hat der Liberalismus Freiheit, Gleich- Hartmann gegründet.
heit und Brüderlichkeit auf dem Boden In der Wiener liberalen Bewegung stan-
des Privateigentums der Produktions- den Gelehrte von Weltruf an führender
mittel gesehen, ist für den Sozialismus Stelle (Theodor Gomperz, F. Jodl und
Gustav Klimt. ,,Philosophie." Erstes der das Privateigentum die Quelle aller ge- andere). Hier wurden antimetaphysi-
dreifürden grofien Festsaal der Universitat sellschaftlichen MiBstânde, kann also scher Geist und soziale Reform ver-
bestimmten Fakultatsbilder. 1899/1907. nur die Vergesellschaftung der Produk- knüpft. In Friedrich Jodl (1849-1914),
,'rU/Lw. 430x 300 cm. tionsmittel Freiheit, Gleichheit und seit 1896 Professor an der Wiener Uni­
Brüderlichkeit herstellen. Zwischen versitat und Dozent für Asthetik an der
diese beiden Standpunkte schiebt sich Technischen Hochschule, ist ein Sym­
die Reformlehre, eine Art radikaler Li­ bol des Zusammenhanges zwischen
beralismus, der sich aus unzufriedenen den verschiedenen Reformbewegungen
klein- und groBbürgerlichen Schichten (von der „Freien Schule“ bis zur Sozial­
rekrutiert. Die Vorteile und Moglich- politischen Partei) zu sehen. Seine Bû­
keiten der Privatinitiative sollen zwar cher „Leben und Philosophie David
erhalten bleiben, aber die nachteiligen Humes“ (1872), „Ludwig Feuerbach“
Wirkungen des Kapitalismus sollen (1904), „Allgemeine.Ethik“ (1918) zei-
durch staatliche wie durch rein gesell- gen ihn als materialistischen Empiriker
und Aufklârer im Bestreben nach so- ermessen: in Wien Boltzmann, Adolf
zialer Gerechtigkeit. Sein Schüler war Stohr, M. Schlick, in Prag Einstein, Ph.
übrigens Otto Weininger (1880-1903), Frank (dem Mitglied des Wiener Krei­
dessen Buch „Geschlecht und Charak- ses).
ter“ eine erweiterte Fassung seiner Dis­
sertation von 1902 ist. Ernst Mach (1838-1916)
Eine zweite dem Radikalismus zunei- Mach unterrichtete 1864-67 Mathema-
gende Symbolfigur ist Josef Popper tik und Physik in Graz, 1867-95 Expe-
_-Tl 838—1921 ), dessen Weltbild nicht nur rimentalphysik in Prag, anschlieBend
( )ozialpolitische Reformvorstellungen, in Wien. Neben vielen Spezialuntersu-
sondern auch die Naturwissenschaftler chungen und etlichen Lehrbüchern pu-
Ernst Mach und Wilhelm Ostwald blizierte Mach „Die Geschichte und die
formten. Er war ein enger Freund von Wurzel des Satzes von der Erhaltung
Ernst Mach, Schnitzler, Bahr und der Arbeit“ (1872), „Grundlinien der
Einstein. In seinem Werk „Die allge- Lehre von den Bewegungsempfindun-
meine Nâhrpflicht als Losung der so- gen“ (1875), „Die Mechanik in ihrer
zialen Frage“ (1912) verschneiden sich Entwicklung“ (1883), „Die Analyse der
Kapitalismus und Sozialismus ahnlich Empfindungen und das Verhaltnis des
wie bei den Sozialpolitikern und denen Physischen zum Psychischen“ (1885),
nahestehenden Autoren wie Anton „Prinzipien der Wârmelehre“ (1896)
Menger, dem Bruder des Grenznutzen- und „Erkenntnis und Irrtum“ (1905).
lehrers Cari Menger, dem Soziologen In den Schriften zur „Erhaltung der Ar-
Rudolf Goldscheid, Gustav Ratzenho- beit“ (1872) und „Mechanik“ (1883)
fer, Walter Schiff („üsterreichs Agrar- kritisierte Mach insbesondere die New-
politik seit der Grundentlastung“, tonschen Begriffe von absoluter Zeit,
1898), der auch in der Yolksbildungs- absolutem Raum, absoluter Bewegung
bewegung tatig war. 1899 verdffentlich- und legte damit die Grundlagen fur die
te Popper „Phantasien eines Realisten“ Relativitâtstheorie. Mach sah aile wirk-
unter dem Pseudonym Lynkeus, und liche Bewegung nur als relative und als
nannte sich wegen dieses Erfolges spa- natürliches Bezugssystem den Fixstern-
( 'ter Popper-Lynkeus. himmel. Einstein fiihrte in der speziel-
Die antimetaphysische, empirische, len Théorie nur geradlinig und gleich-
aufklarerische Philosophie und liberale formig gegen den Fixsternhimmel und
Reformbewegung kulminierten dann in gegeneinander bewegte Koordinatensy-
der Gründung des Wiener Kreises um steme ein und als zweite Grundlage die
Moritz Schlick (1925-36), dessen ur- universelle Konstanz der Lichtge-
sprünglicher Name ja „Verein Ernst schwindiglceit im gravitationsfreien
Mach“ war. Das Gründungsmanifest Felde. Einsteins Behandlung der Simul-
von 1929 „Wissenschaftliche Weltauf- taneitât in Ausdrticken spezifisch syn-
fassung - Der Wiener Kreis“, verfaBt chronisierender Prozeduren zeigt
von Hans Hahn, Otto Neurath und Ru­ Machs EinfluB. Mach sprach auch be-
dolf Carnap, war eine Veroffentlichung reits 1866 von einem physikalischen
des Vereines Ernst Mach. In ihm wer- Raum, der zugleich die Zeit in sich ent-
den denn auch neben Mach, Boltz­ halt und der nichts anderes sei als die
mann und Franz Brentano insbesonde- Abhângigkeit der Erscheinungen von
re Theodor Gomperz, Friedrich Jodl, einander, der Koinzidenzen von Emp­
Alois Hbfler, Josef Popper-Lynkeus, findungen voneinander. Mach hat also
Rudolf Goldscheid, Cari Menger und auch Prinzipien der allgemeinen Rela-
andere als Yorbereiter erwâhnt. tivitatstheorie vorweggenommen.
Im politischen Liberalismus und libe- „Raum und Zeit werden nicht als selb-
ralen Reformismus um 1900 formierte standige Wesen, sondern als Formen
sich also in Wien im Quadrupel Physik, der Abhângigkeit der Phânomene von­
Philosophie, Erkenntnistheorie und einander. Ich steuere also auf das Prin-
Sprachphilosophie eine neue Epoche zip der Relativitât los, welches auch in
der Naturwissenschaften. ,Mechanik‘ und ,Wârmelehre‘ festge-
Die zentrale Stellung von Ernst Mach halten wird“ (Erhaltung der Arbeit,
kann man schon an seinen Nachfolgern 1909). Einstein sagt deshalb selbst: „Es
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ist nicht unwahrscheinlich, daB Mach Kantschen Scheinbegriffen wie absolu-
auf die Relativitatstheorie gekommen ter Raum etc. befreit, so kann eine logi-
wâre, wenn in der Zeit, als er jugendfri- sche Analyse der wissenschaftlichen
schen Geistes war, die Frage nach der Sprache viele Problème der Philoso­
Konstanz der Lichtgeschwindiglceit phie als metaphysische Scheinproble-
schon die Physiker bewegt hatte" me erweisen. Das kann bis zum radika-
(Nachruf auf Mach, 1916). len Physikalismus des frühen Wiener
Mach hat seine erkenntnisanalytische Kreises gehen, der aile Realsatze auf
Méthode namentlich am Begriff Natur- Beobachtungs- bzw. Protokollsâtze als
gesetz (Kausalitât) und speziell an den das letzte innerhalb der Satzsysteme,
Bewegungsgesetzen der klassischen auf das man zurüclcgreift, reduzieren
Mechanik entwickelt. Seine Deutung mdchte. Die Machsche Redulction
der Naturgesetze, daB sie nurfunktio- (Denlcolconomie) auf elementare, nicht
nale Beziehungen zwischen Ànderun- mehr weiter reduzierbare Elemente der
gen zustandslcennzeichnender MeB- Erlcenntnis hat also als Modell fur die
groBen aussprechen, hat die bisher ab- „Atomsatze“ oder „Elementarsatze“
soluten Begriffe der Physilc relativiert. Wittgensteins gedient. Die letzten Ele­
Dieses Machsche Prinzip, ausgehend mente der Erlcenntnis sind Empfmdun-
IrnstMach. von der Denkokononiie des Occam- gen. Die Wissenschaft handelt vom Zu-
schen Razors (Entia non multiplicanda sammenhang und von IComplexen je-
sunt sine necessitate), welche die Na- ner Elemente, die wir Empfmdungen
turwissenschaft von allen metaphysi- nennen. Ersetzen wir das Wort Empfin-
schen und empirisch nicht nachweisba- dungen durch Satze, haben wir den
ren Hypothesen wie Substanz, Ding Kern jener Ersetzung der Philosophie
an sich, Âther etc. reinigen wollte, hat durch Wissenschaftslogik, die aus der
aber nicht nur der modernen naturwis- Analyse von Satzen besteht, vor Au-
senschaftlichen Forschung und Philo­ gen, die Formulierung der Philosophie
sophie positivistische Impulse gegeben, als Sprachkritik, wie sie Fritz Mauth-
sondern strahlte als erkenntniskriti- ner, Wittgenstein und der Wiener Kreis
sches Modell auf die Kultur insgesamt betrieben haben, dessen wichtigste Mit-
aus. glieder übrigens Rudolf Carnap, Her­
Machs erkenntnisanalytische Méthode bert Feigl, Philipp Frank, Kurt Godel,
hat sowohl auf die Philosophie des Po- Hans Hahn, Victor Kraft und Friedrich
sitivismus (Wiener Kreis und Wittgen- Waismann sind. Der satzlogische Em-
stein) wie auch auf den Impressionis- pirismus des Wiener Kreises ist also
mus Jung-Wiener Kunst (Hofmanns- eine Weiterentwicklung der Machschen
thal und Musil) gewirkt. Diese schein- Méthode, die Grundelemente ermitteln
bar paradoxe Wirkungsgeschichte ist in zu wollen, über welche die Realwissen-
abweichenden Intei'pretationen seines schaften Aussagen machen.
empiriokritischen Systems begründet, Die Wirkung der Machschen Méthode
in dessen Zentrum die Elementen-Leh- auf die Kunst entspringt nicht ihrem
re steht.Das Machsche Prinzip ist das Charalcter als szientifisches Modell,
Ergebnis der erkenntnislogischen Ana­ sondern vielmehr ihren unmittelbaren
lyse einzelwissenschaftlicher, physika- Ergebnissen und deren popularwissen-
lischer Satze. Die erkenntnistheoreti- schaftlichen, zum Teil oberflachlichen
schen und logischen Problème, die bei und irrtümlichen Interpretationen. In
der Machschen und Boltzmannschen diesem Sinne stellt Die Analyse der
O Analyse der Grundlagen der Physilc Empfmdungen" fur die Kunst dar, was
auftraten, haben auch zu einer Erneue- „Die Mechanik" fur die Wissenschaft
rung der Logilc geflihrt. Durch die er- bedeutet, „Erkenntnis und Irrtum" ist
kenntnislogische Analyse von Satzen fur beide von Belang. Für Mach bilde-
und deren Bedéütung hat Mach neben ten die Empfmdungen die letzten Ele­
Boltzmann das naturwissenschaftliche mente bei der Konstrulction wissen-
Fundament fur die moderne Philoso­ schaftlicher Konzepte.
phie als Sprachkritik gelegt. Hat Machs „Alle Wissenschaft kann nur Komplexe
erlcenntniskritische Analyse der New- von jenen Elementen nachbilden und
tonschen Mechanik die Physilc von vorbilden, die wir gewohnlich Empfm-
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dungen nennen. Es handelt sich um den nur aus Empfindungen. „Die Welt ist
Zusammenhang dieser Elemente... Der dann nichts anderes als die Gesamtheit
Zusammenhang von A (Hitze) und B ablaufender Empfindungslcomplexe“
(Flamme) gehort der Physik, jener von (Beer, S. 28). In diesem kontinuierli-
A und N (Nerven) der Physiologie an. chen Strom von Empfindungen, zu
Keiner ist allein vorhanden, beide sind dem die Welt solcherart gerinnt, fallt
zugleich da44 (Ernst Mach, Die Mecha- natürlich eine Unterscheidung zwi­
nik in ihrer Entwicklung. Historisch schen Realitât und wahrgenommenem
kritisch dargestellt. 1883, S. 543 in der Eindruck davon schwer.
4^)ufl. 1901). „Wo in dem folgenden In dieser Welt als Meer von Empfin-
neben oder fur die Ausdrücke é lé ­ dungsphânomenen und von Eindrük-
ment4, ,Elementenkomplex‘ die Be- ken fühlten sich natürlich Hugo von
zeichnungen ,Empfïndung4, ,Empfin- Hofmannsthal und die Impressionisten
dungslcomplex4gebraucht werden, muB Jung-Wiens zu Hause. Insbesondere
man gegenwârtig halten, daB die Ele­ Machs Ablehnung des Ich als Kon-
mente nur in der bezeichneten Verbin- stante, wie sie dann noch Adolf
dung und Beziehung, in der bezeichne­ Stohr und Richard Wahle ausarbeite-
ten funlctionalen Abhângigkeit Empfin- ten, diente den zeitgenossischen und
Ernst Mach. Illustration aus „Die Analyse
dungen sind. Sie sind in anderer funk- nachfolgenden Dichtern als Rechtferti- der Empfindungen und das Verhûltnis des
tionaler Beziehung zugleich physikali- gung ihrer eigenen Subjektivitât. Ein Physischen zum Psychischen". 9. Auflage.
sche Objekte.“ (Die Analyse der Emp­ Schüler Machs, Friedrich Adler, der 1922.
findungen, 5. Àufl. 1906, S. 13.) So Sohn des Sozialisten Viktor Adler, der
kann die Farbe ein physikalisches Ob- als Privatdozent in Zürich auch ein
jekt sein wie eine Empfïndung. So Freund Albert Einsteins war, schrieb
„unterliegt es keiner Schwierigkeit, je- wâhrend seiner Haft in Stein an der
des physische Erlebnis aus Empfindun- Donau, wohin er wegen des Attentats
gen, also psychischen Elementen aufzu- auf den Ministerprâsidenten Graf
bauen44 (Ernst Mach, Erkenntnis und Stürgkh gekommen war, „Ernst Machs
Irrtum, 1905, S. 14 in der 3. Auflage). Überwindung des mechanischen Mate-
Bei dieser Erneuerung des Hume’schen rialismus“ (1918). In dieser Schrift
jualismus verstand jedoch Mach kommt der Zusammenhang von Emp-
uncer den Empfindungen als letzte Ele­ findung und Ich-Begriff einerseits wie
mente der Realerkenntnis und der Er- von Empfïndung und sprachlogischer
fahrung keineswegs bloBe Sinnesdaten, Analyse andererseits deutlich zum
sondern auf Grund seines psychophysi- Ausdruck: „Die beiden Ausdrücke: ,das
schen Weltbildes aile BewuBtseinsda- Blatt ist grün‘ und ,das Ich hat die
ten. Dabei wurde natürlich die Grenze Empfïndung grün‘ reduzieren sich bei
zwischen Innen- und AuBenwelt ver- genauerer Betrachtung auf den einen
schwommen und das Ich nur mehr zu Tatbestand: Es tritt in verschiedenen
einem Komplex von Empfindungen. ,Ichs‘ die Empfïndung grün wiederholt
Besonders in den Schriften von Machs auf. Wenn ,Ich‘ und ,das Blatt4in Rela­
Schülern und Bewunderern wie Theo- tion zueinander sind, tritt ein Grün auf.
dor Beer oder des Zürichers Richard Wenn ich wegblicke... ist das Blatt noch
Avenarius (1843-1896) kommt jene grün? Von dem Blatt, das niemand an-
Version von Machs Empirio-Kritizis- sieht, wissen wir nichts44(S. 81).
mus zum Vorschein, welche das Kul- Es war also Machs Lehre von den Emp­
turleben seiner Zeit so nachhaltig be- findungen, popularisiert auf eine Lehre
einfluBt hat. Beer schreibt beispielswei- des Sensualismus und Phânomenalis-
se in „Die Weltanschauung eines Na- mus, welche auf die impressionistische
turforschers44 (1903, S. 25): „Was wir Stimmungs- und Gefïihlskunst seiner
E>inge, Korper, Materie nennen, ist Zeit einen so auBerordentlichen Ein-
nichts auBer dem Zusammenhang der fluB ausgeübt hat. Hugo von Hof­
Farben, Tone, Düfte, Wârme etc., mannsthal hat noch 1897 Machs Vorle-
nichts auBer jenen Merkmalen, unseren sungen, die berühmt waren, besucht,
Empfindungen.“ Wenn wir nur Kennt- bevor Mach 1898 seine Lehrtâtigkeit
nis von der Welt durch Empfindungen wegen eines Schlaganfalls aufgeben
haben, so besteht auch die Welt fur uns muBte. Hofmannsthals Lord Chandos-
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Brief (1902) verdankt sowohl in seiner (1886-1951) und Robert Musil
Verzweiflung an der Ausdrucksfâhig- (1880-1942). Broch, ein Schüler Boltz-
lceit der Sprache, in seiner Kritilc der manns, der aber auch Machs Vorlesun-
Grenzen der Sprache, welche die hoch- gen besucht hatte, hat sich noch 1941 in
sten Werte und den Sinn des Lebens seinen autobiographischen Notizen kri-
nicht zu formulieren vermoge, wie tisch mit Mach auseinandergesetzt, den
auch in seiner Kritik des bloBen Stroms er für den Hauptverantwortlichen des
an Empfindungen und Bildern sehr viel szientifîschen Relativismus und Wis-
der Lehre Machs;<Hermann Bahr, der senschaftspositivismus hielt, den er als
Theoretiker der Âsthetik des „Jungen idealistischer Existenzialist zur „Ret-
Wien“ (Bahr, Hofmannsthal, Arthur tung des Absoluten" bekampfte.
Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Die Triade Wissenschaft - Literatur -
Félix Salten, Peter Altenberg), fand in Kunst, welche fur die Kultur Wiens
Machs Sensualismus die theoretische 1900 so charakteristisch und deren wis-
Basis fur seine impressionistische Âs­ senschaftliche Zentralgestalt Ernst
thetik und erkor Mach gar zum „Philo- Mach war, kommt bei Musil in der
soph des Impressionismus“, vergleich- Auseinandersetzung mit Mach noch
bar der Rolle Henri Bergsons in Frank- einmal wunderbar zum Ausdruck. Die
reich. Bahr begegnete Mach personlich Entwicklung einer von den Naturwis-
1908, dabei soll Mach folgendes gesagt senschaften (Physik) abgeleiteten Er-
haben; „Wenn ich sage: ,Das Ich ist un- lcenntniskritik zu einer Sprachlcritik
rettbaf, so meine ich damit, daB es nur und Gesellschaftskritik, wie ich sie in
in der Einfühlung des Menschen in aile ihrem Zusammenhang aufzuzeigen
Ernst Mach. Kurzzeitaufnahmen eines Dinge, in aile Erscheinungen besteht, versucht habe, wird in Musils Werk
fliegenclen Geschosses. 1887, daB dieses Ich sich auflost in allem, was exemplariscli vorgetragen und vorge-
fühlbar, horbar, sichtbar, tastbar ist. führt. Musil hat 1908 mit der Disserta­
Ailes ist flüchtig, eine substanzlose tion „Beitrag zur Beurteilung der Leh-
Welt, die nur aus Farben, Konturen, ren Machs" promoviert, in welcher er
Tonen besteht. In diesem Spiel der Machs Lehre von einem oberflachli-
Phanomene kristallisiert, was wir unser chen Sensualismus befreite und als
,Ich‘ nennen. Vom Augenblick der Wissenschaft von Wahrnehmungs-
Geburt bis zum Tod wechselt es ohne inhalten, als perzeptuelle Philosophie
Ruhe." In seinem „Dialog vom Tragi- kritisch untersuchte. Musils Erstling
schen" (1904) hat Bahr schon den Essay „Die Verwirrungen des Zoglings Tor-
„Das Ich ist unrettbar“ veroffentlicht leB" (1906) ist allerdings noch vom
und sich dabei ausgiebig auf Mach be- Machschen Sensualismus gezeichnet,
zogen. Man versteht, wie in dieser Ver­ vom Verschwimmen der Grenze zwi-
sion Machsche Philosophie Wirkung schen BewuBtsein und Wirklichkeit in
auf die dandyesken Âstheten Wiens der Sinneserfahrung. Machs Problema-
ausgeübt hat. Auch Arthur Schnitzler tisierung der Ich-Identitat erkennt man
(1862-1931), der eine Zeitlang mit noch im Titel von Musils Hauptwerk
Mach gut befreundet war, hat Machs „Mann ohne Eigenschaften".
Sensualismus fur das entpersonalisierte Machs Untersuchungen der Wahrneh-
Existenzgefühl in den Monologen mungsinhalte und -mechanismen ha­
,,Fraulein Else" und „Leutnant Gustl“ ben nicht nur zu zahlreichen Entdek-
inspiriert. Weininger hat in „Ge- kungen geführt, sondern als auf der
schlecht und Charakter" (1903) aus ei- Perzeption fuBende Philosophie ihre
ner Hofmannsthal ahnlichen Sehn- Wirkung bis zur gegenwartigen Avant-
sucht nach einem transzendentalen gardelcunst (minimalistische Plastik,
Subjelct „das Mach’sche Ich, dieser Concept Kunst, Medienkunst) gezei-
bloBe Wartesaal fur Empfindungen" tigt. Mach entdeckte das Ohr als
abgewertet. Gleichgewichtsorgan. In Erinnerung an
Zwei der groBten osterreichischen seine Forschungen liber die Luftbewe-
Schriftsteller verdanken ebenfalls gungen und seine zahlreichen ballisti-
wesentliche Impulse fur ihr Werk der schen Entdeckungen wurde das Ver-
Auseinandersetzung mit der Lehre von haltnis der Geschwindigkeit eines Kor-
Ernst Mach, nâmlich Hermann Broch pers im umgebenden Medium zur
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Schallgeschwindigkeit des Médiums genforschung zur Sinnesdatenverarbei-
Mach-Zahl benannt. Um Geschosse im tung aufgefaBt, sondern das Wort Emp­
Fluge fotografieren zu konnen, entwik- findungen verleitete dazu, es mit seeli-
lcelte Mach die Kurzzeitfotografie. Um schen Regungen, mentalen Zustanden,
die sich mit 400 bis 500 m/sec fortbe- gefühlsmaBigen inneren Schwingungen
wegende Kugel auf die Platte zu ban- gleichzusetzen, statt es als Wahrneh-
nen, benützte er als Lichtquelle einen mungsinhalte aufzufassen. In dieser
elektrischen Funken von 6-7 mm Gestalt wurde Machs Lehre als „Aufld-
Schlagweite, womit Belichtungszeiten sung ailes Wirldichen in Empfindungs-
("Ubis zu einer 1/500.000 Sekunde erreicht elemente“ (Cari Stumpf), als Auflosung
^werden konnten. 1887 gelang es ihm des Ich interpretiert, und in dieser ver-
erstmals, Luftverdünnungen und -ver- zerrten Gestalt hatte sie ihre Wirkung
dichtungen an fliegenden Projektilen zu auf die impressionistische Âsthetik von
fotografieren und entdeckte dabei die Jung-Wien. Erst spater wurde der
nach ihm benannten Machschen Wel- szientifische Kern von Machs Wahr-
len. Die Fotografien dieser fliegenden nehmungslehre (empirische Erfor-
Projektile mit ihren dreiecksformigen schung der Sinne und Sinnesdaten) und
Luftwellen gehoren sicherlich zu den seiner Philosophie der Wahrnehmung
einfluBreichsten Ikonen der Jahrhun­ (von Percepten) in der Gegenstands-
dertwende, siehe zum Beispiel Luigi psychologie (Brunswik) und -philoso­
Russolos „Die Revolte“ (1911) und die phie (Merleau-Ponty), in den Kunstfor-
vielen anderen „dynamischen“ Bilder men Minimalismus und Medienkunst
der Futuristen. Auch fur stereoskopi- wirksam.
sche Rontgenbilder hat Mach wesent- Der generelle EinfluB von Machs Phi­
liche Expérimente angestellt. Seine losophie war seinerzeit so groB, daB Le-
Théorie des binokularen Sehens wirkt nin ihrer Kritik ein ganzes Buch wid-
bis auf avantgardistische Filmexperi- mete: „Materialismus und Empiriokri-
mente der Gegenwart herauf. In den tizismus“ (1909). Dieses Buch wandte
dreiBiger Jahren haben Karl Bühler sich gegen Machs Gefolgschaft in RuB-
und Egon Brunswilc („Wahrnehmung land (A. Bogdanow, A. Lunatscharski,
( \und Gegenstandswelt“, 1934) Machs aber auch Maxim Gorki etc.) und
v 'perzeptuelle Philosophie als Wissen- nannte Machs Philosophie wegen ihrer
schaft weiterentwickelt. idealistisehen Tendenzen reaktionâr,
Machs Lehre hat also in zwei verschie- dabei war es gerade das Fehlen solcher
denen Entfaltungen zur Kultur um die idealistischer Tendenzen, das Künstler
Jahrhundertwende beigetragen: 1. Sei­ wie Bahr, Hofmannsthal und Broch da­
ne Denkokonomie und erkenntniskriti- zu bewegte, sich von Machs Lehre zu
sche Méthode hat in der Physik die Re- trennen.
lativitatstheorie und in der Philosophie
den Positivismus und die Sprachkritik Ludwig Boltzmann (1844-1906)
vorbereitet. Hier ist besonders auf den Geboren in Wien, Studium der Physik
EinfluB Machs auf Fritz Mauthner in Wien, wurde Boltzmann zuerst Pro-
(1849-1923) hinzuweisen, der die Vor- fessor fur mathematische Physik in
lesungen Machs in Prag besucht hatte, Graz, dann nach einigen Auslandsauf-
mit Mach korrespondierte und selbst enthalten 1873-76 Professor der Ma-
bekannte, wie wichtig Machs Werke fur thematik in Wien, ab 1894 Professor
seine „Beitrâge zu einer Kritik der fur theoretische Physik, ab 1903 bis zu
Sprache“ (1901/03) waren, dem zentra- seinem Selbstmord 1906 hatte er auch
len Werk der Jahrhundertwende zu die- Machs Lehrstuhl inné. Obwohl Boltz­
sem Thema, das auch von Wittgenstein mann und Mach in vielen Punkten ent-
rezipiert wurde. 2. Machs Lehre von den gegengesetzter Meinung waren, zum
Empfindungen als ultime Erkenntnis- Beispiel war Mach ein scharfer Gegner
elemente: „nicht die Dinge, sondern der Atomistik, Boltzmann hingegen ein
was wir gewohnlich Empfindungen Verfechter der Atomlehre, haben sie in
nennen, sind eigentliche Elemente der ihrem gemeinsamen Bemühen, Grund-
Welt“ (Die Mechanik, 1904, S. 523), lagenprobleme der Physik als erkennt-
wurde anfânglich weniger als Grundla- nistheoretische und logische Problème
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aufzufassen, nicht nur die Philosophie herverkündigung unserer kiinftigen
auf eine empirische Basis gestellt und Empfindungen tauglichen Weltbildes
befruchtet, sondern die Erkenntniskri- erleichtert.“ Boltzmann versucht also
tik und die logische Analyse als Modell formale Kriterien einzuführen, welche
auch fur die Sprachwissenschaft aufbe- von den Ich-Aussagen, wie „Ich nehme
reitet. Wie Mach war Boltzmann ein er- wahr... “ usw., wegflihren und schlagt
klârter Gegner der Metaphysik, doch statt Empfindungen die Beobachtungen
anders als Mach war er auch ein Gegner vor, statt solipsistischer Eigenerfahrung
jener Philosophie (Hume, Berkeley, das tertium comparationis der Sprache,
Mach), welche das Verhaltnis von Sein welche die Beobachtungsaussagen (statt
und BewuBtsein nur vom Standpunkt der Ich-Aussagen) in objektiver verifi-
des denkenden Subjekts her bestimmen zierbarer Form darstellt. Boltzmanns
will, also jenes „philosophischen Idea- Kriterium der Verifizierbarkeit ist also
lismus, der die Existenz der materiellen die Testabilitat, die Vorhersage bzw.
Welt leugnet“. Wegen der Atomistik die Korrektur, sobald „unsere Schlüs­
ein erklârter Gegner von Mach, kriti- se... mit Wahrnehmungen in Wider­
siert Boltzmann auch versteckt Machs spruch kommen“. Hier wird nicht nur
Empfïndungslehre. „Nur die Sinnes- Poppers Falsifikations-Theorem vor-
wahrnehmungen sind uns gegeben, da- weggenommen, sondern wird tenden-
her - heiBt es - darf man keinen Schritt ziell der Boden für eine SprachphiloSo­
dartiber hinausgehen. Aber wâre man phie der Basissatze vorbereitet und
konsequent, so müBte man weiter fra- gleichzeitig darüber hinausgegangen -
gen: Sind uns auch unsere gestrigen seien es Wittgensteins Atomsatze, Neu-
Sinneswahrnehmungen gegeben? Ware raths und Carnaps Protokollsatze,
man konsequent, so müBte man... so- Schlicks Konstatierungen oder Poppers
gar aile Vorstellungen, die man zu allen Basissatze, die nichts über erlebte Be­
früheren Zeiten hatte, leugnen... Will obachtungen aussagen wollen, sondern
man also nicht zum SchluBe kommen, nur über beobachtbare Sachverhalte
daB überhaupt nur die Vorstellung, die überhaupt. Natürlich steht hier Pop­
ich momentan habe, und sonst gar pers Auffassung der von Boltzmann am
nichts existiert“ (Populare Schriften, nâchsten, wie wir auch gleich in der
1905, S. 132). „... so muB man schlieB- Frage der Denkokonomie sehen wer-
lich bei aller notigen Vorsicht doch den, da beide auf die intersubjektive
unsere Fahigkeit, aus den Wahrneh- Beobachtung, auf die intersubjektive
mungen auf etwas, was wir nicht wahr- Vermittelbarkeit gründen. Die Er-
nehmen, Schlüsse zu ziehen, zugeben, kenntnis der Erfahrung beruht also
die wir freilich immer zu korrigieren nicht, wie Mill, Mach und der frühe
haben, sobald sie mit Wahrnehmungen Wittgenstein glaubten, auf singularen
in Widerspruch kommen“ (ebenda, S. Erlebnisaussagen, die unmittelbar wahr
132). In seiner Schrift „Über die Frage sind, die am Anfang stehen als letzte,
nach der objektiven Existenz der Vor- nicht weiter reduzierbare Elemente,
gànge in der unbelebten Natur“ von und dann verallgemeinert werden, son­
1897 versucht Boltzmann die objektive dern darauf, daB Hypothesen aufge-
Existenz von unbelebten Dingen (wie stellt werden, Vorstellungen, die durch
ein grünes Blatt) und fremdpsychischen intersubjelctiv markierbare Aussagen
Empfindungen zu beweisen, wobei er auf Grund von Beobachtungen nach-
insbesondere auf die Rolle der Sprache trâglich bestatigt werden.
relcurriert. „Wir bezeichnen daher diese Dieser erkenntnistheoretische Realis-
fremden Empfindungen mit analogen mus und die davon abgeleitete inter­
Gedankenzeichen und Worten wie die subjektive Rolle der Sprache als Er-
eigenen . . . Analog wie die Empfindun­ kenntnistrâger hat naturgemaB die Rol­
gen fremder Menschen existieren auch le der Théorie neu definiert, und zwar
die Vorgange in der unbelebten Natur auf eine Weise, welche einerseits der
für uns bloB in unserer Vorstellung, das Machschen Denkokonomie widerstritt
heiBt, wir markieren sie durch gewisse und andererseits den Realismus in ei-
Gedanken und Wortzeichen, weil uns nen skeptischen Empirismus dâmpfte.
dies die Konstruktion eines zur Vor- Obwohl Boltzmann, sogar in Machs
413
Augen, ein begnadeter Experimentator (Über statistische Mechanik, 1904).
war, sagte er in „Über die Bedeutung Gerade in der Théorie der Elektrizitât
von Theorien" (1890) von sich selbst: gibt es seiner Meinung nach genügend
„Der Théorie zum Preis ist mir kein Beispiele, die die beschrânkte Gültig-
Opfer zu groB, sie, die den Inhalt mei- lceit alter Vorstellungsweisen als teil-
nes ganzen Lebens ausmacht...“. In sei- weises Bild der Tatsachen erlautern. In
nem berühmten Wort „Nichts ist prak- seinem Vortrag „Über statistische Me­
tischer als Théorie" faBte Boltzmann chanik" ‘geht Boltzmann daher sogar
selbst seine Theorievorstellung zusam- soweit, vor einem „übermaBigen Ver-
üünen, aus der naturgemâB eine gewisse trauen in die sogenannten Denkgeset-
^-'TCühle und Ablehnung jenen Tendenzen ze" zu warnen. „Aber als unbedingt
gegenüber folgt, welche sich als rein po- oberste Richter mochte ich die Denk-
sitivistische Beschreibung mit Hilfe gesetze nicht anerkennen. Wir konnen
unmittelbar meBbarer GroBen begnügt. doch nicht wissen, ob sie nicht doch
Boltzmann trat fur die Yerwendung noch die eine oder andere Modification
von Hypothesen ein, wendet sich gegen erfahren werden" (1899). Diese Relati­
Machs Phânomenologie auch in dieser vierung der absoluten Rolle der
Hinsicht: „Als einziges Ziel der Physik, Théorie hat zu einer weitreichenden
ohne jede Hypothèse, ohne jede Veran- Konsequenz geführt: „Es ist sogar die
schaulichung... fur jede Reihe von Vor- Moglichkeit zweier verschiedener
gângen Gleichungen aufzuschreiben, Theorien denkbar, die beide gleich ein-
aus denen ihr Verlauf quantitativ be- fach sind und mit den Erscheinungen
rechnet werden kann, so daB die allei- gleich gut stimmen, die also, obwohl
nige Aufgabe der Physik darin bestün- total verschieden, beide gleich richtig
de, durch Probieren moglichst einfache sind. Die Behauptung, eine Théorie sei
Gleichungen zu finden, welche gewisse die einzig richtige, kann nur der Aus-
notwendige formale Bedingungen... er- druck unserer subjektiven Überzeu-
fullen, und sie dann mit der Erfahrung gung sein, daB es kein anderes, gleich
zu vergleichen... allein dies ist... ein einfaches und gleich gut stimmendes
unerfulïbares Idéal... Keine Gleichung Bild geben kdnne" (Über die Entwick­
A^'stellt irgendwelche Vorgânge absolut lung der Methoden der theoretischen
v ygenau dar, jede idealisiert sie, hebt Ge- Physik in neuerer Zeit, 1899). Damit ist
meinsames heraus und sieht von Ver- nicht nur die Unabhângigkeit der rea-
schiedenem ab, geht also über die Er­ len AuBenwelt von ihrem Abbild im
fahrung hinaus... Die Erfahrung, sagt Menschengeist betont worden, was
Goethe, ist immer nur zur Hâlfte Er­ vielleicht Boltzmanns ursprüngliche
fahrung. Je kühner man über die Erfah­ Absicht war.
rung hinausgeht, desto allgemeinere Mit dieser Feststellung, daB scheinbar
Überblicke kann man gewinnen, desto widersprüchliche Hypothesen komple-
überraschendere Tatsachen entdeclcen, mentâre, richtige Erklarungen eines
aber desto leichter kann man auch ir- einzigen Phânomens sein konnen, ist
ren" (Entwicklung der Methoden der nicht nur Niels Bohrs Komplementâr-
theoretischen Physik in neuerer Zeit). prinzip vorweggenommen worden,
Nach dieser Relativierung der Erfah­ sondern auch die autonome Rolle des
rung durch die Théorie ist es auf Grund Abbildungsmechanismus selbst gegen­
des Abbildcharakters der Theorievor­ über der Realitât und den Denkgeset-
stellung nur logisch, daB auch die zen extrem betont worden. Die Domi-
Théorie selbst relativiert wird, namlich nanz der Théorie als Abbildungsme­
insofern, daB verschiedene Bilder chanismus, wo sogar „die Denkgesetze
gleichzeitig nebeneinander existieren sich nach den gleichen Gesetzen der
konnen, namlich ein früheres Bild der Evolution gebildet haben", schuf natür-
Mechanik und ein neueres. Wenn ein lich auch das Terrain für eine Théorie
kompliziertes Lehrgebâude zusam- der Sprache als Abbildungsmechanis­
menstürzt, kann dann „freilich die alte mus mit eigenstândigen und von der
Théorie als Bild flir ein beschrânktes AuBenwelt unabhângigen Gesetzen.
Erscheinungsgebiet im Rahmen der Unerwarteterweise ist Boltzmann mit
neuen in der Regel noch Platz finden" dieser von der Physik und ihrer Ge-
414
schichte abgeleiteten Auffassung der die Quantenmechanik auf entscheiden-
Welt, daB mehrere widersprüchliche de Weise initiiert hat, nicht nur durch
Theorien gleichermaBen richtig sein den EinfluB, den sie ebenfalls auf
konnen, weit über Machs relativisti- Einstein ausgeübt hat, davon zeugt der
sche und skeptische Position hinausge- berühmteste von seinen vielen Lehr-
gangen. Besonders durch die Einfilh- satzen, das sogenannte H-Theorem,
rung des Bildbegriffs und durch diesen welches den Zusammenhang zwischen
Modellbegriff, daB „verschiedene Bil- dem thermodynamischen Begriff der
der des gleichen Objekts moglich sind, Entropie und der statistischen Wahr-
und diese Bilder in verschiedenen Hin- scheinlichkeit eines Zustandes herz-
sichten differieren mogen44, dessen phi- ustellen vermag: S = le log W. Die Ent­
losophische Relevanz zunüchst unbe- ropie ist dem Logarithmus der Wahr-
merkt blieb, hat Boltzmann auf die scheinlichkeit proportional. (S bedeute
Sprachtheorie und insbesondere auf den Zahlenwert der Entropie, W den
Wittgenstein EinfluB ausgeübt. Diese der Wahrscheinlichkeit, und k eine uni­
Bild- bzw. Modelltheorie von Aussa- verselle Konstante, die sogenannte
gen, nach der verschiedene Darstellun- Boltzmannsche, deren Zahlenwert be-
gen der Welt nebeneinander bestehen kannt ist). Dieser Entropiesatz, der
und richtig sein konnen, hat zusammen zweite Hauptsatz der mechanischen
mit dem Modellbegriff von Heinrich Warmetheorie (1886), macht Boltz­
Hertz fur Wittgenstein sowohl die Vor- mann für den Nobelpreistrâger Ilya
stellung der Sprache als Bild von Tatsa- Prigogine ueben Charles Darwin zum
chen wie auch sein spâteres Sprachspiel bedeutendsten Wissenschaftler des 19.
angeregt. Für Wittgensteins Vorlâufer Jahrhunderts. Dieser Entropiesatz ware
Fritz Mauthner hat sie dessen sprach- auch die eigentliche Quelle fur eine
skeptischen Agnostizismus begründet. neue ükologie, denn er befreit uns von
Boltzmanns Behandlung eines aktuel- einem mechanischen Energiebegriff
len physilcalischen „Sachverhalts“ als und einer mechanischen Natur-
statistisch verteilt in der totalen Menge auffassung. Boltzmann hat den Begriff
mbglicher Sachverhalte beeinfluBte der „freien Energie44 herausgearbeitet.
Wittgenstein in seiner Behandlung der Im Zeitalter der Energiekri.se kommt
Sachverhalte durch die Méthode der Boltzmann als Theoretiker der negati-
Wahrheitstafeln. Wittgensteins Auffas­ ven Entropie, der hochwertigen Energie
sung vom „logischen Raum“ ist abge- eine Rolle als Prophet zu. Er ist einer
leitet von Boltzmanns „Phasenraum“ der Vater der Biophysik und Bioener-
in der statistischen Mechanik. Wittgen­ getik, und als Philosoph auf den Spuren
stein hat selbst in einer Liste jene Den- Darwins - er nannte das 19. Jahrhun-
ker aufgezâhlt, die Wirkung auf ihn dert das Jahrhundert Darwins - ist er
hatten: Boltzmann, Hertz, Russell, der Begründer der evolutionâren Er-
Kraus, Spengler und Piero Sraffa. Übri- kenntnistheorie, der sogenannten drit-
gens wollte Wittgenstein in jenem Jahr ten kopernikanischen Wende, welche
bei Boltzmann zu studieren beginnen, den menschlichen Geist als Evolutions-
in dem Boltzmann in Duino Selbst- produkt auffaBt. In dieser antikantiani-
mord beging, 1906. Gerade in der Be- schen Antimetayphysik nahert er sich
ziehung Boltzmann - Wittgenstein wieder Mach. Boltzmann schreibt in
kann man erkennen, wie sehr Überle- „Über eine These Schopenhauers44:
gungen und Methoden der Naturwis- „Nun, diese Denlcgesetze werden im
senschaften auf die Sprachphilosophie Sinne Darwins nichts anderes sein als
übertragen wurden, was zu einer ererbte Denkgewohnheiten. Man kann
sprachlichen Grundlegung der Philoso­ diese Denkgesetze apriorisch nennen,
phie und einer analogen naturwissen- weil sie durch die vieltausendjahrige
schaftlichen Grundlegung der Sprach­ Erfahrung der Gattung dem Indivi-
philosophie führte. duum angeboren sind. Jedoch scheint
DaB Boltzmanns Lehre nicht nur durch es nur ein logischer Schnitzer von Kant
seine Schüler wie Walter Nernst, Paul zu sein, daB er daraus auch auf ihre Un-
Ehrenfest und Liese Meitner die fehlbarkeit in allen Fallen schlieBt. Ana-
Atomphysik, die Thermodynamik und log mochte ich bestreiten, daB unsere
415
Denkgesetze absolut vollkommen sind. Brentanos Philosophie ist im weitesten
Sie verhalten sich hierin nicht anders Sinne als Urheberin der Phânomenolo-
als aile vererbten Gewohnheiten" gie zu sehen, von Husserl bis zur Ge-
(1905). Dieser erkenntnistheoretische genstandstheorie (1904) seines Schtilers
Relativismus hat Boltzmann neben Alexius von Meinong (1853-1920), der
Mach zum einfluBreichsten, diszipli- Bertrand Russell zu seiner berühmten
nenüberschreitenden Philosophen ge- Théorie der Beschreibungen anregte.
macht, der nicht nur auf Wittgenstein Hier lcommt wieder das satzlogische
und den spâteren Wiener Kreis, son­ Erbe Brentanos durch. Denn die Défi­
de1'*', bis zum heutigen Tage Wirkung nition des Gegenstandes, auf den sich
aK_.kibt hat. die Urteile beziehen, notigte Brentano
zu genauen sprachanalytischen und lo-
Franz Brentano (1838-1917)
gisch-semantischen Untersuchungen.
Der Brentano-Schüler Kasimir Twar-
Der sprachlogischen Analyse der Er- dowski (1866-1938) hat in seiner Schrift
scheinungswelt erwuchs jedoch ein „Zur Lehre von Inhalt und Gegenstand
dritter Kombattant aus einer unerwar- der Vorstellungen“ (1894) die Untersu­
teten Ecke, nâmlich der Théologie. chungen Brentanos zu einem Organon-
Brentano hatte in Bayern Philosophie modell der Sprache weiterentwickelt,
und katholische Théologie studiert, war wie es dann Karl Bühlers Sprachtheorie
auch Philosophieprofessor in Würz- 1934 in Wien explizit darlegte. Twar- Franz Brentano.
burg, bevor er 1874 nach Wien kam, dowski wurde zum Begründer der Lem-
wo er bis 1895 als Professor und dann berger Schule der polnischen Logik
als Privatdozent an der Universitât (Adjukiewicz, Lukasiewicz, Kotarbin-
Philosophie unterrichtete. Er sah in der ski, dessen Schüler Alfred Tarski war,
von der mittelalterlichen Scholastik ab- der wiederum spâter dem Wiener Kreis
geleiteten Intentionalitat das Haupt- nahestand). Ein Schüler Meinongs und
merkmal der psychischen Akte: „Psy- Brentanos war Christian von Ehrenfels
chische Phanomene seien solche, wel- (1859-1932), 1888 Professor der Philo­
che intentional einen Gegenstand in sophie in Wien und ab 1899 in Prag,
sich enthalten" (Psychologie vom em- der Impulse von Mach und Brentano in
pfi Jhen Standpunkt, 1. Band, 1924, S. der Schopfung der Gestalttheorie zu-
124). Brentanos intentionale Phânome- sammenfaBte. Mach sprach bereits
nologie unterschied sich von Machs 1886 von „Tongestalt“ und „Raumge-
physikalischer Phânomenologie, da sie stalt“. Doch erst auf dem Hintergrund
apriorische Urteile erlaubt. Brentano von Brentanos Unterscheidung zwi­
hat sich in seinen „Untersuchungen zur schen Fundament (die tatsachlich
Sinnespsychologie" (1907) zwar auf wahrgenommenen Sinnesdaten) und
Machs «Analyse der Empfindungen" den vom Geist intendierten Gestalt-
berufen und sein Gedanke des Inne- qualitâten des idealen Gegenstandes
wohnens von Gegenstânden in psychi­ konnte Ehrenfels sein berühmtes Ge-
schen Akten verwischt ebenfalls die setz formulieren: „Eine Gestalt ist jenes
Grenze zwischen Physischem und Psy- wahrgenommene Etwas, das mehr und
chischem, desgleichen zeugt der Brief- etwas anderes ist als die bloBe Summe
wechsel zwischen Mach und Brentano seiner konstituierenden Teile, obwohl
von gegenseitiger Wertschatzung, doch diese fur ihre Existenz essentiell sind“
die metaphysische Fundierung von (Über Gestaltqualitaten, 1890). Die
Brentanos Philosophie lieB zwischen Gestalt ist also mehr als die Summe
oeiden nur eine «Ubereinstimmung in seiner Teile. In Berlin wurde dann
1er Méthode der Forschung" zu (Bren- Ehrenfels’ Arbeit durch Max Werthei-
:ano). Am meisten EinfluB hatte mer, Wolfgang Kohler, Kurt Koffka zur
jcheinbar Brentano auf Edmund Hus­ Gestaltpsychologie weiterentwickelt.
serl (1859-1938) in seiner Wiener Zeit, Mit der empiristischen Gestaltpsycho­
1er sich ebenfalls in den neunziger Jah- logie Karl Bühlers (1879-1963), der
’en des 19. Jahrhunderts brieflich mit sich tibrigens in einer Schrift «Christian
Vlach über die komplementâren Stand- von Ehrenfels und Albert Einstein" zu
)unkte auseinandersetzte. seinem Vorlaufer bekannte, wurde die-
•16
Mutter halluzinierte. Spater wollte er einem Reizzustand (= „Nach- bzw. Se-
DREl ABHANDLUNGEN ZUR (wie Wilhelm Stekel, sein zeitweiliger kundârfunktion44), der auf andere „Ele-
Analytilcer, in einer Krankengeschichte mente44 unterschwellig einwirke, sodaB
SEX UALTH EO RIE enthüllt hat) auf Neuseeland eine Kolo-
nie Gleichgesinnter gründen, die sich
eine Vorstellungsreihe angeregt werde.
Der Gegensatz zu Freuds „Entwurf ei­
streng nach auBen abschirmen sollte. ner Psychologie44(den Gross nicht ken-
Ende des Ersten Weltkrieges gehorte nen konnte) ist offenkundig: bei Freud
Otto Gross in Wien zu jener Gruppe laufen „Primâr-“ und „Sekundarvor-
VM linker Literaten und Berufsrevolutio- gang44in verschiedenen Neuronensyste-
PROF. DR. SWM. FREUD
nare, die eine Raterepublik errichten men ab. Bei der Manie ist - laùt Gross
wollten. Er forderte fur sich den Posten - die Primarfunktion erleichtert und
IR WICR
eines „Ministers zur Liquidierung der die Sekundarfunktion verkürzt, bei der
bürgerlichen Familie und Sexualitat44. Melancholie verhalt es sich umgekehrt.
Als die Révolution ausblieb, übersie- Schwachung der Sekundarfunktion er-
delte er nach Berlin und starb (nach- gibt schizophrène Symptôme. Eine Ab-
dem er eine Nacht lang auf der eisigen nahme von Dauer und Intensitat der
43959JL-R StraBe gelegen hatte) an totaler Er- Sekundarfunktion hat „verflachtes und
schopfung. Sein Yorhaben, den „Um- verbreitertes BewuBtsein44 zur Folge,
sturz ailes jetzt Bestehendcn, dem Wil- eine Zunahme hingegen „verengtes und
LOP230 um>wan len einer ganzen Welt entgegen“ herbei- vertieftes44. Das „erotische Triebleben44
' FRANK MUT1CKE
__ B» zuführen, den (Alfred Adlerschen) des „verengt-vertieften44Typus ist (we-
,,Willen zur Macht“ zu beseitigen, und gen der „ausgesprochenen Kontraktiv-
Titelseite der Erstausgabe von „Drei Ab- jedem das „Recht auf die eigene We- kraft44) „untrennbar und reich ver-
handlungen zur Sexualtheorie" von Sig­ sensart und die Freiheit seiner Bezie- zweigt44 mit „hoheren Vorstellungs-
mund Freud. 1905. hungen“ zu verschaffen, war geschei- komplexen asthetischen, ethischen, so-
tert. Die Welt der Vâter (der osterrei- zialen Inhalts44verknüpft, was der Ero-
chischen Gründergeneration), allen tik Yornehmheit gibt, den anderen
voran sein eigener Vater, der Grazer „Komplexen44 jedoch Schonheit und
Rriminologe Hans Gross, der ihn im­ Kraft. Dagegen nahert sich der Charak-
mer wieder in Irrenhâusern internieren ter des „verflacht-verbreiterten44 Indi-
und unter ICuratel stellen lieB, ihn viduums dem „Typus des Tierischen44.
schlieBlich enterbte, hatte gesiegt. In „wilder, stürmischer, ungeklârter
Otto Gross war ein glühender Verehrer Zeit44 erhalten „verflacht-verbreiterte44
der Wiener Sécession. In seiner schwer Menschen (die Pioniere der Gründer­
genieBbaren Wissenschaftssprache ver- generation) Oberwasser, sie schaffen
suchte er, der neuen Kulturbewegung die Zivilisationen. „Sensitive verengt-
eine psychologische Théorie zu schrei- vertiefte44 Individuen (die Génération
ben. Sie ist 1902 verfaBt und tragt den von Otto Gross) kommen dort zum
Titel „Die cerebrale Sekundârfunk- Zuge, wo die „einfachen Ideale an Wert
tion44. Es handelt sich um einen neuro- verlieren und die Notwendigkeit sich
physiologischen Entwurf, mit dem das geltend macht, aus tausend individuel-
Humesche Problem (die Frage nach len Weltanschauungen heraus neue, all-
dem „bound of union44, das die Asso- gemeine Ideale darwinistisch sich ent-
ziationen in der „imagination“ mitein- wiclceln zu lassen44. Das sind die Kul-
ander verknüpft) gelost werden soll. turschopfer, Symbolisten, Allegoriker,
Davon ausgehend erklart Gross die Verfechter von Konsonanz und Ab-
Entstehung der verschiedenen psychi- straktion, aber auch von überwertigen
O schen Krankheitsbilder und Charalcter- Ideen. Sie zeichnen sich aus durch
typen. Zum SchluB skizziert er mit we- „Hingabe an vertiefte Yorstellungsrei-
nigen Strichen eine Kulturtheorie. Das hen44und genieBen „Stimmungswerte“.
Thema des Bûches ist: geistige und kul- (Sigmund Freud hat die Unterschei-
turelle Harmonie. dung von Zivilisation und Kultur im-
Otto Gross stellt die Hypothèse auf, je- mer zurückgewiesen!)
des „nervose Elément44 verbleibe nach Die „Kunst der Gegenwart44, so Otto
Abklingen der primaren Erregung Gross, lehnt die „komplizierte Ausge-
(=Vorstellung) wâhrend der Zeit der staltung der Oberflache44ab. „Ein scho-
Régénération der „Nahrsubstanz44 in nes Beispiel dafür ist die Architektur,
433
besonders die Interieurkunst Im Stil Das ist Hodlers Définition: „Unter Pa-
der alten Meister verândert sich stets rallelismus verstehe ich jede Art von
das Detail. Symmetriestücke sind bei Wiederholung. Jedesmal, wenn ich in
ihnen meist nur in den Umrissen ahn- der Natur die Art der Dinge am lebhaf-
lich, im Detail unendlich verschieden testen empfinde, stehe ich unter dem
und yariabel. Das konnen wir weder Eindruck der Einheit. Der Parallelis-
schaffen noch genieBen. Ja, wir sehen mus ist ein Gesetz, das über die Kunst
einen neuen Schonheitswert in der hinausragt, denn er beherrscht das Le-
Wiederholung des Gleichen. Auf dieses ben. . . ein Weltgesetz von allgemeiner
jum en t wirkt zum Beispiel besonders Gültigkeit. . . das Erschütternde, das
Wiener Sécession. Ich habe die Al­ Unendliche, der groBe Stil. . . Stetig-
légorie fur eine Tonskala gesehen: keit, die zeitliche Ausdehnung der Wie­
zwanzigmal dieselbe Figur in verschie- derholung/4
denen Bewegungen. Das tut uns wohl, Der Psychoanalytiker Behn-Eschen-
bei einer und derselben formalen Vor- burg hat 1931 in der Zeitschrift „Psy-
stellung bleiben und von ihr aus das choanalytische Bewegung“ Hodlers Pa-
Wesentliche, das Ideelle assoziativ wei- rallelismus analysiert und ihn ein
terentwickeln zu konnen. So haben wir „Werkzeug zur Wiederbildung verlore-
auch die Schonheit der einfachen, der ner Objelcte und der dazugehorigen
sich wiederholenden Linien gefunden... Empfindung“ genannt. Dem Maler sei
Wir freuen uns am Ideellen, am Tiefen, es darum gegangen, „etwas, das ver- Otto Gross.
am Symbolischen. Durch Einfachheit lorengeht oder ging, durch Wiederho­
zur Harmonie - das ist die Kunst der lung vor dem Yerlust zu rctten“ . Ferdi­
Hochkultur. Auf Grund der entwickel- nand Hodler gestalte so seine Mutter-
ten Sekundarfunktion. “ sehnsucht.
Cari Gustav Jung, der im Laufe einer In Kunst und Psychologie Ende des 19.,
gegenseitigen Psychoanalyse Ideen von Anfang des 20. Jahrhunderts ist nach
Otto Gross übernommen hat, gab den dem Scheitern der Vâter der Archety-
Typen einfachere Namen: „extraver- pus des „GroBen Weiblichen“ in seiner
tiert“ und „introvertiert“. C. G. Jung ganzen Variationsbreite aufgetaucht
s^+zte „Extraversion“ mit Wilhelm (Mutter - Dirne - femme fatale - femme
vyrringers ,,Einfühlung“, „Introver- fragile). Die Psychoanalyse Sigmund
sion“ mit dessen „Abstraktion“ Freuds hat dem nur sehr wenig Rech-
gleich... nung getragen. Für Freud war die „Li-
Was Otto Gross „entwickelte Sekun- bido“ mannlichen Geschlechts. Arthur
darfunktion“ nennt, ist im wesent- Schnitzlers Frauengestalten gegenüber
lichen identisch mit Ferdinand Hodlers entdeclct der Mann (Anatol), daB „es
Ordnungsprinzip des „Parallelismus“, keine Moglichkeit gibt, sich sicher zu
das dieser im Jahr 1904 anlâBlich der fuhlen“ . Karl Kraus verherrlichte ma-
Ausstellung seiner Bilder in der Wiener sochistisch das „Lligen liebende, an
Sécession formuliert hat. Er lobte Gu­ sich sexuelle und antisoziale Wesen“
stav Klimts Fresken: „In ihnen ist ailes Frau, dessen Kopf nur dazu da sei, daB
still und flieBend, und auch er beniitzt er einem anderen (mannlichen) Kopf
hier gerne Wiederholungen, wodurch als Polster dient. Einem Otto Gross,
dann seine prachtvoll dekorativen Wir- der die Révolution von der Analy-
kungen entstehen. Oft auch wendet er sencouch auf die StraBe bringen wollte,
sie an, um eine anders geartete Gruppe und zwar eine Révolution für das allei-
um so deutlicher hervortreten zu las- nige Erziehungsrecht der Mütter, stand
sen, quasi als Hintergrund. Zum Bei­ Otto Weininger gegenüber, der verlang-
spiel in jenem Gemalde, wo stilisierte te, daB man den Frauen ein mànnliches
Madchen eng nebeneinander auf einer Uber-Ich anerzieht und ihnen die Kin­
Wiese stehen, aus der lauter gleiche der wegnimmt: „Die Erziehung des
Blumen sprieBen. Hart daneben um- Weibes muB dem Weibe, die Erziehung
schlingt ein Mann ein Weib; die Glie- der ganzen Menschheit der Mutter ent-
der beider Gestalten sind parallel zogen werden.“ Der Freud-Schiiler
nebeneinander gezeichnet“ (Hodler Theodor Reik war von der humanisie-
meint offenbar den Beethoven-Fries). renden Rolle der Frauen im Laufe der
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Geschichte überzeugt. Aber Phantasien vom „wachsenden Geschlecht“ eine
über die Zeit des Matriarchats, wo „rie- „neue, tiefere Kunst: die Kunst des
senhafte, amazonenâhnliche Frauen Weibes“. Tatsachlich hat sich die weib-
von groBer Promiskuitât und Mütter- lich identifizierte Kunst der Wiener Sé­
lichkeit über die primitive Gesellschaft cession nach dem 1. Weltkrieg in einer
geherrscht haben“ sollen, führten auch anderen Weltstadt - verândert - fortge-
ihn zum Einverstândnis, daB deshalb setzt. E)ie Vermittlung war erfolgt
dann „der Mann rebellisch werden“ durch die -Ideen von Otto Gross, die
muBte, und „die Frau schlieBlich unter von der Schriftenreihe „Freie StraBe“
seine Herrschaft zwang“. Georg Grod- propagiert worden sind, sowie durch
deck, wilder Psychoanalytiker, Lebens- den Gross-Schüler Raoul Hausmann,
pathetilcer mit auBergewbhnlicher der die sozialrevolutionâren Plane sei­
Intuition, Erfinder des von Freud über- nes Freundes weiter lconkretisiert hatte.
nommenen Begriffes „Es“, erhoffte Ich meine den Berliner Dadaismus.

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