Sie sind auf Seite 1von 147

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS

Der Sozialismus ist


das Minimum, das wir heutzutage
durchzusetzen haben.
Rosa Luxemburg

Das Interessanteste,
was Menschen
herstellen können,
ist die Menschheit.
Dietmar Dath
Sozialismus,
der fällt nicht
vom Himmel.
Proletenpassion
EDITORIAL

Zum zehnjährigen Jubiläum erscheint die LuXemburg im


THERE IS AN ALTERNATIVE
frischen Layout und widmet sich den ganz großen The-
men: Sozialismus und Zukunft. Die Zeichen dafür stehen Wie Sozialismus in den USA
nicht gerade günstig, und doch ist klar, dass es ohne wieder sprechfähig wird
Systemwende keine Zukunft geben wird. Rasende ökolo- Von Sarah Leonard
gische Zerstörung, eskalierende militärische Konflikte und
der Aufstieg rechter Kräfte stellen genau wie die private
Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums die Zukunft
REVOLUTION HEISST,
selbst infrage. Dass die planetarischen Grenzen erreicht FÜR DIE ZUKUNFT SORGEN
sind, verengt den zeitlichen Horizont für linke Alternativen. Warum Feminist*innen
Immer mehr Menschen erkennen, dass eine Katastrophe
in Lateinamerika alles wollen
droht, wenn sich Ökonomie und Gesellschaft nicht radikal
verändern  –  Fridays for Future und die globalen Klima­ Von Verónica Gago
streiks stehen dafür. Manchmal können wir uns das Ende
der Welt besser vorstellen als das Ende des Kapitalismus WAS TUN UND WO
(Mark Fisher).
ANFANGEN?
LuX 3/2019 fragt, wie ein SOCIALISM FOR FUTURE aussehen
kann. Was sind Antworten auf die Krisen der Gegenwart? Wie wir heute den
Wie kann eine sozialistische Utopie die Sehnsüchte der Vie- Sozialismus von morgen
len bündeln? Wie sieht eine Politik aus, die Hoffnung macht vorbereiten
und Veränderungen bewirkt? Ansätze gibt es bereits: Die
Klimabewegung und die weltweiten feministischen Mobili-
Von Mario Candeias
sierungen zeigen, dass sich viele junge Menschen sich nach
einer solidarischen und geschlechtergerechten Gesellschaft
sehnen. In den USA und Großbritannien kann links-sozial-
demokratische Politik wieder Massen mobilisieren und das
Projekt eines linken Green New Deal wirbt dafür, radikale
Klimapolitik mit sozialer Transformation zu verbinden. Das
neoliberale Mantra »There is No Alternative« hat sich in sein
Gegenteil verkehrt. Zu einer radikalen Veränderung gibt es
keine Alternative mehr, oder in Anlehnung an Verónica
Gago: Sozialismus heißt, für die Zukunft zu sorgen.
SOCIALISM

INhalt
FOR FUTURE

6    IN EIGENER SACHE 32 OHNE KOHLE, WACHSTUM


Von der Redaktion der LuXemburg UND NATION
Bini Adamczak

36 DIE WELT VON MORGEN

SCHWERPUNKT Szenarien unserer Zukunft zwischen


Katastrophe und Hoffnung
10 KONKRETE DYSTOPIE Von Ingar Solty
Warum wir die Zukunft dem
Kapitalverhältnis entreißen müssen GESPRÄCH
Von Alex Demirović WIE HEUTE MIT SOZIALISMUS
46 POLITIK MACHEN?
18 KAPITALISMUS FRISST ZUKUNFT Mit Jan Dieren und Rhonda Koch
Die Krise in Bild und Zahl
54 WAS TUN UND WO ANFANGEN?
SOZIALISTISCHE ZUKÜNFTE 11-Punkte-Plan für einen neuen
20 THERE IS AN ALTERNATIVE Sozialismus
Von Sarah Leonard Von Mario Candeias

FÜR EINEN SOZIALISMUS 64 A MESSAGE FROM THE FUTURE


23 DES 21. JAHRHUNDERTS Was, wenn wir einen Green
Von Étienne Balibar New Deal tatsächlich umsetzen?
Von Alexandria Ocasio-Cortez
SHOWDOWN DES FOSSILEN
25 KAPITALISMUS 70 EIN PLAN FÜR ALLE (FÄLLE)
Von Vishwas Satgar Der Green New Deal als sozial-
ökologisches Hegemonieprojekt
REVOLUTION HEISST, Von Jan Rehmann
28 FÜR DIE ZUKUNFT SORGEN
Von Verónica Gago
LUXEMBURG
ONLINE
DIE POLITISCHE REVOLUTION
BEGINNT HIER UND JETZT
BLICKWINKEL
Von Keeanga-Yamahtta Taylor
34    CHILE IN AUFRUHR
Von Migrar Photo
KLIMARETTUNG HEISST
KLASSENKAMPF
Von Anej Korsika

78 STRATEGISCHE ALLIANZEN
Was sich von der Bewegung
für einen Green New Deal in
den USA lernen lässt
Von Dorothee Häußermann

84 DAS FENSTER IST OFFEN


Für eine linke Erzählung
der Klimagerechtigkeit
Von Lorenz Gösta Beutin

88 DAS SYSTEM UMBAUEN


Schritte in eine
sozial-ökologische Zukunft
Von Bernd Riexinger

94 DIE STEUERUNGSWENDE
Wirtschaftsplanung
im digitalen Zeitalter
Von Simon Schaupp und
Georg Jochum
WAS NOCH
INVESTITIONEN FOR FUTURE
100 ODER SCHWARZE NULL FOR EVER?
Linke Strategien gegen
die Schuldenbremse
Von Moritz Warnke

WER SCHREIBT GESCHICHTE?


RÜCKBLICKE AUF DIE WENDEZEIT
106 MEHR ALS EIN MAUERFALL
Von Annett Gröschner
LUXEMBURG
ONLINE
108 MAUERFALL MEMORIES
Von Norbert Niemann LABOURS GEHEIMWAFFE
Nachbarschaften organisieren
111 ES WAR EINMAL Von Sarah Jaffe
Von Heike Geißler
DER WEG IN DEN KRIEG
116 KOLLEKTIV FÜHLEN LERNEN Warum konnte die jüngste Invasion
Warum Emanzipation und der Türkei in Nordsyrien stattfinden?
Popkultur zusammengehören Von Axel Gehring
Von Max Lill
GEBURTSTAG DER GELBWESTEN
Rückblick auf ein Jahr des Protests
in Frankreich
Von Sebastian Chwala

HALLE-NEUSTADT:
DAS BETRIEBSSYSTEM EINER
TRANSFORMIERTEN STADT
Von Peer Pasternack
IN JEDEM HEFT
WEHTU-FRAGE
WAS BRINGT DIE LINKE IN
124 DER REGIERUNG?
Gespräch mit Janine Wissler und
Harald Wolf

NAHAUFNAHME
CARE-CATWALK: STATEMENTS
130 AUS DER CARE-KRISE
HAUPTSTADT DER
UMWELTGERECHTIGKEIT? NAHAUFNAHME
Sozial-ökologische Kämpfe in Berlin 132 SCHAFFEN WIR DAS?
Von Hendrik Sander Ehrenamtliche Arbeit in
einer Flüchtlingsunterkunft
ABC DER TRANSFORMATION Von Christiane Markard
GESELLSCHAFTLICHE / VERBINDENDE
PARTEI 138 ROSALUX KOMPAKT
Von Mario Candeias
144 IMPRESSUM
HKWM STICHWORT
KOMMUNISMUS
Von André Tosel

WIEDERGELESEN
DIE FRAUEN UND DER UMSTURZ
DER GESELLSCHAFT
Von Mariarosa Dalla Costa
IN EIGENER SACHE
EIN JAHRZEHNT LUXEMBURG

Die LuX hat Geburtstag! Vor zehn Jahren, im Sommer 2009, hielten
wir – und sicher auch einige von euch – das erste Heft in der Hand;
damals noch im eleganten Zweifarbdruck und fast 200 Seiten
schwer. Der Titel »In der Krise« war eine Zeitdiagnose im doppelten
1
1

Sinne: die Finanzkrise als Herausforderung, aber auch als Chance


10

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2010

für die gesellschaftliche Linke. Als Einzige hatte sie die richtigen
LUXEMBURG

FÜr eiN LiNKes mOsAiK BOA sOusA sANTOs | mAriO CANDeiAs


ANGeLA KLeiN | eDGArDO LANDer | miCHAeL LÖWY | mimmO
pOrCArO | BerND rieXiNGer | THOmAs seiBerT | HANs-JÜrGeN
urBAN | ArA WiLsON | miYA YOsHiDA | FrANZisKA WieTHOLD u.A. Antworten parat und war dennoch denkbar schlecht aufgestellt:
vielfach zersplittert, zerstritten, neoliberal eingebunden und nur
vereinzelt in praktische Auseinandersetzungen involviert. In dieser
Situation Brücken zu schlagen und verbindende Debatten anzure-
gen zwischen den verschiedenen Teilen des »linken Mosaiks«, war
das Anliegen der LuX von Beginn an. Eine spektrenübergreifende
Zeitschrift für linke Strategieentwicklung, das gab es nicht. Die
LuXemburg wollte es werden und ist es bis heute.
Ihr Anspruch zeigte sich auch in der Zusammensetzung der Re-
daktion. Dort kamen Wissenschaftler*innen aus dem Institut für
w
17.03.10 14:00

w
Gesellschaftsanalyse (IfG) der
Rosa-Luxemburg-Stiftung  und
4 3
4 3
ÖkoloGie mit marx
12
GleicHHeit Statt verzicHt
geSellSCHAFTSANAlYSe uNDÖkofeminiSmuS
lINKe PrAxISund ÖkoSozialiSmuS
2012
12

geSellSCHAFTSANAlYSe uND lINKe PrAxIS


ihrem Umfeld mit Aktiven  aus
2012
GeSellScHaftlicHe planunG
luxemburg

sozialen Bewegungen und  der


luxemburg

GuteS leben
rEproduktion in dEr krisE silVia fEdErici |in
beWeGunG mElinda coopEr
der linken Grüner SozialiSmuS GreGory albo | raul zelik | HorSt kaHrS
bErnd riExingEr | mikE laufEnbErg | christa WichtErich
reorGaniSierunG: Syriza, indiGnadoS nicola bullard | cHriStopH SpeHr | luiS JuberÍaS | elmar
susannE schultz | arliE hochschild | nancy frasEr | cornElia
uns nahestehenden Partei  so-
altvater | Sabine leidiG | katJa kippinG | bernd riexinGer
möhring | shirin rai | isabEll lorEy
iSbn |978-3-89965-862-0
gabriElE WinkEr u.a. 10 euro Hilary WainWriGHt | mario candeiaS | martin eberle u.a.

wie Haupt- und Ehrenamtliche


zusammen. Die Gründungscrew
bestand aus Micha Brie, Mario
Candeias, Alex Demirović, Corin­-
na Genschel, Ca­th­a­rina Schmal-
stieg, Rainer Rilling und der
damals leitenden Redakteurin
Christina Kaindl. Julia Schnegg

LUX_1203_TITEL.indd 1 07.09.12 11:05


05.12.12 17:05

6     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


3/4
EinE ZEitschrift dEr rosa-LuxEmburg-stiftung
13
und die Agentur Matthies 
& diE tantEn von gEZi

3
EINE ZEITSCHRIFT DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG 3 süd-bLock in Europa? 3/4
14 occupy nach dEn räumungEn geSellSCHAFTSANAlYSe uND lINKe PrAxIS 2013
DEUTSCHE HEGEMONIE IN UND DURCH EUROPA
Schnegg verhalfen der LuX
FRACKING, FREEDOM, FREIHANDEL gEwErkschaftEn gLobaLisiErEn?
GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2014

luxemburg
bündnisarbEit transnationaL
MIT SICHERHEIT MEHR VERANTWORTUNG?
diE LinkE nach dEr wahL diE kampfZonE auswEitEn corinna trogisch | diEtEr kLEin |
RESPONSIBILITY TO PROTECT

LUXEMBURG
grünEs kapitaL und EnErgiEdEmokratiE armando fErnándEZ stEinko | anannya bhattacharjEE | LEna
nicht nur zu ihrer ersten, son-
DIE LINKE UND DIE AUSSENPOLITIK
KOMMUNALER PERSONALAUSWEIS IN NEW YORK
WELTKRISENPOLITIK GAYATRI SPIVAK | JAN VAN AKEN | ISABELL
LOREY | VLADIMIR ISCHCHENKOisbn
| ULLA JELPKE | RAINER RILLING
978-3-89965-866-8 15 Euro
ZiyaL | asEf bayat | sarah bormann | andrEw hErod | göran
thErborn | rodrigo nunEs | nicoLE mayEr-ahuja u.a.
DEMOKRATIE UND PARTIZIPATION
THOMAS SEIBERT | ALEX DEMIROVIĆ | SHREEN SAROOR | ACHIN
dern auch zu ihrer neuen gra-
ISSN 1869-0424 VANAIK | CORINNA HAUSWEDELL | MALTE DANILJUK, U.A.

fischen Gestaltung.

V WIE VERBINDEN
Die LuXemburg war von An-
fang an eine »eingreifende«
Zeitschrift mit politischer Ab­
sicht. Wo in der Krisensituation
auch international Hebel für
lin­ke Politik anzusetzen wären,
_LUX_1303_TITEL.indd 1 28.11.13 18:53

wie Spaltungslinien der Ver-


gangenheit überwunden und verbindende Politiken entwickelt
werden können, das waren die großen Fragen des ersten Heftes,
die sich seither wie ein roter Faden durch die Zeitschrift ziehen:
Wo kann Organisierung im Alltag ansetzen? Wie sollte sich das
linke Mosaik strategisch orientieren? Wie kann der Einstieg in so-
zialistische Transformation gelingen? Von Rosa Luxemburg hat
die Zeitschrift nicht nur den Namen, sondern auch die Haltung:
optimistischer Wille, der sich mit intellektueller Skepsis ver-
bindet, kritische Gesellschaftsanalyse mit eingreifender Praxis.
LuXemburg trat die Nachfolge von Utopie Kreativ an und ging
als Debattenorgan an den Start.

BEWEGTE DEKADE
Seither sind 35 Ausgaben mit über 5 000 Seiten von 600
Autor*innen, vier Sonderformate und Hunderte Online-Texte
erschienen. An den Heften der letzten zehn Jahre lässt sich ab-
lesen, was die Linke bewegt hat. Zentrales Thema waren von
Beginn an die globalen Bewegungszyklen, von den Nachwehen
der globalisierungskritischen Gipfelproteste über den Arabischen
Frühling und die Platzbesetzungen von Kairo, Madrid, New York
oder Athen bis zu den zersplitterten Protesten gegen die Aus-
teritätspolitik in Europa. Von den Plätzen ging es in die Viertel,
zur Organisierung wechselseitiger Solidarstrukturen: gegen
Zwangsräumungen oder für solidarische Kliniken in Griechen-
land und dann zum »Neuen Munizipalismus« rebellischer Städte

IN EIGENER SACHE   LUXEMBURG 3/2019     7


» Ich
benutze die Texte in
meinem Unterricht, daher fän- von Barcelona bis New York. Die ökologische Krise
de ich es gut, wenn die Zeitschrift
war seit dem ersten Heft präsent und wurde in den
auch Inhalte oder Darstellungsweisen
Ausgaben zu »Energiekämpfen«, »Auto-Mobil-
wahrnehmen würde, die die
Krise« und »Grünem Sozialismus« vertieft. Später
Vermittlung erleichtern. Danke,
gratuliere für die tolle Zeit- ging es um die Namenspatin in »Ich werde sein«
schrift!« und natürlich um Karl in »Marxte noch mal?!«. Einen
Schwerpunkt bildeten feministische Krisenanalysen
und Gegenentwürfe, von der 4-in-1-Perspektive über die
Care Revolution bis zum internationalen Frauen*Streik
und einem »Feminismus für die 99 Prozent«. Außerdem spielten die
Re:Organisierung und Demokratisierung von Gewerkschaften eine
zentrale Rolle, Kämpfe im Pflegebereich wurden ebenso be-
»Es ist
gleitet wie Streiks bei Amazon und Co. Das griechische
eine Freude, sie in der
Hand zu halten und zu lesen. Der Parteienprojekt SYRIZA warf die Frage nach der Rolle
Grundansatz ist sehr gut, in der Durch­ neuer linker Parteien auf: Welche Funktion muss ei-
führung habe ich aber manchmal den Eindruck, ne »verbindende Partei« heute einnehmen? Dieser
dass eine theoretische Blase bedient wird. Daher: Strang begleitete auch die Strategiediskussionen
mehr ­Offenheit, weniger (Selbst-)Sicherheit, mehr der LINKEN. In der rassistisch geschürten Debat-
Kontroversen (…) mehr und vertiefte argu- te nach dem »Sommer der Migration« 2015 stritt
mentative Auseinandersetzung mit dem die Linke über offene Grenzen. In der LuX wurden
politischen Gegner und seinen Konzepte einer »solidarischen Einwanderungsgesell-
Positionen!«
schaft« und linken Migrationspolitik diskutiert.
Mit dem rasanten Aufstieg der Rechten wurde schließlich ei-
ne neue Klassenpolitik zum strategischen Fokus: Wie lassen
sich die Spaltungen der in jeder Hinsicht heterogenen Arbeiterklasse
überwinden und zugleich – im Geist der Abspaltung – ein verbindender
Antagonismus gegenüber einem gemeinsamen Gegner schärfen?

LUX GOES COMMONS


» Versucht doch Über die Jahre hat sich die LuX gewandelt. Auf Christina
noch stärker, eure guten Themen Kaindl folgte 2012 Barbara Fried als leitende Redak-
auch Leuten zu vermitteln, die nicht in teurin, die gemeinsam mit Harry Adler und seit
euren Diskussionszusammenhängen 2019 Hannah Schurian die Kernredaktion bildet.
stecken und alle Sprach-Codes und Auch die Gesamtredaktion hat sich gewandelt
Bezüge kennen. Und lasst gern auch mal
und noch enger mit dem IfG verzahnt. Die größte
Leute zu Wort kommen, die nicht
Veränderung war wohl, als die LuX »Commons«
euer politisches Umfeld
wurde. Inspiriert von der Debatte über Gemeingüter
sind.«
entschieden wir, die Zeitschrift nun kostenfrei unter der
Creative-Commons-Lizenz BY-NC-S erscheinen zu lassen.

8     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


» Ich
würde mir mehr Blicke
Mit diesem Schritt Anfang 2014 stiegen die auf erfolgreiche linke Wirtschafts-
Abonnements sprunghaft an. Wurde die LuX praxis wünschen. Über Genossenschaften,
anfangs in einer Stärke von 1 500 Exem­ erfolgreiche Kollektive (…). Davon gern Theorie wie
Praxis, also von Beschreibungen über Erfahrungsbe-
plaren gedruckt, verdoppelte sich die Zahl
richte hin zu Analysen. Im Grunde, wie Rosa Luxem-
der Abos innerhalb von nur drei Monaten.
burg geschrieben hat: nach vorn, auf das Neue
Die Nachfrage reißt seitdem nicht ab – mitt-
und Konkrete gerichtet, ohne Schwerpunkt
lerweile liegt die Auflage bei 9 000 gedruck- auf Binnendiskurse und identitäts-
ten Heften und 3 300 E-Abos pro Ausgabe. Wir politische Gesten.«
haben Leser*innen in 35 Ländern. 

WIE SIE EUCH GEFÄLLT


2019 wollten wir in einer Umfrage wissen: Wer liest eigentlich die
LuX und wie? Was schätzen die Leser*innen, was fehlt? Über 700
Menschen – fast zehn Prozent unserer Abonnent*innen – haben
sich beteiligt. Wir freuen uns über das positive, bestärkende und » Sozial, ökologisch,
konstruktiv-kritische Feedback und bedanken uns bei allen, die friedlich, feministisch – solida-
mitgemacht haben. risch, frei und gleich – so muss der
Was uns besonders freut: 83 Prozent der Teilnehmenden finden Zukunftsfaden gezwirbelt werden
die LuXemburg gut oder sehr gut. Immerhin 25 Prozent nutzen und so muss er auch die Klassen-
debatten durchdringen.«
die Texte für politische Bildungsarbeit. 80 Prozent schätzen die
Gestaltung. Und auch wenn sich viele eine Auffrischung des Layouts
wünschen, will kaum jemand eine »magazinartigere« LuX. Wichtig
sind den Leser*innen die Hintergrundanalysen, Texte zu linker und kri-
tischer Theorie (56 Prozent) sowie konkrete Ansätze linker Praxis (66
Prozent). Eine Mehrzahl wünscht sich zudem mehr Kontroversen zu
wichtigen linken Fragen (57 Prozent). Daraus haben wir Konsequen­
zen gezogen: Unser Layout wurde nicht radikal umgekrempelt, aber
grunderneuert. Die Gestaltung soll zugänglicher sein und mehr Ori-
entierung bieten. Es sind neue Formate dazugekommen: Die
»Wehtu-Frage« nimmt sich wunde Punkte vor, Streit- » Die
punkte und Debatten, in denen die Linke feststeckt. LuX soll linke Analy-
sen, Konflikte und Strategien so
Die »Nahaufnahme« bietet Raum für Alltagserfah-
aufbereiten, dass sie mehr Menschen
rungen und ungewöhnliche Perspektiven. Dass
erreichen. Sie soll dazu beitragen, dass
die Hefte dünner und leichter werden  – diesen
Debatten darüber, wie wir die Kräfte-
Wunsch konnten wir zum Jubiläum noch nicht verhältnisse tatsächlich verschieben
erfüllen. Zu groß war die Frage nach der sozialis- können, breiter geführt werden
tischen Zukunft. Zumindest auf die Zukunft unserer können.«
Zeitschrift freuen wir uns sehr und hoffen, möglichst
vielen von euch verbunden zu bleiben.

IN EIGENER SACHE   LUXEMBURG 3/2019     9


KONKRETE DYSTOPIE
WARUM WIR DIE ZUKUNFT
DEM KAPITALVERHÄLTNIS
ENTREISSEN MÜSSEN
ALEX DEMIROVIĆ

Dieses System fesselt uns an die Herrschaft der


Vergangenheit und unterwirft unser lebendiges
Arbeitsvermögen dem (un)toten Kapital – höchste
Zeit, den Ausbruch zu wagen.
Wenn wir über Sozialismus als Alternative zum Ka-
pitalismus nachdenken und für eine Transforma- ALEX DEMIROVIĆ ist Philosoph und Sozialwissen-
schaftler und hierzulande einer der eingriffslustigs-
tion von der einen in die andere Gesellschaftsform
ten linken Intellektuellen. Er lehrte unter anderem
eintreten, dann, weil es konkrete Gründe dafür gibt.
an den Universitäten in Frankfurt am Main und
Einer von ihnen ist, all jene Verhältnisse zu vermei- Berlin, ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen
den oder zu beseitigen, die so viele menschliche Op- Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Fellow am
fer mit sich bringen oder erzeugen. Da gibt es die Institut für Gesellschaftsanalyse der Stiftung und
sexistischen Entwürdigungen und Gewalttätigkeiten Gründungsmitglied dieser Zeitschrift.

in Familien, es gibt die Schikanen in den Betrieben


und im Arbeitsalltag. Menschen sind dem Risiko des
Arbeitsmarktes ausgesetzt; für viele reicht das geringe Einkommen eines Jobs nicht,
um eine Familie zu versorgen. Es gibt die Millionen Menschen, die bei Verkehrs-
unfällen verletzt oder getötet werden, die krank werden aufgrund von Pestiziden
in der Nahrung, von Chemikalien in der Kleidung, die frühzeitig sterben wegen
Arbeits- oder Feinstaubbelastung. Wir denken auch an die vielen, die in Kriegen
getötet, an all die, die Opfer von Völkermorden werden, oder an all die, die von
Gangsterbanden, von staatlichen Polizeien oder Geheimdiensten drangsaliert, gefol-
tert, gefangen gehalten werden – auch im Namen einer besseren, gerechteren Welt,
auch im Namen des Sozialismus. Der Abbau von Kohle, Gold oder seltenen Erden
liefert Menschen und ganze Gesellschaften der Krankheit und dem Tod aus. Jeden
Tag sterben Menschen, wenn sie migrieren oder flüchten, sie sind der Gewalt, der
Sklaverei, der Zwangsarbeit ausgesetzt, sie verlieren Jahre ihres Lebens in Lagern
oder Gefängnissen. Es sind verstörende Kontraste: hier die Partygänger*innen, dort
die Obdachlosen, die auf der Straße neben uns liegen; hier die Kreuzfahrt- und
Segelschiffe, dort die Flüchtlingsboote und Seenotrettungsinitiativen. Das Gefälle
zwischen dem Reichtum, der Rechtssicherheit oder der Gesundheitsversorgung,
den mit einer unüberschaubaren Vielzahl von Waren gefüllten Kaufhäusern, dem
Wissen um jeden Thunfischschwarm oder jeden Quadratmeter Regenwald, der
Normalität des täglichen Schulbesuchs einerseits und andererseits der Armut, der
Nacktheit und Prekarität des Lebens, der Unfähigkeit, dem Wissen gemäß zu han-
deln und die Fehlentwicklungen zu beenden, ist grotesk.
Wir stecken in einem Widerspruch fest. Das, was die einen tötet, erlaubt den
anderen, zu leben und gut zu leben: die Arbeitsverhältnisse in den vielen Fabriken
der Welt, die CO2-Emissionen der Autos oder der Containerschiffe, der Futterimport

KONKRETE DYSTOPIE   LUXEMBURG 3/2019     11


aus den globalen Sojaanbaugebieten, die durch Massentierhaltung bedingten Nitr­
ateinträge in den Böden, die Lastwagentransporte durch die Alpentäler, der Export
von Waffen oder von Milch. Dass dieser Widerspruch etwas mit Kapitalismus zu tun
hat, wird bestritten. Zwar wird, erstens, eingeräumt, dass es die beschriebenen Phä-
nomene gibt, aber tief philosophisch vermutet, dass sie Ergebnis der menschlichen
Verfassung als solche seien: Menschen seien nun einmal egoistisch und dächten zu-
erst an sich. Zweitens könnten jene Phänomene dem Kapitalismus nicht zugerech-
net werden, weil es diesen als solchen gar nicht gebe, sondern nur soziale Marktwirt-
schaften mit einer Vielzahl von freien Akteuren. Der Markt sei, drittens, Moment
eines sozialen Differenzierungsprozesses, der Erfolge in zahlreichen Dimensionen
aufweise: technischer und wissenschaftlicher Fortschritt, Rechtssicherheit, Demo-
kratie, wirtschaftliche Effizienz, Wachstum, Beseitigung der Armut, Verlängerung
der Lebenserwartung, Gesundheitsvorsorge und Bildung. Diese Erfolge seien Ergeb-
nis einer nicht gelenkten Modernisierung, die systemischen Anforderungen folgt
und nicht den moralischen Entscheidungen der einzelnen Individuen zurechenbar
ist. Viertens wird nahegelegt, dass es zwar immer noch viele Unzulänglichkeiten
gebe, aber das Ideal der Perfektibilität sei zweifelhaft und es werde ja alles zwar
langsam, aber doch stetig besser. Beruhigend wird die Erwartung genährt, dass die
nächste Modernisierungsrunde die Probleme lösen werde. Die Selbstschutz- und
Selbstkorrekturmechanismen wirkten.
Aber ein solches Argument ist kurzsichtig und lässt außer Betracht, dass es auf
diese Weise seit Jahrhunderten hin- und hergeht: Mal geht es besser, dann geht es
wieder schlechter. Wie oft wurde behauptet, dass es in kapitalistischen Gesellschaf-
ten keine Wirtschaftskrisen und keine Armut, hingegen nur noch Vollbeschäftigung
geben würde? Formell gibt es keine Sklaverei und doch arbeiten viele Menschen
unter Bedingungen der Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft. Den Satz, dass die
Lohnarbeit in die Verzweiflung und zum Tod führt, können die Arbeiter*innen in
Bangladesch oder in Äthiopien genauso bestätigen wie ihre Kolleg*innen vor 200
Jahren vor der Kommission des britischen Parlaments. Die Fragen des Mindestlohns,
des Arbeitstags, der körperlichen, geistigen und psychischen Erschöpfung der Indi-
viduen, der Zerstörung ihrer alltäglichen Lebensformen, der schlechten Wohnungs-
versorgung, der niedrigen Bildung, der Pressefreiheit, des Koalitionsrechts, der
Verhinderung der demokratischen Selbstbestimmung wiederholen sich seit dem
18.  Jahrhundert. Die Umweltfrage taucht in immer neuen Formen auf: Hygiene,
Luftverschmutzung, mangelnde Durchlüftung städtischer Räume, Zerstörung der
Wälder und der Biodiversität, Degradation der Böden, Desertifikation, Klimawandel.
Nichts davon ist überraschend. Immer wieder, für einen kurzen Moment, scheinen
die Probleme gelöst, die Fortschrittsideologie legt dies nahe – bis sie sich dann auf
erweiterter Stufenleiter erneut einstellen.

12     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Ein Teil des Bürgertums sieht die Probleme. Es schafft zahllose Initiativen und zivil-
gesellschaftliche Organisationen; es reagiert seit Jahrhunderten mit zahlreichen Maß-
nahmen: Friedenskonferenzen, Menschenrechte, Internationaler Strafgerichtshof,
die Konventionen gegen Folter, die Ächtung von Waffen, die Regulierung des Arbeits-
tages, die rechtliche Gewährleistung von Gewerkschaften, die Presse- und Wissen-
schaftsfreiheit, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Forderung nach mehr
Nachhaltigkeit, die sich in internationalen Vereinbarungen, UN-Programmen oder
im globalen Monitoring niederschlägt; auch mit Stiftungen, Entwicklungsagenturen,
NGOs, zivilgesellschaftlichen Initiativen (Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-
Bewegung, WWF, Amnesty International, Transparency International, Bill & Melinda
Gates Foundation, Open Society Foundations). Zahllose Absichtserklärungen werden
verkündet und freiwillige oder rechtlich verbindliche Regelungen beschlossen. Aber
nichts hilft – die Wirklichkeit richtet sich nicht nach ihnen.
Ein anderer Teil des Bürgertums leugnet die Tendenzen der Destruktivität, es
will die Wirklichkeit nicht wahrnehmen – der Klimawandel existiere nicht oder, wenn
doch, sei er gottgewollt; es seien nicht die Waffen, die töteten. Die Bemühungen, die
negativen Entwicklungen einzudämmen, werden als Torheit abgelehnt, ihr Scheitern
betrieben. Ein wieder anderer Teil des Bürgertums und seiner Führungskräfte ist sich
der Probleme oder mancher ihrer Aspekte durchaus bewusst. Es ist die Rede von der
Notwendigkeit einer großen Transformation, von Neugestaltung der Globalisierung,
von der Schaffung resilienter Strukturen. Der Wohlstand soll gerechter verteilt, der
Kapitalismus soll, wie die Finanzminister der G7-Staaten jüngst forderten, gerechter
werden. Doch trotz mancher Einsicht und einer entsprechenden Handlungsorien-
tierung erweist sich das Bürgertum als schwankend, inkonsequent oder auch ratlos.
Dies legt das Verhalten gegenüber den Beschlüssen der Weltumweltkonferenz, dem
Kyoto-Protokoll, den Zielen für nachhaltige Entwicklung nahe.
Nüchtern betrachtet hilft ihnen die Einsicht nicht; sie haben die Perspektive,
Kompetenz und Kraft nicht, solche Strategien vorzuschlagen, die zu einer Lösung
führen könnten. Denn die kapitalistischen Verhältnisse zeichnen sich gerade da-
durch aus, dass es keine gesamtgesellschaftliche Rationalität gibt, die die Interessen
der Vielen und die Gesamtausrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung mitei-
nander koordinieren. Vielmehr ergibt sich die gesellschaftliche Entwicklung, oder
besser: die Nicht-Entwicklung, aus einer Vielzahl von Entscheidungen mehr oder
weniger mächtiger Akteure, die miteinander konkurrieren. Weltumspannend oder
regional operierende Unternehmen, politische Kräfte, staatlich organisierte Akteure,
zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen, die stummen Praktiken der
Vielen wirken mit- und gegeneinander bei Planungen, Nichtwissen und Wissensaus-
blendung, Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen mit verschiedener zeitlicher,
räumlicher, sozialer Reichweite, bei der Definition der Gegenstände und der Tiefe der

KONKRETE DYSTOPIE   LUXEMBURG 3/2019     13


Maßnahmen. Dies betrifft alle Bereiche des Lebens. Bei Fragen des Fleischkonsums,
der Mobilität und Besiedlung, der alternativen batteriegestützten E-Mobilität oder
zu Brennstoffzellen, der Erzeugung von Energie, der Fortentwicklung von Human-
genetik und Informatik, die in der Konsequenz die menschliche Gattung als solche
abschaffen könnten, sind die Konflikte um die Entscheidungsalternativen offensicht-
lich. Bislang kommt es nicht zu Konstellationen, in denen die Entwicklungspfade
zur Wahl gestellt werden; die Entscheidungen werden bislang immer noch nicht auf-
grund freier Einsicht, höchstem Erkenntnisniveau und der Beteiligung der Vielen
getroffen, sondern starke ökonomische, politische, wissenschaftliche und mediale
Interessengruppen verändern besitzergreifend die Naturgeschichte der Gattung und
des Planeten und blockieren Veränderungen der kollektiven Gewohnheiten.
Es gibt bereits heute zahlreiche Ansätze, mit denen sich die Menschen auf
diesem oder jenem Gebiet als globales Kollektivsubjekt konstituieren. Die Prakti-
ken sind ungleichzeitig, zögerlich und partikularistisch, die Widerstände deswegen
stark. Es liegt zudem auf der Hand, dass allein transformatorische Maßnahmen auf
einzelnen Feldern nicht ausreichen werden, da die Prozesse vielfältig ineinander-
greifen. Um die Probleme anzugehen und die ökologischen, technischen, ökonomi-
schen, kulturellen und demokratischen Prozesse einigermaßen aufeinander abzu-
stimmen und so zu einer regulierten, auf Gleichzeitigkeit zielenden Entwicklung
zu gelangen, ist es erforderlich, dass dafür geeignete Handlungsbedingungen ge-
schaffen werden. Das heißt nichts anderes, als dass sich die Gattung als Menschheit
konstituieren und ihr Geschick in die Hand nehmen muss. Sie muss sich umstellen
auf die Bewältigung der Schäden, die Bekämpfung ihrer Ursachen, die Suche nach
Lösungen zur Gestaltung der Zukunft.

HERRSCHAFT DES UNTOTEN


Doch das Bürgertum, das sich so viel auf Modernisierung, auf Entwicklung, auf Fort-
schritt zugutehält, kann dies erstaunlicherweise nicht. Das hat schon einen radikalen
Demokraten wie Thomas Paine im 18. Jahrhundert überrascht. Er beobachtete, dass
das Bürgertum bereit war, den Gedanken des Gesellschaftsvertrags zu historisieren:
Ja, so wird dann eingeräumt, das Gemeinwesen wurde einmal durch einen Vertrag
aller mit allen gegründet. Aber dieser Akt der Gründung sei einmalig gewesen und
die Erben und Nachkommen seien damit bis ans Ende aller Zeiten gebunden. Doch,
so Paine, habe kein Geschlecht von Menschen, kein Stand und kein Parlament das
Recht oder die Macht, die Nachkommenschaft derart zu binden. »Jedes Zeitalter,
jedes Geschlecht muss eben solche Freiheit haben, in allen Fällen für sich selbst
zu handeln, als die Zeitalter und Geschlechter vor ihm. Die Eitelkeit und Anma-
ßung, noch jenseits des Grabes regieren zu wollen, ist die lächerlichste und unver-
schämteste aller Tyrannen. Der Mensch besitzt kein Eigentum in dem Menschen;

14     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


ebenso wenig besitzt eine Generation in künftigen Geschlechtern Eigentum.« (Paine
1792, 49) Für diese radikale Zukunftsoffenheit tritt in der Folge von Paine auch Marx
ein, nicht aus der Vergangenheit und Erinnerung, sondern aus der Zukunft solle die
umfassende soziale Emanzipation ihr Selbstverständnis gewinnen, nicht die Toten,
sondern die Lebendigen sollten bestimmen (vgl. Marx 1852, 117). Diese Forderung
von Marx ist uneingelöst. Er wendet sich damit gegen die eigentümliche Kultur des
Bürgertums, das seine durch politische Revolution neu gewonnene Freiheit in die
Argumente, die Kleider und in die Architektur der Vergangenheit des Römischen
Reiches steckt. Dass die modernen politischen und gesellschaftlichen Entschei-
dungsprozesse sich derart durch Bindung an die Vergangenheit vollziehen, dass das
Bürgertum ständig von Neuem von seiner Vergangenheit, von den Traumata seiner
Gewalt eingeholt wird, Erinnern und Besserung verspricht und doch die Gewalt in
der Gegenwart nicht beenden kann, ist Marx zufolge selbst kein Zufall, sondern ent-
spricht den Grundlagen, auf denen das moderne Bürgertum sein Leben und seine
Selbsterhaltung organisiert. Dieser Zusammenhang wurde seit John Locke immer
wieder betont: Es ist das Eigentum und seine Absicherung. Das Eigentum soll die
Folgegenerationen binden. Aber wie geschieht es? Und vor allem, warum geschieht
es? Denn eine Alltagsweisheit besagt, dass niemand als Toter etwas mitnimmt. War-
um also gibt es das Bestreben, die gesellschaftliche Dynamik, über den eigenen Tag
hinaus die Zukunft festzulegen? Warum werden im Namen erworbener oder zu ver-
teidigender Eigentumstitel, also im Namen von etwas Vergangenem und Totem, die
lebendigen Menschen benachteiligt, verletzt oder gar getötet?
Marx spricht diesen Gegensatz als den zwischen der toten und der lebendigen
Arbeit an. Es handelt sich um ein verkehrtes, verrücktes Verhältnis, da nun die Ver-
gangenheit über die Gegenwart herrscht, die Produktionsmittel die Arbeiter*innen
anwenden, nicht die Arbeiter*innen die Produktionsmittel, nicht sie bestimmen in
freier körperlicher und geistiger Freiheit die Produktionsabläufe, sondern werden
dem toten Mechanismus der Maschinen als lebendige Anhängsel einverleibt (vgl.
Marx 1890, 445). Diese Verrückung ergibt sich aus dem Kapitalverhältnis. Kapital ist
Geld, das sich mit lebendigem Arbeitsvermögen austauscht und es auf diese Weise
verwertet, also in einem größeren Umfang aus der Zirkulation zurückkehrt, als es
in diese eingetreten ist. Das Geld und das Kapital sind ihrerseits bereits tote Gegen-
ständlichkeit, Resultat früherer lebendiger Arbeit, die sich der Kapitalist angeeignet
hat. Er kauft damit Produktionsmittel, denen die Lohnabhängigen im Produktions-
prozess ihr lebendiges Arbeitsvermögen zusetzen. »Indem der Kapitalist Geld in
Waren verwandelt, die als Stoffbildner eines neuen Produkts oder als Faktoren des
Arbeitsprozesses dienen, indem er ihrer toten Gegenständlichkeit lebendige Arbeits-
kraft einverleibt, verwandelt er Wert, vergangne, vergegenständlichte, tote Arbeit in
Kapital, sich selbst verwertenden Wert, ein beseeltes Ungeheuer, das zu ›arbeiten‹

KONKRETE DYSTOPIE   LUXEMBURG 3/2019     15


beginnt, als hätt’ es Lieb’ im Leibe.« (Marx 1890, 209) Die Rede von der toten Ge-
genständlichkeit, die sich lebendige Arbeitskraft einverleibt, ist durchaus wörtlich
zu nehmen. Denn es geht um die Erhaltung einmal erworbener Eigentumstitel. Die
Verfügungsrechte über das angeeignete Arbeitsvermögen nehmen Rechts- und po-
litische Verhältnisse an. Um sie zu bewahren, wird die körperliche Unversehrtheit
und das Leben vieler Menschen riskiert, ihr Tod wird in Kauf genommen, um das
Recht auf weitere Verwertung des Kapitals aufrechtzuerhalten. Niemand könnte auf
dieses Recht verzichten, ohne befürchten zu müssen, selbst Opfer zu werden.
In seiner Studie »Verworfenes Leben« macht Zygmunt Bauman deutlich, dass
die Todeszone sich ausgedehnt hat und mehr umfasst als nur den Bereich der Pro-
duktion. Er nennt die vielen Konsumgüter, den Abfall, der durch mit den Mitteln der
Werbung angeregten Fehlkauf und Überkonsumtion, durch schnellen moralischen
Verschleiß, durch Mode oder durch eingebaute Obsoleszenz erzeugt wird. Mehr
noch: Viele Menschen werden nicht einmal mehr zum Bestandteil der industriellen
Reservearmee, sie zählen als Überflüssige, als Abfall. Schließlich, drittens, prägen
die Probleme des menschlichen Abfalls das gesamte soziale Leben und erzeugen ei-
nen Abfall sui generis: »totgeborene, unpassende, ungültige und nicht realisierbare
menschliche Beziehungen, die von Anfang an den Stempel des drohenden Dahin-
schwindens tragen« (Bauman 2005, 15).
Es sollte nicht verkannt werden: Die Verwalter*innen des Toten wollen die Le-
benden regieren. Aus ihrem Blickwinkel, der Verwertung ihres Kapitals, nehmen sie
die Zukunft in den Blick. Doch diese wird stark vereinseitigt und der Vergangenheit
verpfändet. Denn die Zukunft wird darauf festgelegt, Gewinnerwartungen einzulö-
sen. Im zinstragenden Kapital sei, so Marx, die Vorstellung vom Kapitalfetisch voll-
endet, dass das aufgehäufte, tote Arbeitsprodukt aufgrund einer geheimen Qualität
Mehrwert erzeuge. »Man weiß dagegen, dass in der Tat die Erhaltung, und insoweit
auch die Reproduktion des Werts der Produkte vergangner Arbeit nur das Resultat
ihres Kontakts mit der lebendigen Arbeit ist; und zweitens: dass das Kommando der
Produkte vergangner Arbeit über lebendige Mehrarbeit grade nur so lange dauert, wie
das Kapitalverhältnis dauert, das bestimmte soziale Verhältnis, worin die vergangne
Arbeit selbständig und übermächtig der lebendigen gegenübertritt.« (Marx 1894, 412)
Angesichts all der Herausforderungen, die daraus resultieren, dass die Gegen-
wart und die Zukunft an die Vergangenheit gebunden sind, bedarf es einer Verände-
rung der Verhältnisse, unter denen die Menschen sich die Möglichkeit nehmen, sie
selbst zu gestalten. Vergangene Arbeit – sowie die daraus abgeleitete Macht und die
mit ihr verbundenen Lebensverhältnisse – soll nicht die Zukunft weiter festlegen.
Doch das sollte nicht als einzelner historischer Einschnitt missverstanden werden,
aus dem sofort ein bestimmtes neues Verhältnis hervorgeht, das dann als Ultima
Ratio gelten könnte und alle Probleme löst. Vielmehr geht es um die Einrichtung von

16     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Verhältnissen auf der Höhe der Herausforderungen, sodass auf der Grundlage der
historisch erlangten Erfahrungen und dem erreichbaren Wissen kenntnisreich unter
Beteiligung der Vielen die gegenständliche und soziale Welt derart umgestaltet wer-
den kann, dass alle kooperativ, miteinander versöhnt und emanzipiert leben können.
Dies bedeutet, Nachlässigkeiten zu vermeiden, Sorge gegenüber dem Vernachlässig-
ten und Beschädigten zu tragen und das den Bedürfnissen gemäße Neue zu erzeu-
gen. Es war ein technizistisches Missverständnis, die Entwicklung der Produktivkräf-
te immer nur als technischen Fortschritt zur Erzeugung größerer Gütermengen zu
begreifen. Die wichtigste Produktivkraft ist die Kooperation der Menschen in einem
rationalen Verhältnis zur Natur. In diesem Sinn gehört zur Produktivkraftentwick-
lung auch, über die Produktionsmittel, die Arbeitsprodukte und -prozesse gemein-
sam nach Gesichtspunkten eines rationalen Metabolismus zu entscheiden.

WIR NENNEN ES SOZIALISMUS


Aus historischen Gründen knüpft sich die Erwartung der Lösung einiger der großen
Probleme des gesellschaftlichen Lebens an den Sozialismus. Ausdrücklich erklären
Journalist*innen (vgl. SZ, 21.9.2019; NZZ, 20.7.2019), dass sie sich der Beliebtheit
des Sozialismus in der Bevölkerung entgegenstellen wollen. Ein Argument ist, dass
er sich als ineffizient erwiesen habe und autoritär gescheitert sei. Wenn so argumen-
tiert wird, dann ist oft die Häme zu spüren. Darüber, dass bürgerliche Kräfte erheb-
lich dazu beigetragen haben, dass Alternativen scheitern, wird kein Wort verloren.
Insbesondere in Deutschland ist das nach all den Verbrechen zur Verhinderung von
Alternativen in Osteuropa seit 1917 infam genug. Aber mehr noch, es wird damit
auch gesagt, dass zentrale Ziele der Aufklärung scheitern: nämlich die vernünftige
Gestaltung der Verhältnisse, unter denen Menschen leben. Gerade das ist mit dem
Kapitalismus nicht möglich: Er hat die Produktivkräfte im Wettbewerb entfaltet  –
doch gerade die Konkurrenz macht ihn auch ineffizient, gewaltvoll und tendenziell
apokalyptisch, weil sich die Vielen mit ihren gemeinsamen und kooperativen Prak-
tiken nicht zur Geltung bringen können. Insofern kommt es heute auf eine Verän-
derung der Verhältnisse an, die die zivilisatorische, rationale Entfaltung der Produk-
tivkräfte blockieren. Historisch wurde zum Schaden der Menschen mit Markt und
Staat experimentiert. Das genuine Projekt, das aus der gemeinsamen Verwaltung der
Dinge und der freien Entfaltung der Individuen zur selbstbestimmten Gestaltung der
Verhältnisse besteht, wurde bislang noch nicht ausprobiert. Es ist an der Zeit.

LITERATUR
Bauman, Zygmunt, 2005: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg
Marx, Karl, 1852: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW 8, Berlin
Ders., 1890: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, in: MEW 23, Berlin
Ders., 1894: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3, in: MEW 25, Berlin
Paine, Thomas, 1792: Die Rechte des Menschen, Frankfurt a. M. 1973

KONKRETE DYSTOPIE   LUXEMBURG 3/2019     17


In der Krise ist dieses System schon lange. Eine obszöne
Kluft zwischen Reichtum und Armut, Überfluss und Mangel

KAPITALISMUS ist im globalen Kapitalismus Normalität. Soziale, ökologische


und ökonomische Krise haben neue Dimensionen erreicht.

FRISST Die Klimakatastrophe und der Aufstieg neo-faschistischer


Bewegungen haben vielen vor Augen geführt: Eine Alternative
muss her, denn »wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist,
der will nicht, dass sie bleibt«. (Erich Fried)

ZUKUNFT
DIE VIELEN
UND DIE WENIGEN

ÜBERFLUSS
UND ÜBERLEBEN =
Acht Männer besitzen so
viel wie die ärmste Hälfte
der Welt.

Ein Drittel der für die menschliche UMVERTEILUNG


Ernährung erzeugten Lebensmittel UMGEKEHRT
geht weltweit verloren oder wird Das Vermögen von 1900
weggeworfen. Milliardär*innen
STEIGT UM 12%

821,6 MIO. MENSCHEN


HUNGERN 2017–2018 2017–2018

Das Vermögen der


ärmsten 3,8 Mrd. Menschen
Quelle: Welthungerhilfe 2019 SCHRUMPFT UM 11 %

Quelle: Oxfam

18     LUXEMBURG 2/2019   SCHÖNER WOHNEN


ABHOLZUNG
TROTZ ABKOMMEN

2001 –2013 2014 –2018
DIE KLIMAKILLER

8,5
Mio. ha
13,5 Mio. ha
BIO. TONNEN

Abgeholzte Regenwälder
vor und nach der Verabschiedung
internationaler Abkommen zum
Schutz des Waldes
20 FIRMEN

Quelle: Global Forest Watch Quelle: Guardian/Climate


20 Firmen sind für ein Drittel
Accountability Institute 2019
der globalen CO2-Emissionen
seit 1965 verantwortlich.

IN DER WELT
ZU HAUSE?

Eine Person
mit deutschem Pass
darf in 187 Länder
ohne Visum einreisen.

Eine Person
mit afghanischem Pass
darf in 25 Länder
ohne Visum einreisen.

Quelle: Henley Passport Index 2019

RENDITE UND MIETE   LUXEMBURG 2/2019     19


SOZIALISTISCHE ZUKÜNFTE
WOFÜR ES SICH
ZU KÄMPFEN LOHNT
SARAH LEONARD X ÉTIENNE BALIBAR X VISHWAS SATGAR
VERÓNICA GAGO X BINI ADAMCZAK

SARAH LEONARD Fast zwangsläufig wandte sich diese nach


THERE IS AN ALTERNATIVE 1989 politisierte Generation bald dem
Sozialismus zu. Für sie war nicht der Kom-
Wenn wir uns 2010 als Sozialist*innen munismus, sondern der Kapitalismus das
bezeichneten, war das für die meisten noch offensichtlich unterdrückerische Regime.
ein Schock. Selbstverständlich gab es auch vor Letzteren verbanden sie nicht mit Freiheit,
der Occupy-Bewegung schon vereinzelt junge sondern mit privater Verschuldung, prekären
Sozialist*innen in den USA, sie waren aber in Beschäftigungsverhältnissen und der höchsten
kleinen Zeitschriftenprojekten verstreut und Inhaftierungsrate weltweit. Die meisten hatten
letztlich bedeutungslos. Occupy bildete dann genau das getan, was ihre Eltern und die
2011 den Auftakt für eine Reihe von neuen sozi- Politik ihnen geraten hatten – und trotzdem
alen Bewegungen, die ein neues Feld öffneten: landeten sie in einer Sackgasse: Die Perspekti-
Auf die Besetzung des Zuccotti-Parks folgte ve eines sozialen Aufstiegs entpuppte sich als
Black Lives Matter (2013), die demokratisch-so- leeres Versprechen, und ihr Protest dagegen
zialistische Wahlkampagne zur Unterstützung wurde von der Polizei niedergeschlagen.
von Bernie Sanders (2016) und nun die globale Die Erfahrung mit Polizeigewalt bildete
Bewegung gegen den Klimawandel. die Grundlage für eine besondere Solidarität
Occupy machte Redeweisen wie die zwischen Occupy-Aktivist*innen und Black
von den »99 Prozent« populär, mit denen Lives Matter, einer Bewegung, die in Reaktion
Klassenverhältnisse plötzlich in einer Sprache auf die zahlreichen ungestraften Morde an
verhandelt wurden, die für viele zugänglicher Schwarzen entstanden ist. Black Lives Matter
war. Die Besetzer*innen nannten den Gegner wird von einem breiten Spektrum getragen,
beim Namen, die Wall Street, und schafften es, nicht wenige verstehen sich aber auch als
viele politische Einzelkämpfer*innen zusam- antikapitalistisch. Doch letztlich war es 2016
menzubringen. die Kampagne zur Unterstützung von Bernie

20     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Mit dem Ende des Realsozialismus schien die sozialistische
Utopie erledigt. Inzwischen sind Alternativen wieder denkbar,
ja unverzichtbar geworden. Aber wie lässt sich eine andere
und bessere Zukunft vorstellen, angesichts der Krisen und
Verwerfungen der Gegenwart? Was gibt uns Grund zu hoffen?
Wir haben fünf Aktivist*innen und Theoretiker*innen gefragt,
wie der Sozialismus der Zukunft aussehen muss und wer heute
schon für ihn kämpft.

Sanders im Vorwahlkampf der


Demokraten gegen Hillary Clinton, SARAH LEONARD ist Feministin, Publizistin und Aktivistin.
die den Sozialismus, wenn auch in Sie lebt in New York, schreibt und arbeitet als Redakteurin für
zahlreiche Zeitschriften, unter anderem The Nation und Dissent.
einer vagen Form, plötzlich populär
Sie ist Teil der Bewegung für einen internationalen feministi-
machte. Sanders mag ein eher schen Streik und für Reproduktive Gerechtigkeit und aktiv bei
alter weißer Mann sein, der in den Democratic Socialists of America (DSA).
Augen seiner Gegner*innen die alte
Arbeiterklasse verkörpert und zu ÉTIENNE BALIBAR ist französischer Philosoph und
Fragen von race und gender wenig zu bekannter Marxist. Er war Schüler und enger Mitarbeiter
von Louis Althusser.
sagen hat. In den Vorwahlen gelang
es ihm dennoch, die Stimmen VISHWAS SATGAR unterrichtet Internationale Beziehungen
junger Wähler*innen zu gewinnen. an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, Südafrika.
Und auch wenn die Kritik zum Teil Er leitet das Forschungsprojekt »Emancipatory Futures Studies
berechtigt ist, unterstützt Sanders in the Anthropocene« und ist seit fast 40 Jahren Aktivist.
seitdem aktiv junge Frauen of
VERÓNICA GAGO lehrt Politische Theorie, Ökonomie und
Color wie etwa Alexandria Ocasio-
Soziologie an den Universitäten Buenos Aires und San Martín in
Cortez. Auch die Tatsache, dass Argentinien. Sie war Teil des aktivistischen Forschungskollektivs
eine wachsende Zahl von jungen Situaciones, ist aktiv bei NiUnaMenos und in der Bewegung des
linken Politiker*innen, die die internationalen feministischen Streiks. Von ihr erschien unter
gesamte Vielfalt der Bevölkerung anderem Neoliberalism from Below: Popular Pragmatics and
Baroque Economies (2017) und The Feminist Revolution (2020).
repräsentieren, keine Angst mehr
hat, sich in der Öffentlichkeit als BINI ADAMCZAK ist politische Autorin und Künstlerin.
Sozialist*innen zu bezeichnen, ist Sie arbeitet und schreibt zu Kommunismus und Revolution und
mit Sanders Verdienst. Die Demo- übt queerfeministische Ökonomiekritik.
cratic Socialists of America haben

SOZIALISTISCHE ZUKÜNFTE   LUXEMBURG 3/2019     21


seit seiner Kampagne massiven Zulauf und Positionen ein neues Charisma. Angesichts
sind bundesweit auf etwa 50 000 Mitglieder einer demokratischen Präsidentschaftskandi-
gewachsen. In den vergangenen Wahlkämpfen datin, die auf dem Papier ähnliche Positionen
haben sie sich als recht mobilisierungsstark er- vertritt wie Sanders, den Kapitalismus aber
wiesen. Viele Kandidat*innen sind inzwischen befürwortet, fühlen sich viele Sozialist*innen
bereit, offensiv als Sozialist*innen anzutreten, angespornt, ihre Vorstellungen vom Sozialis-
und setzen auf ihre Unterstützung. mus für das 21. Jahrhundert zu konkretisieren.
Wie die Chancen für eine sozialistische In diesen Debatten spielen verschiedene
Politik in den USA stehen, wird sich in den Fragen eine Rolle. Zum einen die Anliegen der
Primaries der Demokraten 2020 erweisen. Die Wähler*innen, aber auch transformationsthe-
beiden wichtigsten parteiinternen Rivalen von oretische Überlegungen und langfristige Visi-
Sanders sind Joe Biden, ein nicht mehr ganz onen für eine gerechtere Gesellschaft. Sanders’
frischer zentristischer Demokrat, und Elizabeth Anhängerschaft ist tendenziell jünger und
Warren, die beliebte Senatorin und Jurapro- diverser und kommt eher aus der traditionellen
fessorin in Harvard. Warren und Sanders sind Arbeiterklasse, während Warren eher weiße
Verbündete im Senat und teilen viele politische Wähler*innen mit höherer formaler Bildung
Überzeugungen. Während Sanders sich jedoch und besseren Jobs anspricht. Der Aufbau einer
seit Beginn seiner politischen Karriere als sozialistischen Bewegung erfordert eine Basis,
Sozialist versteht, beschreibt Warren sich als die ungefähr so zusammengesetzt ist wie die
«kapitalistisch bis auf die Knochen«. Wie kann Anhängerschaft von Sanders. Gleichzeitig sind
es sein, dass zwei Kandidat*innen mit einem viele höher Qualifizierte von Abwärtsmobilität
so unterschiedlichen Selbstverständnis in so betroffen. Sie teilen zunehmend die Interessen
vielen Dingen einer Meinung sind? der eher traditionelleren Sektoren der Arbeiter-
Bislang gehen Sanders und auch die klasse und sind damit potenziell ein wertvoller
jungen Sozialist*innen Amerikas mit dem Teil dieser Bewegung.
Konzept Sozialismus recht flexibel um. Sanders Die Frage, wie sich eine solche Bewegung
verweist häufig auf den New Deal und scheint aufbauen lässt, hängt derzeit mit der Frage zu-
die Rückkehr zu einer keynesianischen sammen, wie sich die beiden Kandidat*innen
Wirtschaftspolitik zu propagieren. Viele Junge politisch positionieren. Sanders hat ein
teilen seine Position, andere vertreten deutlich antagonistisches Verhältnis zur bestehenden
radikalere Politiken. Der Begriff Sozialismus Parteiführung und würde wahrscheinlich
diente zunächst dazu, den Diskursrahmen zu versuchen, die Demokratische Partei ernsthaft
verschieben. Über Jahre konnten die Republika- umzukrempeln und Außenstehende ins Weiße
ner fortschrittliche Sozialpolitiken delegitimie- Haus zu holen. Was aber am wichtigsten ist:
ren, indem sie sie als sozialistisch labelten. Die Sanders steht dafür, dass Kräfteverhältnisse
offensive Bezugnahme auf Sozialismus gibt nur mit einer breiten Bewegung verschoben
nun vielen Linken innerhalb wie außerhalb der werden können. Warren hingegen ist zwar
Demokratischen Partei ein gewisses Selbstbe- bekannt für ihre fachliche Expertise sowie
wusstsein und verleiht ehemals marginalen gute politische Programme und sie verurteilt

22     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


»korrupte« Bankiers und Manager*innen, ÉTIENNE BALIBAR
findet aber, dass die Wirtschaft bei der Be- FÜR EINEN SOZIALISMUS
wältigung großer Krisen wie dem globalen DES 21. JAHRHUNDERTS
Klimawandel ein wichtiger Partner ist. Immer
mehr Sozialist*innen stehen in diesen Fragen I Ausgehend von einigen Hinweisen von
inzwischen auf Sanders’ Seite. Marx charakterisierte Lenin den revolutio-
Mit den Debatten über die Unterschiede nären Übergang als einen Staat-Nicht-Staat.
zwischen Sanders und Warren beginnt endlich Durch diese Einheit der Gegensätze konnte
eine ernsthafte Diskussion darüber, was für ei- er einen paradoxen Vorgang skizzieren: näm-
ne sozialistische Zukunft wir eigentlich wollen. lich den, die Staatsgewalt zu stärken, um die
Beispielsweise haben kleinere programmati- Positionen der Bourgeoisie zu zerschlagen
sche Differenzen in sozial- und bildungspoliti- und so den Übergang zu einer kommunis-
schen Fragen eine Debatte darüber angestoßen, tischen Assoziation der Produzent*innen
ob soziale Güter wie etwa Bildung oder einzuleiten. Jene Einheit verwies außerdem
Gesundheitsversorgung nur besser zugänglich auf eine ­revolutionäre Institution: den damals
sein oder grundsätzlich dekommodifiziert in ganz Europa existierenden »Sowjet« oder
werden sollten. Eine sozialistische Perspektive ­Arbeiterrat. Auch wenn diese Überlegung
muss sich endlich von dem sozialdemokra- Lenins nicht wirksam wurde, können wir
tischen Diskurs verabschieden, es gelte, die annehmen, dass die Idee des Staat-Nicht-
»Mittelschicht wieder zu stärken«. Vielmehr Staats nach wie vor das Wesentliche – und die
sollten Sozialist*innen sich dafür einsetzen, Schwierigkeit – ­jedes Übergangs in ein Jen-
dass wesentliche soziale Güter und Dienste gar seits der Strukturen gesellschaftlicher Herr-
nicht mehr marktförmig organisiert werden. schaft bezeichnet.
Dadurch, dass der Begriff Sozialismus In allen späteren revolutionären
Bestandteil des politischen Diskurses geworden Phasen, aber auch in den Sozialisierungsex-
ist, ist es uns bereits gelungen, die Politik in perimenten des 20. Jahrhunderts, die den
den USA nach links zu verschieben. Jetzt, da kapitalistischen Rahmen nicht als solchen
Forderungen wie »Medicare für alle« unhin- infrage stellten, betrifft das Problem des
terfragt zur Programmatik der Demokraten »Übergangs« auch die widersprüchliche
gehören, können wir unsere politischen Visi- Einheit eines Markt-Nicht-Marktes. Also eine
onen weiter konkretisieren und klarmachen, dauerhafte Einschränkung der Autonomie
dass wir Größeres im Sinn haben, als nur die des Marktes zugunsten einer Politik, die
sozialpolitischen Errungenschaften des letzten den Kapitalismus zwar nicht verschwinden
Jahrhunderts wiederzubeleben. Zu sehen, wie lässt, aber »zurückdrängt«. Im Kontext der
viele junge Menschen derzeit an sozialistischen gegenwärtigen Umweltkatastrophe schließ-
Ideen festhalten, macht Hoffnung auf eine lich müssen wir außerdem den Widerspruch
zukunftsfähige sozialistische Politik. von Industrie-Nicht-Industrie denken, den wir
als »Degrowth« bezeichnen könnten. Die
Aus dem Englischen von Britta Grell genannten Widersprüche sind jeweils asym-

SOZIALISTISCHE ZUKÜNFTE   LUXEMBURG 3/2019     23


metrisch, sie konfrontieren die Macht mit Massenmobilisierung? Die Idee der »globalen
einer Gegenmacht, die andersartig ist und auf Zivilgesellschaft« mit ihren Netzwerken und
andere Weise ausgeübt wird. Darin liegt die Solidaritätskampagnen verweist auf diese
Chance und zugleich das Risiko revolutionä- Frage.
rer Experimente.
III Politik ist nicht vorhersehbar. Sie hängt
II Die genannten revolutionären Widersprü- von Situationen ab, in denen sich ganz
che sind allerdings nicht unabhängig vonei- unterschiedliche Handlungen miteinander
nander. So können wir annehmen, dass es verbinden, die jeweils eine eigene Zeitlichkeit
einen Nicht-Markt beispielsweise nicht ohne haben. Die Theorie kann die Akteure, die zur
staatliche Eingriffe und Unterstützung geben Veränderung beitragen, allenfalls beschreiben
wird. Diese müsste qua Planung vollzogen und bewerten. Dieses Problem wurde in der
werden, was wiederum eine Behörde und ei- heutigen Theorie als eines der Verbindung
unterschiedlicher Interessen gefasst und
Einen »Niedergang« erlebt nicht als Entscheidung zwischen verschiedenen
»Hegemonien«, die diese Interessen jeweils
die Idee, dass es Fortschritte zu hie­rarchisieren. Dies ausgearbeitet zu
machen gilt, sondern nur die Idee, haben, ist das Verdienst von Ernesto Laclau
und Chantal Mouffe. Leider hat ihre Idee
dass sich diese Fortschritte in eine
des »­ leeren Signifikanten« letztlich einen
totalisierende Evolution einfügen, »Populismus« begünstigt, der sich vom Na-
tionalismus vereinnahmen lässt. Die eigent-
die letztlich mit dem Gang der
liche Frage betrifft jedenfalls nicht nur die
Geschichte selbst zusammenfällt. gesellschaftlichen Interessen, sondern auch
die Modalitäten des politischen Handelns,
ne entsprechende Gesetzgebung voraussetzt. in denen ein sozialistisches Projekt Gestalt
Eine solche Planung wird umso notwendiger, annehmen muss. Durch den Hinweis auf die
wenn die Regulierung nicht die industrielle Elemente Programm, Regulation, Aufstand und
Entwicklung beschleunigen, sondern eine Utopie möchte ich deutlich machen, dass sich
rationale »De-Industrialisierung« vorantrei- diese Handlungsweisen qualitativ nach ihrer
ben soll, die nicht zum Zusammenbruch der spezifischen Ebene, ihrer institutionellen
Lebensbedingungen führt. Hinzu kommt, Form sowie nach ihren »Subjekten« unter-
dass die Planungsexperimente des 20. scheiden.
Jahrhunderts die finanziellen Strukturen der
Kredit- und Geldwirtschaft kaum betrafen. IV Mit der Feststellung, dass die ökologische
Auch verändert sich das Problem mit dem Katastrophe bereits eingetreten ist – und zwar
Übergang von einer nationalen zur globalen in einer Weise, die nicht umkehrbar ist,
Ebene. Aber was wären die entsprechenden verabschieden wir uns von einer bestimmten
Formen demokratischer Partizipation oder Idee des Fortschritts, deren dynamischste

24     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Version der Sozialismus entwickelt hat. Einen VISHWAS SATGAR
»Niedergang« erlebt jedoch nicht die Idee, SHOWDOWN
dass es Fortschritte zu machen gilt, sondern DES FOSSILEN KAPITALISMUS
nur die Idee, dass sich diese Fortschritte in
eine totalisierende Evolution einfügen, die Im gegenwärtigen Kapitalismus zählen sprit­­-
letztlich mit dem Gang der Geschichte selbst fressende Autos, Hightechflugzeuge und
zusammenfällt. Wir setzen an die Stelle dieser gigantische Containerschiffe zu den offensicht-
Ideologie aber auch nicht die eines Zusam- lichsten Massenvernichtungswaffen. Je mehr
menbruchs, der zum Ende der Geschichte die ressourcenintensiven und CO2-zentrierten
führt – eine nihilistische Version dessen, was sozialen Verhältnisse triumphieren, desto
bei einigen aus der Vorstellung vom end- mehr beschleunigt sich der Klimawandel.
gültigen Triumph des auf selbstregulierten Die Natur wird in dieser Phase des alters-
Märkten beruhenden Liberalismus folgte. schwachen Kapitalismus unterworfen und
Wir stellen vielmehr die Frage nach den stets als neue kapitalistische Natur patriarchal
vorhandenen Alternativen in einem negativen gefügig gemacht, wissenschaftlich kontrolliert
Prozess, der sich zwar nicht abstellen lässt, der und verwaltet. Der Planet wird mittels Geo-
aber mehr oder auch weniger bedrohliche engineering bearbeitet, CO2 in den tiefsten
Gestalt annehmen kann. Die hier vertretene Erdschichten vergraben und die Ölhähne bis
These ist, dass die Möglichkeit einer Alter- zum letzten Tropfen abgezapft. Die Logik
native davon abhängt, ob die Weltpolitik in des heutigen Kapitalismus ist nicht nur die
den kommenden Jahren zu der einen oder Enteignung, sondern der Ökozid, das heißt
anderen Form eines Sozialismus tendieren die Zerstörung der Grundlagen menschlichen
wird, denn davon hängt sowohl die Reorga- und nichtmenschlichen Lebens auf der Erde.
nisation der Gesellschaften ab als auch die Karl Marx bezeichnete dies als den metaboli-
Chance, dem Kapitalismus andere Prioritäten schen Riss des Kapitalismus, Rosa Luxemburg
als die der Profitmaximierung aufzuzwin- als Unterwerfung der Naturalwirtschaft. In
gen. Das bedeutet, dass eine Mäßigung der dieser Phase hat der Neoliberalismus sein
Veränderungen im Verhältnis von Mensch historisches Ziel erreicht. Eigentumsrechte
und Natur eine Beschleunigung des Wandels zementieren die Herrschaft des Kapitals,
im Verhältnis der Menschen untereinander gierige Plutokrat*innen benutzen unverhohlen
voraussetzt. staatliche Macht für ihre Zwecke, getrieben
durch eine Kultur des Hyperindividualis-
Dieser Text ist ein Auszug aus »Thèses pour mus, des US-amerikanisierten Konsums
un socialisme du 21éme siècle: régulations, insur- und der Banalität einer mediengemachten
rections, utopies«, in: Étienne Balibar, Histoire Celebrity-Kultur. Die Selbstbestimmung des
interminable. D’un siècle à l’autre, nihilistischen kapitalistischen Subjekts ist der
Paris 2020 (i. Vorb.). einzige Ausdruck des Menschseins in unserer
heutigen kapitalistischen Zivilisation. Doch
Aus dem Französischen von Thomas Laugstien damit nicht genug. Der nächste Schritt ist das

SOZIALISTISCHE ZUKÜNFTE   LUXEMBURG 3/2019     25


Transhumane; die technotopische Vision des nierten »marktkonformen« Demokratien, die
Bio- und Technokapitalismus. sich offen auf Zwang stützen, stoßen an ihre
Grenzen. Ein hegemoniales Regieren ist unter
TÖDLICHER TRIUMPH den Verhältnissen brutaler Ungleichheit nicht
Der Kapitalismus und die Menschheit machen mehr möglich. Der Demos wird unruhiger und
also nicht mehr gemeinsame Sache. Nach verzweifelter. Dem demokratischen Subjekt
Jahrzehnten struktureller Ungleichheit ist die von heute stehen unzählige Informationsquel-
Welt eine neoliberale kapitalistische Utopie len und -kanäle zur Verfügung. Es kann die Idi-
ohne Gegner: Der Sowjet-Sozialismus ist otie der imperialen Macht und ihrer Autokraten
tot, die Arbeiterklasse prekarisiert, die Natur von Ferne bestaunen und hin und wieder
unterworfen und die Geschichte an ihr Ende das Aufflammen einer subalternen Macht auf
gelangt. Keine linken Schreckgespenster sind der Straße erleben. Der eiserne Vorhang der
Unterdrückung ist nicht ohne Risse, in denen
Eine zentrale Systemveränderung, Demokratie und Sozialismus wachsen können.

die sich von der Peripherie her


RASENDER ÖKOZID
ausweiten muss, ist die »Re-Agrar­ Der größte Terror der heutigen Zeit ist aber
isierung« der Welt: ein Wandel nicht der kapitalistische Neofaschismus. Es ist
der Dschagganath, der unkontrolliert rasende
hin zu Ernährungs­souveränität kapitalistische Ökozid, der nicht nur das Leben
und Agrarökologie. auf dem Planeten, sondern auch den Kapitalis-
mus selbst bedroht. Damit ist der Aufstieg des
zu greifen. Die rechte und neofaschistische Neofaschismus gewissermaßen anachronistisch.
Saat dieser neoliberalen Ordnung geht bereits Auch er wird in einer sich aufheizenden Welt
auf und macht sich in Washington, Brasília, verbrennen. Denn unbeirrt gelingt es dem
Neu-Delhi, Budapest und Moskau auf den fossilistischen Kapitalismus, im globalen Ener-
Weg, jeden Widerspruch gegen diese Utopie giemix zu expandieren, trotz der alarmierten
niederzuschlagen und gegen Sündenböcke zu Wissenschaft, trotz reihenweise verheerender
hetzen: Migrant*innen, People of Color, Indi- Naturkatastrophen. Es ist hoch wahrscheinlich,
gene, »den Islam« und andere aufgebauschte dass die Erderwärmung mehr als eineinhalb
»terroristische Bedrohungen«. Die letzte Grad im Vergleich zu vorindustriellen Werten
Phase des Kapitalismus steht bevor. In ihr steigen wird. In den USA hat Präsident Trump
wird versucht werden, die Normalität dieses grünes Licht für die verstärkte Ausbeutung
Kapitalismus um jeden Preis zu verteidigen. fossiler Energien gegeben. Der brasilianische
Doch die Kämpfe der Vergangenheit haben Präsident Bolsonaro fördert jene Wirtschafts-
gezeigt, dass militarisierte Herrschaft nie interessen, durch die indigene Völker und
ohne Brüche funktioniert. Ein Gewaltmonopol die Biodiversität vernichtet und etwa 140
schafft noch keine Befriedung, geschweige Milliarden Tonnen Kohlenstoffdioxid durch die
denn Unterwerfung. Auch die medial insze- Brandrodung im Amazonasgebiet freigesetzt

26     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


werden. In Südafrika setzt die fossilistische mit Jugendlichen und »Normalbürger*innen«
Elite auf den Bau des größten Kohlekraftwerks zusammen. Sie stehen für die lebendige
der Welt, brüstet sich mit Fracking und schielt Hoffnung der Vielen und nutzen drei Formen
nach Offshore-Gasförderung. Schon diese des Widerstands. Erstens: die symbolische
kurze Liste an CO2-Verbrechen zeigt, dass der Störung der Normalität. Das beste Beispiel
fossile Kapitalismus und seine herrschenden sind Greta Thunberg und die Fridays-for-
Klassen die ganze Welt bedrohen, inklusive sich Future-Streiks. Klimaforschung und Jugend-
selbst. Da kaum noch Zeit für eine Umkehr bewegung bestärken sich wechselseitig und
bleibt, sind alle Versuche, diesen Kapitalismus verdeutlichen die Dringlichkeit der Krise.
mit Reformen zu bändigen oder grün zu färben, Zweitens: die taktische Störung und reale
zum Scheitern verurteilt. Mit Blick auf die Unterbrechung der Emissionsprozesse und
Klimadaten und den steigenden CO2-Ausstoß Extraktionskreisläufe. Ein Beispiel sind die
scheint der Tod des Kapitalismus und letztlich Blockaden von Ende Gelände gegen den Koh-
unser aller Tod durch dessen ökozidale Logik leabbau in Deutschland, aber auch Boykottauf-
unausweichlich. rufe gegen McDonald’s, Walmart oder Subway,
Afrika, das seit der Berliner Westafrika- die von der Brandrodung im Amazonasgebiet
Konferenz 1884/85 das imperiale Subjekt des profitieren. Drittens: das strategische Aufbre-
globalen Nordens ist, liegt am Boden, wird chen der ökozidalen Logik des Kapitalismus
von einer Lumpenbourgeoisie kontrolliert und durch systemische Alternativen. Ein Ansatz
ist bereits jetzt durch Klimaveränderungen wäre ein Green New Deal, der auf rasche
teilweise verwüstet. Mindestens 200 Millionen Dekarbonisierung, Demilitarisierung und
Menschen könnten durch weitere Klima- Demokratisierung setzt, sodass die Menschen
katastrophen vertrieben werden. Weder die selbst den Umbau gestalten können und Kli-
Festung Europa noch der Gefängniskomplex magerechtigkeit zum Maßstab der Geopolitik
USA können die vermeintlichen »Barbaren« wird. Der Vorschlag von Bernie Sanders mit
fernhalten. Auch die reichen Gesellschaften einem Volumen von 16,3 Billionen US-Dollar
werden durch die Klimakatastrophen schwere könnte ein solches Klassenprojekt sein, das
innere Verwerfungen, aber auch Widerstand die ausgeschlossenen 99 Prozent gegen eine
erleben. Sunrise Movement, Extinction Rebel- zerstörerische Elite in Stellung bringt. Diese
lion und Fridays for Future sind Bewegungen progressiven Kräfte müssen jedoch auch
gegen die 1,5-Grad-Celsius-Erwärmung. Wird sicherstellen, dass der globale Süden einen
diese Grenze überschritten, werden noch mehr selbstbestimmten Weg der Klimagerechtigkeit
Menschen dagegen aufbegehren, zu Kollate- gehen kann. Beim Globalen Klimastreik am
ralschäden einer irrationalen und ökozidal- 20. September protestierten weltweit Hun-
faschistischen herrschenden Klasse zu werden. derttausende für den Klimaschutz. Für den
­­1. Mai 2020 ist ein internationaler Aktionstag
AUFBEGEHREN FÜR KLIMAGERECHTIGKEIT geplant, an dem die CO2-Produktion auf der
In den neuen Bewegungen kommen die ganzen Welt zum Stillstand gebracht werden
Klimaaktivist*innen der letzten Jahrzehnte soll (#gridlockcarbon).

SOZIALISTISCHE ZUKÜNFTE   LUXEMBURG 3/2019     27


ZURÜCK AN DIE WURZELN VERÓNICA GAGO
Eine zentrale Systemveränderung, die sich von REVOLUTION HEISST,
der Peripherie ausweiten muss, ist die »Re- FÜR DIE ZUKUNFT SORGEN
Agrarisierung« der Welt: ein Wandel hin zu Er-
nährungssouveränität und Agrarökologie, wie Über eine Zukunft des Sozialismus nach-
sie die Bewegung La Via Campesina seit über zudenken impliziert, sich eine Vorstellung
zwei Jahrzehnten vorantreibt. Jedes Dorf, jede davon zu machen, was kommen wird. Die
Klein- und Großstadt auf der Welt wird diese Frage, die sich dann notwendigerweise
demokratische, ökosozialistische Alternative anschließt, ist: Wie erreichen wir dieses
in Betracht ziehen müssen. Dass monoindust- ersehnte Ziel? In jeder revolutionären The-
rielle, CO2-zentrierte und globalisierte Nah- orie hat die Utopie folglich auch eine prag-
rungsmittelsysteme zu unserem Aussterben matische Seite, die sich auf die Frage des
beitragen, zeigen zahlreiche Studien und For- Übergangs bezieht. Dieser Übergang stellt
schungsberichte. Der Horizont eines künftigen insofern eine Herausforderung dar, als sich
Sozialismus wird durch Erderwärmung und historisch immer wieder gezeigt hat, dass es
Klimaschocks, durch verschärfte Ungleichheit dabei keine Linearität gibt, keinen direkten
und den menschlichen Überlebenswillen Weg, der von dem einen zum anderen Punkt
bestimmt sein. Die Rache der Natur gegen führt. Stattdessen müssen wir das Prozess-
den Ökozid wird alle globalen Gemeingüter – hafte eines solchen Übergangs in den Blick
Wasser, Nahrung, Land, Wälder, Ozeane und nehmen. Die feministischen Körperpolitiken,
Biosphäre – erfassen. Ihre rohe Macht wird die dafür kämpfen, die rigiden Normen von
die anthropozentrische Illusion zerstören, dass Geschlecht und Sexualität aufzubrechen,
kapitalistische Natur und natürliche Umwelt haben dies deutlich gemacht: Eine Revolution
vereinbar sind. Die Unendlichkeit der Natur gelingt nicht von heute auf morgen. In dem
und die Endlichkeit menschlichen Lebens wer- zeitlichen Zwischenraum entsteht jedoch ein
den die Zukunft prägen. Um damit umzuge- Feld des Forschens und Experimentierens,
hen, wird der demokratische Ökosozialismus ein Terrain, auf dem widerstreitende Kräfte
viel von indigenen Traditionen lernen müssen. miteinander ringen. Ist es möglich, einen
Er muss lernen, die menschlichen Lebens- solchen Weg des Übergangs zu beschreiten,
grundlagen zu erhalten, den Produktivismus ohne genau zu wissen, wohin er führt?
zurückzudrängen und die Entfremdung von Wenn wir auf die aktuellen Kämpfe
der Natur zu überwinden. Eine verlangsamte blicken, die sich derzeit in Chile, aber auch
Welt im Einklang mit den natürlichen Stoff- an vielen anderen Orten der Welt gegen
wechselkreisläufen ist die einzige Hoffnung neoliberale Privatisierung, gegen die Zer-
der Vielen. Eine solche Welt war nie ganz tot, störung der sozialen Daseinsvorsorge und
sie wurde nur durch koloniale, neoliberale und gegen eine fortschreitende Inwertsetzung
imperiale Gewalt in den Schatten gedrängt. unseres Lebens richten, haben sie auf den
ersten Blick ein eher inverses Verhältnis zu
Aus dem Englischen von Jan-Peter Herrmann einer solchen revolutionären Zeitlichkeit. Sie

28     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


entwerfen weniger ein in die Zukunft gerich- bereiten für die jeweils nächsten Schritte. So
tetes Projekt, sondern verteidigen etwas, das verschiebt sich die Teleologie eines revoluti-
verloren gegangen ist oder bedroht scheint. onären »Endziels« – nicht, weil es nicht da
Es sind Kämpfe um Gemeingüter, Kämpfe, oder weniger wichtig wäre –, sondern weil es
die sich fortgesetzten Enteignungen entge- in eine andere zeitliche Beziehung tritt mit
genstellen oder geraubten Reichtum zurück- der alltäglichen Politik und weil jede einzel-
fordern: In ihnen drückt sich die Erfahrung ne Aktion daraufhin befragt werden kann
aus, dass unsere Utopien voraussetzungsvoll und muss, inwiefern sie von revolutionärer
sind, dass sie eine Grundlage brauchen, um Dynamik erfüllt ist.
Wirklichkeit zu werden. Sie sind abhängig
von funktionierenden Strukturen der Sorge Diese politische Bewegung
und Selbstsorge, als Voraussetzung dafür, setzt eine spezifische Zeitlichkeit
überhaupt Kraft zum Kämpfen zu finden.
voraus, die nicht nostalgisch oder
Sollten wir daraus folgern, dass diese Kämpfe
eher konservativ sind, also rückwärtsgewandt, archaisch ist, sondern auf die
als utopisch? Nein. Ich würde sagen, dass in
Produktion von Gegenwart gerichtet.
ihnen gerade eine utopische Kraft steckt, die
sich aus dem Wissen um jene Bedingungen Als bedürfe das revolutionäre
nährt, die wir brauchen, um eine Trans- Begehren einer soliden Infrastruktur,
formation anzustoßen. Es sind deshalb die
derzeit entscheidenden, die unumgänglichen um sich zu entfalten.
Kämpfe. Ausgehend von einer Art Selbstver-
teidigung bringen sie die Möglichkeit von Ich halte das Konzept für hilfreich, um die re-
etwas Neuem hervor, scheint in ihnen etwas volutionäre Perspektive herauszustellen, die
auf, das noch nicht existiert. Diese politische die aktuellen Feminismen ins Spiel bringen:
Bewegung setzt eine spezifische Zeitlichkeit Worauf zielen sie? Welche utopische Kraft
voraus, die nicht nostalgisch oder archaisch entfalten sie? Inwiefern sind sie revolutionär-
ist, sondern auf die Produktion von Gegen- realpolitische Zukunftspolitiken, auch ohne
wart gerichtet. Als bedürfe das revolutionäre einen festen Plan, wie das Ziel auszusehen
Begehren einer soliden Infrastruktur, um hat? In welcher Weise revolutionieren sie die
sich zu entfalten. Gegenwart und schaffen Bedingungen einer
Rosa Luxemburg hat das Konzept einer anderen Zukunft?
revolutionären Realpolitik ins Spiel gebracht, In ihrer Entschiedenheit und Radikalität
um den Prozess des Übergangs genauer zu stoßen die gegenwärtigen Feminismen
bestimmen als einen, in dem die alltäglichen radikale Brüche an – in den Körpern, auf den
Kämpfe um konkrete Verbesserungen in den Straßen, in den Betten und Haushalten. Sie
Horizont eines radikalen Umbaus gestellt verdichten sich in dem Slogan der feministi-
werden, in dem die Bewegungen im Hier und schen Bewegung Argentiniens: »Wir wollen
Jetzt und eine Politik von unten das Terrain alles verändern!« Im jüngsten Aufstand in

SOZIALISTISCHE ZUKÜNFTE   LUXEMBURG 3/2019     29


Die Idee des Feminismus Organisationsformen, die politischen Pers-
pektiven und historischen ­Allianzen. Dabei
als alltägliche Revolution bedeutet
greifen die Bewegungen zwei zentrale Herr-
auch, die Eigentumsfrage schaftsmechanismen an: die Verschuldung
und die damit verbundene Form der Enteig-
zu stellen und einen politischen
nung der Subalternen, die breiten Teilen der
Antagonismus zu erzeugen. Bevölkerung eine selbst­bestimmte Zukunft
unmöglich gemacht haben.
Chile nimmt dieser Anspruch kraftvolle Die Verschuldung kolonisiert als finan-
Gestalt an: Die feministische Revolution zielle Verpflichtung gewissermaßen unsere
stellt das Ganze neu auf: »Wir haben ein Zukunft. Sie fesselt uns an die Ausbeutung,
Programm: Wir wollen alles!«. Es gibt keinen mittels eines eng gestrickten Dispositivs
Raum und keine sozialen Beziehungen, die aus Moralisierung und Individualisierung.
von dieser Dynamik des Bruchs und des Der konservative Neoliberalismus hat den
Aufbegehrens unberührt blieben. Die Zeit der lateinamerikanischen Kontinent durch und
Revolution liegt im Hier und Jetzt – in ihrer durch finanziell rekolonialisiert. Unter diesen
sprühenden Kraft verbindet sie sich mit der Verhältnissen wächst eine verschuldete und
Perspektive einer befreiten Zukunft. damit absolut disziplinierte Jugend heran,
Die Dynamik des transnationalen deren Abhängigkeit von der heteropatriarcha-
feministischen Streiks hat sich in den letzten len Familie weiter bestärkt wird. Im Kampf
Jahren von Lateinamerika ausgehend in mehr gegen die Verschuldung geht es also um die
als 50 Ländern ausgebreitet. In Chile wurden Möglichkeit, die eigene Zukunft zurückzu-
gewinnen, sich anzueignen und kreativ zu
Im Kampf gegen die Verschuldung gestalten, individuell und kollektiv. Es geht
darum, das Entstehen anderer Subjektivitäten
geht es um die Möglichkeit, die
zu ermöglichen, die sich aus dieser »Schuld-
eigene Zukunft zurückzugewinnen, beziehung« lösen.
sie sich individuell und All das kommt in Graffitis und Parolen
der chilenischen Proteste pointiert zum
kollektiv neu anzueignen und Ausdruck. An den Fassaden der Banken in
kreativ zu gestalten. Chile, dem Land der Chicago Boys2 und dem
mit der größten Pro-Kopf-Verschuldung in der
viele der Parolen und Praxen des feministi- gesamten Region, ist beispielsweise zu lesen:
schen Streiks von den Massen aufgenommen »Sie schulden uns ein Leben.« In dem Satz
und entfalten als plurinationaler1 General- verdichten sich die Idee von einer Umkehr der
streik neue Kraft. Die Erfahrungen, die in den Verschuldung und die Frage, wer hier eigentlich
letzten Jahren in den Bewegungen g ­ esammelt wem etwas schuldet. Angesichts ansteigender
wurden, haben es ermöglicht, auch die Art Lebenshaltungskosten, oder genauer, ange-
und Weise der Kämpfe zu verändern, die sichts der stetig voranschreitenden Extraktion

30     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


von Wert aus den alltäglichen Praxen der rung, der Verschuldung und der Kernfami-
sozialen Reproduktion verweist diese Losung lie – auch wenn diese implodiert und voller
auf die Möglichkeit finanziellen Ungehorsams, Gewalt ist. In diesen Körpern hat die feminis-
wie er nicht zuletzt in der Bewegung #Evasi-
onMasiva praktisch geworden ist.3 Die feministische Revolution
Die aktuellen feministischen Bewegun-
stellt das Ganze neu auf: Es gibt
gen gehen aber noch weiter: Sie formulieren
eine konkrete und schlagkräftige Kritik an keinen Raum und keine sozialen
den multiplen Formen von Raubbau und den Beziehungen, die von dieser
neuen Formen der Ausbeutung, mit denen
das Kapital immer weiter in unser Leben Dynamik des Bruchs und des
vordringt. Es geht darum, den Kampf an jeder Aufbegehrens unberührt blieben.
Front, an der Körper an Körper gekämpft
wird, zu führen – sei es die Verschuldung tische Revolution das Begehren nach Revo-
der Haushalte oder die Prekarisierung, sei lution hinterlassen. Und ihr Versprechen
es der Neo-Extraktivismus und die von ihm auf eine nicht durch das Kapital normierte
verwüsteten und aufgegebenen Regionen, sei Zukunft eröffnet eine konkrete Produktion
es die Militarisierung, die Kriminalisierung von Utopie.
von Grenzen oder die Schaffung »innerer
Feinde«.4 Aus dem Spanischen von Caroline Kim
All das sind Kämpfe, in denen auch die und Barbara Fried
Eigentumsfrage gestellt wird und mit denen
die feministische Revolution einen politischen
Antagonismus erzeugt. Sie streitet um die
1 Plurinational bezieht sich auf die Existenz und die
Mittel der Produktion des Lebens überall Anerkennung verschiedener indigener und politischer
dort, wo heute die neoliberale Ausbeutung Communities innerhalb eines Nationalstaats.
2 Als Chicago Boys wird eine Gruppe chilenischer Wirt-
Wurzeln schlägt. Die Idee des Feminismus schaftswissenschaftler bezeichnet, die von Friedrich August
als alltägliche Revolution erhält darin ein von Hayeks und Milton Friedman inspiriert waren und die
Chile unter der Diktatur von Pinochet zum Experimentier-
besonderes Gewicht, weil sie die Frage feld des Neoliberalismus gemacht haben.
aufwirft, inwiefern sich die Richtung der 3 #EvasionMasiva, was wörtlich etwa »massenhaftes
Vermeiden« bedeutet, war der Hashtag, mit dem
Transformation auch von den Orten her Schüler*innen und Studierende dazu aufriefen, nach einer
bestimmt, an denen der Akkumulation von Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr kollektiv
ohne Fahrschein U-Bahn zu fahren. Die Aktion unter dem
Kapital entgegengetreten wird. Motto »Evadir, no pagar, otra forma de luchar« (Vermeiden,
Heute sind auch die Körper der jun- d.h. nicht zu bezahlen, ist eine andere Art zu kämpfen)
stellte den Beginn der derzeitigen Protestwelle in Chile dar.
gen Menschen ein solches Kampfgebiet, 4 Als »innere Feinde« wurden während der Militärdik-
auf dem versucht wird, die Grenzen der tatur dissidente Argentinier*innen kriminalisiert, verfolgt
und umgebracht. Heute wird der Begriff zur Legitimation
­Inwertsetzung des Kapitals auszubreiten, von verschärften Anti-Terror-Gesetzen oder der Militari-
sie zu gehorsamen Arbeiter*innen zu sierung angerufen, zum Beispiel bei den Vorbereitungen
für den G20-Gipfel, der im Herbst 2018 in Buenos Aires
machen, gehorsam gegenüber der Prekarisie- stattfand.

SOZIALISTISCHE ZUKÜNFTE   LUXEMBURG 3/2019     31


BINI ADAMCZAK waren. Heute findet der Begriff in den USA
OHNE KOHLE, WACHSTUM mehr Zuspruch als jemals in der Geschichte
UND NATION der Vereinigten Staaten von Amerika. Und
auch in anderen Teilen der Welt feiert er ein
Den Sozialismus des 21. Jahrhunderts gibt es Comeback.
nicht. Ebenso wenig wie den Sozialismus des Aber in welcher Form? Eine dominante
20. oder des 19. Jahrhunderts. Erstens weil die Strömung orientiert sich an der europäischen
sozialistische Bewegung seit ihren Anfängen Sozialdemokratie mit ihrem Traum von mate-
aus einer Vielzahl regionaler und fraktioneller riellem Wohlstand, staatlicher Umverteilung
Strömungen besteht: von karibisch bis österrei- und nationaler Souveränität. Diesmal aller-
chisch, anarchistisch bis sozialdemokratisch, dings ergänzt um antirassistische und antise-
queerfeministisch bis kolonialrassistisch. xistische Erkenntnisse der Neuen Linken und
Zweitens weil die Geschichte sich nicht in kombiniert mit einem ökologischen Imperativ.
christliche Dezimalklassifikationen fügt: Wie Eine marginalere Strömung hängt überkom-
das 20. Jahrhundert verschiedene Epochen menen staatssozialistischen Vorstellungen an,
umfasst (1917–1921, 1933–1945, 1968–1977), deren organisatorische Einheit unter neolibera-
so zerfällt auch das 21. Jahrhundert bereits len Bedingungen attraktiv erscheint und deren
jetzt in mindestens zwei Phasen. Die erste be- klassenkämpferische Rhetorik zumindest als
Bürgerschreck wirkt.
Solange die Beziehungen Die wirkliche Bewegung, welche den
jetzigen Zustand aufheben könnte, muss
der Individuen, der Betriebe,
aber über beide historische Modelle hinaus-
der Regionen Beziehungen gehen. Die scharfen Kritiken, die durch die
der Konkurrenz sind, wird sich Geschichte hindurch von linken Bewegungen
gegenüber Sozialdemokratie und Staatssozia-
die Klimakatastrophe kaum lismus vorgebracht wurden, haben nichts an
aufhalten lassen. Geltungskraft eingebüßt: Staatsfetischismus,
Autoritarismus, Maskulinismus – und viele
ginnt 1990 mit dem Ende des Kalten Krieges mehr. Die Bedingungen der Gegenwart haben
und ist geprägt durch die Antiglobalisierungs- noch neue Gründe hinzugefügt, die gegen
bewegung, 9/11 und den War on Terror. Die eine Wiederaufführung der dominanten So-
sozialistische Bewegung zieht sich auf einige zialismen des letzten Jahrhunderts sprechen.
Regionen der Welt zurück, Lateinamerika Zwei ihrer zentralen Pfeiler lassen sich nicht
vor allem. Die zweite Phase wird durch die wieder errichten. Erstens die Wachstumso-
Weltwirtschaftskrise 2008 eingeläutet: Mit rientierung: Während der Staatssozialismus
den Occupy-Bewegungen, die dem Arabi- eine stetige Steigerung der Produktivkräfte
schen Frühling folgen, kehrt der Sozialismus als historische Notwendigkeit erachtete, die
in die imperialen Zentren zurück, die von die Geschichte in den Kommunismus führen
der Wirtschaftskrise am stärksten betroffen müsse, fand die westliche Sozialdemokratie

32     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


im Wirtschaftswachstum die Grundlage für Zerstörung seiner ökologischen Grundlagen
einen Klassenkompromiss, der die materiel- nicht nur aufgrund äußerer Konkurrenz mit
len Lebensbedingungen der Arbeiter*innen dem Kapitalismus. Seine dominante Ideologie
verbessern konnte – ohne die Herrschaftsver- verstand historischen Fortschritt als Fort-
hältnisse anzutasten. Der Kapitalismus hat schritt in Naturbeherrschung – als effizientere
bereits oft mit seiner Anpassungsfähigkeit wie extensivere Ausbeutung der nichtmensch-
überrascht, doch die ökologischen Grenzen lichen Welt. Diese anthropozentrische Ideolo-
des Wachstums scheinen beiden Strategien gie, die nicht zuletzt von der feministischen
ein Ende zu setzen. Zweitens der National-
staat: Sozialismus in einem Land ist heute Sozialistische oder
noch weniger möglich als im letzten Jahrhun-
kommunistische Freiheit kann
dert. Die ökologische Katastrophe berührt – in
ihren Ursachen wie Wirkungen – nicht alle heute nur noch in Anerkennung
Teile der globalen Menschheit gleichermaßen.
globaler Abhängigkeit
Im Gegenteil, diejenigen, die am wenigsten
zur Katastrophe beitragen, sind am stärksten realisiert werden – ohne Nation,
von ihr betroffen. Dennoch lässt sie sich nur ohne Produktivkraftfetisch,
global ausbremsen. Zum einen, weil sich
Wasser, Wind, Wolken nicht um die Grenzen ohne Natur­beherrschung
scheren, die Menschen im Sand ziehen, egal
ob mit Draht oder Beton. Zum anderen, weil Linken hart kritisiert worden ist, befindet sich
die ökologische Transformation der Ökono- heute in einer doppelten Krise. Zum einen
mie nicht gelingen kann, solange es Konkur- wird sie durch die Entwicklung der künstli-
renz der Nationen oder der Blöcke gibt. Die chen Intelligenz beschädigt: Nun gibt es nicht
Rechtsnationalisten sprechen diesbezüglich nur Maschinen, die stärker und schneller sind
nur offen aus, was die verhohlene Grundlage als Menschen, sondern auch solche, die besser
der Politik aller nationalen Regierungen ist: Musik komponieren, Krebs diagnostizieren
nationaler Wachstumsschutz vor globalem oder andere Maschinen konzipieren können.
Umweltschutz. Zum anderen rufen die sich stetig mehrenden
Solange die Beziehungen der Individuen, Zeichen der ökologischen Katastrophe mit
der Betriebe, der Regionen Beziehungen der aller Macht die verdrängte Abhängigkeit der
Konkurrenz sind, wird sich die Klimakatas- menschlichen von der nichtmenschlichen Na-
trophe kaum aufhalten lassen. Kein Kapita- tur in Erinnerung. Der Mensch nimmt keinen
lismus ohne Wachstumszwang: Die einzige Platz außer- und oberhalb der restlichen Welt
signifikante CO2-Senkung der letzten Jahr- ein. Die Erkenntnis hat Folgen: Sozialistische
zehnte folgte keinem Klimagipfel, sondern der oder kommunistische Freiheit kann heute nur
Finanzkrise. Ökologisch geht nur sozialistisch, noch in Anerkennung globaler Abhängigkeit
ökokommunistisch. Doch das Erbe des Staats- realisiert werden – ohne Nation, ohne Produk-
sozialismus wiegt schwer. Dieser betrieb die tivkraftfetisch, ohne Naturbeherrschung.

SOZIALISTISCHE ZUKÜNFTE   LUXEMBURG 3/2019     33


CHILE
IN AUFRUHR

brachten die sogenannten Chicago Boys das


Land auf neoliberalen Kurs. Mit fatalen Folgen:
Chile erlebt eine gewaltige soziale Revolte. Von 1973 bis 1980 sank die Zahl öffentlicher
Anfang Oktober hatte die Regierung zum Unternehmen von 300 auf 24, die Budgets für
vierten Mal innerhalb von zwei Jahren die Wohnungsbau und Soziales wurden radikal
Preise im öffentlichen Nahverkehr erhöht, zusammengekürzt, der Bildungssektor privati-
der ohnehin als einer der weltweit teuersten siert. Chilenische Haushalte sind heute die am
gilt. Ein Viertel ihres Einkommens geben die höchsten verschuldeten in ganz Lateinamerika.
Bewohner*innen Santiagos im Schnitt für Entsprechend groß ist der Unmut in der
Mobilität aus. Die Aushöhlung sozialer Infra- Bevölkerung. In den vergangenen Jahren kam
strukturen hat in Chile eine lange Geschichte. es immer wieder zu Streiks und Protesten von
Bereits zu Zeiten der Militärdiktatur Pinochets Studierenden und Schüler*innen.
Die aktuellen Auseinandersetzungen haben
jedoch eine neue Dimension erreicht – und es
geht längst nicht nur um U-Bahnpreise, wie es
der Slogan »Es sind nicht 30 Pesos, sondern Italia im Zentrum der Hauptstadt 1,2 Millionen
30 Jahre« auf den Punkt bringt. Die Regierung Menschen zusammen. Sie fordern den Rück-
Piñera versuchte die Proteste gewaltsam zu tritt der Regierung und einen grundlegenden
beenden und rief am 19. Oktober den Ausnah- Systemwechsel. In einem Referendum soll
mezustand aus. Durch brutale Einsätze von nun entschieden werden, ob die Verfassung,
Militär und Polizei kamen bis Ende November die noch aus den Zeiten Pinochets stammt,
24 Menschen ums Leben, über 2 800 wurden neu verhandelt wird. Ob dies – wie von den
verletzt. Mittlerweile hat die Regierung die Bewegungen gefordert – in einem partizipativen
geplante Fahrpreiserhöhung zurückgenommen Prozess erfolgen wird, ist offen.
und einzelne soziale Verbesserungen zuge- Wir zeigen Bilder, die an diesem Tag von Diego
sagt wie die Erhöhung von Mindestlohn und Figueroa, Alfonso González, Catalina Juger, Eric
Mindestrente. Doch die Proteste gehen weiter. Allende und Jorge Vargas für das chilenische
Allein am 25. Oktober kamen auf der Plaza Fotokollektiv Migrar Photo aufgenommen wurden.
DIE WELT VON MORGEN
SZENARIEN UNSERER ZUKUNFT
ZWISCHEN KATASTROPHE
UND HOFFNUNG
INGAR SOLTY

DIE KRISE DIESMAL durchsetzten. Um 2010 gingen die Staaten


Vor zwölf Jahren geriet der Kapitalismus in des »Westens« zur Austeritäts- und Wettbe-
seine tiefste Krise seit den 1930er Jahren. Sie werbspolitik und zu Strategien der inneren
war nicht nur eine ökonomische, sondern (und äußeren) Abwertung von Kosten und
eine große »organische Krise«, die sich auf Löhnen über. Im Euroraum führte dies zu
allen gesellschaftlichen Ebenen artikulier- kostspieligen Bankenrettungen und hoher
te: als eine Krise des Politischen und der Staatsverschuldung. Einzelne Staaten gerieten
Demokratie, der sozialen Reproduktion, als unter den Druck internationaler Finanzmärk-
ökologische und Klimakrise und als Krise der te. Dieser Zusammenhang wurde jedoch
Weltordnung. verschleiert. Der herrschenden Deutung
In ihren Antworten auf diese Krise zogen nach hatten die betroffenen Staaten ȟber
die Herrschenden in den kapitalistischen ihre Verhältnisse gelebt«. Die griechische
Zentren Lehren aus den großen Krisen des Regierung musste sich im Gegenzug zu den
20. Jahrhunderts, die zum Aufstieg rechts- Notkrediten der Troika zu massiven sozialen
nationaler Kräfte, zu zwei Weltkriegen, aber Einschnitten und Privatisierungen verpflich-
auch zu sozialistischen Revolutionen geführt ten. In der Folge legte eine neue europäische
hatten. Sie einigten sich auf Konjunkturpro- Wirtschaftsregierung (»Fiskalpakt«) alle
gramme, deren Zweck jedoch innerhalb der Staaten des Euroraums dauerhaft auf einen
(neo-)liberalen Regierungen umstritten war: strikten Austeritätskurs fest.
Dienten sie einer kurzfristigen Stabilisierung Gegen diese Politik entwickelte sich ein
des Finanzmarktkapitalismus oder zielten sie transnationaler Zyklus von sozialen Bewegun-
auf dessen langfristigen Umbau? gen, die einen alternativen Weg aufzeigten. Es
Die Krise führte zu Rissen und Rich- war eine geschichtsoffene Situation: Wie in
tungskämpfen im herrschenden Machtblock, allen historischen Krisen sollten die Klassen-
in denen sich schließlich die Neoliberalen kämpfe über den Ausgang des Konflikts und

36     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Mit dem Finanzcrash 2008 wurden die Krisen des
Kapitalismus offensichtlich. Viele hofften auf einen
linken Aufbruch. Doch Austerität und Autoritarismus
konnten sich global durchsetzen. Inzwischen ist der
Neoliberalismus entzaubert und die Welt brennt.
Was sind die Szenarien unserer Zukunft?

die neue Gestalt des Kapitalismus, ja vielleicht


sogar über seine Überwindung entscheiden. INGAR SOLTY ist Referent für Friedens- und
In dieser Situation veröffentlichte das Institut Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschafts-
analyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und
für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-
Redakteur dieser Zeitschrift.
Stiftung 2011 ein Kollektivpapier mit mögli-
chen Zukunftsszenarien, um politisch besser
intervenieren zu können. Vier Szenarien der Bewegungen noch linken Parteien gelang
wurden unterschieden: 1. ein verschärfter es, ihren Widerstand zu internationalisieren
autoritärer Neoliberalismus, 2. das Projekt der oder mit effektiven betrieblichen Kämpfen
»Neuen Rechten«, 3. ein grüner Kapitalismus zu verbinden. Die Niederlage von Syriza in
und 4. ein (Social) Green New Deal (IfG 2011). Griechenland 2015 und die relative Schwäche
Acht Jahre später stellt sich die Frage, wie (Spanien) bzw. Isolierung (Portugal) linker
zutreffend diese Prognosen waren. Ist bereits Projekte in Südeuropa wirkt bis heute fort.
ein neuer Kapitalismustyp entstanden? Oder Ohne diese Niederlagen der Linken ist der
befinden wir uns weiterhin in einer Über- darauffolgende Siegeszug der Rechten nicht
gangsphase? Welche Szenarien beschreiben zu begreifen. Angesichts der unhaltbaren
heute die Welt von morgen? Zustände zieht die Rechte ihre Stärke aus
einer gesellschaftlichen Erfahrung der Ohn-
DIMENSIONEN EINER KRISENGESELLSCHAFT macht: Radikale Alternativen sind unbedingt
Die Analyse von 2011 hat die großen Konflikt- notwendig, aber ihre Durchsetzung vorerst
linien recht genau vorhergesagt. Sie konnte gescheitert.
aber nicht voraussehen, wie robust die herr- Mit dem vorläufigen Sieg des autoritären
schenden Klassen ihren Kurs fortzusetzen Neoliberalismus ist die Krise indes nicht
verstanden. Die Austeritätspolitik und ihre vorbei. Sie bleibt virulent und artikuliert sich
Folgen traten regional ungleichzeitig auf. We- weiterhin als eine multiple Krise mit den

DIE WELT VON MORGEN LUXEMBURG 3/2019     37


eingangs genannten Dimensionen. Sie wurde hatte sich mit Trumps Wahlsieg, dem von
zunächst einmal in die Zukunft verschoben. rechts befeuerten Brexit und der österreichi-
Das zentrale Reformprojekt des linken Flügels schen Präsidentschaftswahl gezeigt, dass die
der herrschenden Klasse war der »grüne äußerste Rechte nun auch Mehrheiten gewin-
Kapitalismus«. Er sollte mit Konjunkturpro- nen kann. Auch dort, wo sie noch nicht an
grammen die Entwicklung »grüner« Techno- der Staatsmacht beteiligt ist, gilt die Formel
logien anschieben, neue Märkte und einen »rechts wirkt«: Die Kräfte von rechtsaußen
Wachstumsschub hervorbringen. Das Projekt treiben die anderen vor sich her. Mit der Er-
scheiterte jedoch. Denn für Reformen von folglosigkeit sowohl linker Konzepte wie auch
oben ist der Kapitalismus paradoxerweise auf der des »grünen Kapitalismus« sehen viele
radikale Kräfte von unten angewiesen, die für keine real(istisch)e Alternative mehr zum
eine Modernisierung genutzt und kooptiert Neoliberalismus. Nur in politischen Systemen
werden können. Entsprechend gingen die mit Mehrheitswahlrecht sieht es anders aus:
dominanten westlichen Nationalstaaten zur Dort besteht Hoffnung, die erschlafften Mitte-
Politik der Austerität über, die ihnen und links-Parteien real (wie Jeremy Corbyn) oder
ihren Konzernen Vorteile verschafften, Löhne potenziell (wie Bernie Sanders) von innen zu
senkten und die gewerkschaftliche Hand- erneuern.
lungsmacht schwächten. Die Krisenpolitik Im anderen Fall kommt es zu einer
vertiefte somit den Neoliberalismus und damit gefährlichen Polarisierung: Das gesamte
die Kräfteasymmetrie zwischen Kapital und Parteienspektrum jenseits der »neosozialis-
Arbeit. tischen« Linken sieht keine Alternative zur
Die neoliberalen »Mitte«-Parteien in der marktgetriebenen Gesellschaftsentwicklung.
EU gerieten damit jedoch in einen Teufels- Darin ist sich der linke Flügel des Bürgertums
kreis: Je unpopulärer die Kürzungen und je (in Deutschland: die Grünen) mit dem ganz
größer der Protest, desto autoritärer mussten rechten (AfD) einig. Das verschiebt den
die Staaten agieren, gegen geltendes Recht Diskurs auf die Ebene des Kulturkampfes. Ge-
verstoßen und zum Beispiel Demonstrati- stritten wird vornehmlich über die Frage, wie
onsrechte einschränken. Je mehr die eigenen (il-)liberal Einwanderungs-, Sicherheits- oder
Machtressourcen mit der Erosion der »Volks- Geschlechterpolitik gestaltet wird. Weil aber
parteien« und dem Aufstieg von rechten die materiellen Krisenprozesse in der Klas-
und linken Kräften schwanden, je mehr die sengesellschaft weiterwirken und die Ängste
Herrschenden ihre Politik in einer demokra- der Bevölkerung vertiefen, drohen alle linken
tisch kaum legitimierten neuen europäischen Alternativen zur Marktgesellschaft in diesem
Wirtschaftsregierung festzurrten, umso mehr Kulturkampf zerrieben zu werden. Das
trat ihr Zwangscharakter offen zutage, was die linksliberale Bürgertum und die Rechtsautori-
herrschenden Parteien weiter schwächte. tären können sich gegeneinander profilieren
In Deutschland wirkte die sogenannte und ihre jeweilige sozial und kulturell relativ
Flüchtlingskrise im Sommer 2015 als Kata- homogene Klientel binden. Unterdessen
lysator des Aufstiegs der Rechten. Seit 2016 zerlegen sich sozialdemokratische und linke

38     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Parteien an der Frage, wie man Wähler*innen gen kürzt und die Unsicherheit am Arbeits-
der »Arbeiterklasse« zurückgewinnen kann. markt verschärft, bröckelt der Zusammenhalt.
Die Krise der Demokratie wird ver- Den Menschen wird signalisiert, dass sie auf
schärft durch die Digitialisierung und die sich allein gestellt sind. Der Staat scheint nur
Umbrüche der Produktionsweise. »Industrie noch auf dem Feld des Kulturkampfes, nicht
4.0« und »Internet der Dinge« verkörpern aber in der wirtschaftlich-gesellschaftlichen
einen von Kapitalseite vorangetriebenen Planung souverän. Das gilt auch in Bezug auf
Rationalisierungsprozess. Der objektive die sich beschleunigende ökologische Krise, die
Stress, die eigenen Qualifikationen entwertet immer mehr zur Zivilisationskrise wird. Sie
zu sehen und permanent umlernen zu stellt das Paradigma einer Marktgesellschaft
müssen, verallgemeinert sich und triff selbst grundlegend infrage und erfordert radikale
hochqualifizierte Lohnabhängige. Die alten wirtschaftspolitische Maßnahmen. Die Dring-
Sicherheiten der »Mittelklassen« schwinden, lichkeit ist mit den neuen Klimabewegungen
das Versprechen, durch Leistung am Wohl- im öffentlichen Bewusstsein angekommen
stand teilzuhaben, hat an Überzeugungskraft und verstärkt das Gefühl der Bedrohung und
verloren. Der radikale Umbau des Sozialstaa- Angst. Auch diese Debatte verbleibt jedoch
tes verstärkt Erfahrungen der Verunsicherung vielfach auf dem Terrain eines Kulturkampfes,
und Deklassierung. Der Traum vom Leben ein grün-liberales und ein konservativ-rechtes
in der »saturierten Arbeitnehmermitte« mit Lager stehen sich gegenüber. Linke Alternati-
Eigenheim, exotischen Urlaubszielen und ven zu marktkonformen Lösungsansätzen sind
Altersvorsorge wird prekär. Zugleich ist mit im politischen Diskurs weiterhin marginal, es
dem Wandel der Geschlechterbeziehungen dominiert das neoliberale »Weiter so«.
auch das fordistische Familienmodell im Tatsächlich müssten staatliche Akteure
Umbruch. Eine weitere Folie für den rechten in dieser Situation eine Vision zur Bearbei-
Kulturkampf, der die »gute alte Zeit« zurück- tung dieser Umbrüche entwickeln, in der
haben will. Die Erwerbsintegration von gesellschaftliche Teilhabe und Zusammenhalt
Frauen hat unter neoliberalen Vorzeichen im Zentrum stehen. Dies wird der Politik
nicht die versprochene Selbstbestimmung für aber nicht mehr zugetraut: Die Volksparteien
alle gebracht, sondern soziale Ungleichheit erodieren unaufhaltsam und die Zukunftsvisi-
zwischen Frauen vertieft. Aufgrund der lü- onen formulieren Konzerne wie Tesla, Google
ckenhaften öffentlichen Daseinsvorsorge sind oder Facebook. Die Visionslosigkeit der
für Care-Arbeiten weiterhin meist Frauen Herrschenden ist Wasser auf die Mühlen der
zuständig, sind diese meist privat und prekär Rechten. Wenn niemand mehr eine Politik für
organisiert. Stress und Überforderung prägen alle formuliert, hinterlässt dies ein Vakuum,
den Alltag vieler Menschen. das die Rechte, die wenigstens den Anspruch
Der autoritäre Neoliberalismus hat auf die- erhebt, die Volkssouveränität zu repräsentie-
se Krise der lohnabhängigen »Mittelklassen« ren, völkisch füllt.
keine Antwort. Im Gegenteil, mit einer Politik, Diese Umbruchprozesse stehen im
die Renten und Löhne senkt, soziale Leistun- Kontext einer Krise der globalen Weltordnung

DIE WELT VON MORGEN LUXEMBURG 3/2019     39


und einer neuen Kriegsgefahr. Während die dass radikale rechte Regierungen kein alterna-
USA relativ an Einfluss verlieren, ist China tives Projekt verfolgen, sondern die proka-
in etlichen Bereichen der Hochtechnologie pitalistische Politik und ihre Widersprüche
unangefochtener Weltmarktführer und kann noch forcieren. Dabei amalgamiert sich der
durch die staatliche Kontrolle über Wirt- autoritäre Neoliberalismus der »Mitte« mit
schafts- und Finanzsektor seine Entwicklung der autoritären Rechten: Umgesetzt werden
souverän gestalten. Historisch war solch »nur« jene Teile des rechten Wahlprogramms,
eine Ablösung einer alten durch eine neue die die Interessen des (transnationalen)
Weltmacht stets mit Kriegen verbunden. Auch Kapitals nicht tangieren, wie etwa eine weitere
heute führt die Rivalität zu einem globalen Verschärfung repressiver Sicherheitspolitiken.
Rüstungswettlauf. Teile des US-Militärappa- Die »national-sozialistischen« und »Anti-
rates bereiten sich systematisch auf einen Establishment«-Forderungen hingegen wer-
großen Krieg gegen China in den nächsten den in ihr Gegenteil verkehrt. In Österreich
Jahrzehnten vor. Zudem hat weltweit die Zahl etwa forderte die FPÖ eine Volksabstimmung
der Stellvertreterkriege stark zugenommen, zur EU- und Euro-Mitgliedschaft. In die Regie-
auch durch die globalen ökonomischen rung trat sie 2017 mit einem Treuebekenntnis
Verwerfungen der Austeritätspolitik. Die zu beidem ein. Im Gegenzug bekam sie das
Staaten des Nordens versuchen, ihre Krisen Innenministerium und konnte mit beson-
durch mehr Exporte zu überwinden, was die derer Schärfe gegen Linke und muslimische
Konkurrenten im globalen Süden weiter unter Zuwanderer vorgehen.
Druck setzt. Mit der Finanzkrise haben welt- Für die Zukunft wird entscheidend sein,
weit Massenarbeitslosigkeit und Staatsschul- ob dieser Widerspruch zwischen rechter
denkrisen zugenommen. Die Spielräume Propaganda und rechter Realpolitik zu
für Umverteilung sind eingeschränkt. Diese einer Schwächung der Rechten führen wird.
Politiken verstärken die Verteilungskonflikte Entscheidend wird sein, einerseits einen Keil
und das Risiko, dass sich diese konfessionali- zwischen die Parteikader und ihre proleta-
sieren und ethnisieren. rische Basis zu treiben und andererseits die
Protestwählerschaft von den Anhängern mit
ENTWICKLUNGSSZENARIEN geschlossenem rechtsextremem Weltbild zu
Der Hauptnutznießer der Austeritätspolitik entfremden. Die Zukunft hängt davon ab, wie
und des globalen »Beggar-thy-neighbor«-Ka- sich die unterschiedlichen Dimensionen der
pitalismus ist das transnationalisierte Kapital. multiplen Krise entwickeln, die jede für sich
Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit hat eine das Potenzial einer dramatischen Zuspitzung
große Zahl von Staaten Spitzensteuersätze in sich birgt. Die Wechselwirkungen sind
gesenkt, Arbeitsmärkte dereguliert und nicht vorhersagbar. Dennoch scheinen fünf
nicht-kapitalistische Räume in Wert gesetzt. Szenarien denkbar:
Oft waren neue Rechtsaußenregierungen 1 // Autoritärer Kapitalismus: Die Tendenzen
federführend, etwa in den USA, Brasilien, des »Durchwurstelns« und der Ad-hoc-Feuer-
Indien, Österreich oder Ungarn. Das zeigt, löschaktionen setzen sich unter den Bedin-

40     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


gungen einer festgezurrten marktgetriebenen Mobilisierungspotenzial verschaffen. Die Zahl
Gesellschaftsentwicklung global fort. In der Toten im Mittelmeer nimmt dramatisch
diesem Szenario geht der Aufstieg des rechts- zu und die Rechte macht die »Sicherung«
autoritären Nationalismus ungebremst weiter, des EU-Grenzregimes zur Aufgabe sou-
weil er nicht durch kurzfristiges Taktieren, veräner Politik. Zugleich ist sie es, die die
durch Korruptionsskandale oder gar Parteien- inneren Widersprüche des globalisierten
verbote eingehegt werden kann, sondern nur Kapitalismus zuspitzt. Ihr rechtsautoritärer
durch ein umfassendes sozial-ökologisches Nationalismus bekämpft jedoch niemals
Gesellschaftsprojekt, das »alle« mitnimmt. deren Ursachen, sondern immer bloß die
Trotz seiner politischen Schwäche stützt sich Symptome: Er richtet sich gegen Geflüchtete
der neoliberale Block jedoch weiterhin auf und Arbeitsmigrant*innen, aber niemals
seine Macht, die in der Transnationalisie- gegen den Freihandel, der millionenfache
rung der kapitalistischen Produktions- und Proletarisierung von Kleinbauern, Krieg und
Klassenverhältnisse begründet ist. Auf dieser Flucht hervorbringt, und ebenso wenig gegen
Basis bindet er die radikale Rechte, wie in den Klimawandel als Fluchtursache. Zudem
Österreich, ein. Diese kann keine Rückkehr provoziert er mit seinem antimuslimischen
zum ökonomischen Nationalismus durchset- Rassismus gerade jene ethnische Polari-
zen, wie es die binnenorientierten und global sierung, die er zu seinem Ausgangspunkt
nicht wettbewerbsfähigen Kapitalfraktionen nimmt. Er ist damit eine Art reaktionäre Don
favorisieren würden. Insofern die Rechte sich Quijoterie. Neoliberale Regierungsbeteiligun-
jedoch noch auf die fossilistischen Kapitalien gen schwächen die radikale Rechte parado-
stützen kann, wird sich der ideologische xerweise nicht, solange es keine realistischen
Kampf um die Klimafrage zuspitzen. linken Alternativen gibt. Sie polarisiert die Ge-
Dieses erste Szenario wäre gleichbedeu- sellschaft weiter und befördert Bedingungen
tend mit zunehmender Barbarisierung. Der eines kulturellen Bürgerkriegs nach innen
USA-China-Konflikt wird sich zuspitzen. Der und – mit der Zuspitzung der Klimakrise –
Druck auf den »Westen«, China durch vor eines Weltbürgerkriegs.
allem militärische Zwangsmittel vom »wettbe- 2 // Unkoordinierter Zerfall des globali-
werbsverzerrenden« Staatsinterventionismus sierten Kapitalismus: In diesem Szenario
abzubringen und sich der westlich dominier- entwickeln sich Nationalismusprojekte,
ten Weltwirtschaftsordnung unterzuordnen, aber anders als in den 1930er Jahren ohne
wird steigen. Die Fortsetzung der marktgetrie- dominante »nationale Bourgeoisien«. Die
benen Entwicklung sowie die Forcierung von multilateralen Institutionen werden durch
Exportorientierung und Freihandelsabkom- bilaterales Staatshandeln insbesondere seitens
men mit dem globalen Süden (Compact with Trump weiter geschwächt. Die internationalen
Africa, Economic Partnership Agreements, Spannungen nehmen zu. Die institutionellen
Mercosur-Abkommen der EU etc.) werden Grundlagen für die Neuauflage eines koor-
Konflikt- und damit Fluchtursachen verschär- dinierten Krisenkeynesianismus erodieren.
fen, die wiederum der Rechten ein ständiges Nationalistische Ideologie dient zunehmend

DIE WELT VON MORGEN LUXEMBURG 3/2019     41


als Mittel der Exterritorialisierung innerer der zwischenimperialistischen Konkurrenz
Widersprüche: Nicht die kapitalistische Akku- um Rohstoffe und Absatzmärkte wiederum
mulation im Allgemeinen und die Politik der führt zu einer Zunahme von militärischen
inneren Abwertung im Besonderen sind dann Drohgebärden und Zwischenfällen mit
schuld an stagnierenden Reallöhnen und sin- Eskalationspotenzial. Die plötzliche Rückab-
kenden Lohnquoten, sondern die »unfairen« wicklung der Globalisierung vollzieht sich
Handelspraxen der ausländischen Konkurrenz. im globalen Süden angesichts der Schwäche
Der selektive Protektionismus, der erleichterte der Linken nicht als fortschrittliche Süd-Süd-
Marktzugänge und robuste geistige Eigen- Kooperation, sondern als relativ chaotischer
tumsrechte durchsetzen soll, verselbstständigt Prozess, in dem ausländische Direktinvestiti-
sich: Die erschwerte Planbarkeit von Unter- onen und Exporte eingeschränkt werden und
nehmerhandeln sowie die Fragmentierung sich innere Konflikte verschärften. So erhöht
und Verteuerung von globalisierten Lieferket- sich die Zahl der zerfallenden Staaten.
ten führen zu einer partiellen Rückentwick- Fluchtbewegungen infolge von Kriegen,
lung der Transnationalisierung. Diese hat Wirtschafts- und Klimakrisen nehmen weiter
bislang als Einhegungsstruktur gegen den zu. Einzelne Nationen schließen sich militä-
politischen Nationalismus gewirkt. Die trans- risch in »Koalitionen von Willigen« zusammen
nationalen Fraktionen im Machtblock können und schotten sich gegen die Folgen regionaler
ihre zunehmende politische Wehrlosigkeit Gewaltkonflikte ab. Der gated capitalism mit
gegen den rechtsautoritären Nationalismus Inseln des Wohlstands in einem Meer von
aber nun nicht mehr kompensieren. Letzterer Chaos wird im Namen des Schutzes »unserer
verändert nun auch – in einer Dominanz der westlichen Lebensweise« immer offener zum
Logik des Politischen – die Grundstrukturen Politikziel: Rücksichtslose Abschottung und die
des globalen Kapitalismus und provoziert öko- Einschränkung universeller Menschenrechte
nomische Verwerfungen mit entsprechenden werden politikleitend. Die Krise im transatlanti-
gesellschaftlichen Folgewirkungen. Es kommt schen Bündnis führt zugleich zur militärischen
zu einer Renaissance der Autarkie-Ideologie Mobilisierung einer geschwächten Kern-EU
der 1930er Jahre. oder einzelner EU-Staaten. Zwischenfälle am
Mit dieser Zuspitzung zwischen- Rande des US-Empire, insbesondere im West-
imperialistischer Konkurrenz gerät die pazifik, in der nun eisfreien, rohstoffreichen
Klimagerechtigkeit gänzlich unter die Räder. Arktis, im Weltall und in Stellvertreterkonflik-
»Nationale Alleingänge« in Sachen Emissi- ten machen einen großen Krieg zwischen den
onspolitik werden zum Wettbewerbsnachteil. USA und China immer plausibler. Das nationa-
In Ländern, die auf Energieimporte ange- listische gesellschaftliche Klima, die emotionale
wiesen sind, kommt es zu einer Renaissance Abstumpfung gegenüber menschlichem Leid
nationaler Kohleproduktion, gefährlicher und eine Entzivilisierung nach innen und
Offshore-Ölbohrungen und anderer Formen außen schaffen Akzeptanz für die Unausweich-
des extremen Extraktivismus. Die Klimakrise lichkeit eines solchen Krieges. Die Menschheit
gerät völlig außer Kontrolle. Die Zuspitzung versinkt womöglich in der absoluten Barbarei.

42     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


3 // Grün-autoritärer Kapitalismus: Die
Risse im Lager der Herrschenden des
»Westens« nehmen zu und verlaufen
entlang der Frage, wie dem Aufstieg
Chinas und seiner aktiven Industriepolitik
und grün-technologischen Dominanz
begegnet werden kann. Forderungen
nach einem Ende der Austeritätspolitik
werden immer lauter. Mittels nationaler
Industriepolitik wird eine Wiederauflage
der »Deutschland AG« versucht. Im
Namen der Wettbewerbsfähigkeit wird
die neoliberale Arbeitsmarkt- und Sozi-
alpolitik jedoch fortgeführt. Die grünen
industriepolitischen Gegenoffensiven des
»Westens« können die forcierte Rivalität
mit China teilweise abmildern. Die Kosten
der Klimakrise werden unterdessen nach
unten abgewälzt, insbesondere durch re-
gressive Steuern auf Fleischkonsum oder
CO2-Verbrauch, ganz im Geiste grüner
Konsumentensouveränität. Mit der Ver-
schärfung der Krisentendenzen über das
Jahrzehnt – insbesondere der Klimakrise,
aber auch der Fluchtbewegungen, die wie
im zweiten Szenario fortschreiten – wird
der grüne Kapitalismus immer autoritärer. universalistisch in der Sprache, begünstigt
Der Autoritarismus richtet sich dabei sowohl aber im antirassistischen und feministischen
gegen zunehmenden rechten Protest gegen Sinne die am stärksten unterdrückten Gruppen
die Klimapolitik wie auch gegen linksgerichte- in der Gesellschaft. Mindestlohnerhöhungen,
te Proteste der unteren Klassen. eine Rekommunalisierung und Stärkung des
4 // Globaler Green New Deal: Vielerorts öffentlichen Wohnungsbaus, eine progressive
entzaubert eine verbindende linke Politik den Mobilitätspolitik, Arbeitszeitverkürzungen
rechtsautoritären Nationalismus an der Macht und Ausbau der Care-Infrastruktur gehören
und spaltet ihn entlang der Klassenfrage. Die zum Kern dieser neuen »Politik für alle«. Sie
bislang von rechts formulierte Ideologiekri- entkräftet die rechte Verzerrung, dass linke
tik wird mit einer klugen, übergreifenden (Anti-Diskriminierungs-)Politik lediglich
Klassenpolitik und der Vision eines Social bestimmte Gruppen wie Geflüchtete, Frauen,
Green New Deals verbunden. Diese Politik ist sexuelle Minderheiten oder Behinderte vor den

DIE WELT VON MORGEN LUXEMBURG 3/2019     43


erbarmungslosen Gesetzen des Marktes schützt, gesellschaftliches Reformbündnis des sozial-
denen auch alle anderen unterworfen sind. ökologischen Umbaus. Der neue politische
Die neuen klassenbasierten Bewegungen, Horizont erleichtert Reformvorhaben mit
die sich seit Herbst 2019 von Chile über utopischem Überschuss. Ein neues Zeitalter
Haiti bis in den Libanon gegen die Exzesse der großen Gesellschaftsreform und Demo-
der Austerität und des Autoritarismus kratisierung bricht an. Vor dem Hintergrund
richten, verstetigen und globalisieren sich. erstarkender Sozialbewegungen im globalen
Sie repolitisieren Wirtschaftspolitik und Süden verändert sich auch das internationale
Fragen der globalen Vermögensungleich- System und die Entwicklungspolitik. Sie steht
heit. So verschiebt sich die gesellschaftliche nun ähnlich wie in den 1970er Jahren unter
Konfliktlinie wieder stärker in Richtung der den Paradigmen der Klimagerechtigkeit, Abrüs-
Verteilungsfrage, die sich durch erneute tung und Kooperation. Der Green New Deal
ökonomische Krisen dramatisch zuspitzt. Es wird globalisiert und im Sinne eines neuen
bilden sich Mitte-unten-Bündnisse in zent- Internationalismus werden wirkungsvolle
ralen Konfliktfeldern der Klassengesellschaft. Institutionen zur Bearbeitung der Klimakrise
Im Mieterland Deutschland ist es insbeson- geschaffen. Der Aufstieg Chinas erfolgt auf
dere die Wohnungsfrage. Hier verschieben sanftem Weg im Rahmen dieser Institutionen,
Kampagnen und Bündnisse die Grenzen des die die neuen Kräfteverhältnisse im Weltsystem
Möglichen: Forderungen nach Enteignung widerspiegeln. China spielt im Rahmen des
vertiefen sich und öffnen ganz neue Horizon- Technologietransfers eine immer wichtigere
te. Dies setzt – trotz allem – Hoffnungen auf Rolle. Regionale Integrationsbemühungen im
verbesserte Lebensverhältnisse für alle und globalen Süden orientieren sich zunehmend
Zukunftsoptimismus frei, der die pessimis- an gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen.
tischen Ausgrenzungsdiskurse der Rechten Einzelne Ländergruppen streben aufgrund der
nachhaltig schwächt. Das Undenkbare wird wachsenden internationalen Freiräume erfolg-
wieder denkbar. reich eine Entkopplung (delinking) an, eine
Vor dem Hintergrund der erstarkenden partielle Deglobalisierung. Mit Konzepten einer
Bewegungen von unten kommt es zu Links- Reagrarisierung und regionalen Wirtschafts-
verschiebungen in den Nationalstaaten, die kreisläufen wird versucht, die Gesellschaftskri-
sich internationalisieren und wechselseitig sen insbesondere in Afrika zu bearbeiten.
verstärken. Unter diesen Bedingungen Die radikal antikapitalistische Linke spielt
radikalisiert sich der grün-liberale Flügel des in diesem Szenario eine entscheidende, aber
Bürgertums und rückt nach links. In einem letztlich untergeordnete Rolle. Sie wird an der
corporate liberalism sucht er die Forderungen Regierungsmacht beteiligt, aber führt nicht.
von unten aufzugreifen, aufzuweichen und mit Sie entradikalisiert sich: Massive Redistributi-
einer ökologischen Reformpolitik zu verbin- on und Regulation werden zu entscheidenden
den. Das grüne Bürgertum wird unter linker Ebenen der Krisenbearbeitung. Der Abbau von
Beteiligung zur führenden Kraft. Unter dem Emissionen und von sozialer Ungleichheit
Schlagwort eines Green New Deal entsteht ein erfolgt auf dem Wege einer aktiven Industrie-,

44     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Struktur- und öffentlicher Beschäftigungspo- rung eine Rolle, die neue Eigentumsformen
litik. Es kommt zu Rekommunalisierungen als strukturelle Gegenmacht zum Kapital
sowie zu einer Dekommodifizierung und etablieren. Die Kontrolle des Bankenwesens,
Demokratisierung der Arbeitswelt, doch die womöglich durch eine neue Finanzkrise
private Kontrolle über die Produktionsmittel und »Bankenrettungen«, wird zum Hebel
wird nicht angetastet. Entsprechend werden der sozial-ökologischen Investitionskontrolle.
der Abbau sozialer Ungleichheit und die Re- Zudem werden in den transnationalen Konzer-
duktion umweltschädlicher Emissionen hinter nen neue wirtschaftsdemokratische Strukturen
den Zielen zurückbleiben. Der Klimawandel aufgebaut. Ein Bündnis von neosozialistischen
schreitet voran und seine Auswirkungen Staaten forciert multilateral den Umbau hin
werden im öffentlichen Diskurs verhandelt. zu einer demokratisch geplanten grünen
Die Klassengesellschaft ist durchlässiger Industriepolitik. Es organisiert einen solida-
geworden, aber die Lebensverhältnisse vom rischen Internationalismus mit nicht markt-
Bildungssektor bis hin zum Wohnen sind vermittelten Austauschstrukturen, etwa für
weiterhin von Ungleichheit geprägt. Aller- Bedarfsgüter und technologisches Wissen. Das
dings hat sich die Ausgangsposition der linken Ziel dieses grünen Sozialismus ist die nach-
Arbeiterbewegung für die unvermeidlichen haltige und umfassende Überwindung der
Klassenauseinandersetzungen verbessert. Die multiplen Krisen, wobei die gesellschaftliche
Organisations-, Markt- und Produktionsmacht Kontrolle der Produktionsmittel den Schlüssel
der Gewerkschaften ist hoch. Die Institutiona- darstellt. Produktions- und Lebensweisen
lisierung der linken konfliktorientierten Poli- werden schnell, radikal und bewusst umge-
tik hat aber auch einen neuen staatsfixierten staltet. Die Klimakrise hat zweifellos starke
Technokratismus, eine neue linke Staatsklasse Zerstörungen hervorgerufen. Das Erschrecken
hervorgebracht, die demobilisierend wirkt. Die über die Destruktionskraft von 250 Jahren
Reformen drücken ähnlich wie in den 1970er bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft ist groß
Jahren auf die Profitabilität des Kapitals und und schlägt sich im öffentlichen Leben, in der
kündigen die nächste organische Krise an. Wissenschaft, in Kunst und Kultur nieder. Aber
5 // Grüner Sozialismus: Das fünfte Sze- die Eindämmung der Klimakrise ist nun ein
nario entwickelt sich ähnlich wie das vierte, realistisches Ziel. Die Menschheit überlebt
vollzieht sich aber unter Führung der anti- und ebenso überlebt die Menschlichkeit.
kapitalistischen Linken. Die Bewegung geht
von Industrienationen mit entsprechenden Eine Langfassung diese Textes findet sich auf
ökonomischen und politischen Spielräumen LuXemburg-Online.
aus und formuliert explizit ein revolutionär-
LITERATUR
realpolitisches »Übergangsprogramm«. Das IfG – Institut für Gesellschaftsanalyse, 2009: Die Linke
Ziel einer sozial-ökologischen Transformation in der Krise. Strategische Herausforderungen, in: Zeit-
schrift LuXemburg 1/2009, www.zeitschrift-luxemburg.
basiert auf dem Umbau des Staates und de/die-linke-in-der-krise/
Dass., 2011: Organische Krise des Finanzmarktkapitalismus:
einer permanenten Demokratisierung. Dabei
Szenarien, Konflikte, Konkurrierende Projekte,
spielen verschiedene Formen der Sozialisie- RLS-Papers, Berlin.

DIE WELT VON MORGEN LUXEMBURG 3/2019     45


WIE MIT SOZIALISMUS
POLITIK MACHEN?

MIT RHONDA KOCH UND


JAN DIEREN

    Wie seid ihr Sozialist*innen geworden? Und ne ersten Erfahrungen von kollektiver Stärke
warum? und zivilem Ungehorsam gemacht. Von dort
   JAN: Das Warum ist ziemlich klar. Wir sehen war der Weg zum SDS nicht weit. Die Studis
Ungerechtigkeit und Krisen in der ganzen dort haben mir einen analytischen Rahmen
Welt, himmelschreiende Armut und maßlose angeboten, um die Idee der ­»99 Prozent«
Verschwendung. Gleichzeitig gehen unsere besser zu verstehen. Ich bin also im ersten
natürlichen Lebensgrundlagen zugrunde. Wir Schritt nicht durch persönliche Betroffenheit,
haben keine Kontrolle über die gesellschaft- sondern durch Einsicht Sozialistin geworden.
lichen Verhältnisse, was ganz wesentlich an Wirklich politisiert wurde ich aber in der Be-
der kapitalistischen Produktionsweise liegt. wegung. Hier habe ich verstanden – wie wir
Solche Kontrolle können wir aber nur erlan- es im SDS gerne mit Gramsci sagen –, dass
gen, wenn wir über unsere Arbeit, unsere leben bedeutet, Partei zu ergreifen.
Produktion, unser Leben tatsächlich selbst
bestimmen – das ist Sozialismus.     Und was ist für dich der Kern sozialistischer
Als ich angefangen habe, mich mit Politik?
Politik zu beschäftigen, wusste ich, dass    RHONDA: Die Überzeugung, dass die
eine andere Gesellschaft möglich sein muss. Menschen ihre Geschichte selbst in die
Und irgendwie ahnte ich, dass das wohl der Hand nehmen müssen, um Stück für Stück
Sozialismus sein könnte, ohne ganz genau zu die demokratische Kontrolle über ihr Leben
wissen, was das heißt. Der Rest ist Lernen, zu erlangen – da kann ich an Jan anschlie-
Lernen, Lernen. ßen. Ich würde aber betonen, dass diese
Kontrolle erkämpft werden muss. Die Macht
    Und du? dazu müssen wir aufbauen, um uns aus der
   RHONDA: Ich bin über die Occupy-Bewe- Abhängigkeit von den Bedürfnissen der We-
gung politisiert worden. Damals habe ich mei- nigen und vom Markt zu befreien. Und zwar

46     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


» Der Sozialismus ist keine detaillierte Programmatik,
sondern eine politische Bewegung. « [RHONDA]

» Wenn wir über unsere Arbeit, unsere Produktion


und unser Leben tatsächlich selbst bestimmen –
das ist Sozialismus . « [JAN]

sowohl in der betrieblichen Mitbestimmung    JAN: Die SPD ist gerade sicher keine sozi-
als auch in nachbarschaftlicher Zusammen- alistische Partei. Aber die Sozialdemokratie
arbeit. hat in Deutschland eine tiefe gesellschaftliche
»Deutsche Wohnen & Co enteignen« Verankerung in sehr unterschiedlichen Fel-
(LuX­emburg 2/2019) beispielsweise ist dern. Mit ihr sympathisieren viel mehr Men-
sozialistische Mietenpolitik. Nicht nur weil schen, als in den letzten Jahren SPD gewählt
es um Enteignung geht, sondern weil die haben. Und eine sozialistische Bewegung
Mieter*innen dafür kämpfen, über ihre gegen den Widerstand der Sozialdemokratie
Grundbedürfnisse mitentscheiden zu können. scheint mir heute wenig Aussicht auf Erfolg
Diese Initiative hat der riesigen Mietenbewe- zu haben. Die politischen Voraussetzungen für
gung eine passende Form gegeben, sodass eine sozialistische Bewegung auch innerhalb
daraus eine Forderung mit Durchsetzungs-
kraft werden konnte. Der Mietendeckel ist
unter diesem Druck entstanden. Aber die RHONDA KOCH studiert Philosophie im Master
Berliner*innen haben nicht gewartet, bis eine an der Humboldt Universität und lebt in Berlin.
Partei wie die LINKE etwas gegen den Mie- Sie ist seit vielen Jahren in sozialen Bewegungen
aktiv, sowie bei die Linke.SDS. Dort war sie zuletzt
tenwahnsinn unternimmt, sondern sie haben
Geschäftsführerin.
ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.
Als Sozialist*innen müssen wir genau das JAN DIEREN ist stellvertretender Bundesvorsitzen-
unterstützen. der der Jusos und lebt zwischen Ruhrgebiet und
Niederrhein. Er hat Philosophie, Romanistik und
Rechtswissenschaften in Bochum und Düsseldorf
    Dass sich die SPD positiv auf Sozialismus
studiert. Derzeit arbeitet er als Rechtsreferendar in
bezieht, ist vielen gar nicht bekannt – auch in- Nordrhein-Westfalen und schreibt an einer juristi-
nerhalb der Partei. Warum ist sie für dich der schen Dissertation zu materialistischer Staatstheorie.
Ort für sozialistische Politik – trotz alledem?

GESPRÄCH   LUXEMBURG 3/2019     47
der Sozialdemokratie und insbesondere in der selbstbestimmt zu organisieren. Dies ermög-
SPD zu erkämpfen, ist also eine notwendige licht uns eine sozialistische Organisation der
Voraussetzung. Produktion, in der die Selbstbestimmung der
Natürlich sind die Bedingungen dafür Menschen über ihre Arbeit die Grundlage der
heute – vorsichtig formuliert – nicht gerade gesellschaftlichen Kooperation der Produkti-
optimal. Die SPD hat in den letzten Jahren on ist.
politische Entscheidungen durchgesetzt, die
arbeitende Menschen hart getroffen haben.     Wie hat sich deine Vorstellung von
Dass viele Linke sich abgewendet haben, ist Sozialismus im Laufe der Zeit verändert?
nachvollziehbar. Aber es wäre kurzsichtig,    RHONDA: Im Grunde ist mit der Zeit
ihre Rolle zu ignorieren. Wenn wir wollen, klarer geworden, dass der Sozialismus keine
dass eine sozialistische Perspektive Erfolg detaillierte Programmatik ist, sondern eine
hat, müssen wir auch innerhalb der SPD politische Bewegung mit gewissen Leitsätzen,
darum kämpfen, dass sie sich sozialistischen die auf radikale Gesellschaftsveränderung
Umwälzungen nicht entgegenstemmt – und zielen. Aber wie jede andere Bewegung muss
das hängt davon ab, ob Sozialist*innen sich sie sich in der Realität beweisen, also gewin-
innerhalb der Sozialdemokratie als politische nen. Und das tut sie gerade viel zu wenig in
Strömung organisieren. Deutschland. Deswegen wird Sozialismus
sehr parteipolitisch verstanden, was dann zu
    Du hast es angesprochen, die Sozialdemo- einem Problem wird, wenn Parteipolitik auf
kratie steckt in einer tiefen Krise. Wäre eine Parlamentsarbeit reduziert wird. Sozialistische
sozialistischere Politik ein Ausweg? Und wie Politik, ob im Rahmen einer Partei oder nicht,
müsste die aussehen? muss ein aktives Verhältnis zur eigenen
   JAN: Der Sozialismus ist heute die Alternati- Umgebung bedeuten. Kämpfe müssen
ve, die wir zur Zerstörung unserer natürlichen mitgekämpft, Bewegungen mit aufgebaut,
Lebensgrundlagen und der Krise der Politik Menschen ermächtigt werden. Der Sozialis-
haben. Die Krise der Sozialdemokratie in mus braucht einen Alltag, damit er nicht als
Deutschland und Europa ist auch Ausdruck »Politik«, sondern als Gesellschaftsprojekt aller
einer tiefen gesellschaftlichen Krise. Die ernst genommen werden kann.
Gesellschaft durchläuft eine Umwälzung,
bislang fehlt es aber an einer Vorstellung, wie     Was heißt das konkret?
eine Zukunft aussehen könnte. Es ist unsere    RHONDA: Ich bin derzeit relativ viel in
Aufgabe als Linke, eine solche Zukunftsvor- der Klimabewegung aktiv und das Poten-
stellung zu erarbeiten. Allerdings müssen zial für radikale Forderungen ist riesig. Die
wir heute eine sozialistische Gesellschaft zentrale Frage, die verhandelt wird, ist: Wer
erstreiten, die die Freiheit der Menschen bezahlt für die Kosten der Transformation?
nicht unterdrückt, sondern zu ihrer Grundla- Eine Steilvorlage für Eigentumskritik und
ge macht. Dafür können wir auf die Fähig- Demokratisierung der Produktion. Welche
keiten der Menschen aufbauen, ihre Arbeit Forderung sollte die sozialistische Bewegung

48     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


also starkmachen? Und zwar nicht von    JAN: Wenn man vor 15 oder 20 Jahren über
außen als Ratschlag möglicher Radikalisie- Sozialismus gesprochen hat, hat man fast
rung, sondern aus der Bewegung heraus einhellige Ablehnung erfahren. Die meisten
in Vermittlung mit dem bereits angelegten Menschen wussten nicht, was man damit
kollektiven Wissen. Ich finde den griechi- meinen könnte, aber fast alle wussten, dass
schen Marxisten und Aktivisten Panagiotis es nicht richtig sein könne. Das ist heute an-
Sotiris immer wieder gut in dieser Frage. Er ders. Angesichts der Banken- und Finanzkrise,
sagt, dass tatsächliche Kämpfe mehr stra- der Klimakrise, des Erstarkens der politischen
tegische Fantasie in sich tragen, als wir uns Rechten und faschistischer Tendenzen
ausmalen können, sie werfen mehr Fragen merken immer mehr Menschen, dass wir mit
und manchmal mehr Antworten auf, als wir dem Kapitalismus keine Zukunft haben. Auf
denken, und sie verweisen auf immer neue der Suche nach Zukunftsvorstellungen ist der
Wege, wie Erfahrungen verbunden werden Sozialismus heute für viele Menschen wieder
können. Sie deuten auf Lösungen hin, die wir eine interessante Perspektive. Aber nach
uns von heute aus nicht herbeiphilosophieren all den Jahren des Schweigens merkt man,
könnten. dass sich wenige darunter etwas Konkretes
vorstellen können. Wer Sozialismus sagt,
    Du bist auch Feministin – inwiefern gehört meint allzu häufig Sozialpolitik. Wir sollten
das für dich zusammen? das neu geweckte Interesse füttern – aber
   RHONDA: Wenn das Herzensanliegen gleichzeitig daran arbeiten, uns gemeinsam
die Selbstermächtigung aller ist, muss darüber klarzuwerden, was Sozialismus heute
sozialistischer Aktivismus feministisch und konkret heißen muss.
antirassistisch sein. Die spannendere Frage
ist dann: Welchen Feminismus vertreten wir     In eurem »Sozialismus«-Projekt
in der sozialistischen Bewegung? Und da ist versucht ihr das?
ja viel Richtiges passiert in der letzten Zeit:    JAN: Ja, der Juso-Bundeskongress hat 2017
In den internationalen feministischen Streiks dem Bundesvorstand der Jusos den Auftrag
und im Feminismus für die 99 Prozent hat die gegeben, an dieser Frage zu arbeiten. Die Ju-
feministisch-sozialistische Bewegung einen sos tragen den Sozialismus in ihrem Namen,
richtigen Ausdruck gefunden. Dort werden haben aber lange nicht diskutiert, was sie
Fragen der Emanzipation von Frauen und damit eigentlich meinen.
Queers mit dem Anliegen einer Umwälzung In unserem Projekt haben sich rund 40
von Klassenverhältnissen verbunden. Diese Delegierte und Expert*innen mit den Ent-
Verknüpfung ist eigentlich für alle sozialisti- wicklungen unserer Gegenwart beschäftigt.
schen Bewegungen und Kämpfe zentral. Dabei haben wir uns insbesondere mit den
Produktivkraftentwicklungen der arbeiten-
     In eurer Arbeit als Jusos, welche Erfahrun- den Menschen in den letzten Jahrzehnten
gen macht ihr mit dem Begriff Sozialismus? auseinandergesetzt. Im Rahmen kapitalisti-
Schreckt das ab, weckt das Neugier? scher Unternehmen haben die Beschäftigten

GESPRÄCH   LUXEMBURG 3/2019     49
die Fähigkeit entwickelt, sich mit dem an der Hochschule, keine Waffenlieferungen
gesellschaftlichen Sinn ihrer Arbeit ausei­ und keine Kriege – und wir heißen Sozialis-
nanderzusetzen. Einen sichtbaren Ausdruck tisch-demokratischer Studierendenverband.
findet das in den neuen Arbeitsorganisations- Vielleicht eckt das mal an, aber überzeugender
formen. Diese Fähigkeit bietet aber eine weit als der Name ist das, was drinsteckt. Wenn du
darüber hinaus gehende Dynamik. Wie also gute Politik machst, ist das Label zweitrangig.
könnte eine sozialistische und demokratische Und ganz ehrlich, meine Generation und die
Organisation der Produktion heute aussehen? folgenden haben den Ostblock und all das
Wir haben hauptsächlich ein Modell diskutiert, überhaupt nicht mehr mitbekommen.
in dem die arbeitenden Menschen sich über
die Unternehmen hinweg in selbstständigen     In den USA und in Großbritannien sind
Produktionsgremien organisieren, die darüber sozialistische Ideen gerade unter jungen
beraten, welche unternehmerischen Projekte Leuten extrem im Aufwind. Seht ihr etwas
umgesetzt werden sollen. Die Verfügungs- Ähnliches hier?
gewalt über die Produktionsmittel ist dabei    RHONDA: Der Rechtstrend um die AfD
demokratisch – durch Parlamente oder die und der Erfolg der Grünen sprechen nicht
Produktionsgremien geregelt. Den Ausgangs- unbedingt dafür, dass wir auf einer Welle
punkt der Organisation der Produktion bilden neuer sozialistischer Hoffnung reiten könnten.
dabei die arbeitenden Menschen. Der Aufwind in Großbritannien und den USA
ist auch nicht einfach einer gesellschaftlichen
    Wie ist das bei euch? Ihr nennt euch Stimmung oder Polarisierung entwachsen,
»Sozialistisch-demokratischer Studierenden- sondern einer besonders effektiven und
verband«. organisierenden Politik. Linke Hegemonie ist
   RHONDA: Ob Sozialismus cool ist oder an zwar auf fruchtbaren Boden gefallen – Krise
alte Zeiten erinnert, liegt ja vor allem daran, des Neoliberalismus und Stärke des Rechtspo-
wie man in Theorie und Praxis das Wort füllt. pulismus –, aber sie ist in vielen Verästelun-
Wir gehen ja nicht durch die Unis und sagen: gen des Alltagslebens organisiert worden:
»Sozialismus, jetzt aber sofort«. Sanders zum Kindergarteninitiativen, Mieterorganisationen,
Beispiel sagt, er ist für eine Gesundheitsver- Telefon-Campaigning, Streiksolidarisierung,
sorgung für alle, für einen Green New Deal, Social-Media-Arbeit und eine Revitalisierung
für kostenfreies Studium und für Arbeitsplatz- der US-amerikanischen Gewerkschaftsbewe-
demokratie. Er findet, dass die Reichen zahlen gung. Sozialistische Parteipolitik wurde hier
müssen, und vor allem, dass er all das nicht ein Stück weit zur sozialen Bewegung, und
allein richten wird: »Not me, us« – »Nicht ich, das fehlt uns in Deutschland noch. Es ist be-
wir«. Und ganz am Ende sagt er, dass er So- wundernswert, wie diese Hegemonie in den
zialist ist. Dann finden die Leute Sozialismus USA aufgebaut wurde: Wenn man sich zum
richtig. Im Grunde arbeiten wir ähnlich: Wir Beispiel die Streikbewegung der Lehrer*innen
stehen für offene Grenzen, einen sofortigen anguckt, dann sind hier die zuvor in der
Kohleausstieg, Vermögenssteuer, Demokratie Sanders-Kampagne politisierten Aktivist*innen

50     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


eine entscheidende Unterstützung gewesen. gen beeinflussen bislang aber linke Parteien
Und nun wiederum profitiert Sanders von der weniger als in den USA oder Großbritannien.
Politisierung der Streikbewegung. Die Aktivität Das hat auch mit der deutschen Parteien-
der Mitglieder hat Sanders und Corbyn dahin landschaft zu tun. Während LINKE und Grüne
gebracht, wo sie jetzt stehen. Wir haben in der stärker Kontakt zu außerparlamentarischen
Partei noch viel zu stark die Idee von Stell- Bewegungen suchen, aber weniger politische
vertretung. Das fängt schon an, wenn sich Hebelwirkung ausüben können, könnte die
Abgeordnete auf Facebook für die Teilnahme SPD das besser, sucht den Kontakt aber nicht
der Bürger*innen auf Demos bedanken ... so sehr. Über kurz oder lang wird es nötig
sein, den gesellschaftlichen Bewegungen
    Wie siehst du das? Kevin Kühnert wurde einen politischen Ausdruck zu geben. Nur so
für seine Äußerungen im Frühjahr ziemlich lässt sich der Druck der Menschen auf den
angegriffen. Straßen im Rahmen einer parlamentarischen
   JAN: Es ist kein Zufall, dass die vielen Demokratie politisch umsetzen. Und nur so
sozialen, ökologischen und anderen (Jugend-) können wir der politischen Rechten innerhalb
Bewegungen weltweit mit einem Revival des dieser Verhältnisse wirksam eine wirkliche
Sozialismus-Begriffs zusammenfallen. Welt- Alternative entgegensetzen.
weit bringen insbesondere junge Menschen    RHONDA: Naja, wir sollten ja nicht das
ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck. Sie sind Gefühl vermitteln, dass wir die Alternative
unzufrieden damit, an ganz wesentlichen sind, sondern dass die Beteiligung der
gesellschaftlichen Entscheidungen nicht Menschen eine Alternative werden kann.
beteiligt zu sein. Und sie sehen, dass dieje- Ich finde, wir müssen klarmachen, dass Teil
nigen, die diese Entscheidungen treffen, die einer Organisation oder Partei zu sein, keine
Dinge gerade vor die Wand laufen lassen. Abwägungsfrage ist wie beim Warenkauf,
Also wollen sie sie selbst in die Hand nehmen. wo ich am Ende beim Fehlkauf Geld rausge-
Man muss sich das klarmachen: In allen wirt- schmissen habe. Sondern dass wir für eine
schaftlichen Fragen gibt es keine demokrati- politische Bewegung einstehen, die auf den
sche Entscheidungsfindung. Wir haben keine Beitrag aller angewiesen ist. Die also offen
Möglichkeit, in den Unternehmen gemeinsam ist, experimentieren muss und ihren Platz im
darüber zu entscheiden, ob wir lieber Ver- gesellschaftlichen Leben immer wieder neu
brennungsmotoren oder Wasserstoffautos justieren muss. Ich glaube, manchmal hat
bauen wollen. Diese Entscheidung wird von die Linke diesen Anspruch aufgegeben: eine
einigen wenigen getroffen. Und wohin uns Mehrheitsbewegung aufzubauen, die gewin-
das geführt hat, wird heute vielen klar. nen kann. Vielmehr probiert sie, durch richtige,
Gesellschaftliche Bewegungen wie aber nicht verankerte Parolen über Wasser zu
Fridays for Future, Mieterinitiativen oder der bleiben. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt!
Pflegestreik machen Mut. Darin kommt ein
Bedürfnis zum Ausdruck, über die heutigen Das Gespräch führten Barbara Fried und
Verhältnisse hinauszugehen. Diese Bewegun- Hannah Schurian.

GESPRÄCH   LUXEMBURG 3/2019     51
WAS TUN
UND WO ANFANGEN?
11-PUNKTE-PLAN FÜR EINEN
NEUEN SOZIALISMUS
MARIO CANDEIAS

Sozialismus oder Barbarei, hieß es einst bei Dinge weiterhin scheitern wird. Der Aufstieg
Rosa Luxemburg. Die Barbarei ist angesichts eines globalen Autoritarismus drückt dieses
sich auftürmender Menschheitsprobleme Scheitern aus. Er ist die aktuelle Bearbeitungs-
wieder zu einer realen Möglichkeit geworden. form der Krise zur Sicherung von Herrschaft
Die globale Ungleichheit hat sowohl zwischen – mit unkalkulierbarem Zerstörungspotenzial.
den Ländern als auch innerhalb der meisten Eine Alternative ist notwendig. Wir
Länder ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, brauchen eine Perspektive, die politische
mit dramatischen Folgen für den gesellschaft- Initiativen auf den unterschiedlichen Feldern
lichen Zusammenhalt, die Demokratie und zusammenbindet, damit nicht alles in Einzel-
letztlich auch für die wirtschaftliche Entwick- politiken zerfällt. In Zeiten gesellschaftlicher
lung selbst: Akkumulation basiert weniger Polarisierung ist eine radikale Perspektive
auf Produktion auf erweiterter Stufenleiter, entscheidend. Es geht nicht einfach um die
sondern immer mehr auf Umverteilung, was Verteidigung des Sozialstaates oder die Rück-
zugleich Wachstum blockiert. Dazu treten die kehr zu einem nationalstaatlichen Modell der
Folgen des kapitalistischen Wachstums, die Regulierung des Kapitalismus. Wir sollten klar
zu einer ökologischen Krise geführt haben, sagen, dass wir an einem Ende des Kapitalis-
die weitere soziale Verwerfungen produziert. mus arbeiten, an einer Gesellschaft, die Bernie
Die Frage der globalen Migration stellt eine Sanders oder Jeremy Corbyn unbekümmert
nicht mehr hintergehbare Herausforderung Sozialismus nennen. Dazu gehören ganz
dar, und eine Abschottung gelingt den selbstverständliche Dinge wie Gesundheitsver-
Gesellschaften des Nordens nur unter Aufgabe sorgung und Bildung für alle sowie bezahl-
menschenrechtlicher Standards und linker barer Wohnraum, entgeltfreie öffentliche
Ansprüche. Kurz: Es handelt sich um Mensch- Dienstleistungen, von Bibliotheken bis zum
heitsprobleme, an deren Lösung der Kapitalis- Personennahverkehr, ein ökologischer Umbau
mus bisher gescheitert ist und nach Lage der der Städte, des Verkehrs, der Energieversor-

54     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Wenn die gesellschaftliche Situation
so polarisiert ist wie jetzt, ist eine
radikale Perspektive nötig, die
vorhandene Kämpfe verbindet und
weitertreibt. Ansätze gibt es genug,
von der Gesundheitspolitik bis zur
Energiewende.

gung und der Landwirtschaft, viel mehr Zeit


füreinander und zum Leben, Mitbestimmung MARIO CANDEIAS ist Direktor des Instituts
und wirkliche Demokratie. Sozialismus wäre für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-
Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.
erst einmal das Selbstverständliche.
Hier scheint das Unabgegoltene vergan-
gener Zukünfte auf, von der Französischen ist nicht entscheidend, aber was sonst wäre
über die Russische Revolution bis hin zu 1968 ein positiver Begriff für einen Systemwechsel?
oder 1989. Es geht um Wege im Kapitalismus, Denn darum geht es.
die über ihn hinausführen.
Wir sollten unsere Vorstellungen einer so- WARUM SOZIALISMUS?
lidarischen, demokratischen, feministischen, Mit dem Begriff Sozialismus werden unter-
antirassistischen Postwachstumsalternative schiedliche Interessen und Bewegungen im
bei einem neuen alten, bei einem unabge- Sinne einer »revolutionären Realpolitik« ver-
goltenen Namen nennen und gemeinsam knüpft, die sich nicht »nur erreichbare Ziele
dafür streiten, was er bedeuten soll im 21. steckt und sie mit den wirksamsten Mitteln
Jahrhundert: Sozialismus – eine solidarische, auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß«,
eine gerechte Gesellschaft, das Einfache, das sondern »durch alle ihre Teilbestrebungen in
schwer zu machen scheint. Nicht alle in der ihrer Gesamtheit über den Rahmen der beste-
Mosaiklinken werden dies unterschreiben, henden Ordnung« hinausgeht (Luxemburg
aber eine Transformationslinke sollte inner- 1903, 373f). Welche Punkte sind das jeweils in
halb des Mosaiks für Sozialismus stehen. Je den einzelnen Politikfeldern? An welcher Stelle
nach Kontext kann das grüner, demokrati- kann ein konkreter Bruch angestrebt werden,
scher, feministischer Sozialismus heißen, aber können Veränderungen so weit getrieben wer-
letztlich sollte es einfach um Sozialismus sans den, dass sie zu einem qualitativen Umbruch
phrase (ohne Umschweife) gehen. Der Name werden?

WAS TUN UND WO ANFANGEN?   LUXEMBURG 3/2019     55


Zunächst geht es darum, gezielt beispielge- solchen, für die Linke produktiven Konflikt zu
bende, konkrete gesellschaftliche Konflikte zu entwickeln?
produzieren, wie dies die Beschäftigten der Es bedarf konkreter Gegnerbezüge etwa
Charité bei der Frage der Personalbemessung durch Recherchen über Hintergründe von
oder die Initiative »Deutsche Wohnen & Co Investoren, Machenschaften von Unterneh-
enteignen« getan haben. Solche Konflikte men: Wer steckt die Profite in diesem oder
sollten an Alltagsbedürfnissen ansetzen, auf jenem Krankenhauskonzern auf Kosten von
unmittelbare Verbesserungen für die Ein- Patient*innen und Personal ein? Wer liefert
zelnen zielen und eine Dynamik für nächste welche Rüstungsgüter in Krisengebiete? Wer
Schritte und weitergehende Perspektiven sperrt sich mit Dieselbetrug und Korruption
für radikale Verschiebungen schaffen. Dies gegen eine ökologische Mobilitätswende? Hier
schließt disruptive Praktiken wie Ungehorsam, geht es um Blaming, um die gezielte Beschul-
Streik, Besetzung, Blockade, auch Volksent- digung der Gegner. So kann eine verbindende
scheide ein. Selbstermächtigung und ein sozialistische Klassenpolitik herausarbeiten,
langer Atem sind zentral für die Erweiterung weshalb Kämpfe um bessere Arbeitsbe-
des Möglichkeitsraumes. Noch vor Kurzem dingungen, Löhne und Zeit, aber auch um
hätten wir gedacht, dass eine Kampagne zur die Reproduktion – Gesundheit, Wohnen,
Enteignung von Immobilienkonzernen unter Ökologie – eben Klassenkämpfe sind. Das ist
keinen Umständen Erfolg haben kann. Eine nicht evident, weder im industriellen Sektor,
solche Kampagne inspiriert, motiviert, bietet wo die Tradition der Sozialpartnerschaft und
Möglichkeiten, zuvor zersplitterte Initiativen die Einbindung in den Exportkorporatismus
und Organisationen konkret zu verbinden. wirken, noch in den Dienstleistungsbereichen,
Wenn sie erfolgreich ist, verschiebt sie den am wenigsten im Bereich öffentlicher sozialer
gesellschaftlichen Diskurs, mithin die Kräf- Infrastrukturen oder eben bei der Klimafrage.
teverhältnisse. Sie erhöht damit die Durch- So ist zum Beispiel die Erzählung, wir säßen
setzungsfähigkeit auch anderer Forderungen. bei der ökologischen Krise alle im selben Boot,
So hat die Enteignungskampagne das Dis- auch die Reichen könnten ihr nicht entfliehen,
kursfeld für den Mietendeckel verbessert und eine Mär. Die Verantwortung für ihre Ursa-
inspiriert radikale Überlegungen auf anderen chen und das Leid an ihren Folgen verteilen
Feldern. Dass Konflikte Spaß bereiten können, sich auf die gesellschaftlichen Klassen extrem
sieht man schon im Kleinen bei den Stadtteil- ungleich, global wie innergesellschaftlich.
organisierungen, wenn eine Kampagne vor Neben dem Gegnerbezug sind verbinden-
Ort fruchtet, sich mit anderen verbindet, man de Slogans für eine Systemwende notwendig,
sich als Teil von etwas Größerem fühlt. Die aber auch positive Projekte, eine Mischung
organisierende Arbeit – verbinden, verbreitern, aus erreichbaren Zielen und vorwärtstreibenden
verankern – ist zentral, um mehr zu werden. Forderungen und Initiativen. Dabei werden alte
Welches sind also die drei bis vier sozialistische Problematiken wie Macht- und
zentralen gesellschaftlichen Fragen, die gelöst Eigentumsfragen, Umverteilung, Planung und
werden müssen und die geeignet sind, einen Demokratie aktualisiert und mit neuen Pro­

56     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


blemstellungen verknüpft – in der Perspektive erfahrbar, der Reichtum des Öffentlichen
der Erweiterung der gemeinsamen Verfügung herausgestellt werden.
über die unmittelbaren Lebensbedingungen, Hier können wir an diversen Konflikten
die gesellschaftlichen Produktions- und ansetzen, neben dem Bereich Wohnen (vgl.
Reproduktionsmittel. LuXemburg 2/2019) etwa im Gesundheitssek-
tor: Es geht um die Abschaffung der Fall-
WAS DARAN IST SOZIALISTISCH? pauschalen (DRG), der Zweiklassenmedizin
Es geht weniger um die Beschreibung eines und der privaten Krankenversicherungen, es
fertigen Ziels als um die Bestimmung einiger geht um gesetzliche und tarifliche Regeln
orientierender Elemente für die wirkliche für die Personalbemessung, um Rekom-
Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand munalisierung bzw. Vergesellschaftung der
aufhebt. großen Krankenhaus- und Pflegekonzerne,
1 // Umverteilung: Sie reicht nicht aus und die Einrichtung von Polykliniken und lokalen
doch ist eine radikale Umverteilung von Ver- Gesundheitszentren mit Pflege- und Gesund-
mögen ein wesentliches Element jeder linken heitsräten.
Politik. Hier zeigt sich, wer den Richtungs- Unverzichtbar sind Schritte hin zu einer
wechsel ernst nimmt und das gesellschaftliche Mobilitätswende, einer autofreien und be-
Mehrprodukt der Allgemeinheit zuführt. Den grünten Stadt, schon allein aus ökologischen
Jammer der Klasse der Besitzenden zu verhöh- Gründen, aber auch zur Wiederaneignung des
nen, wenn ihnen mal ein wenig genommen öffentlichen Raums. Die Elemente sind: ein
wird, gehört dazu. Wir sollten jene Momente massiver Ausbau des öffentlichen Nah- und
herausstellen, in denen es aktuell gelingt (und Fernverkehrs, deutliche Preissenkungen bis
einst gelang), Besitzenden etwas wegzuneh- hin zu einem entgeltfreien ÖPNV, die Rück-
men, um dem Gefühl gegenzuarbeiten, dass führung von Betrieben und Infrastrukturen
man an die sowieso nicht herankommen kann. in die öffentliche Hand, bessere Arbeitsbedin-
2 // Infrastruktursozialismus – Rückgewin- gungen und Entlohnung der dort Beschäftig-
nung und Ausbau des Öffentlichen, der ten, Vorrang des Fußgänger- und Radverkehrs,
Commons, der sogenannten Freiheitsgüter Ende des Verbrennungsmotors.
(Brie/Klein): Mit dem Ausbau des kollektiven Insgesamt wäre der Ausbau des Öffent-
Konsums durch Stärkung der Fundamen- lichen mit einer Stärkung der Rechte und
talökonomie sozialer Infrastrukturen wird Finanzen der Kommunen zu verbinden, die in
die Grundlage für eine solidarische und ganz wesentlichen Bereichen für die unmit-
demokratische Lebensweise geschaffen. So telbaren Dinge des Lebens verantwortlich sein
kann den Lohnabhängigen die Angst vor der sollten: von Gesundheit, Mobilität, Bildung
notwendigen gesellschaftlichen Veränderung und Energie über Sicherheit und Beschäfti-
genommen und der verbreiteten Fixierung gung bis zur Produktion und Zubereitung
auf Lohnerhöhungen und Warenkonsum von Lebensmitteln. Eine Stadt für alle – die
ohne Verzichtsdebatten begegnet werden. Das Kommune im emphatischen Sinne – böte
Öffentliche als Sphäre des Gemeinsamen muss jene Freiheitsgüter, die für eine angstfreie

WAS TUN UND WO ANFANGEN?   LUXEMBURG 3/2019     57


individuelle wie gemeinsame Entwicklung pationsprozesse zu erwirken. Die Eigensin-
grundlegend sind. nigkeit von unten mag nicht immer der Logik
3 // Wirkliche Demokratie: Hier gälte es, linker Staatsprojekte entsprechen, bewahrt
gleichsam ein Subsidiaritätsprinzip zu- jedoch vor der Verselbstständigung der
rückzugewinnen: Über die lokalen Belange Apparate. Hier wären die munizipalistischen
beschließen die Kommunen. Wo über die Ansätze weiterzutreiben, Nachbarschaftsräte
jeweils kleinste Ebene hinaus andere Ebenen und partizipative Haushalte zu verknüpfen
oder Regionen mit betroffen sind, wird die und weiterzuentwickeln.
jeweils andere Region einbezogen oder die 4 // Wirtschaftsdemokratie: Es ist Zeit für
Entscheidung auf eine höhere Ebene verla- eine über die klassische Mitbestimmung
gert. Der Ausbau des Öffentlichen im Sinne hinausgehende Demokratisierung der Wirt-
einer vorsorgenden Wirtschaft muss mit schaft, für eine weitreichende Partizipation
einer radikalen Demokratisierung des Staates von Beschäftigten, Gewerkschaften, Verbänden
einhergehen. Weder der paternalistische und und Initiativen, Konsument*innen und
patriarchale fordistische Wohlfahrtsstaat noch anderen Stakeholdern an Entscheidungen in
der autoritäre Staatssozialismus waren beson- Betrieben (und zwar entlang der gesamten
ders emanzipativ, vom neoliberalen Umbau transnationalen Produktionsketten). Beschäf-
des öffentlichen Dienstes ganz zu schweigen. tigte sollten Mitbestimmungs- und Vetorechte
Ein linkes Staatsprojekt muss also die von den bei Personalbemessung und Betriebsverlage-
Demokratiebewegungen geforderte Erweite- rungen, stärkeren Einfluss bei Arbeitszeiten
rung der Teilhabe und Transparenz realisieren oder bei der Produktionsorganisation erhalten.
– und in sozialistischer Perspektive auf die Regionale Räte und Beschäftigte sollten über
Absorption des Staates in die Zivilgesellschaft Investitionen und die Richtung von Innovatio-
hinarbeiten, wie es bei Gramsci heißt. Es nen entscheiden. Schlüsselbetriebe müssen in
reicht nicht, die eigene Meinung äußern zu öffentliches oder genossenschaftliches Eigen-
dürfen. Partizipation heißt, Entscheidungen tum überführt werden. Die Aktivitäten von Un-
beeinflussen zu können. Wir brauchen ternehmen haben tief greifende Konsequenzen
Strukturen, die verhindern, dass progressive für die betreffenden Kommunen, Regionen
Veränderungen einfach mit einer veränderten und darüber hinaus – es handelt sich daher der
Mehrheit wieder rückgängig gemacht werden Sache nach nicht um private Angelegenheiten.
können. Nur wenn die Subalternen sich 5 // Unumkehrbarkeit? Die Eigentumsfrage:
den Staat aneignen, in die Zivilgesellschaft Um die Hindernisse bei der Entwicklung
holen, mit Leben füllen, werden sie ihn auch des Gesundheitswesens (Krankenhaus- und
verteidigen. Funktionierende demokratische Pflegekonzerne), bei der Sicherung privater
Routinen zu finden, ist wichtig. Und dennoch Daten und digitaler Infrastrukturen (Facebook
gilt es immer wieder, auch demokratische & Co), bei der Mobilitätswende (Automo-
Institutionen bei drohender Bürokratisierung bilkonzerne und die Bahn AG) oder beim
aufzubrechen, ihre Öffnung für die Massen Wohnungsbau (informelle Kartelle in der
durch immer wieder zu erneuernde Partizi- Bauwirtschaft) zu überwinden, sollten die

58     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


betreffenden Unternehmen vergesellschaftet zu gewährleisten, den Stromverbrauch zu
werden. Deren Überführung in öffentliches senken, smarte öffentliche Mobilitätssysteme
oder genossenschaftliches Eigentum ist eine zu entwickeln und gleichzeitig den Verkehr
wesentliche Voraussetzung, um Kräfteverhält- zu reduzieren, seltene Erden durch alternative
nisse dauerhaft verschieben zu können. Sie Rohstoffe zu ersetzen und ökologische An-
müssten von Räten gesteuert werden, die aus baumethoden zur Sicherung der Ernährungs-
Beschäftigten, Nutzer*innen, Betroffenen und souveränität angesichts globaler Erwärmung
Politik zusammengesetzt sind, denn eine wirk- zu fördern. Dies sind nur einige Beispiele für
liche Vergesellschaftung (nicht nur formelle progressive Innovationsfronten, die Investitio-
Verstaatlichung) wäre ein wirksamerer Schutz nen in öffentliche Grundlagenforschung und
gegen Reprivatisierungen. Die Absicherung angewandte Forschung erfordern.
öffentlicher sozialer Infrastruktur und ein 7 // Ein neuer Begriff von Reichtum: Eine
Privatisierungsverbot könnten außerdem in sozialökologische Transformation orientiert
der Verfassung festgeschrieben werden. auf reproduktive Bedürfnisse, mit dem Ziel
6 // Sozialisierung der Investitionsfunktion: einer »Reproduktionsökonomie«, die sich zu
Die Überakkumulation von Kapital produziert beschränken weiß und zugleich neuen Reich-
spekulative Blasen, gefolgt von Kapital- und tum schafft: soziale Innovationen, sinnvollere
Arbeitsplatzvernichtung, während immer Produktivkräfte, Zeitwohlstand, allseitige Ent-
größere Bereiche gesellschaftlicher Repro- wicklung, Raum für Zärtlichkeit, Solidarität,
duktion kaputtgespart werden. Wenn die Unterstützung und Ansporn statt Konkurrenz.
Unternehmen ihre Investitionsfunktion nicht Im Zentrum einer Transformation würden
wahrnehmen, dann muss diese weitaus stär- Reproduktions- oder Sorgearbeiten im weiten
ker zur öffentlichen, partizipativ organisierten Sinne stehen: Ausbau bedürfnisorientierter
Aufgabe werden. Infrastrukturen in der Gesundheitsversorgung,
Wo wollen wir investieren? Diese Frage in Pflege (auch menschlicher Beziehungen),
könnte auch in einer Kampagne gestellt Erziehung, Bildung und sozialen Diensten,
werden, um die Innovationsfunktion zu im Bereich Forschung, Ernährung und beim
sozialisieren und der Entwicklung der Produk- Schutz unserer natürlichen Umwelt. Diese
tivkräfte eine Richtung zu geben, die an den Bereiche dürfen nicht dem Markt preisgege-
Bedürfnissen der Einzelnen ansetzt und nicht ben werden. Sie können einen Beitrag zur
am Ziel der Profitmaximierung. Der private emanzipativen Gestaltung der Geschlechter-
Sektor ist unfähig, er kann komplizierten verhältnisse leisten. Mit der Überwindung der
Unsinn, vom digitalen Gadget bis zu Waffen, geschlechtlichen Arbeitsteilung wäre auch die
entwickeln, hat aber keine Lösung selbst für Trennung von Kopf- und Handarbeit aufzuhe-
einfache Probleme wie etwa neue Werkstoffe ben (vgl. Candeias 2011). Die neue »feminis-
für günstige und ökologische Wohnungen. Es tische Internationale« bildet gegenwärtig den
ginge darum, ökologische (Leichtbau-)Mate- radikalsten und sichtbarsten Gegenpol zum
rialien zu entwickeln, die Energieversorgung globalen Autoritarismus wie zum Neoliberalis-
zu 100 Prozent durch erneuerbare Energie mus. Diese Bewegung gilt es klassenpolitisch

60     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


weiterzutreiben, so wie es mit der Diskussion 9 // Weniger ist (manchmal) mehr: Globale
um den feministischen Streik und reproduk- Produktionsketten werden seit Langem
tive Gerechtigkeit begonnen hat (vgl. Gago in überdehnt und führen zur Verschwendung
diesem Heft und LuXemburg 2/2018). von Ressourcen. Die Orientierung auf repro-
8 // Ein neuer Begriff von Arbeit: Bei einer duktive Bedürfnisse geht einher mit einer
solchen sozialökologischen und feministi- Verkürzung der Transportwege in der Produk-
schen Offensive geht es auch um die Neude- tion und bei der Verteilung der Güter. Es geht
finition und Neuverteilung der gesellschaftlich nicht um einen »naiven Antiindustrialismus«
notwendigen Arbeit – durch Verkürzung der (Urban), sondern vielmehr um eine alternative
Erwerbsarbeitszeit, Ausdehnung kollektiver, Produktion, um regionale Produktions- und
öffentlich finanzierter Arbeit, orientiert an der Reproduktionskreisläufe. Es gilt, die Debatte
Reduktion von Stoff- und Energieverbrauch, um ein progressives Verhältnis von selekti-
am Beitrag zur menschlichen Entwicklung, ver »Deglobalisierung« und einer anderen,
am Reichtum allseitiger Beziehungen, nicht solidarischen Globalisierung weiterzutreiben.
an der Produktion von Mehrwert. Bestimmte politische Kompetenzen wären von
Notwendige gesellschaftliche Arbeit ist der internationalen oder europäischen Ebene
als gemeinschaftliche Selbstverpflichtung zu tatsächlich zurückzuholen, etwa die Organisa-
verstehen, als gemeinsame Bestimmung, was tion der Daseinsvorsorge. Anderes wiederum
geleistet werden soll, wie Zeit und Ressourcen wie die Gewährleistung (globaler) sozialer und
eingesetzt werden sollen. Dies schließt die ökologischer Rechte oder die Kontrolle der
individuelle Autonomie in der Arbeit mit ein Finanzmärkte wäre trans- oder international
ebenso wie die freiwillige assoziierte oder anzugehen. Es ginge um eine neue Verbin-
dissoziierte Arbeit nach Neigung: etwa ein dung von Dezentralität und transnationalen
individuelles »Ziehungsrecht« (Supiot für Vermittlungen.
autonome Zeiten, für eigensinnige Projekte Wird der Umbau konsequent betrieben, ist
und Erfindungen, Forschung, Kunst etc., die eine Vernichtung alter Branchen und Kapitale
Raum für kreative und innovative Entfaltung unvermeidlich. Bestimmte Bereiche müssen
schaffen, auch ohne notwendige Zustimmung schrumpfen (bspw. Teile der mit hohem Stoff-
durch ein Kollektiv. Ebenso sind individuelle umsatz verbundenen industriellen Produktion),
Ziehungsrechte im Sinne von Sabbaticals andere zunächst wachsen (bspw. die gesamte
denkbar, die nicht direkt an im engeren Sinne Care-Ökonomie), bei relativer Entkopplung von
gesellschaftlich notwendige Arbeit gebunden stofflichem Wachstum. Der Umbau weg vom
sind (etwa für Reisen, Muße, Exzess und Individualverkehr mit Verbrennungsmotor hin
Experiment). Die gemeinsame Definition und zu kollektiv genutzten öffentlichen Verkehrs-
Verteilung gesellschaftlicher Arbeit steht im mitteln auf der Basis regenerativer Energien
Vordergrund, ist jedoch mit der Möglichkeit erfordert zum Beispiel einen massiven Ausbau
temporärer individueller Exit-Optionen und von Infrastrukturen und Personalaufbau im
kollektiv garantierten autonomen Räumen Bereich des öffentlichen Verkehrs, während
verbunden. die traditionelle Pkw-Produktion schrump-

WAS TUN UND WO ANFANGEN?   LUXEMBURG 3/2019     61


fen muss. Eine »Reproduktionsökonomie« kann – das ist eine vordringliche Aufgabe
bedeutet, dass sich Bedürfnisse und Ökonomie auch der Gewerkschaften. So können Betrof-
qualitativ entwickeln, aber nicht mehr quantita- fene im Betrieb oder der Region selbst zu
tiv oder stofflich wachsen. Protagonist*innen der Veränderung werden.
10 // Gerechte Übergänge und universelle Die Mobilitätswende muss gegen Konzernin-
Jobgarantie: Positive Perspektiven für die teressen durchgesetzt werden, aber mit den
von der Klimakrise am stärksten Betroffenen Beschäftigten und ihren Familien: Auch sie
wie für die von steigenden Kosten (z. B. der haben ein Interesse an der »Vereinbarkeit«
Energiewende) und dem Umbau (z. B. dem von auskömmlichem Leben, Zeit für Familie
Strukturwandel durch industrielle Konversion) und Freunde und einer lebenswerten natürli-
bedrohten Beschäftigten, Gemeinden und Län- chen Umwelt.
der sind notwendig. Alle Maßnahmen müss- Nicht in jedem Fall werden Beschäftigte
ten daran gemessen werden, ob sie: 1. relevant in derselben Branche bleiben können. Damit
zur Senkung von CO2-Emissionen beitragen, eine sozialökologische Transformation nicht
2. zur Reduzierung von Armut und Vulnerabi- angstbesetzt ist oder gar von den Betroffenen
lität (Verletzlichkeit), 3. zur Reduzierung von bekämpft wird, bedarf es auch positiver
Einkommens- und anderen Ungleichheiten, 4. Perspektiven und Garantien. Alexandria
Beschäftigung und gute Arbeit befördern und Ocasio-Cortez und Bernie Sanders haben
5. demokratische Partizipation ermöglichen. daher in ihren Vorschlag für einen Green
Ein sozialökologischer Transformations- New Deal (vgl. Rehmann in diesem Heft)
konflikt wird sich beim Strukturwandel der eine Jobgarantie aufgenommen. Alle, die das
Automobilindustrie auftun: Der Umbruch in wollen, sollen das Recht auf eine öffentlich
der Branche verändert alles, verunsichert. Prä- finanzierte, tariflich gesicherte Arbeit mit
ventiv wären staatliche Kapitalhilfen an alter- »kurzer Vollzeit« (Becker/Riexinger 2017)
native Entwicklungswege und Eigentumsbe- haben. Eine solche Garantie würde die Arbeit
teiligungen bzw. die volle Vergesellschaftung besser verteilen und darüber hinaus die Macht
von Unternehmen zu knüpfen. Öffentliche des Kapitals brechen, die Bedingungen der
Beteiligung wäre mit erweiterter Partizipation Arbeit zu diktieren, und damit der Prekarisie-
von Beschäftigten, Gewerkschaften, Umwelt- rung ein Ende setzen.
verbänden und den Menschen der Region zu 11 // Partizipative Planung: Die Notwendigkeit,
verbinden, zum Beispiel über die Einrichtung strukturelle Veränderungen unter Zeitdruck
regionaler Räte, die über konkrete Schritte herbeizuführen, erfordert partizipative Pla-
einer Konversion eines Automobilkonzerns nungsprozesse und dezentrale demokratische
in einen ökologisch orientierten Dienstleister Räte (vgl. Williamson 2010; Gindin 2019). Re-
für öffentliche Mobilität entscheiden. Von gionale Räte waren in der Auseinandersetzung
Jobverlust bedrohte Automobilbeschäftigte um die Krise in der Automobilindustrie bereits
diskutieren, entwickeln und bestimmen dort in der Diskussion (vgl. Lötzer 2010). Unab-
mit, wie eine Konversion ihrer Industrien und dingbar rasche Veränderungsprozesse wurden
ein gerechter Übergang organisiert werden auch in der Vergangenheit mittels Planung

62     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


vollbracht (z. B. in den USA in den 1930er Der Bruch mit den alten neoliberalen und
und 1940er Jahren). Von der »Überlegenheit neuen autoritären Politiken wird angesichts
des sozialistischen Grundplans« sprach selbst der Vielfachkrise zur Notwendigkeit. Ein
Joseph Schumpeter (1942, 310ff), der glühende drohender Konjunktureinbruch würde diese
Anhänger der von ihm selbst so genannten Situation noch verschärfen. Der »Mittelweg«
»schöpferischen Zerstörung« im Kapitalismus. postideologischer Offenheit und linksliberaler
Bei der Problematik schneller Übergänge Kritik wird kraftlos. Auch diejenigen, die sich
verfügen sozialistische Positionen also über für den Erhalt liberaler, bürgerlicher Freihei-
ein starkes Argument – doch sollte es sich ten und minimaler Standards solidarischer
angesichts der Erfahrungen mit autoritär- Lebensweisen einsetzen, müssen gegen
zentralistischer Planung um partizipative Autoritarismus und Neoliberalismus Partei er-
Planung handeln. Regionale Experimente greifen, das heißt für einen radikaleren linken
können einen Einstieg ermöglichen. Demo- Kurs. Jetzt ist der Moment der Entscheidung,
kratisierung und Dezentralisierung vorhan- in einer Phase des Interregnums, in der noch
dener überregionaler Planungsprozesse etwa unterschiedliche Entwicklungen möglich
im Gesundheitssystem, bei Netzplanungen im sind. Ein sozialistisches Projekt ist notwendig
Energie- und Bahnbereich oder im Bildungs- angesichts der Gefahr der Barbarei. Es speist
wesen können weitere Ansatzpunkte sein. sich aus den Wünschen und Sehnsüchten
Abgebrochene Experimente kybernetisch ge- nach dem Zukünftigen, nach konkreter
stützter demokratischer Planung (wie in Chile Utopie. Dabei ist eine sozialistische Erzählung
unter Allende) sollten ausgewertet und auf wichtig, zugleich muss sie sehr konkret sein,
der Höhe der Zeit neu gedacht werden. Neue aus den sozialistischen Interventionen heraus
Produktivkräfte und digitale Möglichkeiten entwickelt werden. Das Adjektiv sozialistisch
sind hier zu nutzen, ohne sie zu überschätzen, verweist auf die Praxis und nicht auf eine
Kapazitäten für Planung und ihre Umsetzung fertige Blaupause.
in den Verwaltungen und Betrieben sind
aufzubauen und zu stärken. LITERATUR
Becker, Lia/Riexinger, Bernd, 2017: For the many, not the few.
Gute Arbeit für Alle! Vorschläge für ein Neues Normalar-
FÜR DIE FREIE ENTWICKLUNG EINER JEDEN beitsverhältnis, in: Sozialismus, Supplement zu Heft 9
Entscheidend ist, dass alle genannten Ele- Candeias, Mario, 2011: Herrschaftsförmige Arbeitsteilung
und feministisch-sozialistische Transformation, http://
mente auf die Erweiterung der gemeinsamen ifg.rosalux.de/files/2011/05/feministisch-sozialistische-
Handlungsfähigkeit ausgerichtet sind, die die Transformation1.pdf
Gindin, Sam, 2019: We need to say what Socialism will look
Einzelnen befähigt, Protagonist*innen ihrer like, in: Jacobin, März 2019
eigenen Geschichte zu werden. Das Ziel haben Lötzer, Ulla, 2010: Industriepolitische Offensive – Konversi-
on, Zukunftsfonds, Wirtschaftsdemokratie, in: LuXem-
Marx und Engels im »Manifest der Kom- burg 3/2010, 86–93
Luxemburg, Rosa, 1903: Karl Marx, in: GW, Band 1/2, Berlin,
munistischen Partei« bereits auf den Punkt
369−377
gebracht: eine Gesellschaft, »worin die freie Schumpeter, Joseph, 1942: Kapitalismus, Sozialismus und
Demokratie, Tübingen
Entwicklung eines jeden die Bedingung für die
Williamson, Thad, 2010: Democratic Social Planning and
freie Entwicklung aller ist« (MEW 4, 482). Worker Control, in: LuXemburg-Online, Oktober 2010

WAS TUN UND WO ANFANGEN?   LUXEMBURG 3/2019     63


Was, wenn wir tatsächlich
einen Green New Deal umsetzen?
Wie sähe die Zukunft dann aus?
Die US-amerikanische Journalismus-Plattform
The Intercept präsentierte zusammen mit Naomi
Klein Anfang 2019 einen Kurzfilm, in dem die
demokratische Hoffnungsträgerin Alexandria
Ocasio-Cortez aus der Zukunft zurückblickt auf
unsere Zeit, eine Zeit der Angst und der Dystopie,
und uns mit einem Gedankenexperiment Mut
macht. Was, wenn wir an dem Glauben festhalten,
dass wir gemeinsam die Krise bewältigen und
unsere Gesellschaften gerechter und solidarisch
machen können?
… Sie waren so inspiriert davon,
eine neue Klasse von Politiker*innen
auf den Korridoren der Macht zu sehen,
Menschen, in denen sie sich wieder- Ich denke, sie konnten es sich einfach noch nicht
erkennen konnten … vorstellen.
Aber gut, fangen wir von vorne an. Kehren wir
dahin zurück, wo alles begann. New York 1977: Ein
Der Hochgeschwindigkeitszug von New York nach prominenter Wissenschaftler namens James Black
Washington, D. C., erinnert mich immer an die hielt einen Vortrag darüber, wie die Verbrennung fos-
Zeit, als ich anfing, auf dieser Strecke zu pendeln. siler Brennstoffe mit der Zeit zu einer Erderwärmung
Im Jahr 2019 war ich ein Neuling im US-Kongress, um zwei bis drei Grad Celsius führen könnte. Dar-
der so divers war wie kein US-Kongress jemals aufhin wurde binnen zwei Jahren ein hochmodernes
zuvor. Eine äußerst kritische Zeit. Niemals werde Labor auf einem der weltgrößten Supertanker einge-
ich die Kinder in unserer Community vergessen. Sie richtet, um den CO2-Gehalt im Ozean zu messen und
waren so inspiriert davon, eine neue Klasse von Daten über die globale Erwärmung zu sammeln. Und
Politiker*innen auf den Korridoren der Macht zu ratet mal, wer diese Forschungen betrieb: Exxon-
sehen, Menschen, in denen sie sich wiedererkennen Mobil, der Erdöl- und Gaskonzern. Ja, Exxon wusste
konnten. Wie heißt es so schön: »Du kannst nicht die ganze Zeit darüber Bescheid – ebenso wie
sein, was du nicht siehst.« Nun sahen sie sich zum unsere Politiker*innen. Zehn Jahre später erklärte der
ersten Mal selbst. renommierte NASA-Wissenschaftler James Hansen
Ich denke, mit dem Green New Deal war dem US-Kongress, dass die globale Erwärmung mit
es ähnlich. Wir wussten, dass wir den Planeten 99-prozentiger Sicherheit tatsächlich stattfinde und
retten mussten. Und wir wussten auch, dass wir menschengemacht sei. Das war bereits im Jahr 1988,
die notwendigen Technologien dazu haben. Doch ein Jahr bevor ich geboren wurde.
viele Leute hatten Angst. Ihnen war das »zu groß«, Hörte Exxon auf die Wissenschaft, nahm sie
ging das »zu schnell« oder war »nicht machbar«. ihre eigene Forschung ernst? Veränderten sie ihre
Sie wussten Bescheid und machten
umso entschlossener weiter … förderten und bohrten unbeirrt weiter, als gäbe
es kein Morgen. Die Vereinigten Staaten stiegen
Geschäftsmodelle? Investierten sie in erneuerbare zum größten Ölproduzenten und -verbraucher der
Energien? Nein. Im Gegenteil. Sie wussten Bescheid Welt auf. Die fossilen Energiekonzerne verdienten
und machten umso entschlossener weiter. Gemein- Hunderte Milliarden US-Dollar, während die Allge-
sam mit anderen steckten sie Millionen US-Dollar in meinheit für den Großteil der von ihnen verursachten
ein Netzwerk aus Lobbygruppen und Thinktanks, die Umweltschäden bezahlen musste. Wir verloren die
den Klimawandel anzweifeln und leugnen sollten. Zeitspanne einer ganzen Generation. Zahlreiche
Sie griffen die Forschungsergebnisse an, die sie Tierarten starben, Naturwunder gingen für immer
zuvor selbst angestrengt hatten. Ihre Bemühungen verloren.
zeigten Wirkung: Politiker*innen machten sich für
fossile Brennstoffe stark und die Konzerne schürften, Zwölf Jahre, um alles zu verändern …

66     LUXEMBURG 3/2019   SOZIALISMUS
Wir brauchten mehr Arbeitskräfte …
Untergang geweiht. Doch einige von uns erin-
nerten sich daran, dass wir als Nation auch in der
Im Jahr 2017 zerstörte der Hurrikan Maria den Vergangenheit Schweres bewältigt hatten – in der
Ort, aus dem meine Familie stammt: Puerto Rico. Großen Depression oder im Zweiten Weltkrieg. Die
Er schlug wie eine Klimabombe ein. Der Hurrikan Geschichte hatte uns gelehrt, wie man zusammen-
forderte so viele US-amerikanische Menschenleben hält, um auch angesichts scheinbar auswegloser
wie der 11. September 2001. Im Jahr 2018 – in dem Situationen weiterzumachen. Wir waren es unseren
ich in den Kongress gewählt wurde – schlugen füh- Kindern schuldig, es zumindest zu versuchen.
rende Wissenschaftler*innen erneut weltweit Alarm. Der Umschwung begann, nachdem die Demo­
Sie sagten, dass wir noch zwölf Jahre Zeit hätten, krat*innen 2018 zunächst den US-Kongress und
um unsere Emissionen zu halbieren. Andernfalls 2020 schließlich den Senat und das Weiße Haus
drohe die Gefahr, dass Hunderte Millionen Men- zurückeroberten. Der Verabschiedung des Green
schen von Nahrungs- und Wassermangel, Armut New Deal folgte eine Vielzahl von Gesetzen für eine
und Tod betroffen wären. Zwölf Jahre, um alles zu soziale und ökologische Transformation, zur Rettung
verändern: Wie wir uns fortbewegten, wie wir uns des Planeten. Es war genau das ehrgeizige Projekt,
ernährten, wie wir produzierten, wie wir lebten und das wir brauchten. Endlich hatten wir Lösungen
arbeiteten, einfach alles. gefunden, die dem Ausmaß der Krisen, vor denen
Der einzige Weg, die Emissionen zu reduzieren, wir standen, etwas entgegensetzen konnten. Und
lag in der grundlegenden Umgestaltung unserer das, ohne irgendjemanden zurückzulassen.
Wirtschaft. Wir wussten bereits, dass sie nicht mehr Wir entwickelten das Medicare-for-all-
funktionierte: Der Großteil des Reichtums kam einer Programm: eine umfassende Krankenversicherung
kleinen Handvoll von Leuten zugute, während die für alle und das beliebteste Sozialprogramm in der
Mehrheit immer weiter abgehängt wurde. US-Geschichte. Außerdem wurde die Federal Job
Es war ein bedeutender Wendepunkt. Viele Guarantee eingeführt, eine staatliche Garantie für
Menschen resignierten. Sie sagten, wir seien dem Beschäftigung mit anständigen Löhnen. Tatsächlich

SOZIALISMUS   LUXEMBURG 3/2019     67
Uns wurde endlich klar, dass das Sorgen
für andere eine wertvolle und auch rierte Feuchtgebiete und Bayous in den Küstenge-
ökologisch nachhaltige Arbeit ist. bieten Louisianas. Die meisten ihrer Freund*innen
waren mit ihr in der Gewerkschaft, gemeinsam mit
war das größte Problem damals der Arbeitskräfte- umgeschulten Ölarbeiter*innen, die alte Pipelines
mangel. Wir bauten ein landesweites intelligentes abbauten, Mangroven pflanzten und dafür dieselben
Stromnetz auf, rüsteten alle Gebäude um und bauten Gehälter und Sozialleistungen wie zuvor bekamen.
den Schienenverkehr im ganzen Land aus. Wir Bei der Frage, wie mit den Umweltschäden umzuge-
brauchten mehr Arbeitskräfte. hen war, hatten wir natürlich riesige Wissenslücken.
Und die Gruppe von Kids aus meiner Nach-
barschaft war mittendrin, besonders dieses eine Wir brauchten keine Angst mehr vor
Mädchen, Ileana. Nach dem Studienabschluss der Zukunft und keine Angst voreinander
arbeitete sie bei AmeriCorps Climate und renatu- zu haben.
Wir können all das sein, wenn wir den
Mut haben, es uns vorzustellen. liche Versorgung und erfüllende Arbeit als universelle
Rechte ernst nahmen, hörte die Angst auf: Wir
Zum Glück halfen uns die Communities der Indige- brauchten keine Angst mehr vor der Zukunft und
nen. Sie brachten das Wissen vieler Generationen ein, keine Angst voreinander zu haben. Wir fanden eine
um diese Arbeit voranzubringen. Ileana war rastlos, gemeinsame Aufgabe.
versuchte sich eine Zeitlang als Ingenieurin für Solar- Auch Ileana nahm die Zeichen der Zeit wahr.
anlagen und fand schließlich ihre Berufung im Erzie- Im Jahr 2028 kandidierte sie in der ersten komplett
hungsbereich: In der Universal Child Care Initiative öffentlich finanzierten Wahlkampfrunde. Heute trägt
kümmerte sie sich um die nächste Generation. Uns sie das Mandat, das ich einst innehatte. Ich könnte
wurde endlich klar, dass das Sorgen für andere eine kaum stolzer auf sie sein – sie ist ein wahres Kind
wertvolle und auch ökologisch nachhaltige Arbeit ist. des Green New Deal.
Wir fingen an, Lehrer*innen, Hausangestellten und 2019, als ich während meiner ersten Amtszeit
häuslichen Pflegekräften vernünftige Löhne zu zahlen. als Abgeordnete mit der alten Amtrak-Bahn nach
Es waren Jahre unglaublicher Veränderung. Washington, D. C., fuhr, lag das alles noch vor
Natürlich war nicht alles gut. Als Hurrikan Sheldon uns. Doch der erste große Schritt war es gewesen,
das südliche Florida verwüstete, wurden Teile Miamis einmal die Augen zu schließen und sich vorzustellen,
für immer unter Wasser gesetzt. Doch während was möglich wäre. Wir können all das sein, wenn wir
wir gegen die Fluten, Brände und Dürren kämpften, den Mut haben, es uns vorzustellen.
wussten wir, dass wir gerade noch rechtzeitig begon-
nen hatten zu handeln. Wir waren vorbereitet. Aus dem Englischen von Jan-Peter Herrmann,
Und wir hatten nicht nur die Infrastruktur um- mit freundlicher Genehmigung von
gebaut. Wir änderten auch unser Verhalten. Wir © The Intercept, der preisgekrönten gemein-
wurden zu einer Gesellschaft, die nicht nur modern nützigen Nachrichtenorganisation für kritischen
und wohlhabend, sondern auch menschenwürdig Journalismus in den USA.
und sozial war. Seitdem wir eine gute gesundheit­ Illustration: © Molly Crabapple/The Intercept
EIN PLAN FÜR ALLE (FÄLLE)
DER GREEN NEW DEAL
ALS SOZIAL-ÖKOLOGISCHES
HEGEMONIEPROJEKT
JAN REHMANN

70     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


In den USA wird der Green New Deal als eine
politische Revolution diskutiert – zu Recht.
Das Konzept von Sanders und Ocasio-Cortez
macht konkrete Vorschläge für eine Politik, die
die Kluft zwischen sozialer und ökologischer
Frage überwinden will.

Der Begriff Green New Deal (GND) hat eine


vielfältige und in sich widersprüchliche Ge- JAN REHMANN unterrichtet Philosophie und
schichte. In Deutschland wurde er gegen Ende Gesellschaftstheorien am Union Theological
Seminary in New York und an der Freien Uni-
der 1980er Jahre vor allem vom ökosozialisti-
versität Berlin. Er ist Redakteur des Historisch-
schen Flügel der Grünen propagiert, fand aber Kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM)
auch Unterstützung beim sozialökologischen und publizierte u. a. zu Religion, Hegemonie-
Flügel der SPD (u. a. bei Oskar Lafontaine) und Ideologietheorien, Neo-Nietzscheanismus,
und bei der PDS. Durch die Verkopplung von Max Weber und Ernst Bloch.
Ökologie und Umverteilungspolitik sollte
»die Basis für ein längerfristig angelegtes
strategisches Bündnis zwischen progressiven kapitalistische Inbesitznahme des GND abzu-
Sozialdemokraten, Sozialisten und Grünen grenzen, schlug Mario Candeias (2012) vor,
gelegt werden« (Brüggen 2001, 1063). Aber die linke Umweltpolitik auf den Begriff eines
Mitte der 1990er Jahre war das Projekt unter »grünen Sozialismus« zu gründen, der auf
dem Druck der neoliberalen Hegemonie eine Vergesellschaftung des Energiesektors,
»erodiert« (ebd., 1065). Die Grünen drängten eine Rekommunalisierung zentraler Infra-
ihren linken Flügel zurück, behielten aber den strukturen und die Einführung partizipativer
Begriff bei und verwendeten ihn im Sinne Haushalte auf allen Ebenen orientiert. Diese
eines »grünen Kapitalismus«. Von daher ist es Orientierung deckt sich wiederum weitgehend
nicht verwunderlich, dass der GND als Mittel mit dem, was gegenwärtig in den USA als
des Kapitals kritisiert wurde, als Versuch, die GND diskutiert wird.
ökologische Krise als neuen Wachstumsmotor Schon diese lückenhafte Zusammenstel-
zu internalisieren und eine neue grün-kapi- lung zeigt, dass der GND in unterschiedlichen
talistische Akkumulationsperiode loszutreten hegemonialen Konstellationen Verschiedenes
(Kaufmann/Müller 2009). Um sich gegen die bedeuten kann. Im Unterschied zum deut-

EIN PLAN FÜR ALLE (FÄLLE)   LUXEMBURG 3/2019     71


schen Kontext ist es in den USA für jedes Revolution«, die dem GND die radikale Spitze
ausgreifende linke Projekt unverzichtbar, sich abzubrechen und ihn wieder in die grüne
auf die sozialpolitisch erfolgreichste Periode Komponente eines neoliberalen Weiter-so zu
des New Deal unter Roosevelt zu beziehen, verwandeln versucht.
dessen Errungenschaften noch im kollektiven Die folgenden Überlegungen behandeln
Gedächtnis präsent sind. Auch hier war die den GND im Spannungsfeld dieser hegemo­
Begriffsgeschichte des GND widersprüchlich. nialen Kämpfe.
Aber grundlegend für seine gegenwärtige
Bedeutung ist ein Aufschwung sozialer DER WIDERSPRUCH ZWISCHEN
Bewegungen, der nach der Wirtschaftskrise KLIMAWISSENSCHAFT UND POLITIK
2007/08 einsetzte und sich in verschiedenen Der von verschiedensten Seiten vorgebrachte
Ereignissen manifestierte: von Occupy Wall Vorwurf, die GND-Resolution sei zu »radikal«,
Street über den überraschenden Wahlerfolg wird von einem nahezu allgegenwärtigen
von Bernie Sanders 2016 bis hin zu den Medienmechanismus des tactical framing
jüngsten Wahlen der linken Abgeordneten abgestützt, bei dem jedes Thema in eine
Ocasio-Cortez, Omar, Pressley und Tlaib. Der Kalkulation unmittelbarer Machbarkeit im
Durchbruch in die Öffentlichkeit gelang, als gegebenen Rahmen aufgelöst wird. »Radikal«
die Bewegung Sunrise Movement 2018 eine ist vor diesem Hintergrund bereits, von den
Protestveranstaltung vor dem Büro von Nancy Ergebnissen des Weltklimarats (IPCC Report)
Pelosi organisierte, um sie zur Unterstützung auszugehen und seine Forderungen nach
eines GND aufzufordern, und Alexandria einer Halbierung der Treibhausgase bis 2030
Ocasio-Cortez sich publikumswirksam mit und nach ihrer völligen Einstellung bis 2050
der Aktion solidarisierte (vgl. Häußermann in als verbindliche Mindestziele zugrunde zu
diesem Heft). Die von ihr und Senator Edward legen. Bernie Sanders’ GND-Plan hat die
Markey im Februar 2019 eingebrachte GND- erste Forderung im Sinne einer vollständigen
Resolution fand in Umfragen so viel Unter- Entkarbonisierung der Energiewirtschaft und
stützung, dass nahezu alle demokratischen des Verkehrswesens bis 2030 weiterentwickelt,
Präsidentschaftskandidat*innen den GND in was eine Reduktion der CO2-Emissionen in
ihre Wahlkampfreden einbauten. Im August den USA um 71 Prozent bedeuten würde.
2019 wurde die Resolution durch einen um- Die offensichtliche Kluft zwischen
fassenderen Plan von Bernie Sanders erweitert Klimawissenschaft und neoliberaler Politik ist
und konkretisiert. selbst Symptom einer Hegemoniekrise. Unter
Gegen dieses Projekt einer potenziell diesen Bedingungen repolitisiert sich die
mehrheitsfähigen ökosozialen Politik mo- für unpolitisch gehaltene Wissenschaft. Ihr
bilisieren alle Fraktionen des herrschenden Diskurs wird selbst radikal, sobald er die abge-
Machtblocks: die Rechte mit Trump an der schlossenen Zirkel der Forschung überschrei-
Spitze mit antisozialistischen Feindbildern tet und beansprucht, in Politik und Wirtschaft
und offen rassistischer Denunziation, die gehört zu werden. Wenn Fridays for Future
Führung der Demokraten mit einer »passiven die Politik auffordert, der Wissenschaft zu

72     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


folgen, ist dies nicht naiv wissenschaftsgläu- gegen die etablierten Umweltorganisationen
big, sondern greift wirksam in den Gegensatz herausgebildet haben. Andererseits ist die
zwischen Klimaforschung und herrschender Kluft real, da die Bewegungen sozialgeschicht-
Politik ein. Das Charisma von Greta Thunberg lich verschiedene Ursprünge und Entwick-
speist sich unter anderem daraus, dass sie ein lungspfade aufweisen. Während die Umwelt-
direktes Bündnis zwischen Klimaforschung bewegung sich im globalen Norden vorrangig
und heranwachsender Generation proklamiert im bürgerlichen Milieu herausgebildet hat,
und den Gegensatz zur Komplizität oder vollzog sich die korporatistische Einbindung
Untätigkeit der herrschenden Politik zuspitzt. der Arbeiter*innen auf der Grundlage einer
Aufgabe von Sozialist*innen ist es hier, diesen Produktivkraftentwicklung (Kohle und Öl
Antagonismus bewusst zu machen und mit als Energieträger, Auto als Massenprodukt,
einer Kritik der kapitalistischen Produktions- Automobilisierung der Gesellschaft, Exter-
und Lebensweise zu verbinden. nalisierung der Folgen), die im Widerspruch
zur Ökologie stand (vgl. Röttger/Wissen 2017,
ACHILLESFERSE: DIE KLUFT ZWISCHEN 62ff). Die Angst, im Zuge einer von oben
SOZIALER UND ÖKOLOGISCHER FRAGE verordneten Energiewende den Arbeitsplatz
Eine der bislang erfolgreichsten Gegenstrate- zu verlieren oder weitere Reallohneinbußen
gien besteht darin, ökologische Forderungen hinnehmen zu müssen, ist daher realistisch
gegen das Interesse der Arbeiter*innen an und wird durch die erfahrene Einbettung von
sicheren Arbeitsplätzen auszuspielen. In Umweltmaßnahmen in neoliberale Sparpolitik
dem Maße, in dem dies gelingt, erscheint die immer wieder bestätigt. Sie lagert sich an die
Ökologiebewegung als weiße Mittelstandsbe- grundlegende Befürchtung an, aufgrund der
wegung, die es sich leisten kann, gehobene technologischen Revolution des Hightech-
Konsumentscheidungen zu treffen. Der Kluft Kapitalismus »überflüssig« zu werden, in
zwischen Neoliberalismus und Klimawissen- Prekarität oder Arbeitslosigkeit abzurutschen –
schaft, die eine Chance für eine Gegenhege- eine Herausforderung, auf die auch die
monie eröffnen könnte, steht auf der Gegen- Linke noch keine überzeugenden Antworten
seite nach wie vor die Kluft zwischen sozialer gefunden hat.
und ökologischer Frage gegenüber, die einen Dass der Vorsitzende der American
neuen hegemonialen Block sozialökologischer Federation of Labor and Congress of Industri-
Transformation zu vereiteln droht. al Organizations (AFL-CIO), Richard Trumka,
Die Kluft ist einerseits irreal: Es ist statis- und einige Einzelgewerkschaften in den USA
tisch nachgewiesen, dass die ökologische Krise sich gegen den GND aussprechen, während
die ärmeren Gebiete und Klassen weitaus andere den GND unterstützen, zeigt, wie sehr
stärker trifft als die Ober- und gehobenen die Gewerkschaftsbewegung in dieser Frage
Mittelschichten, deren Konsumverhalten gespalten ist. Die dringliche Aufgabe einer
zudem wesentlich stärker zu ihr beiträgt. Der ökologischen Umsteuerung übersetzt sich
Zusammenhang wird seit Langem von »Eco- daher unmittelbar in die nicht weniger dringli-
Justice-Initiativen« aufgezeigt, die sich auch che hegemoniepolitische Aufgabe, die Kluft

EIN PLAN FÜR ALLE (FÄLLE)   LUXEMBURG 3/2019     73


zwischen sozialer und ökologischer Frage Übergang« zu erneuerbaren Energien eröffnet
zu überwinden. Dies ist das entscheidende zumindest die Möglichkeit, in das Span-
Kriterium zur Beurteilung sowohl wirtschafts- nungsverhältnis von Ökologie und popularem
und sozialpolitischer als auch ökologischer Alltagsverstand einzugreifen. Dies wurde
Initiativen und Projekte. zum Beispiel deutlich, als der republikanische
Abgeordnete Andy Barr während einer Kon-
GREEN JOBS UND FEDERAL JOB gressdebatte im April 2019 die »Arbeiterfeind-
GUARANTEE lichkeit« des GND dadurch zu demonstrieren
Was den GND auszeichnet, ist die Verschrän- versuchte, dass er Alexandria Ocasio-Cortez
kung von Umweltpolitik mit der Schaffung einlud, mit ihm nach Kentucky zu fahren, um
von green jobs. Der Sanders-GND spricht von dort ihre Resolution mit Kohlearbeitern zu
20 Millionen regulären Arbeitsplätzen mit ge- diskutieren. Als sie die Einladung annahm,
werkschaftlicher Organisierung, die durch ein zog er sie zurück.

Es ist statistisch nachgewiesen, DER GND ALS INTERSEKTIONALES PROJEKT


Was dem GND allenthalben vorgeworfen wird,
dass die ökologische Krise die nämlich die ökologische Frage mit anderen
ärmeren Gebiete und Klassen sozialen Problemen von der Lohnentwicklung
über die Geschlechterungleichheit bis zur
weitaus stärker trifft als Ober- und Krankenversicherung zu vermischen, ist
gehobene Mittelschichten. in Wirklichkeit seine Stärke. So behandelt
die GND-Resolution die ökologische Krise
massives öffentliches Investitionsprogramm im Zusammenhang einer Polarisierung der
von 16,3 Billionen US-Dollar bereitgestellt wer- Einkommens- und Vermögensverteilung, die
den sollen. Vorrang bei der Einstellung hätten mehrfach bestimmt wird: klassenmäßig im
die Arbeiter*innen aus den Industrien, die auf weitesten Sinne (zwischen dem einen und
fossilen Energieträgern basieren. Um ihnen den verbleibenden 99 Prozent), überdeter-
eine Umschulung zu ermöglichen, soll allen miniert durch die Ungleichheiten entlang
das volle Gehalt für fünf Jahre weiterbezahlt der Gegensätze von race und Geschlecht.
werden. Diese und andere Maßnahmen setzen So verdienen Frauen im Durchschnitt nur
eine federal job guarantee voraus, das heißt, etwa 80 Prozent des Gehalts von Männern.
die Bundesregierung soll dazu verpflichtet Die ökologische Zerstörung verschärft die
werden, allen Arbeitssuchenden eine Stelle »systemischen Ungerechtigkeiten«, indem sie
anzubieten. Anknüpfungspunkt ist Franklin vor allem die entindustrialisierten Gebiete, die
D. Roosevelt, der 1944 als Präsident versprach, ärmeren Schichten und hierbei insbesondere
das Recht auf Arbeit in einer »Second Bill of die Afroamerikaner*innen, Immigrant*innen
Rights« zu verankern. und indigenen Gemeinschaften trifft.
Der Schwerpunkt auf die Schaffung An dieser Stelle distanziert sich der GND
von Arbeitsplätzen und einen »gerechten ausdrücklich von Roosevelts New Deal, der

74     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


sich darauf konzentriert hatte, die durch rung sich auf vielfältige Weise mit Rassismus,
die Weltwirtschaftskrise verelendete weiße patriarchalen Geschlechterverhältnissen,
Arbeiterschaft sozialpolitisch zu integrieren, Homophobie und weiteren sozialen Spaltun-
während die Schwarzen Arbeiter*innen von gen überschneiden, sodass jede vermeintlich
vielen Programmen ausgeschlossen blieben. homogene »Identität« in Wirklichkeit von
Dagegen soll der neue GND die am meisten vielfachen Gegensätzen durchkreuzt wird.
»verwundbaren Gemeinschaften« besonders Damit soziale Bewegungen und Projekte
fördern und ihnen bei der lokalen Imple- ihre »eigenen« Belange durchsetzen können,
mentierung und Gestaltung des GND eine müssen sie diese mit denen anderer Bewe-
führende Rolle zukommen lassen. Dies gilt gungen verbinden. Ziel ist eine Kohärenz bei
insbesondere für die indigenen Gemeinschaf-
ten, deren Souveränitäts- und Landrechte zu
Was den GND auszeichnet,
respektieren sind.
Der GND-Anspruch eines »gerechten ist die Verschränkung von
Übergangs« durchzieht alle Bereiche. Einige
Umweltpolitik mit der Schaffung
Beispiele mögen genügen. Die Klimakrise
ist bekanntlich bereits gegenwärtig, die von von ›green jobs‹.
ihr verursachten Hitzewellen, Stürme und
Brände haben jetzt schon schwerwiegende Beibehaltung der Unterschiede. Hier hat auch
Auswirkungen auf die Gesundheit der die Wahlkampagne von Bernie Sanders aus
Bevölkerung. Eine der notwendigen »Anpas- den strategischen Schwächen 2016 gelernt
sungen« an diese Realität wäre der Ausbau und wichtige Schritte unternommen, um
eines öffentlichen Gesundheitswesens mit ihren klassenpolitischen Ansatz deutlicher mit
allgemeiner Krankenversicherung (Medicare Antirassismus und einem »Feminismus für
for all), um die Erkrankungen aller sozialer die 99 Prozent« zu verbinden.
Schichten behandeln und prophylaktische
Strategien für alle entwickeln zu können. Die DON’T TAX MOLECULES, TAX THE RICH!
zumeist von Frauen geleistete Reproduktions- Die GND-Pläne sehen vor, die erforderlichen
und Sorgearbeit erzeugt verhältnismäßig Investitionen vor allem über eine stärkere
wenig Treib­hausgase. Diese Arbeiten wären Besteuerung der Großunternehmen zu
in einem GND als green jobs zu definieren, finanzieren und hierbei den Industriekomplex
was wiederum bedeuten würde, sie entspre- der fossilen Energieträger zur Kasse zu bitten.
chend gut zu bezahlen und abzusichern (vgl. Weitere Finanzierungsquellen sind unter
Klein 2019). anderem Finanztransaktionssteuern, die Strei-
Der GND formuliert in politischer chung unökologischer Subventionen und die
Programmsprache, was häufig als »Intersek- Kürzung der Militärausgaben. Ausgeschlossen
tionalität« diskutiert wird. Gemeint ist, dass ist damit die auch in Deutschland viel disku-
im System der Herrschaft die Verhältnisse der tierte Idee, die Energiewende vornehmlich
Ausbeutung, Prekarisierung und Marginalisie- über Verbrauchssteuern zu finanzieren, die

EIN PLAN FÜR ALLE (FÄLLE)   LUXEMBURG 3/2019     75


»regressiv« vor allem die Mittelschichten Kritiker*innen nach einer »marktkonformen«
und Geringverdiener belasten. Am Beispiel Energiewende laufen darauf hinaus, den
Frankreichs konnte man beobachten, wie die Großunternehmen, denen die verheerenden
Einführung von Diesel- und Benzinsteuern Folgen ihrer Energieproduktion lange bekannt
nach erfolgter Rücknahme der Vermögens- waren und die Milliarden in die Lobbyarbeit
steuer (ISF) eine massive Gegenbewegung in zur Klimawandel-Verleugnung steckten,
Form der Gelbwesten erzeugte und somit den jetzt auch noch eine Vorrangstellung bei der
Widerspruch zwischen Ökologie und popula- Erzeugung und Vermarktung der erneuer-
rem Alltagsverstand weiter verschärfte. baren Energien einzuräumen. Es ist schwer
Vor allem gegen Bernie Sanders’ GND vorstellbar, wie dieser überaus mächtige und
wurde eine massive Pressekampagne entfacht, weiterhin expandierende Industriekomplex
weil dort nach »venezolanischem Vorbild« ohne die Schaffung eines öffentlich kontrol-
eine Verstaatlichung des Energiesektors lierten Sektors erneuerbarer Energien unter
vorgesehen sei. Zusammen mit seinen Druck gesetzt werden könnte.
Plänen zu Medicare for all, womit die privaten
Krankenversicherungen durch eine öffentliche KEINE LÖSUNG, ABER EIN EINSTIEGSPROJEKT
Bürgerversicherung ersetzt werden sollen, Auch im progressiven Lager schwankt die
trage der GND dazu bei, einen Großteil der Kritik zwischen verschiedenen Vorwürfen:
US-Wirtschaft unter staatliche Kontrolle Einerseits sei der GND unter den gegebenen
zu bringen, heißt es in der konservativen Machtverhältnissen und aufgrund der Abhän-
Presse. Auch die anderen demokratischen gigkeit vom Öl unrealistisch. Eine Umstellung
Präsidentschaftskandidat*innen, einschließ- auf erneuerbare Energien würde Billionen an
lich Elizabeth Warren, gehen in der Frage Investitionen in den Sand setzen, den Staat
der Nationalisierung auf Distanz zu Sanders. riesige Steuereinnahmen kosten und eine
Tatsächlich sieht Sanders’ GND vor, die globale Finanzkrise auslösen. Andererseits
Erzeugung der erneuerbaren Energien unter sei der GND-Ansatz nicht radikal genug,
die Aufsicht der US-Bundesbehörde Power denn er lasse das kapitalistische Akkumula-
Marketing Administration (PMA) des US- tionssystem und damit die verhängnisvolle
Energieministeriums zu stellen, um damit Orientierung auf »Wachstum« unangetastet.
die Bevölkerung mit preiswerter Energie Eine Umstellung auf erneuerbare Energien
versorgen zu können. Außerdem ist geplant, hätte bei gleichzeitiger Beibehaltung der
die Ausweitung des öffentlichen Sektors mit transnationalen Produktionsketten den Effekt,
einem Ausbau der Mitbestimmungs- und vor allem in Bezug auf Lithium und andere
Beteiligungsrechte der Arbeiter*innen und schwer zugängliche Mineralien den Rohstoff-
einer Förderung demokratisch organisierter Extraktivismus in den Ländern des globalen
Kooperativen auf kommunaler Ebene zu Südens zu intensivieren.
verbinden. Die Kritiken scheinen einander entge-
Damit ist die Machtfrage im Energie- gengesetzt, verweisen aber übereinstimmend
sektor konkret gestellt. Die Forderungen der auf die Wirkungsmacht der kapitalistischen

76     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Produktionsweise und auf die Hierarchien geforderten kurzen Zeitspanne durchgesetzt
des von ihr beherrschten Weltmarkts. Um werden kann, weiß niemand. Immer wieder
die politische Ökonomie des transnationa- gelingt es den Fraktionen des herrschenden
len Hightech-Kapitalismus zu begreifen, Machtblocks, das Thema durch politische
ist nach wie vor der »Kältestrom« (Bloch) Ablenkungsmanöver und mediale Zerstreu-
marxistischer Kritik vonnöten. Wie unter ung aus der Öffentlichkeit zu verdrängen.
diesen Bedingungen eine ökosozialistische Die ökologischen Bewegungen leben in dem
Produktionsweise im globalen Maßstab oder Widerspruch, für ihre Aufklärung und die
auch »nur« ein transnationaler GND aus- Entwicklung politischer Handlungsfähigkeit
sehen und durchgesetzt werden kann, liegt Zeit zu benötigen, die uns womöglich nicht
noch weitgehend im Dunkeln. Aber anstatt gegeben ist.
die ewige Übermacht des Kapitalismus zu Das enthebt uns nicht der Aufgabe, uns
beschwören, sollte die Kritik auch seine auf die Überwindung der Kluft zwischen
Widersprüche, konkurrierende Kapitalfrak- sozialökonomischer und ökologischer Frage
tionen, partielle Öffnungen und mögliche zu konzentrieren und damit die Vorausset-
Übergänge mit einbeziehen. Da die Produk- zung für einen hegemonialen Block von
tions- und Reproduktionsverhältnisse selbst gesellschaftlicher Arbeit und Naturerhaltung
geronnene Praxisbeziehungen sind, müssen zu schaffen. Der GND scheint mir hierzu
auch die beteiligten Subjekte, ihre jeweilige unter den hegemonialen Bedingungen der
Einbindung, ihr Widerstand, ihre Bündnis- USA der geeignete Einstieg zu sein. Er bietet
und Hegemoniepotenziale berücksichtigt keine fertige Lösung, hat aber das Potenzial,
werden. Dafür bedarf es wiederum geeigneter ein neues Terrain für Politik zu eröffnen.
Einstiegsprojekte, die zu weiteren Transfor-
mationen ausgebaut werden können.
LITERATUR
Eine als Realismus verkleidete Resignation Brüggen, Willi, 2001: Grüner New Deal, in: Historisch-
kann nur dazu beitragen, die am wenigsten Kritisches Wörterbuch des Marxismus (HKWM), Bd. 5,
Hamburg, 1062−1070
transformatorische Entwicklung zu erreichen. Candeias, Mario, 2012: Was ist sozialistisch am Grünen Sozi-
Wiederum ist die unterstellte Alternative einer alismus?, in: LuXemburg 3/2012, www.zeitschrift-luxem-
burg.de/was-ist-sozialistisch-am-grunen-sozialismus/
sozialistischen Weltrevolution ohne hegemo- Kaufmann, Stephan/Müller, Tadzio, 2009: Wider den
niefähige Einstiegsprojekte eine Fiktion. Wie Wachstumswahn. Für Klimagerechtigkeit, in: LuXem-
burg 1/2009, www.zeitschrift-luxemburg.de/debatte-
Thea Riofrancos (2019) gezeigt hat, läuft das green-new-deal-teil-ii-wider-den-wachstumswahn-fur-kli-
Warten auf eine immer wieder verschobene magerechtigkeit/
Klein, Naomi, 2019: The Battle Lines have been Drawn
revolutionäre Situation auf eine Stilllegung on the Green New Deal, in: The Intercept, 13.2.2019,
politischen Engagements hinaus und erzeugt https://theintercept.com/2019/02/13/green-new-deal-
proposal/
Fatalismus. Es ist daher wichtig, passivierende Riofrancos, Thea, 2019: Plan, Mood, Battlefield – Reflec-
Interpretationen durch eingreifendes Denken tions on the Green New Deal, in: Viewpoint Magazine,
16.5.2019, www.viewpointmag.com/2019/05/16/plan-
zu überwinden. Das heißt nicht, optimistische mood-battlefield-reflections-on-the-green-new-deal/
Röttger, Bernd/Wissen, Markus, 2017: Ökologische Klas-
Erwartungen zu beschwören: Ob ein substan-
senpolitik, in: LuXemburg Spezial, Neue Klassenpolitik,
zieller GND in der von der Klimawissenschaft August 2017, 62−71

EIN PLAN FÜR ALLE (FÄLLE)   LUXEMBURG 3/2019     77


STRATEGISCHE ALLIANZEN
WAS SICH VON DER BEWEGUNG FÜR
EINEN GREEN-NEW-DEAL IN DEN USA
LERNEN LÄSST
DOROTHEE HÄUSSERMANN

Das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung CO2-Reduktionen und »Klimaneutralität«


enttäuscht selbst jene, die nichts davon er- fordern, bleiben sie angreifbar und lassen zu,
wartet hatten. Statt dem »großen Wurf« ist es dass Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit
ein unkoordiniertes Bündel an Reförmchen. gegeneinander ausgespielt werden.
In der Klimabewegung herrscht Frust und Wie das gehen kann, zeigt der Blick über
das Gefühl, gegen eine Betonwand zu laufen. den Atlantik. In den USA wird zurzeit ein
Wie viele Kohlegruben müssen noch besetzt sehr viel ambitionierterer Plan als der der
werden, wie viele Millionen auf die Straße Bundesregierung diskutiert: ein Green New
gehen, bis wir greifbare Fortschritte erleben? Deal, der Armut und Klimawandel gleichzei-
Die Ironie des Ganzen: Politiker*innen, die es tig bekämpfen soll. Der Vorschlag erkennt an,
ganz okay finden, dass die ärmere Hälfte der dass aktuelle Krisen miteinander verknüpft
deutschen Bevölkerung nur etwa ein Prozent sind und nur zusammen gelöst werden kön-
des Nettovermögens besitzt, entdecken beim nen. Das Konzept wurde nicht nur von einer
Klimathema plötzlich ihr Herz für soziale Partei oder einem Thinktank aufgeschrieben,
Gerechtigkeit. Ein imaginärer »kleiner Mann«, sondern wird von sozialen Bewegungen ge-
der sich weiterhin den Flug nach Barcelona tragen und mithilfe von Aktionen des zivilen
leisten können soll, dient als Ausrede, um Ungehorsams eingefordert, allen voran von
entschlossenen Klimaschutz zu vermeiden. der Jugendbewegung Sunrise.
Die gängige Geschichte lautet: Klima-
schutz bringt Arbeitslosigkeit, Rezession, GREEN NEW DEAL: DER GROSSE WURF?
Verzicht, gesellschaftliche Spaltung. Wenn Im Herbst vergangenen Jahres erkannte
Klimabewegungen diesem Narrativ entgegen- die demokratische Kongressabgeordnete
treten wollen, müssen sie mit der Erzählung Alexandria Ocasio-Cortez das Potenzial der
einer sozial gerechten und ökologischen Sunrise-Bewegung und ihrer Forderungen.
Gesellschaft begeistern. Wenn sie allein Mit anderen progressiven Demokrat*innen

78     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Klimaaktivist*innen und progressive Parteipolitik
kämpfen in den USA gemeinsam für eine sozial-
ökologische Transformation. Hierzulande tut sich
die Bewegung schwer, entsprechende Strategien
und Bündnisse zu entwickeln.

und Sunrise-Vertreter*innen erarbeiteten


sie eine Resolution zum Green New Deal, DOROTHEE HÄUSSERMANN ist freiberufliche
die im Februar 2019 veröffentlicht wurde. Referentin und arbeitet für die Bewegungs-
stiftung. Seit 2011 organisiert sie Aktionen
Darin fordern sie massive Investitionen
zivilen Ungehorsams gegen die Kohleindustrie
in grüne Infrastruktur und gut bezahlte (zuletzt »Ende Gelände«) und Veranstaltungen
Arbeitsplätze, um die US-amerikanischen zu Klimagerechtigkeit und Wachstumskritik. Im
Treibhausgasemissionen radikal abzusenken Frühjahr dieses Jahres reiste sie zwei Monate
und gleichzeitig soziale Ungerechtigkeit zu durch die USA, um sich mit der dortigen Klima­
bekämpfen. Durch den Ausbau von erneu- bewegung auszutauschen und zu vernetzen.

erbaren Energien, Hochgeschwindigkeits-


zügen und öffentlichem Nahverkehr sollen
Millionen von Arbeitsplätzen entstehen. Das afroamerikanischen Bevölkerung zu zahlen
Programm verspricht allen Menschen in den (vgl. Rehmann in diesem Heft).
USA eine Garantie auf einen existenzsichern- Der Titel des Programms ist eine
den Arbeitsplatz mit einer umfangreichen Anlehnung an den New Deal, mit dem die
sozialen Absicherung sowie Zugang zu Regierung Franklin D. Roosevelts ab 1929
einem hochwertigen Gesundheits- und auf die Weltwirtschaftskrise reagierte. Er
Bildungssystem, zu bezahlbarem Wohnraum ist bis heute tief im kulturellen Gedächtnis
und zu sauberem Wasser und sauberer Luft. verankert, als Geschichte einer erfolgreichen
Der Green New Deal hat den Anspruch, die Krisenbewältigung. Gleichzeitig ist der
Diskriminierung von indigenen und People Rückgriff nicht unproblematisch. Roosevelts
of Color, Migrant*innen, Menschen mit Wirtschaftsreformen lösten in den 1930er
niedrigem Einkommen und anderen margi- Jahren konjunkturellen Aufschwung, In-
nalisierten Gruppen zu beenden und Repara- dustrialisierung und eine riesige Konsum-
tionen für die historische Unterdrückung der welle aus. Damit der Green New Deal nicht

STRATEGISCHE ALLIANZEN   LUXEMBURG 3/2019     79


lediglich dazu führt, dass wir »Solarpanele Maßstäbe für die Klimapolitik gesetzt hat.
auf Walmart-Dächer klatschen«, müssen wir Mittlerweile wird sie von der Mehrheit
gegensteuern, schreibt Naomi Klein (2019, der aussichtsreichsten demokratischen
264). Der »Klima-Keynesianismus« brauche Präsidentschaftskandidat*innen unterstützt,
Lenkungsmechanismen, die verhindern, dass allen voran Bernie Sanders und Elizabeth
die Löhne aus den »guten grünen Jobs« in Warren (vgl. Rehmann in diesem Heft). Dass
den Konsum von Wegwerfprodukten fließen es überhaupt so weit gekommen ist, ist
und den Energieverbrauch anheizen. Denn insbesondere das Verdienst einer entschlos-
der Green New Deal kann die Widersprüche senen Graswurzelbewegung, allen voran der
der kapitalistischen Wirtschaftsweise nicht Jugendgruppe Sunrise.
lösen: Menschen müssen weiterhin kaufen, Deren Aktivist*innen beschreiben sich
was das Zeug hält, damit das System nicht zu- selbst als eine »Armee junger Leute«, die »den
sammenbricht; die Wirtschaft muss weiterhin Klimawandel aufhalten und dabei Millionen
auf Basis endlicher Ressourcen wachsen – das von gutbezahlten Jobs schaffen« will. Im Vor-
Dilemma, aus dem wir eigentlich rauswollen. feld der Kongresswahlen im November 2018
Zugleich kam der New Deal in den setzten sie gezielt Politiker*innen unter Druck,
1930er Jahren vor allem weißen Menschen kein Geld mehr von fossilen Unternehmen
zugute. Darum ist der Passus zu Inklusivität anzunehmen und Klimapolitik zur Priorität
und »Reparationen« in der aktuellen Resolu- zu machen. Sie marschierten in Regierungs-
tion eine wichtige Abgrenzung zum histori- gebäude und besetzten singend die Büros von
schen Vorbild. Er erkennt an, dass die fossile Abgeordneten. Unter ihnen sind rhetorisch
Indus­trialisierung historisch auf der Ausbeu- gewandte junge Erwachsene ebenso wie
tung von Sklaven und Ureinwohner*innen siebenjährige Kinder. Sie kombinieren ihren
basiert, und positioniert sich gegen rassisti- Status von Unschuld und Unangreifbarkeit
sche Antworten auf die Klimakrise. mit hochprofessioneller Medienarbeit.
Naomi Klein setzt trotz aller Kritik auf Im November 2018 blockierten rund
den Green New Deal. In dem von ihr mitge- 200 Jugendliche das Büro von Nancy Pe-
stalteten Video »A Message From the Future« losi, der demokratischen Vorsitzenden des
erscheint der Umbau zu einer postfossilen, Abgeordnetenhauses. »Wir haben noch zwölf
solidarischen Gesellschaft machbar, ja kinder- Jahre – was ist Ihr Plan?«, hieß es auf ihren
leicht (siehe Ocasio-Cortez in diesem Heft). Bannern. Während des Sit-ins vor Pelosis
Wer den Film sieht, fragt sich: Warum fangen Büro solidarisierte sich die Abgeordnete
wir nicht einfach an? Ocasio-Cortez vor laufenden Kameras mit der
Jugendgruppe. Das Video verbreitete sich viral
KEIN PAPIERTIGER – WIE DER im Netz, in den 48 Stunden nach der Aktion
GREEN NEW DEAL ZUM ERFOLG WURDE erschienen rund 4 000 Presseartikel über die
Selbst die massiven Gegenkampagnen Forderungen von Sunrise. Seitdem arbeiten
konnten nicht verhindern, dass die Ocasio-Cortez und Sunrise Hand in Hand
Resolution zum Green New Deal neue für einen Green New Deal. Die Sunrise-Be-

80     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


wegung verbreitet sich schnell in den ganzen Sunrise hat begriffen, dass sie Zielgruppen
USA, mittlerweile gibt es 180 Lokalgruppen. jenseits der üblichen Klimabewegung anspre-
In den TV-Debatten der demokratischen chen müssen, um gesellschaftliche Mehrhei-
Präsidentschaftskandidat*innen kam keine ten zu erreichen. Darum forderten sie von An-
der Bewerber*innen darum herum, sich zum fang an nicht nur Klimaschutz, sondern auch
Green New Deal zu positionieren. Sunrise ist existenzsichernde Arbeitsplätze als Antwort
es gelungen, die politische Debatte nach links auf die Ausgrenzung und Chancenlosigkeit
zu verschieben. breiter Bevölkerungsgruppen. Damit wappne-
ten sie sich gegen die Mythen der Gegenseite:
INSIDE-OUTSIDE-ALLIANZEN dass Klimaschutz Arbeitsplätze und Wohl-
Der US-amerikanische Aktivist und Autor stand vernichte. Ihre Ästhetik erinnert an die
Jonathan Matthew Smucker untersucht in Arbeiterbewegungen der 1920er und 1930er
seinem Buch »Hegemony How-To«, wie Jahre. Nicht zufällig singen die Jugendlichen
es sozialen Bewegungen gelingen kann, auch die gewerkschaftliche Hymne »Which
politische Kräfteverhältnisse zu verschieben. Side Are You On?«. Dennoch begegnen viele
Wenn Gruppen den Status quo herausfordern Gewerkschaften ihnen noch immer skeptisch
wollen, so seine These, müssen sie nicht nur (vgl. Cohen 2019).
den »symbolic contest«, also die Auseinander- Doch auch in der Klimagerechtigkeitsbe-
setzung um den gesellschaftlichen Konsens, wegung können nicht alle die Begeisterung
gewinnen, sondern auch den »institutional rund um Sunrise und den Green New Deal
contest«, den Kampf in und mit den politi- nachvollziehen. Im Wahlkampf 2008 hatten
schen Institutionen. Die sozialen Bewegun- Menschen große Erwartungen an Obama,
gen würden genau diesen Punkt vernachlässi- die sich nicht erfüllt haben. Sie haben keine
gen. Sie lehnen das System als Ganzes ab und Hoffnung mehr, dass von der Demokra-
sehen es nicht als Vehikel, mit denen ihre tischen Partei jemals eine grundlegende
Ideale verwirklicht werden können. Mit dem Änderung des Status quo ausgeht. Wer
Rückzug aus den Institutionen überlassen sie öffentliche Auftritte von Sunrise und Bernie
ihren Gegnern das Terrain, auf dem politi- Sanders beobachtet, mag den befremdlichen
sche Entscheidungen durchgesetzt werden. Eindruck haben, dass sich eine Graswurzelbe-
Sunrise hat diese Analyse offenbar ernst wegung vor den Karren des demokratischen
genommen und gezielt Akteure innerhalb der Wahlkampfs spannen lässt. Trotzdem lässt
politischen Institutionen angesprochen: um sich von Sunrise und der Green-New-Deal-
sie unter Druck zu setzen, aber auch, um sie Bewegung lernen.
zu Verbündeten zu machen. Die Strategie
der inside-outside politics, also der Allianz BRAUCHT ES IN DEUTSCHLAND
zwischen einer visionären parlamentarischen EINE GREEN-NEW-DEAL-BEWEGUNG?
Initiative und dem zivilen Ungehorsam einer Seit der Initiative des Umweltprogramms der
Basisbewegung, erwies sich als ungemein Vereinten Nationen (UNEP) für einen Global
erfolgreich. Green New Deal im Jahr 2008 taucht der

STRATEGISCHE ALLIANZEN   LUXEMBURG 3/2019     81


Begriff auch in der deutschen Debatte immer bieren, sie aber im Ernstfall für eine »Regie-
wieder auf, vor allem bei den Grünen. In den rungsfähigkeit« über Bord werfen.
Konzepten geht es hauptsächlich um eine Ver- Spätestens seit die Europäische Kom-
schiebung von Investitionen in klimafreund- mission von einem »Green Deal for Europe«
liche Technologien. Zur Europawahl 2019 spricht, ist der Begriff zudem aus linker Per-
startete die Bewegung DiEM25 die Initiative spektive verbrannt. Gleichzeitig ist klar, dass
für einen Green New Deal in Europa, die sich prägnante und ganzheitliche Vorschläge zur
am US-amerikanischen Vorbild orientiert, Bewältigung der Klimakrise dringend notwen-
sich aber (im Unterschied zu diesem) explizit dig sind. Es gibt unzählige kluge Fachbücher,
wachstumskritisch positioniert. Studien und Manifeste, die aber in Regalen
Doch diese Konzepte haben bislang und auf Festplatten keine politische Wirkung
wenig Widerhall gefunden. So kann hier- entfalten. Umgekehrt sind die aktuellen Bewe-
zulande ein Storytelling, das sich positiv gungen, die mit ihren Aktionen hohe Medien-
auf die kollektiven Anstrengungen der Ära aufmerksamkeit erzielen, kaum sprechfähig,
des New Deal und des Zweiten Weltkriegs wenn es um konkrete Einstiegsprojekte in ein
bezieht, nicht funktionieren. In der linken anderes System geht. Das Anti-Kohle-Bündnis
Klimagerechtigkeitsbewegung steht der Green »Ende Gelände« hat mit spektakulären
New Deal häufig sinnbildlich für grünen Blockaden viel dazu beigetragen, den diskur-
Kapitalismus und Scheinlösungen. Eine siven Sieg in der Auseinandersetzung um den
rege Degrowth-Debatte hat über Rebound- Kohleausstieg zu erringen. Doch in der theory
Effekte aufgeklärt und die Entkoppelung von of change des Bündnisses kommt parlamenta-
Wachstum und Ressourcenverbrauch infrage rische Politik nicht vor. Es bleibt schleierhaft,
gestellt. Diese Wachstumskritik spiegelt sich wie die Ausstiegsforderung praktisch umge-
unter anderem im Green-New-Deal-Konzept setzt werden soll. Soll jedes einzelne Kraftwerk
von DiEM25 wider. Doch es ist fraglich, ob es »per Hand« abgeschaltet werden? Große Teile
gelingt, den Begriff neu zu definieren. der linken Klimagerechtigkeitsbewegung
Zudem wird die DiEM25-Initiative von wissen, dass ein Systemwandel notwendig
Vertreter*innen linker und grüner Parteien ist. Sie gehen allerdings nicht davon aus, dass
wie Yanis Varoufakis oder Caroline Lucas Parteien oder staatliche Institutionen dafür
getragen. Eine starke Parteinähe könnte einer Lösungen liefern können. Andererseits kön-
Green-New-Deal-Initiative aber hierzulande nen sie nicht überzeugend erklären, wie eine
eher abträglich sein. Generell herrscht in der so tief greifende Transformation ohne Gesetze
linken Klimabewegung eine starke Skepsis und staatliche Lenkung umgesetzt werden soll.
gegenüber Parteien. Sie werden als Teil eines Neue kraftvolle Akteure wie Extinction
kapitalistischen Staates gesehen, den es zu Rebellion und Fridays for Future fordern Kli-
überwinden gilt. Zu oft haben Menschen maneutralität, also »Netto-Null-Emissionen«
außerdem erlebt, dass Wahlprogramme die bis zum Jahr 2025 oder 2035. Extinction
Forderungen der Bewegungen nachbuchsta- Rebellion will ausdrücklich keine Lösungen
vorschreiben, sondern diese in Bürgerver-

82     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


sammlungen erarbeiten. Beide Bewegungen Dieses Programm sollte von einer breiten
möchten sich nicht politisch »links« verorten Allianz zivilgesellschaftlicher Akteure und
und haben keine Forderungen zu sozialer progressiver Politiker*innen getragen werden,
Gerechtigkeit oder system change. Möglicher- die politischen Druck aufbaut. Dazu braucht
weise steckt dahinter das Anliegen, sich von es eine entschlossene und sympathische
ideologischem Ballast zu befreien und offen Gruppe, die mit konfrontativen Aktionen für
für Menschen jenseits der linken Nische Wirbel sorgt und die Entscheidungsträger vor
zu sein. Bislang hat die Strategie Erfolg: sich hertreibt. Dieses Programm sollte aber
Die Schulstreiks genießen einen enormen hierzulande nicht Green New Deal heißen.
Rückhalt in der Bevölkerung und Extinction Und: Die Initiative muss »von unten«, außer-
Rebellion kann andere Kreise für zivilen Un- halb der staatlichen Institutionen entstehen.
gehorsam begeistern, als es »Ende Gelände« Mit Spannung ist das Ergebnis der Initiative
und Co. bisher konnten. »Gerechte 1,5 Grad« zu erwarten, die derzeit
Tatsächlich geht uns der Klimawandel in einem breit getragenen partizipativen
alle an, unabhängig von Weltanschauung oder Schreibprozess einen »Klimaplan von unten«
Parteizugehörigkeit. Extinction Rebellion und erarbeitet.1
Fridays for Future haben viel dafür getan, mit- Die Klimabewegung braucht eine
hilfe wissenschaftlicher Fakten das Problem- begeisternde Geschichte über eine gerechte
bewusstsein zu steigern. »United behind the Gesellschaft ohne Armut und Ausgrenzung
science« ist mit verschiedensten Überzeugun- und über ein Leben mit mehr Zeit in
gen möglich. Aber wenn wir über Lösungen autofreien, ruhigen Städten und intakter
sprechen, müssen wir zwangsläufig Position Natur. Diese Geschichte muss auch vermit-
beziehen: Setzen wir auf Marktmechanismen teln, dass nicht der Klimaschutz, sondern
oder auf staatliche Ordnungspolitik? Wollen unser Wirtschaftssystem die gesellschaftliche
wir offene Grenzen? Oder wollen wir uns Spaltung hervorbringt. Und vor allem muss
abschotten und die begrenzten Ressourcen in sie uns davon überzeugen, dass wir gewin-
der »deutschen Volksgemeinschaft« aufteilen? nen können.
Die Bewegungen brauchen dringend einen
überzeugenden Plan, wie wir der Klimakrise
1 Vgl. https://gerechte1komma5.de/.
begegnen. Es wäre großartig, wenn es Fach-
leuten, Wissenschaftler*innen und sozialen
Bewegungen gemeinsam gelänge, prägnante
und kampagnenfähige Sofortmaßnahmen LITERATUR
herauszuarbeiten und gemeinsam ein Pro- Cohen, Rachel M, 2019: Labor unions are skeptical of the
Green New Deal, and they want activists to hear them
gramm zu schreiben, das visionär genug ist,
out, in: www.theintercept.com/2019/02/28/green-new-
um zu begeistern, und realistisch genug, um deal-labor-unions/
es morgen umzusetzen. Ein Programm, das Klein, Naomi, 2019: On fire. The burning case for a Green
New Deal, New York
die ersten Schritte in Richtung system change Smucker, Jonathan, 2017: Hegemony How-To. A roadmap
aufzeigt. for radicals, Chico/California

STRATEGISCHE ALLIANZEN   LUXEMBURG 3/2019     83


DAS FENSTER IST OFFEN
FÜR EINE LINKE ERZÄHLUNG
DER KLIMAGERECHTIGKEIT
LORENZ GÖSTA BEUTIN

Wer bei den Klimaprotesten dieser Tage und so« in Wirtschaft und Gesellschaft kann die
Monate Augen und Ohren aufsperrt – sei es Klimakrise nicht aufhalten. Die kapitalisti-
bei Straßenblockaden, beim Brückensperren, schen Scheinlösungen, die Politiker*innen
bei Waldspaziergängen oder Tagebaubesetzun- und Wirtschaftsvertreter*innen propagieren,
gen – bekommt in Sprechchören, auf Trans- verlieren augenscheinlich an Überzeugungs-
parenten und in Gesprächen immer wieder die kraft. Unser System des profitorientierten und
eine Botschaft zu hören: »System change, not wachstumsabhängigen Wirtschaftens selbst
climate change – Systemwende statt Klima- rückt als Problem in den Fokus. Zugleich
wandel«. Ende Gelände, Extinction Rebellion artikulieren sich die Bewegungen auf der
und Fridays for Future, die als aktivistische Straße, in den Schulen und Universitäten, im
Speerspitze der Bewegung Mitte September Netz und im Alltag zunehmend rebellisch,
über 1,4 Millionen Menschen in Deutschland feministisch, antirassistisch, kapitalismuskri-
auf die Straßen brachten, sie alle verknüpfen tisch und basisdemokratisch. »Es gibt keine
die Frage des Klimaschutzes zunehmend Alternative« – diese neoliberale Losung ist
mit der Frage nach sozialer Gerechtigkeit in spätestens jetzt Geschichte. Dieser Linksruck,
Deutschland und im Rest der Welt. Die einen der die neue Klimabewegung erfasst hat, ist
bringen ihre Forderung nach einer klimage- mitnichten eine illusorische Innenschau oder
rechten Gesellschaft breit und anschlussfähig fernes Wunschdenken. Die schriller werden-
vor, die anderen laut und aktivistisch, die einen den Warnungen von AfD und FDP über die
analytisch und ideologisch gefestigt, die ande- konservativen Polizeigewerkschaften bis hin
ren apokalyptisch mit Yoga und Tanzeinlagen. zu Springer & Co. vor einer »Ökodiktatur«,
»Planwirtschaft« oder einem »antidemokrati-
LINKE POLITISIERUNG IN DEN KLIMAKÄMPFEN schen Linksextremismus« sind durchaus ein
Ein Verdacht bricht sich in den Köpfen von Gradmesser für den politischen Horizont, der
immer mehr Menschen Bahn: Das »Weiter innerhalb der Proteste sichtbar geworden ist

84     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Die Linke ist die einzige Partei, die Klimaschutz
und soziale Gerechtigkeit zusammenbringen will.
Doch muss sie daraus eine klare Botschaft
formulieren.

und auf ein anderes Wirtschafts- und Gesell-


schaftssystem zielt. LORENZ GÖSTA BEUTIN sitzt für die LINKE im
Der nicht unmittelbar eingängige Begriff Bundestag. Er ist klima- und energiepolitischer
Sprecher der Fraktion und hat in den letzten
der Klimagerechtigkeit wird in den Debatten
Jahren zahlreiche Aktionen der Klima- und
und der Praxis der Bewegungen immer mehr Anti-Kohle-Bewegung begleitet und unterstützt.
mit Inhalt gefüllt. Der Einsatz für sichere
Fluchtwege und Seenotrettung wird zuneh-
mend mit Klimaschutzkämpfen verbunden. formation noch mehr Gehör zu verschaffen und
Sea-Watch-Kapitänin und Extinction-Rebellion- sie stärker zu verankern, braucht es auch die
Aktivistin Carola Rackete tritt – stellvertretend LINKE. Sie ist die einzige Partei, die das Klima
für viele – öffentlich dafür ein, Flucht und retten will und nicht den Kapitalismus.
Klimawandel als krisenhafte Folgen kapitalisti-
scher Verwüstungen zusammenzudenken, und DIE LINKE BRAUCHT EINEN KLIMAWANDEL
fordert Alternativen zu diesem System. Nach In der Partei die LINKE stößt die Klima-
dem rassistischen Mordanschlag in Halle legten bewegung bei einigen aber weiterhin auf
die Extinction-Rebellion-Aktiven umgehend distanzierte Skepsis oder gar Ablehnung: »Wir
eine Schweigeminute für die Opfer menschen- können nicht grüner sein als die Grünen.«
feindlicher Gewalt ein. Auch der zeitgleiche Die Klimafrage wird als »Lifestyle-Thema«
Angriff der türkischen Armee auf die kurdische der bürgerlichen Eliten, als Luxus, als Wohl-
Selbstverwaltung in Syrien wurde in der Klim- fühlthema der neoliberalen Gewinner*innen
abewegung breit verurteilt. In der Bewegung se- gebrandmarkt, das man sich leisten können
hen viele den historischen Scheideweg, an dem muss. Wer die grüne Fahne ausrolle, verrate
wir stehen: Klimagerechtigkeit oder Barbarei? die Arbeiterklasse und damit den historischen
Um den damit verbundenen Forderungen nach Auftrag der Linken. Diese Abspaltung spiegelt
einer grundlegenden gesellschaftlichen Trans- sich in Umfragen und Wahlergebnissen wider:

DAS FENSTER IST OFFEN LUXEMBURG 3/2019     85


Während die Grünen einen demoskopischen DIE SOZIALE FRAGE UNSERER ZEIT
Dauerhöhenflug erleben, steht die LINKE am Ohne Zweifel ist Klimagerechtigkeit die soziale
Rand der Party, kratzt sich den Kopf und fragt Frage unserer Zeit und kein Modethema, das
sich, warum niemand mit ihr tanzen will. sich bis zur nächsten Wahl wieder in Luft
Doch auch wenn die Gründe für die auflöst. Nun ist es nicht so, dass Klimapolitik
schwachen Umfrageergebnisse der LINKEN in der LINKEN bisher nicht stattgefunden
vielfältig sind, an einer Tatsache kommt hätte: In der Parteizentrale, im Bundestag, in
niemand vorbei: Ausnahmslos jede Wähler- Bundesarbeitsgemeinschaften, in den Landes-
befragung der letzten Jahre belegt, dass der parlamenten und auf kommunaler Ebene hat es
Schutz des Klimas und der Lebensgrund- schon immer Öko-Sozialist*innen gegeben. Die
lagen die Themen sind, die den LINKE- LINKE war bei allen Klimaprotesten der letzten
Wähler*innen am meisten auf den Nägeln Jahre von Beginn an dabei, sei es über persönli-
brennen. Nur den Grünen-Anhänger*innen che Kontakte, über Solidaritätsarbeit oder über
sind sie noch wichtiger. Zugleich wurden parlamentarische Beobachtungen von Polizei-
einsätzen gegen Aktivist*innen. Die Glaubwür-
Eine linke Erzählung muss klar­ digkeit auf der Straße ist nicht das Problem. Es
machen, dass Soziales und  fehlt auch nicht an Inhalten und Positionen: In
allen Partei- und Wahlprogrammen finden sich
Ökologie zusammen­gehören und umfassende Forderungen, vom Kohleausstieg
dass die Klimafrage nicht von der über die Verstaatlichung der Energiekonzerne
bis zum Ende des Verbrennungsmotors. Oft ist
Klassenfrage, der Geschlechter­ die LINKE viel näher an den Forderungen der
frage, der Frage nach der Zukunft Umweltbewegung als die grüne Konkurrenz.
Doch jede Botschaft ist nur so stark wie
der Arbeit und einer gerechten
ihre Verbreitung. Will die Partei die LINKE mit
­globalen Gesellschaft zu trennen ist. ihrer starken Programmatik künftig erkennbar
sein und diese in Erfolge an den Wahlurnen
bei der Mehrheit der Wähler*innen, auch und in praktische Politik umsetzen, dann
bei denen der LINKEN, große Wissenslücken braucht es nicht weniger, sondern mehr offen-
über die Klimaschutz-Programmatik der sive Botschaften zu Klima und Umwelt, eine
Partei festgestellt. Mit anderen Worten: Erzählung von Klimagerechtigkeit, die laut
Diejenigen, die die LINKE wählen, wollen das und selbstbewusst vorgebracht wird. Diese lin-
Klima retten, und sie wollen dieses Ziel mit ke Erzählung muss klarmachen, dass Soziales
sozialer Gerechtigkeit verbinden. Die Partei und Ökologie zusammengehören und dass
ihres Vertrauens gibt ihnen jedoch keine die Klimafrage nicht von der Klassenfrage, der
linke Anleitung an die Hand. Der LINKEN Geschlechterfrage, der Frage nach der Zukunft
wird in der Klimapolitik keine Problemlö- der Arbeit und einer gerechten globalen
sungskompetenz zugetraut, auch das zeigen Gesellschaft zu trennen ist. Diese Erzählung
die Umfragen. muss vor allem auch die Verantwortlichen der

86     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Krise benennen und Anknüpfungspunkte für den Armen vorhalten, sie seien nicht öko
eine gegenhegemoniale Politik aufzeigen. genug? An diesen sozialen Bruchlinien der
Klimakrise muss eine linke Erzählung von
DIE DOPPELTE AUSBEUTUNG Klimagerechtigkeit ansetzen.
SICHTBAR MACHEN
So wie der Kapitalismus einige wenige EINE LINKE ERZÄHLUNG
Jackpot-Gewinner auf Kosten vieler Verlierer DER KLIMAGERECHTIGKEIT
hervorbringt, so sind auch die Nieten in der Eine solche Erzählung kann nur dann öffent-
Klimakrise ungleich verteilt. Es ist nicht die liche Wirkung entfalten, wenn sie von allen
Kleinbäuerin in Mali, die für die Temperaturen Akteuren der Partei überzeugt und überzeu-
von über 50 Grad in ihrem Land verantwort- gend vorgetragen wird: Nicht die Gipsindustrie
lich ist. Es sind die Industriestaaten und ihre ist wichtiger als Klimaschutz, nicht die Stahlin-
Konzerne, die hierfür die Verantwortung tragen dustrie, nicht die Agrarlobby, nicht die Auto-
und die ihr Entwicklungs- und Wohlstands- konzerne. Nie wieder dürfen LINKE das freie
konzept gewaltvoll in der ganzen Welt durch- Rasen auf deutschen Autobahnen verteidigen,
gesetzt haben. Schuld trägt nicht der türkische für staatliche Subventionen klimaschädlicher
Uber-Fahrer in Berlin mit drei Kindern, der Industrien eintreten, Jobs in der Kohle- und
einen Dieselmotor mit Schummelsoftware Autoindustrie verteidigen oder den Klimaschutz
fährt, sondern die Autohersteller, die an ihrem im Gebäudebereich abbremsen. Das durch-
tödlichen Geschäftsmodell festhalten. Nicht die schaubare Spiel der Wirtschafts-, Industrie- und
Nachbarin mit Ölheizung im Keller ist verant- Finanzakteure, die ihre eigenen Profitinteressen
wortlich dafür, dass Heizöl billig und Ökostrom hinter den berechtigten Ängsten der Menschen
teuer ist. Auch der Kohlekumpel kann nichts vor einem Jobverlust verstecken, dürfen LINKE
dafür, dass er im Bergwerk mehr Cash verdient nicht mehr mitspielen. Statt den Status quo
als ein radelnder Essenskurier. Die Lehrerin zu bewahren, wird die LINKE klare Antworten
trägt keine Schuld daran, dass ihr Flug in den geben müssen, die auch diejenigen verstehen,
wohlverdienten Ibiza-Urlaub billiger ist als die die bei Amazon ausliefern, Handwerker*innen
Bahnfahrt nach Rügen. Es gibt kein ökologisch sind, Kohlebagger fahren oder bei VW am
korrektes Leben in einem System, das Mensch Fließband stehen. Gerade weil die radikale
und Natur gleichermaßen ausquetscht. Vor ge- Rechte in diesen Zeiten der neoliberalen Res-
nau dieser Schlussfolgerung haben die Reichen tauration triumphiert, muss das Projekt eines
und Mächtigen Angst: Dass die Klimakrise demokratischen Ökosozialismus dringend Land
diese doppelte Ausbeutung sichtbar macht. gewinnen. Die Chancen stehen nicht schlecht:
Was wäre denn, wenn die Mehrheit keine Lust Immer mehr Menschen lechzen nach Alternati-
mehr hätte auf schlecht bezahlte Arbeit und ven zum Bestehenden. Die Klimabewegung hat
Umweltzerstörung? Was, wenn sie nicht mehr das Fenster weit aufgestoßen. Seien wir die, die
bereit wäre, für die Schäden der anderen zu den frischen Wind hineinpusten. Erzählen wir
haften, für die Schäden derjenigen, die weiter von unseren linken Alternativen, selbstbewusst
SUV fahren, ihre Klimaanlagen anwerfen und und nach vorne gerichtet!

DAS FENSTER IST OFFEN LUXEMBURG 3/2019     87


DAS SYSTEM UMBAUEN
SCHRITTE IN EINE
SOZIAL-ÖKOLOGISCHE ZUKUNFT
BERND RIEXINGER

Auf den Straßen, in den Schulen und Univer- dende Veränderungen anstehen, setzt sich
sitäten drängen immer mehr Menschen auf auch bei den Beschäftigten in der Autoindus-
grundlegende Lösungen und reklamieren die trie durch. Angst und Sorge verbinden sich
Zukunft für sich. Die Forderung, sich der Wirk- jedoch mit der Frage: Was kommt danach?
lichkeit, den wissenschaftlichen Erkenntnissen Denn die Erfahrungen damit, wer die Zeche
zu stellen und endlich unsere Lebensweise zahlt, wenn ein gesellschaftlicher Umbau
und die Art, wie wir produzieren, angemessen Markt und Kapital überlassen wird, sind tief
schnell zu verändern, ist nicht zu überhören. ins Bewusstsein der Menschen eingeschrie-
Politische und öffentliche Diskussionen dage- ben. Ein Ende einer Hegemonie heißt nicht,
gen sind von Durchhalteparolen und Ängst- dass die Situation einfach offen ist oder die
lichkeit gekennzeichnet. Die Autoindustrie und Kapitalfraktionen nicht weiterhin ihre Interes-
ihre politischen Vertreter versuchen zu vermit- sen mit Macht vertreten.
teln, dass alles so weitergehen kann wie bisher, Notwendig ist deshalb nicht weniger als
wenn wir nur die Antriebsform der Autos um- ein Umbau der gesellschaftlichen Arbeit ins-
stellen und der Staat für einige Investitionskos- gesamt – nicht nur der Lohnarbeit, sondern
ten aufkommt, beispielsweise dafür, das ganze der Arbeit im weiten Sinne: der gesellschaftli-
Land kostenfrei mit Stromtankstellen auszurüs- chen Arbeit und der Naturaneignung, die ihr
ten. Auch die Grünen versprechen, es brauche zugrunde liegt. Das wird nur gegen mächtige
keinen Umbruch. Der Green New Deal droht Interessen durchzusetzen sein. Wir müssen
zum neuen »Greenwashing« der Wirtschaft zu eine gemeinsame Perspektive für die Beschäf-
verkommen, zu einer Ansammlung von ober- tigten entwickeln, im Bewusstsein der tiefen
flächlichen Maßnahmen, die der Dringlichkeit Spaltungen, die der Neoliberalismus mit Nied-
der Situation nicht gerecht werden. riglohn und Kernbelegschaften, mit Exportsek-
Die Hegemonie des Neoliberalismus ist tor und Dienstleistung produziert hat. Kein*e
zu Ende und die Erkenntnis, dass einschnei- Beschäftigte*r darf gezwungen werden, sich

88     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Die Klimakrise kriegen wir nur in den Griff, wenn wir
unsere Art zu produzieren und zu leben radikal umbauen.
Nur im Bündnis aus Klimabewegung, Gewerkschaften
und Beschäftigten kann das gelingen.

zwischen seinem Job, einem guten Leben im


Hier und Jetzt und der Zukunft seiner Kinder BERND RIEXINGER ist seit 2012 Vorsitzender
und Enkelkinder entscheiden zu müssen. Das der Partei die LINKE und leidenschaftlicher
Gewerkschafter. In seiner Zeit als Geschäfts-
würden viele Menschen sicher unterschreiben.
führer des ver.di-Bezirks Stuttgart hat er die
Es geht aber nur mit linker Politik. Nur mit Entwicklung einer demokratischen Streikkultur
einem sozialen und ökologischen Systemwan- voran- und die Zahl der Streiktage in die
del gibt es die Option einer klimaneutralen Höhe getrieben. Zuletzt erschien von ihm im
Wirtschaft für die Zukunft. VSA-Verlag »Neue Klassenpolitik. Solidarität der
Vielen statt Herrschaft der Wenigen« (2018).

ECHTER WOHLSTAND STATT


BLINDEN WACHSTUMS mehr Konsum beruht. Dafür brauchen wir
Das heißt, wir brauchen einen Umbauprozess Investitionen, die das Leben der Menschen
der Industrie und einen Aufbauprozess bei verbessern und den Weg zu einer CO2-freien
den sozialen Dienstleistungen: Zwei Millionen Wirtschaft einschlagen. Das ist finanzierbar,
Arbeitsplätze könnten entstehen, wenn wir wenn wir klimaschädliche Subventionen
die öffentliche Daseinsvorsorge auch nur abbauen und Multimillionäre endlich gerecht
halbwegs auf dem skandinavischen Niveau besteuern.
ausbauen würden. Es geht nicht um Verzicht Das Ende eines ungewöhnlich langen
auf Wohlstand, sondern um eine Abkehr von Wirtschaftsaufschwungs und die ersten
blindem Wachstum, Autogesellschaft und Anzeichen für eine Rezessionsphase fallen
Wegwerfgesellschaft. Gute Löhne und soziale zusammen mit grundlegenden Transforma-
Sicherheit in allen Lebensphasen, eine neue tionsprozessen in der Industrie. Der Kampf
Qualität der Infrastruktur und mehr Zeit zum um neue Verwertungs- und Absatzmärkte, das
Leben sind die Grundlage eines klimagerech- Ringen um neue Leittechnologien (Elektro-
ten Wohlstandsmodells, das nicht auf immer motorisierung, Digitalisierung) sind längst

DAS SYSTEM UMBAUEN LUXEMBURG 3/2019     89


im Gange. Sie werden auch die Kräfteverhält- Löhne zu zahlen. Von den Profiten zu den
nisse zwischen Kapital und Arbeit und die Löhnen umzuverteilen ist nicht nur gerecht,
Bedeutung der Gewerkschaften maßgeblich es ist auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Die
beeinflussen. Die Elektromotorisierung wird Löhne – und gesellschaftliche Anerkennung –
insbesondere mittelständische Zulieferer müssen vor allem im Dienstleistungsbereich
in Existenzkämpfe stürzen. Der Druck auf steigen. Warum sollten wir das gleich wieder
Arbeitsplätze und Kosten steigt schon. zurücknehmen, indem wir versichern, dass
Die LINKE hat hier eine wichtige strategi- wir dabei natürlich nicht an Löhne denken,
sche Funktion. Wir müssen Widerstand orga- wie sie in der Autoindustrie gezahlt werden?
nisieren und die verschiedenen Akteure in ei- Außerdem hängen Sicherheit und Lebensqua-
nem Bündnis zusammenbringen: Beschäftigte, lität nicht nur vom direkten, sondern auch
Gewerkschaften und Klimaschützer*innen. vom »sozialen Lohn« ab: von der Qualität der
Vor allem müssen wir daran arbeiten, dass (kostenfreien) öffentlichen Daseinsvorsorge.
gemeinsame Ziele dort deutlich werden, wo Wenn die Mieten sinken, der öffentliche
die Anliegen bisher unvereinbar scheinen. Personennahverkehr gut und kostenfrei wird,
Was wir durchsetzen müssen, ist nicht wenig: Bildung, Kultur, Schwimmbad gebührenfrei
Automobilunternehmen zu ökologisch nach- und in guter Qualität zu haben sind, wenn Ge-
haltigen Mobilitätsbetrieben umbauen, eine sundheit und Pflege mit ausreichend Personal
ökologische Produktionsweise mit langlebigen und Investitionsmitteln allen zur Verfügung
Gütern erstreiten sowie eine Abkehr vom stehen, dann ist das gut für die Lebensqualität.
Exportmodell Deutschland, nachhaltige und Und es ist gut für das Gefühl, in einer funktio-
umfassende Investitionen ins Öffentliche, nierenden, solidarischen Gesellschaft zu leben,
eine Einschränkung der Konzernmacht, neue die nicht allein nach Nützlichkeitskriterien
Eigentumsformen und eine andere Regulie- organisiert ist und die Menschen entlang
rung der Arbeitsbeziehungen. Höhere Löhne, dieser Linie spaltet. Es wird höchste Zeit,
kürzere Arbeitszeiten, Geschlechtergerech- dass wir für ein solches Wohlstandsmodell,
tigkeit und tarifliche wie soziale Absicherung für andere Kriterien einer funktionierenden
werden nur in neuen Kämpfen gegen die Wirtschaft kämpfen. Nicht am BIP, sondern
geschlossene Phalanx der Konzerne und ihrer an der alltäglichen Lebensqualität und an der
politischen Lobby durchzusetzen sein. ökologischen Verträglichkeit muss sich der
Manchmal hört man in linken Diskus- Erfolg der Wirtschaft – und eines Wirtschafts-
sionen, dass in diesem Umbau nicht die modells – messen lassen.
vergleichsweise hohen Löhne der Kernbeleg-
schaften in der Autoindustrie zum Maßstab GEMEINSAM FÜR
genommen werden können. Warum? Wir EINEN LINKEN GREEN NEW DEAL
leben in einem der reichsten Länder der Diesen gewaltigen Veränderungsprozess
Welt, die Profite sind auf einem Rekordhoch, können wir nicht den radikalen Kräften des
die reichsten Deutschen sind Einzelhändler, Marktes überantworten. Er muss initiiert und
die nicht gerade dafür bekannt sind, gute gesteuert werden. Der Kern eines linken Green

90     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


New Deal oder eines grünen Sozialismus lässt zu übernehmen. Gleichzeitig beharren sie
sich schnell auf den Punkt bringen: Wir müs- auf ihren bisherigen Subventionen. Das ist
sen innerhalb von 15 Jahren eine klimaneutrale ein Irrweg, der nur den Automobildynastien –
Wirtschaft und Infrastruktur durchsetzen, die also den Porsches, Quandts und Klattens – die
Art und Weise, wie wir arbeiten, leben und Profite sichert. Die Abhängigkeit von privaten
wirtschaften, radikal verändern. Eine solche PKWs muss sinken. Dafür müssen Bus und
Transformation kann nur gelingen, wenn sie Bahn massiv ausgebaut werden, in den Städ-
sozial gerecht ist. Klimagerechtigkeit und ten und auf dem Land. Die Ticketpreise müss-
soziale Gerechtigkeit gehören untrennbar ten deutlich gesenkt werden, um der Mehrheit
zusammen, Solidarität ist unteilbar. der Bevölkerung bezahlbare Alternativen zum
Die LINKE darf nicht dabei stehenblei- Auto zu bieten. E-Mobilität kann ein Beitrag
ben, gute Konzepte aufzuschreiben. Ein zur sozial-ökologischen Mobilitätswende sein,
solcher Umbau kann für viele Menschen ein aber ein technologischer Antriebswechsel
attraktives Ziel sein, aber nur, wenn wir dafür allein reicht nicht aus. Die Zukunft der
organisierende Arbeit machen. Klimaschutz Automobilindustrie liegt in der CO2-neutralen
ist auch eine Klassenfrage. Der ökologische Produktion von klimafreundlichen E-Autos,
Fußabdruck steigt mit dem Einkommen. von Bussen, Straßenbahnen und Zügen und
Neue Klassenpolitik ist nicht nur eine Frage der Entwicklung von nachhaltigen Mobilitäts-
der richtigen Forderungen oder des richtigen konzepten.
Tonfalls, wie manche denken. Sie ist vor allem
die Organisierung der Klasse(-nfraktionen). SIEBEN PROJEKTE FÜR
Dafür müssen wir raus in die Nachbarschaften, EINEN GRÜNEN SOZIALISMUS
in die Betriebe, in die Busse und U-Bahnen – Wir haben sieben Projekte für linke Klimapo-
dort müssen wir den alltäglichen Wider- litik definiert. So sieht es aus, wenn wir sie
stand, den Kampf für die großen Utopien umsetzen:
organisieren. 1 // Energiewende beschleunigen, Energie-
Die Mobilitätswende wird die wichtigste konzerne vergesellschaften, Energiearmut
gesellschaftliche Auseinandersetzung der bekämpfen
nächsten Jahre, in der sich die Profitinteressen Wir wollen einen Kohleausstieg bis 2030,
der Automobilindustrie und der Internetkon- der mit der sofortigen Abschaltung der 20
zerne auf der einen und die ökologischen dreckigsten Braunkohlekraftwerke beginnt.
Interessen der Einwohner*innen und die Ar- Der Deckel auf dem Ausbau der erneuerbaren
beitsplatzinteressen der Beschäftigten auf der Energien muss weg. Der Strukturwandel
anderen Seite gegenüberstehen. Um das Klima wird nicht auf dem Rücken der Beschäftigten
zu retten, müssen die CO2-Emmissionen stattfinden, sie erhalten Sicherheit und echte
und der Energieverbrauch im Verkehrssektor Perspektiven. Die Strukturwandelgelder wer-
radikal gesenkt werden. Die Automobilkonzer- den den Anforderungen des Klimaschutzes
ne drängen den Staat, die Kosten für den Auf- gerecht, die LINKE wird die Fördermilliarden
und Ausbau der Infrastruktur für E-Mobilität an die globalen Nachhaltigkeitsziele binden.

DAS SYSTEM UMBAUEN LUXEMBURG 3/2019     91


Diese Gelder müssen soziale und ökologische Innenstädte werden frei von unnötigem
Innovationen in den Regionen und die de- Individual-Autoverkehr, Radfahrer*innen
mokratische Gestaltung des Strukturwandels und Fußgänger*innen haben Vorrang. Neben
durch die Menschen vor Ort fördern. dem Nahverkehr gibt es intelligente und
Die LINKE beschleunigt die Energiewende gemeinnützige Carsharing-Projekte. Wir
und macht sie demokratisch und sozial gerecht. wollen klimaneutrale Städte und ländliche
Strom aus Atom und Kohle in den Händen Räume mit besserer Lebensqualität und mehr
von wenigen Konzernen war gestern. Sonne, Mobilität für alle, unter Berücksichtigung
Wind und Wasser gehören allen. Sie macht unterschiedlicher Alltagsbedürfnisse und
sich für die Vergesellschaftung der großen -notwendigkeiten. Ab 2030 werden Autos mit
Energiekonzerne stark. Für eine dezentrale Verbrennungsmotor nicht mehr zugelassen.
Energiewende, der die Menschen zustimmen, Umsteuern braucht Planungssicherheit. Für
weil sie ihnen dient. Für eine Energiewende, die Produktion von Zügen, Bussen und
die das Öffentliche und die demokratische U-Bahnen müssen Kapazitäten schnell und in
Teilhabe stärkt. Stromerzeugung soll in Form großem Umfang aufgebaut werden. Die Inves-
von Genossenschaften, Bürgerenergie und titionen des Staates sowie die Verkehrspolitik
Stadtwerken organisiert sein. Die Stromnetze werden nach diesen Zielen ausgerichtet.
gehören wie Nah- und Fernwärmenetze in die 3 // Wohnen bezahlbar für alle und ökolo-
öffentliche Hand. Wir verhindern Strommo- gisch: Gebäudesanierung wird bisher genutzt,
nopole, bekämpfen Energiearmut, verbieten um einkommensschwache Mieter*innen
Stromsperren. Wir führen soziale Stromtarife zu vertreiben. Diese Praxis beendet die
ein, die einkommensarme Haushalte entlasten LINKE. Stattdessen gibt es einen gesetzlichen
und zum Energiesparen anregen. Die Preise Fahrplan für energetische Sanierungen, der
werden von der staatlichen Strompreisaufsicht Eigentümer*innen und Vermieter*innen
sozial verträglich kontrolliert. verpflichtet und gleichzeitig durch steuerliche
2 // Umsteuern für eine sozial-ökologische und direkte Förderung abgefedert wird. Woh-
Mobilität der Zukunft: Die Bahn wird von ei- nen ist ein Grundrecht, die LINKE entzieht
ner profitorientierten AG zu einer Bürgerbahn es dem Markt und gestaltet es ökologisch:
für alle entwickelt, günstig, pünktlich, gut Bezahlbarer öffentlicher und gemeinnütziger
ausgebaut. Die Bahnpreise sinken, Bahnti- Wohnungsbau in Genossenschaften und
ckets werden für alle bezahlbar und deutlich kommunalen Wohnungsbaugesellschaften
günstiger sein als Flugreisen. Der Flugverkehr wird gefördert.
wird stärker besteuert, aber durch Kontin- 4 // Regionale Kreisläufe stärken, gute Nah-
gentregelungen oder soziale Staffelung wird rungsmittel für alle: Die LINKE fördert eine
diese sozial gerecht passieren. Der Ausbau ökologische und nachhaltige Landwirtschaft.
des öffentlichen Nahverkehrs wird massiv Auch gute Ernährung ist eine soziale Frage.
vorangetrieben, und er wird kostenfrei sein. Alle erhalten Zugang zu gesunden Nahrungs-
Linker Städtebau fördert eine Stadt der kurzen mitteln, biologisch produziertes Essen wird
Wege, Verkehrsvermeidung statt Autokollaps. nicht länger eine Frage des Kontostandes

92     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


sein. Die LINKE bricht die Marktmacht der Wissen der Arbeitenden und vom Struktur-
Agrar- und Lebensmittelkonzerne. Exporte wandel Betroffenen ist unverzichtbar für die
von Billigfleisch ins Ausland treiben die Entwicklung von Innovation.
Kleinproduzenten vor Ort in den Ruin, damit 6 // Millionärssteuer für sozialen Klimaschutz
wird Schluss sein: Regionale Erzeugung, und gerechte Übergänge: Angesichts der
Verarbeitung, Vermarktung und Verbrauch von notwendigen Milliardeninvestitionen für den
Lebensmitteln machen lange Transportwege skizzierten Umbau der Industrie und Infra-
überflüssig. Die Ernährungs- und Konsumwei- struktur steht das wachsende Vermögen der
sen verändern sich, der Import von Futtermit- Multimillionäre beispielhaft für das Scheitern
teln, Agrosprit und Palmöl geht zurück und der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte.
verringert den Ressourcenverbrauch. Und Die Einführung einer Vermögensteuer zur Fi-
besser schmecken wird es auch. nanzierung dieser Zukunftsinvestitionen wird
5 // Sozial-ökologische Innovation in Industrie zum Prüfstein einer glaubwürdigen Klimapo-
und Handel, gute und sinnvolle Arbeit für alle, litik. Die LINKE bittet die Vermögenden und
Demokratie in der Wirtschaft: Um die Klima- die Konzerne zur Kasse, wodurch Zukunfts-
ziele zu erreichen, wird der Industriebereich investitionen in Klimaschutz, zukunftsfähige
umgebaut. Die Industrie muss verbindlich Arbeitsplätze und ein Transformations- und
Emissionen reduzieren. Sie entwickelt mittels Konversionsfonds für gerechte Übergänge
Vorgaben ressourcensparende, langlebige Pro- finanziert werden.
dukte, die in eine regionale Kreislaufwirtschaft 7 // Klimagerechtigkeit als historische Ver-
eingebettet sind. Die LINKE stärkt Demokratie antwortung des Nordens, Fluchtursachen
in der Wirtschaft und die Rechte der Beschäf- bekämpfen: Der hohe Ressourcenverbrauch
tigten gegenüber der Macht der Konzerne. und die Klimaschuld des Nordens treiben Men-
Gerechte Übergänge heißt: soziale Absiche- schen im globalen Süden in Armut, Migration
rung und Einkommensgarantien für die und Flucht. Immer mehr Menschen fliehen
Beschäftigten, radikale Arbeitszeitverkürzung vor Naturkatastrophen infolge des von den
mit Lohnausgleich, Recht auf Weiterbildung, Industriestaaten verursachten Klimawandels
Investitionen in tariflich abgesicherte, besser und vor der globalen Ungleichheit. Die LINKE
bezahlte und gesellschaftlich sinnvolle Arbeit tritt gemeinsam mit den Menschen aus diesen
etwa im Maschinenbau, in der Bahn(-güter)- Weltregionen auf allen Ebenen für Klimage-
produktion, in Gesundheits- und Sozialberufen, rechtigkeit, echten Klimaschutz und gegen die
in den Kommunen und in der Umwelttechnik. Ausbeutung von Mensch und Natur ein.
Am Ende steht eine sozial-ökologische Wirt- Es muss uns gelingen, die verschiedenen
schaftsdemokratie: Durch Wirtschaftsräte unter Elemente eines linken Green New Deal oder
Beteiligung der Belegschaften, der Gewerk- eines grünen Sozialismus zu einem gesell-
schaften, Umwelt- und Sozialverbände sowie schaftlichen Projekt zusammenzuführen und
gewählter Vertreter*innen der Kommunen, die Aktiven aus den unterschiedlichen Feldern
Länder und des Bundes wird der Transforma- wie der Umwelt- und der Gewerkschaftsbewe-
tionsprozess demokratisch gestaltet. Denn das gung dahinter zu versammeln.

DAS SYSTEM UMBAUEN LUXEMBURG 3/2019     93


DIE STEUERUNGSWENDE
WIRTSCHAFTSPLANUNG IM
DIGITALEN ZEITALTER
SIMON SCHAUPP UND GEORG JOCHUM

Ausmaß und Dringlichkeit der gegenwärtigen Im Folgenden skizzieren wir deshalb eine
sozial-ökologischen Krise sind wissenschaftlich mögliche Umgangsweise mit der sozial-öko-
hinreichend dokumentiert. Ökologisch steht logischen Krise, die über die Sachzwänge des
die Erde kurz vor einem irreversiblen Kollaps, Wirtschaftswachstums hinausweist. Konkret
sozial kommt es zu einer sich immer weiter geht es uns um die Potenziale, die die rasante
verschärfenden Polarisierung zwischen Arm Entwicklung der digitalen Technologien
und Reich. Die in immer neu aufgelegten für eine nachhaltige und demokratische
internationalen Abkommen und nationalen Wirtschaftssteuerung bietet. Die digitale
»Klimapaketen« gebetsmühlenartig wieder- Steuerung eröffnet neue Möglichkeiten der
holte Kombination aus Emissionshandel und Planung, die Probleme bisheriger nicht-
Ökosteuern erweist sich jedes Mal aufs Neue kapitalistischer Ökonomien, insbesondere
als unzureichend. Der Verkauf von Verschmut- deren Effizienz- und Demokratiedefizite,
zungsrechten treibt die Privatisierung der beheben könnte. Diese Utopie stützt sich
Natur weiter voran und festigt damit den kapi- auf reale aktuelle Entwicklungen: In Zeiten
talistischen Wachstumszwang, der die Berück- von Big Data und eines sich immer weiter
sichtigung ökologischer und sozialer Grenzen ausbreitenden »Überwachungskapitalismus«
strukturell ausschließt. Die Besteuerung von (Zuboff 2018), welcher den Firmen ein
Umweltverbrauch (etwa Benzinsteuern) hinge- umfassendes Wissen über die Bedürfnisse
gen fällt stets entweder so gering aus, dass sie der Kund*innen gewährt (und deren inten-
keine ausreichenden Effekte hat, oder so hoch, sivierte Manipulation ermöglicht), werden
dass sie die unteren Klassen in existenzielle Marktmechanismen systematisch durch neue
Nöte bringt, was regelmäßig zu sozialen Protes- Formen einer kybernetischen Steuerung der
ten führt. Marktförmige Nachhaltigkeit ist in Ökonomie abgelöst. Diese Entwicklungen
der Folge nicht nur sozial ungerecht, sondern liefern, wenn sie demokratisch angeeignet
auch ökologisch unwirksam (Kern 2019). werden, die objektiven Voraussetzungen für

94     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


In Zeiten von Big Data werden bisherige Marktmechanismen
durch neue Formen der kybernetischen Steuerung abgelöst,
bleiben jedoch der Profitlogik verhaftet. Dabei könnten
die neuen Technologien ihr Potenzial auch im Sinne des
Gemeinwohls entfalten.

eine dezidiert politische Transformation, die


wir als Steuerungswende bezeichnen. GEORG JOCHUM ist wissenschaftlicher Mitarbei-
ter am Lehrstuhl für Wissenschaftssoziologie
an der TU München. Schwerpunkte seiner
WIE DIE KAPITALISTISCHE DIGITALISIERUNG
Forschung sind die Themenbereiche nachhal-
DEN MARKT ÜBERWINDET
tige Arbeit, World-Ecology, Techniksoziologie
In den Sphären der Distribution und Kon- und nachhaltige Lebensführung. Gegenwärtig
sumption ist eine weitreichende Informations- steht die Wechselwirkung zwischen der sozial-
sammlung sowohl über die globalen Lieferket- ökologischen Transformation der Arbeitswelt
ten als auch über die einzelnen Kund*innen und der Digitalisierung von Arbeit im Zentrum
seines Interesses. Er ist Autor des Buches
zu konstatieren. Ein Beispiel für eine auf
»›Plus Ultra‹ oder die Erfindung der Moderne.
solcher Informationsverarbeitung basierende Zur neuzeitlichen Entgrenzung der okzidentalen
avancierte kybernetische Wirtschaftsplanung Welt« (Transcript, 2017).
ist das System des Collaborative Planning,
Forecasting and Replenishment (CPFR) des SIMON SCHAUPP arbeitet als Soziologe an
der Universität Basel. Er forscht vor allem zu
Walmart-Konzerns. Das Besondere an dieser
Fragen der Macht in der digitalen Gesellschaft
riesigen satellitengestützten Datenbank
und zu sozialer Selbstorganisation. 2017 hat er
ist, dass hier nicht nur alle Verkäufe in den das »Zentrum für Emanzipatorische Technikfor-
Waltmart-Supermärkten erfasst sind, sondern schung« mitbegründet. Er ist Mitherausgeber
diese mit den ebenfalls in das System einflie- der Bücher »Kybernetik, Kapitalismus, Revo-
ßenden Produktionsdaten aller Zulieferer ver- lutionen. Emanzipatorische Perspektiven im
technologischen Wandel« (Unrast, 2017) und
rechnet werden. So verbindet die Datenbank
»Digitalization in Industry: Between Domination
Bedarfsprognosen mit den Lieferanten und and Emancipation« (Palgrave, 2019).
verteilt in Echtzeit Verkaufsdaten aus den Kas-
sen entlang der gesamten Lieferkette. Durch
dieses kollaborative Vorgehen wird sowohl die

DIE STEUERUNGSWENDE LUXEMBURG 3/2019     95


Produktion als auch die Distribution der Güter Big Data als obsolet erweist. Der Kapitalismus
an den tatsächlichen Verbrauch gekoppelt. entwickelt Steuerungskräfte (Jochum/Schaupp
Eine solche Kollaboration widerspricht jedoch 2019), was die immer schon ideologische An-
den grundlegenden Prinzipien der Marktwirt- nahme einer Notwendigkeit des freien Marktes
schaft, nach denen Planung nur im einzelnen als zentraler Steuerungsinstanz endgültig
Unternehmen stattfinden kann, während relativiert. Zugleich erfordert die ökologische
Märkte von der Konkurrenz zwischen diesen Krise eine die expansive Landnahmelogik des
Unternehmen geprägt sein müssten. Kapitalismus begrenzende bzw. beendende
Steuerung der Ökonomie.
Vonnöten wird eine neue Form der
Der Kapitalismus entwickelt
g­esellschaftlichen Nutzung der Steuerungs-
Steuerungskräfte, was die immer kräfte, damit deren Potenziale erschlossen
schon ideologische Annahme werden. Der unter dem Begriff Industrie 4.0
geführte technikdeterministische und markt-
einer Notwendigkeit des freien orientierte Diskurs um die Zukunft der Arbeit
Marktes als zentraler Steuerungs- blendet diese Steuerungsfragen allerdings
eher aus und sieht politische Eingriffe in die
instanz endgültig relativiert. Technikentwicklung vorwiegend für notwen-
dig an, um Deutschland einen vorderen Rang
Auch die Preisbildung selbst löst sich im Zuge im globalen Digitalisierungswettstreit zu
der Digitalisierung immer weiter von den sichern. Dem wäre die Vision einer Nutzung
klassischen Marktmechanismen. So vertraut der digitalen Technologien für eine Neuer-
beispielsweise Amazon, aber auch andere findung des Politischen und Ökonomischen
Konzerne mit datengetriebenem Geschäfts- entgegenzustellen. Erforderlich ist eine Steu-
modell, keineswegs den Mechanismen von erungswende, welche die neuen Steuerungs-
Angebot und Nachfrage. Stattdessen wird ein technologien in den Dienst von Gesellschaft
System des dynamic pricing eingesetzt, das und Natur stellt.
jedem Kunden individuelle Preise anzeigt.
Während Marktpreise immer das Resultat des FÜR EINEN PLATTFORM-KOOPERATIVISMUS
Verhältnisses der aggregierten Nachfrage zum Mit dem Begriff der Steuerungswende
aggregierten Angebot sind, beruht das dynamic beschreiben wir die Utopie einer gesellschaftli-
pricing auf Informationen über die einzelnen chen Aneignung der entwickelten Steuerungs-
Kund*innen. Die Preisbildung wird zum Re- kräfte, die eine Überwindung der sozial und
sultat eines groß angelegten Datenerhebungs- ökologisch problematischen Marktsteuerung
prozesses 1. Zusammenfassend sei an dieser erlaubt. In aktuellen Debatten um die sozial-
Stelle festgehalten, dass die Grundannahme ökologische Zukunft der Gesellschaft wird
der neoliberalen Ideologie, dass nur der Markt eine grundlegende Energiewende eingefordert,
einen umfassenden Informationssammlungs- welche die sukzessive Ersetzung der die
prozess ermöglicht, sich heute in Zeiten von industriegesellschaftliche Moderne prägenden

96     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


fossilen Energieformen durch alternative, »Sharing Economy« befördern will. Eine
erneuerbare Energieformen ermöglicht. In derartige politische Regulierung könnte unter
Analogie kann man von der Notwendigkeit anderem einen Plattform-Kooperativismus
einer Steuerungswende sprechen, infolge unterstützen, der die Defizite der kapita-
derer das die kapitalistische Moderne do- listisch angeeigneten »Sharing-Economy«
minierende Steuerungsmedium Geld an überwindet. Bereits heute lassen sich viele
Bedeutung verliert und zunehmend durch erfolgreiche Beispiele eines plattformbasierten
alternative Steuerungsformen ergänzt und Genossenschaftswesens benennen, wie der
ersetzt wird. Dies impliziert keineswegs eine gewerkschaftlich unterstützte gemeinnützige
Rückkehr zu staatszentrierten planwirtschaft- Taxidienst Transunion Car Service in New
lichen Steuerungsmodellen. Vielmehr kann Jersey. Ähnliches lässt sich hinsichtlich des
an die nicht ausgeschöpften Potenziale der emanzipatorischen Potenzials der Distributed-
Kybernetik (Schaupp 2017) sowie an Debatten Ledger-Technik (DLT) konstatieren, das heißt
um gemeinschaftsbasierte Steuerungsformen digital verteilter Kassenbücher und insbeson-
angeknüpft werden. dere der Blockchain-Technologien, die nicht
Elinor Ostrom (1990) hat in »Governing nur Grundlage alternativer Geldsysteme sind.
the Commons« deutlich gemacht, dass Mit ihnen sind auch Hoffnungen auf hierar-
gemeinschaftliche Regulierungsformen häufig
zu einer effektiveren Ressourcenverwaltung Der unter dem Begriff Industrie 4.0
beitragen als staatliche und marktliche
Regulierungsformen. Mit den neuen digitalen geführte technikdeterministische
Technologien und Plattformen gehen Möglich- und marktorientierte Diskurs
keiten einer Modernisierung und Ausweitung
um die Zukunft der Arbeit blendet
dieser gemeinschaftsbasierten Steuerungs-
formen einher. Zwar sind die Hoffnungen Steuerungsfragen eher aus.
auf eine gleichsam automatisch den digitalen
Technologien innewohnende Tendenz zur Be- chiefreiere Wirtschaftsbeziehungen verbun-
förderung einer postkapitalistischen »Sharing den und es werden Chancen zur Realisierung
Economy«, die durch »Collaborative Com- einer nachhaltigen Entwicklung gesehen,
mons« (Rifkin 2014) gekennzeichnet ist, einer unter anderem eine effizientere Überwachung
Ernüchterung gewichen. Durch die Übernah- von Umwelt- und Arbeitsstandards in Liefer-
me der Idee einer Ökonomie des Teilens durch ketten (GIZ 2019).
Unternehmen des Plattform-Kapitalismus kam Auch hier macht sich allerdings Ernüchte-
es zu einer Erosion von Arbeitsstandards und rung breit. So ermöglichen im Bereich der
ökologisch negativen Rebound-Effekten. Landwirtschaft Blockchain-Technologien
Dies macht deutlich, dass ein politischer eine sichere Speicherung und Kontrolle aller
Gestaltungsbedarf zur gesellschaftlichen Transaktionen entlang der Lieferketten, die
(Wieder-)Aneignung der Plattform-Ökonomie in Verbindung mit Big-Data-Technologien
besteht, wenn man die positiven Effekte der der Gewinnsteigerung dienen. Kritiker*innen

DIE STEUERUNGSWENDE LUXEMBURG 3/2019     97


verweisen neben ökologisch problematischen projekte. Notwendig ist eine Zurückdrängung
Nebenfolgen auf eine zunehmende Konzern- der Bedeutung des Marktes für die gesamte
macht sowie eine Verdrängung von Kleinbau- Ökonomie, ohne in eine hierarchische Plan-
ern: »Blockchains in der Landwirtschaft sind wirtschaft zurückzufallen. Auch hier können
nichts anderes als die digitale Durchsetzung digitale Technogien einen Beitrag leisten. Die
des ›Rechts des (Rechen-)Stärkeren‹.« oben skizzierten Formen einer Steuerung
(Drechsel/Dietz 2019, 178) jenseits des Marktes, die aktuell noch inner-
halb der kapitalistischen Ökonomie entwickelt
Mit der Steuerungswende werden, wären hierfür zu »emanzipieren« und
demokratisch anzueignen.
­beschreiben wir die Utopie einer Anstelle eines einzigen bürokratisch
gesellschaftlichen Aneignung der angeordneten Wirtschaftsplans ließe sich
zum Beispiel durch den Einsatz von digitalen
entwickelten Steuerungskräfte, die Softwareagenten eine Vielzahl von Plänen zur
eine Überwindung der sozial und demokratischen Deliberation generieren. In
einer postkapitalistischen Gesellschaft könn-
ökologisch problematischen
ten diese dazu genutzt werden, automatisch
Marktsteuerung erlaubt. riesige Mengen aggregierter ökonomischer
Daten für demokratische Entscheidungen
Deswegen sollte aber der Einsatz der Distri- aufzubereiten. Mit ihnen ließen sich multiple
buted-Ledger-Technik zur Beförderung einer Planoptionen, einschließlich deren ökologi-
solidarischeren und ökologischeren Ökonomie schen und sozialen Auswirkungen, berechnen
nicht grundsätzlich verworfen werden. Als und zur Abstimmung bereitstellen. Diese
Alternative zu Blockchain wird die Holochain- Pläne könnten dann, wie Nick Dyer-Witheford
Technologie diskutiert. Diese ist nicht nur (2013, 12) fordert, auf in Gemeineigentum
energieeffizienter, sondern auch dezentraler überführten Social-Media-Plattformen
und könnte demokratische und commons- diskutiert und abgestimmt werden, wenn »Fa-
freundliche Systeme unterstützen. Potenziale cebook, Twitter, Tumblr, Flickrr und andere
werden unter anderem in der Unterstützung Web-2.0-Plattformen nicht nur zu selbstver-
der Organisation von Netzwerken der solidari- walteten Betrieben ihrer Arbeiter werden,
schen Landwirtschaft oder der gemeinschaft- sondern auch zu Foren für die Planung«.
lichen Erzeugung nachhaltiger Energie (z. B. Damit wäre eine zentrale Planungsbehörde,
»Solar Commons«) gesehen (Helfrich/Bollier, die einen einzigen verbindlichen Plan erstellt
301ff). Allerdings wäre es naiv, allein auf die und durchsetzt, endgültig obsolet.
transformative Wirkung einzelner commons- Digitale Feedbackinfrastrukturen könnten
orientierter Projekte zu hoffen. Innerhalb einer so, wie etwa Evgeni Morozov (2019) nahelegt,
weiterhin durch Marktkonkurrenz geprägten genutzt werden, um »Nicht-Märkte« zu schaf-
und wachstumsorientierten kapitalistischen fen. Damit würden sich die bisher zu konsta-
Ökonomie blieben diese wohl letztlich Nischen- tierenden enormen Aufmerksamkeitskosten

98     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


einer demokratischen Wirtschaftssteuerung verabschieden, und breite Bündnisse für eine
(etwa mittels Arbeiterräten) drastisch reduzie- sozial-ökologische A
­ ufhebung des Kapitalis-
ren, sodass eine radikaldemokratische Deli- mus schmieden.
beration über komplexe ökonomische Fragen
technisch in den Bereich des Möglichen rückt. Dieser Beitrag geht zurück auf den Artikel beider
Einhergehen könnte diese Steuerungs- Autoren »Die Steuerungswende«, erschienen in:
wende auch mit einer grundlegenden Butollo/Nuss (Hg.) »Marx und die Roboter« (2019).
gesellschaftlichen Neuorientierung im
Sinne der Abkehr vom Ziel der Gewinn- 1 Für weitere Ausführungen zu Walmart und Amazon
siehe Leigh Phillips und Michal Rozworski (2019).
maximierung, wie es im Zentrum des
Steuerungsmediums Geld stand. Durch
LITERATUR
demokratische digitale Planung könnte die Drechsel, Franza/Dietz, Kristina, 2019: Drohnen, Roboter,
Produktion statt an die Maximierung von synthetische Nahrungsmittel. Digitalisierung in der
Landwirtschaft, in: Butollo, Florian/Nuss, Sabine (Hg.),
Profiten direkt an menschliche Bedürfnisse Marx und die Roboter, Berlin, 178–195
und die natürlichen Grenzen des Planeten Dyer-Witheford, Nick, 2013: Red Plenty Platforms, in: Cul-
ture Machine, Vol. 14, 1–27
gekoppelt werden. Beispielsweise ergibt sich GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammen-
aus den Berichten des Weltklimarates, dass arbeit, 2019: Blockchain for Sustainable Development,
www.giz.de/de/downloads/giz2019-EN-Blockchain-
bis 2050 weltweit noch ein »Budget« von Promising-Use-Cases.pdf
Helfrich, Silke/Bollier, David, 2019: Frei, fair und lebendig –
500 Gigatonnen CO2-Emissionen verbleibt,
Die Macht der Commons, Bielefeld
um einen ­irreversiblen Klimakollaps zu Jochum, Georg, 2017: »Plus Ultra« oder die Erfindung der
Moderne. Zur neuzeitlichen Entgrenzung der okziden-
verhindern. Nur eine Ablösung des Prinzips
talen Welt, Bielefeld
des unbegrenzten Wirtschaftswachstums Ders./Schaupp, Simon, 2019: Die Steuerungswende. Zur
Möglichkeit einer nachhaltigen und demokratischen
durch Planung kann sicherstellen, dass diese Wirtschaftsplanung im digitalen Zeitalter, in: Butollo,
Grenze eingehalten wird. Um zu vermeiden, Florian/Nuss, Sabine (Hg.), Marx und die Roboter. Ver-
netzte Produktion, Künstliche Intelligenz und lebendige
dass diese Planung totalitäre Züge annimmt, Arbeit, Berlin, 328–344
sind durch digitale Technologien ermöglichte Kern, Bruno, 2019: Das Märchen vom grünen Wachstum.
Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesell-
neue Formen einer ausgeweiteten demokra- schaft, Zürich
tischen Teilhabe unabdingbar. Damit wäre Morozov, Evgeny, 2019: Digital Socialism? The Calculation
Debate in the Age of Big Data, in: New Left Review 116,
die Basis geschaffen für ein fundamentales 33–67
Umsteuern hin zu einer sozial und ökolo- Ostrom, Elinor, 1990: Governing the Commons: The Evolution
of Institutions for Collective Action, Cambridge
gisch solidarischen Ökonomie. Ein solcher Phillips, Leigh/Rozworski, Michal, 2019: People's Republic
Kurswechsel wird jedoch nicht durch die of Wal-Mart. How the World’s Biggest Corporations are
Laying the Foundation for Socialism, London
Entwicklung der S ­ teuerungskräfte selbst Rifkin, Jeremy, 2014: The Zero Marginal Cost Society, New
vollzogen, sondern bedarf einer politischen York
Schaupp, Simon, 2017: Vergessene Horizonte. Der kyberneti-
Bewegung. Die ­aktuelle außerparlamentari- sche Kapitalismus und seine Alternativen, in: Bucker-
mann, Paul/Koppenburger, Anne/Schaupp, Simon (Hg.),
sche Klima­bewegung stellt hier den größten
Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen. Emanzipatori-
Hoffnungsträger dar. Sie müsste jedoch den sche Perspektiven im technologischen Wandel, Münster,
51–73
Mut fassen, sich von den konventionellen Zuboff, Shoshana, 2018: Das Zeitalter des Überwachungska-
Maßnahmen der Umweltbepreisung zu pitalismus, Frankfurt a. M./New York

DIE STEUERUNGSWENDE LUXEMBURG 3/2019     99


INVESTITIONEN
INVESTITIONEN
FOR FUTURE
FOR FUTURE
ODER
ODERSCHWARZE
SCHWARZENULL
NULL FOR EVER?
FOR EVER?
MORITZ WARNKE
MORITZ WARNKE
Über Jahre wie eine heilige Kuh gehandelt, ist die
Schuldenbremse zurück in der Debatte. Fünf Dinge
muss die Linke jetzt stark machen, um die grüne Null
mit einer guten sozialen Infrastruktur durchzusetzen.

Die Schuldenbremse steht seit 2009 im


Grundgesetz und gilt ab 1. Januar 2020 auch MORITZ WARNKE arbeitet am Institut für Ge-
für die Bundesländer. Ihre Einführung wurde sellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung
als Referent für Soziale Infrastrukturen und ist
damit begründet, dass sonst ein unkontrol-
Redakteur dieser Zeitschrift.
lierbarer Schuldenberg für nachwachsende
Generationen drohe. Bundes- und später auch
Landeshaushalte wurden darauf verpflichtet, Investitionsstau allein bei den Schulen wird
den gesellschaftlichen Wandel und Zukunftsin- aber auf etwa 5 Milliarden Euro geschätzt. Im
vestitionen aus den laufenden Einnahmen, also Bundestag war die Haltung zur Schuldenbrem-
ohne neue Schulden, zu bestreiten. Das ist eine se bisher übersichtlich: DIE LINKE lehnte sie
irre Idee. Man stelle sich vor, im Nachkriegs- ab, während sich alle anderen dort vertretenen
deutschland hätte man versucht, den Wieder- Parteien bisher zur Schuldenbremse bekann-
aufbau von Straßen und Häusern lediglich aus ten. Die Kritik von Linken und Gewerkschaften
laufenden Einnahmen und nicht über Kredite blieb so richtig wie folgenlos. Doch derzeit
zu finanzieren. Auch in der Privatwirtschaft kommt Bewegung in die Sache.
klingt solch eine Idee absurd: Weder ein kleiner
Industriebetrieb noch die Tech-Giganten aus INVESTITIONSSTAU UND NEGATIVZINSEN
dem Silicon Valley könnten ihr Geschäft ohne Anfang des Jahres stellte der Chef des arbeit-
kreditfinanzierte Investitionen zukunftsfest gebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft
ausrichten. Genau das verlangt die Schulden- (IW), Michael Hüther, die bestehende Regelung
bremse aber vom Staat. Selbst in wirtschaftlich zur Schuldenbremse infrage und meldete
guten Zeiten geht die Rechnung nicht auf. So Korrekturbedarf an. Statt zur Erfüllung der
erwirtschaftete etwa das Land Berlin in den schwarzen Null etwa bei den Sozialausga-
letzten beiden Jahren einen Haushaltsüber- ben zu kürzen, würde bei für den Standort
schuss von etwa 2 Milliarden Euro pro Jahr, der Deutschland dringend benötigten Investitionen

INVESTITIONEN FOR FUTURE   LUXEMBURG 3/2019     101


gespart. Hüther forderte daher eine »innova- Und die Situation wird immer irrer. Denn
tions- und wachstumspolitische Öffnung der die weltweite Überakkumulationskrise führt
Schuldenbremse« (Reeh 2019). Laut seines im dazu, dass es riesige Mengen an Kapital
März vorgestellten Papiers soll es zukünftig gibt, das nicht weiß, wohin, und deshalb von
einen vom Rest des Bundeshaushalts getrenn- Investor*innen gerne in als sicher geltenden
ten Investitionshaushalt geben, der von der Staatsanleihen geparkt wird. Für diese »Sicher-
Schuldenbremse ausgenommen wird. Der Rest heit« sind sie mittlerweile bereit, der Bundes-
des Haushalts würde aber weiter unter den republik Deutschland Geld zu Negativzinsen
bisher geltenden Vorgaben bleiben (Hüther zu leihen. Das heißt: Die Bundesrepublik leiht
2019). Langjährige Kritiker*innen der Schul- sich für zehn Jahre Geld und muss am Ende
denbremse wie Gustav Horn und Katja Rietzler der Laufzeit weniger Geld zurückzahlen, als
vom gewerkschaftsnahen Institut für Makro- sie sich geliehen hat. Rechnet man die Infla-
ökonomie und Konjunkturforschung (IMK) tion mit ein, also den realen Wertverlust des
können sich in ihrer Kritik bestätigt sehen. Geldes, bekommt man einen noch niedrigeren
Diese Debatte schlug auch ins politische Rückzahlungsbetrag. Für einen Euro, den sich
Berlin durch. Im Mai diskutierte die grüne Bun- die Bundesrepublik für eine Zukunftsinvestiti-
destagsfraktion unter anderem auf der Grundla- on heute leiht, muss sie in zehn Jahren nur 90
ge eines Positionspapiers von Danyal Bayaz und Cent zurückzahlen – sie verdient Geld, indem
Anja Hajduk (2019), Haushaltspolitiker*innen sie sich Geld leiht. Oder wie es der Ökonom
und Realos, in dem mit Verweis auf den Inves- Südekum in einem Streitgespräch in der Zeit
titionsstau eine Korrektur der Schuldenbremse formulierte: »Man muss sich das so vorstellen:
gefordert wird. Sie wollen die Schuldenbremse Da liegen 50-Euro-Scheine auf dem Bürger-
nicht abschaffen, sondern so modifizieren, steig, und wir heben sie nicht auf.« (Fuest et al.
dass in bestimmten Feldern kreditfinanzierte 2019) Rechnerisch ist das nicht nachvollziehbar,
Investitionen möglich werden. Auch in der SPD insbesondere wenn gleichzeitig ein massiver
mehren sich die Stimmen für eine Reform. In Investitionsbedarf besteht, der selbst von Teilen
der Tat sind die Zahlen dramatisch. Laut einer des Kapitals angemahnt wird. Die derzeit vor
Studie vom Deutschen Institut für Wirtschafts- der Tür stehende Rezession trägt nicht zur
forschung (DIW) wird seit Jahren so wenig in Entspannung der Lage bei. So forderte Joachim
die kommunale Infrastruktur investiert, dass Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesver-
nicht einmal der von den Ökonom*innen bands der Deutschen Industrie, eine Abkehr
errechnete Wertverlust kompensiert wird (Gor- von der schwarzen Null, um Konjunkturimpul-
nig et al. 2015). Das Land wird auf Verschleiß se für die Wirtschaft setzen zu können.
gefahren. Die propagierte Generationenge-
rechtigkeit, mit der über Schulden finanzierte INVESTITIONSOFFENSIVE: FÜNF DINGE,
Investitionen verteufelt werden, verkehrt sich DIE DIE LINKE JETZT STARKMACHEN MUSS
so ins Gegenteil: Wir hinterlassen unseren Unbestritten ist, dass der Investitionsbedarf
Kindern ein marodes Land und bürden ihnen riesig ist. Das sieht selbst die Bundesregie-
die Kosten hierfür auf. rung so. Das von Seehofer vorangetriebene

102     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Heimatministerium wurde in ersten Reak- die meisten dieser Baustellen, wenn auch
tionen wegen des ideologischen Heimat- weitgehend ohne Lösungsvorschläge. Zwi-
Framings von vielen belächelt. Zieht man schen Umweltverbänden, Großkonzernen
jedoch den ideologischen Heimat-Klimbim und den unterschiedlichen Parteien gibt es
ab, steht dahinter die nüchterne Einsicht, teils erhebliche Meinungsdifferenzen darüber,
dass der Bund sich stärker in der Struktur- in welche Bereiche wieviel investiert werden
und Regionalpolitik engagieren muss. Oder sollte. Dass in die materielle Infrastruktur
anders gesagt: Es geht nicht um Dirndl und des Landes investiert werden muss, ist aber
Lederhosen für alle, sondern um Investitionen unstrittig.
in die Fläche. Um die Bedarfe qualifiziert zu 2 // Kommunales Austeritätsregime beenden
ermitteln, hatte die Bundesregierung im Som- Die Situation ist für viele Kommunen untrag-
mer 2018 die Kommission »Gleichwertige bar geworden. Wie die kürzlich erschienene
Lebensverhältnisse« eingesetzt. Die Ergebnis- Studie »Die Zukunft der Regionen« vom
se wurden in einen »Plan für Deutschland« Institut der deutschen Wirtschaft gut her-
überführt und im Juli 2019 vorgestellt. Dieser ausgearbeitet hat, haben die Probleme der
Plan ist aber ungenügend und umfasst nur bankrotten Kommunen so wenig mit unfähi-
eineinhalb der fünf Maßnahmen und Investi- gen Kämmerern zu tun wie die Eurokrise mit
tionsprogramme, deren Umsetzung jetzt drin- den vermeintlich faulen Griechen (Hüther
gend geboten ist, um den gesellschaftlichen et al. 2019). Die Kommunen müssen einen
Herausforderungen angemessen zu begegnen. Großteil ihrer finanziellen Mittel für vom
Mit Blick auf die Vorschläge für eine Reform Bundesgesetzgeber festgelegte Aufgaben
der Schuldenbremse ist es zentral, den Begriff ausgeben (z. B. Wohnkosten für Hartz-IV-
Investition breit zu fassen. Die Linke inner- Bezieher*innen). Um überhaupt weitere
halb und außerhalb des Parlaments sollte »freiwillige Leistungen« wie Schulen, Kitas
dazu mit einer eigenen Agenda, deren Inhalt und Straßen oder Spielplätze finanzieren zu
im Folgenden kurz skizziert werden soll, für können, müssen sich die Kommunen mit
die Modernisierung des Landes streiten. sogenannten Kassenkrediten über Wasser
1 // Investitionen in materielle Infrastrukturen halten, häufen Schulden an und werden damit
Die Themen liegen im Grunde genommen auf zu »Pleite-Kommunen«. Ab einem bestimm-
der Straße: Es geht um Investitionen in eine ten Niveau der Verschuldung werden sie unter
Mobilitätswende (vor allem Bus, Bahn und Haushaltskontrolle gestellt, eine Art Troika für
Fahrrad), um die Verbesserung des allge- die Kommunen.
meinen Zustands von Straßen, Brücken und Die Bundesregierung erkennt mittler-
öffentlichen Gebäuden, um den Breitbandaus- weile das Problem an, hält sich aber, was die
bau, um bessere Sportplätze, Krankenhäuser, Lösungsschritte angeht, bedeckt. Der Städtetag
Strom- und Wassernetze und so weiter, auch fordert einen Schuldenschnitt. Dieser müsste
in weniger dicht besiedelten Gebieten. Auch sich jedoch verbinden mit einer grundlegenden
der bereits erwähnte Bericht der Kommission Reform, mit der strukturschwache Regionen
und der Plan der Bundesregierung nennen und Kommunen – unabhängig von der Him-

INVESTITIONEN FOR FUTURE   LUXEMBURG 3/2019     103


melsrichtung – besser ausgestattet werden. DIE Quersubventionierung von klimafreundlichen
LINKE hat dazu verschiedene Vorschläge ge- Technologien und entsprechender Forschung
macht. Sie fordert unter anderem eine bessere beispielsweise zur Konversion der Autoindust-
Finanzausstattung der Kommunen, die Über- rie. Diese Investitionen sind auch deshalb bitter
nahme von Kosten der Grundsicherung durch nötig und ökonomisch sinnvoll, weil damit
den Bund sowie die Einrichtung einer Rekom- die anstehenden gesellschaftlichen Kosten
munalisierungsagentur auf Bundesebene, die der Klimawandel-Adaption reduziert werden
Gemeinden beim Rückkauf ihrer Infrastruktur könnten: etwa wenn Landstriche zunehmend
unterstützen würde. Handlungsfähige Kom- unbewohnbar und dadurch gegebenenfalls
munen sind für eine gute soziale Infrastruktur neue Fluchtbewegungen ausgelöst werden, die
unerlässlich – und nebenbei bemerkt auch eine Landwirtschaft mit starken Temperatur- und
Grundvoraussetzung für eine funktionierende Wetterschwankungen und deshalb Ernteausfäl-
Demokratie. Die Schuldenbremse wirkt hier len zu kämpfen hat, die Pflege von grüner Inf-
auch als Demokratiebremse. rastruktur in den Städten teurer und angesichts
3 // Investitionen in die »grüne Null« überhitzter Städte gleichzeitig wichtiger wird.
Fridays for Future in Realpolitik übersetzen 4 // Investitionen in mehr Personal
bedeutet, ein riesiges Investitionspaket Es ist entscheidend für eine linke Perspektive,
aufzulegen, um die »grüne Null«, also eine Ge- dass es beim Thema Investitionen nicht nur
sellschaft mit neutraler CO2-Bilanz, möglichst um Sachinvestitionen geht, sondern auch um
schnell zu erreichen. Das ermöglicht neue Al- Personal. Ziel muss ein öffentlicher Dienst
lianzen gegen die Schuldenbremse. Das Argu- sein, der den Herausforderungen der Zukunft
ment der Generationengerechtigkeit, mit dem gewachsen ist und die bereitgestellten Milli-
Konservative und Neoliberale kreditfinanzierte arden auch sinnvoll verplanen und ausgeben
Investitionen blockieren, blamiert sich an der kann. Dies ist bei der gegenwärtig absolut un-
Realität: Wem nützt es, wenn die kommenden zureichenden Investitionshöhe schon schwie-
Generationen kaum Schulden auf dem Konto, rig und eines der größten Probleme. Statt
dafür aber keinen bewohnbaren Planeten mehr genügend Stadtplaner*innen, Architekt*innen,
haben? Ein Teil der notwendigen Schritte wird Förster*innen und IT-Spezialist*innen
bereits diskutiert, auch in Regierungskreisen, auszubilden und einzustellen, wird derzeit
wie etwa ein Ausbau der klimafreundlichen argumentiert, dass man ohnehin nicht mehr
Mobilitätsinfrastruktur. Aber es geht um mehr: investieren könne. Ein gefährlicher Zirkel-
Gezielte staatliche Investitionen in die energe- schluss. Und es gibt natürlich auch Bereiche,
tische Modernisierung von Gebäuden würden in denen mehr Personal mehr Einnahmen
den notwendigen Klimaschutz vorantreiben bringt – Stichwort: Steuervollzug. Wohlstand
und das bisherige Geschäftsmodell einiger bemisst sich nicht zuletzt am Zustand der
Vermieter, solche Modernisierungen für exor- gesellschaftlichen Bereiche, in denen es um
bitante Mietsteigerungen zu nutzen, durch- reproduktive Tätigkeiten und Care-Arbeit geht,
kreuzen. Ein zügiger Ausstieg aus der Kohle etwa in Krankenhäusern, Kitas, Schulen oder
darf genauso wenig am Geld scheitern wie die in der Pflege. Wer gute soziale Infrastrukturen

104     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


will, braucht mehr Investitionen auch und Investitionsplanung und einer demokrati-
dringlich in diesem Bereich. Und wir müssen schen Verwaltung der für die Daseinsvorsorge
entsprechend den Deutungskampf darüber notwendigen Unternehmen und Betriebe. Die
aufnehmen, ob Investitionen in den öffentli- Investitionsoffensive muss auch ein demokra-
chen Dienst auch als solche bezeichnet werden tischer Aufbruch sein: anders leben, besser
oder ob dieser Begriff nur für Breitband oder leben, mehr Demokratie wagen.
Elektrobusse gelten soll. Wesentliche Zukunftsfragen lassen sich,
5 // Investitionen in den öffentlichen Sektor solange wir das Austeritätsregime der Schul-
statt Subventionen für private Unternehmen denbremse nicht hinter uns lassen, nicht wirk-
Eine gesellschaftliche Investitionsoffensive lich angehen. Durch die aktuelle Debatte ist ein
muss sich mit einem Pfadwechsel verbinden, Möglichkeitsfenster aufgestoßen worden. Es
damit es nicht am Ende lediglich bei staatlicher wird deutlich, dass die bisherige realpolitische
Wirtschaftsförderung bleibt: Soziale Infrastruk- Perspektive der LINKEN, die Schuldenbremse
turen dürfen nicht vom Profitinteresse von lediglich punktuell und trickreich in den
Privaten abhängig sein. Beim Thema sozialer Ländern zu umgehen, in denen sie mitregiert
Wohnungsbau hat sich mittlerweile herumge- (siehe z. B. »Schulbauoffensive« des Berliner
sprochen, dass es ein Irrweg ist, diese Woh- Senats), nicht ausreicht, um den notwendigen
nungen von Privaten bauen zu lassen. Wenn gesellschaftlichen Wandel auf den Weg zu brin-
öffentliches Geld fließt, sollten die Wohnungen gen. Um sie in ihrer jetzigen Form zu kippen,
auch der öffentlichen Hand gehören. Das ist so bedarf es einer gesellschaftlichen Auseinander-
einfach und einleuchtend, wie es in Deutsch- setzung darum. Und das heißt: Weil der Status
land leider immer noch revolutionär klingt. quo inakzeptabel ist, muss dagegen rebelliert,
Beim Thema Mobilfunk soll laut Bundes- müssen die Regeln der Schuldenbremse außer
regierung geprüft werden, ob eine staatliche Kraft gesetzt oder gebrochen werden. So viel
Infrastrukturgesellschaft gegründet wird, ökonomische und gesellschaftspolitische
um Mobilfunkmasten in jenen Gegenden Seriosität sind wir unseren Kindern schuldig.
aufstellen zu können, in denen sich das für
private Unternehmen nicht rechnet. Der Staat
darf aber nicht zum »Lückenbüßer« werden, LITERATUR
nach dem Motto: Gewinnbringende Infra- Bayaz, Danyal/Hajduk, Anja, 2019: Investitionen sind wichti-
ger als das Symbol »schwarze Null«
struktur überlassen wir den Privaten, der Staat Fuest, Clemens/Hüther, Michael/Rietzler, Katja/Schmidt,
springt immer dann ein, wenn es sich um ein Wolfgang/Südekum, Jens, 2019: Fehlt hier das Geld?,
Streitgespräch, in: Die Zeit, 26.6.2019.
Minusgeschäft handelt. Eine größere öffent- Gornig, Martin/Michelsen, Claus/van Deuverden, Kristina,
2015: Kommunale Infrastruktur fährt auf Verschleiß, in:
liche Verfügungsgewalt ist auch unter demo-
DIW-Wochenbericht, Nr. 43/2015,
kratiepolitischer Perspektive sinnvoll. Für die Hüther, Michael/Südekum, Jens/Voigtländer, Michael (Hg.),
2019: Die Zukunft der Regionen in Deutschland – Zwi-
Linke verbindet sich damit die Aufgabe, eine schen Vielfalt und Gleichwertigkeit
Investitionsoffensive auch mit einer Demokra- Hüther, Michael, 2019: 10 Jahre Schuldenbremse – ein Kon-
zept mit Zukunft? IW-Policy Paper 3/19, 26.3.2019
tisierung der verschiedenen Lebensbereiche Reeh, Martin, 2019: Hüther gegen Schuldenbremse, in: taz
zu verbinden, also einer partizipativen online, 27.3.2019

INVESTITIONEN FOR FUTURE   LUXEMBURG 3/2019     105


WER
SCHREIBT
GESCHICHTE?
RÜCKBLICKE AUF DIE WENDEZEIT

ANNETT GRÖSCHNER X NORBERT NIEMANN X HEIKE GEISSLER

1989/90 war eine Zäsur in der deutschen Geschichte.


Die Hoffnungen auf eine Demokratisierung und Erneuerung
des Sozialismus in der DDR wurden schnell von den
­Ereignissen überrollt. Autor*innen der deutschsprachigen
Gegenwartsliteratur reflektieren die Ereignisse
der Wendezeit aus ihrer persönlichen Perspektive.
MEHR ALS EIN MAUERFALL
ERINNERUNGEN
ANNETT GRÖSCHNER

Je älter ich werde, desto schneller vergeht die Zeit. Im letzten Jahr dachte ich, oh, schon
gleich wieder fünf Jahre um, was kommt dieses Jahr in Sachen Erinnerungskultur? Wer hat
diesmal die Mauer geöffnet und den Ostdeutschen das Paradies geschenkt? Will ich mich
daran beteiligen, indem ich das Ganze von der Seite kommentiere und eine andere Erzäh-
lung dagegensetze, oder setze ich mal zehn Jahre aus und sortiere meine Erinnerungen?
Wobei das mit der Erinnerung immer so eine trügerische Sache ist. Man erinnert sich nach
Jorge Luis Borges ja immer nur an die letzte Erinnerung der Erinnerung. Die Gefahr besteht
darin, dass sie durch häufigen Gebrauch so glatt erzählt wird, dass sie Unkundigen logisch
vorkommt, mit der damals erlebten Gegenwart aber nicht mehr allzu viel zu tun hat. Diese
war roher und verzweifelter, grandioser und zugleich voller unlösbarer Widersprüche und so
rasant, dass ich nicht mal dazu kam, meine Träume auf-
… die Ost-West-Dichotomien haben sich
zuschreiben, wie ich es vorher und danach doch immer
tat – unzensierte Erzählungen meines Unterbewusst- in den letzten fünf Jahren wieder verstärkt,
seins, in denen ich vor dem Fall der Mauer oft in den was einerseits mit einer stärker gewordenen
Westen ging, wo es aussah wie zu Hause, nur bunter Identitätspolitik zu tun hat,
und mit mehr Reklame, was sich im Fall von Westberlin aber auch mit den nicht verarbeiteten Folgen
ja dann durchaus auch in der Realität als richtig erwies. des Einigungsprozesses.
Vom Jahr 1990 blieben nur wenige Träume überliefert,
einer war ganz kurz und ging so: »Ich ging mit einem Mann ins Bett, der hatte Werbung auf
seinen Schwanz tätowiert. Ich schrie: ›Ich will in ein Land ohne Reklame!›« Der Traum ist
inzwischen Teil einer Ost-West-Performance, »Schubladen« von She She Pop, mit der wir –
drei Frauen, die im Osten und drei Frauen, die im Westen sozialisiert wurden, – seit 2012
durch die Welt touren. Wir räumen vor Publikum unsere Schubladen aus und erzählen uns
unsere Geschichten, auch die traurigen, peinlichen, atemlosen und die mit doppeltem Boden.
Nicht alle Missverständnisse zwischen uns werden in
den zwei Stunden ausgeräumt.
ANNETT GRÖSCHNER, Jahrgang 1964, lebt
Es gab eine Zeit vor circa vier Jahren, als wir dach- seit 1983 in Berlin. Sie schloss sich im Herbst
ten, wir müssten das Stück abspielen, weil die Zeit da- ’89 der Unabhängigen Frauenbewegung an
rüber hinweggegangen ist. Ost-West hatte sich zuguns- und gründete mit anderen 1990 die Zeitschrift
ten von Nord-Süd erledigt. Danach ist es von Jahr zu Ypsilon. Sie war von 1994 bis 1998 Redakteurin
und Herausgeberin der Zeitschriften Sklaven
Jahr aktueller geworden, wir spielen es immer noch vor
und Sklavenaufstand. Als Schriftstellerin wurde
vollen Häusern. Denn die Ost-West-Dichotomien haben
sie unter anderem mit dem Roman »Moskauer
sich in den letzten fünf Jahren wieder verstärkt, was Eis« (2000) bekannt.
einerseits mit einer stärker gewordenen Identitätspolitik

WER SCHREIBT GESCHICHTE?   LUXEMBURG 3/2019     107


zu tun hat, aber auch mit den nicht verarbeiteten Folgen des Einigungsprozesses, wobei sich
schon über das Wort Einigung trefflich streiten ließe. Drei Dinge gab es nach meiner Beob-
achtung, die in diesem Jahr stärker in den öffentlichen Fokus der Erinnerungsfeierlichkeiten
gerieten und dazu führten, dass die Geschichte nicht so eindeutig vom Ende her erzählt, son-
dern eher die Dynamik des Prozesses beleuchtet wurde. Zum einen geriet wieder stärker in
den Fokus, dass es neben den Leipziger Montagsdemos und dem Mauerfall noch ein weite-
res Ereignis gab, die von Theaterschaffenden initiierte Demonstration am 4. November 1989
in Ostberlin, als es um den »Traum von einem Land jenseits von Stalinismus und Kapitalismus
ging« (Klein, 2019/2020, 57). Ich habe mich in einem Beitrag an diesen Moment als einen
glücklichen, ja, als einen der glücklichsten in meinem bisherigen Leben erinnert, bei allen
Widersprüchen, die eine Massenveranstaltung immer hat: »Man ging allein aus dem Haus,
dann bildeten sich kleine Grüppchen, an der nächsten Straße war es schon eine Menge, die in
eine Richtung unterwegs war, bis, in der Nähe des Alexanderplatzes angekommen, aus allen
Straßen Menschen strömten – mit selbst gemalten Transparenten, Plakaten, umgearbeiteten
Verkehrsschildern, umgewidmeten Kleidungsstücken
Der 4. November war ein Tag, an dem kollektiv und Winkelementen. Über eine halbe Million Men-
die Vormundschaft des Staates nicht nur infrage schen. Es waren nicht die Reden auf der Kundgebung,
die in Erinnerung blieben, es war dieser Moment des
gestellt, sondern abgeschüttelt wurde.
Anfangs, die Souveränität der Sprache, die Individuali-
Kaum ein Jahr später begaben wir uns in der
tät jeder einzelnen Forderung, der Witz und die Ironie.
Mehrheit freiwillig in eine andere Art von Vor- Es war diese Masse aus souveränen Individuen ohne
mundschaft, die ein Über-den-Mund-Fahren war. Angst. Ein Moment, in dem alles möglich schien.«
(Gröschner 2019). Der 4. November war ein Tag, an
dem kollektiv die Vormundschaft des Staates nicht nur infrage gestellt, sondern abgeschüttelt
wurde. Kaum ein Jahr später begaben wir uns in der Mehrheit freiwillig in eine andere Art
von Vormundschaft, die ein Über-den-Mund-fahren war: »Halt die Klappe und genieße die
Freiheit.« Das ist der zweite Punkt, der in diesem Jahr deutlicher beschrieben wurde, die
Zeit nach dem Fall der Mauer und die Auswirkungen des Wiedervereinigungsprozesses. Der
Soziologe Steffen Mau hat das auf den Punkt gebracht: »Viel zu wenig haben wir den Prozess
der Wiedervereinigung in seinen problematischen Wirkungen bis heute thematisiert. Man
sonnte sich im Glück der Einheit. Alles erschien als Gunst der Stunde, alternativlos und von
den dramatischen Ereignissen im Herbst 1990 geradezu erzwungen.« (Mau 2019)
Für mich bleibt nach wie vor die Frage, ob die Friedliche Revolution nicht deshalb so
friedlich war, weil es nicht um irgendeine Form von Eigentum ging. Und warum die Bevölke-
rung fast widerspruchlos Volkseigentum hat privatisieren lassen. Ich meine das nicht nur als
Aspekt der Aufarbeitung der Arbeit der Treuhand, nein, ich meine das auch in Richtung der
Zeit der DDR und der, ich nenne es mal Entfremdung der Arbeiter und Bauern vom Arbeiter-
und Bauernstaat. Schließlich hatte es ja am Runden Tisch Anfang 1990 ein ganz anderes
Verständnis von Treuhand gegeben als das, was am Ende so genannt wurde. Am 12. Februar

108     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


hatte es von einer Gruppe um den Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann einen Antrag an den
Ministerpräsidenten Hans Modrow und den Runden Tisch zur »umgehenden Bildung einer
Treuhandgesellschaft (Holding) zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staats-
bürgerschaft am ›Volkseigentum‹ der DDR gegeben«, in dem es hieß: »Als erste Handlung
müsste diese Holding-Gesellschaft gleichwertige Anteilsscheine im Sinne von Kapitalteil-
haber-Urkunden an alle DDR-Bürger emittieren. Ausgabe-Stichtag sollte der 18.3.1990 sein,
um die Legitimitäts-Kontinuität aus der Vergangenheit in die Zukunft zu gewährleisten.«
(Zit. nach: DDR 1989/90). Dafür hätte man ja auch in Massen auf die Straße gehen können.
Stattdessen fand am 18. März 1990 eine Wahl statt, bei der die Grundlage dessen gelegt
wurde, was mit einem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik und dem Verlust von zwei
Dritteln der Arbeitsplätze in Volkseigenen Betrieben
und deren Privatisierung oder Auflösung endete  – mit Was Soziolog*innen demografische
sozialen Auswirkungen bis heute. Eine davon ist das, ­Maskulinisierung nennen, ist einer der ­Gründe
was Soziolog*innen demografische Maskulinisierung für die Wahlerfolge der AfD in ländlichen
nennen, einer der Gründe für die Wahlerfolge der Gegenden Ostdeutschlands.
AfD in ländlichen Gegenden Ostdeutschlands. Unter
denen unter dreißig, die zwischen 1991 und 2005 den Osten Deutschlands verließen, um
anderswo ihr Glück zu suchen, waren zwei Drittel Frauen. Darüber muss weiter gesprochen
werden, wir haben ja das ganze nächste Jahr Zeit bis zum Wiedervereinigungsjubiläum.
Das Dritte, das anders war in diesem Herbst der Erinnerung, ist, dass diejenigen zu Wort
kamen und gehört wurden, deren Geschichten in der offiziellen Erinnerungskultur bisher weit-
gehend negiert wurden: People of Color, Vertragsarbeiter*innen, Transpersonen. Geschichten,
die die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung noch einmal in einem anderen Licht
zeigen, widersprüchlicher und dunkler 1. Angelika Nguyen, in Ostdeutschland aufgewachsen,
hat es kürzlich im telegraph benannt: »Ich teile den ostdeutschen Zorn auf die westdeut-
sche Invasion seit dem Mauerfall. Aber diese kam nicht über uns, sie war von der Mehrheit
gewählt. Mein Ost-Gefühl hört eben da auf, wo ostdeutscher Rassismus mit dem erlittenen
Trauma von Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit verteidigt wird.« (Nguyen 2019/20, 74).

LITERATUR
DDR 1989/90, www.ddr89.de/
Gröschner, Annett, 2019: Sprüche klopfen – Flagge zeigen
Klein, Thomas, 2019/20: Erinnerungen an eine Revolution oder Geschichte einer Entfremdung, in: telegraph
135/136, Sondernr. Herbst '89, 2019/20. Ein unbedingt empfehlenswerter Text über die Vereinigten Linken
in der Umbruchzeit 1989/90.
Mau, Steffen, 2019: Essay: Brauchen wir eine Revolution?, in: Berliner Zeitung, 8.11.2019
Nguyen, Angelika, 2019/20: Meine ostdeutsche Wut: Gegenrede zu einer aktuellen Debatte,
in: telegraph 135/136, Sondern. Herbst '89.

1 Dazu gehören auch die Geschichten über Nazigewalt, die unter dem von dem Journalisten Christian Bangel
angestoßenen Hashtag #baseballschlaegerjahre auf Twitter über die Wendezeit erzählt werden.

WER SCHREIBT GESCHICHTE?   LUXEMBURG 3/2019     109


MAUERFALL
MEMORIES
NORBERT NIEMANN

Im Jahr des Falls der Mauer schloss ich mein Studium ab. Im Jahr davor saß ich im Oberse-
minar des Literatursoziologen Jürgen Scharfschwerdt an der Ludwig-Maximilians-Universi-
tät München. Scharfschwerdts Schwerpunkt war DDR-Literatur. Ich erinnere mich, dass die
dissidenten, in der BRD publizierten Texte für einige von uns – sicher jedenfalls für mich – die
mit Abstand relevantesten in deutscher Sprache geschriebenen Texte jener Zeit gewesen
sind. In der BRD hatte bereits in den Achtzigern – das wird oft vergessen – eine Kommerzia-
lisierung und Neoliberalisierung des Kulturbetriebs ein-
In der etwas abweichenden, andererseits
gesetzt. Gefeiert wurden Romane wie »Die letzte Welt«
durchaus ähnlichen DDR-Realität zeigten von Christoph Ransmayr, »Das Parfum« von Patrick
sich die ästhetischen Widerstandsreflexe Süskind, »Die Entdeckung der Langsamkeit« von Sten
gegen die Zumutungen eines Ausverkaufs von Nadolny. Meine Lesesozialisation ab den späten Sieb-
inhaltlichen ­Positionen wie durch den Filter zigern hatte ganz andere Weichen gestellt und Erwar-
eines Verfremdungseffekts. tungen gesetzt. Damals erschienen die Bücher Rolf
Dieter Brinkmanns oder Nicolas Borns, »Die Ästhetik
des Widerstands« von Peter Weiss und so weiter. Im Westen brach diese Linie in den frühen
Achtzigern ab – nicht aber im Osten. Über den Umweg Heiner Müller machte sich dort auch
eine politisch und ästhetisch anders konnotierte Lesart französischer Poststrukturalisten wie
Michel Foucault und Gilles Deleuze geltend, nicht zuletzt in der Prenzlauer-Berg-Szene. Statt
Spiel und »Anything Goes« wie im Westen »Mikrophysik der Macht«.
Wenn mich nicht alles täuscht, besaß ich damals keine idealisierende Vorstellung von
der DDR. Ich wusste: Das ist eine Diktatur. Ich hatte selbst Verwandte dort, mein Großvater
väterlicherseits stammte aus der Nähe von Schwerin. Ich erinnere mich an den Besuch
meiner Großtante in Landau an der Isar, als ich ungefähr 16 war. Ich löcherte sie mit Fragen
über die wahren Verhältnisse drüben, aber die alte Dame sagte nichts, lächelte und nickte
nur. Ich besaß auch keine idealisierende Vorstellung von der BRD. Was ich früh zu beobach-
ten begann, war eine wachsende Marktförmigkeit in allen gesellschaftlichen Teilbereichen.
Kunst/Kultur, genauer gesagt kritische, möglichst radikal kritische Kunst/Kultur schien mir
das einzige Gegenmittel zu sein.
Wichtige Funksignale in meine bayerische Provinz hinein: Rainer Werner Fassbinder,
Herbert Achternbusch, Marieluise Fleißer, Thomas Bernhard und so weiter. Aber die waren
dann in den Achtzigern auch fast schon Geschichte oder wurden es. DDR-Literatur lesen
war ein Ausweg. Dort wurden die relevanten gesellschaftskritischen Fragen nicht ausge-
blendet. Und: In der etwas abweichenden, andererseits durchaus ähnlichen DDR-Realität
zeigten sich die ästhetischen Widerstandsreflexe gegen die Zumutungen eines Ausverkaufs

110     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


von inhaltlichen Positionen wie durch den Filter eines Verfremdungseffekts. Die Formatierung
des Bewusstseins in den unterschiedlichen Systemen von Wunschproduktion wies eine gemein-
same Schnittmenge auf, jenseits der Ideologien.
Müllers »Hamletmaschine« wurde im Westen zum Kulttext, weil längst alle mit der Brandung
Blabla redeten. Massenmediale Überformung, konsumistische Ruhigstellung der Einzelnen  –
kurz: Die Probleme, mit denen ich, mit denen wir uns im Westen als junge Menschen herum-
schlugen, hatten mit West-Ost-Unterschieden kaum mehr etwas zu tun. Sie umfassten BEIDE
Systemblöcke der mauer- und vorhanggeteilten Welt.
Ich konnte nicht fassen, dass diese jungen
Es muss im Sommer 1988 gewesen sein, als
zwei frisch von der BRD freigekaufte, jetzt also Ex- Leute – sie waren ungefähr so alt wie wir,
DDR-Bürger*innen in Scharfschwerdts Oberseminar also Mitte bis Ende zwanzig – die BRD als
eingeladen waren, um uns von der wahren Lebens- ihr Traumland ansahen.
wirklichkeit drüben zu berichten. Ich erinnere mich
vor allem an den heftigen Streit. Einige Oberseminarist*innen und auch ich gerieten mit den bei-
den Gästen aneinander, nachdem die in anklagend verzweifeltem Ton ständig wiederholt hatten,
dass es in DDR-Läden oft nicht einmal Schokolade zu kaufen gegeben habe.
Ein paar Jahre zuvor war ich mit meiner New-Wave-Band am WAA-Zaun in Wackersdorf
aufgetreten. Ich hatte öffentliche Reden von Franz Josef Strauß miterlebt, die mir – damals! –
an rechter Hetze und Häme zu überbieten unmöglich schienen. Ich konnte nicht fassen, dass
diese jungen Leute – sie waren ungefähr so alt wie wir, also Mitte bis Ende zwanzig – die BRD
als ihr Traumland ansahen, dass sie uns allen Ernstes erzählten, hier zu sein, bedeute für sie
die Erfüllung all ihrer Wünsche. Wir konnten nicht begreifen, dass sie völlig blind waren für die
Herrschafts-, Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen, die in den westlichen Demokratien
damals gerade etabliert und erweitert wurden – es war die Zeit von Maggie Thatcher, Ronald
Reagan, Helmut Kohl! Und dass sie bei der Verteidigung ihres schwärmerischen Standpunkts
ständig auf diesem »Schokoladen-Argument« herumritten.
Dass eine Sensibilität, die Möglichkeit einer Sensibilisierung für postmoderne Herrschafts-
mechanismen auch in der DDR möglich war, bewies doch gerade deren dissidente Literatur.
Wir dachten, bei den kritikaffinen Jungen muss doch auch was von Müller, Brasch, Reimann,
Braun, Erb, Hilbig und so weiter hängengeblieben sein – so wie in unseren Köpfen Fassbinder,
Jelinek, Brinkmann und so weiter Spuren hinterlas-
sen, unsere Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit
geschärft hatten. NORBERT NIEMANN, Jahrgang 1961, lebt als
Blauäugig, blauäugig – solche Spuren waren freier Schriftsteller. Von ihm erschien unter an-
derem »Wie man’s nimmt« (1998), »Schule der
damals auch im Westen schon beinahe restlos ver-
Gewalt« (2001) und »Willkommen neue Träume«
wischt. Als mir das Fernsehen den Mauerfall präsen-
(2008). Er ist Mitglied des P.E.N. Deutschland,
tierte, blieb ich jedenfalls ziemlich gleichgültig (anders der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
als bei den gesendeten Bildern und Ereignissen in und des VS-Schriftstellerverbands.
Rumänien, der Exekution des Ehepaars Ceauşescu).

WER SCHREIBT GESCHICHTE?   LUXEMBURG 3/2019     111


Willy Brandts Satz »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört« fand keinerlei Resonanz
in mir. Den Ausspruch »Marx ist tot, Jesus lebt« von Norbert Blüm, dem damaligen Arbeits-
minister, fand ich einfach unanständig.
Die Auseinandersetzung mit der Wiedervereinigung und ihren Konsequenzen begann für
mich erst später – zuletzt im schriftlichen Dialog mit Ingo Schulze (vor allem in dem langen
»Gespräch über das Romaneschreiben«, Akzente 4/2008). Seine »Simple Storys« und mein
Roman »Wie man’s nimmt« wurden 1998 als Beschreibungen zeitgenössischer Lebenswirk-
lichkeit Ost bzw. West gehandelt. Wenn ich auf meine
Wenn ich auf meine Gedanken von damals
Gedanken von damals zurückblicke, muss ich zugeben,
zurückblicke, muss ich zugeben, einige einige Folgen unterschätzt zu haben: etwa, in wel-
Folgen unterschätzt zu haben: etwa, in chem Ausmaß die soziale Frage aus dem politischen
welchem Ausmaß die soziale Frage aus dem Diskurs und dem gesellschaftlichen Bewusstsein ver-
politischen Diskurs und dem gesellschaftlichen schwinden würde; dass der Neoliberalismus die Sozi-
Bewusstsein verschwinden würde … aldemokratie so komplett würde aushöhlen können,
wie es dann unter Clinton, Blair, Schröder tatsächlich
geschehen ist; wie schnell und umfassend der Umbau der kulturellen Öffentlichkeit zum
Entertainment- und Eventspektakel vonstattengehen würde; mit welcher Wucht, Geschwin-
digkeit und Durchschlagskraft der rechtsreaktionäre Populismus zurückkehren würde.
Andererseits schrieb ich 1999, also vor zwanzig Jahren, für die Zeitschrift Sprache
im technischen Zeitalter zum zehnten Jahrestag schon einmal einen Text zum Fall der
Mauer, eine Art Kopftheaterstück: »Ten years after – 10 Versionen umkreisen 1 Faktum.
Ein Jubiläum von weit aus dem Westen betrachtet.« Die Szene: ein Tisch mit einer Anzahl
Menschen drumherum; das Ambiente beliebig; es kann ein Konferenzraum, eine Podiums-
diskussion, eine Talkshow-Runde sein, genauso gut ein Stammtisch. Die Menschen sitzen,
scharren mit den Füßen, trinken, rauchen, aber sprechen nicht. Der Text kommt aus dem
Off. Gebaut ist der Text nach dem Muster von Marguerite Duras‘ Filmbuch »Hiroshima mon
amour«: Passagen, überschrieben mit »Nichts hat sich geändert« / »Alles hat sich geändert«,
im dialektischen Wechsel. Ich habe den Text wiedergelesen und war überrascht über seine
Weitsicht. Er endet so:
»Spätestens seit damals, 1989, fehlt endgültig allen Geschehnissen da draußen ihr letz-
tes Quantum an Echtheit. Paradoxes Entgleiten der Realität. Alles sichtbar in unserer Blind-
heit. Immerzu auf dem neuesten Nachrichtenstand. Einen Globus als Gasballon unterm
Schädeldach, die Seile gekappt. Wir verlieren den Boden des alten Planeten unter den
Füßen, treiben ab, eine letzte, eben noch ausreichende Anziehungskraft hält uns im Bann.
Wir drehen Satellitenrunden, hinreichend nah, um uns immer weiter einbilden zu können,
zur Welt zu gehören, weit genug entfernt, um sie nicht in ihren inneren Angelegenheiten zu
stören. Ungebrochenes Westleben, zusammengebrochen in sich selbst. Und während wir
so die Erdkugel in mäßiger Entfernung umkreisen, setzt dieses Kribbeln ein im Kopf, und
die schreckliche Lust, auf irgendetwas, irgendjemand einzuschlagen.«

112     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


ES WAR EINMAL
HEIKE GEISSLER
Es war einmal ein Mädchen, das hatte zu viele langweilige Nachmittage in seinem unor-
dentlichen Zimmer verbracht und Träume angehäuft. Auch hatte es zu lange an seinem
Fenster gestanden und darauf gewartet, dass die Mutter endlich von der Arbeit käme, oder
es hatte dem Vater zugesehen, wie er, sich hinter der Gardine versteckend, immer dann
gegen die Scheibe klopfte, wenn jemand nicht den Fußweg um die Grünfläche vor dem
Haus nutzte, sondern den Trampelpfad. Der Vater freute sich über den Schreck der Leute
und das Mädchen fragte sich, wie Erwachsene sich etwas ausdenken. Wie kommt Unfug in
die Köpfe Erwachsener, wie bereiten sie ihn vor, wie führen sie ihn aus?
Das Mädchen war voller Abenteuerlust, aber wusste nicht und würde es auch jahrelang
nicht lernen, welche Abenteuer die besten sind. Als es die Fernsehbilder aller Leute sah, die
über den Zaun auf das Botschaftsgelände kletterten, wollte es das auch erleben. Unbedingt
und sofort. Es entnahm den Nachrichten ein bis drei politische Gründe zur Unterstützung
für sein Drängen, hatte aber tatsächlich nur im Sinn, beim Klettern über den Zaun gefilmt
zu werden und beim Gefilmtwerden gut auszusehen. Es wollte, ohne das Wort zu kennen,
ikonisch werden. Der Vater stellte sich deutlich gegen den Plan. Er stellt sich, sagte das
Mädchen, meinem Erfolg und meinem Eintritt in eine glänzende Welt in den Weg.
Es war also einmal dieses Mädchen, und es trug eine dicke Brille und hatte sich, seit
es wusste, dass es eine Brille würde tragen müssen, sehr auf die Brille gefreut, hatte aber,
kaum dass die Brille schwer auf seiner Nase saß und auf den Ohren drückte, diese Brille
voller Inbrunst und bei jeder Gelegenheit abgelehnt. Das Mädchen war wie gekränkt von
seiner Brille und wollte sie nicht tragen. Das Mädchen hatte eine Mutter, die sich anders
als das Mädchen erinnerte, und diese Mutter sagte: Nein, du hast keine Brille gehabt. Das
Mädchen aber erwiderte: Doch, ich habe eine Brille gehabt, und ich weiß noch, wie du mir
befahlst, die Brille auf der Nase zu lassen, wie ich die Brille aber nicht tragen wollte, erst,
weil sie zu schwer war, dann, weil sie zu hässlich war und weil diese Hässlichkeit auf mich
abfärbte. Ich weiß also noch, sagte das Mädchen, wie wir, als wir in Oberhausen waren und
diese Bekannten besuchten, die, die uns jahrelang Pakete geschickt hatten, kurz auf einem
dunklen Parkplatz standen und darüber verhandelten, ob ich die Brille nun tragen müsse
oder nicht, und ich, sagte das Mädchen, wollte keines-
falls mit Brille auf der Nase in das Westauto steigen.
Ich habe die Brille abgesetzt, als du nicht hinsahst, als HEIKE GEISSLER, Jahrgang 1977, wuchs in
du dachtest, du hättest dich durchgesetzt. Riesa und Karl-Marx-Stadt/Chemnitz auf. Als
Schriftstellerin wurde sie bekannt mit dem 2002
Ohne Brille saß das Mädchen zum ersten Mal
erschienenen Roman »Rosa«, für den sie den
in einem Westauto und wusste, es sah kein magi-
Alfred-Döblin-Förderpreis erhielt. Heike Geißler
sches Licht aus dem Armaturenbrett kommen, aber ist Mitglied im P.E.N. Deutschland.
es konnte, was es sah, nicht anders als magisch und

WER SCHREIBT GESCHICHTE?   LUXEMBURG 3/2019     113


überwältigend nennen. Es sah auf Licht und Schönheit und wollte diesen ganzen West-
glanz wirklich nicht mit seiner hässlichen Ostbrille beeinträchtigen. In diesem Westleuchten
traten alle Makel zutage, die krochen aus den dunklen Taschen des Mädchens, aus den
verhassten Plisseerockfalten, krochen direkt in die Farben, mitten ins Licht.
Dieses Mädchen, das einmal war, das trug keine Farben, weil es keine Farben hatte.
Das Mädchen, das angeblich keine Farben trug, ruft aus der Vergangenheit, dass das nicht
stimme. Es habe ja zum Beispiel diese rosa Jacke mit den üblen Schulterpolstern gehabt und
diese an einem Sonntag beim Spaziergang durch die Internationale Gartenausstellung tragen
müssen. Ja, das ist wahr. Durchaus waren da Farben. Dennoch trug das Mädchen sehr oft ein
dunkles Blau, trug diese Farbe, bevor sie modern wurde, trug ab und an rote Strumpfhosen.
Ohne es zu wissen, war das Mädchen, was Farben anging, unterernährt, weshalb es sich,
sobald es konnte, von seinem ersten, nach stundenlangem Schlangestehen überreichten
Westgeld einen Rucksack in Neonfarben kaufte und sofort von diesem verschlungen wurde.
Es war einmal ein Mädchen, das war wirklich wie geschaffen für die Konsumgesell-
schaft, das hatte nun endlich sein bestes Habitat, wenn auch nicht genug Geld. Das Mäd-
chen pilgerte Nachmittag um Nachmittag die Hauptstraße seines Wohngebietes hinab,
hinein in die neu eröffnete Fröschl-Filiale und schaute sich an, was es so gab. Und was
es so gab, war in etwa, was das Mädchen haben musste. Möglicherweise bekam das
Mädchen nichts von den politischen Veränderungen in seinem Land mit und erfreute sich
immer nur an den Resultaten der Veränderungen in den Geschäften. Das Mädchen wühlte
in eilig errichteten Zeltbauten in Kisten und zog das eine T-Shirt hervor, das es mehr als alles
brauchte. Es zog von da an ständig Dinge hervor, die es haben musste, und würde sich, das
war damals schon abzusehen, kaum an die Umbrüche und Verwerfungen erinnern, son-
dern an Dinge, die es erwarb, an Dinge, die es sich erwerben ließ, und vor allem an Dinge,
die es unbedingt haben wollte und nicht bekam.
Das Mädchen hatte sein Momentum, als es mit einer Freundin zu einer der Montagsde-
monstrationen ging. Sie liefen am Rand, entfernten sich immer wieder vom Zug der Demons-
trierenden, um überall zu klingeln, um alle Leute nach draußen zu holen. Sie hatten so etwas
noch nicht erlebt, ohne sagen zu können, was genau sie da erlebten. Das war, dachte das
Mädchen, größer als die Aufregung, die es 1988 bei der Generalprobe für das Pioniertreffen
in ihrer Heimatstadt verspürt hatte, eine Aufregung, die das Mädchen hatte vergessen lassen,
dass es nur zur Generalprobe geladen gewesen war und nicht wie andere aus seiner Klasse
zur Eröffnungsfeier am Tag darauf. Das Mädchen und seine Freundin klingelten, drückten die
Hände auf die Klingelknöpfe und kamen sich vor, als riefen sie mit einer kichernden Kinderge-
burtstagsgruppe im Rücken: Leute, holt die Wäsche rein, es regnet blaue Tinte.
Es war einmal ein Mädchen, dem sagte der Gesellschaftskundelehrer, der eben noch der
Lehrer für Staatsbürgerkunde gewesen war, es solle doch nicht Reiseverkehrskauffrau wer-
den wollen, sondern lieber Model. Das Mädchen fühlte sich verkannt und gesehen zugleich
und dachte danach, dass der Schlitz, den es an einem Sonntag mühevoll in die 150 Mark

114     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


teure, in einem Zeltbau erworbene Billigjeans geschnitten und anschließend die Stoffkan-
ten ausgefranst hatte, zu groß war und zu knapp unter dem Po.
Das Mädchen kam eines Tages nach Hause und erzählte, die Klassenleiterin sei nach
fünf Tagen Abwesenheit nun wieder da, habe neu und glänzend ausgesehen, wie eine Königin
inmitten ihres Fußvolks, und habe von ihrem Bekannten berichtet, der ab und an Heroin nehme
und, weil er sich im Griff habe, weder sich noch anderen dadurch schade. Heroin ist also gar
nicht schlimm, sagte die Lehrerin und nickte wissend. Die Lehrerin ist auf einmal viel klüger als
zuvor, dachte das Mädchen, und alles, was kaum zu glauben war, war ihm ein Schatz.
Das Mädchen sagte seinen Eltern, sie müssten ein neues Auto kaufen, sie könnten
nicht mehr mit diesem faden Trabant herumfahren. Das Mädchen sagte nicht, dass es sich
entsetzlich schäme, noch mit einem Trabant herumgefahren zu werden. Es drängelte die
Eltern, es setzte monatelang all seine Überzeugungskraft und all sein Drängeln ein, um die
Eltern zu überzeugen. Irgendwann kauften die Eltern einen violetten Renault 19 Chamade.
Was weder das Mädchen noch die Eltern wussten, war, dass Chamade »ein mit der Trom-
mel oder mit einer Trompete gegebenes Signal, sich ergeben zu wollen«1 bezeichnet.
Es war einmal ein Mädchen, das erlebte ansonsten nichts.
Es war einmal eine Frau, die sehr genau wusste, dass das nicht stimmte, aber es war nun
einmal so, dass sich die Frau partout nicht an mehr erinnern wollte. Sie merkte, dass es ihr,
wann immer sie sich erinnerte, so dermaßen unwohl wurde, dass sie sofort von diesen Ver-
suchen ablassen und sich anders beschäftigen musste. Sie merkte deutlich, dass sie anstelle
einer ausführlichen Erinnerung, die wie ein Fundament für ein Haus wäre, eine Lücke hatte,
eine schneidend hell beleuchtete Lücke, die anzusehen dazu führte, dass die Frau die Augen
zusammenkneifen musste. Anstatt sich zu erinnern und dem Mädchen ein paar mehr Erleb-
nisse und Gefühle hervorzuholen, spaziert die Frau lieber durch eine Szenerie in schwarz-weiß,
die ist ihr eine Art Sehnsuchtsort und zugleich ein Retreat. Der Spaziergang durch die Sze-
nerie beginnt stets an einem kalten, regnerischen Tag am Strand von Warnemünde. Die Frau
ist gerade im Wasser gewesen und verbirgt sich kurz vor dem Wind im Strandkorb. Rechts
an der Promenade sieht sie das Hotel Neptun, weiter links den Leuchtturm, sie ist allein am
Strand. Ohne den Strandkorb verlassen zu müssen, geht sie los. Sie geht durch einen Wald,
eher ein Wäldchen, alles noch immer schwarz-weiß. Das Wäldchen mündet in den Berliner
Alexanderplatz, den die Frau sofort an der Weltzeituhr erkennt. Dort verweilt sie. Direkt an der
Weltzeituhr beginnt eine Straße, deren Häuser recht verfallen sind, aber nicht unheimlich wir-
ken. Manche Fenster sind beleuchtet, aber aus Rücksicht auf die Frau sind keine Menschen
zu sehen. Die Frau weiß nicht, wo alle sind, aber sie weiß sehr zu schätzen, dass sie ungestört
durch eine Gegend gehen darf, die aus lauter ihr bekannten Elementen besteht, die in diesem
Szenario vertrauenswürdig und zugleich unbekannt wirken. Wie gesagt, anstatt sich zu erin-
nern, spaziert diese Frau, und ich will sie vorerst nicht dabei stören.

1 Vgl. https://de.wiktionary.org/wiki/Chamade.

WER SCHREIBT GESCHICHTE?   LUXEMBURG 3/2019     115


KOLLEKTIV
FÜHLEN LERNEN
WARUM EMANZIPATION
UND POPKULTUR
ZUSAMMENGEHÖREN
MAX LILL

116     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


1968 veränderten sich Subjektivitäten
massenhaft und in rasender Geschwindigkeit.
Musik war ein Mittel, um die Trennwände
zwischen Persönlichem und Politischem
einzureißen. Ein Erbe, an das die Linke neu
anknüpfen muss.

Der Sixties-Jubiläumsreigen neigt sich seinem


Ende zu – und angesichts unzähliger, wild MAX LILL ist Sozialwissenschaftler und aktiv
zusammengestückelter Flower-Power-Dokus in der Bewegung für Klimagerechtigkeit. Er hat
zu Musik und Jugendkultur geforscht, Arbeits-
mit weißem Mittelschichts-Bias bin ich ver-
und Reproduktionsansprüche untersucht, über
sucht auszurufen: Endlich! Die Verkitschung Krisenerfahrungen und Rechtsextremismus
der Achtundsechziger-Mythologien ist ähnlich geschrieben. Gerade promoviert er zum Thema
ärgerlich wie ihre spiegelbildliche Entzau- »Demokratisches Charisma«.
berung nach dem Motto: alles privilegierte
Hedonist*innen und dogmatische Polit-Macker,
nur ein romantisches Vorspiel des neoliberalen men ihre Theorie und Praxis dominierten. Zu
Individualismus. Tatsächlich geht es um eine dieser »universellen Maskulinisierung« bildet
der großen Wasserscheiden der Geschichte. der Zyklus der 1960er Jahre eine Gegenbewe-
Und in den aktuellen Kämpfen kommt es auch gung. Adamczak spricht von »differenzieller
darauf an, etwas vom damaligen Geist konkre- Feminisierung« und meint damit einen
ter Utopie wiederzufinden – trotz allem. Prozess der Sensibilisierung, Öffnung und
Eine ähnliche Ausgangsüberlegung hat Umbildung von Subjektivitäten.
Bini Adamczak dazu bewegt, die Revolutions- Das verbindet sich nicht zufällig mit einer
wellen von 1917/18 und 1968 in ein wechsel- Ästhetisierung von Alltagskultur und Politik.
seitiges Belichtungsverhältnis zu bringen (vgl. Es geht um ein Emanzipationsstreben, das
Adamczak 2017). Dabei wird deutlich, dass Tiefenschichten und Nuancen von Beziehun-
die Niederlagen der Linken im »Zeitalter der gen berührt, die nur durch das Spiel mit sinn-
Katastrophen« (Hobsbawm) zwischen 1914 lichen Schattierungen und metaphorischen
und 1945 auch darauf zurückzuführen sind, Bildern dargestellt werden können. Anders als
dass martialischer Kampf, autoritäre Diszipli- in den klassischen bürgerlichen Künsten und
nierung und verkürzte Rationalitätsfetischis- auch noch in vielen ihrer avantgardistischen

KOLLEKTIV FÜHLEN LERNEN   LUXEMBURG 3/2019     117


Auflösungsbewegungen bis zur Mitte des 20. Der Polizeichef von Birmingham (Alaba-
Jahrhunderts ist dabei die Lebenswelt breiter ma), »Bull« Connor, hetzt 1963 seine Hun-
Klassenfraktionen (und nicht eine relativ destaffel auf Schulkinder und löst damit eine
autonome und elitäre Sphäre der Kunst) das landesweite Empörungswelle aus, die zum
Hauptaktionsfeld. Die Popkultur, die daraus Durchbruch der Bewegung beim »Marsch
hervorgeht, bietet Symbolhaushalte, deren auf Washington« führt. »Bull« Connor gibt
konkrete Bedeutungen erst im Rezeptions- damals zu Protokoll, der Gesang mache ihn
prozess vom Publikum durch immer neue krank. Aus jeder Schwarzen Kirche, jeder
Arrangements der Einzelelemente im Alltag Menschenkette, jeder überfüllten Gefängnis-
konstruiert werden (vgl. Diederichsen 2014). zelle schlagen ihm die freedom songs entgegen.
Bei aller gattungssprengenden Kraft Es ist eine spirituelle Machtdemonstration.
steht dabei in den 1960er Jahren Musik ganz Und der brutale alte Mann spürt offenbar, dass
klar im Zentrum – oder genauer: bestimmte diese Lieder, untermalt von hypnotischem
musikalische Gestaltungstechniken. Das Klatschen, eine Waffe darstellen, gegen die
hat historische Gründe, deren Reflexion uns seine Armee letztlich hilflos ist.
helfen kann, ein klareres Verständnis für den In der Musik kristallisiert sich in diesem
Strukturwandel des Öffentlichen und das – für historischen Augenblick ganz unmittelbar
Emanzipationskämpfe auch heute zentrale – eine Utopie radikaler Befreiung heraus. In
Verhältnis von Subjektivitätsausdruck und den Jahrhunderten der totalen Entrechtung
kollektivem Widerstand zu gewinnen (vgl. zuvor war sie als vor allem religiöse Sehnsucht
ausführlicher: Lill 2013). nach einem Jenseits dieser zerbrochenen Welt
wachgehalten worden: praktisch zelebriert als
DIE LIEDER DER BÜRGERRECHTSBEWEGUNG momenthafte Erlösung in den Spirituals, einer
ALS SPIRITUELLE MACHTDEMONSTRATION Ekstase des Hier und Jetzt, in der der Heilige
Ausgangspunkt der Umwälzungen sind die Geist oder auch klandestine Kräfte des Voodoo
antikolonialen Bewegungen, die sich seit Ende in die Körper der Gläubigen einzufahren
des Zweiten Weltkrieges über den Globus aus- schienen. Für sie offenbarte sich die göttliche
breiten. Mit der Schwarzen Bürgerrechtsbewe- Botschaft in der Stimme, dem Zentrum
gung dringen sie ab Mitte der 1950er Jahre ins aller Ursprungsmythen, die in den heiligen
Herz des kapitalistischen Weltsystems vor, wo Schriften und Erzählungen nur übersetzt
sie die liberalen Student*innen und die existen- und erinnert werden. Nach dem Call-and-
zialistische Beatkultur der Bohème politisieren. Response-Prinzip brachen einzelne Stimmen
Schon bald fordern sie nicht mehr nur gleiche aus dem kollektiven Gesang der Gemeinde aus,
Rechte, sondern stellen die Machtfrage. Sie tun traten rauschhaft improvisierend hervor, um
dies von Beginn an singend. Mit Stimmen, die anschließend zurückzusinken in den Chor der
so stark sind, dass sie einem auch noch auf den Vielen.
verwackelten Schwarz-Weiß-Bildern von den Mit der Bürgerrechtsbewegung bricht
Konfrontationen mit dem rassistischen Mob in diese vom kollektiven Trauma der Versklavung
Mark und Bein gehen können. gezeichnete sakrale Gegenwelt ins soziale

118     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


Diesseits ein. Sie fordert nun das weltliche in Großbritannien, dem anderen westlichen
Glück. Versehen mit neu erdichteten Texten Zentrum der musikalischen Revolte. Auch
wird aus den alten Kirchenliedern die defini- hier ist der Hintergrund internationalistisch.
tive Ansage an alle Bull Connors dieser Welt: Dafür stehen vor allem zwei Ereignisse im
»Ain’t gonna let nobody turn me around.« Oktober 1956 (es ist das Jahr des Beginns der
Parallel hebt die Soulmusik die bis dato US-Bürgerrechtsbewegung): Die sogenannte
als Tabu geltende Trennung zwischen religiö- Sueskrise um die Verstaatlichung des Sues-
sem Gospel und sexualisiertem Rhythm and kanals durch Ägypten, in der die Kolonialim-
Blues auf (vgl. Ward 1998). Sie mischt damit – perien Großbritannien und Frankreich eine
ähnlich wie zuvor schon der Rock’n’Roll – empfindliche Niederlage erleiden. Und der
auch den weißen Musikmarkt auf und versetzt demokratische Aufstand in Ungarn, der von
die konservativen Moralapostel*innen aller der sowjetischen Armee gewaltsam niederge-
(auch linker) Couleur in helle Aufregung. schlagen wird. Beide Konflikte verdeutlichen
Wenn Aretha Franklin 1967 »Respect« jungen Intellektuellen wie E. P. Thompson
einfordert, dann braucht sie keine explizit oder Stuart Hall die Notwendigkeit, sich in
politischen Texte zu singen. Auch so wissen doppelter Weise abzusetzen: von der korpo-
alle – die Machos der Black-Power-Bewegung ratistisch integrierten Sozialdemokratie und
eingeschlossen –, was es bedeutet, wenn eine von den durch die Sowjetunion dominierten
Schwarze Frau ihre Stimme in dieser Weise kommunistischen Parteien.
erhebt. Antirassismus und weibliche Emanzi- Die studentische Linke ist durch das
pation, Erleuchtung und erotisches Begehren Bedürfnis geprägt, Politik auch als etwas
fließen zusammen. unmittelbar Persönliches zu praktizieren:
In Revolutionen wurde vermutlich immer Wie das berühmte Port Huron Statement
gesungen. Aber die moderne Welt dürfte nur von 19621 verdeutlicht, sollen die Leiden und
wenige derart musikalische Bewegungen Hoffnungen jedes Einzelnen herausgelöst
erlebt haben. Selbst die Reden Martin Luther werden aus dem Schattenreich der kleinfa-
Kings sind halb gesungen, die Wahrheit des miliären Trutzburg bürgerlicher Subjektivität.
Gesagten scheint buchstäblich körperlich Übersetzt in eine Gegenöffentlichkeit soll aus
spürbar. Auch die Kinder der weißen Mehr- vereinzeltem Schmerz ein kollektives Projekt
heitsgesellschaft, aufgewachsen in einer der Gesellschaftsveränderung entlang der
Welt rassistisch-patriarchaler Konventionen, Leitidee einer radikal partizipativen Demokra-
ängstlicher Verdrängung von Kriegserfahrun- tie entstehen. Es ist eine Aktualisierung des in
gen und Atomparanoia, können sich dem Sog den Abgründen des 20. Jahrhunderts ver-
dieser Stimmen nicht entziehen. schütteten sozialistischen und anarchistischen
Erbes – und zugleich Ausdruck neuer Entfal-
DIE NEUE LINKE UND DAS POLITISCHE tungsansprüche auf der Basis von Bildungs-
IM PERSÖNLICHEN aufstieg und sozialstaatlicher Absicherung.
Damit gewinnt auch die Neue Linke an Ein zentraler Angriffspunkt der Jugendbewe-
Dynamik. Sie formiert sich besonders früh gungen ist damit die Spaltung des sozialen

KOLLEKTIV FÜHLEN LERNEN   LUXEMBURG 3/2019     119


Lebens in eine öffentliche und eine intime Kunst: oft nicht viel mehr als ein vereinheitlich-
Welt. Das führt sie mitten in das organisierende tes Raster zur Entfaltung komplex durchstruk-
Zentrum der kapitalistischen und auch vieler turierter Harmoniegebilde. Keine Verschiebun-
realsozialistischer Gesellschaften dieser Zeit: gen im Timing, kein Groove. Auch die Tänze
die Trennung und zugleich Verschränkung wurden streng geregelt, um allzu spontane
der Produktions- und Lebensweise, abgestützt physische Regungen zu unterdrücken.
durch eine im Staat und in zentralisierten Expressive Stilmittel fanden sich in
Repräsentationsapparaten verselbstständigte der als sentimental geltenden Hausmusik.
Politik. Schon bevor sich ab 1968 der Feminis- Jenseits öffentlicher Blicke und Ohren hatten
mus, die schwulen, lesbischen und queeren darin auch die musizierenden Töchter ihren
Bewegungen als eigenständige Kräfte formieren, Platz. Gefühl und anmutige Sinnlichkeit
knirscht es daher gewaltig im geschlechterpoli- sollten sie verkörpern, um einen guten Preis
tischen Scharnier sozialer Reproduktion. Und auf dem Heiratsmarkt zu erzielen. Im Kon-
auch hier ist Musik eine Keimzelle des Neuen. zertsaal wurde dagegen die innere Vision des
genialen (männlichen) Komponisten mithilfe
MUSIK ALS BÜRGERLICHE KUNST eines diszipliniert dirigierten Orchesters
DER INNERLICHKEIT ins Riesenhafte vergrößert und forderte, im
Um dies zu verstehen, müssen wir gedanklich schärfsten Kontrast zur singenden Schwarzen
noch weiter zurückreisen: Musik galt in der Kirchengemeinde, absoluten Gehorsam der
bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhun- Musiker*innen und totale Zurückhaltung
derts (und in vielen musikphilosophischen der Hörenden. Das Publikum blieb mit
Texten auch jüngeren Datums) als die geschlossenen Augen versunken im Versuch,
paradigmatische Form einer autonomen sein Inneres mit der vertonten Fantasie des
Kunst der Innerlichkeit. Sie eröffnete, so Komponisten zu synchronisieren.
glaubte und fühlte man, einen Raum reiner Was sich in dieser Praxis und Ideologie
Gefühle jenseits jeder Verunreinigung durch bürgerlicher Musikkultur ausdrückt, ist eine
die profane Alltagswelt, jenseits der strengen historisch besonders zugespitzte Sphären-
Konventionen des gesellschaftlichen Lebens trennung: Hier die (weiblich konnotierte)
und der Rationalität des Marktes, auch jenseits Welt der Kleinfamilie, in der die romantische
aller strategischen Ansprüche der Politik. Gefühlsinnerlichkeit kultiviert und in die
Musik als eine fließende Bewegung und künstlerischen Werke projiziert wird. Dort die
spielerische Aufhebung der durchgetakteten (männliche) Welt der individualistischen Dis-
(und damit verwertbaren) Zeit schien geeignet, ziplin und Konkurrenz und der von abstrakten
alle festgefügten Formen zu sprengen – und Ideen und Klasseninteressen getriebenen
musste gerade deshalb streng gezügelt und Machtkämpfe.
durch Notation systematisiert werden. Cha- Dieser Dualismus, der sich auch in viele
rakteristisch für die europäische Klassik war Sozialtheorien tief eingeschrieben hat, galt in
die Reduktion rhythmischer Gestaltungsmittel, dieser Form kaum je für die Arbeiterklasse
der körperlichsten Seite dieser körperlichsten und die kolonialisierten Massen – auch wenn

120     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


der Fordismus, zumindest in den Zentren, neue Beziehungsweisen und Selbstentwürfe
seine Ausweitung auf die respektablen Milieus werden erschlossen. Viele brechen aus, um
der Lohnarbeitenden vorantrieb. In den Distanz zwischen sich und ihr teils klein-, teils
subalternen Klassenfraktionen spielte die bildungsbürgerliches Herkunftsmilieu zu
Community mit ihren halböffentlichen Räu- bringen – und häufig auch, um ganz praktisch
men und kollektiven Gütern eine zu wichtige mit den Deklassierten gegen Rassismus und
Rolle als Überlebensressource. Und statt einer Ausbeutung zu kämpfen. Es ist diese klassen-
generellen Unterdrückung der Sinne bestand übergreifende Solidarisierung, die – noch vor
die Gefahr eher darin, von der hegemonialen dem Einsetzen der ökonomischen Krisen-
Kultur (analog zur Konstruktion von Weiblich- prozesse – eine Hegemoniekrise der alten
keit) auf die Physis und das verdrängte Andere Ordnung einleitet.
von Spontanität, Emotionalität und Intuition In der Wiederbelebung der US-amerika-
reduziert zu werden. nischen Folkmusik steht anfangs die Erinne-
rungsbewegung im Vordergrund: Folk war in
DIE WIEDERKEHR DES VERDRÄNGTEN UND den USA seit der Jahrhundertwende eng verwo-
MUSIK ALS MEDIUM SOZIALER EMPATHIE ben mit der Geschichte der Arbeiterbewegung.
In der Unterhaltungsindustrie ist dieses Die tradierten Songs wirken wie ein kollektives
Andere seit der Jahrhundertwende mehr und Gedächtnis der Kämpfe aus der Zeit des New
mehr öffentlich präsent und kann, wenn auch Deal in den 1930er Jahren, in der schon einmal
kommerziell zugerichtet, als Inspirations- ein Revival urbane Intellektuelle und proletari-
quelle von den jugendlichen Gegenkulturen sche Volkskulturen in Kontakt gebracht hatte.
aufgenommen werden. Die Musik wird zur Zeitmaschine: Mit ihr
Die Entstehung einer globalen Jugend- reisen junge Menschen aus den gleichförmig
kultur beginnt vor allem mit dem Rock’n’Roll geschichtsvergessenen Vorortsiedlungen zu
der 1950er Jahre und dem Skiffle und Folk der einem früheren Knotenpunkt, um sich in der
frühen 1960er Jahre – eine Musik, die in oft Gegenwart neu zu erfinden.
unverfrorener Weise auf jenen performativen Bob Dylan tritt erst als Inkarnation
Techniken aufbaut, die insbesondere im afro- Woody Guthries auf, singt aber schon bald vom
amerikanischen Proletariat entwickelt worden Rassismus der Gegenwart und erkundet als an-
waren. Man kann einiges davon als Varianten drogyner Dandy in surrealistischen Sprachlaby-
einer privilegierten kulturellen Aneignung kri- rinthen das verdrängte Unbewusste Amerikas.
tisieren. Aber das sollte nicht vergessen lassen, Und Joan Baez betritt die Bühne als Wieder-
dass bei vielen weißen Jugendlichen ein sehr gängerin einer ans viktorianische Zeitalter
ernsthaftes Einlassen auf diese kulturellen erinnernden jungfräulichen Madonnengestalt,
Praktiken einsetzt: ein Suchen und Erspüren die unendlich traurige Balladen singt. Auch sie
auch der sozialen Erfahrungen, die sich darin entpuppt sich aber als eine sehr zeitgemäße
mitteilen (vgl. Cantwell 1996). Dem liegen Figur: eine emanzipierte, promiskuitiv lebende
natürlich oft zunächst Stereotype zugrunde. Frau und radikale Aktivistin. Dieses tragische
Doch es setzen soziale Lernprozesse ein, Traumpaar des Folkrevivals verwebt dabei

KOLLEKTIV FÜHLEN LERNEN   LUXEMBURG 3/2019     121


Reflexionen ihrer eigenen Liebesgeschichte mit lin oder Grace Slick die Bühne der Rockmusik,
den tradierten Metaphern der Volks- und Popu- die (abgesehen von Ausnahmen wie dem glor-
lärkulturen und den Erfahrungen der aktuellen reichen Jimi Hendrix) inzwischen von Weißen
Kämpfe, die ihr Publikum mit messianischer dominiert wird (ebenfalls eine lange nachwir-
Verve auf sie projiziert. kende Folge jener Rückschläge, die zu einer
neuerlichen Spaltung zwischen Schwarzen
ERSCHÜTTERUNG DER PATRIARCHALEN und weißen Gegenkulturen führen). Es sind
GESCHLECHTERORDNUNG auch besonders viele brüchige, empfindsame
Es folgt die Beatlemania: Die aufgestauten Männerstimmen zu hören. Musiker wie Neil
Gefühle der – vor allem weiblichen – Teenager Young zelebrieren perfekt das Unperfekte und
brechen sich Bahn. Expressive, öffentlich Verletzliche. Ihre Körper sind eher schwach
sichtbare Jugendkultur war bis dato eine klar und filigran, ihre Bewegungen nervös, voll
männlich dominierte Angelegenheit. Die untergründiger Spannung. Nicht wie Führer
Teddy Boys mit ihren Motorrädern stellten und Heroen treten sie auf, sondern wie feine
dies schon im Namen zur Schau. Die Beatles Antennen, die das gemeinsam Erlebte in Töne,
singen nun in euphorischem Gestus auch Worte und Gesten übersetzen.
von Mädchenträumen, verkörpern diese in Bei den frühen Hippies wird die Ten-
persona – und Hunderttausende ekstatische denz zur Androgynität und vordiskursiven
Fans rennen Polizeiketten nieder, um ihnen Sensibilisierung radikalisiert. Die Werte der
nah zu sein. Ohne diese Eruption weiblicher Intimsphäre sollen nun alle menschlichen
Leidenschaften ist die zweite Welle des Femi- Beziehungen prägen und Musik gilt als ihre
nismus, die unübersehbar wird, als dieselben natürliche Erscheinungsform. In ausufernden
Jahrgänge fünf Jahre später die Hochschulen Improvisationen und Happenings wird das
erreichen, kaum sinnvoll zu beschreiben. rauschhafte Schwellenerlebnis der Verschmel-
Dieser Zusammenhang kann von heute zung mit dem Kollektiv gesucht. Das führt erst
aus betrachtet leicht aus dem Blick geraten, zur befreienden Umarmung der Menschheit,
weil sich die männliche Vorherrschaft in der dann vielfach in Drogenkult und Psychose.
Rockmusik bis in die Gegenwart verlängert. Nach einer kurzen Berührung mit einem im
Gerade gegen Ende der 1960er Jahre, mit den Lichte von Vietnam und Black Power radika-
ersten schweren Niederlagen der Emanzi- lisierten Politaktivismus setzt der Rückzug in
pationsbewegungen, verstärkt sich teilweise Esoterik und Landkommune ein.
wieder ein offener Machismo, der wiederum
einen Ausgangspunkt der feministischen POPKULTUR IM KAMPF UM DIE HEGEMONIE
und queeren Bewegungen der 1970er Jahre Die Popkultur, die aus diesen und vielen
darstellt und an dem sich noch die Riot Grrrls anderen Suchbewegungen entsteht, arbeitet
der 1990er Jahre und heute etwa die virtuosen mit Technologien der Nähe, die die Rauheit
Inszenierungen von St. Vincent abarbeiten. und die individuellen Nuancen der Stimmen
Um die Mitte der 1960er Jahre betreten betonen und den Rhythmus ins Zentrum mu-
dagegen nicht nur starke Frauen wie Janis Jop- sikalischer Gestaltung stellen. Die Landkarte

122     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


des Sozialen wird damit les- und gestaltbarer. mit ihnen jeweils assoziierten Selbstentwürfe
Und sie wird auch über Zeiten hinweg erinne- oder kulturellen Traditionslinien im Zentrum
rungsfähiger. der Auseinandersetzungen (rührend wirken
Die tragische Wendung dieser Inno- rückblickend etwa die wütenden Fanproteste
vationen in eine ökonomisierte Kultur der gegen Dylans Übergang zur Rockmusik).
Selbstvermarktung ist bekannt. Sein Innerstes Die Frontlinien bestimmen sich auch in
nach außen zu wenden und vermeintlich non- der Popkultur heute stärker durch kollektive
konformistisch in Szene zu setzen, ist heute Ziele. Vor allem der Widerstand gegen den
die autoritative Parole von Castingshows und rassistisch-patriarchalen Autoritarismus und
Personal Coachings: eine Herrschaftstechnik die universelle Zerstörungslogik des fossilen
und Propagandalüge. Das hat die Authenti- Kapitalismus wirkt verbindend.
zitätsforderungen der Achtundsechziger in Dabei scheint die Kluft zwischen intimer
Misskredit gebracht. Es wurde immer deutli- und öffentlicher Welt für die Fridays-for-Fu-
cher, dass der Versuch, sich umfassend und ture-Generation, die mit einem Facebook-Ava-
unmittelbar öffentlich zu artikulieren, unter tar aufgewachsen ist, nicht mehr ganz so tief
den gegebenen Bedingungen Gefahr läuft, in zu sein – und das hat, entgegen der bekannten
Selbstentblößung oder Schwindelei zu enden – kulturkritischen Einwände, durchaus Vorteile.
und dass er sich mit organisierter Politik auch Wir schwimmen in popkulturellen Zeichen,
nur bedingt verträgt. Die real existierende wie ältere Gesellschaften in religiösen Bildern
Öffentlichkeit ist ideologisch zu verkrustet schwammen. Zugleich haben wir Distanz zu
und gespalten. In ihr lässt sich oft nur durch den Darstellungsformen gewonnen, können
Trickserei, Maskenspiel und Verwandlung leichter mit ihnen spielen – sei es gegeneinan-
etwas Wahres und Lebendiges darstellen. der oder miteinander. Die Farben und Klänge
Die Übersetzung intimer in öffentlich dieser Sprache des Alltags wieder stärker in
mitteilbare (und dadurch kathartisch verwan- die Politik zu tragen, dürfte eine Mindestan-
delte) Gefühle bleibt für Emanzipationsbewe- forderung für alle Versuche sein, ein linkes
gungen aber entscheidend – genauso wie die Transformationsprojekt voranzubringen.
Übersetzung zwischen Unterdrückungs- und
LITERATUR
Widerstandserfahrungen unterschiedlicher Adamczak, Bini, 2017: Beziehungsweise Revolution. 1917,
sozialer Welten. 1968 und kommende, Berlin
Cantwell, Robert, 1996: When We Were Good. The Folk
Mit der Konstellation der 1960er Jahre, Revival, Cambridge/London
ihrer Dynamik der Entfaltung neuer Subjek- Diederichsen, Diedrich, 2014: Über Pop-Musik, Berlin
Lill, Max, 2013: The whole wide world is watchin’ – Musik
tivitäten, liegt die herausragende Bedeutung und Jugendprotest in den 1960er Jahren. Bob Dylan und
der Musik für soziale Kämpfe heute aber The Grateful Dead, Berlin
Ward, Brian, 1998: Just my soul responding. Rhythm and
wohl dennoch hinter uns. Ihr Nachklang Blues, black conciousness and race relations, London
ist zwar zunehmend wieder hörbar, etwa
im Umfeld von Black Lives Matter und der 1 Das in Port Huron (Michigan) verabschiedete
Manifest der Students for a Democratic Society
Repolitisierung von Hip-Hop. Dabei stehen (SDS), gilt als ein programmatisch grundlegendes
aber weniger die ästhetischen Formen und die Dokument der Neuen Linken in den USA.

KOLLEKTIV FÜHLEN LERNEN   LUXEMBURG 3/2019     123


WEHTU-FRAGE

WAS BRINGT DIE LINKE


IN DER REGIERUNG?

MIT JANINE WISSLER UND


HARALD WOLF

    Das Land ist polarisiert. Auf der einen Das Modell Große Koalition ist gescheitert,
Seite erleben wir eine rechtspopulistische und es stellt sich die Frage, welche Kons-
Mobilisierung, auf der anderen Fridays for tellation die Ära nach Merkel bestimmen
Future, intensive Gewerkschaftskämpfe wird. Als LINKE müssen wir hier mit einer
und Enteignungsdebatten. Nun hat die SPD eigenständigen Position eingreifen. Es geht
überrascht: Saskia Esken und Norbert Walter- nicht um Farbspiele, aber wir müssen unsere
Borjans sind als erklärte GroKo-Gegner*innen politischen Inhalte mit der Bereitschaft
die neuen Vorsitzenden. Wie schätzt ihr verbinden, für eine linke Mehrheit und damit
vor diesem Hintergrund die Diskussion um für eine Regierungsalternative zu mobilisie-
eine grün-rot-rote Bundesregierung und die ren. Wir sollten also mit klaren Positionen,
Aufgaben der LINKEN ein? aber auch mit dem Signal, diese umsetzen zu
    HARALD: Das Votum für Esken und Walter- wollen, in die Auseinandersetzung gehen.
Borjans zeigt, dass viele Mitglieder der SPD     JANINE: Wir sollten unsere Bereitschaften
aus der babylonischen Gefangenschaft immer an Inhalten festmachen. Ich bin aber
mit der Union und dem Neoliberalismus mehr als skeptisch, dass Rot-Rot-Grün in
ausbrechen wollen. Gleichzeitig werden die absehbarer Zeit genug Gemeinsamkeiten für
beiden mit Widerstand aus der Fraktion und ein Regierungsprojekt hat, wenn man sich
den Reihen der Minister und Ministerpräsi- anschaut, welche Politik SPD und Grüne in
denten konfrontiert sein. Insofern zeigt das den letzten Jahren gemacht haben. Hätten
Votum auch die Zerrissenheit der SPD. Umso wir heute Koalitionsverhandlungen, müssten
wichtiger ist es, dass die LINKE deutlich wir darüber reden, wie sich die Fehler, die
signalisiert, dass sie bereit und in der Lage die SPD federführend mitbegangen hat,
ist, den Kampf um linke Mehrheiten in der korrigieren ließen. Ich sehe dafür in der Partei
Gesellschaft aufzunehmen – mit einer Politik, aber keinen hinreichenden Erneuerungspro-
die realistisch und zugleich radikal ist. zess. Sicher ist die Wahl von Walter-Borjans

124     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


WEHTU-FRAGE

» Ich bin mehr als skeptisch, dass Rot-Rot-Rrün genug


Gemeinsamkeiten für ein Regierungsprojekt hat. « [JANINE]

» Viele Menschen aus den Bewegungen, Gewerkschaften


und Initiativen erwarten, dass die LINKE sich der Machtfrage
ernsthaft stellt. « [HARALD]

und Esken ein gutes Signal. Das zeigt, dass das aufgreifen, und von den Durchsetzungs-
sich große Teile der SPD-Basis einen Bruch perspektiven machen wir dann abhängig, ob
mit der bisherigen Politik und der Großen wir in eine Regierung eintreten oder nicht.
Koalition wünschen, aber man merkt ja jetzt Den Grünen ist es gelungen, sich als dy-
schon, wie groß die Widerstände dagegen namischer, auf Veränderung drängender
sind, seitens der Bundestagsfraktion und Faktor der Politik darzustellen. Wenn ich die
prominenter SPD-Mitglieder. Berichte von deren letztem Bewegungsrat-
Auf die Frage der gesellschaftlichen Polari- schlag höre, die hatten volles Haus, da waren
sierung müssen wir Antworten jenseits von mehr Leute als bei uns. Warum? Weil sich
Regierungsbeteiligungen finden, denn ohne viele von den Grünen jetzt etwas erwarten,
eine Veränderung der gesellschaftlichen während wir eher als stagnierende Partei
Kräfteverhältnisse könnten wir in einer wahrgenommen werden. Wenn wir da eine
Regierung sowieso nicht viel erreichen. Es
geht also darum, wie wir gesellschaftlichen
HARALD WOLF ist Politologe und seit 1991 Mitglied
Druck erzeugen können, der eine progressive
im Berliner Abgeordnetenhaus. Zwischen 2002 und
Reformpolitik möglich machen würde.
2011 war er stellvertretender Bürgermeister und
    HARALD: Völlig d’accord. Allerdings erwar-
Wirtschaftssenator in der ersten rot-roten Regierung
ten auch viele Menschen aus den Bewegun- in Berlin. Seit 2014 ist er Mitglied im Parteivorstand
gen, Gewerkschaften und Initiativen, dass die der LINKEN.
LINKE sich der Machtfrage ernsthaft stellt. Es
JANINE WISSLER ist Politologin und war ab 2004 in
geht ihnen um konkrete Veränderungen, sei
der WASG aktiv. Seit 2008 sitzt sie für die LINKE im
es bei den Mieten, im Kampf gegen Preka-
Hessischen Landtag und ist dort Fraktionsvorsitzende.
rität und für eine neue Ordnung auf dem Seit 2014 ist sie außerdem eine der stellvertretenden
Arbeitsmarkt, für veränderte soziale Siche- Parteivorsitzenden auf Bundesebene.
rungssysteme, Klimaschutz etc. Wir müssen

WEHTU-FRAGE   LUXEMBURG 3/2019     125
WEHTU-FRAGE

neue Dynamik reinbringen wollen, dann habe, sind die Erfahrungen, die wir gerade
müssen wir den Willen zur Veränderung in Berlin machen. Hier gibt es eine hochinte-
aufgreifen. Sonst überlassen wir anderen das ressante Dialektik zwischen außerparlamen-
Feld. tarischer Bewegung und Regierungshandeln.
    JANINE: Ja, diese Art von Erwartungshal- Schon vor dem Regierungseintritt waren
tung gibt es. Viele Menschen haben ein Re- die Bewegungen stark, insbesondere in
präsentationsmodell von Politik im Kopf, nach der Mietenfrage. Im Wahlkampf haben wir
dem Motto: »Wir wählen und dann wird das das mit der Frage »Wem gehört die Stadt?«
umgesetzt.« Insofern müssen wir mit diesen aufgegriffen, in der Regierung haben wir
Erwartungen umgehen. Wir sollten aber dann konkrete Forderungen der Bewegung
klarmachen, dass gesellschaftliche Verände- aufgenommen. Das hat wiederum viele
rungen nicht nur über Parlamente und Regie- ermuntert, weiter voranzugehen, weil es
rungen durchgesetzt werden können. Es hat innerhalb der Regierung nun einen Reso-
die Anti-Atom-Bewegung gebraucht, um aus nanzboden gibt. Insofern entsteht hier ein
der Atomkraft auszusteigen, die Frauenbewe- produktives Zusammenspiel.
gung, um das Frauenwahlrecht einzuführen, Anders als bei unserer ersten Regierungs-
und die Arbeiterbewegung für zahlreiche beteiligung in Berlin hat sich auch eine gute
soziale Errungenschaften. Wir sollten als Arbeitsteilung zwischen der LINKEN in der
LINKE nicht die Erwartungen schüren, dass Regierung und der Partei entwickelt. Letztere
wir stellvertretend für die Menschen grundle- ist nicht Erfüllungsgehilfin und Transmissi-
gende Veränderungen herbeiführen könnten. onsriemen in die Bewegung. Sie spielt eine
Spätestens wenn sich die wirtschaftliche Si- aktive Rolle, übt außerparlamentarischen
tuation trübt, werden die Spielräume kleiner. Druck aus, steht als Korrektiv außerhalb der
Wenn es dann keine starken Bewegungen Kabinettsdisziplin. Sie treibt beispielsweise
gibt, hat jede linksgerichtete Regierung ein den Volksentscheid für Enteignung aktiv
Problem. Hinzu kommt, dass ein großer Teil voran.
der gesellschaftlichen Macht ja gar nicht Hier wird deutlich, wie man in der Regierung
in den Parlamenten liegt. Dazu haben auch arbeiten kann, ohne die Illusion zu erwecken,
Privatisierungen und Deregulierungen der wir regeln das alles schon. Die Frage ist:
letzten Jahre beigetragen. Es geht auch um Könnten wir eine vergleichbare Mobilisierung
die Frage der ökonomischen Macht. auf der Bundesebene hinkriegen? Nur so
ginge radikale Reformpolitik.
    Als sozialistische Partei sollten wir deshalb     JANINE: Die Entwicklungen in Berlin finde
immer fortschrittliche Prozesse der Selbst- ich auch spannend. Weil Bewegungen nicht
emanzipation unterstützen, dass Menschen als störendes Element verstanden werden,
selber kämpfen lernen für Verbesserungen wenn sie Forderungen an die Regierung
und eine sozialistische Gesellschaft. stellen, sondern als notwendig, um linke
    HARALD: Da sind wir uns einig, ich predige Inhalte wie den Mietendeckel umzusetzen.
keine Stellvertreterpolitik. Was ich vor Augen Als wir 2008 überlegt haben, ob wir Rot-Grün

126     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


WEHTU-FRAGE

in Hessen tolerieren, hat mir mal ein Gewerk- Gramsci zu formulieren, das Festungssystem
schafter gesagt: »Kommt, macht das erstmal, weiter ausgebaut ist. Auf deine Frage, ist
wählt den Koch ab, wir versprechen euch, die Partei darauf vorbereitet, sage ich: Nein,
dass wir als Gewerkschaften dann erstmal nicht ausreichend.
die Füße stillhalten.« Das empfand ich      JANINE: Ich sehe nicht, dass uns eine
damals eher als Drohung. Es ist doch genau Ausrichtung auf Rot-Rot-Grün gegenwärtig
umgekehrt: Gerade wenn wir uns an einer hilft. Merkel regiert ja nicht allein, sondern
Regierung beteiligen, braucht es den Druck seit Jahren in einer Großen Koalition. Die Ära
der sozialen Bewegungen und der Gewerk- Merkel ist also auch eine Ära der Großen
schaften. Das hat Harald ja auch in seinem Koalition. Alles, was wir an dieser Regierung
Fazit zur damaligen Rot-Roten Regierung in kritisieren, trifft doch auch die SPD: die
Berlin geschrieben (vgl. LuXemburg 1/2014). Erhöhung des Rüstungshaushaltes, die
Einschränkung des Asylrechts, die unge-
    Und wie sieht es mit so einer Konstellation rechte Steuerpolitik, das unzureichende
auf Bundesebene aus? Ist das nicht noch Klimapaket, die Zuspitzung zwischen arm
voraussetzungsvoller als auf Landesebene? und reich. Insofern sehe ich unsere vordring-
Seht ihr die Partei darauf vorbereitet? liche Aufgabe darin, diese Bundesregierung
    JANINE: Der gesellschaftliche Druck ist anzugreifen und als Opposition erkennbar zu
entscheidend und der ist auf Landesebene sein. In vielen Bundesländern tendieren die
oft leichter zu erzeugen. Andererseits Grünen ohnehin eher zur CDU. Wir sollten
muss man auf Landesebene viele Gesetze eine Regierungsbeteiligung nicht ausschlie-
umsetzen, auf die man nur wenig Einfluss ßen, da stimme ich zu. Aber die Frage ist,
hat. Stichwort: Abschiebung und Asylrecht. was wir jetzt in den Vordergrund stellen.
Hinzu kommen finanzielle Zwänge, die durch Ich finde, wir sollten nicht offensiv auf eine
die Schuldenbremse noch größer geworden Regierungsbeteiligung orientieren, für die
sind. Man kann zwar sagen, wir wollen eine es bisher keine arithmetischen Mehrheiten,
Vermögenssteuer, aber man kann sie nicht kaum Bereitschaft bei SPD und Grünen und
einführen. zu wenige politische Schnittpunkte gibt.
    HARALD: Ich würde dennoch sagen, dass     HARALD: Klar, wenn wir für eine linke
die Bundesebene eine andere Herausfor- Mehrheit kämpfen, kämpfen wir erstmal für
derung darstellt. Die Ministerialapparate unsere Inhalte. Man macht keinen Wahl-
sind starrer, das Wirtschaftsministerium kampf für Regierungskompromisse. Wir
beispielsweise ist ein harter neoliberaler wollen einen grundlegenden Politikwechsel
Apparat. Und du hast es mit der internatio- und dazu muss auch die SPD sich verändern.
nalen Ebene zu tun, die betrifft die Frage von Deshalb geht es aber auch hier um die
Wirtschaftsbeziehungen, die Einbindung in Frage, ob wir – mit den Bewegungen – in der
das europäische Apparatesystem, in Sicher- Lage sind, die relevanten Themen so stark
heits-, NATO- und Bündnisstrukturen. Das zu machen, dass sie teils hegemoniefähig
macht es viel schwieriger, weil, um es mit werden. Wir sagen ja nicht: »Leute, es wird

WEHTU-FRAGE   LUXEMBURG 3/2019     127
WEHTU-FRAGE

alles wunderschön«, sondern: »Leute, wir es nicht um drei Prozent mehr oder weniger
müssen den Kampf aufnehmen um eine linke Steuersatz, sondern darum, diese völlig
Mehrheit und eine andere Politik.« Ob der falsche Entwicklung von Vermögenskon-
erfolgreich ist, ist ungewiss. zentration und Einkommensspaltung um-
Übrigens gibt es auch bei den Realos eine zukehren. Und Umverteilung heißt sowohl
wachsende Skepsis gegenüber Schwarz- innerhalb der Bevölkerung als auch hin zu
Grün. Mit Merkel konnten sich das viele gut den öffentlichen Kassen, um überhaupt
vorstellen, aber mit der Riege Kramp-Karren- wieder Spielräume für eine fortschrittliche
bauer und Merz wird es schwieriger werden. Reformpolitik herzustellen. Außerdem
    JANINE: In Hessen haben sie es mit brauchen wir einen Paradigmenwechsel in
Bouffier geschafft. Dort regieren CDU und der Außenpolitik. Hier geht es nicht nur um
Grüne seit sechs Jahren zusammen, und das Waffenexporte, sondern darum, welche
erschreckend harmonisch. Rolle Deutschland außenpolitisch spielt. Es
    HARALD: Unter diesen Bedingungen sind bräuchte ein klares Bekenntnis zur Friedens-
auch die Realos aus rein machtpolitischen politik und gegen Militäreinsätze. Natürlich
Erwägungen offener für Rot-Rot-Grün, weil müssten der sozial-ökologische Umbau und
sie die Hoffnung haben, stärkste Partei zu Klimaschutz wichtiger Bestandteil sein und
werden. In Berlin erlebe ich sie außerdem in die Wiederherstellung des Asylrechts.
einer Reihe von Fragen als gute Verbündete.     HARALD: Ich stimme zu. Vermögens- und
Das hat sich aufgrund des gesellschaftlichen Erbschaftssteuer sind zentral, um beispiels-
Klimas in der Stadt verändert, und diesen weise ein groß angelegtes sozial-ökologi-
Druck müssen wir nutzen. Wenn es am Ende sches Investitionsprogramm finanzieren
nicht reicht, haben wir zumindest gekämpft. zu können. Darüber hinaus ist die Frage
Ich glaube, das wird honoriert werden. Aber der Rekommunalisierung wichtig und die
die Haltung, »mit denen wird es sowieso Stärkung öffentlicher Infrastrukturen bis hin
nicht gehen«, halte ich für schwierig. zur Energiewende. Solange Stromnetze und
digitale Breitbandnetze privat sind, ist nicht
    Was sind die Grundlagen, die Kernprojekte viel zu machen. Dann die Sozialstaatsthe-
für eine solche Zusammenarbeit? men: Sanktionsfreiheit, Mindestsicherung
    JANINE: Wir haben ja im Programm festge- und Schutz gegen Prekarität, Durchsetzung
schrieben, dass sich die LINKE nicht an einer einer generellen Allgemeinverbindlichkeit
Regierung beteiligen wird, die Sozialabbau für Tarifverträge, Abschaffung der privaten
betreibt, Personal im öffentlichen Dienst Sicherungssysteme, also Schluss mit der
reduziert, Privatisierung vorantreibt und Privatisierung der Rente und des Zweiklas-
Soldaten ins Ausland schickt. Das sind die sensystems in der Krankenversicherung.
Haltelinien. Stichwort: solidarische Bürgerversicherung.
    HARALD: Der Negativkatalog. Hinzu kommt die Regulierung des Mieten-
    JANINE: Genau. Zentral für einen Politik- marktes auf der Bundesebene. Das wären
wechsel ist eine echte Umverteilung. Da geht wesentliche Elemente eines Reformpro-

128     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


WEHTU-FRAGE

gramms, für das es sich lohnen würde, in die wicht zwischen den Parteien. Es bringt wenig,
Regierung einzutreten. wenn du mit einer 5,1-Prozent-Partei in die
Bei den außenpolitischen Fragen müsste Regierung gehst, in den eigenen Ministerien
man realistische Korridore aufzeigen. Es einen relativ geringen Hebel hast und es
wird nicht klappen, wenn wir sagen, wir keinen gesellschaftlichen Druck gibt.
treten sofort aus der NATO aus. Wir brauchen
also Ausstiegsszenarien für die aktuellen     Noch mal zu den Kernprojekten: Reicht es,
Auslands­einsätze, eine Initiative für ein das linke Wahlprogramm aufzuzählen und
kollektives europäisches Sicherheitssystem, dann zu sagen, wenn wir das so umsetzen
also auch ein anderes Verhältnis zu Russ- können, sind wir bereit, in eine Regierung
land – bei allen Problemen, die man mit Putin einzutreten? Das wirkt doch eher statisch als
haben kann und muss. dynamisierend, oder?
    JANINE: Keine konkrete Verbesserung für
    Es gibt ja auch die Überlegung, eher eine die Menschen sollte an der LINKEN scheitern,
Minderheitsregierung zu tolerieren. Wie seht wir sollten kompromissbereit sein bei der
ihr das? Schrittlänge, aber nicht bei der Richtung.
    HARALD: Das ist keine Frage einer abstrak- Wir können Kompromisse machen, wenn
ten Modelldiskussion, sondern hängt von beispielsweise die Beschäftigung im öffentli-
der konkreten politischen Situation ab. Das chen Dienst nicht so schnell ausgebaut wird,
portugiesische Modell funktioniert sehr gut. wie wir uns das wünschen, oder etwas we-
niger neue Sozialwohnungen gebaut werden,
    Für die Sozialdemokraten… als in unserem Programm steht. Aber es darf
    HARALD: Auch für das Linksbündnis nicht in die falsche Richtung gehen – also
Bloco, sie haben bei den letzten Wahlen zum Beispiel nur 5 000 öffentliche Wohnun-
leicht hinzugewonnen. Die Sozialdemokraten gen zu verkaufen, statt 10 000 - das wären
hatten ein gutes Ergebnis, aber nicht, wie »Kompromisse«, die wir nicht machen dürfen,
befürchtet, die absolute Mehrheit. Der weil sonst eine linke Regierungsbeteiligung
Bloco de Esquerda konnte in der Frage des mit realen Verschlechterungen verbunden
Mindestlohns massiven Druck ausüben, was wäre.
honoriert wurde. Für die portugiesische     HARALD: Eine Fokussierung auf echte
Situation war das die richtige Konstellation. Kernprojekte müsste das Ergebnis eines Dis-
Die Tolerierung hat es möglich gemacht, eine kussionsprozesses innerhalb der Partei sein.
Art »Austerität mit menschlichem Antlitz« Das kannst du nur als kollektiven politischen
durchzusetzen. Prozess denken. Soweit sind wird noch nicht.
Andererseits, klar, wenn du Teil der Regie- Es ist aber ein Prozess, der meines Erachtens
rung bist, hast du andere Hebel. Das setzt dazugehört, wenn wir uns ernsthaft der
aber voraus, dass die Kräfteverhältnisse Machtfrage stellen wollen.
stimmen, sowohl was den gesellschaftlichen
Druck angeht als auch das Kräftegleichge- Das Gespräch führte Moritz Warnke.

WEHTU-FRAGE   LUXEMBURG 3/2019     129
NAHAUFNAHME

CARE-CATWALK
An dem Tag,
als es zu viel wurde ...

ALMA NADEGE
» An dem Tag, als ihr ihre Arbeit » Wir sind Freund*innen.
als alleinerziehende Mutter eines Wir kümmern uns umeinander,
Kindes mit geistiger Behinderung zu viel und das ist schön.
wurde, hat sie ihr Kind vor Verzweiflung Wir richten Partys aus und verbringen Fami-
in den Arm gebissen. lienfeste zusammen. Ich passe auf deine Kinder
Weil sie so erschöpft war, auf. Du hilfst mir, einen Ort zu finden, weil ich zu
so unter Druck, Hause rausmuss. Wir genießen Ausflüge in die
so sehr losmusste zur Arbeit. Natur. Ich organisiere dir Geld, wenn es mal wie-
Und ihr Kind so sehr der nicht reicht. Du hörst mir die ganze Nacht
nicht loswollte zur Schule, zu und am nächsten Tag im Job funktionierst du
so schwer war, vor Müdigkeit nicht. Wir füllen zusammen unse-
so wenig zugänglich für alles Überreden. re Patientenverfügungen aus. Ich habe Verständ-
Weil sie nicht mehr konnte und nis, weil du wegen Stress schon wieder den ge-
es einfach nicht möglich ist, meinsamen Kinobesuch absagst. Du holst mich
einen Morgen nicht aufzustehen, aus der Klinik ab. Ich liefere dich in die Klinik ein.
Frühstück zu machen und Wir gehen zusammen auf die Demo.
die Kinder in die Schule zu bringen. An dem Tag, an dem uns das Kümmern zu viel
Es gab viel zu wenig Pause. « wurde, haben wir heulend vor Erschöpfung
voreinander gestanden, weil jede eine Schulter
zum Anlehnen brauchte, aber jede keine Energie
mehr hatte, für die andere da zu sein. Wir sind
solidarisch. Aber es gibt für das Füreinander-da-
Sein oft zu wenig Zeit und Raum. «

130     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


NAHAUFNAHME

CARE-CATWALK
Statements, vorgetragen bei einer
Agit-Prop-Aktion zum Frauen*kampftag 2019
vor dem Gesundheitsministerium
in Berlin. Care-Arbeitende aus
NOA Denn denken die Leute
verschiedenen Feldern gaben
» Seit fünf Stunden liege nicht eh schon, dass wir
dort Überlastungs-
ich wach in meinem Bett eine undefinierbare Masse
anzeigen ab.
und kotze in einen Eimer, der sind, die zusammengehalten
eigentlich dafür da ist, das Spül- wird aus einem Kleber aus Ge-
wasser zu fassen, wenn ich meine schlechtskrankheiten, Selbsthass und
Wohnung putze. Es ist meine erste Lebensmit- Drogengebrauch?
telvergiftung des Jahres und normalerweise wäre Ich denke, ich muss ein extra gutes Beispiel sein,
das jetzt ein Grund, jede Verabredung zu canceln deswegen zwinge ich mich in mein Auto, obwohl
und mir eine Coca Cola ans Bett bringen zu lassen. mein Körper gar nicht mehr weiß, wie das geht,
Aber heute ist kein normaler Tag, denn meine Alter und kotze alle 15 Minuten in einen Busch. 
Egos Sara, Zoey und Eve haben heute einen Termin Gestern noch habe ich geplant, in meinem Lieb-
im Bezirksamt. Termin eins für die Anmeldung als lingsoutfit für die Arbeit und mit Perücke und
Prostituierte, und ironischerweise geht es um mei- Sonnenbrille eine Show abzuliefern, aber ein Autor
ne Gesundheit. hat mal geschrieben, dass wir Sexarbeitenden für
Seit fünf Stunden kämpfe ich gegen meine Übel- euch nie mehr sein werden als hohe Stiefel, die
keit, um diesen Termin wahrnehmen zu können, gegen ein Auto gelehnt stehen. Ohne Gesicht, mit
und seit einer Stunde wähle ich jede Nummer der immer der gleichen Geschichte. Mehr ein Objekt
zuständigen Behörde, um wenigstens abzusagen. als ein Mensch. Deswegen bin ich gekommen, wie
Aber niemand geht ran und ich denke an meine ich bin. Ungeschminkt und in meiner Straßenklei-
Kolleginnen und daran, ob ich uns nicht alle in den dung. Wie alle anderen. Damit ihr in mein Gesicht
Dreck ziehe, wenn ich diesen Termin nicht wahr- schauen müsst und versteht, dass wir Menschen
nehme. sind, denen ihr ihre Rechte nehmt.« 

NAHAUFNAHME   LUXEMBURG 3/2019     131
NAHAUFNAHME

CHRISTIANE MARKARD

SCHAFFEN WIR DAS?


EHRENAMTLICHE ARBEIT IN EINER
FLÜCHTLINGSUNTERKUNFT

Ich hatte mich nach meiner Pensionierung sche Ausweise für die Bewohner*innen) schie-
2015 schon länger mit dem Gedanken getra- len musste. Obwohl mir unser Ange-bot etwas
gen, Flüchtlingskinder beim Deutschlernen hilflos und unstrukturiert schien, kamen die
zu unterstützen.1 Aber wie finde ich Kinder, Kinder gern und regelmäßig, zumal ihr Alltag
die Unterstützung brauchen? Und benötige in den beengten Zimmern der Familien kaum
ich dafür nicht eine Ausbildung? Mir kam Abwechslung bot. Nach und nach kamen
ein Zufall zu Hilfe – jemand suchte Ersatz auch einige Mütter mit. Die Frauen waren
für die Betreuung von Vorschulkindern in der überwiegend Jesidinnen aus dem kurdischen
damaligen Notunterkunft im alten Rathaus Teil des Irak, die nach dem Massaker vom 3.
Berlin-Wilmersdorf. Die dort tätigen ehren- August 2014 im Gebiet um Shingal vor dem
amtlichen Betreuerinnen fragten nicht nach IS geflohen waren.
meinen Kenntnissen, sondern nahmen mich Nachdem für die Vorschulkinder in der
freundlich auf. Unterkunft eine professionelle Betreuung ein-
Insgesamt empfand ich die Situation gerichtet worden war, blieben uns die Mütter,
allerdings als ziemlich chaotisch. Die Kinder die fast alle Analphabetinnen waren. Flücht-
schrien durcheinander, die meisten Versuche, linge sind nach ihrer Anerkennung durch das
mit ihnen zu spielen, zu malen oder zu bas- Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten
teln, scheiterten nach bloß fünf Minuten: Ihr (LAF) grundsätzlich dazu verpflichtet, einen
Bewegungsdrang war kaum zu bändigen. Die Deutsch- und Integrationskurs zu absolvieren.
Benutzung der deutschen Sprache beschränk- Solange die Frauen jedoch Kleinkinder unter
te sich weitgehend auf fordernde Rufe nach einem Jahr haben, können/dürfen sie noch
Schere und Kleber für Bastelarbeiten. Die nicht an Kursen teilnehmen. Es blieb ihnen
Namen der Kinder waren für mich nur schwer daher nicht viel anderes übrig, als in der Un-
verständlich und lernbar, sodass ich immer terkunft die Zeit totzuschlagen. Also boten wir
wieder auf ihre Zugangskärtchen (elektroni- ihnen täglich zwei Stunden Deutschunterricht

132     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


NAHAUFNAHME

Viel ist zu hören über die chaotischen Zustände bei


deutschen Behörden im Umgang mit Geflüchteten.
Was dabei oft in Vergessenheit gerät, sind die vielen
Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die solidarisch
handeln und damit viel bewirken.

an. Bis wir geeignete Arbeitsbücher organisiert weitere Schulkinder gab es bald regelmäßige
hatten, arbeiteten wir mit ausgeschnittenen Verabredungen (auch mit meinem Mann), um
Buchstaben, Bilderbüchern und Sprechübun- die Hausaufgaben gemeinsam zu machen.
gen. Der Einstieg ins Deutsche war für die Als ich im ersten Jahr in den Urlaub fuhr,
Frauen unendlich mühsam und sie machten bekam ich am vierten Tag von einem Jungen
nur langsam Fortschritte. Dennoch warteten eine WhatsApp-Nachricht: »Hallo Oma, wann
sie oft schon eine Viertelstunde vor Beginn des kommst du nach Deutschland?«
Unterrichts vor der Tür auf uns. Der erste Er- Ende 2017 wurde die Notunterkunft in
folg war für sie, den eigenen Namen schreiben Wilmersdorf aufgelöst und die Bewohner*­
und damit selbst unterschreiben zu können. innen auf drei Container-Standorte (»Tem-
In der Zeit der Schulferien brachten die pohomes«) verteilt. Die von uns betreuten
Mütter ihre Schulkinder mit. Nun hatten Familien zogen zusammen in eine Gemein-
wir auch die Größeren im Raum, die sich schaftsunterkunft für 250 Personen in einem
langweilten und offenbar beschäftigt werden anderen Bezirk. Der Umzug machte ihnen
wollten. Der Lärmpegel stieg. Einige Schulkin- große Sorgen. Nicht nur, dass die angebote-
der hatten von der Schule Arbeitsmaterialien nen Wohncontainer sehr klein waren, viele
für die Ferien mitbekommen und erbaten der Kinder hatten gerade einen Schul- oder
sich Hilfe von uns. Nach einiger Zeit bat auch Kindergartenplatz gefunden und sollten nun
einer der Väter um Unterstützung bei den erneut wechseln. Die Erwachsenen hatten sich
Hausaufgaben seines Deutschkurses. Mein
Mann war bereit dazu und schließlich ergab
CHRISTIANE MARKARD ist promovierte Natur-
sich daraus für uns beide die Betreuung einer
wissenschaftlerin, Mitarbeiterin in der Redaktion
ganzen Familie. Sukzessive bildeten sich dieser Zeitschrift und engagiert sich seit ihrer
engere, spezifisch-personalisierte Betreu- Pensionierung ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe.
ungsverhältnisse heraus. Insbesondere für

NAHAUFNAHME   LUXEMBURG 3/2019     133
NAHAUFNAHME

gerade in ihrem Wohnviertel orientiert und chen Wohngebiet. Der Betreiber zeigte großen
fanden sich zurecht – und schließlich hatten Einsatz und ließ einen Kinderspielplatz, einen
sie Sorge, dass die Ehrenamtlichen, zu denen Fußballplatz und einen Grillplatz bauen und
sie ja persönliche Beziehungen entwickelt brachte einen Basketballkorb an. Für private
hatten, nicht mehr zum neuen Standort Feiern und Treffen mit den Ehrenamtlichen
kommen würden. gab es Gemeinschaftsräume, in denen auch
Auch wir Ehrenamtlichen hatten Vorbe- Deutschunterricht und Nachhilfe möglich wa-
halte. Der Umzug in die Tempohomes war ren. Inzwischen macht die Anlage im Sommer
auch ein Signal dafür, dass für die Flüchtlinge am Wochenende den Eindruck eines Dorfplat-
das Ziel einer eigenen Wohnung für weitere zes, die Frauen sitzen vor den Wohnungen,
Jahre unrealistisch blieb. Die Container – die die Männer spielen Backgammon oder grillen
die Senatorin für Integration, Arbeit und und die Kinder spielen Fangen und Verste­
Soziales, Elke Breitenbach, als »weit entfernt cken. Dennoch ist nicht zu unterschätzen,
von Schöner Wohnen« bezeichnete – bieten wie bedrückend die Enge der Container bei
auf 45 Quadratmetern jeweils Platz für vier schlechtem Wetter und im Winter ist.
Personen (zwei Zimmer, Küche, Toilette und Meine Sorge, dass die Nachbarschaft
Dusche). Die meisten Familien sind jedoch feindselig reagieren könnte, bestätigte sich
deutlich größer. Besteht die Familie zum nicht. Im Gegenteil: Bereits vor dem Einzug
Beispiel aus sieben Personen, so hat sie ein hatte der Betreiber einen Tag der offenen Tür
Anrecht auf zwei benachbarte (nicht verbunde- mit Programm und Musik organisiert. Es
ne) Container, der achte Platz wird allerdings kamen 511 Besucher*innen aus der Nachbar-
an eine alleinlebende, oftmals aus einem schaft. Die Ehrenamtskoordinatorin wurde
anderen Land kommende Person vergeben, vom Ansturm potenzieller Ehrenamtlicher
was natürlich Konfliktpotenzial birgt. fast überrannt. Es gab erstaunlicherweise so
Dennoch – der neue Standort und die gut wie keine negativen Reaktionen, verein-
Container hatten auch Vorteile. So konnten zelte verbale Provokationen liefen ins Leere
die Bewohner*innen nach einer langen Zeit oder wurden argumentativ aufgefangen; die
der Kantinenverpflegung nun endlich selber vorsorglich informierte Polizei wurde nicht
kochen, eine riesige Erleichterung. Sie konn- benötigt.
ten die Tür ihrer Wohnung abschließen, auch Irritierend war für mich zunächst die
das war vorher nicht möglich. Umzäunung der Einrichtung und die Ein-
Als wir die Anlage zum ersten Mal sahen, lasskontrolle durch einen Sicherheitsdienst.
waren wir positiv überrascht. Das Gelände Der Vorteil: Die (oft kleinen) Kinder können
selbst wirkte mit seinem alten Baumbestand nicht verloren gehen und sich auf dem Ge-
parkähnlich und lag mitten in einem bürgerli- lände frei bewegen. Nicht freundlich gesinnte

134     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


NAHAUFNAHME

Fremde können nicht unkontrolliert auf Bereich und den knappen Personalschlüssel,
das Grundstück gelangen. Der Nachteil: Für der sich an der Zahl der Bewohner*innen
Nachbar*innen ist eine derartige Schleuse orientiert, ist diese Unterstützung aber immer
erst einmal abschreckend und sie isoliert die schwerer zu leisten. Je mehr Familien eine
Bewohner*innen. Besucher*innen müssen Wohnung außerhalb der Einrichtung finden,
nach 22 Uhr die Anlage verlassen, sodass kein desto weniger Personal wird finanziert. Die
Übernachtungsbesuch möglich ist. Das ist für Betreiber haben in der Regel nur Jahresver-
Familien, die sich nach ihren Angehörigen träge und wissen oft bis Dezember nicht, ob
aus anderen Städten sehnen, sehr schwer zu und wie es im nächsten Jahr weitergeht. Für
akzeptieren. die Beschäftigten bedeutet das Zeitverträge,
Der Zugang zu den Einrichtungen ist selten oder nie in Vollzeit. Die Einrichtungen
auch für die Ehrenamtlichen mit einer Kon­ sind daher froh über jede*n Ehrenamtliche*n,
trolle des Personalausweises beziehungsweise der die Bewohner*innen zu Behörden oder
einer vom Betreiber ausgestellten Zugangs- zum Arzt begleitet. Angebote wie Sprachca-
karte (mit Bild) verbunden. Um eine solche fés, Spielnachmittage – insbesondere in der
ausgestellt zu bekommen, ist ein aktuelles Ferienzeit – und Hausaufgabenkreise für
polizeiliches Führungszeugnis erforderlich, Erwachsene und Kinder sind daher nur mit
welches für diesen Zweck kostenlos und Ehrenamtlichen realisierbar. Die Bedeutung
ohne langwierige Terminvereinbarung beim der hauptamtlichen Ehrenamtskoordination
Bürgeramt beantragt werden kann. Wir haben ist mir erst mit der Zeit klargeworden: Ohne
verschiedene Sicherheitsdienste kennenge- ihre Hilfe wäre die Abstimmung zwischen
lernt, mit deren Angestellten wir schnell ein den Ehrenamtlichen ungleich schwerer.
persönliches Verhältnis hatten; wie locker oder Nach den Planungen des Senats sol-
rigide kontrolliert wurde, hing sowohl von len die Tempohomes drei Jahre bestehen
den einzelnen Beschäftigten als auch von der bleiben. Nicht nur deswegen suchen die
Sicherheitsfirma ab. Bewohner*innen dringend Wohnungen. Die
Ein weiterer Vorteil für die Flüchtlin- Probleme liegen auf der Hand: zu wenige
ge, die in der Einrichtung wohnen, ist die und teure Angebote, zu kleine Wohnungen
große Unterstützung, die sie durch die für die großen Familien, Probleme bei der
Hauptamtlichen erhalten. Sie helfen ihnen Antragstellung oder bei Verhandlungen mit
dabei, amtliche Schreiben zu übersetzen, den der Hausverwaltung mangels fundierter
Bürokratiedschungel zu durchdringen, Schul- Sprachkenntnisse. Aber manchmal klappt es
und Kindergartenplätze zu organisieren oder dann doch – oft auch mit Unterstützung von
Arzttermine zu vereinbaren. Durch zuneh- Ehrenamtlichen. Wohnungen, die verfügbar
mende Einsparungen des Senats in diesem sind, liegen jedoch erfahrungsgemäß oft am

NAHAUFNAHME   LUXEMBURG 3/2019     135
NAHAUFNAHME

Rand von Berlin. Folglich müssen die Kinder – gemeint waren »Zeugnisse« – also auch
wieder die Schule oder den Kindergarten offizielle Dokumente. Für die Flüchtlinge ist
wechseln und die Eltern brauchen für die nicht nur die deutsche Schrift neu, viele ha-
Fahrt zum Deutschkurs manchmal jeweils ben überhaupt noch nie geschrieben. Warum
eine Stunde hin und zurück. Die Ehrenamtli- schreibt man im Deutschen manches groß,
chen können – wenn überhaupt – seltener anderes klein? Auch die Logik oder mangeln-
kommen. Die Freund*innen aus der Wohnan- de Logik von »der/die/das« kann man nur
lage sind weit weg, die Familie ist – zunächst – schwer erklären. Trotzdem stoßen wir immer
weitgehend isoliert. wieder auf großen Lerneifer und den Willen,
Nach meinem Eindruck sind die Er- sich zu verbessern. Der Radiergummi ist das
folge beim Deutschlernen für Kinder und wichtigste Utensil. Und alle halbe Stunde ein
Erwachsene das Wichtigste, um ihnen eine Seufzer: »Deutsch ist sehr schwer.«
Per­spektive in Deutschland zu eröffnen, so Etwas anders ist die Situation der Schul-
äußern es die Betroffenen auch selbst. Meine kinder. Sie kommen (in der Regel) nach einem
Erfahrung ist jedoch, dass die professionellen Jahr in einer sogenannten Willkommensklasse
Deutschkurse, die das Jobcenter bezahlt, für gleich in eine altersadäquate Schulklasse. In
viele Erwachsene zu anspruchsvoll sind und der ersten Zeit verstehen sie nur Bahnhof und
deren sehr unterschiedliche Erfahrungs- und sind oft isoliert. Was ist eine Brücke, ein Tal,
Bildungshintergründe zu wenig berücksich- ein Berg – alles muss man erst mit Bildern
tigen. Ohne Hilfe bei den Hausaufgaben zeigen. Die Lehrer*innen versuchen, die
und ohne regelmäßiges Deutschsprechen Sprachprobleme der Kinder zu berücksich-
haben nur wenige die Chance, die Prüfun- tigen, können aber auch nicht jedes zweite
gen zum B1-Niveau zu schaffen, B2 scheint Wort erklären. Die Klassenarbeiten werden in
fast unerreichbar.2 Das wichtigste Ziel für der Anfangszeit zumindest nicht benotet. Für
die Erwachsenen ist, eine gute Arbeit zu mich war überraschend, dass es nicht nur am
finden. Ihre anfängliche Hoffnung, hier eine deutschen Wortschatz hapert, sondern auch
Ausbildung zu machen, scheitert meist an bei dem hierzulande geforderten kulturellen
den fehlenden Sprachkenntnissen. Eins der Wissen (z. B. Briefmarke, Ratenzahlung – was
Probleme besteht darin, dass es kein geeig- etwa in Mathematik-Textaufgaben vorkommt).
netes Wörterbuch Deutsch-Kurdisch gibt, das Die größeren Kinder haben oft zwei Jahre
heißt, viele Wörter muss man mit Bildern durch die Flucht »verloren«, in denen sie
oder durch Umschreibungen und Gesten keine Schule besucht haben. Die können in
erklären. Da gibt es oft komische Szenen und Deutschland nicht einfach nachgeholt werden.
viel Gelächter. So wurde mir erzählt, die Kin- In Berlin ist für die Kinder so gut wie
der hätten jetzt »Führerscheine« bekommen alles neu.

136     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


NAHAUFNAHME

Für mich war eine erfreuliche Erfahrung, wie den Kontakt zu halten. Bislang ist uns das
hilfsbereit und engagiert die Lehrer*innen gelungen, denn inzwischen sind uns alle so
reagierten, mit denen wir Kontakt hatten. ans Herz gewachsen, dass wir sie ungern aus
Alle zeigten sich interessiert, zum Teil auch den Augen verlieren wollen.
überrascht, den persönlichen Hintergrund Wenn ich von der Arbeit mit den Flücht-
der Kinder zu erfahren. Die Lehrer*innen lingen erzähle, wird mir oft gesagt, das sei
waren gegenüber uns ehrenamtlichen bewundernswert. Ehrlich gesagt ist mir das
Betreuer*innen auf-geschlossen und luden immer etwas peinlich, denn man will nicht
uns zu Elternabenden und -gesprächen ein. für etwas bewundert werden, was einem
Auch die Eltern waren gern bereit, uns zu großes Glück bereitet. Ich habe selten so viele
diesen Terminen mitzunehmen. Es ist ihnen nette Leute in meinem Alter kennengelernt
wichtig, dass ihre Kinder viel lernen und sehr wie in der Gemeinschaftsunterkunft und
gut in der Schule sind. Die Note »ausreichend« die Herzlichkeit und Zuwendung seitens
ist für sie nicht akzeptabel. Dabei wären unserer großen und kleinen Schüler*innen ist
vielleicht viele deutsche Kinder froh, in allen ohnehin unbezahlbar.
Fächern auf ein »ausreichend« zu kommen. Der Wermutstropfen? Es gibt leider nicht
Wenn wir also Hausaufgabenhilfe anbie- nur einen. Wir erhalten so viele persönliche
ten, stehen die Kinder mit ihren Schulsachen Bitten und Anfragen, dass wir nicht allen
schon pünktlich vor der Tür – in der Regel gerecht werden können. Und: In den Schulen
drei Mal pro Woche. Nach unserem Eindruck wurde uns deutlich, wie viele Kinder generell –
ist ihnen klar, dass sie die Hausaufgaben mit und ohne sogenannten Migrationshinter-
allein nicht schaffen würden, oft verstehen sie grund – Unterstützung bräuchten.
schon die Aufgabenstellung nicht. Aber sicher-
lich spielt auch das persönliche Verhältnis
zwischen uns und den Kindern eine Rolle,
zumal wir mit ihnen auch außerschulische 1 Ich danke einer Ehrenamtskoordinatorin für einige
Informationen, die in diesen Erfahrungsbericht – der nicht
Aktivitäten unternehmen. Das Ziel der Kinder: beansprucht, eine Analyse der Flüchtlingspolitik zu sein –
ein guter Schulabschluss, um damit später eingeflossen sind.
2 Die Deutschkurse beginnen mit A1 (A1.1, A1.2) und A2.
eine Ausbildung in dem erwünschten Beruf Danach soll den Teilnehmenden eine einfache Verständi-
machen zu können. Aber bis dahin bleibt gung sowie das Lesen und Schreiben simpler Sätze möglich
sein. Daran schließt ein Kurs auf B1-Niveau mit Prüfung
noch viel zu tun.
an, nach dem die Teilnehmer*innen sich auch über neue
Wie wird es weitergehen? Nach und nach Themen verständigen und kleine Texte schreiben können.
werden »unsere« Familien in eigene Wohnun- Im Falle des Bestehens der B2-Prüfung sollen komplexe
Texte und Aussagen verstanden und Berichte geschrieben
gen ziehen. Sie wohnen dann in den verschie- werden können. Für eine Ausbildung wird in der Regel das
denen Ecken Berlins und es wird schwieriger, B2-Niveau vorausgesetzt.

NAHAUFNAHME   LUXEMBURG 3/2019     137
ROSALUX KOMPAKT

WAS WAR men der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin stattfand,


nahm die sozialen Konflikte der letzten 30 Jahre, die
durch den neoliberalen Umbau des Bildungswesens
entstanden sind, in den Blick. 200 Teilnehmer*innen
stellten die Frage nach möglichen Alternativen. Ein
FEMINIST FUTURE FESTIVAL abwechslungsreiches Rahmenprogramm begleitete und
12.–15. SEPTEMBER 2019 IN ESSEN bereicherte die Bildungswerkstatt – vom Kinoabend,
»Lasst uns voneinander kämpfen lernen.« Mit diesen einem theaterpädagogisch angeleiteten Kreativwork-
Worten eröffneten Aktivist*innen der Ruhrjugend, einer shop über einen Open Space-Raum bis hin zu einem
migrantischen Jugendgruppe, das viertägige Feminist Chill-out-Bereich. Experimentiert wurde mit diversen
Futures Festival in Essen. Zusammen mit dem Konzept- partizipativen, nicht-hierarchischen Bildungsansätzen.
werk Neue Ökonomie und dem Netzwerk Care Revolu- Die Workshops zeichneten sich durch einen bemer-
tion hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung das Festival auf kenswerten Methodenmix und ein breites Themen-
dem Gelände der stillgelegten Zeche Zollverein organi- spektrum aus. Die Tagung war eine Kooperationsver-
siert. Rund 1.700 Feminist*innen aus 30 Ländern eigne- anstaltung des Studienwerks und der Akademie für
ten sich diesen Ort, der für kapitalistische Ausbeutung, politische Bildung. Der Zyklus der Bildungswerkstätten
aber auch für eine männlich geprägte Arbeitskultur ist nunmehr abgeschlossen. Ihr großer Erfolg legt ein
steht, neu an: Es gab Strategiediskussionen, Empow- Fortsetzungsprojekt nahe.
erment-Workshops, Performances und eine Solidari- Dokumentation:
tätsaktion mit der lokalen Unteilbar-Demo. »Lasst uns www.rosalux.de/dokumentation/id/40775/
träumen, wie unsere Zukunft aussehen soll. Denn wenn
wir träumen, fangen wir an zu handeln«, so Sandra »SCHICKSAL TREUHAND – TREUHAND-SCHICKSALE«
Morán, lesbische Parlamentsabgeordnete der Linkspar- WANDERAUSSTELLUNG, AUGUST 2019 BIS JANUAR 2020
tei Convergencia aus Guatemala. Das Festival knüpfte 30 Jahre politische Wende in der DDR, die Grenzöff-
an die weltweiten feministischen Protestbewegungen nung und die deutsche Vereinigung rufen in diesem
an, die einen Gegenpol zum Neoliberalismus und zur Jahr viele Erinnerungen wach. Ein Kapitel beschäftigt
Gefahr von rechts darstellen. In einem neuen »Feminis- die Mehrzahl der Ostdeutschen nach wie vor besonders
mus für die 99 Prozent« organisieren sich diese gegen stark: das Agieren der Treuhandanstalt. Laut Gesetz
jegliche Form von Ausbeutung und Diskriminierung, sollte sie das ehemalige volkseigene Vermögen priva-
gegen die Abwertung von Care-Arbeit, gegen Umwelt- tisieren und Arbeitsplätze sichern sowie neue schaf-
zerstörung, sexistische Gewalt und Rassismus. Das fen. Die Realität war eine andere: Unzählige Betriebe
Festival bot einen Raum für Austausch und Vernetzung wurden privatisiert oder liquidiert. Millionen Menschen
und hat gezeigt, dass eine intersektionale feministische wurden quasi über Nacht arbeitslos. Individuelle Le-
Klassenpolitik als transnationales Projekt die große bensleistungen, berufliche Qualifikationen aus 40 Jah-
Hoffnungsträgerin für eine sozialistische Zukunft ist. ren DDR und die Emanzipationserfahrungen der Jahre
Dokumentation: 1989/90 waren nichts mehr wert. Die Rosa-Luxemburg-
www.rosalux.de/dokumentation/id/41039/ Stiftung hat das Thema in diesem Jahr mit einer Wan-
derausstellung und der Begleitbroschüre »Schicksal
»BILDUNG IS A BATTLEFIELD« Treuhand – Treuhand-Schicksale« aufgegriffen.
BILDUNGSWERKSTÄTTEN, JULI 2019 IN BERLIN Infos und Termine:
Vor drei Jahren startete die Stiftung mit »Experiment www.rosalux.de/dossiers/1989-aufbruch-ins-ungewisse/
Bildung« ein neues Veranstaltungsformat. Es dient
dem Erfahrungsaustausch unter Menschen, die an SOZIALE RECHTE STÄRKEN UND GEWERKSCHAFTEN
unterschiedlichen Stellen ins Bildungssystem integriert IN DEN BLICK NEHMEN
sind: Lehrende und Lernende, Theoretiker*innen und BÜROERÖFFNUNG IN GENF, SEPTEMBER 2019
Praktiker*innen. Der diesjährige zweitägige Workshop Seit dem 1. September hat die Rosa-Luxemburg-Stif-
»Bildung is a Battlefield«, der Anfang Juli in den Räu- tung ein neues Auslandsbüro in Genf. Mit gleich zwei

138     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


ROSALUX KOMPAKT

thematischen Entsendungen stellt sich die Stiftung seit Ende des Ersten Weltkriegs. Die Tagung wird am
damit inhaltlich stark auf. Nicht die lokale Arbeit soll 13. Februar von 14 bis 21 Uhr im Centre Marc Bloch in
im Mittelpunkt des Büros stehen, sondern die Ent- der Friedrichstraße 191 in Berlin-Mitte stattfinden.
wicklung inhaltlicher Expertise entlang der beiden Weitere Infos:
Schwerpunkte soziale Rechte und internationale www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/3NZSJ/
Gewerkschaftsarbeit. Im Mittelpunkt steht dabei das
Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Wenn in »SALON BILDUNG« IN 2020
86 Prozent aller Länder die Beschäftigten keinen Zu- INTERVENTIONEN GEGEN DIE NEUE RECHTE
gang zu Tarifverträgen haben und damit ihre Arbeitsbe- Die Rosa-Luxemburg-Stiftung setzt ihr erfolgreiches
dingungen nicht regeln können, dann drückt sich darin Format »Salon Bildung« mit vier Veranstaltungen fort.
ein starkes Ungleichgewicht in den Arbeitsbeziehun- Die Reihe steht dieses Mal unter dem Motto emanzipa-
gen aus. Aufgabe des Genfer Büros wird es sein, die torische Interventionen gegen die erstarkte Neue Rech-
Notwendigkeit sozialer Rechte vor allem im globalen te. Die Bandbreite der Themen reicht vom Genderhass
Maßstab herauszustellen und mit den Gewerkschaften der Rechten über Bildung und Kabarett bis hin zu der
diejenigen zu stärken, die diese Rechte und die Interes- immer noch leitenden Frage, wie nach Auschwitz die
sen der Beschäftigten erfolgreich durchsetzen können. Pädagogik gegen Antisemitismus und Rassismus vor-
gehen kann. Beginnen wird die Reihe zu letzterem The-
ma mit der Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin

WAS KOMMT Katharina Rhein. Sie wird am 19. März 2020 um 18.30
Uhr im Salon der RLS in Berlin zu Gast sein.
Weitere Infos:
www.rosalux.de/news/id/39882

VOM VÖLKERBUND BIS DONALD TRUMP »DAS KAPITAL LESEN« 2020


TAGUNG, 13. FEBRUAR 2020 IN BERLIN LEKTÜREKURSE AB 17. FEBRUAR 2020 IN BERLIN
Multilateralismus gilt als eine der wesentlichen Errun- Die kritische Untersuchung ökonomischer und po-
genschaften internationaler Politik in der zweiten Hälfte litischer Zusammenhänge ist für gesellschaftliche
des 20. Jahrhunderts. Gern wird dabei auf die zentrale Emanzipation unverzichtbar. Die Marx’sche Kritik der
Rolle verwiesen, die internationale Organisationen seit politischen Ökonomie stammt zwar aus dem 19. Jahr-
Gründung des Völkerbunds nach dem Ersten Weltkrieg hundert, ist aber nach wie vor eine der profundesten
für den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Analysen des Kapitalismus. Seit 2006 organisiert die
den Ländern spielten. Doch nicht erst seit Donald Rosa-Luxemburg-Stiftung »Kapital«-Lektürekurse. In
Trump wird der Multilateralismus als Ansatz internati- wöchentlichen Treffen wird das Hauptwerk von Karl
onaler Politik infrage gestellt, und zwar nicht nur aus Marx gemeinsam diskutiert. Teamer*innen strukturie-
der Perspektive einer nationalistischen Haltung à la ren die Sitzungen, die Teilnehmer*innen besprechen
»America first«, sondern auch unter Verweis auf die den gelesenen Text anhand von Orientierungsfragen.
sehr realen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse auf Externe Referent*innen kommen zu Wiederholungs-
der internationalen Bühne, die durch den Begriff eher sitzungen oder zu Vorträgen rund um die Kritik der po-
verschleiert oder beschönigt werden. litischen Ökonomie. Der Kurs zu Band 1 des »Kapital«
Aus Anlass des 100. Jahrestags der Gründung des startet am 17. Februar 2020 (19 bis 21 Uhr) und findet
Völkerbundes veranstaltet die Rosa-Luxemburg-Stif- dann wöchentlich immer montags in den Räumen
tung gemeinsam mit dem Centre Marc Bloch und in der Stiftung statt. Der Kurs zu Band 3 des »Kapital«
Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag eine Tagung beginnt einen Tag darauf zur gleichen Zeit und wird
zu Mythos und Realität des Multilateralismus in der ebenfalls wöchentlich stattfinden.
internationalen Politik. Gefragt wird nach Chancen und Anmeldung:
Grenzen eines auf Zusammenarbeit und Ausgleich www.rosalux.de/news/id/41248/
ausgerichteten Ansatzes der internationalen Politik

ROSALUX KOMPAKT   LUXEMBURG 3/2019     139


ROSALUX KOMPAKT

MIT WEM was Kapitalismus? Was hat das Geschlechterverhältnis


mit der Wirtschaftsordnung zu tun? Welche Formen
von Eigentum gibt es? Ist Wachstum noch zeitgemäß?
Wohin entwickelt sich der Kapitalismus derzeit? Und
schließlich: Welche Alternativen werden in sozialen
ÜBER DEN ROHSTOFF DES ATOMZEITALTERS Bewegungen diskutiert und erprobt? Stichworte sind
URANATLAS VERÖFFENTLICHT dabei Postwachstumsökonomie, Vergesellschaftung,
Der Rohstoff Uran scheint unverzichtbar: »Extraktion Care Revolution, Wirtschaftsdemokratie, Commons,
ohne große Risiken«, »gewinnbarer atomarer Erst- Genossenschaften und partizipatorische Ökonomie.
schlag« und »Kernkraft als klimaneutrale Alternative« Damit wird der Fokus auf die politische Gestaltbarkeit
lauten die Parolen. Weltpolitik ist gegenwärtig auch der Wirtschaftsordnung gelegt.
Atompolitik. Die Nuklearindustrie versucht, überall mit Weitere Infos:
am Tisch zu sitzen. Doch die Wahrheit ist: Der globale www.rosalux.de/news/id/40634/
Norden externalisiert Umwelt- und Gesundheitsrisiken
VOM AUSSTERBEN BEDROHT?
durch den Uranabbau im globalen Süden. Uran ist an
VERANSTALTUNG ZU AFRIKANISCHEN SCHUTZGEBIETEN,
einem Tiefstpreis angelangt, die Kosten für Atomstrom
NOVEMBER 2019 IN BERLIN
sind gigantisch, selbst wenn man die Endlagerung
Deutschland ist einer der wichtigsten Finanziers von
nicht mitrechnet. Letztere wiederum ist bis heute in
Schutzgebieten in Afrika. Die einzigartige Flora und
den meisten Ländern ungelöst. Und Atomwaffen wer-
Fauna dieser Gebiete ist derzeit auf vielfältige Weise
den als Droharsenale aufgebaut. Der Uranatlas, der von
bedroht. Das Ziel, das afrikanische Naturerbe zu bewah-
der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Nuclear Free Future
ren, ist daher unstrittig. Zugleich mehren sich Berichte,
Foundation, dem Bund für Umwelt und Naturschutz
dass Teile der lokalen Bevölkerung Schutzgebiete auch
Deutschland und Le Monde diplomatique heraus-
als Bedrohung erleben. So geht die Entstehung vieler
gegeben wurde, verdeutlicht die globale Dimension
dieser Gebiete auf die Kolonialzeit zurück oder fand ohne
der Atompolitik und die damit verbundenen Risiken
Einwilligung der lokalen und der indigenen Bevölkerung
und berichtet über den weltweiten Widerstand gegen
statt. Am 6. November hatte die Rosa-Luxemburg-Stif-
Uranabbau und Atomenergie. Er bietet Zugang zu einer
tung gemeinsam mit Forum Umwelt und Entwicklung,
Materie, die in der Öffentlichkeit kaum diskutiert wird.
Brot für die Welt, der Gesellschaft für bedrohte Völker,
Download und Bestellung:
dem Ökumenischen Netz Zentralafrika und der taz zu
www.rosalux.de/publikation/id/40912/
einer Diskussion eingeladen und damit den Dialog unter-
schiedlicher Akteur*innen ermöglicht. Im Zentrum stand
KAPITALISMUS IM UNTERRICHT
die Frage: Wie können die Förderung von Naturschutz,
Damit Schule ihrem Bildungsauftrag gerecht werden
Menschenrechten und langfristigen Entwicklungspers-
kann, Kindern ein Verständnis für soziale, kulturelle
pektiven besser miteinander vereinbart werden?
und geschichtliche Zusammenhänge zu vermitteln,
bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit The-
men der Politischen Ökonomie. Deshalb hat Attac das
von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Bildungs-
WER SCHREIBT
material »Kapitalismus – oder was? Über Marktwirt-
schaft und Alternativen« herausgebracht. Es ist für
den Einsatz im Unterricht (Sekundarstufe I und II), aber
auch in Seminaren von Gewerkschaften, Verbänden PERSPEKTIVEN EMANZIPATORISCHER
und anderen Bildungseinrichtungen gedacht. Es ist JUGENDBILDUNG
so konzipiert, dass es an Lehrplanthemen wie soziale HEFT 7 DER REIHE »BILDUNGSMATERIALIEN«
Marktwirtschaft anschließt, zugleich aber grundsätz- Wie funktioniert solidarisches Lernen? Was können wir
liche Fragen zur Funktionsweise des Kapitalismus tun, um das aktuelle Erstarken von Nationalismus, au-
aufwirft: Was bedeutet eigentlich Marktwirtschaft und toritärer Kontrollpolitik, rassistischer Hetze und anderen

140     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


ROSALUX KOMPAKT
Ausgrenzungen in der Gesellschaft aufzuhalten? Wie stelt mit diesem Band (Manuskripte 23) von Mario
sieht ein kollektiver Prozess aus, der es jungen Men- Candeias, Klaus Dörre und Thomas Goes Materialien
schen ermöglicht, herrschaftskritische und selbstreflek- an der Schnittstelle von neuer Klassenanalyse und
tierte Positionen zu entwickeln? Emanzipatorische Bil- verbindender Klassenpolitik bereit.
dungsarbeit ist ein komplexes Feld. Eines scheint dabei Download und Bestellung:
jedoch klar zu sein: Die Bildungspraxis ist entscheidend. www.rosalux.de/publikation/id/41059/
Lernen bedeutet, Fragen zu stellen, sich für andere
Erfahrungen zu öffnen. Anders als in einem zunehmend STÄDTISCHE UMWELTGERECHTIGKEIT
neoliberal ausgerichteten Bildungssystem, das auf die STUDIE ZU SOZIAL-ÖKOLOGISCHER TRANSFORMATION
Konformität von Menschen abzielt, ist emanzipatorische Die ökologische Krise spitzt sich zu. Kipppunkte
Bildung an der Veränderung des Status quo interes- werden früher erreicht als angenommen. Klimapoli-
siert. »Was wir brauchen, ist eine Haltung.« Hier setzt tik entwickelt sich zu einem Kristallisationspunkt für
das neue Bildungsmaterial von Ann-Katrin Lebuhn und erneuerte gesellschaftliche Bewegung. Parteipolitisch
Vanessa Höse an. Es befasst sich nicht nur mit relevan- profitieren in Europa davon eher die Grünen. Dies
ter Theorie, sondern liefert auch Methodenbausteine hat viel mit dem falschen Gegensatz von sozialer
und Beispiele aus der Bildungsarbeit, die neugierig auf und ökologischer Frage zu tun. Dabei ist die Frage
komplexe Erklärungszusammenhänge machen und mo- der Klimagerechtigkeit eine soziale Frage globalen
tivieren, sich einzumischen. Nicht zuletzt geht es dabei Maßstabs – die Folgen des Klimawandels, aber auch
um die kritische Aneignung von sozialer Wirklichkeit einzelner klimapolitischer Maßnahmen sind klassenmä-
und um das Erkennen und die Wahrnehmung kollekti- ßig extrem ungleich verteilt, weltweit wie innerhalb der
ver Handlungsoptionen und die Formulierung eigener einzelnen Gesellschaften. Die Studie analysiert diese
Visionen von der Welt, wie sie sein könnte. Ungleichheiten und Widersprüche. Sie zeigt aber auch
Download: Ansatzpunkte für eine progressive Verwaltungspraxis
www.rosalux.de/publikation/id/40408/ für mehr Umweltgerechtigkeit auf – zum Beispiel in
Berlin – und stellt sie ins Verhältnis zu sozialen Kämp-
»DEMOBILISIERTE KLASSENGESELLSCHAFT fen, die als Auseinandersetzungen um Umweltgerech-
UND POTENZIALE VERBINDENDER KLASSENPOLITIK« tigkeit interpretiert werden können. Hier ergeben sich
Viele Jahre kaum beachtet, sind »Klassen« und »Klas- konkrete Perspektiven einer ökologischen Klassenpoli-
senpolitik« als Begriffe mit Wucht in den öffentlichen tik für soziale Bewegungen und linke Stadtregierungen,
Diskurs zurückgekehrt. Klasse ist in permanenter die es weiter auszuarbeiten gilt.
Veränderung begriffen. Alte Milieus sind in Auflö- Download und Bestellung:
sung, neue entstehen, scheinbar aber fragmentierter, www.rosalux.de/publikation/id/41021/
pluraler, weiblicher, migrantischer und prekär. Damit
einher gehen veränderte Subjektivitäten sowie neue EINE ANDERE GESCHICHTE?
Ansätze von Kämpfen in veränderten Konstellationen. CHRONIK DER POLITISCHEN WENDE VOR 30 JAHREN
Wie lassen sich also die verschiedenen Teile der Klasse Mit dieser Chronik blicken wir zurück auf Alternativen
verbinden? Wie kann eine neue Klassenanalyse die für jenseits der Realitäten der alten BRD und der DDR, die
einen Teil der gesellschaftlichen Linken zentral gewor- 1989/90 diskutiert wurden. Neue linke und soziale
dene Strategie einer »verbindenden Klassenpolitik« Bewegungen und Parteien entstanden. Viele Men-
empirisch und theoretisch begleiten? »Grundsätzlich schen, die vorher mehr oder weniger passiv politische
kann zwischen einer eher konservierenden und einer Entwicklungen beobachtet hatten, wurden politisch
eher transformierenden Klassenpolitik unterschieden aktiv. Eine andere Welt schien möglich.
werden. Transformierende Klassenpolitik benötigt die Website:
Vision einer besseren, nachkapitalistischen Gesell- https://cdn.knightlab.com/libs/timeline3/
schaft. Die beginnende Debatte um eine neo- oder latest/embed/index.html/
ökosozialistische Option weist in diese Richtung«, so
Klaus Dörre. Die Reihe »Beiträge zur Klassenanalyse«

ROSALUX KOMPAKT   LUXEMBURG 3/2019     141


AKTUELLE PUBLIKATIONEN

Marius Liedtke und Daniel Marwecki


VON INFLUENCER*INNEN
LERNEN
Youtube & Co. als Spielfelder
linker Politik und Bildungsarbeit
STUDIEN 7/2019, 1. Aufl.
26 Seiten, Broschur
Dezember 2019, ISSN 2194-2242
Download und Bestellung unter:
www.rosalux.de/publikation/id/41321
Karl-Heinz Heinemann (Hrsg.)
DIGITALPAKT
UND DIE FOLGEN
e
Weiter Was und wem soll
a t io nen digitale Bildung nützen?
Publik r MATERIALIEN Nr. 30, 1. Aufl.
unte
.de
osalux
52 Seiten, Broschur
www.r November 2019
ISSN 2199-7713
Download und Bestellung unter:
www.rosalux.de/publikation/id/41307

Luc Jochimsen (Hrsg.)


KULTUR NEU DENKEN
Zehn Jahre szenische Lesungen über
das «kurze 20. Jahrhundert»
152 Seiten, Broschur, November 2019
ISBN 978-3-948250-06-5
Download und Bestellung unter:
www.rosalux.de/publikation/id/41306

Stefania Maffeis
MIGRATION ALS
MENSCHENRECHT?
Robert Maruschke Theoretische und politische
LINKES ORGANIZING Debatten in Europa
Interviews und Arbeitsmaterialien ANALYSEN Nr. 56, 2. Aufl.
36 Seiten, Broschur, Dezember 2019 44 Seiten, Broschur, Mai 2019
ISBN 978-3-948250-07-2 ISSN 2194-2951
Download und Bestellung unter: Download und Bestellung unter:
www.rosalux.de/publikation/id/41297 www.rosalux.de/publikation/id/40439

142     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


2/2019 SCHÖNER WOHNEN
Die Wohnungsfrage ist mit Wucht zurückgekehrt. In den großen Städten explodieren die Mieten,
2
3
EINE ZEITSCHRIFT DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG 2
ENTEIGNUNG ALS GESCHÄFTSMODELL
SOZIALEN WOHNUNGSBAU ANDERS MACHEN
19

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2019


2015
bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware. Zugleich machen immer mehr Menschen gegen den
Mietenwahnsinn mobil. Hausgemeinschaften und Nachbarschaften organisieren sich. Die
KLEINGÄRTEN UND KLASSENKAMPF
WIE LEBEN IN RECHTEN RÄUMEN?

LUXEMBURG
MIETER*INNEN GEGEN IMMOBILIENKONZERNE
SCHÖNER WOHNEN MARGIT MAYER | ANDREJ HOLM | INGO SCHULZE

Forderung nach Enteignung großer Immobilienkonzerne erhält ungeahnte Zustimmung. Linke


SCIENCE FICTION UND URBANE REALITÄT
KATALIN GENNBURG | KNUT UNGER | GRETA PALLAVER | ARMIN KUHN
WENDEZEIT – WER SCHREIBT GESCHICHTE?
ULRIKE HAMANN | REMZI UYGUNER | BEA FÜNFROCKEN | CHRISTOPH
ISSN 1869-0424 TRAUTVETTER | ERASMUS SCHÖFER | MARIEKE PREY | JAN SAHLE U.A.

Landesregierungen wie der Berliner Senat versuchen den Kurswechsel. Doch wie lässt sich das
Wohnen dem Markt entreißen? Wie sehen Alternativen aus, die nicht nur sozialer, sondern auch
demokratischer sind? Wie geht eine linke Wohnungspolitik, die sich am Gemeinwohl orientiert
und Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausspielt?

BEITRÄGE VON Margit Mayer, Andrej Holm, Katalin Gennburg, Knut Unger, Greta Pallaver,
Armin Kuhn, Ulrike Hamann, Remzi Uyguner, Bea Fünfrocken, Christoph Trautvetter, u.a.

Juni 2019, 136 S.

1/2019 EUROPA – TROTZ ALLEDEM


Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise. Fliehkräfte und Gegensätze nehmen zu, ein
13
EinE ZEitschrift dEr rosa-LuxEmburg-stiftung 1
das LinkE diLEmma mit Europa
autoritärEr konsEns: das Eu-sichErhEitsrEgimE
19

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2019


2015
Fortbestehen der Union ist nicht gesichert. Zugleich festigen und vertiefen die Politiken der EU
globale Ungleichheiten. Die real existierende EU repräsentiert nicht in Ansätzen das Europa,
monstEr und gEspEnstEr
momEntum für Ein Europa dEr ViELEn
LUXEmbURG

EinE fEministischE intErnationaLE im WErdEn


Europa – trotZ aLLEdEm stuart haLL | kathrin röggLa | Lukas

das wir uns wünschen. Doch wie lässt sich der europäische Horizont im Blick behalten, ohne
Was ist dEmokratischEs charisma?
obErndorfEr | fLorian WEis | kErstin WoLtEr | max LiLL | aLEx
rEproduktiVE gErEchtigkEit
WischneWski | hannah schurian | andrej hunko | Beppe caccia |
issn 1869-0424 WEnkE christoph | stEfaniE krohn | sandro mEZZadra u.a.

die neoliberalen Institutionen der EU als Geschäftsgrundlage zu akzeptieren? Wie lassen sich
solidarische Antworten finden auf transnationale Herausforderungen? Wie lässt sich Europa
anders machen: solidarisch und demokratisch und im Interesse der Vielen?

BEITRÄGE VON Beiträge von Stuart Hall, Kathrin Röggla, Lukas Oberndorfer, Florian Weis, Kers-
tin Wolter, Max Lill, Alex Wischnewski, Hannah Schurian, Andrej Hunko, Beppe Caccia, Wenke
Christoph, Stefanie Kron, Sandro Mezzadra u.a.

April 2019, 136 S.

3/2018 ICH WERDE SEIN


Rosa Luxemburg steht für eine Haltung, in der Entschiedenheit im politischen Kampf und »weit-
herzigste Menschlichkeit« ein Ganzes bilden. 100 Jahre nach ihrer Ermordung ist sie zur Ikone
geworden, doch die Beschäftigung mit ihrem Werk bleibt oft oberflächlich. Die Jubiläumsausgabe
fragt nach der Bedeutung ihres Denkens und Tuns für heute: Wie dachte Luxemburg das Verhält-
nis von Partei und Bewegung? Wie hielt sie es mit dem Internationalismus? Wie können wir uns
als Feminist*innen auf sie beziehen? Wie ging sie mit dem Widerspruch zwischen Reform und
Revolution um? Und was können wir von ihr über Strategien der Organisierung lernen?

BEITRÄGE VON Drucilla Cornell | Michael Brie | Alex Demirović | Judith Dellheim | Janis Ehling |
Gal Hertz | Michael Löwy | Miriam Pieschke | Holger Politt | Ingo Schmidt | Tove Soiland | Jörn
Schütrumpf, Ingar Solty & Uwe Sonnenberg u.a.

Januar 2019, 176 Seiten

2/2018 AM FRÖHLICHSTEN IM STURM: FEMINISMUS


Der Wind weht scharf. Autoritarismus und Rechtsradikalismus gewinnen an Zustimmung.
2
3
eine zeitsChrift der rosa-luxeMBurg-stiftung 2
von #Metoo zu #WestriKe
einstiege in eine feministische trAnsformAtion
18

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2018


2015
Aber auch der Feminismus ist zurück. Er bildet die einzige transnationale Bewegung, die
einen sicht­baren Gegenpol zur Rechten und zum Neoliberalismus markiert und den Aufbruch
gender als syMBolisCher Kitt
transfeMinisMus und neue KlassenpolitiK
LUXEmbURG

faMilien- und gesChleChterpolitiK á la afd


Am fröhlichsten im sturm: feminismus Margarita tsoMou |

in eine bessere Zukunft verkörpert. Sie ist sozial heterogen und thematisch vielfältig – AM
Kinder, KüChe, KlassenKaMpf
Kate Cahoon | atlanta ina Beyer | WeroniKa grzeBalsKa | lia
leBensWeise als frage gloBaler gereChtigKeit
BeCKer | Melinda Cooper | liz Mason-deese | eszter Kováts |
issn 1869-0424 andrea pető | alex WisChneWsKi | stefanie hürtgen u.a.

­FRÖHLICHSTEN IM STURM! Wie kann ein inklusiver Feminismus aussehen? Wie lässt er sich
von den Rändern her entwickeln? Und wie kann eine feministische Klassenpolitik entstehen,
die auch die Klassenanalyse auf die Höhe der Zeit bringt?

BEITRÄGE VON Margarita Tsomou | Kate Cahoon | Atlanta Ina Beyer | Weronika Grzebalska | Lia
Becker | Melinda Cooper | Liz Mason-Deese | Eszter Kováts | Andrea Pető | Alex Wischnewski |
Stefanie Hürtgen u.a.

September 2018, 144 Seiten

SOCIALISM FOR FUTURE LUXEMBURG 3/2019     143


IMPRESSUM

LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 3/2019


ISSN 1869-0424

Herausgeber: Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung


V.i.S.d.P.: Barbara Fried, barbara.fried@rosalux.org, Tel: +49 (0)30 443 10-404
Redaktion: Harry Adler, Michael Brie, Mario Candeias, Judith Dellheim, Alex DemiroviĆ,
Kai Feldheim, Barbara Fried, Corinna Genschel, Christiane Markard, Katharina Pühl,
Rainer Rilling, Thomas Sablowski, Hannah Schurian, Ingar Solty und Moritz Warnke.

Kontakt zur Redaktion: luxemburg@rosalux.org


Redaktionsbüro: Harry Adler, harry.adler@rosalux.org
Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin
Telefon: +49 (0)30 443 10-157
Fax: +49 (0)30 443 10-184
www.zeitschrift-luxemburg.de
Join us on Facebook: http://www.facebook.com/zeitschriftluxemburg
Twitter: http://twitter.com/luxemburg_mag

Abonnement: Die LuXemburg kostenfrei.


Bestellen unter: www.zeitschrift-luxemburg.de/abonnement
Förderabonnement: Jede Spende ist willkommen.

Copyleft: Alle Beiträge, sofern nicht anders ausgewiesen, laufen unter


den Bedingungen der Creative Commons License:

Bildnachweise:
Titel: © Sebastian Gündel/RLS
S. 3–5, 34–35, 43, 52/53, 59: © Migrar Photo
S. 10: © Anthony Boccaccio, gettyimages
S. 54/55: Sergio Rozas
S. 65–69: © Molly Crabapple/The Intercept
S. 70: © Michael Appleton/Mayoral Photography
S. 100: Paul Schulze
S. 106: © Ulrich Stelzner/Umbruch Bildarchiv
S. 116: © Tamar Magradze

Lektorat: TEXT-ARBEIT. Lektorats- und Textbüro für Politik, Wissenschaft und Kultur;
www.text-arbeit.net

Beileger: Lettre International

Grafik und Satz: Matthies & Schnegg – Ausstellungs- und


Kommunikationsdesign, www.matthies-schnegg.com

Druck: DRUCKZONE GmbH & Co. KG, Cottbus,


Druck auf PEFC-zertifiziertem und säurefreiem Papier

144     LUXEMBURG 3/2019   SOCIALISM FOR FUTURE


03
19
Alex Demirović X Sarah Leonard
Verónica Gago X Étienne Balibar
Vishwas Satgar X Bini Adamczak
Jan Rehmann X Dorothee Häußermann
Ingar Solty X Jan Dieren
Rhonda Koch X Moritz Warnke
Annett Gröschner u.a.

X Konkrete Dystopie
und neue Lust am Sozialismus
X Szenarien einer Welt von morgen
X Frischer Wind für einen
Green New Deal
X Investitionen for Future
oder schwarze Null for ever?
X LINKE und Regierung –
(k)ein heißes Eisen
X Wendezeit Memories
X Kollektiv fühlen lernen

DIE ZEITSCHRIFT DER


ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG
ISSN 1869-0424

Das könnte Ihnen auch gefallen