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Arcadia 2015; 50(1): 182–198

Matthias Hennig
Die pfadabhängige Matrix des Labyrinths
John Barth: Lost in the Funhouse

DOI 10.1515/arcadia-2015-0011

Abstract: John Barth’s short story Lost in the Funhouse links two distinct models
of space – the funhouse and the labyrinth. With the funhouse (or house of
mirros), Barth implicitly refers back to the 17th and 18-century concept of love
mazes, but also modifies it signficantly. Not only does he set up the progress
through the labyrinth as a playful and sexualized interaction, but he also con-
nects it to storytelling and imagination: As the labyrinth is presented as a matrix
of paths and possibilities, which can be controlled by a mastermind, so the
storytelling considered to be a process that can be operated like a cybernetic
machine. Storytelling is, like in a simulation or strategy game, considered as a
dynamic combination of dramatic nodes and branching paths. The article exa-
mines the spatial structures of Barth’s story and its effects on the subject and the
narrative composition.

Keywords: Labyrinth, Space, Mirror, Cybernetics

Einleitung
Die Anfangsentscheidung soll also darin bestehen, durch einen Seitensprung Abstand zu
schaffen, und dadurch eine Perspektivierung des Denkens zu ermöglichen. Ein solcher
Umweg ist alles andere als exotisch, er ist methodisch. (Jullien, 171)

The climax of the story must be its protagonist’s discovery of a way to get through the
funhouse. But he has found none, may have ceased to search. (Barth, Lost in the Funhouse,
S. 72)1

John Barths Titelerzählung aus dem gleichnamigen (Erzähl-)Sammelband Lost in


the Funhouse betont im Gegensatz zu den vielen anderen Labyrinthkonfigurationen

1 Im Folgenden im Fließtext mit Sigle (LF) und Seitenzahl zitiert.

Dr. des. Matthias Hennig: Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwis-
senschaft, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, E ˗ Mail: matthias.hennig@fu-berlin.de

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im 20. Jahrhundert das Spielerische und Burleske, die Als-Ob- und Möglichkeits-


form des Aufenthalts im Labyrinth – beschrieben wird, mit zahllosen Unterbre-
chungen, Zeitsprüngen und Einschüben, die Geschichte eines 13-jährigen, wild
pubertierenden Jungen namens Ambrose, der im Spiegellabyrinth eines Vergnü-
gungsparks unauffindbar verloren geht. Ambrose unternimmt am Independence
Day (Zeit: an einem 4. Juli während des 2. Weltkriegs) mit seiner Familie2 den
alljährlichen Ausflug an eine Stadt an der Ostküste der USA (Ort: Ocean City), um
sich im Automaten- und Maschinenpark eines großen Jahrmarkts einen Nachmit-
tag und einen Abend lang zu vergnügen. Barths literarische Technik zielt darauf
ab, das Erzählen als Erzählen herauszustellen, dessen Prozeß sich in dieser Ge-
schichte von Ausflug und Verirrung auch gegen den „Willen“ von Autor oder
Erzähler zu „verselbständigen“ scheint.3 Der Plot verwandelt sich in ein diskon-
tinuierliches Pastiche, dessen Syntagmen und Satzfolgen fragmentartig (aber nicht
zusammenhanglos!) ineinander komponiert sind. Viele Aussagen sind so ambiva-
lent formuliert, dass sie sich oft mehreren Ebenen oder Stimmen der Geschichte
zuordnen lassen.
Lost in the Funhouse hebt sich durch seine heitere und lakonische Note deutlich
vom negativen und düsteren Grundtenor ab, der mit der Verwendung des Laby-
rinth-Motivs in der Literatur des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Das atmosphä-
risch Strenge und Existentielle der Labyrintherfahrung wird, wenn nicht in Abrede,
so doch in Frage gestellt und mit einem spielerischen Gegendiskurs versehen. Barth
lockert mit seinem metafiktionalen und nonchalanten Plauderton nicht nur die
Rede vom Labyrinth auf, sondern demontiert mit Lost in the Funhouse auch dessen
räumlich strenge Konfiguration. Der hermetische Spiegellabyrinth wird durchbro-
chen und sowohl aus dem Standpunkt einer Binnen- als auch einer Außen- und
Metaperspektive beschrieben: konstruktive Logik und traumhaftes Erleben, Effekt
und Ursache des Labyrinths verbinden sich auf komplementäre Weise.
Galions- und Werbefigur des Spiegellabyrinths auf dem Jahrmarkt ist eine
riesige Frau, „Fat May the Laughing Lady“ (LF 79), ein wackelnder Automat, der
sich dröhnend auf die Schenkel klopft und mit seinem über Lautsprecher ver-

2 Zur Analyse des Sextetts der Personenkonstellation und ihrer spiegelbildlichen Entsprechun-
gen (drei Erwachsene: zwei Männer, die eine Frau begehren; drei Teenager: zwei Jungen, die um
ein Mädchen buhlen): Knapp S. 184–186.
3 Vgl. Heide Ziegler, 165. Gegen diese Lesart eines selbständigen, scheinbar autorlosen Textes
erhebt Marjorie Worthington zurecht Einwände; sie unterstreicht die „Reautorisierung“ und
„Rezentrierung“ der Figur des impliziten Autors bei Barth, der nicht wahllos der Fiktion ihren
Lauf lasse, sondern durch den stark konstruktiven Aspekt des Erzählens und das ständige meta-
textuelle Intervenieren Präsenz und ,Autorität‘ zeige (vgl. Worthington: S. 116, 118; speziell mit
Blick auf die Titelerzählung S. 128–133).

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stärkten Gegacker und Lachen, das sich ebenso mechanisch scheppernd wieder-
holt, das Publikum für einen halben Dollar ins obskure Reich der Zerrspiegel
locken soll.4 Ins Innere gelangt man durch einen großen „devil’s-mouth en-
trance“, in dessen Rachen man zunächst in einem „tumbling-barrel“ (LF 89)
durchgeschüttelt und auf den Kopf gestellt wird: „the girls were upended so that
their boyfriends and others could see up their dresses if they cared too“ (ebd.).
Barth ruft zur Markierung des Labyrinths mit der architektonischen Verknüpfung
von „devils-mouth“ und „tumbling-barrel“ in nuce zwei topische Metaphern auf:
erstens verweist die proleptische Passage durch den „devils-mouth“ bereits auf
die dunkle und irreguläre Unterwelt, die einem im Funhouse erwartet.5 Zweitens
muß man, um hineinzugelangen, den symbolischen Weg durch eine verkehrte
Welt oder zumindest einen nicht-alltäglichen und transnormalen Raum einschla-
gen, in dem sich das Unterste nach oben kehrt („the girls were upended“), das
Verborgene sichtbar und das Innere nach Außen umgestülpt wird.

Das Modell der Liebeslabyrinthe


Als gebaute und zurechtgestutzte Gartenanlagen (und eigenständige Gattungs-
form) tauchen Liebeslabyrinthe im 16. und 17. Jahrhundert auf;6 sie greifen räum-

4 Im Gegensatz zu Gale Leroy Ward möchte ich im Folgenden die explizite und implizite
räumliche Struktur des Funhouse auf der Ebene der histoire in den Vordergrund rücken. Ward
widmet im Kapitel „Structural Labyrinths“ seiner Studie Labyrinths and Labyrinthism in John
Barth’s ˊLost in the Funhouse’ (Ann Arbor: University Microfilms International, 1981) der Titel-
erzählung ganze anderthalb Seiten (ebd., S. 66 f.) und konzentriert sich stattdessen auf die Unter-

suchung der Erzählungen Anonymiad und Menelaiad. Während Ward die architektonische und
topologische Konfiguration des Labyrinths außer acht läßt, kommt er im Abschnitt „Verbal
labyrinths“ dann ausführlicher auf die elliptische Struktur der Satzkonstruktionen in Lost in the
Funhouse zu sprechen (ebd. 192–201), die zwar mit ihren mitten im Satz abbrechenden Enden den
Bewegungsablauf von abrupten Richtungswechseln oder Sackgassen imitieren, aber als Elemente
des discours keinen räumlichen Bezug zum Labyrinth haben.
5 Auf einer weiteren Semantisierungsebene vergleicht Barth das Labyrinth des Funhouse mit
einem U-Boot und schlägt so einen assoziativen Bogen (oder öffnet eine paradigmatische Serie)
zu den U-Booten des zweiten Weltkriegs – der submarine Atlantikkrieg ist in der Hafenstadt
Ocean City sehr präsent und sichtbar und bildet den zeithistorischen Rahmen der Erzählung. Ob
nun Labyrinth, Hölle oder U-Boot: bei allen handelt es sich um geschlossene und, auf unter-
schiedliche Weise, beengende und ausweglose Orte. Labyrinth und Unterwelt werden auch in
Michel Butors L’Emploi du temps (1956) oder José Saramagos Alle Namen (Todos os Nomes; 1997)
auf topische Weise miteinander verknüpft.
6 Vgl. zur Geschichte der (als Gärten angelegten) Liebeslabyrinthe Hermann Kerns Ausführungen
und Bildbelege S. 328–342 sowie den Aufsatz von Victoria von Flemming, Liebeslabyrinthe. Zu

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liche Grundmuster der antiken Labyrinth-Tradition auf7 und benutzen sie als
geometrische Modelle zur Errichtung eines spielerischen Parcours aus grünen
Gängen und Wegen. Sie erheben und erweitern zum einen den gärtnerischen
Raum zum Kunstwerk; zum anderen bieten sie Platz für den geselligen Austausch
der oberen Gesellschaftsklassen, für Pärchenvergnügen und ihre Lust an Zeit-
vertreib und Versteckspiel. Im Zentrum dieser aus glatt zugeschnittenen Hecken
und geraden oder gewundenen Korridoren errichteten Liebeslabyrinthe findet
sich oft ein Pavillon, eine Laube mit Maibaum (Kern, 328) oder ein kleiner Aus-
sichtsturm, die als Rast-, Austausch- und Beobachtungsplätze dienen. Zudem
schaffen sie durch den Versuch, auf vergleichsweise begrenzter Grundfläche ein
Maximum an Wegstrecke zu erzeugen, ein weitläufiges, abwechslungsreiches
und zeitintensives Raumerlebnis: „Ein Spaziergang durch ein Gartenlabyrinth ist
eine Erweiterung der Zeit; im Irrgarten ist der Garten weiträumiger, die Erfahrung
größer und das Leben reicher“ (Koerner 76).
Die Liebeslabyrinthe entwerfen eine zum Kunstwerk und zum Spiel gebän-
digte ,naturliche‘ Umgebung, die trotz ihres Hin und Hers von Suchen und
Finden, von Erweiterung und „Verengung der Perspektive“ (Koerner 76) eine
relativ „gefahrlose Zielsicherheit“ (Flemming 89) garantierte. Durch ihren weit-
gehend gefahrlosen Parcours erzeugen die Liebeslabyrinthe nicht die klaustro-
phobische Enge eines Gefängnisses und den Selbstverlust der Ausweglosigkeit
und Einsamkeit, sondern die Lust an der wechselseitigen Bestätigung, am Sich-
Finden und am Davonkommen in einem nicht feindlichen, sondern erotisch
aufgeladenen Raum. Einige dieser Liebeslabyrinthe richteten sich ausdrücklich
an junge heiratsfähige Menschen – Barths gerade adoleszent werdender Protago-
nist Ambrose steht kurz vor diesem Alter; reflektiert aber, daß er für Liebes-
erfahrungen noch zu jung ist.
Barth greift das Modell eines labyrinthischen Vergnügungsortes auf, in dem
sich sowohl der spielerische Flirt als auch der zwanglose kommunikative Aus-
tausch von Pärchen und Passanten realisieren kann. Das Liebeslabyrinth in Lost
in the Funhouse ist aber nicht nur eine Plattform sich anbahnender und (noch)
sublimierter Liebeserfahrungen, sondern sehr viel expliziter als Darkroom ein Ort
erotischer (Penetrations-)Phantasien und sexueller Handlungen: „If you knew
your way around in the funhouse like your own bedroom, you could wait until a

den Metamorphosen einer Metapher S. 75–112. Flemming untersucht die Tradition dieses Motivs
sowohl in der Literatur als auch in der Malerei der Frühen Neuzeit.
7 Kern weist darauf hin, daß die meisten dieser Liebeslabyrinthe in ihrer räumlichen Grund-
struktur tatsächlich Labyrinthe (einwegig) und nicht Irrgärten (mehrwegig) waren (Kern 329).

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girl came along and then slip away without ever getting caught, even if her
boyfriend was right with her. She’d think he did it!“. (LF 83; Kursivierung im
Original)8
Neben dieser Wendung vom Liebes- zum expliziteren „sexual labyrinth“9
verändert Barth in entscheidender Weise die räumliche Konfiguration: der Ver-
gnügungsort ist kein dressierter und zurechtgestutzter Garten, sondern ein Jux-
haus bzw. Lachkabinett mit Zerrspiegeln, dessen Labyrinth nicht auf einer geo-
metrisierenden Grundstruktur basiert, sondern, wenn überhaupt, eher einem
multivialen Irrgarten ähnelt: es hat einen Eingang und einen Ausgang, in seinen
Sackgassen kann man sich verirren und stecken bleiben – und es verzichtet auf
ein eindeutig definierbares Zentrum.

Zum räumlichen Aufbau des Funhouse


Innen ist das Funhouse eine Kombination aus einem mit Lampen versehenen
„mirror-maze“ (=beleuchteter Teil) und einer Abfolge dunkler und kammerartiger
Räume, die mittels zahlloser enger Durchgänge und „labyrinthine corridors“ (LF
95) miteinander verbunden sind (=unbeleuchteter Teil). Der unbeleuchtete
Teil des labyrinthischen Raums ist vor allem durch eine ironische Zeichenlosig-
keit ausgewiesen, durch eine „absence of phosphorescent arrows and other
signs“ (LF 87!).10 Die Orientierung wird damit nicht nur durch die Verdunkelung,
sondern auch durch einen signifikanten Mangel an „handlungsrelevanten“ (Böh-
me 62) Signalen erschwert – der vor allem deshalb ins Auge fällt, weil der übrige
Jahrmarkt mit seinen unzähligen Hinweisschildern, Informationstafeln, Leucht-
reklamen und Werbefiguren ein semiotisches Überangebot an Symbolen, Ikones
und Indices bereithält, das gerade in seiner knallig-vulgären und effekthascheri-
schen Farbigkeit die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zu ziehen versucht.
Im Gegensatz zu dieser optischen Invasion der Zeichen ist das abgedunkelte
Innere des Funhouse ein unvertexteter und symbolisch fast vollständig unmar-
kierter Raum, in dem es keine Wegweiser (Indices) gibt, die als Abkürzung, als
„shortcut through the labyrinth“ (Barth, The Friday Book, 75) führen würden:

8 Barths gesamter Text ist von expliziter und impliziter Sexualmetaphorik durchzogen.
9 Vgl. Gale Leroy Ward, S. 218: „The central metaphor of the book, the funhouse, is an explicitly
sexual labyrinth“.
10 Vgl. zur Ironie bei Barth die Untersuchung von Heide Ziegler.

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Besucher können sich daher auf ihrer Tour nur sehr langsam und vorsichtig
vorantasten. (LF 89)11
Im beleuchteten Teil, im „mirror-maze“ hingegen werden die Schritte und
Blicke durch die sich ineinander verschränkenden Multiplikationen von Zerrspie-
geln und Visionen gelenkt, durch einen Overkill an Bildern zerstreut, der nicht
mehr als Ganzes von den Sinnen erfaßt bzw. vom Verstand verarbeitet werden
kann: „There is no texture of rendered sensory detail, for one thing“. (LF 89;
Hervorhebung im Original) Dieser fehlende Zusammenhang („texture“) sich nicht
mehr zu einer Einheit fügender sinnlicher Wahrnehmungen läßt das Ich erst die
Kontrolle über die Bilder und dann die Kontrolle über die Umgebung verlieren.
Zudem wird Ambrose (oder der kommentierenden auktorialen Erzählinstanz)
bewußt, daß es unmöglich ist, innerhalb des geschlossenen Systems der Spiegel
einen objektiven Beobachterstandpunkt zu beziehen: „As he wondered at the
endless replication of his image in the mirrors, […] as he lost himself in the
reflection that the necessity for an observer makes perfect observation impossi-
ble“ (LF 94).
Zwar entfaltet sich der Witz des Spiegelkabinetts erst ganz, wenn ein Be-
sucher das Spiel der Reflexionen in Bewegung bringt; andererseits führt gerade
dieser sich bewegende Beobachter eine Unschärfe, eine irisierende Instabilität in
das Spiel der Reflexionen ein, die in ihrer Verschachtelungen nicht mehr feststell-
bar sind bzw. in ihrer Substanzlosigkeit auf keinen konkreten Punkt zurückver-
folgt werden können:

In the funhouse mirror-room you can’t see yourself go on forever, because no matter how
you stand, your head gets in the way. Even if you had a glass periscope, the image of your
eye would cover up the thing you really wanted to see. (SL 85)

Das Ich kann keinen Standpunkt zweiter Ordnung einnehmen, den ihm eine
„perfect observation“, d. h. eine totale oder göttliche Perspektive verschaffen

könnte; auch mithilfe einer weiteren Prothese (dem „glass periscope“) kann es
die „Prothese“ (Eco 35) der Spiegel nicht überlisten, weil es an die eigene Wahr-
nehmung gebunden bleibt. Das, was als Information bzw. „image“ in Auge und
Bewußtsein eintrifft, ist eine „kontingente Variable, die erst im Prozess des
Erkennens“ und durch eine bestimmte „Bezugsadresse“ (Krumm 151), d. h. den  

Kontext des eigenen Standpunktes erzeugt wird. Diese physische Standortgebun-


denheit des Ich, das nicht hinter die Spiegel gelangen kann, sondern sich von

11 Das paradigmatische Verb, das Barth zur Beschreibung dieser Tastbewegung verwendet,
lautet „to grope“ – ein ambivalenter Ausdruck, der mit seiner Konnotation von ,fummeln‘ oder ,
befummeln‘ bewußt auch in seiner sexuellen Spielart lesbar sein soll.

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seinen eigenen Spiegelbildern umstellt sieht („your head gets in the way“!),
begründet zugleich die prinzipielle Insuffizienz seiner eigenen Wahrnehmung.
In der Relationslosigkeit endloser Spiegelungen, die die Körper-Abbild-Gren-
ze aufheben, werden die Stabilität und Eindeutigkeit einer „Bezugsadresse“ auf-
gehoben. Im entreferenzialisierten regressus ad infinitum der Bilder wird zunächst
die Fortbewegung irritiert und unterbrochen („in the funhouse mirror-room you
can’t see yourself go on forever“) und schließlich die Selbstkontrolle des Subjekts
infrage gestellt: „What he’d really felt throughout was an odd detachment, as
though someone else were Master“. Dieses Selbstentfremdung bzw. das Gefühl,
von einer ungreifbaren Macht bedingungslos beherrscht zu werden, geht soweit,
daß sich das Ich abhanden kommt: „he lost himself in the reflection“.
Der Verlust der Selbstkontrolle resultiert auch aus der zunehmenden Isolie-
rung Ambrose‘, die sich im Gefühl eines „odd detachment“ niederschlägt: dem
Ich fehlt sowohl der Bezug zu Anderen (Magda, Peter) als auch zum umgebenden
Raum. Irritiert durch die Spiegelungen wählt Ambrose nicht wie seine Mitaus-
flügler im letzten beleuchteten Raum den Weg zum Ausgang, sondern eine
ansonsten unbenutzte Tür. Dieser „wrong turn“ (Worthington 126) führt in einen
dunklen Raum, in ein dead end, aus dem er nicht wieder herausfindet:

There’s no point in going farther; this isn’t getting anybody anywhere. […] Ambrose is off the
track, in some new or old part of the place that’s not supposed to be used; he strayed into it
by some on-in-a-million chance […]. And they can’t locate him because they don’t know
where to look. Even the designer and operator have forgotten this other part, that winds
around on itself like a whelk shell. (LF 83)
Unless he can find a surprise exit, an unofficial backdoor or escape hatch opening on an
alley, say, and then stroll up the family in front of the funhouse and ask where everybody’s
been; he’s been out of the place for ages. That’s just where it happened, in that last lighted
room: Peter and Magda found the right exit; he found one that you weren’t supposed to find
and strayed off into the works somewhere. In a perfect funhouse you’d be able to go only
one way, like the divers off the highboard; getting lost would be impossible; the doors and
halls would work like minnow traps or the valves in veins. (ebd. 85; Hervorhebung im
Original)

Ambrose steckt in einer spiralförmig gewundenen Sackgasse des Funhouse fest,


während seine Familie vor dem Ausgang wartet. Er ist damit nicht nur aus dem
Kontinuum des Raums katapultiert („he’s been out of the place“ bzw. „off the
track“), sondern erfährt diese Exterritorialität auch als fortgesetztes, ewiges An-
dauern der Zeit („he’s been out of the place for ages“). Dieses ewige Andauern
durchbricht die abstrakte Sukzession der Zeit und wird als Zeitlosigkeit erfahren,
deren Spanne nicht mehr in kleine Einheiten zerlegbar ist. Seine einzige Hoffnung
besteht darin, diesen locked room durch „an unofficial backdoor or escape“ zu
verlassen; er bleibt jedoch gefangen im Nirgendwo eines Nicht-Ortes, in dem ihm

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niemand vermutet („that you weren’t supposed to find“) – und wo er demzufolge


auch nicht gefunden werden kann. Ambrose ist nicht nur ausweglos verirrt,
sondern bleibt auch für alle anderen verschollen. Ganz im Sinne der „non-lieux“
des Anthropologen Marc Augés hat der Raum, in dem Ambrose gefangen ist,
keine Identität, keine Geschichtlichkeit und keine symbolisch-ideelle Relevanz:,
er ist auch nicht in ein soziales Netzwerk eingebettet.12 Weder kann ihn Ambrose
in seiner Dimensionslosigkeit zu sich selbst in Bezug setzen, noch können sich in
ihm Ereignisse wiederholen oder Erfahrungen einschreiben.
Der locked room läßt sich aufgrund seiner Konturlosigkeit und seiner radika-
len Ent-Ortung jedoch noch nicht einmal als transitorischer „non-lieu“ beschrei-
ben, die Augés Definition zufolge die an den Peripherien der Siedlungszentren
gelegenen Autobahnen, Flughäfen und Shoppingmalls beschreiben. Vielmehr
bildet der vergessene Teil des Spiegelkabinetts als a-topischer und nicht adres-
sierbarer Raum das Singularetantum einer absoluten Immanenz, in dem jede
Relation zu einem Jenseits oder Außen aufgehoben scheint: er ist in seiner
Exterritorialität und Eigenschaftslosigkeit weder randständig noch zentriert und
schon gar nicht topographisch erfaßbar. Einzig die Stimmen vorbeigehender
Besucher kann Ambrose in seiner vollständig diskreten Innenwelt noch hören –
ohne je zu ihnen zurück zu gelangen.
In einem „perfect funhouse“ wäre hingegen dieses Moment des Überraschen-
den und Unerwarteten und der Ent-Ortung ausgeschlossen. Es gäbe nur einen
einzigen Weg, der störungsfrei und ohne Abzweigung zum Zentrum bzw. Aus-
gang führte („you’d be able to go only one way, […] getting lost would be
impossible“). Das Funhouse entspricht in seiner räumlichen Anlage aber keinem
univialen Labyrinth, sondern eher einem Irrgarten, der aus einer diskontinuierli-
chen Raumfolge besteht, in der es vielfältige Entscheidungsmöglichkeiten, sich
zufälligen Ereignissen öffnende „dark passages“ (LF 79) und „musty corridor[s]“
(ebd. 87) sowie irreguläre Fluchten erzeugende Spiegelräume gibt.

12 Vgl. Marc Augé, S. 100: „Si un lieu peut se définir comme identitaire, relationnel et historique,
un espace qui ne peut se définir ni comme identitaire, ni comme relationnel, ni comme historique
définira un non-lieu“. Vgl. zur positiven Definition des anthropologischen Ortes bei Augé ebd.
68 ff.

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Steuerungs- und Kontrollsysteme. Die


pfadabhängige Matrix des Labyrinths

Barth verwendet die statische Architektur des Spiegellabyrinths mit seinem durch
Wände, Decken und Spiegel begrenzten Parcours, um darin eine pfadabhängige
Matrix zu begründen. Diese pfadgebundene Matrix soll zum einen das Labyrinth
mit seinen Wegmöglichkeiten, zum anderen das Erzählen als mechanisch opera-
tionalisierbaren Vorgang darstellen.13 Das Labyrinth ist nämlich kein vollständig
mit Wänden und Spiegeln abgeschotteter, sondern ein – minimal, aber entschei-
dend – durchbrochener Aktionsraum, in den plötzlich ein heller Lichtriss („crack
of light“; „seam“) einfällt. Durch die Wand ergibt sich so ein kurzer Blick auf das
ansonsten hermetisch verschlossene Außen des Labyrinths:

Shortly after the mirror room he’d groped along a musty corridor, his heart already misgi-
ving him at the absence of phosphorescent arrows and other signs. He’d found a crack of
light–not a door, it turned out, but a seam between the plyboard wall panels–and squinting
up to it, espied a small old man, in appearance not unlike the photographs at home of
Ambrose’s late grandfather, nodding upon a stool beneath a bare, speckled bulb. A crude
panel of toggle- and knife-switches hung beside the open fuse box near his head; elsewhere
in the little room were wooden levers and ropes belayed to boat cleats. At the time, Ambrose
wasn’t lost enough to rap or call; later he couldn’t find that crack. (SL 87; Hervorhebung im
Original)

Dieser Moment einer kleinen, luziden Transparenz, einer „ironischen Epiphanie“,


(Knapp 184) der zufällige Blick, der sich durch den „crack of light“ auftut, ver-
weist Ambrose blitzartig darauf, daß das Labyrinth nur von innen erlebt werden
kann, weil es von außen konfiguriert und auf planvolle Weise errichtet worden
ist. Er zeigt, daß das Labyrinth ein operationalisierbares System ist, das kyberne-
tisch in Gang gesetzt und kontrolliert werden kann.14 Diese Kontrollierbarkeit
wird ironisch inszeniert: Steuerungshebel hängen, dem heruntergekommenen
Charme der Jahrmarktbude entsprechend, roh und unfertig an der Wand herum
(„a crude panel of toggle-and knife-switches“). Die veraltete und reparaturanfäl-
lige Technik wird von einem schläfrigen Alten, dem „funhouse operator“ (LF 87 f.)  

,bewacht‘. Insgesamt erinnert der Kontrollraum mit dem achtlos offen gelassenen

13 Vgl. zum Verhältnis von Labyrinth-Modell und kybernetischen Schaltsystemen anhand von
Claude Shannons Maze-Solving-Machine (1951) den Aufsatz von Peter Bexte, „Kybernetik und
Strukturalismus“.
14 Als ein solches Steuerungsmodell dienen Labyrinthe in der medizinisch-psychologischen
Forschung zu Intelligenztests an Ratten und Mäusen.

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Sicherungskasten, den Kippschaltern, „ropes“ und „boat cleats“ eher an ein


Schiff oder U-Boot.
So wenig der labyrinthische Raum des Spiegelkabinetts nach außen hin
undurchdringlich ist, weil er einen entscheidenden Riß hat, der Einblick in den
Steuerzentrale gewährt, so wenig stellt auch die Kybernetik dieser altertümlich
und provisorisch wirkenden Steuerungszentrale ein perfektes und in sich ge-
schlossenes System dar. Denn sie produziert nicht nur berechenbare Ereignisse
und Ergebnisse, sondern als imperfekte Maschine auch das Überraschende und
Unerwartete, die nicht mehr erfaßbare kontingente Variable im System, den
blinden Fleck wie den unauffindbaren locked room, in den sich Ambrose durch
einen mathematisch absolut unwahrscheinlichen Zufall verirrt („he strayed into it
by some one-in-a-million chance“).15
Das Funhouse, das im Vergnügungspark in Ocean City an der Atlantikküste
der USA steht, ist bei Barth der Schauplatz einer spielerisch-lustvollen Versuchs-
anordnung: es wird zu einer black box, die um Hindernisse („obstacles“) ver-
wickelte Ereignisse und abenteuerliche Handlungssequenzen prozessiert, die
durch verschiedene Korridore hindurch und nach diskontinuierlichen Bewe-
gungsmustern ablaufen. Bei all diesen Bewegungsmustern sind Verlauf, Ausgang
und mögliche Begegnungen und Interaktionen mit anderen Besuchern nicht vor-
hersehbar:

One possible ending would be to have Ambrose come across another lost person in the dark.
They’d match their wits together against the funhouse, struggle like Ulysses past obstacle
after obstacle, help and encourage each other. Or a girl. By the time they found the exit
they’d be closest friends, sweethearts if it were a girl; they’d know each other’s most inmost
souls, be bound together by the cement of shared adventure; then they’d emerge into the
light and it would turn out that his friend was a Negro. A blind girl. President Roosevelt’s
son. Ambrose’s former archenemy. (LF 87; Hervorhebung im Original)

Die Wege im Funhouse verknüpfen sich zu einem scheinbar ziellosen Abenteuer-


spiel, bei dem die Figuren wie der unfreiwillig vagabundierende Odysseus ge-
zwungen sind, Unterbrechungen in Kauf zu nehmen, die Richtung zu ändern,
Hindernisse zu überwinden und Bündnisse mit Unbekannten einzugehen. Zwei
prinzipielle Möglichkeiten werden dabei modellhaft durchgespielt: 1. der gelin-
gende Durchlauf führt zu geselligem Austausch/zum Ausgang (der fünfzehnjäh-
rige Peter/die vierzehnjährige Magda); 2. der scheiternde Durchlauf führt zur Ver-

15 Barth behandelt diesen Moment des Überraschenden ganz untheologisch und ohne von ferne
lenkenden Schicksalsmächte zu beschwören, vielmehr nüchtern mathematisch im Sinne der
Wahrscheinlichkeits- und Spieltheorie.

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einzelung/in eine unumkehrbare Sackgasse (der dreizehnjährige Ambrose). Das


Funhouse wird damit nicht nur als ein Ort der Isolation (für den Protagonisten),
sondern auch als ein kommunikatives und kopulatives Lauf- und Lusthaus (für
alle anderen) dargestellt.16 Im Vergleich mit anderen literarischen Labyrinth-
Konfigurationen im 20. Jahrhunderts besteht die Besonderheit von Lost in the
Funhouse darin, daß das Labyrinth überhaupt als ein solches Modell vorgeführt
wird, das als pfadgebundene Matrix von Wegen und Möglichkeiten wiederum
spielerisch de- und rekonstruierbar ist.17
In Barths Spiegelkabinett ist das Labyrinth mit seinen Korridoren durch die
räumliche Anordnung der Spiegel- und Stellwände vorgegeben: die Bewegung
bzw. „Kinetik des Subjekts“ innerhalb dieser statischen Anordnung18 führt zur
absoluten Desintegration von Ich, Raum und Gegenüber, durch die die Vereinze-
lung und Isolation des Ichs nur um so stärker hervortritt. Im Gegensatz zu
Dürrenmatt und Schirmbeck führt Barth jedoch noch einen vierten und externen
Faktor ein: er verweist auf den prinzipiell außerhalb des labyrinthischen Binnen-
raums stehenden Konstrukteur, den Maschinisten des Kabinetts, der die Anlage
steuert und als dessen mythisches Vorbild der Künstler-Ingenieur Daidalos fir-
miert.19 Bereits die plärrende und lachende Automatenfigur vor dem Eingang20
antizipiert die – wenn auch fehlerbehaftete – Konstruiertheit, die Künstlichkeit
und glücksabhängige Mechanik des Labyrinths.
Das dem Labyrinth inhärente Motiv der Öffnung und Schließung, des Ent-
hüllen und Verbergens von Wegen, des „Trennens und Verbindens“21 von Räu-

16 Stellvertretend für eine Vielzahl anderer Anspielungen: „Can spermatozoa properly be


thought of as male animalcules when there are no female spermatozoa? They grope through hot,
dark windings, past Love’s Tunnel’s fearsome obstacles. Some perhaps lose their way“ (LF 80).
Ein anderes Mal wird der Darkroom des Funhouse mit dem „bedroom“ verglichen, der ähnliche,
wenn auch weniger beliebige Möglichkeiten sexueller Kontaktanbahnung biete (ebd. 83).
17 Diese Modellhaftigkeit ist auch für das Labyrinth in Umberto Ecos Il nome della rosa (1980)
kennzeichnend. Eco greift in der Konstruktion seines Labyrinths jedoch auf Mathematik und
(Zahlen-)Logik und weniger auf Kybernetik und Spieltheorie zurück; beides dient jedoch als
Motivation für das Wahrscheinliche und Zufällige.
18 Vgl. Max Bense, „Über Labyrinthe“, S. 142.
19 Daidalos konstruiert zwar als Architekt das Labyrinth; als er zur Strafe dort eingesperrt wird,
gelingt ihm die Flucht mit improvisierten Vogelschwingen – womit er sich wieder außerhalb des
Labyrinths positionieren kann.
20 Carol A. Kyle verweist darauf, daß die emblematische und weibliche Automatenfigur auch
das Labyrinth zu einem weiblich konnotierten Ort mache; das Labyrinth sei daher eine Metapher
„specially for the body of the woman“ (Kyle 39).
21 Vgl. Peter Bexte, „Kybernetik und Strukturalismus“, S. 223, 224. Bexte definiert das „Trennen
und Verbinden“ als den eigentlichen „Modus“ bzw. die „grundlegende Aktivität“ des Labyrinths
(ebd. 230).

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Die pfadabhängige Matrix des Labyrinths 193

men, der Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit des Zentrums, wird von Barth in
den räumlichen Aufbau des Spiegelkabinetts hinein verlagert. So wie die Wand
mit einem Lichtstrahl durchbrochen ist, befindet sich die zentrale Kammer des
Labyrinths außerhalb und damit an der Peripherie des Raums.22 Die architekto-
nische Konzeption der Anlage soll durch einen „Seitensprung Abstand schaffen“
(Julien 171) und die (für Ambrose unerreichbare) maschinelle Kontrollinstanz vor
Augen führen, ohne die das Labyrinth nicht am Laufen gehalten werden kann.
Das Wechselspiel von Innen und Außen, von Vorder- und Rückseite wird
auch im Motiv der durch einen Automaten gestanzten „name-coin“ (LF 94) auf-
gegriffen; Ambrose verwechselt und verliert erst seine eigene und findet anschlie-
ßend im Funhouse die einer unbekannten Person. Die Namensmünze verweist
zum einen auf den (im Dunkeln möglichen) Identitätstausch oder den Selbstver-
lust im Labyrinth. Zum anderen verkörpert sie in emblematischer Weise den
Spielcharakter aller sich dort ereignender Geschehnisse; ihre Vorder- und Rück-
seite sind genau so wie Innen (Labyrinth) und Außen (Steuerungsraum) des
Funhouse’ untrennbar miteinander verbunden; sie bilden zwei mögliche Optio-
nen innerhalb eines einzigen Systems, deren Eintreffen Glückssache ist.
Der Gang ins Labyrinth führt zwar zu prinzipiell wiederholbaren (jeder, der
seinen Obolus bezahlt, darf sich hineinwagen und den Ausgang oder einen
Abenteuerpartner suchen), aber auch zu prinzipiell nicht kalkulierbaren Ereig-
nissen wie Ambrose’s Gefangenschaft im locked room. Möglicherweise ist dieser
unauffindbare Raum, der sich rekursiv auf sich selbst bezieht („that winds around
on itself like a whelk shell“!) das geheime Zentrum des Funhouse oder zumindest
der komplementäre Gegenraum zur Steuerungszentrale. In diesem ,blinden’
Raum kommt die Bewegung zum Erliegen, denn in ihm gibt es „not a turning point
at all“. (LF 91; Hervorhebung im Original) Hier verwandelt sich das Kontinuum
des Raums in ein paradoxes Diskontinuum: in eine Sackgasse, aus der es keine
Umkehrmöglichkeit gibt. Hier hört der Fluß der abstrakten Zeit auf – und es
beginnt die Eigenzeit des Geschichtenerzählens. Wenn das Labyrinth durch Sack-
gassen und Barrieren schnell zu einem „Ort des Unmöglichen“ werden kann23
(und es sich oft genug diese Struktur der Vergeblichkeit und Unüberschreitbarkeit
zueigen macht), führt Barth das Labyrinth als einen Ort vor, in dem das Mögliche
und das Unmögliche parallel koexistieren. Nicht nur der labyrinthische Raum,

22 Auf ähnliche Weise umgeht Ambrose den ,offiziellen‘ Weg, kriecht unter den hölzernen
„boardwalk“ von Ocean City und betrachtet von einer verborgenen Froschperspektive aus Stadt
und Geschehen.
23 Vgl. Forest S. 160: „Le labyrinthe peu aisément devenir le lieu de l’impossible“.

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194 Matthias Hennig

auch das Erzählen selbst wird als operationalisierbar vorgestellt: als etwas, das
maschinell von außen in Gang gesetzt werden.24
Barth hebt das größtenteils von jungen Pärchen frequentierte Funhouse als
den kardinalen Punkt des ganzen Vergnügungsparks hervor; alles andere, wie
Restaurants, Tanzlokale sei nur als Vorspiel/Vorbereitung oder Pause gedacht
(„merely preparation and intermission“):

Which was the whole point, Ambrose realized. Of the entire funhouse! If you looked around,
you noticed that almost all the people on the boardwalk were paired off into couples except
small children; in a way that was the whole point of Ocean City! If you had X-ray eyes and
could see everything going on at that instant under the boardwalk and in all the hotel rooms
and cars and alleyways, you’d realize that all that normally showed, like restaurants and
dance halls and clothing and test-your-strength-machines, were merely preparation and
intermission. (LF 89; Kursivierung im Original)

Alles Vergnügen in der Vergnügungsstadt Ocean City drängt damit zur Lust im
Funhouse oder findet dort explizit Erfüllung! Innerhalb des Funhouse kommen
als räumlich hervorgehobene Knotenpunkte das Spiegelkabinett (als binnenper-
spektivischer Ort höchster Konfusion), der Steuerungsraum (als außenperspekti-
vischer Ort größter Kontrolle) oder der locked room (als Ort des storytellings und
der grenzenlosen Imagination) infrage. Das Funhouse ist jedoch ein a-zentrischer
Irrgarten und weder die Teilräume Spiegelkabinett, Steuerungsraum oder locked
room begründen durch sich eine Hierarchie oder eine differenzierende Ordnung
der Orte innerhalb des Gesamtraums ‚Funhouse‘. Sie koexistieren parallel als teils
in sich widersprüchliche Optionen so wie der Verlauf der Geschichte als kon-
tradiktorische oder „unmögliche Welt“ im Sinne von Matias Martinez und Michael
Scheffel erzählerisch organisiert ist:25 Aus der Kontradiktorik und Optionalisier-
barkeit der räumlichen Gesamtorganisation des Funhouse’ ist die Kontradiktorik
und Opitonalisierbarkeit der Erzählstruktur abgeleitet.
Bereits die Eingangssätze der Erzählung kreieren eine gegensätzliche Span-
nung im Antagonismus von „fun“ (das Labyrinth ist zum Vergnügen da) und

24 Vgl. LF 84: „The gypsy fortuneteller machine might have provided a foreshadowing of the
climax if Ambrose had operated it“. Narrative Passagen werden von diskursiven Einschüben
durchbrochen, die – kontrafaktisch und ironisch – erklären, warum die narrative Abfolge von
Anfang, Mitte und Ende einer Erzählung oder die psychologische Figurendarstellung als stan-
dardisierte Beschreibungsmethoden wichtig seien (LF 77, 73 f.). Vgl. auch Barths per Diagramm

eingezeichneten Verweis auf das pyramidale Verlaufsschema (Exposition – steigende Hand-


lung – Krise/Peripetie – fallende Handlung – Katastrophe/Lösung) aus Gustav Freytags Technik
des Dramas (ebd. 95). Durch all diese Einschübe werden der short fiction abstrakte Betriebs-
anleitungen wie Beipackzettel hinzugefügt.
25 Vgl. Matias Martinez/Michael Scheffel, S. 130 f.

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Die pfadabhängige Matrix des Labyrinths 195

„fear/confusion“ (das Labyrinth ist irritierend und angstmächtig), und verweisen


damit auf die doppelte Perspektive von Selbstbestätigung und Selbstverlust,
Gelingen und Scheitern: „For whom ist the funhouse fun? Perhaps for lovers. For
Ambrose it is a place of fear and confusion“. (LF 72; Hervorhebung im Original) In
einer der möglichen Zukünfte hat Ambrose einen dreizehnjährigen Sohn, den er,
einer alten Familientradition folgend, wiederum ins Funhouse von Ocean City
führt:

Zitat 1: He imagined himself years hence, successful, married, at ease in the world, the trials
of adolescence far behind him. He has come to seashore with his family for the holiday. […]
His own son laughs with Fat May and wants to know what a funhouse is; Ambrose hugs the
sturdy lad close and smiles around his pipestern at his wife. (LF 96 f.)26

In einer anderen Version stirbt er im Funhouse und wird erst nach Jahren in der
verschütteten Stelle eines labyrinthischen Korridors als Skelett wieder ausgegra-
ben:

Zitat 2: He died telling stories to himself in the dark; years later, when the vast area of the
funhouse came to light, the first expedition found his skeleton in one of its labyrinthine
corridors and mistook it for part of entertainment. He died of starvating telling himself
stories in the dark; but unbeknowest to him, an assistant operator of the funhouse, happe-
ning to overhear him, crouched just behind the plyboard partition and wrote down his every
word. (LF 95)

In der stillgestellten Bewegung, in der stillstehenden Zeit wird das Labyrinth zu


einer Erzähl- und Phantasiemaschine, in dem ein anonymer Empfänger, Wort für
Wort Ambrose’s Geschichte(n) transkribiert und – als direktes schriftliches Echo
und mechanische Wiederholung des Gesagten – für die Nachwelt festhält. Der
Moment des Verlorenseins im Labyrinth setzt eine Kaskade von Geschichten in
Gang, die nur durch eine anonymes Medium, den „assistant operator“ bewahrt
werden kann, der zu einem äußerst diskreten menschlich-mechanischen Auf-
schreibesystem wird, das alles aus der Dunkelkammer des Erzählens Dringende
wortgetreu notiert. Und auch dieser Lausch-und-Schreib-Version wird eine neuer-
liche Variante gegenübergestellt, in der Ambrose am Leben bleibt und selbst zum
Ingenieur des Labyrinths wird:

26 Ambrose hat in dieser Variante die „trials of adolescence“ hinter sich gelassen und (s)eine
Frau gefunden; nun steht sein Sohn vor den Herausforderungen der Pubertät. Barths Erzählung
läßt sich in dieser Hinsicht auch als eine Pastiche der anglo-amerikanischen Tradition des
Adoleszenz-Romans lesen, die sich im Liebes- bzw. ,Sexual‘-Labyrinth des Funhouse bewähren
muß: „«Is anything more tiresome, in fiction, than the problems of sensitive adolescents?»“ (LF
91 f.)

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196 Matthias Hennig

Zitat 3: He wishes he had never entered the funhouse. But he has. Then he wishes he were
dead. But he’s not. Therefore he will construct funhouses for others and be their secret
operator–though he would rather be among the lovers for whom funhouses are designed.
(LF 97).

Die experimentelle Funhouse-Maschine führt prototypisch diese verschiedenen


Möglichkeiten zusammen: entweder stirbt der Held (Zitat 2) oder überlebt (Zitat
1); entweder wird er zum Herrn und Meister, zum Künstler und „secret operator“
des labyrinthischen Funhouse (Zitat 3)27 – oder zu dessen namenlosen Opfer (Zitat
2). In all diesen Varianten überlagern sich durch Vor- und Rückgriffe weit aus-
einander liegende Schichten der Zeit. Gerade weil das Funhouse ,imperfektˊ ist,
kann es nicht der einsinnigen Logik, dem starren und erwartbaren Schematismus
eines „one-track-mind“ (LF 89) folgen. So wie das Labyrinth als generative Matrix
der Wegmöglichkeiten und Entscheidungen die inhärente Gegensätzlichkeit von
Ordnung und „chaogener Distribution“ (Bense 139) prozessiert, collagiert der Text
diese verschiedenen Teilräume (Spiegelkabinett, Steuerungsraum, locked room)
und erzählerische Optionen ineinander; als solche bleiben sie modellhaft neben-
einander bestehen – ohne daß ihnen eine handlungslogische oder semantische
Präferenz zugewiesen würde. So wie im a-zentrischen Irrgarten des Funhouse
keine hierarchische Ordnung der Orte existiert, so wenig gibt es eine erzählerische
Bedeutungshierarchie oder logische Handlungskonsekutivität.
Die Besonderheit von Barths Funhouse besteht darin, dass es im Vergleich mit
den meisten anderen Labyrinth-Darstellungen in der Literatur des 20. Jahrhun-
derts nicht nur die tödliche, sondern auch die spielerische und lustbetonte Seite
dieses teils post-mythischen gewordenen Raums hervorhebt, das oft weder Mino-
tauros- noch Theseusfiguren noch athenische Menschenopfer bevölkern. Zudem
verknüpft er das Labyrinth mit einem kybernetischen Steuerungsmodell und ver-
schränkt Innen- und Außenperspektive, die Sicht des Labyrinthgängers und die
des Operators, der einen göttlichen Überblick über das Ganze der Anlage hat.
Dabei bezieht sich Barth auf ein seit James Joyce Stephen Dedalus-Figur inner-
halb der englischsprachigen Rezeption verbreitetes Modell, welche das Laby-
rinth-Motiv mit einem schöpferischen, über der „Hyper-Ordnung“ des Labyrinths
thronenden Genie-Künstler assoziiert. Diese Verbindung des Labyrinth-Motivs
mit der Dädalus-Figur und damit mit dem Architekten des mythischen Baus ist
etwa in der französischen oder deutschsprachigen Rezeption weitaus weniger
dominant und auffällig.

27 Zur Deutung von Ambrose als mythischer (und dädalischer) Künstler-Figur in Lost in the
Funhouse Heide Ziegler: Ironie ist Pflicht, S. 166–168.

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Auch ohne Minotauros und Theseus und trotz des Einsatzes einer kyberneti-
schen Steuerungsinstanz bzw. einer dädalischen Künstlerfigur bleibt das Laby-
rinth in Lost in the Funhouse jedoch ein isolationistischer Ort, in dem modellhaft
die drei fundamentalen Kategorien von Raum, Zeit und Ich auf eine existentielle
Probe gestellt werden. Das Funhouse schreibt sich zum einen in die barocke
Tradition der Liebeslabyrinthe ein und wird in einem zweiten Schritt zum Sexual-
labyrinth radikalisiert. Neben der im Text herausgestellten Dädalus/Labyrinth-
bzw. Architekt/Kunstwerk-Beziehung verknüpft Barths Version das Labyrinth-
Motiv darüber hinaus mit einem weiteren spezifisch (anglo-)amerikanischen Nar-
rativ, das sich erst im 20. Jahrhundert ausgeprägt hat, nämlich dem des Adoles-
zenz-Romans bzw. der Adoleszenz-Erzählung.

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