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Frauen als Imam?

Diskussionspapier
Sommer 2005

Anläßlich des Freitagsgottesdiesntes in New York am 18. März, der von Dr. Amina Wadud geleitet wurde, und der
darauf folgenden emotional geladenen öffentlichen Debatte bin ich wiederholt nach meinen Ansichten zu diesem
Thema gefragt worden. Ich denke allerdings, daß die Angelegenheit zwar auf den ersten Blick einfach klingt,
tatsächlich aber komplizierter ist als sie zu sein scheint. Ich würde deshalb gern einige Denkanstöße zu der laufenden
Diskussion beitragen, statt einen eigenen Standpunkt vorzustellen.

Zunächst einmal ist es überhaupt nicht klar, wovon wir eigentlich reden. Weit davon entfernt, ein wohldefinierter
"Dienstrang" zu sein, wird das Wort "Imâm" nämlich mit einem weiten Spektrum von verschiedenen Bedeutungen
benutzt. Im gegenwärtigen sunnitischen Sprachgebrauch bezeichnet es normalerweise den Leiter eines spezifischen
Gebets oder den regelmäßigen Leiter von Gebeten in einer Gemeinde oder den Leiter einer Moschee; außerdem wird es
als Ehrentitel für einen hervorragenden Gelehrten benutzt, z.B. Imâm Abu Hanîfa und andere Begründer muslimischer
Rechtsschulen, oder Imâm al-Ghazzâli und andere, die an einem bestimmten Punkt in der Geschichte die muslimische
Tradition wiederbelebt haben. Zu Beginn der 'Abbassidenzeit wurde der Kalif als Imâm bezeichnet. Im gegenwärtigen
schiitischen Sprachgebrauch wird das Imamat als eine Fortsetzung der Rechtleitung nach Abschluß der Periode des
Prophetentums betrachtet, wobei der Imâm sowohl ein politischer als auch ein spiritueller Führer der Gemeinde ist, ein
Lehrer esoterischen Wissens und die Autorität für die Interpretation des Qur'an. In der ja'faritischen Tradition bezieht
sich dies spezielle auf einer Linie von zwölf Persönlichkeiten in elf Generationen aus der Familie des Propheten
Muhammad, von denen die Rückkehr des letzten als eschatologischer Imâm Mahdi erwartet wird. Die Ismailitische
Tradition enthält mehr esoterische Lehren und sieht im Imamat sowohl erbliche Funktion als auch ein kosmisches
Prinzip. Die Kharijiten benutzen den Ausdruck für einen wählbaren und abwählbaren politischen Führer unter
Bezugnahme auf die Aussage des Propheten: "Wählt den besten unter euch zum Anführer (Imâm)." Im Qur'an wird das
Wort in einem viel grundlegenderen Sinne benutzt und bezieht sich auf führende Beispiele wie Abraham (Surah 2:124)
oder die Richter der Kinder Israel (Surah 32:23-24) oder das Potential rechtschaffener Menschen im allgemeinen (Surah
25:74; 28:4-5), aber auch auf irreführende Beispiele wie Pharao und seinesgleichen, die "zum Feuer" führen (Surah
28:39-41). Mit seiner Herkunft aus der Wurzel amma, voranschreiten, führen, vorn sein, ist das Wort Imâm mit dem
Wort umm, Mutter, verwandt, das über den biologischen Aspekt hinaus Quelle, Grundlage, Wesen und Matrix bedeutet.

Der zweite anscheinend unklare Punkt in der gegenwärtigen Debatte ist die Methodologie. Sowohl Befürworter als auch
Kritiker jenes Freitagsgottesdienstes in New York ziehen sehr oft vorschnelle Schlußfolgerungen entweder aus
einzelnen Überlieferungen, da der Qur'an nicht direkt auf die Frage Bezug nimmt, oder aus angenommenen Prinzipien,
ohne den Hintergrund auszuloten oder den Zusammenhang zu beachten. Eins der häufigsten Argumente ist, daß "dies
nie zuvor stattgefunden hat oder für möglich gehalten wurde und demnach nicht stattfinden sollte". Es gibt tatsächlich
das methodologische Prinzip von Istishâb, der Fortführung einer rechtlichen Regelung, solange die Bedingungen
dieselben bleiben, wodurch rechtliche und gesellschaftliche Experimente als Selbstzweck vermieden werden sollen und
das für Veränderungen einen zwingenden Grund fordert, besonders dann, wenn es um gottesdienstliche Handlungen
('Ibâdât) geht. Besonders in den sunnitischen Rechtsschulen ist es zu einer unausgesprochenen Überbetonung dieses
Prinzips gekommen, noch verstärkt durch die Doktrin, daß angeblich "die Tore des Ijtihâd (Islamische Rechtsfindung)
geschlossen" seien, was oft zu einer Inflexibilität im Recht geführt hat, während diejenigen Stimmen, die nicht nur eine
Wiederbelebung des Ijtihâd forderten, sondern auch in verschiedener Weise auf Reformen hinarbeiteten, wie Ibn
Taimiya (gest. 1328), Shah Waliullâh (gest. 1762), Muhammad Abduh (gest. 1905) und viele andere, niemals
geschwiegen haben. Selbst in gottesdienstlichen Dingen sind Veränderungen vorgenommen worden: während wir es als
gegeben hinnehmen, daß wir dem prophetischen Vorbild folgen, z.B. beim rituellen Gebet (und dies zweifellos im
Prinzip auch tun), folgen wir tatsächlich standardisierten Anweisungen muslimischer Gelehrter aus der formativen Zeit,
deren Einzelheiten von einer Rechtsschule zur anderen variieren kann, wobei wir dem Bedürfnis nachgeben, diese
Unterschiede zumindest in der Diaspora um der Einheit der Muslime willen weiter zu vereinfachen, statt die Dynamik
zu nutzen, die sie anbieten, um unseren spirituellen und kulturellen Reichtum weiter zu vertiefen. Unter Verweis auf die
ontologische Gleichheit von Männern und Frauen im Qur'an und die gleichen Begriffe, die dort für ihre praktische und
spirituelle Verantwortung benutzt werden (z.B. Surah 4:1, 33:35, 9:71 usw.) versuchen die Befürworter der
Veränderung andererseits oft ungeduldig, die Entwicklung der muslimischen Tradition in der Vergangenheit zu
umgehen, und fordern, daß sofortige Reformen in Richtung auf Gerechtigkeit und Gleichheit unmittelbar hier und jetzt
umgesetzt werden. Wichtige Werkzeuge wie die Berücksichtigung des öffentlichen Wohls (Istislâh) und der sinnvollen
Durchführbarkeit (Istihsân), die einen Überblick über den weiteren Zusammenhang erfordern, gewohnte
Rechtspraktiken ('Urf und 'Âdah), die beim Identitätsgefühl der Menschen eine Rolle spielen, und sogar der
disziplinierte qiyâs (Analogieschluß) werden im gegenwärtigen Diskurs weitgehend marginalisiert, und Ijmâ' (Konsens)
wird oft mit einer Mehrheitsmeinung verwechselt.
Was den Inhalt der Diskussion selbst betrifft, so erstreckt er sich über mehrere miteinander verbundene Fragen: 1)
Frauen als Leiterinnen öffentlicher ritueller Gebete für Männer und Frauen, 2) Frauen als Predigerinnen, speziell für
Freitagsansprachen, und 3) die Situation von Frauen im gesellschaftlichen, intellektuellen und spirituellen Leben der
Muslime im allgemeinen.

1) Frauen als Leiterinnen ritueller Gebete

Im Islam gibt es keine Amtshierarchie. Trotzdem wurden im klassischen Fiqh Prioritätsfragen bezüglich der Leitung
von Gemeinschaftsgebeten oft nicht allein nach Maßstäben des Wissens, der Qualität der Rezitation oder der
Frömmigkeit entschieden, sondern die gesellschaftliche Hierarchie betreffenden Rücksichten (Stellung als Regierender
oder dessen Stellvertreter, Abstammung, Alter, Familienstand usw.) wurde ebenfalls Gewicht beigemessen. Innerhalb
der patriarchalen Strukturen, die im größeren Teil der islamischen Welt in jenen Tagen vorherrschten, wäre der
Gedanke an eine Frau als Leiterin öffentlicher ritueller Gebete als eigenartig empfunden worden. Nach Ansicht der
meisten Rechtsschulen können Frauen Gebete für Frauen leiten. Es gibt Tendenzen, Frauen davon abzuhalten und, im
Falle der mâlikitischen Schule, es ihnen zu verbieten, allem Anschein nach unter dem Einfluß eines Hadîth, demzufolge
"ein Volk, das seine Angelegenheiten einer Frau anvertraut, nicht erfolgreich sein kann", das oft in Arguments gegen
Frauen in Führungspositionen angeführt wird, aber weder die Kriterien der Authentizität erfüllt noch mit dem Bild der
Königin von Saba im Qur'an in Einklang gebracht werden kann oder mit dem Prinzip, daß Männer und Frauen als
gegenseitige Freunde und Verbündete (Awliyâ') "Gutes gebieten und Böses verwehren" (Surah 9:71). Demgegenüber
gibt es bestätigte Berichte darüber, daß die Frauen des Propheten durchaus Gebete für Frauen leiteten, und zwar mit
Einzelheiten wie der Tatsache, daß in diesen Fällen der (weibliche) Imâm zwischen den anderen Frauen in der Reihe
stand. Dies wurde dann als Regel festgelegt. Man kann allerdings Fragen nach dem Zusammenhang stellen und ob dies
die einzige mögliche Schlußfolgerung ist. Diejenigen, die versuchen, diese Praxis zu unterbinden, argumentieren oft
damit, die Frauen des Propheten seien wissender und charakterstärker als die Frauen späterer Generationen gewesen, so
daß die Berichte nicht als normativ betrachtet werden könnten. Diese Ansicht wird jedoch nicht von den meisten
Gelehrten geteilt, die ihre Entscheidung auf diesen Präzedenzfällen aufbauten. Die Frage, warum der weibliche Imâm in
der Reihe der Betenden stehen soll statt davor, wird manchmal mit der Aussage erklärt, "der Körper einer Frau gehöre
zur Privatsphäre" und solle nicht herausgestellt werden, oder mit einer verallgemeinernden Bezugnahme auf die
verbreitete Praxis, daß Frauen beim Gebet hinter den Männern stehen, während wir tatsächlich in der islamischen Welt
Anordnungen aller Art finden, von der fast völlig gemischten Situation in Mekka während der Pilgerfahrt bis zu einer
völligen Geschlechtertrennung. Aber wann und wo fanden diese Gebete statt? Nach dem, was aus einer Anzahl von
Berichten hervorgeht, waren die Häuser der Frauen des Propheten, an die Moschee von Madinah angebaut, kaum groß
genug, daß mehrere Frauen dort zusammen hätten beten können, oder es gab zumindest nicht genug Platz dafür, daß der
Imâm vor ihnen hätte stehen können (in diesem Fall würde auch ein männlicher Imâm, der das Gebet von Männern
leitet, in der Mitte der Reihe der Betenden stehen), und dasselbe gilt wahrscheinlich auch für die Häuser der anderen
Frauen, besonders der armen, die sie womöglich besucht haben. Alternativ dazu fand das Gebet vielleicht in der
Moschee statt wie das jeder anderen Gruppe, die nach dem regulären Gemeinschaftsgebet und während andere
Aktivitäten stattfanden, von einer Tätigkeit außerhalb hereinkam - schließlich war die Moschee ein Gemeindezentrum -
und den Frauen war vielleicht nicht danach zumute, Aufsehen zu erregen. Da uns diese Begleitumstände fehlen, ist dies
natürlich Spekulation, aber das ist auch die Annahme, es sei deswegen so gehandhabt worden, weil es so als normativ
zu betrachten ist.

Eine Konsequenz aus der Möglichkeit von Frauen geleiteter Gebete ausschließlich für Frauen könnte die sein,
grundsätzlich statt ausnahmsweise nach Geschlechtern getrennte Gemeinschaftsgebete zu halten und sogar gesonderte
Frauenmoscheen einzurichten. Nein, dies ist nicht die Erfindung eines feministischen westlichen Geistes, sondern wird
in Zentralasien und einigen anderen Weltgegenden erfolgreich praktiziert, wobei dort Frauen speziell ausgebildet
werden, nicht nur Gebete zu leiten und zu predigen, sondern auch Frauen und Kinder seelsorgerisch zu betreuen. Das
Problem ist hier nicht eins, das formal durch Bezugnahme auf Texte oder Präzedenzfälle gelöst werden kann, sondern
eine Frage von Istislâh: wirkt sich dies auf die muslimische Gemeinde positiv aus, indem es die Motivation von Frauen
anregt und ihren Wissensstand erhöht und damit die religiöse Bildung der nächsten Generationen fördert, oder negativ,
indem es eine bereits nach Geschlechtern getrennte Gesellschaft noch mehr spaltet und allmählich zwei völlig
verschiedene intellektuelle und spirituelle Welten schafft?

Weit davon entfernt, alle Debatten zu kennen, die in der Vergangenheit zu diesem Thema geführt wurden, haben wir
nur Zugang zu dem, was schriftlich festgehalten wurde und erhalten geblieben ist. Tatsächlich gab es Gelehrte, die
nichts dagegen einzuwenden hatten, daß Frauen sogar gemischte rituelle Gebete leiteten, darunter Abu Thawr al-Kalbi
(gest. 876), Abu Isma'il al-Muzani (gest. 879), al-Isfahani (gest. 884), der Begründer der zâhiritischen Schule, at-Tabari
(gest. 923), und Ibn Taymiyya (gest. 1328). Wir kennen nicht viele Details ihrer Argumente, aber andererseits haben
wir auch keine Nachrichten darüber, daß sie in ihrer Zeit mit ihrer Position einen Proteststurm auslösten oder von ihren
zeitgenössischen Kollegen verurteilt wurden. Dies mag daran gelegen haben, daß die von ihnen erwähnten Fälle aus
Ausnahmen zu betrachten waren, daß z.B. eine Frau die Tarawîh-Gebete im Monat Ramadan leiten darf, wenn es
keinen Mann gibt, der den Qur’an auswendig kennt, oder die Gebete mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Sklaven,
wenn sie die Gelehrteste von ihnen ist. Man könnte argumentieren, daß Tarawîh-Gebete nicht obligatorisch sind und ein
Gebet mit der eigenen Familie keine öffentliche Situation darstellt, und daß man Ausnahmen nicht unversehens in
Regeln verwandeln kann. Andererseits könnte man solche Ausnahmen auch als Bestätigung der Theorie verstehen, daß
nicht theologische oder prinzipielle, sondern gesellschaftliche Gründe bei diesen Entscheidungen ausschlaggebend
waren.

In der gegenwärtigen Debatte wird oft der Präzedenzfall von Umm Waraqa angeführt. Aus verschiedenen einander
ergänzenden Versionen ihrer Geschichte, überliefert von Ibn Sa'd (gest. 845), Ahmad b. Hanbal (gest. 855), Abu Dawud
(gest. 888) und Baihaqi (gest. 1077), erfahren wir, daß sie eine der Frauen war, die den Qur'an auswendig kannte, und
daß der Prophet sie aufforderte, Imâm für die Angehörigen ihres Hausstandes (Ahl Dârihâ) zu sein. Sie hatte einen
Mu'azzin, und sie erfüllte diese Aufgabe, bis sie in der Regierungszeit des Kalifen 'Umar ermordet wurde. In der
gegenwärtigen Debatte haben Kritiker versucht sicherzustellen, daß in der einen oder anderen Isnâd (Überliefererkette)
Schwachstellen zu finden sind, die die Authentizität in Frage stellen können, während das Beispiel auch unkritisch als
Belegtext benutzt wurde, um für Frauen gleiche Rechte bei der Leitung öffentlicher Gebeten zu fordern. Zwischen den
Extrempositionen findet eine Debatte darüber statt, wer die Angehörigen ihres Hausstandes waren und ob die Situation
eine private oder eine öffentliche war. Wie der Begriff Imâm, so kann auch das Wort Dâr eine Anzahl von Dingen
bezeichnen, vom Heim einer Person bis hin zu weiten Gebieten wie dem klassischen Dâr al-Islâm (Geltungsbereich des
islamischen Rechts). Aus der Tatsache, daß Umm Waraqa von einem Sklaven und einer Sklavin ermordet wurde, die
ihr gehörten, und daß über ihre Familie keine weiteren Details erwähnt werden, ist manchmal die Schlußfolgerung
gezogen worden, daß sich ihre Aufgabe lediglich auf diese beiden Personen erstreckt habe sowie möglicherweise den
Mu'azzin (man könnte spekulieren, daß aus ihrem Namen Umm Waraqa zu schließen sei, daß sie einen Sohn namens
Waraqa haben müsse, aber das wird nirgends bestätigt). Wenn das allerdings der Fall wäre, dann hätte der
Berichterstatter das Wort Bayt (wörtlich "Haus", für das Heim einer Kernfamilie) benutzt statt Dâr, dem Wohnviertel
einer Großfamilie, das zumindest aus einer Anzahl kleiner Familienhäuser besteht, die um einen Innenhof herum
angeordnet sind. In der Zeit des Prophet waren Einzelpersonen vom Schutz ihrer Sippe oder ihres Stammes abhängig -
mit nur ein paar Dienern allein zu wohnen war selbst für Männer nahezu unmöglich und hätte jedem den Ruf
eingebracht, ein Einsiedler zu sein, und das wäre im Fall von Umm Waraqa nicht unerwähnt geblieben. Madinah war in
jenen Tagen keine organisierte zusammenhängende Stadt, sondern eine Ansammlung angehäufter, dorfähnlicher
Wohngebiete verschiedener Sippen und Stämme, die sich über ein viel weitläufigeres Gebiet erstreckten als das
Stadtgebiet des heutigen Madinah, und mit je seiner eigenen Großfamilienmoschee zusätzlich zu der zentralen Moschee
des Propheten. Das würde bedeuten, daß Umm Waraqa die alltägliche Gebete für eine ganze Anzahl von männlichen
und weiblichen Angehörigen ihrer Großfamilie sowie Sklaven und Gäste leitete. Da alles dies lange vor der
Ausformulierung der Regeln für den Freitagsgottesdienst durch die muslimischen Rechtsschulen geschah, mag man
sich fragen, ob dieser auch in den lokalen Moscheen gehalten wurde oder zu diesem Zweck alle zur Prophetenmoschee
gingen, und worin dabei Umm Waraqas Rolle bestand.

Aber es gibt noch weitere offene Fragen. Was war die Zielsetzung des Propheten, als er Umm Waraqa zum Imâm ihres
Hausstandes ernannte? Als eine Frau von den Ansâr war sie wohl kaum die einzige ihrer Sippe, die diese Aufgabe
überhaupt erfüllen konnte, deshalb war es wohl kaum ein Notfall, den der Prophet abzumildern suchte. Wenn sie die
Gelehrteste war, dann hat der Prophet vielleicht in Übereinstimmung mit dem Grundsatz, die gelehrteste Person zur
Leitung von Gebeten auszuwählen, versucht, in bezug auf Frauen in dieser Rolle etwas Normalität zu schaffen.
Handlungen hängen von ihren Absichten ab, besonders wenn sie die Grundlage für weitere Schlußfolgerungen bilden.
Wenn wir die Tatsache im Auge behalten, daß der Prophet "als Barmherzigkeit für die Welten" (Surah 21:107) gesandt
wurde und seinen Charakter und sein Verhalten speziell Frauen gegenüber betrachten, gewinnen wir vielleicht mehr
Einsicht in seine Haltung, die etwas Licht auf die Interpretation verschiedener Überlieferungen werfen könnte.

Ein wichtiger Punkt muß geklärt werden: selbst bei allen scheinbaren Ähnlichkeiten geht es nicht um dasselbe wie bei
der Streitfrage um das Priesteramt für Frauen z.B. in der katholischen Kirche. Es gibt kein Priestertum im Islam. Ein
Priester ist der Stellvertreter Christi (oder Gottes) gegenüber der Gemeinde. Aus der Sicht des Qur'an sind Menschen,
Männer und Frauen, Gottes Statthalter auf der Erde und teilen ihre Verantwortung für ihre Gesellschaft und die
Schöpfung. Ein Imâm ist ein Führer der Gemeinde auf dem Weg zu Gott in verschiedener Weise. Eine davon kann das
rituelle Gebet sein. Wenn eine Frau in der Position des Imâm im Sinne einer Lehrerin, Seelsorgerin und Richterin
akzeptiert wird, kann sie immer noch die Leitung ritueller Gebete delegieren, so wie ein Mann in derselbe Position es
tun kann, wenn es angemessen erscheint. Das könnte eine praktische Lösung für den Fall sein, daß sich die Männer in
ihrer Gemeinde nicht als reif genug erweisen.

2) Frauen als Predigerinnen, speziell im Freitagsgottesdienst

Hinsichtlich der Freitagspredigt bestehen zwei verschiedene Ansichten. Nach einer von ihnen wird sie als Bestandteil
des Freitagsgebets selbst betrachtet, indem ihre zwei Teile zwei Einheiten (Rak'ât) des Gebets ersetzen. In diesem Fall
sollte offensichtlich ein und dieselbe Person beides durchführen, und die Angelegenheit wäre zusammen mit der Frage
nach der Leitung ritueller Gebete zu erörtern. Die andere Ansicht besagt auf der Grundlage der Tatsache, daß man eine
versäumte Predigt nicht auf die gleiche Weise "nachholt" wie versäumte Gebetseinheiten, daß sie vom rituellen Gebet
verschieden ist und ein Element der Lehre, Erinnerung und Fürbitte im Gottesdienst darstellt. In diesem Fall wäre sie
mit anderen Fragen zu erörtern, die sich auf das Lehren und informelle Beten von Frauen in der Öffentlichkeit beziehen.

Tatsächlich gibt es eine Menge an Material zu Frauen in der islamischen Geschichte, die Lehrerinnen und geistige
Leiterinnen der Gemeinschaft waren, angefangen mit Müttern der Gläubigen wie Aisha, Hafsa und Umm Salama, ohne
die uns ein wesentlicher Teil der Quellen fehlen würde, auf denen Recht und Theologie des Islam beruhen. Die
verbreitete Annahme, ihr öffentliches Auftreten sei mit der Einführung des Schleiers oder Vorhangs (Hijâb) beendet
gewesen, wird durch die zahlreichen Berichte von ihren Aktivitäten danach und nach dem Tod des Propheten bis zum
Ende ihres Lebens widerlegt. Zaynab, die Enkelin des Propheten, war als Lehrerin, Kommentatorin des Qur'an und
öffentliche Rednerin so bekannt und angesehen, daß sie den Titel "Stellvertreterin des Imâm" (d.h. ihres Bruders
Hussayn) bekam. Andere Beispiele für berühmte weibliche Gelehrte und Lehrerinnen sind Nafisa (gest. 825) die ihr
Wissen und ihre spirituellen Aktivitäten mit ash-Shâfi'i teilte, dem Begründer einer der Rechtsschulen, die Mystikerin
Râbi'a al-Adawîya (gest. 801), die als Einsiedlerin in Bagdad lebte und männliche und weibliche Schüler lehrte,
einschließlich bekannter Gelehrter wie Sufyân ath-Thawri, und einen beträchtlichen Einfluß auf die Mystische Tradition
des Islam ausübte, und zahlreiche andere Frauen, die in späteren Jahrhunderten an bedeutenden Hochschulen und
Studienzentren in Bagdad, Damaskus, Jerusalem und an anderen Orten der islamischen Welt verschiedene Bereiche der
Theologie und des islamischen Rechts lehrten. Männliche Gelehrte wie Ibn al-'Arabi (gest. 1240) erwähnen ihre Lehrer
und Lehrerinnen mit dem gleichen Respekt, und es gab eine Zusammenarbeit zwischen männlichen und weiblichen
Studierenden sogar da, wo in der Gesellschaft ansonsten Geschlechtertrennung herrschte. Es scheint keine Beispiele für
Frauen zu geben, die Freitagspredigten hielten, aber es gibt viele Frauen, die als Predigerinnen bei anderen Anlässen
berühmt geworden sind. Wir brauchen nur in den klassischen Biographiensammlungen nachzuschlagen.

Wir würden uns allerdings selbst betrügen, wenn wir es hierbei bewenden ließen und die zahlreichen Aussagen
ignorierten, denen zufolge Frauenstimmen verführerisch sind, das Heil der Frau von der Zufriedenheit ihres Mannes
abhängt, Gedächtnis und Intellekt der Frau mangelhaft sind, Frauen Versuchung und Störung (Fitnah) verursachen und
dergleichen, hergeleitet von aus dem Zusammenhang gerissenen Qur'anversen, Überlieferungen, oder allgemeinen
Vermutungen. Ich bin eigentlich überrascht über das relative Nichtvorhandensein dieser Argumente in der
gegenwärtigen Debatte und frage mich, ob dies ein Zeichen für eine Entwicklung hin zu einem vernünftigeren Zugang
ist oder nur ein Versuch, politisch korrekt zu sein. Wir haben es mit einer Dichotomie zu tun, die im Laufe der Zeit in
der heutigen islamischen Welt eine gesellschaftliche und spirituelle Wirklichkeit geschaffen hat, die ziemlich
verwirrend ist. Junge Leute, sowohl Jungen als auch Mädchen, wachsen mit widersprüchlichen Botschaften auf, nicht
nur zwischen islamischen und "westlichen" Werten, sondern zwischen idealistischen qur'anischen Vorstellungen von
sozialer Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, in der Männer und Frauen "gegenseitig Freunde und Verbündete sind, die
Gutes gebieten und Böses verwehren" (Surah 9:71) und Verantwortung für diese Welt übernehmen, Lehren von
Aufrichtigkeit, Weisheit und Respekt sowie hochmotievierenden Erzählungen von gelehrten und heldenhaften Männern
und Frauen aus der Prophetenzeit und den ersten Generationen auf der einen Seite und abfälligen Bemerkungen,
diskriminierenden Vermutungen, oft unlogischen Hindernissen, Tabus und Forderungen sowie einem erstaunlichen
Mangel an Leitbildern (abgesehen vielleicht von der idealisierten Figur des Propheten Muhammad) auf der anderen, oft
ohne jegliche Anleitung, diese Eindrücke zu verarbeiten und in Beziehung zu setzen. Ist es das, was unserer
gegenwärtigen Unfähigkeit zugrundeliegt, Visionen miteinander zu teilen und mit der Dynamik unterschiedlicher
Ansichten umzugehen?

Im größeren Teil der islamischen Welt sind Freitagsgottesdienste normalerweise eine androzentrische Angelegenheit,
bei der Männer in erster Linie Männern predigen und manchmal auch ausschließlich, wenn die Teilnahme von Frauen
nicht erwartet wird. Teilnehmerinnen fühlen sich verpflichtet zuzuhören, finden aber nicht immer, daß ihren Anliegen
die angemessene Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, und sind nicht direkt Teil des Prozesses, der vielleicht durch
die Denkanstöße ausgelöst wird, die in der Predigt geboten werden. Die Hälfte der Gemeinschaft scheint aus ihrem
Denkprozeß ausgelassen zu sein - haben wir dadurch unsere kulturelle Kreativität verloren? Man könnte argumentieren,
daß selbst die meisten Männer nur aus einem Pflichtgefühl heraus zuhören und kaum jemals dem Prediger ein Echo
entgegenbringen. Wenn dies der Fall ist, dann ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung, sei es, daß der Prediger nicht
wirklich auf die Zuhörerschaft eingeht, sei es, daß sich die Gemeinde der Bedeutung des Freitagsgottesdienstes weder
als Mittel des Lernens und Erinnerns noch in seiner gesellschaftlichen Dimension ganz bewußt ist. Dennoch werden
sich einige Impulse immer auf die eine oder andere Weise auswirken, solange der Freitagsgottesdienst überhaupt
stattfindet, aber hauptsächlich unter den Männern. Man könnte argumentieren, daß es für Frauen andere Alternativen
gibt. Nun, es gibt Schulen, Universitäten, Frauenorganisationen, Kaffeekränzchen, und nicht zu vergessen die
nachbarschaftliche Buschtrommel, aber sie sind nicht wirklich mit einer Institution vergleichbar, die spirituelle,
intellektuelle und soziale Aspekte in so einzigartiger Weise miteinander verbindet wie der Freitagsgottesdienst. Die
zuvor erwähnten Frauenmoscheen könnten in gewissem Maße etwas Ähnliches anbieten, aber ein vollständig nach
Geschlechtern getrenntes System dürfte einem konstruktiven Dialog zwischen der männlichen und der weiblichen
Hälfte der Gesellschaft, wie sie für die Entwicklung aller wesentlich ist, wohl kaum förderlich sein. Man könnte
argumentieren, daß Männer und Frauen verschieden sind und einander ergänzende Rollen haben. Wenn das der Fall ist,
wäre es um so wichtiger, die jeweils andere Perspektive ernstzunehmen, sie in den Diskurs einzubeziehen und ihr eine
Stimme zu verleihen. Auf die Art und Weise, wie die Dinge gegenwärtig gehandhabt werden, wird im Namen der
religiösen Tradition ein riesiges Bildungspotential verschwendet.
Zu den Alternativen, denen ich begegnet bin, gehören Lösungen wie die, daß Theologinnen, um ihr Wissen einer
weiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, Freitagspredigten schrieben, die dann von dem Prediger vorgetragen
wurden. Es sollte dann Ehrensache sein, die Autorin zu erwähnen, um ihre Bemühungen und Gelehrsamkeit gerecht zu
würdigen, aber unglücklicherweise geschieht das nicht immer. Eine weitere Möglichkeit ist an Orten gegeben, wo die
Predigt (Khutbah) als Bestandteil des rituellen Gebets betrachtet und daher auf Arabisch gehalten wird, während die
Gemeinde eine andere Sprache spricht: da wird dann nach dem ersten Gebetsruf eine Voransprache in der lokalen
Sprache gehalten, die Elemente von Unterweisung, Reflexion und Fürbitte enthält. Mir begegnen durchaus gelegentlich
Frauen, die solche Voransprachen halten, und zwar überraschenderweise in ziemlich konservativen Gemeinden.
Vielleicht ist das ein Ansatz, Möglichkeiten für eine sinnvolle Partizipation zu eröffnen.

Manchmal begegnen mir immer noch Leute, die glauben, Frauen seien nicht in der Lage, alle diese Dinge zu tun. Nun,
Frauen aus anderen Religionen sind in der Lage, sie zu tun. Und ich kenne eine zunehmende Anzahl von muslimischen
Fachfrauen, die eingeladen werden, im Rahmen des interreligiösen Dialogs in Kirchen und Synagogen zu sprechen und
den muslimischen Part bei multireligiösen Friedensgebeten zu übernehmen. Warten wir darauf, daß muslimische Frauen
mehr damit vertraut sind, in einer Kirche oder Synagoge zu sprechen als in einer Moschee?

3) Die Situation von Frauen im gesellschaftlichen, intellektuellen und spirituellen Leben

Die Debatte über Frauen als Imâm ist symptomatisch. Was wir eigentlich brauchen, ist eine kritische Auswertung der
Situation, die die muslimische Ummah herausfordert.

Zuallererst gibt es da, jenseits aller Stereotype, nicht so etwas wie "die Stellung der Frau in der muslimischen
Gesellschaft". Parallel zu den verschiedenen Möglichkeiten für Frauen in gottesdienstlichen Angelegenheiten, die von
Faktoren wie der Rechtsschule und lokalen Bräuchen abhängen, gibt es zwischen Marokko und Indonesien und
zwischen Zentralasien und Afrika südlich der Sahara verschiedene klimatische und sicherlich nicht immer gerechte
wirtschaftliche und politische Bedingungen, historische Erfahrungen sowie Gesellschafts- und Familienstrukturen von
einem ausgesprochen patriarchalen System bis hin zu matrilineraren Strukturen mit allen Schattierungen dazwischen,
alle in denselben qur'anischen und prophetischen Quellen verwurzelt und alle mit ihren Beiträgen zu einer reichen
kulturellen Vielfalt. Da ist der erstaunliche Widerspruch zwischen dem hohen Prozentsatz weiblicher Studierender an
den Universitäten in muslimischen Ländern und der hohen Analphabetenquote unter Frauen in denselben Ländern,
zwischen verbalem Ausdruck der Wertschätzung für Frauen und den praktischen Schwierigkeiten bei der Konfrontation
mit der Notwendigkeit eines größeren Gewichts für Frauen bei Entscheidungsprozessen, zwischen den
Lippenbekenntnissen zur Zartheit der Frauen und der abschreckenden Häßlichkeit der Frauenräume in vielen Moscheen
sowie den schroffen Bemerkungen zum Gehorsam von Frauen gegenüber ihren Ehemännern. In meiner eigenen
alltäglichen Arbeit mit Muslimen in Europa begegnen mir Menschen aus verschiedenen arabischen Ländern, vielfach
Studenten oder Flüchtlinge mit unterschiedlichen Hintergrund, was Bildung und politische Einstellung betrifft, die oft
auf einer strengen Geschlechtertrennung bestehen, die aber andererseits nicht immer eine Benachteiligung darstellt,
denn sie fördert oft die Initiative und Solidarität unter Frauen; ich bin manchmal überrascht über die Unterstützung für
Töchter bei ihren Bemühungen zu studieren und über die Versuche in anderen Familien, sie einzuschränken und zu
kontrollieren. Da sind türkische Arbeitsmigranten, oft von klaren ländlichen Rollenerwartungen geprägt, während sich
die nächste Generation durch ein Labyrinth von Werten und Normen zwischen den Kulturen durcharbeitet, in einem
dramatischen Ringen um ihre Identität. Das sind iranische und afghanische Männer und Frauen, viele von ihnen mit
Universtitätsbildung oder Geschäftsleute und mit unterschiedlichen, aber entschlossenen Einstellungen gegenüber der
politischen Entwicklung in den Ursprungsländern. Das sind Männer und Frauen vom indischen Subkontinent,
Indonesien, Ost- und Westafrika und dem Balkan mit ihren jeweiligen Sprachen und Kulturen. Da sind Männer und
Frauen aus kulturell und religiös gemischten Familien und Konvertiten mit manchmal bemerkenswerten Biographien.
Dies ist aber nicht der Ort, die Einzelheiten aller Möglichkeiten zu analysieren, die diesen Männern und Frauen
eingeräumt werden, und die Hindernisse, die ihnen bei der Entfaltung und Nutzung ihres Potentials in den Weg gelegt
werden. Abgesehen davon bin ich keine Soziologin.

Viele Muslime, besonders Frauen, haben Angst. Sie haben Angst vor Verschiedenheiten, die zu einer Fragmentierung
der Gemeinschaft führen, bis zu einem Punkt, wo sie unfähig sind, mit Widersprüchen und Meinungsverschiedenheiten
umzugehen oder sich ihnen überhaupt nur zu stellen, vor einem Zusammenbruch des Familienlebens, der zu materieller
und emotionaler Verunsicherung und Isolation führt, vor spiritueller Entfremdung und den Verlust des Glaubens in
einem Labyrinth von materiellen Herausforderungen und alternativen Vorstellungen und Werten, die sich auf ihr
Identitätsgefühl auswirken. Angst kann im Gegensatz zu Ehrfurcht, Gewissenhaftigkeit und Sinn für Verantwortung
lähmen, entmutigen und zu einem Teufelskreis führen, wenn die gegenwärtige Lage als Strafe empfunden wird, man
sich auf eine irrationale Anhänglichkeit an scheinbar unfehlbare menschliche Autoritäten verläßt und Gottes
Barmherzigkeit, Schönheit und Großzügigkeit aus dem Blickfeld gerät.

Viele Muslime, besonders Frauen, sind zornig. Zornig auf Stereotype von außen und Ignoranz und Aberglauben
innerhalb der Gemeinschaft, auf die sie ständig herausgefordert sind zu reagieren, so daß kaum Zeit zu Introspektion
und konstruktivem Denken übrigbleibt. Zornig, weil sie sich um ihr spirituelles und kulturelles Erbe betrogen fühlen,
und über den Mangel an Möglichkeiten, an einer zeitgemäßen Interpretation und Umsetzung von Werten zu arbeiten,
die die Offenbarung zum Nutzen der ganzen Menschheit lehrt. Zornig auf sich selbst über das Gefühl der Hilflosigkeit
angesichts globaler Ungerechtigkeit und der Ungerechtigkeit, die im Namen von Religion begangen wird. Zorn über
Doppelmoral und Unaufrichtigkeit. Nach al-Ghazzâli ist Zorn gerechtfertigt, wenn er aus dem wohlkontrollierten
Antrieb besteht, Veränderungen zum Besseren hin zuwegezubringen, während intensiver Zorn auf die Wahrnehmung
wie eine Droge wirken kann und das Urteilsvermögen für das trübt, was angemessen ist.

Mit Blick auf die Zukunft brauchen wir Klarheit über unsere Zielsetzungen und die Kriterien, nach denen wir urteilen.
Sollen wir unkritisch wie Sklaven allem gehorchen, was uns im Imperativ gesagt wird, ohne nach dem Sinn zu fragen,
oder sollen wir auf die qur'anischen Ideale hinarbeiten, nach denen Männer und Frauen als Partner (Surah 9:71) mit
gleichen moralischen Werten und religiösen Verpflichtungen (Surah 33:35) eine Gesellschaft der Gerechtigkeit
aufbauen, indem wir durch den Gebrauch von Herz und Verstand Wege suchen, diese komplizierte Aufgabe zu erfüllen,
und unserem Schöpfer als würdige Statthalter dienen? Sollen wir uns selbst und einander das Potential vorenthalten, das
uns unsere Vernunft zur Verfügung stellt, da wir ohnehin Gottes Geheimnisse nicht erfassen können, oder vertrauen wir
sowohl dem qur'anischen Gebot, zu forschen und nachzudenken, und Gottes Verheißung, unsere aufrichtigen
Bemühungen zu belohnen und uns im Falle von Fehlern zu vergeben? Sollen wir uns selbst und anderen einheitliche
Gedanken und Verhaltensmuster auferlegen in dem Versuch, zusammenzustehen wie ein solider, aber lebloser Block,
oder sollen wir die Vielfalt unserer Zweige und ihrer Früchte genießen im Vertrauen auf den Einen Ursprung, der uns
hervorgebracht hat und bewahrt? Sollen wir verunsichert und verwirrt unzähligen Geboten und Verboten
gegenüberstehen wie einem unsortierten Puzzle, oder sollen wir die Grundsätze von Gerechtigkeit, Gleichheit und
menschlicher Verantwortung ergründen, die durch den Qur'an und das prophetische Beispiel gelehrt werden, und sie als
hermeneutischen Bezugspunkt benutzen, um eine Zukunftsvision aufzubauen, zu deren Verwirklichung wir dann
sinnvolle Schritte einleiten können?

Und auf einer etwas anderen Ebene: sollen wir der Frauenbildung und der Verbesserung ihrer Lage in der Gesellschaft
im allgemeinen und in der muslimischen Gemeinschaft im besonderen Prioritäten einräumen oder symbolische
Aktionen vorantreiben, von denen man vielleicht erwarten kann, daß sie einen Einfluß auf die Situation haben, oder gibt
es da sogar noch andere Wege, die Dinge zum Besseren hin zu verändern?

Schlußbemerkung

Insgesamt gibt es gegenwärtig weit mehr offene Fragen als klare Antworten. Ijtihâd ist auf vielen anderen Gebieten
überfällig, und es gibt viele rechtliche Regelungen, die sich vom Geist des Qur'an entfernt haben, während sie allem
Anschein nach auf Fragments des Texts begründet sind. Abgesehen davon ist die Lehre, daß Muhammad der
abschließende Gesandte ist, nicht gleichbedeutend mit einer statischen Situation, sondern vielmehr der Anfangspunkt zu
einer reiferen Art und Weise, zum Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft beizutragen.

Ich möchte sicherlich nicht dahingehend mißverstanden werden, als ob ich irgendwelchen Gelehrten der Vergangenheit
gegenüber Respektlosigkeit zum Ausdruck bringen wollte. Was auch immer ihr Standpunkt war, sie haben sich äußerste
Mühe gegeben, nicht einfach isolierten Aussagen oder übereilten Schlußfolgerungen aus Präzedenzfällen zu folgen,
sondern systematisch im Rahmen ihrer spezifischen Methodologie, Erfahrung und Gesellschaft zu arbeiten. Im selben
Geiste dürfen wir ihnen allerdings nicht blind folgen, sondern sollten den Mut haben, unsere eigenen Fragen zu stellen,
diese Angelegenheiten gewissenhaft zu studieren und zu Schlußfolgerungen zu gelangen, die in unserer eigenen Zeit
sinnvoll sind.

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