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Musik Als Vollzug Von Leiblichkeit PDF
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Musik
als Vollzug
von Leiblichkeit
Zur phänomenologischen Analyse
von Leiblichkeit
in musikpädagogischer Absicht
Im Zentrum der Arbeit steht der menschliche Körper als höchst bedeutsames und
unverzichtbares Medium ästhetischer Erfahrungen im Rahmen des schulischen
Musikunterrichts und des dort möglichen musikalischen Lernens. Grundlage
des methodischen Arbeitsganges ist die phänomenologische Untersuchung
musikbezogener Leiblichkeit. Diese ist konstruktionstheoretisch angesiedelt
im polaren Spannungsbezug sowohl der Reflexion der körperbezogenen Wahr-
nehmungs- und Handlungspotentiale als auch der Differenzierung zwischen
Theorie- und Praxisrelevanz der Musikpädagogik.
Vor diesem Hintergrund gelingt es, verschiedene Fenster zu öffnen, die neue
Blickrichtungen auf das musikalische Lernen mit und durch den Körper
ermöglichen. Dies vollzieht sich jenseits der tradierten Körper-/Geist-, Leib-
/Seele- sowie Theorie-/Praxis-Dualismen. Sie werden vielmehr aufgebrochen,
überwunden und im Sinne von konstruktiven wie praxisrelevanten Perspektiven
des schulischen Musikunterrichts gleichsam entfaltet.
ISBN.....
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG 13
I BESTANDSAUFNAHME 22
II METHODE 82
1 Wahl 83
1.1 Vorurteilshaftigkeit im Körperverständnis 83
1.2 Triftigkeit der phänomenologischen Methode 84
2 Charakteristik 85
2.1 Zur Geschichte der Phänomenologie 85
2.2 Grundzüge der phänomenologischen Methode 87
3 Potenzial 90
3.1 Spezifität des Leibbegriffs in phänomenologischen Forschungen 90
3.2 Relevanz phänomenologischer Forschung für die Musikpädagogik 93
V BEWÄHRUNG 155
VI DISKUSSION 308
1 Resümee 309
2 Ausblick 315
LITERATURVERZEICHNIS 320
SIGLEN 339
Zwischen Bewusstsein und Realität gähnt ein wahrer Abgrund des Sinnes.
(Husserl 51993, 93)
Wir behaupten also, daß der Leib ein zweiblättriges Wesen ist, auf der
einen Seite ist er Ding unter Dingen, und auf der anderen sieht und berührt
er sie; und wir stellen fest, da es offensichtlich so ist, daß er diese zwei
Eigenschaften in sich vereinigt, und daß es seine doppelte Zugehörigkeit
zur Ordnung des „Objekts“ und des „Subjekts“ und zur Entdeckung ganz
unerwarteter Beziehungen zwischen beiden Ordnungen führt. Daß dem
Leib ein Doppelbezug innewohnt, kann nicht auf einem unverständlichen
Zufalle beruhen. Er lehrt uns, daß ein Bezug den anderen hervorruft.
(Merleau-Ponty 21994a, 180)
12 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
VORWORT
Die vorliegende Arbeit ist während eines längeren Zeitraums entstanden.
Erste Untersuchungen zum Leibbegriff der Phänomenologie begannen bereits
1995 im Rahmen meines Philosophiestudiums. Einen Schwerpunkt bildeten die
ästhetischen Potentiale und praktischen Dimensionen der Forschungsmethode. Im
Anschluss an mein Musikstudium erhielt ich ein Stipendium und konnte im Hus-
serl-Archiv Köln zum Teil unveröffentlichte Manuskripte zum Leibbegriff einse-
hen, die ich für musikpädagogische Fragestellungen auswertete. Diese eher theo-
retischen Ansätze ließen sich dann während meines Referendariats auch für die
Unterrichtspraxis konkretisieren.
So ergaben sich im Laufe der Forschungen immer wieder wechselnde Perspekti-
ven im Hinblick auf das ‚musikalische Leibphänomen’. Diese letztlich biogra-
phisch begründete Verbindung von ‚Theorie und Praxis’ hat sich zu einem zentra-
len Anliegen meiner Arbeit entwickelt.
‚Musik als Vollzug von Leiblichkeit’ ist an Zeiten und Personen in Bad Salzuflen,
Detmold, Köln und Marburg gebunden.
Ich danke Andreas Glatz für seine konstruktiven Ideen.
Die Hochschule für Musik Detmold ermöglichte mir ein zweijähriges Forschungs-
stipendium.
Mein besonderer Dank gehört Herrn Professor Dr. Ortwin Nimczik.
Lars Oberhaus
Einleitung · 13
EINLEITUNG
Der menschliche Körper erweist sich für den Musikunterricht als wesentliches und
unverzichtbares Medium ästhetischer Erfahrungen. Während das bewusste Zuhö-
ren dem Erschließen von Klangformen und dem Erwerb analytischer Kompeten-
zen dient, beruht die Musizierpraxis auf konkreten Tätigkeiten, bei denen z. B.
durch Bewegungen Klänge produziert werden, die vielfältige Interaktionsformen
ermöglichen.
Der Körper steht daher im Musikunterricht zwischen den zwei zentralen methodi-
schen Dimensionen, Töne entweder hervorzubringen oder sie zu verinnerlichen.
Diese Differenz ist von zentraler Bedeutung, da sich aus ihr weitreichende Konse-
quenzen für eine praxis- oder theorieorientierte Musikpädagogik ableiten.
Dabei muss zunächst davon ausgegangen werden, dass der Körper ästhetische
Erfahrungen bereitstellt. Diese banal anmutende Feststellung lenkt den Blick auf
einen zentralen anthropologischen Sachverhalt, der v. a. in unserer westlichen
Kultur stillschweigend vorausgesetzt wird: die Vorstellung von einem ‚objektiven
Körper’, der sich z. B. in der Medizin analysieren lässt, und einem ‚subjektiven
Geist’, der Individualität durch Vernunft bereitstellt. Dieser v. a. von René
Descartes konstruierte Körper/Geist- oder Leib/Seele-Dualismus trennt die
menschliche Existenz auf die Musik bezogen in einen Außenbereich (res extensa),
wo Bewegungen ausgeführt werden, und in einen Innenbereich (res cogitans), in
dem Klänge reflektiert werden. Der Körper dient also zur Etablierung motorischer
und analytischer Kompetenzen, wobei allerdings die beiden Seiten merkwürdig
disparat erscheinen und nicht einheitlich zu fassen sind, da ihnen, wie Physiologie
und Psychologie zeigen, unterschiedliche Aufgabenbereiche zugesprochen wer-
den. Für den Musikunterricht hat dies zur Folge, dass ästhetische Wahrnehmungen
immer nur im Nacheinander, konsekutiv, erfahrbar sind. Ein Musikstück wird
z. B. im Ensemble erprobt, bevor elementare Formparameter über eine Analyse
des Notentextes erschlossen werden. Eng hiermit verbunden erscheint ferner die
methodische Vorgehensweise, die Schulstunde zunächst durch ‚musikalische
Aktivitäten‘ aufzulockern, um sich anschließend den ‚eigentlichen’ Lerninhalten
zu widmen.
Letztlich untersteht der Körper im Unterricht festgelegten Funktionen, die ihn in
Form von ‚Bewegungen zur Musik’ für normative Zwecke einnehmen, anstatt
eigenständige musikalische Qualitäten im Sinne von ‚Musik zur Bewegung’ zu
beachten. Die Konkretisierung der eigenen Verfassung und Disposition des ‚musi-
14 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
kalischen Körpers’ für den Unterricht erfolgt damit unter Verzicht auf authenti-
sche Bewegung, die dem Subjekt immer schon zur Verfügung steht.
Hierbei wird deutlich, dass erst die Berührungspunkte zwischen ‚Theorie’ und
‚Praxis’ eine Einheit zwischen Wahrnehmen und Gestalten etablieren. Selbst die
Legitimation gegenüber anderen naturwissenschaftlichen Fächern beruht weniger
auf propädeutischen Vergleichen, sondern findet gleichsam auf einem anderen
‚schwankenden Boden’ statt, der sich mit Verstehensprozessen auseinandersetzt,
die in kein einseitiges Rationalisierungs- oder Kreativitätsraster passen.
Wie lassen sich also Rezeption und Produktion als Einheit erfahren, ohne den
konstitutiven Anspruch von Theorie und Praxis aufzuheben? Wie kann ein Ver-
stehen ‚von etwas als etwas’ erfolgen, ohne formale Formen des Hörens und In-
terpretierens gegen offene Erfahrungshorizonte auszuspielen?
Hermann Rauhe, Hans-Peter Reinecke und Wilfried Ribke haben bereits 1975
dargelegt, dass ‚Hören und Verstehen‘ nicht zwangsläufig an kognitive Prozesse
gebunden sind, sondern in Relation zu den Handlungsmöglichkeiten betrachtet
werden müssen, die Schüler im Rahmen ihrer Entwicklung mitbringen.1 Handeln
versteht sich als mehrdimensionaler Prozess, der das Wechselverhältnis von Sub-
jekt (Hörer) und Objekt (Musikwerk) thematisiert und besonders musikalische
Interaktionsformen berücksichtigt. Selbst wenn sich ausgehend von der ‚Erfah-
rungserschließenden Musikerziehung’ und Forderungen nach ‚Handlungsorientie-
rung’ eine verstärkte Praxisorientierung gebildet hat, stehen z. B. Singen und
Klassenmusizieren als ‚kreative Bereiche’ synonym für Spaß und Gruppenerlebnis
während eher kognitiv-theoretische Inhalte, wie z. B. Formenlehre oder Partitur-
analyse, mit Langeweile und Auswendiglernen verbunden erscheinen. Die Thema-
tisierung des Körpers im Musikunterricht führt also nolens volens von Reflexio-
nen über dessen Wahrnehmungs- und Handlungspotenziale zu einer Auseinander-
setzung mit der Theorie- oder Praxisrelevanz der Musikpädagogik. Dies beinhaltet
wiederum eine kritische Erweiterung des Verstehensbegriffs, der verallgemeiner-
baren Lernleistungen in Form von abfragbarem Wissen und ästhetisch-sinnlichen
Wahrnehmungen bezüglich produktiver musikalischer Gestaltungsansprüche ge-
recht wird.
______________
1
Vgl. Rauhe/Reinecke/Ribke 1975; Hermann J. Kaiser kritisierte schon früh den unsystemati-
schen Gebrauch des musikalischen Handlungsbegriffs. Vgl. Kaiser 1976
Einleitung · 15
Demnach liest sich die Geschichte der Musikpädagogik wie ein ständiges ‚Auf
und Ab’ bezogen auf die Forderung, verstärkt entweder das ‚passive Analysieren’
im Sinne der Herausstellung formaler Kriterien oder das ‚aktive Gestalten’ heraus-
zustellen. Exemplarisch ist auf die ‚Jugendmusikbewegung’ zu verweisen, die
Musik als Gemeinschaftserlebnis verstand. Außerdem ließe sich eine dem auto-
nomen Anspruch des Musikobjekts angemessene rationale Durchdringung der
formalen Struktur im Sinne der Kunstwerkdidaktik anführen. Vielleicht ist Theo-
dor W. Adornos ‚Kritik des Musikanten‘ aktueller denn je, da sie nach dem „Vor-
rang des Musizierens über die Musik“ fragt (Adorno 1997b, 75). Selbst wenn der
soziale Typus eines schöpferisch Jungendmusikbewegten samt Kniebundhose,
Klampfe und Kochgeschirr heutzutage nicht mehr auffindbar ist, bleibt Kritik
daran nach wie vor bedenkenswert, weil es einen in die Musikpädagogik „einge-
bauten Widerspruch zwischen der Befriedigung des Bedürfnisses nach ‚Action‘
und ganzkörperlichem Sichausagieren und den Möglichkeiten des verstehenden
Eindringens in die Musik selbst gibt“ (Ott 1997, 7).
Unabhängig von der divergenten Theorie- bzw. Praxisbewertung und des damit
zusammenhängenden ‚eingebauten Widerspruchs’ hat der Körper in unterschiedli-
chen Lernbereichen seine feste Verankerung im Musikunterricht erhalten.
Das ‚Lernfeld Tanz’ ist in den Lehrplänen und Schulbüchern durchaus vertreten.
Zu unterscheiden wäre zwischen ‚Klassischem Tanz’, der sich unter Hinzunahme
traditionell festgelegter Choreographien auf das Bewegungsverhalten und die
historische Aufführungspraxis konzentriert, sowie ‚Rock- und Poptanz’, der an die
Hör- und Bewegungserfahrungen der Schüler anknüpft, hierbei oftmals unge-
wöhnliche Bewegungsarten mit einbezieht und sich z. B. mit dem Nachtanzen von
Choreografien in Musikvideos beschäftigt.
Etabliert hat sich auch schon die in den 1990er Jahren entwickelte ‚Szenische
Interpretation‘, wo Schüler sich in Rollen hineinversetzen und hierbei ein eigen-
ständiges Bewegungsrepertoire erwerben. Begründet werden ihre ungewöhnlichen
Methoden, wie z. B. die Arbeit mit Standbildern und Bewegungsimprovisationen,
v. a. durch die erfahrungserschließende Dimension der Musikerziehung, die ein
Spiel von Selbst- und Fremderfahrung ermöglicht. Szenen werden nicht nur nach-
gespielt, sondern spiegeln auch die Sphäre der eigenen Persönlichkeit wider. In
engem Zusammenhang steht hierbei der anthropologische Aspekt der ‚Verkörpe-
rung’, der von Christoph Richter für die Musikpädagogik verwendet wurde. In
Anlehnung an die Tätigkeit eines Schauspielers versteht er hierunter die „Gleich-
zeitigkeit von ‚Verkörperung von etwas‘ und ‚Verkörperung des Menschen
16 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
selbst‘“ (Richter 1987, 111), wenn Schüler z. B. durch Bewegungen zur Musik
eine fremde Rolle annehmen und sich selbst darin ausdrücken.
In den letzten Jahren führten die Thematisierung interkultureller Aspekte und die
Suche nach dem ‚musikalisch Fremden‘ zu einer Neubewertung außereuro-
päischer Praxen, wie z. B. ‚Afrikanisches Trommeln‘.2 Eng hiermit verbunden
sind die zahlreichen Ansätze körperbetonten Musizierens, wie z. B. ‚Bodyperkus-
sion‘, wo die Schüler im Sinne einer rhythmischen Elementarlehre für eigene
Körperklänge sensibilisiert werden. Das Musizieren auf Alltagsgegenständen hat
durch ‚Stomp in the classroom‘ besonders an Aktualität gewonnen und gewähr-
leistet die Erprobung ungewöhnlicher Spieltechniken.3
Nicht zu unterschätzen bleibt hierbei der Beitrag zur Gesundheitserziehung, da
durch Spiel- und Bewegungserfahrungen die motorischen Kompetenzen vieler
Schüler verbessert und durch das bewusste klangliche Erschließen der ‚Lautsphä-
re’ eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit für schädliche Umweltgeräusche
erreicht wird.
Auch auf theoretischer Ebene lässt sich eine bereits Anfang der 80er Jahre einset-
zende Forderung nach einer verstärkten Berücksichtigung von ‚Musik und Bewe-
gung’ im Unterricht feststellen, die sich unter instrumentalpädagogischen, musik-
soziologischen, elementarpädagogischen, ganzheitlichen oder allgemein fachdi-
daktischen Schwerpunkten immer wieder erneuert. Ihre gemeinsame Zielsetzung
besteht darin, der ‚Entsinnlichung‘ im Lernen und einer Beschränkung auf ein rein
abstrakt formelhaftes und verinnerlichtes Wissen entgegen zu wirken.4
Auffallend ist allerdings, dass der Körper neben seiner musikpädagogischen Viel-
seitigkeit auch auf eine Vieldeutigkeit seiner Erscheinungsweisen verweist. Vier
verschiedene Legitimationslinien der Einsatzmöglichkeiten von ‚Körper und Mu-
sik’ im Unterricht lassen sich festmachen.5
Eine ‚Zivilisationskritik‘ thematisiert die Entfremdung des Menschen durch Me-
dien und fokussiert sich auf die verstärkte Neugewinnung der Vielfalt menschli-
______________
2
Vgl. Schütz 1992
3
Vgl. z. B. Zimmermann 1999; Neumann 2000
4
Vgl. Geiger 1996; Fritsch 31992; Haselbach 1990; Gies/Jank/Nimczik 2001; Bruns 2000;
Horst Rumpf kritisiert die ‚übergangene Sinnlichkeit’ in der Schule. Vgl. z. B. Rumpf 1981;
1986; 1987
5
Vgl. Stroh 1994
Einleitung · 17
1994, 141), woraus die Schwierigkeit resultiert, den Bewegungen zur Musik ein-
deutig pädagogische Funktionen zuzuschreiben. Demnach nehmen emanzipato-
risch tendierte Unterrichtsinhalte, wie z. B. ‚Pop- und Rocktanz’, durch die Ein-
haltung von Schrittfolgen und Bewegungsmustern disziplinierende Züge an und
stabilisieren das ursprünglich kritisierte Gesellschaftssystem. Ein ganzheitlich
orientierter Unterricht mit allen Sinnen führt zu einer einseitigen Bewertung jegli-
cher musikalischen Tätigkeit als alleiniges Lernziel und nötigt letztlich zu einer
erneuten Kritik an einer rein ‚schöpferischen Musikerziehung‘, um auch die quali-
tativen Aspekte der Praxis nicht zu vernachlässigen. Die Erarbeitung ungewöhnli-
cher Spieltechniken, wie z. B. im Rahmen der ‚Bodyperkussion’, führt zu einer
‚schöpferischen Musikerziehung’, die unkritisch das ‚gemeinschaftliche Tun‘
propagiert. Die Beschäftigung mit außereuropäischen Musikpraxen unter der The-
matik des ‚Fremden‘ wird deren Vielfalt nicht gerecht und verabsolutiert
leichtfertig die westliche Kunstmusik. Letztlich verlangen körperorientierte päda-
gogische Maßnahmen auch eine therapeutische oder tänzerische Zusatzausbildung
für den Lehrer, da zum einen unplanmäßige psychologische Folgeerscheinungen
durch ein zu hohes Maß an Expressivität auftreten können und zum anderen kör-
perlich behinderte Menschen oder Schüler mit wenig Bewegungserfahrung dis-
kriminiert werden. Ungeachtet der Schwierigkeit, die aus der qualitativen Bewer-
tung von Bewegungen im Musikunterricht resultiert, führt eine Praxisorientierung
zur Ausklammerung theoretischen Lernstoffs, der oftmals nur verbal zu vermitteln
ist. Pädagogische Maßnahmen mit dem Körper als Erfahrungsträger sind also
nicht nur schwer zu kontrollieren, sondern verfehlen im gleichen Maße schnell die
didaktischen Zielsetzungen.
Eine wesentliche Aufgabe für die musikpädagogische Forschung besteht darin, die
divergenten Einsatzmöglichkeiten von ‚Körper und Musik’ allererst zu begründen.
Wo fängt Praxis an, wo hört Theorie auf? Ist das Hören bereits als ein Akt passi-
ver Reflexion determiniert oder lässt sich das Analysieren selbst bereits als kreativ
bezeichnen? Die Kluft der Theorie/Praxis-Dimension des Musikunterrichts ist nur
durch eine gezielte Neubewertung ästhetischer Qualitäten zwischen Hören und
Gestalten und durch eine Aufhebung der Funktionalisierungsmechanismen des
Körpers zu überwinden.
Eine Arbeit, die sich im weiten Sinne mit ‚Musik und Bewegung’ auseinander-
setzt, kann das Thema in seiner Vollständigkeit nicht bearbeiten. Traditionelle
Tanz- und Rhythmikkonzepte, wie die von Jaques-Dalcroze oder Feudel, werden
daher nicht eigens thematisiert, da bereits Forschungen und methodische Einsatz-
Einleitung · 19
möglichkeiten für den Unterricht vorliegen. ‚Musik als Vollzug von Leiblichkeit’
ist vielmehr um eine Neuperspektivierung des ‚Körperphänomens’ bemüht und
untersucht unkonventionelle Zugänge, wie z. B. die Stellung des Körpers in der
Neuen Musik. Diese Schwerpunktsetzung bietet sich an, da viele relevante musik-
pädagogische Forschungen zum ‚Leibbegriff’ an wahrnehmungsspezische Aspek-
te innerhalb der zeitgenössischen Musik anknüpfen. Grundsäzlich sind jedoch
auch Einsatzmöglichkeiten der ‚Leiblichkeit’ in anderen Lernfeldern denkbar. Das
betrifft v. a. das extensive Körperinteresse in der Musik Jugendlicher. Eine solche
zweite Ausweisung bildet eine Perspektive für weitere Forschungen zur Leiblich-
keit.
Eine erste ‚Bestandsaufnahme’ zeigt bereits, wie sich das derzeitige Körperinter-
esse in immer komplexere Strukturen verzweigt und hierdurch nahezu unüber-
schaubar wird. Es liegt dabei von Anfang an im Interesse, solche Vieldeutigkeiten
zu berücksichtigen, um erstens nach deren ‚Sinn’ zu fragen und zweitens in posi-
tiver Weise ‚Fenster zu öffnen’, die neue Blickrichtungen auf ein so breites Feld
wie musikalisches Lernen mit und durch den Körper bereitstellen. Die Auseinan-
dersetzung mit Leiblichkeit als musikalische Vollzugsform impliziert allerdings
keine ‚Neuerfindung des Musikunterrichts’. Vielmehr werden ursprüngliche Qua-
litäten des ‚musikalischen Körpers’ exponiert, die im Unterricht zum Einsatz ge-
langen können.
Trotz dieser thematischen Mannigfaltigkeit, die neben grundlegenden musikpäda-
gogischen Fragestellungen auch musiksoziologische, musikwissenschaftliche,
anthropologische, philosophische und didaktische Aspekte berücksichtigt, lässt
sich eine klare Struktur innerhalb der ‚klassischen‘ Gliederung in Theorie (Be-
standsaufnahme), Methode, Analyse, Ergebnisse und Diskussion festmachen. Die
Systematik der Darstellung korreliert demnach mit der Öffnung für viele auch
fachübergreifende Blickrichtungen, die sich alle für die Etablierung eines neuen
Körperverständnisses, genannt ‚Leiblichkeit‘, konstitutiv erweisen. Eine solche
Anlage ermöglicht innerhalb der Verzahnung von methodischer Dichte und the-
matischer Vielfältigkeit die Orientierung von einem allgemeinen Körperinteresse
im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext zu einer konkreten musikpädagogischen
Erfassung von ‚Musik als Vollzug von Leiblichkeit’.
Entsprechend einer von Jürgen Vogt vorgeschlagenen Begriffsdefinition lässt sich
diese Arbeit als Teil einer „Philosophie der Musikpädagogik“ (Vogt 2001, 13)
verstehen, die dazu auffordert, „sich mit den philosophischen Themen der Musik-
pädagogik ebenso zu beschäftigen wie mit den musikpädagogischen Themen der
20 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Philosophie“ (Vogt 2001, 14). Die Ergebnisse sind also sowohl für die Philoso-
phie als auch für die Musikpädagogik relevant.
Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile, die durch die Kapitel ‚Bestandsaufnahme’
(I), ‚Methode’ (II), ‚Analyse’ (III), ‚Ergebnisse’ (IV), ‚Bewährung’ (V) und ‚Dis-
kussion’ (VI) gekennzeichnet sind. All diesen Teilen sind unterschiedliche wis-
senschaftliche Implikationen und Schwerpunkte zugeordnet, die eng mit dem
Thema ‚Musik und Körper’ verbunden sind.
In der ‚Bestandsaufnahme’ (I) wird auf soziologischer Basis den vielschichtigen
Rollen des Körpers im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext nachgegangen, um
so einen ersten Überblick über dessen Funktionalisierung zu erhalten. Damit ver-
bunden erscheinen vertiefende Überlegungen, die sowohl die etymologische Dif-
ferenz von ‚Körper’ und ‚Leib’ berücksichtigen, aber auch grundlegende anthro-
pologische Fragestellungen thematisieren. Die ‚Methode‘ (II) und ‚Analyse‘ (III)
widmen sich phänomenologischen Forschungen zum Leibverständnis und kon-
zentrieren sich dabei auf die Autoren Edmund Husserl und Maurice Merleau-
Ponty. In den Ergebnissen wird zunächst ein eigenständiger ‚phänomenologischer
Leibbegriff’ gebildet, der sich durch vier Topoi (‚Zweideutigkeit’, ‚Intersubjekti-
vität’, ‚Ausdruck’, ‚Erweiterung’) auszeichnet. Diese sind auch für die Musikpä-
dagogik relevant. Im Rahmen einer musikpädagogischen Transformation resultie-
ren dann vier ästhetische Qualitäten (‚Zwischen’, ‚Interkorporalität’, ‚Expressivi-
tät’, ‚Extension’), die summarisch unter dem Begriff ‚Leiblichkeit’ zusammenge-
fasst werden. Die Bewährung (V) integriert zunächst ‚Leiblichkeit’ in bestehende
musikpädagogische Konzeptionen, um Ähnlichkeiten und Abgrenzungen zu vor-
handenen theoretischen Ansätze festzustellen. Anschließend bewähren sich die
Qualitäten im Unterricht im Bereich der ‚Neuen Musik’ und begründen ‚Musik als
Vollzug von Leiblichkeit’ auf musikpraktischem Boden. Eine abschließende Dis-
kussion (VI) resümiert die wesentlichen Standpunkte der vorliegenden Arbeit und
gibt auch einen Ausblick auf weitere Forschungen zum Körperverständnis im
Rahmen der Musikpädagogik.
Die hier gewählte sprachliche Darstellung orientiert sich an der pänomenologi-
schen Terminologie. Einige auf den ersten Blick fremd erscheinende Begriffe wie
‚Bewährung’ oder ‚Ausweisung’ sind kein ästhetisch-verbaler Selbstzweck, son-
dern verdeutlichen die eigenständige musikpädagogisch-phänomenologische
Tragweite der Darstellung ohne bereits fixierte Deutungsschablonen zu überneh-
men.
Einleitung · 21
Die Untersuchung soll ersichtlich machen, inwieweit die Stellung des ‚phänome-
nologischen Leibbegriffs’ zwischen Körper/Geist, Leib/Seele, Objekt/Subjekt,
Sein/Bewusstsein oder Aktivität/Passivität traditionelle dualistische Konzepte
unterläuft und eine Verflechtung von Denken und Handeln begründet, um als
‚Leiblichkeit’ die grundlegende Offenheit und Vielschichtigkeit ästhetisch-
musikalischer Erfahrungen und Handlungsvollzüge im Musikunterricht herauszu-
stellen.
22 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
I BESTANDSAUFNAHME
Das Finden, heißt es, leitet sich vom Gehen entlang eines Weges ab, bei
dem man auf etwas tritt, stößt oder trifft; unklar ist dabei jedoch vorab die
Rolle, die so gegensätzliche Dinge wie Zufall und Suche dabei spielen. Ei-
ner Entdeckung haftet der Aspekt des Willkürlichen im selben Maß an, wie
man sie oft auch als unwillkürlich begreift; man schreibt ihr einen aktiven
Part ebenso zu, wie man ihr andererseits wieder das Prädikat des Passiven
verleiht. Diese sprachliche Unschärfe jedoch ist es gerade, die dem tauto-
logischen Kreisen um Begriffe eine Richtung und auch einen Anfang ein-
schreibt.
(Schrott 1999, 10)
tigt, die zwischen einem homerischen und einem platonischen Menschenbild dif-
ferenzieren. Eine Bezugnahme auf die Triebhaftigkeit des Leibes in der Religion
und die damit verbundene Entkörperlichung der Musik schließen sich an. Sie
vertiefen die sich wandelnden historischen Dimensionen des Körpers. Eine beson-
dere Berücksichtigung erhält ferner dessen Rolle im Lernprozess.
24 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Die Natur hat, um den Körper zu stärken und ihn wachsen zu lassen, Mit-
tel, die niemals aufgehalten werden dürfen (Rousseau 1978, 31).8
Der Regelkanon, in dem der Körper bisher vornehmlich stand, wurde durchbro-
chen, und es begann sich eine Neubewertung der Sinnlichkeit als Zeichen der
Befreiung des Individuums aus den Zwängen gesellschaftlicher Normen und ma-
______________
6
Dabei sei v. a. auf das zweibändige Werk ‚Über den Prozeß der Zivilisation’ verwiesen. Vgl.
Elias 1969
7
Er dient als Reiz-Reaktionsmechanismus dazu, „die innere Kraft aufzubieten, um prompt und
mit der gebotenen Stärke auf Reize reagieren zu können“ (Baumann 1997, 187).
8
Der Originaltext lautet: „La nature a, pour fortifier le corps et le faire croître, des moyens
qu’on ne doit jamais contrarier“. Die Übersetzung stammt vom Verfasser.
Bestandsaufnahme · 25
Gesundheit
Das Feld der Gesundheit bzw. Krankheit hat sich längst aus dem Bereich der In-
timsphäre und des Privaten gelöst und ist Teil des öffentlichen Diskurses gewor-
den. Dabei sind es v. a. populärwissenschaftliche Untersuchungen, die einer stän-
dig wachsenden Leserschaft komplexe Sachverhalte allgemein verständlich näher
bringen und das Verhältnis von persönlicher Lebensqualität und innerem Wohlbe-
______________
9
Im Folgenden werden unter den Begriffen ‚derzeitig’ oder ‚heutzutage’ weitestgehend die
Entwicklungen des letzten Quartals des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn des neuen Millenni-
ums verstanden, die durch einzelne Bezüge zu unterschiedlichen Rollen des Körpers ab 1900
verdeutlicht werden sollen.
26 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Das Phänomen der Gesundheit ist eng mit einem Wandel in der Auffassung von
Arbeit und Freizeit verbunden. In Zeiten der Industrialisierung mussten viele
Menschen körperlich hart arbeiten und litten schon früh an physischen Verschleiß-
erscheinungen. Infektionskrankheiten reduzierten die Lebenserwartung, so dass
vor ca. einhundert Jahren nur jeder Zehnte älter als 70 Jahre werden konnte.
Krankheit hieß Schicksal. Die Auffassung von Arbeit und Gesundheit wandelte
sich im 20. Jahrhundert durch neue medizinische Erkennungs- und Behandlungs-
möglichkeiten. Es entstanden aber auch neue Zivilisationskrankheiten, von denen
v. a. Aids zu weitgehenden Veränderungen zwischenmenschlicher Umgangswei-
sen führte. Seit den 1970er Jahren wurde ‚Stress’ zu einem populären Schlagwort,
um die Bedeutung von Arbeit, Körper und Gesellschaft für die Gesundheit zu
umschreiben. Stress resultiert aus Maximalanforderungen in Arbeitsvorgängen
und bildet neben anderen Risikofaktoren des modernen Lebensstils, wie z. B.
Rauchen, eine der Grundgefahren für das Individuum. Diese Ängste sind aber
______________
10
Eine Recherche im VLB (Verzeichnis lieferbarer Bücher) für das Stichwort „Körper*“ ergibt
für das Jahr 1990 eine Anzahl von 30 und für das Jahr 2005 eine Liste von 431 Neuerschei-
nungen. Vgl. Hay 2001
11
Vgl. Vigarello 1992; Corbin 1984
12
Vgl. von Campenhausen 1993
Bestandsaufnahme · 27
Sport
In einer Studie der Kölner Sporthochschule nannten 97 Prozent der Befragten
Gesundheit als ein zentrales Ziel ihrer sportlichen Aktivitäten.13 Viele Untersu-
chungen im Bereich der Sportwissenschaft kreisen um die Frage nach dem Ver-
hältnis von Leistungsfähigkeit und Gesundheit und bilden unterschiedliche Auf-
fassungen darüber, ob regelmäßiges Körpertraining die Lebenserwartung steigert
oder überdurchschnittliche Leistungen umgekehrt zu Verschleiß und Krankheit
führen.
Das Interesse am Sport war jedoch nicht zu jeder Zeit gleich stark. Noch vor fünf-
zig Jahren wurde in Deutschland der aus dem Englischen stammende Begriff
‚sports’ wegen seiner Gewalttätigkeit und der Lustbetonung abgelehnt und ver-
______________
13
Vgl. Bachmann 1997, 22
28 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
pönt. Im traditionellen Sinne steht Sport für „Spaß durch Sport, getreu der Ab-
stammung des Wortes von englisch ‚disport’ für Zerstreuung und Vergnügen“
(Bachmann 1997, 22). Die Leibeserziehung und Gymnastik in Deutschland kriti-
sierte diese oberflächliche Behandlung des Körpers. Heutzutage hat sich diese
negative Sichtweise relativiert, denn gerade Momente wie Spaß und Zerstreuung
gelten als besondere Motivation für sportliche Aktivität. Allgemein zeigt sich,
dass der Sport konsumorientierter und marktfähiger geworden ist. Fußball ist in
Deutschland Mannschaftssport Nr. 1, und
Seit Beginn der 1980er Jahre hat sich ausgehend von der ‚Trimm-dich‘- und
‚Aerobic-Bewegung’ ein Wandel des Begriffs ‚Sport’ in ‚Fitness’ vollzogen. Ur-
sprünglich bedeutete Fitness soviel wie ‚gut gerüstet’ zu sein und fasste damit die
Lebenseinstellungen der Hobbyathleten zusammen, die sich vor Krankheiten
schützen und gleichzeitig attraktiv präsentieren wollten. Heutige Fitness betont die
Entlastungsmöglichkeiten aus der Arbeitswelt, den Spaßfaktor (‚Fun’), aber auch
den minimalen Zeit- und Nutzenaufwand, mit dem man sich ein körperliches
Idealbild aneignen kann. Dieses Prinzip erinnert an die Ausbildung körperlicher
Effektivität im Militär und ästhetisch-moralischer Werte im Sinne des antiken
Ideals eines ‚Mens sana in corpore sano’.14 Das vorhandene Fitnessinteresse dient
somit nicht nur dem Vergnügen, dem Mannschaftsgeist oder der Erholung, son-
dern orientiert sich an Leitbildern und beinhaltet auch die körperliche und geistige
Freiheit des Subjekts.
Derzeitig lässt sich eine zunehmende Vorliebe für flüchtige, aus Amerika impor-
tierte Trendsportarten feststellen, die für jeden Geschmack und auch für spezifi-
sche Interessen dem Menschen ein individuell-gestaltbares und vielfältiges Pro-
gramm bereitstellen. Der ‚Sportreport Köln 2004’, ein Angebot kostenfreier
Sportaktivitäten für Studenten, bietet ‚Body fit’, ‚Body forming’, ‚Bodyshaping’,
‚Circuittraining’, ‚Power fun’, ‚Stretch&Relax’, ‚Theae-Bo’ an. Der Inhalt gliedert
______________
14
Die Interpretation des Zitats im Sinne der Einheit von Körper und Geist „ist eine Fehldeu-
tung. Vielmehr hält Juvenal, der Autor des Satzes, die Gesundheit an Leib und Seele für das
einzige Gut, das Erdenbewohner von den Göttern erbitten könnten“ (Gerdes 1997, 82).
Bestandsaufnahme · 29
Gesundheit und Erleben – das sind die beiden Motive, die bereits seit Be-
ginn der 90er Jahre alle anderen Orientierungen sportlichen Handelns
verdrängt haben. Wer sich das vorliegende Programmheft genauer an-
schaut, wird erfreut feststellen, dass es eine Fülle von Anregungen bereit-
hält, um der Kopflastigkeit und Bewegungsarmut des Studienalltags wir-
kungsvoll zu begegnen (‚Sportreport Köln – Sommersemester 2004’, Vor-
wort).
Letztlich findet sich im Konzept der Fitness, welches besagt, dass ein Organ durch
größere Belastung auch mehr leistet, eine Umdeutung des biologischen Grund-
prinzips, nach dem sich der Mensch zum Überleben einer sich stetig gesellschaft-
lich wandelnden Umwelt anpassen muss. Der Mensch adaptiert aktuell vorge-
schriebene Leitbilder und untersteht so dem Risiko, dieses Ziel durch mangelnde
körperliche Fitness nicht erreichen zu können. Gleichzeitig besteht aber auch die
Gefahr, dass nach dem erfolgreichen Erreichen des Ziels eine Leere entsteht, da
keine neuen Reize angeboten werden. Im Rahmen dieser Ambivalenz unterschei-
det Zygmunt Baumann in seiner ‚Philosophie der Fitness’ zwei postmoderne
Ängste.15 Die ‚Proteophobie’ verdeutlicht dabei die Angst, niemals ein Ziel zu
erreichen. Die ‚Fixeophobie’ umschreibt die Angst, das Ziel erreicht zu haben.
Mode
Auch die Mode, die Menschen am Körper tragen, repräsentiert bestimmte Lebens-
formen. Sie ist Ausdruck ihrer Zeit und spiegelt die politische Lage, das Verhält-
nis von Mann und Frau, den Zeitgeist, aber auch den Protest dagegen. Dabei kann
von drei grundlegenden Kategorien ausgegangen werden, welche die Rolle des
Körpers in der Modewelt des 20. Jahrhunderts bestimmen.
Erstens vollzieht sich eine zunehmende Individualisierung in der Auswahl von
Kleidung. Sie geht mit einer Erotisierung des Körpers einher. Zweitens unterliegt
der Körper wechselnden Vorstellungen von Natürlichkeit, Bequemlichkeit und
Lässigkeit sowie der physischen Aneignung von Idealmaßen. Somit ‚rebelliert’ er
entweder gegen die bestehenden gesellschaftlichen Normen oder versucht sich den
Idealvorstellungen anzupassen. Drittens zeigen sich in Bezug auf das Modever-
hältnis von Mann und Frau wiederkehrende Formen der Androgynität des Kör-
______________
15
Vgl. Baumann 1997
30 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
pers, bei der spezifische männliche oder weibliche Kleidungsmerkmale auf das
jeweilige andere Geschlecht übertragen werden. Ohne auf die Geschichte der
Mode näher eingehen zu können, erscheint es unerlässlich, diese drei Kategorien
knapp vorzustellen, weil sich dadurch die enge Verflechtung und der Wandel von
Modeauffassungen und Körperbildern systematisch dokumentieren lassen.
Die erste große Wende zu einer Natürlichkeit des Körpers vollzog sich am Ende
des 19. Jahrhunderts. Das Korsett als „fischbeinerner Brustpanzer“ (Lakotta 1996,
60) sollte die weibliche Taille betonen, disqualifizierte aber die Frauen zu unbe-
weglichen Puppen, die keine Form körperlicher Arbeit ausüben konnten. Die
weibliche Emanzipationsbewegung am Beginn des Jahrhunderts kämpfte nicht nur
für die Gleichberechtigung der Frau, sondern ermöglichte auch dem Körper größe-
re Bewegungsfreiheit. In einer Schweizer Lehrerinnenzeitung war 1897 zu lesen:
Frau Mode wird der Krieg erklärt vom weiblichen Geschlechte. Wie sie
sich sperrt, wie sie sich wehrt, wir bleiben keine Knechte (zit. nach Lakotta
1996, 60).
verordneten Tristesse, die sich mit dem Slogan ‚aus alt macht neu’ zufrieden ge-
ben musste.
Mit den 1950er Jahren begann sich in Paris der durch Christian Dior initiierte
sogenannte ‚New Look’ durchzusetzen, der Mode erstmals zum kostspieligen,
verschwenderischen Unterfangen werden ließ. Das Mieder sollte die Wespentaille
hervorheben und machte Frauen wiederum zu „hilflosen Geschöpfen“ (Lakotta
1996, 64), die sich dem jeweils neuesten Trend anzupassen hatten. Gleichzeitig
vollzog sich durch Stars wie Marilyn Monroe und Brigitte Bardot eine Sexualisie-
rung der Mode. Männliche Idole wie James Dean, Marlon Brando und Elvis Pres-
ley verkörperten die ‚Jungen Wilden‘ und machten Mode für Männer publik.
Durch die Blue Jeans wurde die Haute Couture in den Mittelklasse- und Arbeiter-
bereich verlagert. Diese führte zur Kulturrevolution der Pop-Ära, in der die Kon-
sumenten-Avantgarde der Jugendlichen die Modemacht an sich riss. Die Hippie-
bewegung orientierte sich an fernöstlichen Weisheiten und kehrte sich bewusst
von der westlichen Zivilisation ab. Wallende Gewänder, Westen, Sandalen und
Plateau-Sohlen symbolisierten die Natürlichkeit des Körpers im Zuge der Forde-
rungen nach ‚Love, Peace and Happiness’. Die ‚Politmode’ der 68er-Bewegung
bekundete ihr kritisches Engagement in Parkas, Breitschlag-Jeans und T-Shirts,
wo das offene Uniformhemd im Che-Guevara-Look das proletarisch geprägte
Körperbild vervollständigte. Als Abbild der Massenkultur steht dagegen die Dis-
cobewegung der Siebziger Jahre, die mit hautengen Stretchanzügen und Satinho-
sen zu einer Renaissance des Glamours führte und wieder Idealmaße vorschrieb.
Selbst der Punk, der ursprünglich noch eine Ästhetik des Hässlichen verkörperte,
wurde durch Designer wie Jean-Paul Gaultier und Vivienne Westwood in das
modische Repertoire der Haute Couture aufgenommen.
prägen das Körperbild in Lifestyle Magazinen. Die Unisexbewegung ist eine de-
tailgetreue Auferstehung der Pop- und Hippie-Mode samt Peace-Symbolen,
Ethno-Look und durchsichtigen Synthetikblusen, wo geschlechtslose Zwitterwe-
sen wie Michael Jackson oder Marilyn Manson das Abbild der Internetgeneration
bilden. Die ‚Techno-Clubwear’ prägt in bunten Farben und im schrillen Science-
Fiction Look abseits traditioneller Kleiderregeln das Körperbild am Ende des 20.
Jahrhunderts und versteht sich als ein Bekenntnis zur Spaßgesellschaft. Dabei ist
auffallend, dass sich die heutige Mode Jugendlicher nicht nur auf die Bekleidung,
sondern auch direkt auf den nackten Körper konzentriert. Dafür sprechen Tätowie-
rungen oder Piercings, die nicht wie Kleider abgelegt werden können, sondern
eine überzeitliche Veränderung der Haut ausdrücken, die bis zu einem Eingriff in
die Intimsphäre führen kann. Die teilweise mit Schmerzen verbundenen Operatio-
nen weisen über eine bloße vorübergehende Modeerscheinung hinaus. Hinzu
kommt, dass Piercings oder Tatoos nur dann sichtbar sind und von anderen wahr-
genommen werden, wenn sie nicht mit Kleidung bedeckt werden. Daraus resultiert
das Paradox, dass die derzeitige Mode, also das Stylen der Haut, keiner Mode im
Sinne von Kleidung bedarf. Das Zeigen der je eigenen Haut ist Teil der Mode
geworden. Demnach hat sich Karl Lagerfelds Definition der Mode als ‚zweite
Haut, hinter der man sich verstecken kann’, aufgehoben.16 Die zweite Haut ver-
weist durch die Art der Kleidung zwar immer noch auf die Zugehörigkeit zu einer
spezifischen Gesellschaftsklasse, die den gesellschaftlichen Status des Kleidungs-
trägers symbolisiert, aber die individuell-existenzielle Innenhaut ist längst zur
objektiv-repräsentativen Außenhaut geworden, die sich den Blicken preisgibt und
die Grenzen zwischen Stil, Scham, Erotik und Begehren auszuloten versucht.
Für das 20. Jahrhundert lassen sich exemplarisch drei Musikbereiche ausmachen,
die mit einem bestimmten Körper- und Tanzverhalten Jugendlicher verbunden
sind: Rock’n Roll, Beat- und Discomusik.
Mitte der Fünfziger Jahre rebellierten die Jugendlichen gegen die Nachkriegsgene-
ration, welche sich mit Heimatfilmen und Schnulzen in Wunschwelten hinein-
träumte. Durch Elemente des Rhythm & Blues, der bluesorientierten Tanzmusik,
des Jazz und der Country & Western Musik entstand eine erste körperbetonte
musikalische Gegenbewegung, die ausgehend von Einflüssen der ‚schwarzen
Musik‘ auch zunehmend von Weißen gehört wurde. Bill Haley faszinierte als
erster die Massen und leitete mit ‚Rock around the Clock‘ die Ära des Rock’n Roll
ein, wo die rhythmische Körperbewegung eine Befreiung aus dem zur Konvention
erstarrten Gesellschaftskodex bedeutete. Elvis Presley brachte seine vorwiegend
weiblichen Fans mit exaltierten Körperbewegungen zur Hysterie und wurde zum
Idol einer neuen Generation.
Die zweite Bewegung nahm ihren Ausgang in Europa. Die Beatles begründeten
eine Musik, die richtungsweisend für die Popmusik bis in die heutige Zeit wurde
und als sogenannte ‚Beatmusik‘ Eingang in die populäre Musikgeschichte gefun-
den hat. In ihrem Auftreten als Gruppe legten sie Wert auf eine gemeinsame Klei-
dung und Frisur und entwickelten darüber hinaus eine kollektive Körpersprache,
die später von unzähligen Bands kopiert wurde.
Die dritte Bewegung entstand im Anschluss an den Film ‚Saturday Night Fever‘
und führte zur Entstehung von Discotheken, in denen Jugendliche individuell
ihren eigenen Tanzstil ohne Konventionen ausleben konnten. Damit war der Bo-
den für die körperlich roboterhaften Bewegungen des Breakdance, das rhythmi-
sche Sprechen des Rappens, sowie die Tanzexzesse der Techno- und Trancemusik
vorbereitet, die heute in Events wie der Loveparade ihren vorläufigen Höhepunkt
gefunden haben. In allen drei Entwicklungen finden sich seitens ihres begriffli-
chen Ursprungs Bezüge zum Körper. Während der Rock’n Roll sich von ‚to rock‘
ableitet und soviel wie ‚Schütteln‘ bedeutet, betont die Beatmusik (von engl.: ‚to
beat‘) die rhythmischen Schlagbewegungen auf den Instrumenten. Disco ent-
stammt dem lateinischen Wort ‚discus‘ und verweist in der Bedeutung von ‚Platte’
und ‚Teller’ auf das Medium der Schallplatte, zu der getanzt wurde.
34 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
In den Musikerwartungen Jugendlicher ist heutzutage die Frage, wer die Musik
‚gespielt‘, also selbsttätig hervorgebracht hat, im Vergleich zu der Erscheinungs-
weise und dem Auftreten eher sekundär. Die Band ist durch Tänzer und Choreo-
graphien und die Musikinstrumente sind durch Sampler, Keyboards und DJ’s
abgelöst worden. Die Priorität der Technik, die Aktualität des Sounds und die
Reduzierung auf einen schlagzeugbetonten Groove ersetzen die spielerischen
Fähigkeiten auf einem Instrument. Das derzeitige Körperinteresse prägt in ra-
schem Wechsel und in breiter Vielfalt unterschiedliche Gruppen und Sparten, die
einige Autoren unter dem Begriff ‚Szene[n]‘ zusammenfassen.17 Dieser Ausdruck
ist „nicht genau bestimmt. Offensichtlich ist die Theatersprache nicht ganz zufäl-
lig“ (Hettlage 1992, 350). Dort beinhaltet eine szenische Darstellung die visuelle
Abfolge festgelegter Handlungsmuster. Sie sind ein Bestandteil des Ganzen und
beleben im ständigen Wechsel die Aufführung. Auch Musikszenen sind an festge-
legte Musikstile, Kleidungsnormen und Verhaltensregeln gebunden, die unter dem
Begriff ‚Image’ zusammengefasst werden. Jugendliches Musikinteresse be-
schränkt sich daher nicht nur auf reine Hörpräferenzen, wo die Qualität der Musik
über den Platz in den ‚Top Ten’ entscheidet, sondern ist stark von äußeren Fakto-
ren wie Styling, Mode und Tanz abhängig. Besonders Musikvideos prägen Kör-
perimages, in denen nicht nur aktuelle Trends vorgeführt, sondern zusätzlich Le-
benseinstellungen vermittelt werden. Diese zeigen sich z. B. in einer ‚Coolness‘
im Bereich des Hip-Hop, Rebellion im Bereich des Heavy-Metal, Depressivität
beim Dark-Wave oder Naturverbundenheit in der World- und Ethnomusik. Durch
solche Verallgemeinerungen des Verhaltens können leicht Vorurteile und Kli-
schees über bestimmte Musikgenres entstehen, die den Punker als Asozialen und
den Waver als Grufti stigmatisieren. Dennoch ist auffallend, dass Stars, sofern sie
nicht durch Boy- oder Girlgroups ersetzt worden sind, äußerlich attraktiv, im Be-
reich der Medien präsent zu sein haben und dem Erwartungsbild der Zielgruppe
entsprechen müssen.
Vorläufig ist festzuhalten, dass durch die Verklammerung von Gesundheit, Sport,
Mode und Musik derzeitig ein Körperinteresse besteht, das Eingang in vielfältige
soziale Schichten gefunden hat. Der Körper hat sich als Teil des Marktes etabliert
und einen festen Stellenwert im gesellschaftlichen Kontext erhalten. Dies verdeut-
licht, dass dem Körper zahlreiche Erscheinungsweisen und Funktionen zuge-
______________
17
Vgl. Hettlage 1992; Deese/Hillenbach/Kaiser 1996
Bestandsaufnahme · 35
Diese Körperkritik führt auch im Bereich der Kunst zu einer Ausblendung des
Spontan-Kreativen. Sinnliche Erfahrungen während der Bewegung zu einer Mu-
sik, die Empfindungen beim Lesen oder die haptische Wahrnehmung beim Malen
sind sekundäre Begleiterscheinungen. Das Ziel ist vielmehr die rationale Erfas-
sung von stilistischen Merkmalen, die sich dann unter Begriffe wie ‚die Klassik’
oder ‚die Romantik’ vereinheitlichen lassen. Das Subjekt besitzt entweder die
Möglichkeit, Inhalte zu kategorisieren und das Vernommene den Denkkategorien
anzupassen oder Eindrücke subjektiv zu verinnerlichen. Der Mensch muss die
Erfahrungswelt (Körper, Natur, Gesellschaft, Kultur) als Datenmenge umstruktu-
rieren und die Wende von sinnlichen Wahrnehmungen zu ‚kategorisierbaren Be-
wertungsmechanismen‘ oder ‚objektivierbaren Sachlagen’ vollziehen. Das Poten-
zial, unterschiedliche Empfindungen in der künstlerischen Produktivität zu erfah-
ren, wird zu Gunsten einer genormten Bewertung und Eingliederung in sprachlich
korrekte wissenschaftliche Termini aufgegeben. Ziele sind wissenschaftlich gesi-
Bestandsaufnahme · 37
Die negative Körperauffassung findet sich auch Anfang der Achtziger Jahre in
einer Kritik am Positivismus der Wissenschaften wieder. Die Wissenschaftsorien-
tierung bestimmt den Alltag so stark, dass der Mensch selbst in immer größere
Abhängigkeit von ihr gerät. Das betrifft v. a. die zunehmende Politisierung durch
Rüstungswettlauf, Kernenergie, nukleare Forschung, die heutzutage in der Diskus-
sion stehende Genforschung sowie die immer mehr an Dominanz gewinnende
‚Ästhetisierung des Lebenswelt’. Wolfgang Welsch hat für die damit verbundenen
veränderten Wahrnehmungsweisen in der ‚Spaßgesellschaft’ den Begriff ‚Anäs-
thesierung‘ geprägt.18 Demnach führt die totale Ästhetisierung durch Konsumver-
halten oder inszenatorische Dekorationsbauten zu innerer Leere und Langeweile,
so dass der Mensch, statt sinnlich ergriffen, nun im Sinne der Anästhesie narkoti-
siert wird. Die Folge ist, dass er stetig berauscht und betäubt werden muss.
Auch Rudolf zur Lippe betont, dass Wissenschaften ihre eigentliche Relevanz für
die Lebenspraxis verloren haben. Nur durch ein erneutes Zurückgreifen auf indi-
viduelle Körpererfahrungen kann diese Tendenz der Entfremdung aufgehalten
werden.
Allen diesen kritischen Stimmen ist gemeinsam, dass sie das Verhältnis des Men-
schen zu seinem Körper negativ deuten und vom „Tod des Leibes“ reden (Caysa
1997, 11), der durch die Priorität der Rationalität in der Konsum- und Industriege-
sellschaft erfolgte. Um den Wunsch nach ‚unvergesellschafteter Körperlichkeit’
zu erfüllen, sind Argumentationstypen notwendig, in denen sich ein ‚Imperativ’
ausdrückt. Dieser weist auf die Notwendigkeit einer Veränderung hin, die in zwei
zivilisationskritische Richtungen verlaufen kann. Erstens als retrospektive Annä-
herung an ein naturalistisches Körperkonzept im Sinne von Rousseaus ‚Zurück zur
Natur’, das den Menschen als integrativen Bestandteil der Natur begreift, oder
zweitens in Form einer fortschrittsoptimistischen, progressiv denkenden Theorie,
welche die Gesellschaft als ständig wandelbaren, unabgeschlossenen Prozess
versteht. Die erste Form setzt einen freien Naturzustand des Menschen voraus, in
dem das Subjekt mit anderen Lebewesen zusammen lebt und sich ganz auf sein
Gefühl verlassen kann. Durch kulturelle Entwicklungen löst sich diese natürliche
Gleichheit auf. Die ‚Reflexion’ symbolisiert die Quelle sozialer Übel und entzweit
den Menschen in ein Natur- und Kulturwesen. Rousseau versucht daher den verlo-
______________
21
Mit der Rolle des Experten und der Funktion des Risikos hat sich ausführlich Niklas Luh-
mann beschäftigt. Vgl. Luhmann 1992, 129-147
Bestandsaufnahme · 39
aus der Schulwelt verdrängt werden.23 Eine derartige Erziehung zielt darauf hin,
den Schülern in einer festgelegten Zeitspanne den optimalen Aufbau einer kogni-
tiven Operationsbasis bereitzustellen, damit sie sich den Lernstoff rational aneig-
nen und Punkte für die schulischen Leistungen sammeln. Durch die Verdrängung
affektiver Wahrnehmungen wird das Lernen im Schulalltag entsinnlicht. Die
Schule besitzt für Jugendliche einzig die Möglichkeit, mittels der Vernunft „von
der Verfallenheit an ihre beschränkte Herkunft und Vergangenheit loszukommen“
(ÜS 67). Unter Kritik gerät bei Rumpf v. a. das bürokratische Schulreglement
sowie das konforme Verhalten der Lehrkörper. Die auf wissenschaftliche Verar-
beitung angelegte ‚Verinnerlichung’ von Lehrinhalten vernachlässigt infolgedes-
sen auch das sinnliche Lernen mit dem eigenen Körper.
Dieser Wandel vom sinnlichen Menschen zum rationalisierten Subjekt führt zu
einem Verlust an körperlichen Wahrnehmungen. Für diese Veränderungen wird
die Metapher der ‚übergangenen Sinnlichkeit’ verwendet. Sobald der Mensch in
die Schule tritt, wird seine motorisch-affektive Aufnahmefähigkeit ‚ausgeblendet’.
Die zahlreichen in der Gesellschaft vorherrschenden Normen, Gesetze und Kon-
trollmechanismen zeigen sich auch im Lehrerverhalten, im Lehrplan und in nor-
mierten zeitlichen Gesetzlichkeiten. Die Freiheit des Individuums, sich Erfahrun-
gen durch Bewegen, Fühlen, Schmecken und Hören anzueignen, ist im Schulun-
terricht weitgehend nicht gefragt. Durch die Verdrängungen und Einengungen
seines natürlichen Bestrebens, spontan und aktiv auf die sich bietende Welt ausge-
richtet zu sein, wird das Individuum seiner subjektiven Entscheidungen und Emo-
tionen beraubt und ist sich seiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr
bewusst. Der Schüler orientiert sich an einem Bewertungsprinzip, das durch No-
ten, Punkte und Einschätzungen von außen gekennzeichnet ist. Durch die Mono-
polstellung der Rationalität in der Gesellschaft und der damit verbundenen Inte-
gration des Körpers in eine durchzivilisierte Welt nimmt der Jugendliche die na-
türliche Beziehung zur Natur in ihrer Faszination und Gefährlichkeit nicht mehr
wahr und wird dazu genötigt, die unkontrollierbaren Mechanismen durch rationale
Wertmaßstäbe zu steuern. Unter Kritik gerät die Vergesellschaftung des Körpers,
die von Rumpf als Ursache für die Entsinnlichung des Lernens in der Schule ge-
sehen wird.
______________
23
Rumpf, H.: Die übergangene Sinnlichkeit. Drei Kapitel über die Schule, München 1981, 67;
im Folgenden zit. als ‚ÜS’
Bestandsaufnahme · 41
Im Zuge des Heranwachsens zum Erwachsenen und der damit verbundenen Ver-
innerlichung zivilisatorischer Mechanismen, zu der auch die Vorherrschaft der
Rationalität in der Schule gehört, kann der Mensch die Natur in ihrer Ursprüng-
lichkeit nicht mehr wahrnehmen und muss lernen, Situationen gedanklich zu zer-
legen, angemessene Reaktionen abzuwägen, Folgewirkungen abzuschätzen und
Gegenaktionen zu kalkulieren. Als Grundpräsenz des Menschen erscheint nicht
mehr die spontane Affektivität, sondern eine innere wirksame Zensur und Kon-
trolle.
Zu lernen ist also in jedem Fall, die sinnlich manifest werdenden Medien
der Äußerung (Körperbewegungen, animalistische Körperfunktionen,
Sprache) so in die Gewalt zu bekommen, dass sie möglichst wenig von in-
neren Regungen, Reaktionen, Ausdrücken „verraten“ (ÜS 21).
Während Kinder noch in der Lage sind, Situationen als ursprünglich aufzufassen,
und sich über ein Motorengeräusch erschrecken oder ihren Körper einsetzen, um
sich auszudrücken, ist den Erwachsenen im Laufe ihrer Entwicklung diese Art der
Äußerung vielfach abhanden gekommen. Der Makroprozess der Zivilisationsent-
fremdung mit all den Verdrängungsmechanismen wiederholt sich somit im
Mikroprozess der einzelnen Lebensgeschichte des Kindes, das sich den jeweils
herrschenden Verhaltensregeln anpassen muss.24 Rumpf bezieht sich auch auf
soziologische Forschungsansätze, um
nach der zivilisatorischen Funktion der Schule als der offiziellen und im
19. Jahrhundert obligat gewordenen Erziehungsinstitution zu fragen. Was
tut sie, um die Kinderkörper zu zivilisieren? Was tut sie zur Errichtung von
inneren Kontrollen, die bestimmte Grenzziehungen durchzusetzen haben:
die zwischen Phantasie und Realität, die zwischen Triebwunsch und Ratio-
nalität, die zwischen einer verschwiegen bleibenden Innerlichkeit und von
außen zu beobachtendem Verhalten (ÜS 23)?
______________
24
Elias nennt dieses Phänomen das „soziogenetische Grundgesetz“. Es besagt, dass sich
„gleichgerichtete Prozesse noch heute bei jedem einzelnen Kinde beobachten“ lassen (Elias
1969, Bd. 2, 390).
42 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Diese Fragen führen zu einer Kritik an „zwei Arten der Verinnerlichung“ (ÜS 7),
welche die Entsinnlichung des Lernens in der Schule begründen und auf das Pos-
tulat eines unvergesellschafteten Imperativs hindeuten. Die erste Verinnerlichung
betrifft die Kontrolle des sinnlich-affektiven Körpers, der mit kalkulierbaren Mit-
teln und nach Vorschriften eines Lehrplanes beobachtbar sein soll. Die Kritik
betrifft den „Aufbau einer kognitiven Operationsbasis in den sterblich-sinnlichen
Menschen“ (ÜS 8). Die zweite Form der Verinnerlichung bezieht sich auf den
Kampf um Leistung und Anerkennung durch Noten und Punkte, die mit persönli-
chen Wünschen nichts zu tun haben. Die Zukunft wird durch die primär auf opti-
male Leistung kalkulierbare Laufbahn unschlüssig und unsicher. Diese zweite
Verinnerlichung verdeutlicht somit „die Arbeit an der eigenen gestaltlosen Zu-
kunft“ (ÜS 8).
Aus der Konstatierung der zwei Innerlichkeiten Rumpfs resultiert die Forderung
nach einem gesellschaftlichen Umbruch. Die Schule als Ort stillgelegter Sinnlich-
keit wird verurteilt und die Integration des Körpers in den Lernprozess gefordert.
Der Imperativ verlangt eine Wiederbeschäftigung mit vielfältigen Ausdrucksmög-
lichkeiten des Körpers in der Schule, richtet sich gegen die Rationalisierung des
Schullebens und postuliert einen natürlichen Umgang mit Wahrnehmungen. Es
entsteht ein ideologisches Konzept, das ausgehend von einer Kritik an der Verin-
nerlichung sich auf einen Naturzustand rückbesinnt, wo Lernen noch Aneignung
körperlicher Fähigkeiten bedeutete und nicht auf Formeln lernen, Punkte sammeln
und Organisation des Schulalltags beschränkt war. Nur wenn der Körper in den
Lernprozess integriert wird, können Lebendigkeit, Spontaneität und Kreativität in
den Unterricht zurückkehren. In Form einer ausführlichen historischen Quellener-
schließung von Schulbüchern, Schulgeschehnissen, Schulinhalten und Verwal-
tungspraktiken schildert Rumpf, wie das bürokratische Schulreglement im 19.
Jahrhundert vornehmlich die Aufgabe besaß, den Körper durch Kleidungsordnun-
gen und Verhaltensregeln anzupassen. Hierbei stellt er fest, dass sich die veralte-
ten Methoden des Lernens, bei denen die Schüler vornehmlich still sitzen bis in
die heutige Zeit gehalten haben.25
______________
25
Rumpf untersucht verschiedene Schulbücher. In einem Physiklehrbuch geht er z. B. der Frage
nach, „wie die Menschen den Übergang von der sinntragenden menschlichen Bewegung zu
der von aller Bedeutung entblößten physikalischen Bewegung gedanklich bewältigen sollen“
(ÜS 9).
Bestandsaufnahme · 43
Neben der schulischen Entsinnlichung des Lernens hat sich auch im sozialen Be-
reich ein Wandel im Körperbild vollzogen. Aus der Kritik an der mangelnden
sinnlichen Erfahrung in der Schule leitet sich eine allgemein negative Einschät-
zung der elektronischen Medien und des Bedarfs an Bildung in der Informations-
gesellschaft ab. Angesichts der Geschwindigkeit in der Mikrotechnologie wird der
Mensch im Erfassen komplexer Prozesse zwar leistungsfähiger, aber aus körperli-
chen Arbeitsprozessen immer mehr verdrängt.26
Auch Klaus Haefner stellt eine Entsinnlichung im Lernen fest. Allerdings sieht er,
im Gegensatz zu Rumpf, in den elektronischen Medien eine Möglichkeit, den
Menschen von der körperlichen Arbeit zu entlasten. Die Gesellschaft ist eine „hu-
man computerisierte Gesellschaft“ (Haefner 1984, 245), in der das Individuum
und der Computer eine Symbiose eingehen. Wie Rumpf fordert er, dass der
Mensch mehr Freiraum zum Ausleben seiner sinnlichen Qualitäten erhalten muss.
Schule und Erziehung müsse daher die Aufgabe zukommen, Jugendliche gerade in
den Bereichen zu qualifizieren, die „jenseits der Leistung der Informationsgesell-
schaft“ liegen (Haefner 1984, 245). Haefner empfiehlt, „die Arbeitsteilung zwi-
schen Mensch und Maschine so zu organisieren, dass das Mechanisch-Rationale
von der Maschine und das Irrational-Kreativ-Sinnliche vom Menschen getan
wird“ (Haefner 1982, 202). Durch die Prämisse einer Entlastung kognitiver Pro-
zesse durch den Computer wird eine größere Präsenz an Körpererleben in der
Schule gefordert.
______________
26
Rumpf verwendet hierzu den Terminus „Lernbeschleunigung“ (ÜS 172).
27
Vgl. Fritsch 31992; ihre Dissertation ist von Rumpf betreut worden.
44 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Joachim Th. Geiger greift ebenfalls die Ergebnisse Rumpfs auf, um sie für eine
Instrumentaldidaktik auszuwerten. In seiner Studie ‚Körperbewusstsein und In-
strumentalpraxis’ befasst er sich ausführlich mit Problemen der Körperentfrem-
dung und -distanzierung in der Gesellschaft.28 Dabei zeigt er, wie „Umweltbege-
benheiten, insbesondere verschiedene soziokulturelle Modernisierungsschübe der
letzten beiden Jahrzehnte, Prozesse der Entfremdung und Distanzierung vom
Körper bewirken“ (Geiger 1996, 132). Im Zuge der Pluralität und Urbanisierung
werden Einsamkeit, soziale Entfremdung und Kontaktarmut konstatiert, die chro-
nische Krankheiten nach sich ziehen. Triebhafte Bedürfnisse können nicht ausge-
lebt werden und führen zu Entzugserscheinungen und Verlustgefühlen. Auch
Institutionen und Solidarverbände wie Ehen, Familien, Dorfgemeinschaften, Ver-
eine und Kirchen sind nach Meinung von Geiger von der Sinnentleerung betroffen
und lösen sich im Zuge der Globalisierung immer mehr auf. Vor dem Hintergrund
steigenden Qualifikationsdrucks und Innovationszwangs sind in zahlreichen Beru-
fen ständige Wissenserweiterungen und Spezialisierungen gefordert. Dabei wird
wenig Wert auf körperliche Entlastungsmöglichkeiten gelegt. Hinzu treten Per-
spektivlosigkeit in der Bewältigung wirtschaftlicher Krisen und Ungewissheit für
die Zukunft. Geigers Analysen zeigen die ‚Identitätsstörungen’ des modernen
Subjekts auf und beanstanden ganz im Sinne der ‚Verlustdiagnose’ die Funktiona-
lisierung des Körpers. Der Mensch entspricht einem „kontrollierbaren, in seinen
Reaktionen und Empfindungen planbaren physikalischen Instrumentarium“ (Gei-
ger 1996, 145).
Diese Funktionalisierung findet sich auch in der gegenwärtigen Musizier-, Unter-
richts- und Übepraxis wieder. Im Umgang mit dem Instrument wird der Schwer-
punkt auf die technische Beherrschung des musikalischen Materials gelegt und das
ganzheitliche Erleben von ‚Körper und Geist’ vernachlässigt. Aus der einseitigen
Umsetzung rationaler Instruktionen in Form starrer Bewegungsmechanismen und
-regeln erfolgen physische Spielschäden. Der Musiker wird zu einer funktionalen
______________
28
Vgl. Geiger 1996
Bestandsaufnahme · 45
Im Rahmen der Kritik an der Entsinnlichung von Rumpf und den abgeleiteten
Forderungen für andere Bereiche, wie z. B. Musikpädagogik, ist es lohnenswert,
auch das Körperverständnis von Chr. Kamper und Wulf hinzuzuziehen. Die bei-
den Autoren haben mehrere Sammelbände herausgegeben, in denen sie aus ver-
schiedenen Wissenschaften, wie Soziologie, Pädagogik und Psychologie, unter
kritischen Gesichtspunkten sich der Frage nach dem ‚Schwinden der Sinne’ und
der ‚Wiederkehr des Körpers’ widmen.29 Im Rahmen eines Überblicks über die
europäische Kulturgeschichte werden Körperauffassungen der westlichen Zivilisa-
tion mit denen fremder Kulturen verglichen und Bezüge zu gesellschaftsbedingten
Faktoren hergestellt, wie z. B. Krankheit oder Einfluss der Medien.
Eine besondere Stellung erhält dabei der von Kamper und Wulf im Sammelband
‚Der andere Körper‘ einleitend veröffentlichte Beitrag ,Zwischen Archäologie und
______________
29
Vgl. Kamper/Wulf 1982 und 1984b
46 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Gerade dort, wo er [der beschriftete Körper, LO] nur noch seiner Wahr-
heit folgt, steht er unter strengen Gesetzen, wie die Entschleierungen zei-
gen: Sportstadion, Pornoschuppen und Intensivstation sind Orte der vor-
letzten Erniedrigung (obszöner ist nur der Tod!), sind zugleich Kriegs-
schauplätze, auf denen der alte Gott des Opfers noch einmal seine puren
Zwänge spielen lässt. (Kamper/Wulf 1984a, 5).
Während sich die ‚Körpersprache’ als unüberholbare Form von Authentizität noch
Formen des Geheimen hingeben kann, unterliegt die ‚Körperschrift’ jedoch uni-
versellen Abstraktionen und Kodierungen sozialer Institutionen. Der Körper wird
von der Gesellschaft „überholt“ (Kamper/Wulf 1984a, 7). Er muss sich anpassen
und kann sich nicht frei entfalten.
Aus der Dominanz der Körperschrift, im Sinne des Machtmonopols der Gesell-
schaft, folgt zwangsläufig ein Verstummen des sprechenden Körpers. Die ständi-
______________
30
Kamper/Wulf 1984a; Die Begriffe ‚Körpersprache’/’sprechender Körper’ bzw. ‚Körper-
schrift’/’beschrifteter Körper’ werden synonym verwendet.
31
Kritiker unterstellen den Autoren, dass die Differenzierung in ‚Sprache’ und ‚Schrift’ des
Körpers im Laufe der Argumentation „überbetont“ und „einseitig“ sei (Küchenhoff 2000,
169).
Bestandsaufnahme · 47
Geist und Seele sind nicht mehr Gegensatz zu Körper und Trieb, Kultur
entsteht nicht mehr als Sublimation. Der Theoretiker, dem seine Gedanken
wichtig sind und der seine Körperlichkeit davon abspaltet, stirbt aus. […]
Und die Leitfiguren der Jugendkulturen demonstrieren mit ihrer Körper-
lichkeit, was sie denken (Preuss-Lausitz 1993, 176).
Gerade Jugendliche sind sich ihrer Körpersprache bewusst und durchaus offen für
andere Lebensstile.
Sie lieben ihren Körper. Sie bewegen sich in den Discos individualistisch
und expressiv narzisstisch, ganz Rhythmus (Preuss-Lausitz 1993, 176).
Die Integration des Körpers in die Lebensumwelt drückt sich in einer theorieabsti-
nenten Sichtweise aus, die mit dem Begriff ‚Akzeptanz’ bezeichnet wird und sich
auf die Befürwortung gegenwärtiger Körperkultur ohne Zunahme eines kritischen
Konzeptes bezieht. Derzeit besteht ein Körperinteresse, das jegliche Art sinnlicher
Erfahrungen in den Bereichen Gesundheit, Mode, Sport oder Musik Jugendlicher
positiv bewertet. Dieser Allgemeinplatz gegenwärtiger Körpererfahrung negiert
Postulate einer Veränderung des Verhaltens oder die Suche nach Auswegen aus
der Vergesellschaftung. Der Körper erscheint im sozialen Umfeld immer schon als
aktiver Ausdruck von Individualität und erhält unabhängig von Machtinteressen
eine Aufwertung. Vertreter dieser Auffassung befürworten, dass die Konsumge-
sellschaft, die den Körper als Gegenstand des Marktes entdeckt hat, neue Zugänge
zur Sinnlichkeit schafft. Es entsteht eine neue Individualität, die sich als sichtbarer
Ausdruck eines positiven Lebensgefühls in die Öffentlichkeit verlagert hat.
Die ‚theorieabstinente Akzeptanz’ bildet einen beabsichtigten Kontrast zu her-
kömmlichen Körperkonzepten, weil sie bewusst gegen eine Vergesellschaftungs-
theorie argumentiert. Eine positive Integration des Körpers in die Gesellschaft
benötigt keinen Imperativ, weil sie nicht von der Prämisse einer Entfremdung
______________
34
Vgl. auch Schultheis 1998, 24
Bestandsaufnahme · 49
ausgeht. Die Akzeptanz zeigt sich in einer positiven Bewertung eines „konsumo-
rientierten Hedonismus“ (Preuss-Lausitz 1993, 176), der zu einem neuen indivi-
dualistischen, sich selbst liebenden und gerade deshalb auch unaggressiven Leit-
typ führt, der frei für vielfältige soziale Bezüge ist.
Die allgemeine Offenheit der Menschen für die Vielfalt des Körpermarktes führt
zu umwälzenden Folgen für die Pädagogik, die an drei Thesen verdeutlicht wer-
den können: „Erstens ist heutzutage der Individualisierungsprozess massenhaft
körperlich und affektiv abgesichert“ (Preuss-Lausitz 1993, 176). Zweitens führt
dies in westlichen Demokratien zur Konzentration auf das eigene Selbst, zu einer
zunehmenden subjektiven Bedeutung des Körpers als letzter Gewissheit. Drittens
bewirkt die Zentrierung der Sinnstiftung auf die eigene Körperlichkeit ein Gesell-
schafts- und Politikverständnis, das immer „weniger von Utopien und Theorien als
vielmehr von konkret erfahrenen Körperbezügen bestimmt ist“ (Preuss-Lausitz
1993, 176). Die Kehrseite der Körperorientierung existiert nur in den Krankheiten
des Körpers, die z. B. aus unreflektiertem Genuss resultieren. Solche Probleme
können durch „Ausbalancieren zwischen dem Ausagieren befreiter Körperlust
einerseits und der Selbsteinschränkung aus Einsicht andererseits“ behoben werden
(Preuss-Lausitz 1993, 176). Skepsis gegenüber ethisch-moralischen Konsequen-
zen werden durch öffentliche Diskurse und Gesetzeserlasse umgangen.
Die theorieabstinente Akzeptanz von Körpererfahrung geht davon aus, dass Ler-
nen eigentlich nur über die Verbindung mit sinnlich-körperlichem Bezug gegeben
ist. Auch systematisches Verstehen wie im Fremdsprachenunterricht ist nach
Preuss-Lausitz an körperliche Affekte gebunden. Die Sinne sind als integrativer
Bestandteil des Unterrichts nicht mehr wegzudenken. Das führt zu neuen Auffas-
sungen ganzheitlichen Lernens, das nicht nur sinnvolle Forderung, sondern Vor-
aussetzung für Lernprozesse ist. In letzter Konsequenz wird eine Ganzheit der
Körpererfahrung als Bildungsprozess gefordert.
50 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
______________
41
Vgl. Müller 1992; von Schoenebeck 1995
Bestandsaufnahme · 53
Robert Hettlage untersucht die Musikszenen unter dem Aspekt der Dynamik der
modernen Lebensweise Jugendlicher, vergleicht diese mit neuen Wissensformen
in der Moderne und stellt einen nicht näher explizierten „doppelten Drang zur
Selbst-Thematisierung“ fest (Hettlage 1992, 335). Seine Ergebnisse basieren auf
einer skeptischen Sichtweise der aktuellen Gesellschaftslage. Ironisch stellt er die
Musik Jugendlicher dar:
______________
42
Der Begriff ‚Körpererfahrung’ verdeutlicht die Dimension ‚ästhetischer Erfahrungen’, die in
musikalischen Prozessen hervortreten. Dagegen impliziert der Terminus ‚Körperlichkeit’
vielmehr eine grundlegende Kategorie, die den Menschen als ein sinnliches Wesen be-
schreibt, das sich handelnd über den Körper ausdrückt. Als dritte Instanz beinhaltet ‚Körper-
auffassung’ die theoretische Fundierung bestimmter Rollen und Funktionen.
43
Vgl. Jerrentrup 1995; Rathgeber 1996
54 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Alles ist wieder offen. Die Jagdsaison beginnt von vorne. Der Charakter
von Zerstörung und Neuaufbau, von Entwurf und Totalrevision kommt am
besten in der Einrichtung von Leser-Charts zum Ausdruck. Wer mehr als
einige wenige Wochen ununterbrochen in den Hitlisten figuriert, wird vom
Hörerpublikum durch Zuruf an den DJ abgewählt. Dauererfolg langweilt.
Man gönnt auch den Helden keine Atempause und verweist sie mit diktato-
rischer Gebärde in ihre Schranken. Was bleibt den „Ikonen“ anderes, als
nach neuen Reizwerten Ausschau zu halten (Hettlage 1992, 363).
Dem Autor geht es um eine generelle Kritik an der Priorität der Technik in der
Moderne, weil die permanente Gegenwart von Musik zur Isolation und Ent-
menschlichung führt. Im Fokus der Kritik steht die ‚Kälte’ elektronischer Geräte,
die sich dem emotionalen Ausdruck in der von den Menschen geschaffenen Kul-
turwelt entgegenstellen.
Neben den Massenmedien und der Technikkritik ist die spezifische Lebensweise
in der heutigen Gesellschaft Thema der musiksoziologischen Literatur. Kennzei-
chen der pluralistischen Massengesellschaft ist die Mobilität, die nicht im Sinne
einer neuen Form von Bewegung und Körperlichkeit verstanden wird, sondern
sich im Musikleben durch das soziale Eingreifen der Massenmedien in den Alltag
zeigt. Sie macht sich v. a. durch einen Hörerzuwachs aus allen Gesellschafts-
schichten bemerkbar. Auch der großstädtische Alltag und die Reklame stehen im
Zentrum von Untersuchungen zur Reizinflation, des immer schnelleren Verschlei-
ßes immer größerer Eindrücke.44 Diese Sinnesüberflutung ist Teil eines zudringli-
chen Empfindens von Musik im derzeitigen sozialen Kontext. Den Jugendlichen
wird ein Trend zur körperlichen Passivität zugeschrieben, wobei deutlich zwi-
schen selbständigem Musizieren und unkörperlicher Musikrezeption unterschie-
den wird. Bereits Ende der 1960er Jahre stellte Ulrich Günther kritisch fest:
______________
44
Vgl. Hettlage 1992
Bestandsaufnahme · 55
Kennzeichnend für das Image Jugendlicher ist der Besitz der neuesten CD, ein
neues Effektgerät für das Instrument oder Software-Updates und nicht mehr das
körperliche Beherrschen des Musikinstruments selbst. Auch das Tanzen in Discos
ist nur Ausdruck einer universal gewordenen „Normierung über den Musikmarkt“
(Hettlage 1992, 334) und kein Zeichen von persönlichem Körperausdruck. Somit
ist ein Wandel in der Musikrezeption und -produktion durch zunehmende Mediali-
sierung des Alltags zu verzeichnen, indem die Umwelt von einem „‚Zuviel’ an
äußeren Eindrücken und von einem ‚Zuwenig’ an unmittelbaren sinnlichen Ein-
drücken“ lebt (Bruns 2000, 12).
Solche Einstellungen zur derzeitigen Musikwelt Jugendlicher werden negativ
bewertet, um Forderungen nach bewusster Körpererfahrung aufzustellen. Kritiker
gegenwärtiger Musikkultur verfassen daher ‚Konzepte’, die individuelle Aus-
drucksmöglichkeiten über den Körper berücksichtigen und eine bewusste Wende
seiner derzeitigen Vermarktung in der Musikindustrie verlangen. Diese Abkehr
von der Unterhaltungsindustrie fordert musikkritische Einstellungen und beschäf-
tigt sich entweder auf theoretisch-historischer Ebene mit der Rolle des Körpers in
der Musik oder sucht neue Formen der Expressivität, um Stimmungen in einem
Musikstück ausdrücken zu können. Der musikkritische Imperativ bezieht sich auf
eine individuelle, bewusste und zunehmend kontrollierte Gestaltung körperlicher
Bewegungen.
So wird in der Musikpädagogik das gegenwärtige körperbetonte Musikinteresse in
der U-Musik oftmals funktionalisiert. Ausgehend von einer musikalischen Stim-
mung und dem Versuch, diese „in direkt-spontaner Reaktion in Bewegung“ umzu-
setzen, wird auf das Ziel hingelenkt, „unterschiedliche Bauweisen der Musikarten
aufzuzeigen“, wie „Figurenspiel“, „Walzermelodie“ oder „Sequenzgänge“. Damit
soll „die Aufmerksamkeit auf das Material“ erreicht werden (Richter 1995, 10).
Andere didaktische Konzepte gehen von den alltäglichen Musikerfahrungen Ju-
gendlicher mit ihrem Körper aus, um auf Vermarktungsstrategien der Musikin-
dustrie oder das Verhältnis von Mensch und Maschine hinzulenken.
Weiteres Ziel ist, das Expressive und Unkontrollierbare im Umgang mit dem
Körper rational zu strukturieren. Manche Vorschläge besitzen kuriose Züge: „Eine
kleine Polonaise zu Techno-Musik mit allen Schülern – z. B. als Auflockerung
durch den Klassenraum“ (Jerrentrup 1995, 27). Das Verhältnis von Körper und
56 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Für ihn galt die soziologische Werkanalyse als eine ideale Methode, da in jeder
Musik und in ihrer strukturellen Zusammensetzung die antagonistische Gesell-
schaft als Ganzes erscheint. Adornos Hörertypologie etabliert kein Klassendenken,
sondern setzt sich davon unabhängig mit unterschiedlichen Hörweisen auseinan-
der, die er durch eine Kritik an der Popularmusik, v. a. des Jazz ableitet.45 Solche
Zielsetzungen einer musikkritisch fundierten Hörweise haben sich bis heute erhal-
ten. Die Einstellung Adornos findet sich in der Kritik an der Musikkultur wieder,
die Körpererfahrungen Jugendlicher im Bereich der Pop- und Rockmusik negiert
und ein musikkritisches Verständnis etablieren will, das sich nicht nur durch
„Freude an der Bewegung“ äußert (Trapp 1994, 189), sondern über den Körper
versucht, „wesentliche Bereiche der Kunstmusik zu erschließen. Über die Suite
führen Wege zur Sonate und Sinfonie, über Tanzlied und Ballett zu Oper und
Schauspielmusik“ (Trapp 1994, 189).
______________
46
Vgl. Bühl 1994
47
Vgl. Günther 1967
Bestandsaufnahme · 59
um das Auffinden des eigenen Wertmusters und Weltbildes durch die Musik
[…], so daß es kein „falsch“, „schlecht“ oder „wertlos“ mehr gibt, son-
dern nur noch ein ehrliches, offenes oder ein verstecktes So-Sein (Hegi
4
1993, 21).
Der Körper wird somit zum Medium, das dazu dient, Frustrationen über emotiona-
le Kompensationen zu regulieren. Er ist ein Mittel, um sich abzureagieren und
Konflikte zu bewältigen. Medizinische und empirische Untersuchungen bestäti-
48
Vgl. Bühl 1994; als weitere Verweise bietet sich auch die Musik des Barocks oder des Mittel-
alters an. Minimalistische Strukturen sind keineswegs nur ein Phänomen der Postmoderne,
wie es Bühl anführt.
49
„Die Aneignung und Vergegenständlichung erfolgt vornehmlich durch Subjektivierung, also
z. B. durch Assoziation und Imaginationen im Hinblick auf die eigene psychische Bedürfnis-
lage.“ (Rösing 1992, 316).
60 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
auch heute noch weitgehend als ein „theoretisches“ Fach, in dem der Ver-
balismus dominiert. Festzuhalten bleibt: Das eigene Musizieren spielt im
Unterricht unserer Schulen nicht die Rolle, die ihm als originärem Kern
eines Unterrichtsfachs Musik zukommen müsste (Nimczik 2001, 3).
veraltete Konzepte und stellen im Bereich Tanz in der Regel keinen aktuellen
Verweis auf die Musikszene her.52 Vertreter einer Akzeptanz gegenwärtiger Kör-
pererfahrungen nehmen das derzeitige Interesse zum Anlass, um einen rein
praxisorientierten Unterricht zu fordern, der jegliche Formen von Körpererfahrung
Jugendlicher befürwortet.
Einen Schwerpunkt im musikpädagogischen Diskurs bildet die Frage nach dem
didaktischen Stellenwert der Popmusik und nach entsprechenden Methoden, wie
alltägliche ästhetische Musikerfahrungen Jugendlicher in den Unterricht integriert
werden können.53 Eine Beschäftigung mit der Unterhaltungsmusik muss heutzuta-
ge nicht mehr legitimiert und begründet werden, wie dies noch Anfang der Siebzi-
ger Jahre war. In den letzten Jahren sind praktische Gestaltungsmöglichkeiten, wie
z. B. das Musizieren mit Keyboards, das Arbeiten am Sequenzer und das Gestal-
ten von Popsongs in einer Band, in den Musikunterricht integriert worden. Indem
davon ausgegangen wird, dass musikalisches Lernen immer schon in der alltägli-
chen Umwelt stattfindet, soll der Unterricht die Hörpräferenzen und Umgehens-
weisen Jugendlicher mit Musik thematisieren. Bei diesen Befürwortern gegenwär-
tiger Körperkultur existieren zumeist keine Vorbehalte gegenüber ‚Unterhal-
tungsmusik’. Die Musik Jugendlicher mit ihrer Vorliebe für expressives Verhalten
bietet eine Möglichkeit zur „unkritischen Verlängerung der außermusikalischen
Musikerfahrung“ (Rösing 1992, 316), die sich nicht durch geplante ‚Bildungsof-
fensiven’ beeinflussen lässt. Musikunterricht besitzt damit die Möglichkeit, An-
knüpfungspunkte an derzeitige Interessen und dazugehörige Verhaltensformen zu
finden, um soziale Prozesse im Unterricht zu berücksichtigen. Durch diese Akzep-
tanz wird die so genannte U-Musik als gleichberechtigter Zugang neben anderen
musikalischen Formen gewährleistet und ein Niveaugefälle von unter- zu höher-
bewerteten Genres verhindert.
In der deutschen Sprache findet sich eine begriffliche Besonderheit, die in anderen
europäischen Sprachen nicht vorzufinden ist: die Differenzierung zwischen ‚Kör-
per’ und ‚Leib’. Eine Unterscheidung scheint auf den ersten Blick irritierend, da
wir heutzutage entweder beide Begriffe synonym benutzen oder ausschließlich
vom ‚Körper’ sprechen. ‚Leib’ klingt antiquiert, „scheußlich und ist auch unge-
wohnt“ (Richter 1995, 5). In der Umgangssprache wird zumeist ‚Körper’ verwen-
det. Dem Begriff ‚Leib’ kommt dagegen kaum Relevanz im alltäglichen Kontext
zu. Allerdings ist der Gebrauch des Wortes ‚Leib’ noch gar nicht so veraltet, son-
dern vollzog sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Daher finden sich noch verein-
zelt Redewendungen wie z. B. ‚leibhaftig’, ‚auf den Leib geschrieben’, ‚am gan-
zen Leibe’, ‚Leibgericht’, ‚beileibe nicht’, ‚auf den Leib rücken’, ‚leibt und lebt’,
‚bleib mir vom Leibe’ oder ‚mit Leib und Seele’.54 Viele Begriffe wurden in den
letzten fünfzig Jahren durch Anglizismen ersetzt, wie z. B. Leibeserziehung durch
______________
54
Vgl. Konrad 1984, 152; Schatt 1995
Bestandsaufnahme · 63
Sport, Leibgarde durch Bodyguard, oder sind sprachlich reduziert worden wie
‚Leibarzt’ zu ‚Arzt’.
In der Geschichtswissenschaft findet sich eine Unterscheidung von Körper und
Leib wieder, wenn in Untersuchungen z. B. das Leib/Seele-Verhältnis in der Anti-
ke analysiert oder der ganzheitliche Aspekt des Menschseins verfolgt wird. In der
heutigen Welt der Technologie und Wissenschaft hat sich allerdings weitgehend
der Begriff ‚Körper’ durchgesetzt. Er erscheint objektivierbar, wissenschaftlich
analysierbar und kann z. B. im Bereich der Medizin kontrolliert oder im Sport
systematisch trainiert werden.
Wenn aber hier vom Leibe gesprochen wird, so geht es nicht um den Kör-
per, den man hat, sondern um den Leib, der man ist und der sich nicht nur
in einer zuverlässigen Funktionstüchtigkeit bewährt, sondern als eine den
Menschen in seiner Gesamtheit offenbarende und in der Welt verwirkli-
chende Gestalt (Dürckheim 1981, 33).
______________
55
Marcel schrieb seine Werke in französischer Sprache. Um einer Fehlinterpretation des Zitats
vorzubeugen, autorisierte er kurz vor seinem Tod vereinzelte Aufsätze in deutscher Sprache.
Dort übersetzte er ‚corps que j’ai/corps que je suis’ mit ‚Körper, den ich habe/Leib, der ich
bin’. Vgl. Marcel 1985, 15
64 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Verfassung des Subjekts.56 Beide Auffassungen gehen dabei von einer Differenz
von ‚Haben‘ und ‚Sein‘ aus und schreiben dem Menschen eine ‚doppelte Anlage’
zu. Er kann sich einerseits selbst als ein Objekt betrachten, das mit den Dingen
und Lebewesen äußerlich vorhanden ist. Andererseits ist er eine einmalige Exis-
tenz und bestimmt sich durch seine Erlebnisse und sein individuelles Bewusstsein.
In diesen Deutungen findet sich die begriffliche Differenzierung von Körper oder
Leib wieder.
Oftmals werden die Begriffe Körper und Leib nicht genau voneinander unter-
schieden. In Übersetzungen fremdsprachiger Texte wird aus klanglichen Gründen
weitestgehend die einheitliche Bedeutung von ‚Körper’ verwendet. Gleichermaßen
wird in zahlreichen Forschungen zur Leib/Seele-Problematik bewusst der Begriff
‚Leib’ hervorgehoben, um sich von Körpertechnologien zu distanzieren. All dies
verdeutlicht eine Unsicherheit in der Begriffsverwendung, die offen lässt, welche
Deutung der Explikation des Menschen am nächsten kommt und ihn am treffends-
ten charakterisiert.
Innerhalb der etymologischen Geschichte von ‚Körper’ und ‚Leib’ ist zwischen
zwei Ursprüngen zu unterscheiden. Der ‚Körper’ verweist auf den lateinischen
Begriff ‚corpus’ oder das mittelhochdeutsche ‚lîch’ und bezeichnet die physische
Beschaffenheit eines Körpers. Der ‚Leib’ leitet sich vom Wort ‚lîp’ ab, das Leben
bedeutet. Die Differenzierung beider Begriffe betrifft den Körper als analysierba-
res Objekt und den Leib als existenzielles Subjekt.
______________
56
Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 207; im Folgenden zit.
als ‚PhW’; vgl. auch Plessner 1980b, 414; Lindemann 1998
Bestandsaufnahme · 65
2.1.1 Körper/lîch
Das Wort Körper ist als deutsches Lehnwort ab dem 13. Jahrhundert gebräuchlich.
Es tritt an die Stelle des zuvor im Mittelhochdeutschen verwendeten ‚lîch(ame)’,
das im Althochdeutschen zunächst als Übersetzung für das lateinische ‚caro’ so-
wie ‚corpus’ diente und ‚Hülle’, ‚Fleisch’ bedeutete. Im Begriff ‚lîch(ame)’ ist das
noch heute verwendete Wort ‚Leiche’ enthalten, das „eigentlich Körperbedeckung
und dann mit Übergang von der Bezeichnung des Kleidungsstücks auf den Kör-
perteil auch Körper“ (Kluge 221989, 361) bedeutete. Im Mittelhochdeutschen
nahm ‚lich’ die Bedeutung ‚Leichnam’, ‚toter Leib’ an und verdrängte die altdeut-
sche Auffassung. Körper (auch ‚korper’, ‚corper’, ‚cörpel’) übernimmt dessen
Bedeutung und bezeichnet sowohl den lebendigen als auch den toten Körper.
Im 13. Jahrhundert differenziert der Kanoniker Hostiensis zwischen verschiedenen
Körperauffassungen, die das Verhältnis der Teile zu einem Ganzen betonen:
1.) Die Gemeinschaft aller Gläubigen, deren Kopf Christus ist und deren
Glieder wir bilden.
2.) Das Kollegium oder die universitas, deren Kopf der Prälat bildet und
deren Glieder die Mitglieder des Kollegs formieren.
3.) Der Körper ist dasjenige, das aufgrund einer Seele lebt.
4.) Der Körper ist dasjenige, dessen Teile zusammenhängen wie ein Haus.
5.) Der Körper ist dasjenige, dessen Teile voneinander entfernt sind wie
eine Herde oder ein Volk.
6.) Mann und Frau bilden einen gemeinsamen Körper
(Hostiensis, zit. nach Diehr 2000, 25).
In der Scholastik wurden einfache und zusammengesetzte Körper (‚corpora
simplica’, ‚corpora mixta’) sowie ein Körper in der Natur (‚corpus physicum’) und
ein von Menschenhand geschaffener Körper (‚corpus artificiale’) unterschieden.
Selbst Dörfer, Häuser und Flüsse werden als ‚corpora’ bezeichnet. Ein jedes Ding
kann als Körper erscheinen und benannt werden, falls es als ein in sich geschlos-
senes Ganzes erscheint und dadurch analysierbar wird. Diese Vorstellungen von
einer Ganzheit finden sich neben einer Gesamterfassung empirischer Daten auch
innerhalb der mystisch-religiösen Struktur wieder, wenn z. B. vom ‚corpus mysti-
cum’ oder ‚corpus Christi’ die Rede ist. Gemeint ist ein Zusammenschluss vieler
unter einer gemeinsamen Organisation, wie er in unserer Neuzeit noch im Termi-
nus des ‚politischen Körpers’ gebräuchlich ist. Eine Identität gewinnt das Subjekt
66 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
durch die Erfassung und Teilhabe am Ganzen. Eine Körperschaft oder eine Korpo-
ration ist daher ein Personalverband, der
Auch das griechische ‚soma’ kann für eine etymologische Klärung herangezogen
werden, weil es sich von ‚psyche’ abgrenzt und neben der Bedeutung ‚Körper’
auch ‚menschliches Sein’, manchmal sogar ‚Ich’ bedeuten kann.57 Die Somatomo-
torik oder Psychosomatik leitet sich von dieser Begriffsbestimmung ab. Sie betont,
dass Körper und Geist in einem ständigen Wechselverhältnis stehen und sich ge-
genseitig beeinflussen. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Körper in seiner
einheitsstiftenden Funktion von Soma und Motorik unzureichend beachtet worden
ist. Der Terminus ‚Psychosomatik‘ drückt bereits im Begriff die ganzheitliche
Verbindung von ‚psyche’ und ‚soma’ aus. Die sogenannte ‚Somatomotorik‘ etab-
lierte sich um 1920 als medizinische Wissenschaft und begann sich auch auf ande-
re Bereiche auszuweiten, so z. B. auf die Atem- und Bewegungstherapie und auch
auf die rhythmische Erziehung, Eutonie oder auch die Feldenkrais-Methode.
______________
57
Vgl. Konrad 1984, 154
58
Vgl. Saran 61975, 168
Bestandsaufnahme · 67
Im Mittelalter entsteht das Kontrastpaar ‚lîp’ und ‚sele’, bekannt als Metapher von
‚Leib und Seele’, die sich aus dem Lateinischen ‚corpus’ und ‚animus’ ableitet.
Der Mensch teilt sich demnach in einen äußeren endlichen Körper und eine inner-
liche unendliche Seele. Besonders in der Philosophie von Platon (ca. 427-347 v.
Chr.) und René Descartes (1596-1650) findet sich dieser Dualismus von einer
doppelten Seinsweise der Welt (Platons Ideenlehre) oder des Menschen (Descartes
Methode des universellen Zweifels). Descartes verwendet in seinen ‚Meditatio-
nen’ durchweg den Begriff Körper (corpus) im Gegensatz zu Geist (animus) und
entwickelt so eine Differenz unter dem Aspekt der Unteilbarkeit des Geistes.
Hierdurch wird die Vernunft als grundlegendes Erkenntnisinstrument aufgewertet.
Nun bemerke ich hier erstlich, daß ein großer Unterschied zwischen Geist
und Körper insofern vorhanden ist, als der Körper seiner Natur stets teil-
bar, der Geist hingegen durchaus unteilbar ist (Descartes 1958, 74).
Die Entdeckung, den Körper als eine im Prinzip analysierbare und erkennbare
ausgedehnte Substanz (‚res extensa’) zu betrachten, die sich von einer denkenden
Schicht (‚res cogitans’) absetzt, ermöglichte die Entwicklung von Anatomie und
Physiologie. Durch diese Gegenüberstellung von Geist und Materie wird die Be-
deutung von Leib als Ausdruck von Leben allmählich verdrängt.
Der so entdeckte Körper ist nicht mein Leib, den ich spüre, als der ich lebe,
sondern eben das Körperding, das dem ärztlichen Blick sich preisgibt
(Böhme 1985, 114).
der Sinnlichkeit und Schamhaftigkeit des Körpers sowie das Verhältnis des Men-
schen zur Natur.
Bei einem Blick in die griechische Mythologie fällt auf, dass sämtliche Helden,
wie Achill, Hektor oder Odysseus, ihre Taten niemals aus eigener Initiative oder
Verantwortung vollbringen, sondern immer von göttlichen Vorsehungen oder
Mächten geleitet werden, die ihr Handeln bestimmen. Ihr Tun war von den Wir-
kungen der Götter abhängig. Homer unterscheidet z. B. drei verschiedene Namen
für das Wort ‚Herz’: Etor (ήτορ), Kradie (χραδίη) und Ker (κήρ), die jeweils
bestimmte Erlebnisweisen besitzen. ‚Etor’ symbolisiert die Reaktion, ‚Kradie’ gilt
als Initiative und ‚Ker’ bedeutet soviel wie düstere Regung.60 Es gibt auch keinen
einheitlichen Begriff für ‚Seele’, denn das Wort ‚psyche’ bedeutet sowohl „Hauch,
______________
59
Vgl. Schmitz 1965; Böhme 1989; Böhme 1995; ausführlich hierzu auch Kap. V.2.1.2 und
V.3.1.1
60
Vgl. Schmitz 1965, 432 ff.
70 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Atem als Lebensprinzip“, den man sterbend aushaucht, als auch „Denkvermögen,
Verstand, Klugheit“, „Gemüt, Herz Mut“ und damit die „Umschreibung der gan-
zen Person“ (Hörmann 1991, 11).
______________
61
Vgl. Schmitz 1965
Bestandsaufnahme · 71
Auch wenn diese Begrifflichkeiten vielleicht abstrakt klingen, liegt ihnen ein
vergessenes Charakteristikum zu Grunde, das heutzutage am ehesten bei Gefühlen
nachzuvollziehen ist. Ein Gefühl wird so intensiv wahrgenommen, dass es in einer
Körperregion spürbar wird. Im Denken sind solche Empfindungen heute nicht
mehr vorstellbar, weil sie zu sehr von der rationalen Sichtweise verdrängt worden
sind. Im homerischen Menschenbild erschien selbst das Denken noch konkret
spürbar. Es war kein Akt der individuellen Vernunft, sondern stand in enger Ver-
bindung zur göttlichen Gewalt, die als äußeres Geschehen auf den Leib eintraf und
dort als sinnlich-objektive Atmosphäre wahrgenommen wurde. Diese Tendenz
lässt sich bereits in der antiken Poesie vor Homer feststellen. Der Dichter Archilo-
chos beschreibt im 7. Jahrhundert v. Chr. die physische Abhängigkeit des Men-
schen von den Göttern:
Die götter haben das letzte wort sie heben dich in die höhe wenn
Du auf der dunklen erde liegst sie werfen dich auf den rücken
Hast du erst einmal fuß gefasst bleibst du nicht nur ohne brot
sondern weißt auch nicht mehr woran du dich noch halten sollst
(Archilochos, zit. nach Schrott 1999, 93).
Bei der Prinzessin und Priesterin Enheduanna, deren lyrische Werke im 24. Jahr-
hundert v. Chr. entstanden und als erste Anzeichen von Poesie anzusehen sind,
wird die Sprache zum Teil einer äußerlich sichtbaren und handelnden Kraft.
Sein wort für sich
geht ruhigen schrittes
doch den aufständischen brennt es die häuser nieder
(Enheduanna, Ilummiya, zit. nach Schrott 1999, 59).
Somit leben auch die Menschen im Zeitalter vor Homer in einer äußerst belebten
Welt, die sich in der Vielfalt der leiblichen Regungen spiegelt. Ein einheitliches
Gestimmtsein von Mensch, Natur und Kosmos dient als Grundlage dieser Welt-
sicht, in welcher der Mensch sein Schicksal von außen auferlegt bekommt und
ihm nicht entgehen kann.
Die Beispiele aus der ‚Ilias’ verdeutlichen, dass Emotionen mit einem entspre-
chenden leiblichen Gefühl zusammenhängen und nicht voneinander zu trennen
sind. Diese Form des ‚eigenleiblichen Spürens’ besitzt ihre Wurzel im Leben
selbst, da Gefühle nicht von einem vereinzelten Ego empfunden wurden, sondern
Ausdruck des Menschen als Teil des Kosmos sind. In der homerischen Lebensein-
72 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
stellung sind Emotionen auf das Vorhandensein eines Leibes rückführbar, der sie
wahrnimmt und als Medium spürbar werden lässt. Sinnliche Erfahrungen stehen
in unmittelbarer Verbindung mit der Vorstellung eines „leiblich-göttlichen Durch-
stimmtseins“ (Fritsch 31992, 113). Die gelebte Welt ist direkt, unmittelbar und
wirklich spürend in jeweils charakteristischen Erlebnisweisen erfahrbar. Der Leib
ist als sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand in die Natur integriert und der Macht
der Götter ausgesetzt. Der homerische Mensch versteht sich als „Gefäß der Götter,
als Schauplatz ihrer Auseinandersetzungen“ (Böhme 1985, 253). Er ist als Natur-
wesen ein Teil des Kosmos, der von den Göttern beherrscht wird. Ein ‚Ich’ im
Sinne eines autonomen Subjekts, das sich hinsichtlich seines individuellen Be-
wusstseins auf die Welt richtet und diese innerlich bewertet, hat sich erst wesent-
lich später entwickelt.
In Homers ‚Odyssee’ wandelt sich diese Vorstellung von einer Verschmelzung der
Welt mit dem Leib hin zu einer Emanzipation der Persönlichkeit, die sich in Kör-
per und Geist teilt. Es entsteht eine Individualität der Person, die selbständig Ent-
scheidungen trifft und handelnd in die Umwelt eingreifen kann anstatt auf göttli-
che Mächte angewiesen zu sein. Dadurch teilt sich der Mensch in einen persönli-
chen und einen göttlichen Bereich. Er beherrscht sich selbst und seine Sinne. Die
‚Person’ stellt sich den Göttern entgegen und kalkuliert Entscheidungen nach
eigenem Maß. Hieraus resultiert eine Distanzierung zur Macht der Natur und des
Göttlichen. Gefühle werden nun kontrolliert, systematisch erfasst und innerlich
verarbeitet. Die Kohärenz zwischen subjektiver Empfindung und leiblichem Ge-
fühl wird aufgehoben. Die Rede vom ‚inneren Menschen’, eine Metapher, die die
Autonomie des Seelischen gegenüber sinnlichen Empfindungen betont, beginnt
sich immer mehr durchzusetzen. In der ‚Odyssee’ sagt Odysseus zu einer Frau:
„Freu dich im Herzen, Alte, und hüte dich laut zu frohlocken“ (Homer 1960, 450).
Die wörtliche Übersetzung von ‚Freu dich im Herzen’ lautet allerdings: „Halte
deine Freude drinnen fest.“62 Die Freude soll sich nicht äußerlich zeigen, sondern
bewusst innerlich wahrgenommen werden. Durch die Entdeckung der
Empfindsamkeit als einer Vorherrschaft der unsichtbaren Seele distanziert sich der
Mensch immer mehr von Mächten, die ihn umgeben. Intimität, Sensibilität und
Rationalität sind Auswirkungen, die sich aus der Rückgezogenheit des Menschen
in seine Subjektivität ergeben.
______________
62
Vgl. Schmitz 1965, 450; Fritsch 31992, 119
Bestandsaufnahme · 73
Die Präsenz und Dominanz des Leiblichen ist dann im weiteren historischen Ver-
lauf v. a. durch die Philosophie Platons zurückgedrängt worden. Er konstruierte
eine Welt der Ideen, die sich dem natürlichen Kosmos-Mensch-Verhältnis entge-
gensetzt. Durch den Wandel vom ‚mythos’ zum ‚logos’ entsteht die Dominanz des
Denkens und die Individualität der Person gegenüber einer direkten Beeinflussung
göttlicher Mächte. Im Höhlengleichnis wird von einer intelligiblen Welt ausge-
gangen, in der den sinnlich erscheinenden Dingen eine transzendente ‚Idee’ ge-
genübergestellt wird. Zur wahren Erkenntnis gelangen die Menschen nur, wenn
sie ihren Blick von den weltlichen Schatten erheben und in das übersinnliche
Reich der Ideen schauen. Folglich nimmt Platon einen vergänglichen Körper und
eine unsterbliche Seele an.
Die Seele ist im Körper, wie die Muschel in der Schale; und der Körper ist
bloßes Kleid der Seele (Platon 1973, 76).
Durch die Wende vom homerischen zum platonischen Menschenbild wird die
Dominanz des eigenleiblichen Spürens reduziert und das seelische Empfinden und
willentliche Agieren aufgewertet. Es entwickelte sich eine Vorstellung vom Men-
schen als ein Wesen, das sich aus einem vergänglichen Körper und einer ewigen
Seele zusammensetzt. Mit der unhintergehbaren Instanz des Ichs, das einzige
Sicherheit der Erkenntnis bereitstellt, vollzog sich ein Wandel zur Vorherrschaft
der Vernunft, die den Leib als Medium der Wahrnehmung verdrängt.
Die Deutungen von Schmitz sind von der zeitgenössischen Ästhetik um Gernot
Böhme wieder aufgegriffen und aktualisiert worden, um die traditionelle Werkäs-
thetik zu kritisieren, die sich an formalen Beurteilungskriterien orientiert.63 Es
finden sich aber auch Einwände gegenüber seiner Theorie der spürenden Leiber-
fahrung zur Zeit Homers. Zum einen verleitet die Sprache von Schmitz zu Miss-
verständnissen, weil sie stark subjektiv geprägt ist, Übersetzungsfragen nicht ge-
nau nimmt und eine mystische Ausdrucksweise verwendet. Das betrifft auch die
Erfahrung des ‚eigenleiblichen Spürens’, das sich „nicht als beharrlich in fester
Form stetig ausgedehntes Gebilde […], sondern als Gewoge verschwommener
Inseln“ darstellt (Schmitz 1965, 443). Fragwürdig bleibt ferner, inwieweit der
Ansatz bei den zwei Epen des Homers Aufschluss über den Realitätsgehalt dieser
Mythen geben kann und ob sich die Analysen mit einer zeitgemäßen Literaturkri-
______________
63
Ausführlich hierzu vgl. Kap. V.3.1.1
74 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
tik messen lassen. Verschiedene Autoren bezweifeln, ob sich ein Wandel von der
Ilias zur Odyssee abgezeichnet hat. So konstatiert A. Schmitt eine Einheit der
Seele bei Homer, und R. Gaskin behauptet, dass es auch in der ‚Ilias’ ein Selbst
oder eine Seele gegeben hat, ohne dass sie eigens von Homer sprachlich erwähnt
wurde.64
Im Leben gilt es daher, die bösen Leidenschaften des Körpers, die ihn seit
dem Sündenfall von seinem göttlichen Ursprung entfernt haben, zu be-
kämpfen und zu überwinden (Diehr 2000, 24).
Eine Differenzierung zwischen Himmel und Hölle, Geist und Fleisch, Glauben
und Wissen sowie Leib und Seele zeigt die Verabsolutierung eines transzendenten
Wesens und die Abwertung der menschlichen Sinne an. Besonders unter dem
Einfluss von Augustinus wurde ab dem 4. Jahrhundert nach Chr. ein System aske-
tischer Praktiken entwickelt, um die Dominanz des Geistigen über das Sinnliche
aufzuzeigen. Der Glaube ermöglichte es, die körperlich-vergängliche Realität zu
überwinden. Gleichzeitig regte sich aber auch in zahlreichen heidnischen Bräu-
chen und Kulten ein Widerstand gegen die Dominanz der Kirche, bei denen das
Ausleben körperlicher Exzesse in Fruchtbarkeitskulten als Kompensationsmittel
diente. Schon ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. wird dem Leib eine negative Rolle
zugeschrieben, da er mit dem Triebhaften des irdischen Lebens und der Verbun-
denheit an die Vergänglichkeit allen irdischen Seins in Zusammenhang gebracht
______________
64
Vgl. Schmitt 1990; Gaskin 1990
65
Meyer-Drawe vertritt hier eine spezielle Leibauffassung, die sich v.a. im dualistischen Men-
schenbild des Neuplatonismus findet. Die Vorstellungen von einer ganzheitlichen Kör-
per/Leib-Einheit ist auch in der theologischen Tradition durchaus gängig und weit verbreitet.
Bestandsaufnahme · 75
wird. Eine Einheit von Leib und Seele wird einerseits durch irdische Schuld und
andererseits durch Hoffnung auf Erlösung dualistisch interpretiert.
In der Bibel besitzt der Leib dann im Wesentlichen drei symbolische Funktionen.
Erstens wird die Vergebung der Sünden und der Bund mit Christus im Abendmahl
symbolisiert.
Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; dieses tut zu meinem Ge-
dächtnis. (1. Korinther 11:24).66
Zweitens wird angedeutet, dass Jesus seinen Leib opfern will, um durch die Auf-
erstehung einen größeren Leib, nämlich die Gemeinde, hervorzubringen.
Und alles hat er unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt der Gemeinde
zum Haupt über alles, welches sein Leib ist, nämlich die Fülle dessen, der
alles in allem erfüllt (Epheser 1:22-23).
Drittens soll im Begriff ‚Leib’ auch die praktische Erfahrung und die Lebenswirk-
lichkeit leben hervorgehoben werden. Demnach kann es nur einen Leib geben, der
niemals gespalten sein darf.
Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. [...] Aber Gott hat
den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben,
damit im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder in gleicher Weise
füreinander sorgen (1. Korinther 12:20; 24-25).
Die christliche Tradition setzt somit der homerischen Verbindung von Leib und
Kosmos eine ‚ewige Seele’ und einen ‚sterblichen Leib’ entgegen. Taylor be-
zeichnet diesen Wandel als Wechsel von einer „Schamkultur“ zu einer „Schuld-
kultur“ (Taylor 1957, 210). Die Scham ist dem Menschen angeboren und natürli-
cher Ausdruck seiner Existenz. Nach der Vertreibung aus dem Paradies wird sich
der Mensch seiner Triebhaftigkeit bewusst, indem er symbolisch die Schamberei-
che mit einem Feigenblatt bedeckt und seine Schuld anerkennt. Der Glaube an ein
Leben nach dem Tod und die damit verbundene Vorstellung der Erlösung von der
Sünde prägen die wesentlichen Kerngedanken des Christentums.
Die negative Einschätzung der menschlichen Sinnlichkeit findet sich auch in der
griechischen Bedeutung des Begriffs ‚soma’, der in der Umgangssprache so viel
______________
66
Ich zitiere im Folgenden aus der Luther-Bibel in der revidierten Fassung von 1984.
76 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
wie ‚toter Leib’ bedeutet und mit dem deutschen ‚Körper’ vergleichbar ist. Eine
Ausnahme bildet die Leibauffassung des Apostels Paulus, der in ‚soma’ nicht die
Bedeutung ‚toter Leib’ sieht, wie sie im profanen Griechischen üblich ist, sondern
„ein Verhältnis, wir würden heute sagen eine Beziehung, in der der Mensch zu
sich selbst tritt“ (Konrad 1984, 154). Damit ist der Mensch soma. Auch nach der
‚Auferstehung’ bleibt er an das Soma gebunden, da er sonst seine Identität und
sein unverwechselbares Wesen verlieren würde. Dennoch ist in der christlichen
Geschichte die Tendenz einer Entsinnlichung des Leibes und eine Entwicklung
von der Weltzugehörigkeit zur Weltverneinung unverkennbar.
Durch diese skeptische Betrachtung des Körpers wurde auch die künstlerische
Tätigkeit abgewertet. Jegliche ästhetische Erfahrung, die nicht der Kontemplation
diente, sondern sinnliche Lust in der kreativen Gestaltung bereitete, besaß dem-
nach die Gefahr, von der eigentlichen Gotteserfahrung abzulenken. Malerei, Poe-
sie und Musik sollten vielmehr zur Religiösität erziehen. In diesem Rahmen wurde
v.a das Musikalisch-Sinnliche auf die Seite der verwerflichen Lüste gestellt. Das
betraf neben einer grundsätzlich skeptischen Haltung gegenüber ekstatischen
Körperbewegungen im Tanz auch allgemeine expressive instrumentale oder voka-
le Aufführungen. Charakteristisch sind in diesem Zusammenhang die Schriften
von Augustinus, der in seiner Bekehrung zum Christentum einen Wandel in der
Auffassung des Schönen erlebte und die sinnfälligen Erscheinungen, wie Musik,
Tanz oder Poesie, dem religiösen Erlebnis unterordnete.67
Ursprünglich besaß die Kirche eine Form von liturgischer Körperlichkeit im Tanz.
Dieser wurde als „die vornehmste Beschäftigung der Engel“ (Peters 1991, 13)
angesehen, bis Augustinus dagegen den sonntäglichen Reigen mit dem Chor an
den Gräbern der Märtyrer verbot. Demnach gilt „das Singen mit Begleitung see-
lenloser Instrumente und Tanzen und Stampfen“ (Augustinus, zit. nach Blaukopf
1982, 206) als kindlich und primitiv. In diesem Zusammenhang wird bei Augusti-
nus auch die Frage nach der musikalischen Gestaltung des Gottesdienstes behan-
delt. Die Gemeinde soll die sinnlichen Freuden beim liturgischen Gesang nicht
übertreiben, sondern mit „gelindem Auf und Ab der Stimme“ zum Ausdruck brin-
gen (Augustinus, zit. nach Blaukopf 1982, 207), so dass der Vortrag eher einem
andächtigen Lesen als einem Singen gleicht. Die Gebete werden mit einheitlicher
______________
67
Vgl. Augustinus 1963 sowie ‚Choreae’ – Zeitschrift für Tanz, Bewegung und Leiblichkeit in
Liturgie und Spiritualität
Bestandsaufnahme · 77
Stimme vorgetragen, wobei der Sprechgesang allein vom Herzen gelenkt werden
soll.68 Musik dient somit der geistigen Andacht und soll das Wort Gottes unter-
stützen. Durch innerliche Versenkung und Muße „sollen die Freuden des Gehörs
dem unstarken Gemüt zur höheren Seelenbewegung und Andacht verhelfen“ (Au-
gustinus 1963, 183).
Neben der Vorstellung, dass Musik wertvoll ist, wenn sie zur Vertiefung des
christlichen Glaubens beiträgt, dient sie als entlastende Möglichkeit während der
körperlich-produktiven Arbeit. Der preisende Lobgesang galt hierbei weniger als
Motivation innerhalb der schweren körperlichen Anstrengung, sondern vielmehr
als ein Medium, um während der Tätigkeit über Gott zu reflektieren. Hierin zeigt
sich die bewusste Abkehr von einer alltäglichen Musikpraxis, von der es heißt,
„dass alle Arbeiter Herz und Mund voll leichter und sogar liederlicher Theater-
verschen haben“ (Augustinus, zit. nach Blaukopf 1982, 209).
All dies zielt auf eine Entsinnlichung der Musik ab, auf die Loslösung des
Gesangs von der körperlichen Bewegung, zum Teil auch von den Instru-
menten und tendenziell ganz gewiß auch vom ekstatischen Tanz (Blaukopf
1982, 210).
Die Entsinnlichung führt auch zu einer „Entkörperlichung, für die wir keine histo-
rische Parallele kennen“ (Blaukopf 1982, 210). Aus der Abwertung des Tanzes
und expressiver Erfahrungen im Musizieren resultiert eine Priorität des bewussten
Hörens, weil hier auch Zugänge gegeben sind, Musik analytisch zu ‚verstehen’.
Dagegen dienen ‚Bewegungen zur Musik’ weitestgehend der gemeinschaftlichen
Unterhaltung oder dem eigenen ästhetischen Genuss.
Diese Kritik an der Triebhaftigkeit des Leibes und die daraus resultierende ‚Ent-
körperlichung der Musik’ ist besonders stark im Christentum ausgeprägt. Musik
ist in dem Rahmen der religiösen Lehre eingebunden und unterstützt die asketi-
schen und kontemplativen Idealvorstellungen. Dagegen ist bei Naturvölkern Mu-
sik so sehr Bestandteil des Körpers, dass gewisse religiöse Zeremonien nur in
rhythmisch getanzter oder gesungener Form vermittelt werden können.
______________
68
Im Original spricht Augustinus von „una voce dicentes”; „un voce sed corde” (Augustinus
1963, 177).
78 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Ziel aller Erziehung ist die Kalokagathie: Schönheit und Ebenmaß des
Körpers und der Seele (Reble 1960, 22).
Bereits im römischen Zeitalter jedoch wurde der Körper nicht mehr als schöne
Gestalt in seiner Einheit von Körper und Seele in der Schule gepflegt, sondern
nach seinem praktischen Nutzen geschätzt. Nachdem er innerhalb der Renaissance
und des Barocks durch Forschungen und standesspezifische und religiöse Einflüs-
se ins Abseits geriet, vollzieht sich merklich, v. a. bei Locke und Rousseau, eine
starke Aufwertung der sinnlichen Erfahrung im Erziehungsprozess. Zeigt sich bei
Locke die Möglichkeit zum Lernen in einer Vermittlung zwischen äußerer Erfah-
rung (‚sensation’) und innerer Erfahrung (‚reflexion’), also zwischen sinnlicher
Wahrnehmung und Vernunft, so tritt bei Rousseau der Mensch als Naturwesen in
den Vordergrund. In seinem Erziehungsroman ‚Emile ou l’éducation’ (1762)
erhält der Körper im Rahmen einer natürlichen Erziehung eine zentrale Stellung. 70
Rousseau kritisiert den Sittenverfall, die Verschwendungssucht und Verweichli-
chung seiner Epoche und fordert, dass ein Jugendlicher bis zu seinem 12. Lebens-
jahr nur ein Minimum von intellektuellen und moralischen Belehrungen erfahren
soll, damit er sich in dieser Zeit fast ausschließlich auf die Ausbildung des Kör-
pers und der Sinne konzentrieren kann. In diesem Zusammenhang stehen auch
Johann Heinrich Pestalozzis Hauptgedanken, der im Anschluss an Rousseau eine
allgemeine Erziehungsmethode auf psychologischer Basis aufzubauen versucht.
______________
69
Das ‚gymnasion’ war anfangs eine rein gymnastische Übungsstätte und entwickelte sich im
Hellenismus zu einer höheren Bildungsanstalt mit Sporthallen, Turnplätzen, Bad, aber auch
mit Unterrichtsräumen, mit Schularchiv, Bibliothek und manchmal auch mit Schultheater.
70
Vgl. Rousseau 1978
Bestandsaufnahme · 79
wurde. Die Rolle des Körpers im Lernprozess hat sich somit im Laufe der Ge-
schichte von einer Körper/Geist-Einheit im Ideal der Kalokagathie zu einem sin-
nesfeindlichen und vernunftorientierten Objekt am Beginn des 21. Jahrhunderts
gewandelt.
Die anhand der Literatur geleistete Bestandsaufnahme beschreibt eine Typik, die
in ihrer inneren Anlage selber fragwürdig erscheint und den Blick für eigenständi-
ge Diagnosen abseits der Beschreibung von Positionen innerhalb des Körperdis-
kurses hin eröffnet. Die so aufgezeigte Konkurrenz und Differenz verdeutlicht
zwar Klassifizierungen und Orientierungen zum Körperverständnis, aber die Ver-
ankerung des Bestands selbst ist zweifelhaft geworden. Diese Ungewissheit ver-
weist weniger auf einen negativ zu klassifizierenden Fehlbestand als vielmehr auf
eine positiv-kritische Bewertung der Tauglichkeit der aufgezeigten unterschiedli-
chen Typen.
demnach zur Bestimmung eines durch Konkurrenz und Differenz geprägten Kör-
perinteresses unserer Zeit, das den Kern und Grund seiner vielschichtigen Struktur
unsicher und dessen potenzielle Eignung noch als eine bevorstehende Aufgabe
erscheinen lässt.
Das pluralistische Erscheinungsbild samt seiner heterogenen und ambivalenten
Strukturtypik lenkt den Blick also auf die Notwendigkeit einer eigenständigen
methodischen Erforschung des Körperphänomens, die allererst den Blick auf eine
noch zu leistende Dechiffrierung der im Bestand aufgezeigten Konkurrenz und
Differenz hin eröffnet.
Vorläufig wird in musikpädagogischer Absicht nach einer Körper/Leibauffassung
gefragt, die sich bezüglich der Konkurrenz einer Parteinahme enthält.
82 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
II METHODE
Zu Beginn dieses Kapitels wird die Wahl der Phänomenologie als triftige Unter-
suchungsmethode begründet. Die deskriptive Typik ermöglicht es, das Körper-
phänomen abseits traditioneller Deutungsschemata unvoreingenommen zu be-
schreiben. In dem methodischen Anspruch der Phänomenologie, „die vorausset-
zungslose Grundlage all unseres Wissens zu sein“ (Hügli/Lübcke 31998, Bd. 1,
77), zeigt sie sich als triftige Methode, um die in der Bestandsaufnahme aufge-
zeigte vorurteilshafte Konkurrenz zu unterlaufen (1.1-1.2). Eine anschließende
Charakteristik gibt einen Überblick über die Geschichte und die zentralen Aufga-
benbereiche der Phänomenologie. Neben einer kurzen Darstellung ihrer histori-
schen Entwicklung werden zudem die elementaren Bestandteile der Methode
vorgestellt (2.1-2.2). Abschließend lassen sich die Potenziale für die Untersuchung
verorten. Zum einen findet sich in der phänomenologischen Literatur eine spezifi-
sche Leibbedeutung, die sich klar von einem vorurteilshaften Körper/Leib-
Dualismus absetzt, und zum anderen greift auch die Musikpädagogik immer wie-
der auf phänomenologische Begriffe, Ansätze und Ergebnisse zurück, um die
Vieldeutigkeit ästhetischer Erfahrungen in der Lebenswelt der Schüler aufzuzei-
gen (3.1-3.2).
Methode · 83
1 Wahl
nimmt, oder aber aus Negation sinnlicher Erfahrungen, wobei die Erkenntnisquel-
le in der Kraft des Geistes, des reflektierenden Bewusstseins oder der urteilenden
Vernunft liegt. Ein Großteil der abendländischen Philosophiegeschichte setzt
beide Seiten in Relation zueinander.72 Hieraus ergeben sich dualistische Annah-
men, wie z. B. Aktivität/Passivität, Handeln/Denken, Subjekt/Objekt, Handeln/
Verstehen, Theorie/Praxis, Sein/Bewusstsein oder Produktion/Rezeption, die letzt-
lich alle für das derzeitige Weltbild gegenwärtig erscheinen und nicht eigens hin-
terfragt werden. Diese Trennung ist sicherlich für verschiedene Wissenschaften
von Vorteil, da solche Gegensatzpaare zur Orientierung und Strukturierung eines
Systems mittels deduktiver oder induktiver Methoden führen, ein Dualismus ist
jedoch innerhalb dieser Wissenssysteme selbst nicht begründbar.
Trotz des Interesses ist es nicht die ‚ursprüngliche Erscheinungsform’ und ‚Ver-
fassung’ des Körpers, sondern vielmehr ein vorher abgestecktes Diskussionsfeld,
das auf ein Zwei-Seiten-Modell angelegt ist und um die einseitige Etablierung von
Funktionsmechanismen, Argumentationsstrategien und Deutungsmustern bemüht
ist.
Der Körper unterliegt in seiner Voreingenommenheit spezifischen Sichtweisen,
die ihn für eine determinierte Weltsicht einnehmen und ausdeuten. Hieraus resul-
tiert eine Vorurteilshaftigkeit, die einen verbindlichen Diskurs und eine systemati-
sche Erfassung eines einheitlichen Körperbegriffs im derzeitigen gesellschaftli-
chen Kontext nicht möglich erscheinen lässt. Daher bedarf es einer spezifischen
Methode, die das Phänomen Körper vorurteilsfrei analysiert und die ihm eigenen
Anzeichen ausweist, wie sie dann für die Musikpädagogik relevant werden könn-
ten.
2 Charakteristik
Der Begriff Phänomenologie, der sich aus den griechischen Wörtern ‚phainome-
non’ (‚Erscheinung’) und ‚logia’ (‚Sammlung’) zusammensetzt, taucht bereits
1764 im ‚Neuen Organon’ von Johann Heinrich Lambert auf, der damit eine The-
orie der Erscheinungen bezeichnete, die zwischen Wahrheit und Schein unter-
schied.76 Einen breiteren Bekanntheitsgrad erfährt die Phänomenologie im
______________
74
Mit dem Begriff ‚Triftigkeit’ wird indirekt bereits auf den Wahrheitsbegriff Merleau-Pontys
Bezug genommen. So behauptet z. B. Bernhard Waldenfels, dass Wahrheit nicht mehr in „ei-
ner bloßen Richtigkeit oder Stimmigkeit, sondern in einer Art von Triftigkeit“ (Waldenfels
2
1998, 134) begründet liegt.
75
Ein zusammenfassender Überblick über die Geschichte und Methode der Phänomenologie
findet sich z. B. in Hügli/Lübcke 31998, Bd. II
76
Vgl. Lambert 121983
86 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
ckelten. Derzeitig hat sich der Schwerpunkt der Phänomenologie durch Vertreter
wie Paul Ricoeur, Emmanuel Lévinas, Jean-Francois Lyotard oder Jacques Derri-
da nach Frankreich verlagert.79
Philosophie gilt mir, der Idee nach, als die universale und im radikalen
Sinne strenge Wissenschaft. Als das ist sie Wissenschaft aus letzter Selbst-
verantwortung“ (Husserl 1992, Bd. 5, 139).
Husserl lehnt sich somit an das Idealbild einer strengen, in sich schlüssigen und
apodiktischen Wissenschaft an, kritisiert aber gleichzeitig ihre Unvollkommen-
heit, weil sie grundsätzliche Fragen und Probleme ungelöst lässt. Was die Forde-
rung nach Wissenschaftlichkeit betrifft, so ist die Philosophie nicht nur unvoll-
kommen, sondern „überhaupt noch keine Wissenschaft“ (Hügli/Lübke 31998,
Bd. 2, 71).
______________
83
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Husserl aufgrund seiner Ablehnung des ‚Logischen
Positivismus’ zu den Vorvätern der ‚Analytischen Philosophie’ gehört.
84
„Phänomenologie: die Lehre vom Wesen der Dinge, das durch eine geistige Schau aus den
‚Phänomenen’ (Erscheinungen) heraus erkannt wird” (Aster 1951, 188). Solche missver-
ständlichen Definitionen erinnern an die platonische Ideenlehre.
Methode · 89
______________
85
‚Gegenstand’ darf nicht wörtlich aufgefasst werden, als ob sich die Phänomenologie einzig
objektivierbaren Dingen zuwendet, sondern deutet auf das jeweilige Untersuchungsfeld hin,
das auch abstrakt sein kann.
86
Der Begriff findet sich zuerst bei Franz Brentano, der das Wesen der psychischen Phänomene
so bestimmt, dass sie immer in Beziehung zu einem Inhalt stehen.
87
‚Konstitution’ leitet sich von dem lateinischen Verb ‚constituere’ ab, das ‚festsetzen’ oder
‚bestimmen’ bedeutet.
90 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
3 Potenzial
den Begriffen ‚corps phénomenal’ und ‚corps propre’, die in der deutschen Spra-
che mit ‚Leib’ und ‚Körper’ wiedergegeben werden können.
Drittens existiert eine philosophische Tradition, die sich mit dem ‚Leib/Seele-
Verhältnis’ auseinander setzt und bis auf Platon, Descartes, Kant oder Nietzsche
zurückreicht.90 Ein Vergleich mit dem Leibbegriff der Phänomenologie ist jedoch
problematisch, da die Ansätze in keinem direkten entwicklungs- und wirkungsge-
schichtlichen Kontext stehen, sondern in andere philosophische Disziplinen wie
Ethik (Nietzsche), Metaphysik (Descartes, Platon) oder Erkenntnistheorie (Kant)
eingebunden sind. Der Leib ist zwar bei Kant oder Fichte ein Teil ihres philoso-
phischen Systems, aber für die Philosophie nicht zwingend mitbestimmend und
auch nicht philosophiegeschichtlich fundiert.91 Die einzelnen Denker entwerfen
weder eine Philosophie des Leibes noch beziehen sie sich durch ihre vereinzelten
Leibverweise aufeinander. Ihre Auffassungen berücksichtigen zwar, dass der
Mensch eine ‚Leib-Seele-Einheit’ bildet und die Erfahrung der Wirklichkeit ohne
den Leib undenkbar ist, aber ihre Untersuchungen befassen sich weitestgehend mit
dem aus dem Anspruch an die Vernunft entstandenen Interesse der Erforschung
der Bedingungen der Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis und verfolgen keine
eigenständige Analyse des Leibes. Erst bei Husserl und Merleau-Ponty erhält der
Leib als streng terminologisches und konstitutives Moment zur systematischen
Entfaltung der Philosophie seine eigentliche Relevanz.
Wenn daher Joachim Th. Geiger innerhalb seiner Untersuchung zu philosophi-
schen und anthropologischen Bestimmungen von Geist, Seele, Leib und Körper
eine Genese des Leibbegriffs zu skizzieren versucht, dann wird eine historische
Entwicklung konstruiert, die es letztlich nicht gegeben hat. Es ist daher nicht mög-
lich, Kant, Fichte und Hegel als Vertreter „idealistischer Leibkonzeptionen“ zu
bezeichnen (Geiger 1996, 83). Folglich entwerfen auch Schopenhauer, Marx,
Nietzsche, Husserl und Merleau-Ponty keine „nachidealistischen Leibkonzeptio-
nen“ (Geiger 1996, 85). Durch die Annahme, dass Kant „das menschliche Dasein
aus der Ambiguität des Leibes heraus“ interpretiert (Geiger 1996, 83), werden
idealistische und nachidealistische (phänomenologische) Leibkonzeptionen ver-
mischt. Es ist zwar möglich, eine Verlagerung des Prinzips der Vernunft zuguns-
______________
90
Vgl. Schmitz 1965; Grätzel 1989
91
Am ehesten ließe sich von Nietzsche sagen, dass er eine explizite Philosophie des Leibes
entwirft. So v. a. im Kapitel ‚Von den Verächtern des Leibes’ in ‚Also sprach Zarathustra’.
Vgl. Nietzsche 1990, Bd. 3, 34 ff.
92 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
ten des Leibes anzunehmen, aber sie als Folge philosophiegeschichtlicher, anthro-
pologischer und religiöser Positionen zu interpretieren, wäre zu weit gegriffen.
Geiger verwendet den Begriff ‚Körper’, weil das Wort ‚Leib’ als „Beigeschmack
des Altmodischen und Reaktionären […] einem dem modernen Zeitgeist ‚ver-
staubt’ dünkenden Wirkungsbereich von Theologen (‚Leib Christi‘) oder konser-
vativen Pädagogen (‚Leibesübungen‘, ‚Leibeserziehungen‘)“ entspricht (Geiger
1996, 73). Weil zusätzlich der Terminus ‚Körper’ heute zweideutig als Synonym
für die körperliche und leibliche Dimension des Menschen verwendet wird,
schlägt Geiger vor, die Ambivalenzen durch die Hinzunahme des Begriffs ‚Phy-
sis’ zu umgehen, der die materielle Seite des Körpers symbolisiert. Dabei ver-
schärft er allerdings die schon etymologisch begründeten Unschärferelationen
zwischen Körper/Leib und potenziert die komplexe Terminologie durch die Er-
gänzung der dritten Instanz ‚Physis’. Seine Begriffsdefinitionen führen oftmals zu
paradox klingenden Sachverhalten:
1.) ‚Körper’ wird implizit im Sinne von ‚Leib’ verwendet und umgekehrt. Wei-
testgehend dominiert also der Körperbegriff, obwohl für die oben genannte Leib-
bedeutung plädiert wird. Immer wieder finden sich Aufsätze, die anstatt des
Körperbegriffs durchaus terminologisch ‚Leib’ verwenden könnten.93 Eher selten
wird Leib im Sinne von Körper gebraucht. Meistens wird hierbei das „Gegenteil
von ‚Innerlichkeit’“ (zur Lippe 1990, 44) oder „Vorstellungen von unseren
Organerfahrungen“
______________
verstanden (zur Lippe, 1990, 53), was ein eher objektives
92
Ausführlich hierzu vgl. Oberhaus 2004, 360-363
93
So v. a. im AMPF-Band ‚Musik und Körper’ bei den Autoren Pütz und Grimmer; vgl. Pütz
1990
Methode · 93
fahrungen“ verstanden (zur Lippe, 1990, 53), was ein eher objektives Körperver-
ständnis beinhaltet.
2.) Die Übersetzung der auf Gabriel Marcel zurückführenden Differenz zwischen
‚corps que je suis und corps que j’ai’ ist uneinheitlich. Während Marcel und
Dürckheim von ‚Körper-Haben und Leib-Sein’ sprechen, unterscheiden Plessner
und Merleau-Ponty dagegen ‚Körper-Sein’ und Leib-Haben’. Der Grund hierfür
liegt innerhalb einer divergierenden Auffassung des Begriffs ‚Sein’, der entweder
existenziell oder materiell verstanden wird. Innerhalb der Musikpädagogik ist
diese Verwechslung auch vorhanden. So bezieht sich z. B. Barbara Haselbach auf
das ‚Leib sein’, während Klaus Mollenhauer das ‚Leib haben’ hervorhebt.94
3.) Es existieren Konzepte, die sich zwar explizit auf eine anthropologische Leib-
definition berufen, dann aber in ein analytisches Körperverständnis zurückfallen,
wie dies z. B. in Richters Verkörperungskonzept der Fall ist. Trotz der Bemühung,
‚Körper’ und ‚Leib’ zu unterscheiden, ist deren Verwendung inkonsistent. An
einigen Stellen werden sie sogar synonym verwendet. So spricht Richter z. B. von
den „gegenseitigen Beziehungen zwischen Körper (Leib), Seele und Geist“.95 An
anderer Stelle lehnt Richter den Begriff Leib aus Gründen der Klanglichkeit ab,
denn er klingt „scheußlich und ist auch ungewohnt“ (Richter 1995, 5).
schen und anderer Zeiten in Verbindung zu setzen, ist in den letzten Jahren in
verschiedenen Unterrichtsreihen und musikpraktischen Beispielen erprobt wor-
den.101
Vor einiger Zeit erschienen zwei Publikationen, die sich erneut der Frage nach
einer Relevanz des Lebensweltbegriffs im Unterricht widmen. Der von Ehrenforth
herausgegebene Sammelband ‚Musik – Unsere Welt als Andere’ fasst verschiede-
ne philosophische und musikpädagogische Perspektiven zusammen und unter-
streicht die Aktualität eines lebensweltlich orientierten Unterrichts.102 Allerdings
plädiert Ehrenforth in einem Einzelbeitrag dafür, den „Begriff der Lebenswelt, wie
ihn Husserl geprägt hat, in der weiteren Diskussion unberücksichtigt zu lassen“
(Ehrenforth 2001b, 52), und auch Richter hebt an anderer Stelle hervor, dass das
Verstehen von Musik „vielleicht ohne philosophischen Rekurs einfacher zu for-
mulieren ist“ (Richter 1997, 45).103 Obwohl somit prinzipiell anerkannt wird, dass
die „einladende Offenheit des von Mode heimgesuchten Begriffs“ (Ehrenforth
2001b, 34) Lebenswelt zu einer umgangssprachlichen Verharmlosung geführt hat,
dient ein Rekurs auf die Phänomenologie Husserls weiterhin als Legitimation, um
auf verschiedene musikpädagogische Fragestellungen hinzulenken.
Im Zusammenhang dieser Diskussion um begriffliche Unschärfen fordert Jürgen
Vogt eine grundlegende kritische Revision bestehender lebensweltlicher Konzep-
tionen und ist um eine deutliche Differenzierung zwischen unterschiedlichen pä-
dagogischen und phänomenologischen Ansätzen bemüht. Die Grundfrage lautet,
ob erstens der Lebensweltbegriff für eine Transformation in musikpädagogische
Zusammenhänge zur Verfügung stehen darf und „schon klanglich eine Einheit“
(Schneider 1993, 7) von Mensch und Musik bildet oder zweitens als systematisch
phänomenologischer ‚Terminus technicus’ betrachtet werden soll, der konstitutive
wissenschaftstheoretische Implikationen beinhaltet, die von der Musikpädagogik
übernommen werden sollen. In seinem Buch ‚Der schwankende Boden der Le-
benswelt’, werden erziehungswissenschaftliche und musikdidaktische Konzeptio-
nen einer lebensweltlich orientierten Pädagogik ausführlich vorgestellt, kritisch
mit phänomenologisch-philosophischen Ansätzen verglichen und ihre unzulängli-
______________
101
Vgl. z. B. Bäßler 1996; Schneider 1996; Nimczik 1998a
102
Vgl. Ehrenforth 2001a
103
Vgl. die in der Zeitschrift ‚Musik und Unterricht’ dargestellte Diskussion zwischen Vogt und
Richter. Vogt 1997; Richter 1997
Methode · 97
Vogts Arbeit leistet eine längst fällige Auseinandersetzung mit der Transformati-
onsproblematik spezifischer philosophischer Termini in musikpädagogische Zu-
sammenhänge. Das Aufgreifen der strengen Definition des Husserlschen Lebens-
weltbegriffs dient als Regulativ, um schablonenartig die Fehlentwicklungen päda-
gogischer Strömungen aufzuzeigen, und ermöglicht v. a. dessen Enttrivialisierung
für die Musikpädagogik auf dem Boden einer kritisch fundierten Differenzie-
rung.105 Aus der Ausgangsprämisse, dass Phänomenologie „auch in praktischer
Hinsicht“ (SBL, 39) etwas zu leisten vermag, resultiert letztlich eine „phänomeno-
logische Philosophie der Musikpädagogik“ (SBL, 13), die für Grundfragen musi-
kalisch ästhetischer Bildung relevant wird. Vogts Anliegen ist weniger eine unter-
richtspraktische Fundierung phänomenologischer Ergebnisse. In seiner Arbeit
______________
104
Vogt, J.: Der schwankende Boden der Lebenswelt. Phänomenologische Musikpädagogik
zwischen Handlungstheorie und Ästhetik, Würzburg 2001; im Folgenden zit. als ‚SBL’; aus-
führlich wird Vogts musikpädagogische Konzeption im Kap. V.1.2 behandelt.
105
Vogt unterscheidet in der ‚Krisis’ drei Arten von Wissen: 1.) Doxa (lebensweltliches All-
tagswissen), 2.) Episteme 1 (methodisches Wissen der Wissenschaften) und Episteme 2 (uni-
versales, philosophisch phänomenologisches Wissen). Vgl. SBL 19
98 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
______________
106
Die praxisnahe Ausweitung der Philosophie Husserls wird schon durch die ‚epoché’ deutlich
erschwert, die die alltägliche Lebensumwelt außer Geltung setzt. Es bleibt das Verdienst von
Heidegger (In-der-Welt-Sein) und v. a. Merleau-Ponty (Zur-Welt-Sein), diesen stark egologi-
schen Ansatz relativiert zu haben.
107
Vgl. Böhme 2001; Böhme beruft sich ausdrücklich auf Autoren wie z. B. Hermann Schmitz,
der explizit eine „Phänomenologie der Leiblichkeit“ verfasst hat (Schmitz 1965, XIV). Vgl.
auch Kap. V.3.1.1
108
Vgl. Schütz/Luckmann 1984
Methode · 99
Schütz mit den Analysen Husserls vertraut war, ging es ihm primär um die Aufhe-
bung des transzendentalen Anspruchs und um die Lösung phänomenologischer
Probleme, wie z. B. die Intersubjektivitätstheorie. Aus seinen soziologischen Inte-
ressen eröffneten sich empirische Forschungsmethoden, die vornehmlich auf der
Basis der natürlichen Einstellung die gesellschaftliche Struktur der Wirklichkeit
aufzudecken versuchten.
Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang, dass in empirisch-musikpädagogi-
schen Forschungen der 1980er Jahre eine begriffliche Etablierung des Lebens-
weltbegriffs im Rahmen der quantitativen Erfassung von Musikpräferenzen Ju-
gendlicher stattgefunden hat und hierbei im Sinne der Sozialphänomenologie von
einer soziologisch motivierten Verankerung ästhetischer Erfahrungen ausgegan-
gen wurde. Nach Klaus-Ernst Behne konstituieren sich musikalische Lebenswel-
ten aus „das, was wir überwiegend hören […] und wie wir mit dieser Musik um-
gehen, also WAS wir lieben und WIE wir es lieben“ (Behne 1993, 9). Eine trans-
zendentale phänomenologische Begründung im Sinne Husserls liegt hierbei nicht
im Interesse der quantitativen empirischen Musikpädagogik. Der Begriff Phäno-
menologie findet sich „im Kontext der Methodenfrage als Teil sog. qualitativer
Forschungsmethoden“ (SBL, 9), ohne auch hier die spezifische Methodik der
Phänomenologie für die musikpädagogische Forschungspraxis zu beanspruchen.
Allerdings ist durch die methodische Konzentration auf immanent subjektive
Sinnsetzungen, die sich durch Methoden wie z. B. ‚Teilnehmende Beobachtungen’
oder ‚Narrative Interviews’ erschließen, durchaus eine Nähe zu phänomenologi-
schen Fragen der Sinnkonstitution durch Beschreibung von Verstehenskontexten
und Handlungszusammenhängen gegeben.
III ANALYSE
Die Analyse setzt sich mit zwei bedeutenden Vertretern der Phänomenologie
auseinander und stellt deren Untersuchungen und Ergebnisse zum ‚Leib’ vor.
Edmund Husserls ‚Cartesianische Meditationen’ und ‚Ideen zu einer reinen Phä-
nomenologie und phänomenologischen Philosophie II’ dienen dazu, grundlegende
Aspekte eines ‚phänomenologischen Leibbegriffs’ herauszuarbeiten.110 Während
in einzelnen Auszügen aus den ‚Cartesianischen Meditationen’ den Fragen nach
einer intersubjektiven Gemeinschaft von Individuen und der Fremderfahrung
anderer Menschen nachgegangen wird (1.1), soll in einigen Ausführungen zu den
‚Ideen II’ die Bedeutung des Leibes als Wahrnehmungsorgan und Orientierungs-
vermögen herausgearbeitet werden (1.2). Die ‚Phänomenologie der Wahrneh-
mung’ von Merleau-Ponty dient dazu, die Ergebnisse von Husserl auf erkenntnis-
kritischer und ästhetischer Basis zu vertiefen.111 In diesem Werk wird eine umfas-
sende Phänomenologie des Leibes entwickelt, die auch in der vorliegenden Analy-
se explizit vorgestellt wird. Dies beinhaltet zum einen die Überwindung eines
dualistischen Konzepts, wie es im Empirismus oder Intellektualismus angelegt ist
(2.1), und zum anderen die Herausstellung des Leibes als ein Bestandteil des indi-
viduellen Handelns und Vollzugs im ‚Zur-Welt-Sein’ (2.2). Der Leib wird als ein
grundlegendes Medium der Wahrnehmung verstanden, das in Form einer Ambigu-
______________
110
Husserl, E.: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, hg. von E.
Ströker, Hamburg 31995; im Folgenden zitiert als ‚CM’
111
Husserl, E.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hg. von M. Biemel,
Den Haag 1952 [=Husserliana IV]; im Folgenden zit. als ‚Id II’
Analyse · 101
ität sowohl im Subjekt als auch in der objektiven Welt verankert ist (2.3). Glei-
chermaßen führt Merleau-Ponty die Intersubjektivitätstheorie Husserls weiter und
sieht eine zwischenmenschliche Gemeinschaft im direkten leiblichen Vollzug
gewährleistet (2.4). Im Anschluss an diese grundlegenden erkenntniskritischen
Ausführungen wird auf die ästhetische Bedeutung des Leibes im Instrumentalspiel
und der Malerei hingewiesen, mit der sich Merleau-Ponty in seinem Werk ausein-
ander gesetzt hat (2.5).
102 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Die unsere Meditationen leitende Idee sei wie für Descartes die einer in
radikaler Echtheit zu begründenden Wissenschaft und letztlich einer uni-
versalen Wissenschaft (CM 9).
Husserl fordert einen Neubau der Wissenschaften aus absolut rationaler Begrün-
dung. Die einzige Sicherheit bietet nur das Ego, das sich durch den Zweifel an der
objektiven Erscheinungsweise der Dinge auf das Bewusstsein stützt. Die Existenz
einer Außenwelt wird allerdings nicht geleugnet, sondern nur hinsichtlich ihrer
Wahrhaftigkeit angezweifelt. Sie besteht als Korrelat zum Bewusstsein, das sich
intentional auf ‚Dinge’ richtet und so Sinnesdaten ‚verinnerlicht‘. Im Rückgang
auf das Ego ist es daher völlig irrelevant, ob die Welt ist, sondern nur wie sie vom
Bewusstsein konstituiert wird. Hierdurch ist das Ego auf sich selbst allein gestellt
(solus ipse). So vollzieht das Subjekt „eine Art solipsistischen Philosophierens. Es
______________
112
Vgl. Descartes 1958
Analyse · 103
sucht apodiktisch gewisse Wege, durch die es sich in seiner Innerlichkeit eine
objektive Äußerlichkeit erschließen kann“ (CM 5).
Husserl vergleicht das Moment der ‚Versenkung in das Bewusstsein’ mit einem
„meditierenden Philosophen” (CM 20). Hierdurch erwächst der Anschein, als ob
es sich in der phänomenologischen Methode nicht nur um eine philosophische
Theorie, sondern um eine existenzielle Erfahrungsgrundlage handelt.
Das verdeutlicht ferner, wie sehr Husserls Philosophie ihm ein persönliches An-
liegen war:
Und nach alledem, wie weit bin ich zurück – Das Leben verrinnt, die Jahre
der Kraft rollen ab. Weh mir, wenn ich in diesen Arbeitsstudien und Ar-
beitsweisen steckenbliebe! Es wäre nicht viel weniger als ein Leben leiden-
schaftlichen Ringens, härtester Arbeit verloren zu haben. Umsonst gelebt:
nie und nimmer. Ich will und werde nicht ablassen (Husserl, zit. nach Sepp
1988, 225).
Am Beginn der ersten Cartesianischen Meditation wird deutlich, wie sehr Husserl
darum bemüht ist, den Leser in die Ernsthaftigkeit und Bedeutsamkeit seines Un-
tersuchungsvorhabens mit einzubeziehen. Als sprachliches Stilmittel verwendet er
einen kommunikativen Plural, um mittels direkter Ansprache eine persönliche
Beziehung zum Leser aufzubauen. Es erwächst der Anschein, als ob dieser die
Meditationen selber durchführen würde.
Wir fangen also neu an, jeder für sich und in sich mit dem Entschluss radi-
kal anfangender Philosophen, alle uns bisher geltenden Überzeugungen
und darunter auch alle unsere Wissenschaften zunächst außer Spiel zu set-
zen (CM 8).
Die epoché ist, so kann gesagt werden, die radikale und universale Metho-
de, wodurch ich mich als Ich rein fasse, und mit dem eigenen reinen Be-
wusstseinsleben, in dem und durch das die gesamte objektive Welt für mich
ist, und so, wie sie eben für mich ist. Alles Weltliche, alles raum-zeitliche
Sein ist für mich – das heißt gilt für mich, und zwar dadurch, dass ich es
erfahre, wahrnehme, mich seiner erinnere, daran irgendwie denke, es be-
urteile, es bewerte, begehre usw. […] (CM 22 f.).
Diese Sichtweise ist mit der eines neutralen Zuschauers vergleichbar, der „den
Glauben an die Welt zunächst einmal nicht mit vollzieht, sondern diesen Seins-
glauben reflexiv betrachtet“ (Prechtl 1991, 59). Das gilt auch für sinnliche Wahr-
nehmungen wie Hören, Sehen oder Fühlen. Was in dieser Enthaltung hervortritt,
ist eine Aufklärung der Wesensmöglichkeiten von Erkenntnis aus den Quellen des
intentionalen Bewusstseins. Die epoché hat dabei den positiven Sinn, dass die
Erfahrungswelt in ihrem Bestand nicht angetastet und nicht einmal vorübergehend
der methodischen Funktion des Umsturzes unterworfen wird, sondern dass sie als
Bezugspunkt und richtungweisendes Kriterium für Bewusstseinsinhalte beständig
erhalten bleibt. Husserls Phänomenologie wird zur ‚Egologie’, wenn die einzig
annehmbare Welt diejenige ist, die das Ego konstituiert.
______________
113
Zum Verhältnis zwischen Reduktion und epoché vgl. Theunissen 21977, 27; Ber-
net/Kern/Marbach 21996, 56.
114
Janssen behauptet, Husserl sei „von der Not getrieben, keine passenden sprachlichen Ausdrü-
cke zur Verfügung zu haben” (Janssen 1977, 68).
Analyse · 105
Das betrifft auch die umweltliche Existenz aller anderen Iche, so dass wir
rechtmäßig eigentlich nicht mehr im kommunikativen Plural sprechen dür-
fen (CM 20).
Wenn ich, das meditierende Ich, mich durch die phänomenologische εποχη
auf mein absolutes transzendentales Ego reduziere, bin ich dann nicht zum
solus ipse geworden, und bleibe ich es nicht, solange ich unter dem Titel
Phänomenologie konsequente Selbstauslegung betreibe (CM 91)?
Es stellt sich somit die Frage, wie Husserl den Weg von der Isolation der trans-
zendentalen Subjektivität zu einer Welt anderer Egos und somit zu einer gemein-
schaftlichen Welt findet, in der die Subjekte intersubjektiv miteinander umgehen.
In dieser Intersubjektivität müsste sich ‚zwischen’ der eigenen Subjektivität und
der anderer Menschen eine Verbindung ergeben. Durch den Solipsismus ist auch
Husserls strenges Wissenschaftsideal betroffen. Er muss, um die Geschlossenheit
seines Systems garantieren zu können, die Fremderfahrung in seine Methodik
integrieren.
(CM 95). Ihr Ziel ist, explizit das Thema der Anderen zu behandeln.115 Im Unter-
schied zur ersten Reduktion, in der die Welt weiterhin als Korrelat zur Verfügung
steht, ist die zweite, primordiale Reduktion jedoch eine Abstraktion. In ihrer Funk-
tion klammert sie eine bestimmte Schicht der Erfahrung nicht nur ein, sondern
schaltet sie ganz bewusst aus. Als eine „eigentümliche Art thematischer εποχη”
(CM 95) filtert sie aus der reduzierten Welt eine bestimmte abstrakte Schicht
heraus, die von jeglicher Form der Erfahrung anderer Menschen absieht. Das
beinhaltet nicht nur den konkreten Verlust des äußeren Körpers anderer Men-
schen, der als Ding wie jeder andere Naturgegenstand wahrgenommen wird, son-
dern das Verschwinden jeder Form von fremder Subjektivität.
Wir schalten alles jetzt Fragliche vorerst aus dem thematischen Felde aus,
das ist, wir sehen von allen konstitutiven Leistungen der auf fremde Subjek-
tivität unmittelbar oder mittelbar bezogenen Intentionalität ab und um-
grenzen zunächst den Gesamtzusammenhang derjenigen Intentionalität,
der aktuellen und potentiellen, in der sich das Ego in seiner Eigenheit kon-
stituiert und in der es von ihr unabtrennbare, also selbst ihrer Eigenheit
zuzurechnende synthetische Einheiten konstituiert (CM 95).
Die primordiale Reduktion ist die konsequente Weiterführung der Problematik des
Solipsismus, weil von jeglichem „Sinn von Fremdsubjekten” (CM 124) abstrahiert
wird und eine Eigenheit der Naturwelt des Egos erscheint, in welcher der Andere
faktisch nicht mehr vorhanden ist.
Die zweite Reduktion Husserls ist ein Kunstgriff, weil sie durch Ausschaltung
jeglicher Fremderfahrung das wirklich Eigentümliche des Anderen zu erfassen
versucht. Nur durch Distanzierung von der Erfahrung anderer Individuen kann der
Meditierende das Fremde des Anderen erst erfahren. Weil es kennzeichnend für
den Anderen ist, wirklich anders zu sein, abstrahiert Husserl von der Fremderfah-
rung und untersucht, wie das Ego fremdes Sein überhaupt konstituieren kann. Die
Sphäre der Primordialität charakterisiert somit den Ausgangspunkt, von dem aus
der Bezug zum Anderen allererst hergestellt und begründet wird.
______________
115
Husserl spricht sowohl von ‚primordial’ als auch von ‚primordinal’. Beide Begriffe leiten
sich vom Lateinischen ‚primordium’ (lat.: Uranfang, Ursprung) ab.
Analyse · 107
So gewinnt Husserl eine Erfahrungsschicht, die das Fundament für die Be-
stimmung des Fremden abgibt. Alles, was diese Eigenheitssphäre über-
schreitet, stellt etwas Ich-Fremdes dar (Prechtl 1991, 85).
Die primordiale Welt ist demnach eine bloße Natur als eine Welt von Dingen. Die
Radikalisierung betrifft auch das Ego in der Isolation des Bewusstseins, das jede
Form von fremder Subjektivität systematisch negiert. Während in der ersten Re-
duktion die Welt für jedermann erfahrbar ist und auch dann nicht verloren geht,
„wenn eine universale Pest mich allein übrig gelassen hätte” (CM 96), bleibt dem
Meditierenden in seiner primordialen Eigenheitssphäre nur „eine einheitlich zu-
sammenhängende Schicht des Phänomens Welt” (CM 98).
Unter den eigentlich gefassten Körpern dieser Natur finde ich dann in ein-
ziger Auszeichnung meinen Leib, nämlich als den einzigen, der nicht bloß
Körper ist, sondern eben Leib, als das einzige Objekt innerhalb meiner
abstraktiven Weltschicht, dem ich erfahrungsgemäß Empfindungsfelder zu-
rechne, […], das einzige „in” dem ich unmittelbar „schalte und walte”,
und insonderheit walte in jedem seiner „Organe” (CM 99).
Ich nehme mit den Händen kinästhetisch tastend, mit den Augen ebenso se-
hend usw., wahr und kann jederzeit so wahrnehmen, wobei diese Kinästhe-
sen der Organe im „Ich tue” verlaufen und meinem „Ich kann” unterste-
hen (CM 99).
Der Leib ist weder ein statisches Ding noch eine funktionierende Maschine, son-
dern eine lebendige Vollzugsmöglichkeit mit der Außenwelt, die in ständiger
Vermittlung zum Bewusstsein durch individuelle Erfahrungsakte gegeben ist und
erhalten bleibt. Das Ego eignet sich handelnd die sinnliche Welt durch Bewegung
sowohl subjektiv als auch objektiv an. Während sich der Leib als Objekt in die
Außenwelt eingliedert und Erfahrungen über diverse Vollzugsformen sammelt,
gliedert und strukturiert er diese Wahrnehmungen innerlich. Er ist eine doppelsei-
tige Einheit, in der Bewusstsein und Sein in einem korrelierenden unmittelbaren
Verhältnis stehen. Das Subjekt ist sowohl Bestandteil der Außenwelt als auch
innerliches Bewusstsein. Da ein der Subjektivität zugehöriger Leib angenommen
wird, gibt das Ego seine Verinnerlichungstendenz auf und integriert sich über die
Durchkreuzung (Chiasma) von Wahrnehmungsobjekt und Wahrnehmungssubjekt
als leiblicher Teil in die Außenwelt. Dieses wechselseitige Korrelat etabliert ein
Leibbewusstsein, das im Zuge der Fremderfahrung und Bildung einer Intersubjek-
tivität eine konstitutive Rolle spielt.
In der Sphäre der Primordialität, in der alle fremde Subjektivität ausgeblendet ist,
entdeckt der Meditierende einen besonderen, fremden Körper, der mehr ist als ein
Naturding, weil er dem eigenen Leib gleicht. Das ist der Leib des Anderen, der
nicht nur körperlich als Naturding vorhanden ist, sondern sich als ein verbinden-
des Glied von der eigenen zur fremden Subjektivität ausweist. Über die verglei-
chende Ähnlichkeit des eigenen Leibes mit denen der Anderen ist eine ‚Intersub-
jektivität‘ gewährleistet. Diesen Vorgang des Vergleichens und den Rückschluss
auf eine fremde Subjektivität nennt Husserl ‚Appräsentation’. Ein Gegenstand
kann durch die Intentionalität zur vollständigen Präsentation gelangen, weil er
gesehen, berührt oder gehört werden kann und er in einem eindeutigen Korrelat
Analyse · 109
zum eigenen Bewusstsein existiert. Um von dem anderen Körper auf eine ihm
zugehörige fremde Subjektivität schließen zu können, ist eine weitere Schlussfol-
gerung nötig. Entgegen der Eigenschaft von Gegenständen kann das fremde Ich
nicht in eine totale Präsentation überführt werden. Es zeigt sich nicht vollständig,
da seine fremde Subjektivität appräsent und nicht wie Gegenstände erfahrbar ist.
Die Ähnlichkeit verschiedener Körper und der folgende Schluss auf einen fremden
Leib benötigen Assoziationen, welche die Fremderfahrung erst möglich machen.
In diesem Sinne unterscheidet Husserl zwischen einer unmittelbaren Intentionali-
tät, die Gegenstände präsentiert, und einer mittelbaren Intentionalität, die die
Fremderfahrung appräsentiert.
Es ist nicht mehr der eigene Leib, sondern ein anderer, der mit dem eigenen zu-
sammen ein Paar bildet und sich durch die Aufnahme weiterer Glieder zu einer
intersubjektiven Mehrheit erweitert.
Tritt nun ein Körper in meiner primordialen Sphäre abgehoben auf, der
dem meinen ähnlich ist, d. h. so beschaffen ist, dass er mit dem meinen eine
phänomenale Paarung eingehen muss, so scheint nun ohne weiteres klar,
dass er in der Sinnenüberschiebung alsbald den Sinn Leib von dem meinen
her übernehmen muss (CM 116).
Durch die Ähnlichkeit der Körper, die ‚ich’ als Meditierender und der Andere
besitzen, ist es möglich, von einer „Verkörperung meines Leibes zu sprechen“
(Theunissen 21977, 65). Husserls Philosophie bleibt dabei weiterhin Bewusst-
seinsphilosophie, da sich die Fremderfahrung durch die Vermittlungsinstanz des
Leibes als eine spezielle Art der Intentionalität vollzieht. Er verwendet auch den
Begriff ,Einfühlung’, der verdeutlichen soll, dass über die Ähnlichkeit des Frem-
den mit dem Eigenen überhaupt die Erfahrung des anderen Leibes gewährleistet
werden kann, die wiederum die Apodiktizität des ‚Alter Egos’ garantiert.
Der Vergleich des Anderen mit dem eigenen Leib macht die objektive Welt mit-
samt ihren kulturellen Prädikaten wieder zugänglich. Aus der isolierten Eigen-
heitssphäre, in der nur eine besondere Schicht Natur wahrgenommen wird, kristal-
lisiert sich die Welt mit ihren Bezügen zu anderen Menschen mitsamt ihren Hand-
lungsvollzügen und Kommunikationsformen heraus. Erst durch die Art und Wei-
110 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
se, wie der Andere sich bewegt, handelt, sich darstellt oder mimisch-gestisch
äußert, kann davon ausgegangen werden, dass es sich um ein anderes Ich handelt,
welches eine intersubjektive Gemeinschaft wieder zugänglich werden lässt.
siv auf Gegenstände richtet und diese konstituiert, sondern in aktiven Verwei-
sungszusammenhängen eingebunden erscheint und so handelnd mit der objektiven
Welt korreliert. Letztlich wird die radikale Verinnerlichungstendenz des Egos
aufgehoben und die Empfindungsfähigkeit des Leibes als Teilbereich immer neuer
Wahrnehmungssynthesen hervorgehoben. Gleichsam verlässt Husserl den syste-
matischen Anspruch einer epoché, so dass die Ideen II durchaus als Erweiterung
und grundlegende Öffnung des methodisch-strengen Anspruchs der Phänomeno-
logie verstanden werden können und zu seinem Spätwerk gehören.
Für das Verständnis dieses schwer zugänglichen Werks ist ein kurzer Verweis auf
die biografischen Umstände hilfreich. Die ‚Ideen I’ erschienen 1913 im ‚Jahrbuch
für Philosophie und phänomenologische Forschung’. 1916 nahm Husserl seine
Arbeit erneut auf, um fehlende Sachverhalte zu ergänzen und den systematischen
Anspruch der Phänomenologie aufrecht zu erhalten. Allerdings wurde die weitere
Arbeit an diesem unvollendet gebliebenen Werk immer wieder durch Schreibblo-
ckaden und private Schicksalsschläge gestört.118 Es scheint, als ob das ständige
Bemühen zur systematischen Erfassung der Phänomenologie und zur Etablierung
einer strenger Wissenschaft relativiert wird. Das Werk ließe sich durchaus als
Versuch einer existenziellen Auslegung der Phänomenologie verstehen.119 Ob-
wohl die so genannten ‚Ideen II’ nur in Manuskriptform erhalten sind und post-
hum veröffentlicht wurden, übten sie eine immense Wirkung auf andere Denker
aus. Die Adaption dieser Schrift reicht von einem kleinen Kreis von Schülern und
Kollegen, denen Husserl noch zu Lebzeiten das Manuskript zugänglich gemacht
hat, bis hin zu Merleau-Ponty, der die in den ‚Ideen II’ enthaltenen Auffassungen
zum Leib konsequent weiterentwickelt hat.
1.2.1 Orientierungsvermögen
Während die Intentionalität in den ‚Cartesianischen Meditationen’ mit dem Mo-
ment des Betrachtens und Beobachtens verbunden ist, hebt sie in den ‚Ideen II’
das eigenständige Orientierungsvermögen des Subjekts hervor. Der aktiv handeln-
de Leib gehört konstitutiv mit zum Betrachter, der hierdurch die Fähigkeit besitzt,
______________
118
Husserls Sohn Wolfgang fiel im ersten Weltkrieg. Ferner sah sich Husserl ab 1930 verstärkt
antisemitischen Verleumdungen ausgesetzt.
119
Husserl sah sein Konzept als strenge Wissenschaft in ‚existenzielle Strömungen’ entgleiten.
Das gilt v. a. für Martin Heideggers ‚Sein und Zeit’, in dem Phänomenologie als Existenzial-
ontologie zur Klärung des ‚Sinn von Seins’ wird. Vgl. Heidegger 171993
112 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Perspektiven über Bewegungen frei zu wählen und je nach Belieben auch zu ver-
ändern. Der vielfach in der Phänomenologie verwendete Begriff des ‚Horizonts’
erhält hier seine ursprüngliche Bedeutung. Zur Wahrnehmung eines Gegenstands
gehören neben einer aktuell sichtbaren Perspektive auch solche, die bereits voll-
zogen sind und weiterhin gegenwärtig bleiben. Die Horizonthaftigkeit der Wahr-
nehmung verweist darauf, dass die optischen Eindrücke des Betrachters durch
Tast- und Greifbewegungen ergänzt oder überprüft werden können. Unterschiedli-
che Beobachtungen in einer Umgebung von verschiedenen Sinnhorizonten werden
alle erst über den Leib realisiert. Die vollständige Bedeutung der Lebenswelt zeigt
sich in dieser Form der Intentionalität, die nicht mehr passiv vom Bewusstsein
aufgefasst, sondern aktiv vollzogen wird. Grundlegend für den Vollzug von
Wahrnehmungen ist nicht nur die intellektuelle Konstitution eines Bewusstseins-
aktes, sondern die konkrete Empfindung, die der Leib dabei macht. Die Sinnes-
eindrücke resultieren aus Gesten der Arme, des Kopfes und der Positionierung der
Ohren oder Augen. Im Verlauf von Wahrnehmungsketten besitzt der Leib das
Potenzial, zielgerichtet Sinneseindrücke zu ergänzen, um sich eine Vorstellung
von seiner jeweiligen Situiertheit zu bilden. Er wird zur Bedingung der Möglich-
keit von Wahrnehmung überhaupt und ist kein funktionierendes Ding innerhalb
einer festgelegten Raumstruktur. Die sinnlichen Erfahrungen von Objekten, ob sie
getastet, gesehen oder gehört werden, verweisen darauf, „dass der Leib als Wahr-
nehmungsorgan des erfahrenden Subjektes ‚mit dabei ist’” (Id II 144).
Das Subjekt, das sich als Gegenglied der materiellen Natur konstituiert, ist
[…] ein Ich, dem als Lokalisationsfeld seiner Empfindungen ein Leib zuge-
hört; es hat das „Vermögen” („ich kann”) diesen Leib, bzw. die Organe,
in die er sich gliedert, frei zu bewegen, und mittels ihrer eine Außenwelt
wahrzunehmen (Id II 152).
Husserl thematisiert ferner, dass materielle Dinge „nur mechanisch beweglich und
nur mittelbar spontan beweglich” (Id II 152) sind. Dazu gehört auch der Körper
als physisches Objekt. Dagegen sind Menschen in ihrem Leib „unmittelbar spon-
tan frei beweglich, und zwar durch das zu ihnen gehörende freie Ich und seinen
Willen” (Id II 152). Hierdurch wird der Leib zum „Willensorgan” (Id II 151). Das
‚Orientierungsvermögen’ des Leibes ermöglicht dem Subjekt, die Welt durch
bestimmte Intentionen, wie z. B. ‚neugierig sein’, ‚abwesend sein’, ‚interessiert
sein’, ‚gelangweilt sein’, ‚traurig sein’ oder ‚müde sein’, zu erkunden. Diese Teil-
habe am weltlichen Geschehen und das Vermögen, die Dinge nicht nur zu klassi-
fizieren, sondern unter einem bestimmten Horizont allererst zu entdecken und zu
empfinden, macht die Eigentümlichkeit des Leibes innerhalb der Wahrnehmung
Analyse · 113
aus. Diese aktiv vollzogenen Bewegungen sind selber zielgerichtet und durch ein
bestimmtes Erkenntnisinteresse motiviert. Es bekundet sich ein Bewusstsein von
unserem Körper als Wahrnehmungs- und Empfindungsorgan, das von uns willent-
lich bewegt wird. Husserl bezeichnet dieses Vermögen als ‚Leibbewusstsein’. Der
Begriff verdeutlicht, dass Sinn nicht nur verbal über die Sprache oder das verstan-
desmäßige Nachvollziehen von Daten gegeben ist, sondern zu einem großen Teil
davon abhängt, in welcher Art und Weise sich Subjekte leiblich ausdrücken und
welche Wahrnehmungserlebnisse sie dabei besitzen.
1.2.2 Leibesempfindung/Doppelempfindung
Für Sinneseindrücke gilt grundsätzlich, dass sie auf eine doppelte Weise wahrge-
nommen werden. Wenn z. B. ein Gegenstand berührt wird, so ist der Leib einer-
seits ein Objekt, ein funktionales Mittel, um dingliche Eigenschaften wie Härte,
Wärme oder Glätte zu empfinden. Es ist aber auch möglich, sich andererseits auf
die wahrgenommenen Tastempfindungen zu konzentrieren, die durch Bewegun-
gen auf den Gegenstand hin erfahren werden. Beide Wahrnehmungsmodi gehören
mit zur spezifischen Charakteristik des Leibbegriffs in den Ideen II. Husserl ver-
anschaulicht diese doppelten Wahrnehmungsmöglichkeiten an den Empfindungen
einer auf dem Tisch liegenden Hand.
Die Hand liegt auf dem Tisch. Ich erfahre den Tisch als ein Festes, Kaltes,
Glattes. Sie über den Tisch bewegend erfahre ich von ihm und seinen ding-
lichen Bestimmungen. Zugleich aber kann ich jederzeit auf die Hand ach-
ten und finde auf ihr vor Tastempfindungen, Glätte- und Kälteempfindun-
gen usw., im Innern der Hand, der erfahrenen Bewegung parallel laufend,
Bewegungsempfindungen usw. Ein Ding hebend erfahre ich seine Schwere,
aber ich habe zugleich Schwereempfindungen, die ihre Lokalisation im
Leibe haben (Id II 146).
______________
120
Hier finden sich deutliche Bezüge zu den Termini ‚Leibesinseln’ und ‚eigenleibliches Spüren’
von Hermann Schmitz. Vgl. Schmitz 1965 sowie die Kapitel I.2.2.1 und V.2.1.2
114 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
tiver Vollzug dort, wo Menschen miteinander umgehen und sich darstellen. Ein
sich bewegender Mensch ist mehr als nur ein Körperding, das auf mechanische
Gesetzmäßigkeiten reagiert, weil seine Gestik und Mimik auf Stimmungen ver-
weisen, die von Anderen verstanden werden können. Die Doppelempfindung
besitzt folglich zwei Funktionen. Einerseits ist es dem Subjekt möglich, sich durch
den Leib in der Welt zu objektivieren, um sich den Dingen und Erscheinungen
tastend, sehend, schmeckend oder hörend zuzuwenden und sie zu entdecken. An-
dererseits kann sich das Individuum über den Leib darstellen und ausdrücken, weil
dieser Träger von Empfindungen ist, die subjektiv erfahren und durch Gesten
dargestellt werden können.
Ich sehe mich selbst, meinen Leib, nicht, wie ich mich selbst taste. Das, was
ich gesehenen Leib nenne, ist nicht gesehenes Sehendes, wie mein Leib als
getasteter Leib getastetes Tastendes ist. […] Ebenso verhält es sich mit
dem Hören. Das Ohr ist „mit dabei”, aber der empfundene Ton ist nicht im
Ohr lokalisiert. […]. Sie [die Töne, L.O.] liegen im Ohr wie Geigentöne
draußen im Raume liegen, sie haben aber darum noch nicht den eigentüm-
lichen Charakter von Empfindnissen und die diesen eigentümliche Lokali-
sation (Id II 148 ff.).
Das Auge oder das Ohr sind berührbar und geben dem Subjekt Wahrnehmungen
von der objektiven Welt. Sie bleiben dabei reine Tastobjekte, denen kein Lokalisa-
tionsfeld auf dem Körper entspricht. Im Sehen oder Hören ist das Subjekt einzig
auf Empfindungen angewiesen, die nicht äußerlich verkörpert werden können. In
diesen Wahrnehmungsformen bleibt das Individuum auf eine Innerlichkeit fokus-
siert, die keine objektivierbare Entsprechung hat. Die physische Präsenz und
gleichzeitige Spürbarkeit des Leibes im Tastsinn bleibt für Husserl wichtigstes
Kriterium zur Darstellung der Doppelempfindung.
Es ließe sich überlegen, ob in akustischen und optischen Sinneseindrücken nicht
ebenso Formen der Doppelwahrnehmung vorhanden sind. Schließlich ermöglicht
der Leib allererst ihre Vorhandenheit. Gerade die Kunst zeigt, dass Bilder oder
Töne durch den Leib produziert werden müssen, um wahrgenommen zu werden
Es bleibt hier der Verdienst von Merleau-Ponty, die Doppelempfindung für viel-
fältige Bereiche menschlicher Vollzugsformen ausgeweitet zu haben.
Analyse · 117
______________
122
Vgl. Good 1998, 33-50
123
Merleau-Ponty verwendete für die Ausarbeitung der ‚Phänomenologie der Wahrnehmung’
verschiedene unveröffentlichte Manuskripte von Husserl, die er im Husserl-Archiv in Löwen
einsah, darunter auch die ‚Ideen II’. Vgl. PhW 523
124
So behauptet z. B. Good, dass Merleau-Pontys „Abhängigkeit von Husserl und seine Ausein-
andersetzung mit ihm eine eigene Untersuchung wert” wären (Good 1998, 15).
118 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Seite verwendet Merleau-Ponty die Begriffe ‚corps physical’ oder ‚corps objectif’
bzw. ‚corps vivant’, ‚corps propre’ oder ‚corps phénoménal’.125
Nie ist es unser objektiver Körper, den wir bewegen, sondern stets unser
phänomenaler Leib […] (PhW 131).
Ein Diskurs über die Philosophie Merleau-Pontys legt nahe, sich auch mit der
Philosophie Sartres zu beschäftigen, in dessen Theorie der Körper- bzw. Leibbe-
griff eine eigenständige Stellung innehat.126 Auf Sartres Wahrnehmungsphiloso-
phie wird innerhalb der vorliegenden Analyse jedoch nicht näher eingegangen,
weil er die Doppelempfindung Husserls, das „Sowohl-als-Auch von berührender
und berührter Hand im Leib“ (Bermes 1998, 68), in einen Dualismus von entwe-
der ‚Leib für mich’ oder ‚Leib für andere’ auflöst. Die Doppelempfindung ist für
Sartre „nicht wesentlich“, sondern eine bloße „Kuriosität” (Sartre 1993, 629). In
der vorliegenden Analyse zeigt sich allerdings, dass gerade dieses Phänomen eine
der verbindenden Schnittstellen der Lehren von Husserl und Merleau-Ponty bildet.
Die Phänomenologie erhält hierdurch einen praktischen Sinn, da sie Möglichkei-
ten bietet, die Vollzugsformen individuellen Handelns stärker zu betonen.127
______________
128
Ich beziehe mich hier auf die summarische Darstellung wesentlicher Merkmale der Phäno-
menologie Merleau-Pontys durch Waldenfels. Vgl. Waldenfels 21998, 164 ff.
120 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
im Kontext weiterer Eindrücke steht, die eine selbständige höhere Einheit bilden.
Eine Melodie erschließt sich z. B. nicht nur durch die Aneinanderreihung von
Tönen, sondern entfaltet erst auf einer Metaebene ihre vollständige Gestalt. Das-
selbe lässt sich auch von der Bewegung behaupten, die nicht auf einzelne motori-
sche Bausteine beschränkt ist, sondern immer in einem größeren Formzusammen-
hang eingebunden erscheint.130 Die Kritik an einer intellektualistischen Wahrneh-
mungsweise richtet sich gegen den einseitigen Rückgang auf rationale Synthesen
im inneren Bewusstsein, die keinen Bezug mehr zur Realität besitzen. Der Intel-
lekt versucht durch Wahrnehmungsbündelungen ein Repertoire endgültiger Wahr-
heiten zu konstatieren, die vollständig kategorisierbar sind. Die alltägliche Le-
benswelt ist aber vor aller Analyse immer schon ‚vorhanden’ und kann nicht durch
Vorstellungen, die durch Verallgemeinerungen von Wahrnehmungen im Subjekt
eine Art absoluten Geist zu erkennen glauben, abgewertet werden. Das ‚Ego’
besitzt die Freiheit zu handeln und ist „verurteilt zum Sinn“ (PhW 16). Die Wahr-
nehmung unterliegt nicht intellektualistischen Synthesen, sondern bleibt eine stän-
dig neue, erfahrungsbildende Vollzugsleistung.
Die Einleitung zur ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ kritisiert beide einseiti-
gen Standpunkte des Empirismus bzw. Intellektualismus und „gipfelt in der An-
nahme eines gemeinsamen Weltvorurteils, nämlich der Annahme einer Welt, die
fertig vorliegt, sei es in Form von äußeren und inneren Tatsachen, sei es in der
Form von Ideen“ (Waldenfels 21998, 161). Beide Sichtweisen vergessen den ur-
sprünglich konstitutiven Status der Wahrnehmung, die immer mit offenen Hori-
zonten durchsetzt bleibt. Sinn und Bedeutung entstehen im Prozess ständig neuer
und spontaner Wahrnehmungsakte. Die Welt wird nicht reflexiv konstituiert und
ist nicht Auslegung eines vorhandenen Seins, sondern „der Kunst gleich, Realisie-
rung von Wahrheit” (PhW 17). Merleau-Ponty liegt daran, diese einseitige Beto-
nung eines Subjektivismus oder Objektivismus zu überwinden. Aufgabe der Phä-
nomenologie ist es, sich zwischen Natur und Denken, Individualität und Objekti-
vität zu behaupten, „um das Geheimnis der Welt und das Geheimnis der Vernunft
zu enthüllen” (PhW 18).
eine besondere, eigenständige Existenzweise: „Der Mensch ist zur Welt, er kennt
sich allein in der Welt” (PhW 7). Der Übersetzer der ‚Phänomenologie der Wahr-
nehmung’ R. Boehm verdeutlicht, dass das französische ‚être au monde’ eine
‚Hingebung’ des Subjekts an die Welt bedeutet, die sich aus dem Dativ ‚au’ bzw.
der deutschen Präposition ‚zu’ ergibt. Der Mensch wendet sich der Welt zu. Der
Ausdruck ‚est au monde’ kann bei Merleau-Ponty in der Regel mit ‚ist zur Welt’
übersetzt werden, wenngleich er ohne Zweifel dem ‚In-der-Welt-sein’ Heideggers
entlehnt ist.131 Die Welt ist dem Menschen stets zugänglich, weil er sich ihr zu-
wenden kann. Diese Zuwendung wird dem Menschen über seinen Leib ermög-
licht, der die grundlegende Bedingung bereitstellt, Wahrnehmungen zu erhalten
und sich die Welt anzueignen. Er „bewohnt” die Welt und ist ihr „zugeeignet”
(PhW 7). Im Begriff der Zueignung lassen sich beide integrativen Momente des
‚Zur Welt Seins’ veranschaulichen. Einerseits ist ein ‚Auftritt’ in der Welt ein
objektivierbarer und darstellbarer Vorgang, wenn Handlungen vollzogen werden.
Der Mensch geht auf etwas zu und macht sich etwas zu eigen. Andererseits zeigt
sich im Begriff Zueignung durch den Wortbestandteil ‚zu’ eine subjektive, verin-
nerlichende Tendenz, die auf die Individualität hinsichtlich des eigenen Erlebens
verweist. Die Wahrnehmungserlebnisse sind nur der eigenen Subjektivität zugäng-
lich und anderen Menschen verschlossen. Der Leib ermöglicht somit im ‚Zur
Welt-Sein’ die Auflösung einer dualistischen Interpretationsweise des Menschen
und hebt dagegen die aktiven Vollzugsformen lebensweltlichen Handelns und
Wahrnehmens hervor.
Das Zur-Welt-Sein des Leibes verbindet Natur und Geist miteinander und setzt
sich über einseitige rationalistische oder intellektualistische Interpretationen hin-
weg. Entgegen einer Trennung von zwei sich ausschließenden Konkurrenzen wird
die Phänomenologie um eine dritte Dimension erweitert, „aus der sich traditionel-
le Dichotomien wie Subjekt/Objekt, Geist/Natur, Bewusstsein/Körper, Vergan-
genheit/Zukunft, Individualität/Sozialität allererst durch den Bruch mit der Leben-
digkeit ihres Vollzugs ergeben“ (Meyer-Drawe 32001, 137). Diese dritte Dimensi-
on, die zwischen Subjekt und Objekt im Zur-Welt-Sein des Menschen verankert
ist, ermöglicht eine lebendige Dialektik von Wahrnehmen und Denken. Der Leib
______________
131
Vgl. PhW 7, Heidegger 1993, 17 ff.
Analyse · 123
ist durch das Verstehen von einer Negativität und Differenz gekennzeichnet, weil
durch die vielfältigen Handlungsvollzüge die Kontingenz von Sinn bewusst wird.
Das Zur-Welt-Sein „ist erlebt als „offene Situation“ (PhW 102).
2.3 Ambiguität
Die ‚Phänomenologie der Wahrnehmung’ etabliert den Leib als ein ständig im
offenen Vollzug stehendes Wesen, das zugleich Erfahrungen sinnlich wahrnimmt
und diese subjektiv empfindet. Hierdurch wird eine ‚Zweideutigkeit’ erkennbar,
124 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
die den Leib einerseits als einen Teilbereich der objektiven erscheinenden Welt
und andererseits auch als Träger subjektiver Empfindungen kennzeichnet. Mer-
leau-Ponty nennt diese Zweideutigkeit ‚Ambiguität’ (ambiguité). Ähnlich wie das
Wort ‚Ambivalenz’ verweist dieser Begriff auf zwei jeweils unabhängige Wahr-
nehmungsmöglichkeiten, die sich im Unterschied zu einer Zweiteilung oder einem
Dualismus aber auch überlagern, ergänzen oder durchkreuzen können.132 Durch
diese Zweideutigkeit des Leibes kann „nicht mehr zwischen Innen und Außen,
Zeichen und Bedeutung unterschieden werden“ (Bermes 1998, 79).
Die ‚Ambiguität’ lässt sich besonders anschaulich an der Motorik beschreiben. Sie
verdeutlicht, dass sich das Subjekt auf den Raum hin entwirft. Der Leib ist nicht
nur als Vorhandenes im Raum, sondern „er wohnt ihm ein” (PhW 169). Das
‚Wohnen’ verweist auf einen Aspekt der Vertrautheit, des Wissens um die Struk-
tur des Raumes und der Umgebung. Die leibliche Existenz beinhaltet eine „Bewe-
gung des Seins zur Welt” (PhW 102), in welcher ‚Welt haben’ und ‚Welt sein’
synonyme Begriffe bilden. So ist das Greifen nach einem Gegenstand kein blindes
Nehmen, sondern beinhaltet ein Wissen von der Entfernung, der Lage, den sicht-
baren und nicht sichtbaren Perspektiven sowie den physischen Möglichkeiten des
Leibes. Der Gegenstand ist keine abstrakte Vorstellung, sondern ein bestimmtes
Ding, „bei dem wir vorgreifend schon sind” (PhW 167) und das mit dem nötigen
Verhalten, einer Intention und mit einem bestimmten Vorhaben ergriffen und
verstanden wird. Diesen Vorgang bezeichnet Merleau-Ponty auch als ‚Einverlei-
bung’.
Erlernt ist eine Bewegung, wenn der Leib sie verstanden hat, d. h. wenn er
sie seiner ‚Welt’ einverleibt hat, und seinen Leib bewegen heißt immer,
durch ihn hindurch auf Dinge abzielen […]. Die Motorik steht also nicht
solcherart im Dienste des Bewusstseins, als transportiere sie den Leib an
einen Raumpunkt, den wir uns zuvor vorgestellt hätten (PhW 168).
______________
132
Dennoch unterscheiden sich Ambivalenz und Ambiguität. Während ein Sachverhalt in einer
ambivalenten Struktur unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden kann, so „deutet die
Charakterisierung ‚ambiguos‘ darauf hin, dass eine angeblich identische Sache im Erfah-
rungsprozess selbst etwas anderes wird“ (Meyer-Drawe 32001, 18) und sich somit über ihre
jeweilige mögliche Andersartigkeit (Kontingenz) auszeichnet. Einzelne Autoren bezeichnen
die Phänomenologie Merleau-Pontys als eine „Philosophie der Ambiguität“ (Meyer-Drawe
3
2001, 17). Merleau-Ponty selbst entlehnt den Begriff von Kierkegaard, um eine vom „mora-
lischen Standpunkt aus als defizitär zu beurteilende Zweideutigkeit“ zu unterlaufen (Meyer-
Drawe 32001, 17).
Analyse · 125
______________
133
„Apraxie: Unfähigkeit, Gegenstände ihrer Bedeutung gemäß verwenden zu können” (Dre-
ver/Fröhlich 51971, 51); „Agnosie: Unfähigkeit, Sinneseindrücke in ihrer Bedeutung zu erfas-
sen” (Drever/Fröhlich 51971, 42).
134
Das ‚Körperschema’ ist ein schematisches Struktur- und Funktionsbild vom eigenen Körper.
Es kommt aufgrund eines sich im Laufe der Entwicklung ständig vergrößernden Erfahrungs-
schatzes an kinästhetischen Wahrnehmungen zustande.
135
Auch Gabriel Marcel und Ernst Cassirer verwenden diesen Begriff als „Synthese vom Leibli-
chen und Seelischen” (Cassirer 91990, 109). Vgl. Marcel 1991
126 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
vielmehr am Rand meiner Wahrnehmung bleibt und dergestalt mit mir ist” (PhW
115). Er ist somit „niemals ‚völlig konstituiert’“ (PhW 117), sondern eröffnet
Perspektiven, Horizonte und Spielräume, die es überhaupt erst ermöglichen, von
Gegenständen zu sprechen. Die ‚Inkarnation’ gründet in den vorpersonalen, vor-
prädikativen und vorrationalen Bezügen unserer leiblichen Wahrnehmung, in
denen noch keine konkreten Sinnbezüge gegeben sind, vergleichbar mit dem Er-
ahnen einer Gestalt im Dunklen, deren Umrisse sich erst beim genaueren Beachten
bilden. Diese besondere Form der Wahrnehmung in „statu nascendi” (PhW 232)
ist ein noch vages und ungenau Gemeintes, das weder Subjektives noch Objekti-
ves beinhaltet. Die Wahrnehmung ist der „Fehler im Edelstein” (PhW 244) und
verweist auf etwas, das erahnt werden kann, aber selber noch keine eindeutige
Struktur besitzt. Die Erfahrung des Leibes muss als solche allererst noch entdeckt
werden. Sie findet ihre wahre Entsprechung in der Zweideutigkeit der menschli-
chen Existenz.
Mit dem Phänomen der Ambiguität etabliert sich ein ‚Pakt’ von leiblichem Emp-
finden und handelndem Vollzug, ohne in eine Trennung in empirische oder intel-
lektualistische Körperkonzepte zurückzufallen. In der Durchkreuzung dualisti-
scher Denkmodelle und der Verankerung des Leibes findet der Leib seine Stellung
zwischen der Exaktheit wissenschaftlicher Erkenntnis und Offenheit individueller
Erlebnisweisen.
2.4 Zwischenleiblichkeit
Merleau-Ponty nimmt dem Husserlschen Solipsismus „seinen Stachel“ (Walden-
fels 21998, 169), da er von einer natürlichen Umwelt ausgeht, in der auch der
Andere durch seinen Leib ‚verankert’ ist. Die Konstitution des Anderen leistet
nicht das transzendentale Bewusstsein, sondern die Wahrnehmungsweise des
Leibes.
Nichts verbirgt sich hinter einem Gesicht oder einer Geste, keine mir un-
zugängliche Landschaft, gerade nur eben ein wenig Schatten, der nur dem
Licht entstammt. Für Husserl hingegen gibt es bekanntlich sehr wohl ein
Problem des Anderen, ist das alter ego ein beunruhigendes Paradox
(PhW 9).
Durch den Leib zeigt sich der Andere in seinem ‚Zur-Welt-Sein’. Zwar bleibt eine
Nähe zu Husserls Appräsentation erhalten, wenn die eigene leibliche Existenz auf
den Anderen ‚übertragen’ wird. Dessen Anerkennung wird aber nicht reflexiv von
Analyse · 127
einem isolierten Ego hinsichtlich der Lösung des solipsistischen Problems geleis-
tet, sondern vollzieht sich durch den individuell handelnden Leib. Innerhalb des
Zur-Welt-Seins sind zwischenmenschliche Verflechtungen immer schon gegeben
und bilden eine „wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertrau-
te Weise des Umgangs mit der Welt“ (PhW 405). Die konstitutive Bedeutung des
Leibes im intersubjektiven Umgang drückt Merleau-Ponty mit dem Begriff ‚Zwi-
schenleiblichkeit’ (intercorporeité) aus. In der Vorsilbe ‚inter’ findet sich der zwi-
schenmenschliche Bezug und der Verweis auf eine faktisch vorhandene und ge-
meinsam gestaltbare Welt wieder. Merleau-Ponty spricht hierbei auch von ‚Ko-
existenz’ (coexistence). Unterschiedliche menschliche Verhaltensweisen greifen
ineinander und etablieren eine intersubjektive Kulturwelt, wo sich Eigenes und
Fremdes wie in einem Gewebe (un tissu) miteinander verknüpfen. Sie prägen eine
eigene Form von Sozialität.136 Verhaltensformen sind nicht eindeutig klassifizier-
bar oder deutbar. Vielmehr bildet sich eine anonyme Kollektivität, eine ‚Zwi-
schenwelt’ (intermonde), in der sich Sozialisierung und Individualisierung als ein-
und dasselbe Phänomen wiederfinden lassen. Durch diese Sichtweise sind „Ein-
samkeit und Kommunikation […] nicht Gegensätze, sondern nur zwei Momente
eines einzigen Phänomens” (PhW 411). Einsam ist das Subjekt nie, weil der An-
dere faktisch vorhanden ist wie die eigene Existenz, aber andererseits sind es die
je individuellen Erfahrungen, die eine Existenz auszeichnen. Merleau-Ponty „ret-
tet gleichsam den Anderen, indem er zeigt, wie der Andere als Anderer in einer
gemeinsamen Situation zugänglich wird und zugleich abwesend bleibt“ (Bermes
1998, 92). Die Ambiguität der An- und Abwesenheit Anderer verweist auf die
„Komödie eines Solipsismus unter vielen” (PhW 411).
Auch das Wort Sinn erhält eine neue Bedeutung. Wahrnehmung vollzieht sich
über die Sinne, gibt Sinn und ist sinnvoll. Während die idealistische Philosophie
darum bemüht war, Sinn in Form von Denkkategorien und Verinnerlichungen zu
definieren, blendet sie die ganze Mannigfaltigkeit der Sinnlichkeit und damit auch
______________
137
Ausführlich hierzu vgl. Kap. V.3.1.1
138
Merleau-Ponty betont ausdrücklich, dass der Leib die Bewegung ‚versteht’. Er verwendet
hierfür das französische Wort ‚attrapé’, das in der deutschen Sprache soviel wie ‚erfasst’ be-
deutet. Im Originalmanuskript fügt er ergänzend in deutscher Sprache den Begriff ‚kapiert’ in
Klammern hinzu. Vgl. PhW 172
Analyse · 129
den dazugehörigen „Un-Sinn“ und die „Kontingenz der Inhalte“ (PhW 177) im
individuellen Verstehen aus. Die Erfahrung des Leibes widersetzt sich der An-
nahme eines universal konstituierten Bewusstseins, weil sie ein Grundvermögen
des Menschen kennzeichnet, sich der alltäglich erfahrbaren Lebenswelt offen
verstehend zuzuwenden und das ganze Spektrum ihrer ‚Sinnhaftigkeit’ zu erfah-
ren.
weiterung des Leibes, wodurch eine einseitig rationale Bewertung von Raumab-
ständen und Druckeigenschaften ausgeschlossen wird. Die Gewohnheit repräsen-
tiert den „Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern“ (PhW
173). Im ständigen Erwerb neuer Handlungsspielräume in einer den Menschen
vertrauten Lebenswelt liegt auch eine Erweiterung des Verhaltens und eine Ver-
änderung der Existenz begründet. Der Mensch lebt nicht nur ‚in’, sondern auch
‚mit’ einer Welt, die er im Zur-Welt-Sein erfasst und beständig gestaltend verän-
dern kann.
scher Vollzug resultiert weniger aus der geplanten Ausübung von Gesten als viel-
mehr aus einer offenen Verbindung zwischen dem Akt des Musizierens und der
erklingenden Musik. Die Gesten des Organisten stehen mit den Ausdrucksmög-
lichkeiten in einem direkten Zusammenhang.
______________
142
‚Durchgangsort’ klingt fremd und unpersönlich. Im Original spricht Merleau-Ponty von „lieu
de passage“ (Merleau-Ponty 1945, 170). Der darin vorkommende Begriff der Passage ver-
deutlicht das Durchkreuzen. Er ist ferner ein zentraler Begriff bei Walter Benjamin und ge-
winnt auch für den erweiterten Kunstbegriff im 20. Jahrhundert eine bedeutende Stellung.
Vgl. Benjamin 1982; Rautmann/Schalz 1998
132 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
______________
143
In dieser positiven Deutung des Sehens wird der Unterschied zur Phänomenologie Sartres
deutlich, der im Blick zwar eine Form der Intersubjektivität im Für-Andere-Sein sieht, aber
hieraus dann eine Degradierung des Subjekts zu einem Objekt durch einen Masochismus
bzw. Sadismus annimmt.
144
Vgl. z. B. PhW 18, 160, 181, 373-374
145
Vgl. Merleau-Ponty 2000, 11 ff.; der Essay lässt sich auch als Psychogramm Cézannes ver-
stehen. Vgl. auch Jamme 1991, 113 ff.; Bach 2000, 64 ff.
Analyse · 133
Der Maler kümmert sich gerade um das, macht gerade das zu einem sicht-
baren Gegenstand, was ohne ihn im je einzelnen Bewußtsein eingeschlos-
sen bliebe: die Vibration der Erscheinungen, die die Wiege der Dinge ist
(Merleau-Ponty 2000, 23).
Betrachte ich das schimmernde Grün einer Vase von Cézanne, so lässt es
mich nicht denken an die Keramik, sondern macht sie mir gegenwärtig
(PhW 381).
______________
146
So malt Cézanne z. B. Äpfel in seinen Stilleben mit einer zusätzlichen blauen Umrandung.
Die Erscheinung, die sich im Bild ausdrückt, wird um die impressionistische Sinnesempfin-
dung bereichert.
147
„Wir keimen” oder „alles im Lot“ (Gasquet 1926, 81 ff.) nannte Cézanne diesen Vorgang.
Vgl. auch PhW 160
134 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Seine Malerei wäre demnach ein Paradox: Sie sucht nach der Realität, oh-
ne die Empfindung zu verlassen, ohne sich an etwas anderem zu orientie-
ren als an der Natur in der unmittelbaren Impression […] (Merleau-Ponty
2000, 16).
Dieses Paradox, sowohl die individuelle Empfindung und gleichzeitig die abbil-
dende Realität darzustellen, ist vergleichbar mit Merleau-Pontys Bemühen, tradi-
tionelle Subjekt/Objekt-Dualismen zu überwinden, um die Ambiguität der Wahr-
nehmung als potenzielles künstlerisches Ausdrucksmittel anzuerkennen. Das Ge-
mälde ist für Merleau-Ponty zwischen faktischer Objektivierbarkeit und reiner
Impression angesiedelt. Es ist materielos, weil es sich fiktiv mit dem Spiel von
Form, Licht, Perspektive, Raum und Zeit auseinander setzt. Gleichzeitig ist es
aber auch ein über den Leib Gesehenes und Vorhandenes. In dieser Zweideutig-
keit konstituiert sich das malerische Kunstwerk. Die Ambiguität des Malens wird
besonders in Cézannes ‚Gesprächen mit Bernard’ deutlich, in denen er sich gegen
einseitige Alternativen von Sinnlichkeit oder Intelligenz wehrt und die Grenze
zwischen den Sinnen und dem Verstand durch eine neue Optik, das Paradox einer
‚vision logique’, überwinden will.148
Obwohl öfters kritisiert worden ist, dass Merleau-Ponty eine Philosophie im „Vor-
recht des Sehens“ entwirft (Tilliette/Métraux 31991, 189), verdrängt die visuelle
Wahrnehmung aber die anderen Sinne nicht, sondern stellt Synästhesien zu den
akustischen und taktilen Bereichen her. Der Mensch orientiert sich mit seinem
Leib im Raum und nimmt je nach seiner Stellung eine bestimmte Haltung ein. Er
appräsentiert verschiedene Sichtweisen und erfährt so einen individuellen Ge-
samteindruck von seiner Umwelt. Dieser Akt wird vom Maler ästhetisch ausge-
wertet. Die Handbewegungen und die Pinselführung dienen ihm dazu, die über
den Leib erhaltenen Wahrnehmungen auf das Bild zu übertragen. Die Leinwand
und der darstellende Akt des Malens verbinden sich. So wie sich der Organist im
Instrument verkörpert, so wird für den Maler die Leinwand zur Verlängerung des
Leibes und bildet die Fortsetzung seiner visuellen Wahrnehmung. Der Maler kann
so alle erlebten Wahrnehmungen auf ein Bild übertragen und künstlerisch ausdrü-
cken.
______________
148
„J’entends par optique une vision logique, c’est-à-dire sans rien d’absurde” (Cézanne, zit.
nach Merleau-Ponty 1948, 22).
Analyse · 135
______________
149
Der von Husserl stammende Terminus der ‚stummen Erfahrung’ wird auch in der Musikpä-
dagogik verwendet. Jürgen Vogt fragt nach der „stummen Erfahrung von Musik“ (SBL 141)
und sucht einen Ausweg aus der ästhetischen Krisis der Musikpädagogik. Ausführlich hierzu
vgl. Kap. V.1.2
150
Der Begriff ‚Kunstwerk’ umfasst bei Merleau-Ponty im traditionellen Sinne die Werke der
Malerei, der Musik und Literatur. Während in den Beispielen für den Bereich der Malerei
Paul Cézanne und für die Literatur Marcel Proust öfters erwähnt werden, nennt Merleau-
Ponty für die Musik keine Komponisten oder Interpreten.
136 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
werden, sondern zeigen sich erst über die einheitsstiftende Funktion der Wahr-
nehmung. Trotz der Einheit sind sie beide offen und vieldeutig.
Merleau-Ponty sieht neben dem Tanz und der Musik auch in der Literatur eine
Bestätigung dieses Vergleichs. Besonders in der gesprochenen Sprache zeigt sich,
dass weniger der verbindliche semantische Gehalt oder einzelne Worte als viel-
mehr der Ton und die Gesten die Bedeutung des Textes ausmachen. Im Sprechen
teilt sich ein Ich mit und vollbringt sein Denken. Daher gehört zur Sprache ihre
Aussage und das zuhörende Verstehen der Anderen. So hat ein Gedicht zwar eine
erste Bedeutung durch die jeweilige Struktur der Zeichen, aber bestimmt sich im
Wesentlichen durch die Art und Weise des Vortrags. Dieser verweist wiederum
auf das Ausdrucksvermögen des Leibes. Er bildet die grundlegende Vorausset-
zung zum Sprechen, weil er den Worten eine zusätzliche Bedeutung gibt. Hier-
durch ist es möglich, „den Akt des Sprechens in seiner wahren Physiognomie zu
erblicken“ (PhW 215).
Diese eigenständige Sprachlichkeit des Leibes gilt auch für die Musik. Eine Sona-
te teilt sich nicht durch die einzelnen Töne, bzw. Zeichen mit, sondern entfaltet
ihren Sinn in der Bedeutung der Töne. Ein Notentext wird erst durch den handeln-
den Leib und dem damit verbundenen subjektiven Ausdrucksvermögen realisiert.
Besonders zeitgenössische Kunst ist auf kreativ handelnde Akte angewiesen, da
sie sich nicht mehr auf ‚das ästhetische Wohlgefallen’ beruft und allgemein ästhe-
tische Beurteilungskriterien voraussetzt, sondern die Tätigkeit selbst im Sinne des
erweiterten Kunstwerkbegriffs als Musik versteht.151
Neue Musik oder Malerei, die zunächst kein Verständnis findet, schafft sich
endlich ihre Gemeinde selbst, wenn sie nur wahrhaft etwas sagt, dadurch
m. a. W., daß sie selbst ihre Bedeutung kundtut (PhW 213).
Die sichtbaren Zeichen der Kunstwerke, also Leinwand, Text oder Partitur werden
ihrer empirischen Realität entrissen und in eine ‚andere Welt’ versetzt. Merleau-
Ponty verwendet hierfür den Begriff der ‚existenziellen Modulation’.152 Dabei
bildet ein Gedicht ein immaterielles Sein und löst sich „von jederlei materiellem
Grund“ und ist immer noch „eingeschlossen in die Worte auf einem Stück Papier“
(PhW 181). So wie der Leib sich sowohl über seine Motorik als auch über die
dazugehörigen Empfindungen bestimmt und in der Form der Ambiguität sein
______________
151
Ausführlich hierzu vgl. Kap. V.3
152
Vgl. PhW 181 ff.
Analyse · 137
Ein Roman, ein Gedicht, ein Bild, ein Musikstück sind Individuen, d. h. We-
sen, in denen Ausdruck und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind
[…]. In diesem Sinn ist unser Leib dem Kunstwerk vergleichbar (PhW
181 f.).
Das Zitat verdeutlicht den hohen Stellenwert der Ästhetik in der Phänomenologie
Merleau-Pontys. Die ästhetische Erfahrung eines Kunstgegenstandes, also auch
die eines Musikstücks, verweist immer auch auf den grundlegenden Produktions-
prozess des Leibes. Das Zur-Welt-Sein, die Ambiguität und die Zwischenleiblich-
keit bilden mögliche Ansatzpunkte, um ästhetische Erfahrungen von einem einsei-
tig objektiven oder rein subjektiven Status zu befreien.
138 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
IV ERGEBNISSE
Ein jeder, der mich sieht, spürt, daß das schwache Haus, der Leib, wird
brechen ein noch inner wenig Stunden.
(Andreas Gryphius 1961, 251)
______________
153
In den Ergebnissen wird ansatzweise den Forderungen Ehrenforths Rechnung getragen, dass
eine „Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty (‚Phänomenologie der Wahrnehmung’) für den
Bereich der Musikpädagogik eine wichtige Aufgabe“ ist (Ehrenforth 2001b, 52). Schon 1987
äußerte Ehrenforth in Überlegungen zum Verhältnis von Anthropologie und Musikpädagogik,
dass eine Beschäftigung mit der ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ von Merleau-Ponty
„lohnenswert zu bedenken wäre“ (Ehrenforth 1987, 68). Das gilt v. a. für die „leibhaften und
damit nicht gegenständlichen Wahrnehmungsformen“ (Ehrenforth 1987, 68).
Ergebnisse · 139
1.1 Zweideutigkeit
Der Leib zeichnet sich durch eine ‚Ambiguität’ aus, die ihm eine zweideutige und
doppelseitige Struktur zuschreibt.155 Die traditionsgebundene und wissenschaftlich
verankerte Option, die menschliche Seinsweise dualistisch einzuteilen, ist unzu-
reichend. Trennungen wie Körper/Geist, Leib/Seele, Objekt/Subjekt, Sein/Be-
wusstsein oder Aktivität/Passivität resultieren aus dem Versuch, menschliche
Grundeigenschaften so zu strukturieren, dass ein Ungleichgewicht der Teile zum
Ganzen feststellbar erscheint. Modelle, die diese Dualismen in Form einer Ganz-
heit zu überwinden versuchen, stellen zumeist einen Kompromiss dar, um ein
Gleichgewicht wieder herzustellen. Sie bieten aber keinen selbständigen Lösungs-
vorschlag an und fragen auch nicht nach dem Grund der Trennung.156 Der phäno-
menologische Leibbegriff versucht dagegen beide Seiten in ihren eigenständigen
Funktionen zu akzeptieren, um in ihrer wechselseitigen Ergänzung eine kontin-
gente Einheit festzumachen. Der Mensch findet sich nicht in einer Trennung von
‚Körper haben‘ und ‚Leib sein‘, sondern steht zwischen Präsentation und Apprä-
sentation und ist sowohl objektiver Bestandteil der Welt als auch subjektive Exis-
______________
154
Zur Begriffsverwendung von ‚Körper’, ‚Leib’, ‚phänomenologischer Leibbegriff’ und ‚Leib-
lichkeit’ vgl. Kap. I.2.1 und Kap. IV.1-IV.3
155
Waldenfels bezeichnet die Zweideutigkeit (‚équivoque’) des Leibes bei Merleau-Ponty als
eine „schlechte Ambiguität“ (Waldenfels 1987, 174). In späteren Ausführungen relativiert er
seine negative Sichtweise. Merleau-Ponty selbst verwendet den Begriff für die zahlreichen
Beschreibungen der lebensweltlichen Situiertheit des Leibes. So existiert ein zweideutiges
Milieu (‚milieu équivoque’) oder ein Ort der Zweideutigkeit (‚lieu d’équivoque’). Vgl. Mer-
leau-Ponty 1945, 194
156
Auch die Gestaltpsychologie verdeutlicht, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile
sei. Im Unterschied zu einer Ganzheit ist eine Gestalt durch ihre Struktur gekennzeichnet, die
diskontinuierlich verlaufen kann. „Insofern kann mit dem Ganzheitsbegriff auch der zentrale
Gedanke der pädagogischen Relevanz der Andersheit des Anderen nicht berücksichtigt wer-
den“ (Schaller 1995, 38).
140 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Der Leib ist hinsichtlich seiner Doppelempfindung, die Husserl und Merleau-
Ponty gleichermaßen hervorheben, zugleich darstellend als auch empfindend.
Diese beiden Erkenntnisweisen überlagern sich, so dass Handlung und Gestaltung
nicht als rein expressive oder mechanische Darstellungsweisen zu begreifen sind,
sondern zwischen individuellem Ausdruck und kontrollierter Rationalität liegen.
______________
157
Es ist wichtig, zwischen Schnittstelle und Schnittmenge zu unterscheiden. Während eine
Schnittmenge nach einer Übereinstimmung zweier disparater Elemente sucht, betont eine
Schnittstelle gerade ihre jeweilige Eigenständigkeit.
Ergebnisse · 141
Die Zwischenstellung des Leibes wird als konstitutive Möglichkeit begriffen, neue
Horizonte von Handeln und Wahrnehmen zu erfassen. Die Offenheit und Vieldeu-
tigkeit der Welt zu verstehen lernen, heißt, die wechselseitige Durchdringung von
Positivem und Negativem, von Ego und Alter, von Körper und Geist anzuerken-
nen. Der Leib bildet somit ein Vakuum, das auf seine Undurchdringlichkeit ange-
wiesen bleibt, um die Unabgeschlossenheit menschlicher Vollzugsformen und die
Mehrdeutigkeit des Sinns zu entfalten. Die Zweideutigkeit des Leibes bestimmt
sich über eine Differenz, die ihn letztlich unfassbar macht und wo jede Form der
Beschreibung oder systematischen Erfassung zu spät kommt. Sie beinhaltet eine
produktive, nicht zu überwindende Negativität.
Hierdurch wird auf Möglichkeiten und Grenzen einer ‚schwankenden Lebenswelt’
hingewiesen, die eindeutige Fundamente für alltägliche Sinnsetzungen, wissen-
schaftliche Konstruktionen und institutionelle Regelungen negiert und eben nicht
auf Scheinaussagen zurückzuführen ist. Die ‚Zweideutigkeit’ verweist immer auch
auf einen Spielraum, eine Vielfalt von Verhaltensmuster, Regelungen, Interaktio-
nen, die nicht deterministisch zu bestimmen sind.158 Die damit verbundene Ambi-
guität des Leibes bestimmt den Menschen als eine Existenz, die nie ganz Objekt,
Physis, Sache oder Naturding und nie ganz Subjekt, Psyche, Bewusstsein oder
geistiges Wesen ist. In der radikalisierten Zwischenstellung zerspringt und zer-
splittert das Gewöhnliche und Alltägliche, das immer schon Gedeutete.159
1.2 Intersubjektivität
Der Leib begründet Formen von Sozialität. Das betrifft die Auflösung des Solip-
sismus, der den Menschen als alleiniges, einzig bewusstes Wesen in der Lebens-
welt deklariert. Dort bleibt die Existenz anderer Menschen zweifelhaft, da ihre
Subjektivität nicht zu erkennen ist. Sowohl Merleau-Ponty als auch Husserl plä-
dieren für eine Intersubjektivität, die sich allererst über den Leib realisiert. Husserl
begründet sie durch eine Spiegelung oder Analogisierung des eigenen mit dem des
anderen Leibes, woraus auf ein fremdes Ich geschlossen werden kann. Hier dient
der Leib als ‚Umschlagstelle’, an welcher die fremde Subjektivität bewusst, aber
niemals völlig zur Deckung mit dem eigenen Ego gebracht werden kann.160 Mer-
______________
158
Zum Begriff des ‚Spielraums’ vgl. Waldenfels 1980
159
Vgl. Foucaults Begriff der ‚dispersion’ und Derridas Begriff der ‚dissémination’
160
Vgl. Meyer-Drawe 32001, 95; Auch Waldenfels benutzt den Begriff ‚Umschlagstelle’ zur
Erklärung spezifisch musikalischer Sachverhalte. Vgl. Kap. V.1.1
142 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
1.3 Ausdruck
Eine Geste wird über den Leib dargestellt und besitzt einen dazugehörigen Aus-
druck, der wiederum mit einer bestimmten Intention oder Stimmung verbunden
ist. Trauer, Freude, Schmerz, Ärger oder Angst verweisen auf eine sichtbare oder
hörbare ‚Bedeutung‘. Dieses Verhältnis ist aber kein Analogieschluss oder eine
Erkenntnisleistung, so dass über die Ähnlichkeit einer Gebärde automatisch auf
die psychische Befindlichkeit geschlossen werden könnte. Es existiert kein deter-
miniertes Ausdruckssystem, das dazu geeignet erscheint, Stimmungen am Leib
‚abzulesen’. Konventionen sind an rituelle Kontexte und an historisch tradierte
Konventionen gebunden. Gesten unterliegen weniger physiologischen Vorausset-
zungen als kulturellen Habitualitäten.161 Sie können sich wie Konventionen inner-
halb der Sprache von der Situation ihrer Entstehung lösen und einen eigenständi-
gen leiblichen Sinn annehmen.
Ein Ausdruck entsteht durch eine direkte, spontane und gleichursprüngliche Ver-
mittlung von Intention und Geste. Denken und Tun durchdringen sich und führen
zu leiblichen Darstellungen, die von Anderen vielfach gedeutet und intersubjektiv
______________
161
Japaner lächeln z. B. im Zorn.
Ergebnisse · 143
verstanden werden können. So ist allein der Leib dazu imstande, den für das den-
kende Subjekt noch nicht greifbaren, emotionalen Zustand in einer sinnvollen
Geste zusammenzufassen und auszudrücken. Während Husserl Physisch-
Wahrgenommenes und Subjektiv-Empfundenes im Rahmen der Doppelempfin-
dung durch unterschiedliche Formen der Aufmerksamkeiten zu trennen versucht,
sieht Merleau-Ponty beide Momente im unaufhebbaren Zur-Welt-Sein des Leibes
integriert.
Der leibliche Ausdruck wird vornehmlich in der Kommunikation eingesetzt. Den
Gesten wohnt ein Bedeutungspotenzial inne, das intuitiv erfasst werden kann.162
Dabei zeichnen sich Ausdruckshandlungen durch ihre Mehrdeutigkeiten und
Missverständnisse aus. Entgegen Husserls Vorstellungen einer Analogiebildung
des Anderen in Form einer Einfühlung, welche den fremden Leib zum Duplikat
des eigenen Selbst modifiziert, hebt Merleau-Ponty geradezu die Differenz zwi-
schen eigener und fremder Ausdrucksgebärde hervor, um die Offenheit
intersubjektiver Gesten aufzuzeigen.163 Ein Ausdruck setzt nicht nur zwei Teile im
Sinne eines ‚sowohl als auch’ zusammen, sondern besteht aus einem permanenten
Ungleichgewicht, einem „Überschuss“ (Waldenfels 1994, 214), der zwei Seiten
niemals vollständig zur Deckung bringen kann. Da eine Ausdrucksgeste nicht
festgelegt ist, besteht das Bedürfnis, etwas Neues mitzuteilen oder zu verstehen.
Der kommunikative Prozess lebt gerade von einer Offenheit wechselseitigen
Reagierens und Antwortens.
Ein ‚Ausdruck’ basiert also auf Handlungen, die den verborgenen Sinn verdeutli-
chen und je nach Konkretion zur Verständigung mit dem Anderen führen. Gerade
die Missinterpretation verdeutlicht, dass Ausdruckshandlungen niemals als stati-
sches System erscheinen, sondern auf beständige Negativität angelegt sind, wo-
durch sie zur permanenten Erweiterung des individuellen Repertoires führen.
Demzufolge beinhalten sie nicht nur das grundlegende Potenzial zur Bildung von
Intersubjektivität, sondern zeigen das Subjekt in seiner individuellen Faktizität
und geschichtlichen Existenz.
______________
162
Nach Merleau-Ponty ist auch die gesprochene Sprache als leibliche Gebärde „unmittelbarer
Ausdruck einer begrifflichen Bedeutung in statu nascendi“ (Grams 1978, 40). Vgl. PhW 219
163
Merleau-Ponty nimmt hier Jacques Derridas Kritik an der Einfühlungsthese Husserls vorweg.
Demnach ist die Beziehung zum Anderen „als Nicht-Präsenz die Ureinheit des Ausdrucks“.
Denn dann bedarf das Ich nicht länger „des Durchgangs durch die Physis oder irgendeiner
Form von Appräsentation überhaupt“ (Derrida 1979, 94).
144 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
1.4 Erweiterung
Der Umgang mit Gegenständen ist nicht nur auf eine reine Benutzung oder Ver-
wendung für einen bestimmten Zweck beschränkt. Dinge stehen in einem größe-
ren Verweisungszusammenhang, haben einen vertrauten Platz im alltäglichen
Gebrauch und dienen zur Orientierung im Raum. Besonders deutlich zeigt sich die
Erweiterung im Zuge gewohnter Handlungen. In einem vertrauten Umgang mit
Gegenständen ist ihre dingliche Erscheinungsweise niemals fraglich.164 So reflek-
tiert ein Autofahrer nicht über die einzelnen auszuführenden Bewegungen, wie
auch einem Kranken beim Laufen mit einer Gipsschiene diese Einschränkung
nach einer Eingewöhnungszeit nicht mehr auffällt. Die Gegenstände werden durch
die Gewohnheit Bestandteile des ‚Zur-Welt-Seins’. Husserl sieht in der Bewegung
des Leibes auch die Bewegung eines ‚Willens’, der eng mit einem Vermögen und
Können verbunden erscheint. Im Gegensatz zu mechanisch bewegbaren materiel-
len Dingen steht der Leib in einer komplexen Wahrnehmungsreihe, da er sich in
seiner Räumlichkeit auskennt, im Raum eingebunden erscheint und diesen selbst
konstituiert. Durch den Leib vergrößert das Subjekt infolge von Appräsentationen
sein Orientierungsvermögen, und sein Wissen von erscheinenden Gegenständen
wird um eine pure aktuelle gegenwärtige Sichtbarkeit erweitert. Gleichermaßen
konstituiert der Leib Gegenstände nicht nur von der Jetzt-Situation, sondern voll-
bringt Synthesen, die durch aktuelle Präsenz mitgegenwärtig erscheinen. Diese
Gesamtheit von Anschauungen kann erst durch den Leib realisiert werden.
Die Fähigkeit des Menschen, sich Dinge anzueignen und sich in ihnen ‚einzurich-
ten’, kann als eine ‚Erweiterung’ des Leibes bezeichnet werden. Dieser erweitert
also nicht nur auf physiologischer Basis den Bewegungsumfang, sondern aktiviert
ein neues Wahrnehmungsbewusstsein. Diese zweigleisige Erweiterungsform des
traditionellen ‚Orientierungsvermögens’ beinhaltet zum einen eine Veränderung
des gewohnten Verhaltensspektrums und zum anderen eine Erweiterung individu-
ell-sinnlicher Erfahrungen, die das gewohnte räumliche Umfeld neu erleben las-
sen. Beide Momente bilden einen eigenständigen Aufgabenbereich, repräsentieren
aber, je nach Aufmerksamkeit, in ihrer wechselseitigen Verflechtung eine Einheit,
die nur zusammenhängend erfahren werden kann.
______________
164
Vgl. auch Heideggers Unterscheidung zwischen ‚Vorhandenheit’ und ‚Zuhandenheit’ in
Heidegger 171993, S. 66-72
Ergebnisse · 145
______________
165
Sofern in der folgenden Darstellung der Terminus ‚Leib’ gewählt wird, handelt es sich um
den in der phänomenologischen Analyse gewonnenen Leibbegriff. Da ‚Körper’ sich v. a. auf
die mechanisch funktionelle Seite von Bewegungen bezieht, wird dieser Terminus vermieden.
Nur in Zitaten und in der Darstellung von Sekundärliteratur wird im Rahmen der korrekten
Quellenangaben auf den Begriff ‚Körper’ zurückgegriffen, wie z. B. in der Darstellung der
Kompositionsästhetik Schnebels. Vgl. Kap. V.2.2.2
146 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
det. Dieser Begriff wird also im Rahmen dieser Arbeit als feststehender Terminus
beansprucht, dessen eigentümliche Typik im Folgenden dargelegt werden soll.166
Wie bereits in Kapitel II.3.2 gezeigt worden ist, findet zwar auch im musikpäda-
gogischen Diskurs eine Körperkritik statt, die vereinzelt ‚Leiblichkeit’ fordert oder
von ‚leiblich‘ oder ‚Leib‘ spricht, dennoch kann auch hier im strengen Sinne keine
eigenständige Begriffsbildung mit qualitativen Schwerpunkten entdeckt werden.
Eine Etablierung von ‚Leiblichkeit’ beinhaltet eine auf den ersten Blick ‚riskant’
erscheinende Transformation der aus der phänomenologischen Forschung resultie-
renden Topoi in musikpädagogische Zusammenhänge. Die damit verbundene
Zielsetzung, ‚etwas als etwas’ in praktische Verweisungszusammenhänge stellen
zu wollen, benötigt die Gewissheit und Adäquatheit dieser Operation, die nun
auch gerade für musikpädagogische Forschungen oftmals als unzulänglich und
unangemessen kritisiert worden ist.167 Paradigmatisch kann hier die Transforma-
______________
166
Der Begriff ‚Leiblichkeit’ ist auch in verschiedenen pädagogischen, medizinischen oder
theologischen Positionen vorherrschend, ohne hier eigens eine verbindliche terminologische
Gültigkeit zu beanspruchen. Weitestgehend wird er synonym mit ‚leiblich‘ verwendet, um
ganz im Sinne der etymologischen Deutung auf das individuelle Leibsubjekt hinzuweisen und
sich von einem allgemeinen Körperobjekt abzusetzen. Innerhalb pädagogischer Forschungen
hat sich v. a. Klaudia Schultheis ausführlich mit dem Verhältnis von ‚Leiblichkeit, Kultur und
Erziehung’ auseinandergesetzt. Sie vertritt die Position, dass „das verbindende Glied zwi-
schen kindlichem Lernen, elementarer Erziehung und Kultur in der Leiblichkeit zu finden ist“
(Schultheis 1998, 12). Der Leib dient dem Kind als ein „Fundament des Lernens“ (Schultheis
1998, 14), so dass es in Beziehung zur Welt treten und an der Kultur partizipieren kann. In
der Medizin taucht der Begriff ‚Leiblichkeit’ v. a. innerhalb der ‚Integrativen Bewegungs-
und Leibtherapie’ auf. Dort gilt der Mensch als ein ganzheitliches Körper-Seele-Geist-
Subjekt, das in einem sozialen und ökologischen Umfeld steht. Mittels bewegungstherapeuti-
scher und psychomotorischer Übungen kann diese Therapieform übungszentriert, funktional
oder erlebniszentriert mit klinischem, heilpädagogischem, präventivem oder rehabilitativem
Ziel eingesetzt werden. Vgl. hierzu v. a. Petzold 1985; in theologischen Untersuchungen wird
Leiblichkeit als konstitutives Element von Schöpfung und Erlösung beschrieben. Die von
Friedrich Christoph Oetinger aufgestellte These ‚Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes’
geht davon aus, dass sich die ‚Leiblichkeit Gottes’ in der Entwicklung der Welt verwirklicht.
Käthe Meyer-Drawe beschäftigt sich in ihrem Buch ‚Leiblichkeit und Sozialität’ unter
schwerpunktmäßiger Berücksichtigung der Phänomenologie Husserls und Merleau-Pontys
mit Untersuchungen zur Leiblichkeit kindlicher Rationalität. Durch eine Kritik an der Ent-
wicklungspsychologie Piagets versteht sie die kognitiven Potenziale kindlichen Erlebens und
Verstehens in den präkommunikativen und „mehrdeutigen Vollzugsweisen eines leiblichen
Zur-Welt-Seins“ (Meyer-Drawe 32001, 30). Sozialität ist durch Undifferenziertheit und Per-
spektivenvielfalt ausgezeichnet und ermöglicht ganz im Sinne Merleau-Pontys eine „anony-
me Kollektivität“ (Meyer-Drawe 32001, 30) oder eine „personale Inter-subjektivität, die je-
dem ausdrücklichen Verstehen von Ich und Du bereits vorausliegt“ (Meyer-Drawe 32001,
179).
167
Ausführlich zu dieser Kritik vgl. SBL 46 ff. sowie Kap. V.1.2
Ergebnisse · 147
3.1 Zwischen
Ästhetische Erfahrungen können allererst nur über Leiblichkeit realisiert und
wahrgenommen werden. Sie werden zur allgemeinen Bedingung der Produktion
von Kunst und sind ein Zentrum künstlerischer Gestaltung und unabkömmliche
Medien künstlerischer Prozesse überhaupt. Angefangen von der Plastik über das
Gemälde bis hin zur Komposition ist das Werk als Hervorgebrachtes, als ‚ergon’,
nicht ohne Bewegungen zu denken. Das Bemalen der Leinwand, das Vortragen
eines Textes, die Schritte des Tänzers auf der Bühne oder das Musizieren auf
einem Instrument bringen das Kunstwerk allererst zum Vorschein. Die Perspekti-
ve, die ein Maler wählt, um sein Objekt zu entwerfen, die Körperhaltung eines
______________
169
‚Qualität’ meint ganz im Sinne des lateinischen ‚qualitas’ die ‚Beschaffenheit’ und den
‚Wert’ eines erscheinenden Objekts oder Sachverhalts. Hierdurch wird etwas bezeichnet, und
es weist sich als etwas Besonderes im Allgemeinen aus. Ferner kommt dem ‚Objekt’ ein spe-
zifischer Nutzen zu, indem es als etwas erkannt wird und für jeweilige Zwecke beansprucht
werden kann.
Ergebnisse · 149
Musikers oder die Bewegungskontrolle des Tänzers verweisen auf die Teilhabe
der Leiblichkeit am künstlerischen Vollzug.
Das Zwischen […] übergreift die Gegensätze von Bewußtsein und Sein,
Subjekt und Objekt, ego und alter ego, weil die Glieder dieses Gegensatz-
paares vor dem Prozeß der Differenzierung keinen Sinn haben und weil die
Scheidung selbst nur struktural gedacht werden kann – wenn man nicht
fertige Differenzen unterschiebt (Merleau-Ponty 1984, 69).
Die Produktion und Rezeption eines Kunstwerks ist dabei durchweg zweideutig.
Physis und Psyche überschneiden sich in einem einzigen Ausdrucksakt. Hier fin-
det sich die im phänomenologischen Leibbegriff angelegte ‚Zweideutigkeit’ wie-
der. Einerseits ist die Motorik die Voraussetzung zur ästhetischen Gestaltung und
besitzt ihre eigenen physiologischen Regeln. Andererseits werden Sinneseindrü-
cke individuell wahrgenommen und im Bewusstsein verarbeitet. Beide Seiten sind
konstitutiv für die künstlerische Gestaltung und können nicht in Form einer ganz-
heitlichen Verschmelzung umgangen werden.174 Der Leib ist in der künstlerischen
Gestaltung sowohl ein Bestandteil künstlerischer Tätigkeit als auch ein Wahrneh-
mungsorgan, das ästhetischen Sinn subjektiv wahrnimmt und individuell bewertet.
Ästhetische Erfahrungen sind offen, mehrdeutig und nicht objektivierbar, da sie
auf die individuelle Weise des Ausdrucks und die Expressivität des Leibes ange-
wiesen sind. Es gilt demnach auch, der „Mannigfaltigkeit unserer Erfahrungen,
dem, was in ihnen Un-sinn ist, und der Kontingenz der Inhalte Rechnung zu tra-
gen und gerecht zu werden“ (PhW 177).
3.2 Interkorporalität
Eine künstlerische Darstellung verweist auf eine Wahrnehmungsweise, die sicht-
bar oder hörbar vermittelt werden kann. Leiblichkeit beinhaltet eine Qualität, sich
Anderen mitzuteilen und von ihnen verstanden zu werden. Sie dient zur Bildung
einer ästhetischen Intersubjektivität, die letztlich nur über das zwischenmenschli-
che Interagieren und Kommunizieren zustande kommt. Diese ästhetische Qualität
wird als Interkorporalität gefasst.175 Menschen geben sich über individuelle Hand-
lungsvollzüge zu verstehen und bilden eine ‚Zwischenleiblichkeit’ (intercorporei-
té). Der in diesem Begriff ‚Zwischen’ verweist wiederum auf die oben erläuterte
grundlegende Ambiguität der menschlichen Existenz.
Auch hier ist eine vollständige Kongruenz zwischen Ausdruck und Bedeutung, die
über den Verstand zugänglich gemacht werden kann, nicht erreichbar. Vielmehr
überschneiden sich Wahrnehmungs- und Ausdrucksvermögen. Über den Leib
kann individueller Sinn im spontanen Vollzug vermittelt werden, ohne in einem
______________
174
In der Musikpädagogik finden sich derzeit verstärkt Forderungen, die konstitutiven Bereiche
‚Handeln, Wahrnehmen und Verstehen’ enger miteinander zu koppeln. Das gilt gerade für die
musikalische Elementarlehre. So fordern Ortwin Nimczik und Hans Bäßler: „Handeln ist
zugleich Wahrnehmen und Verstehen – beides kann nicht gegeneinander ausgespielt werden“
(Bäßler/Nimczik 2002, 7).
175
Vgl. auch Meyer-Drawe 32001, 133 ff.
Ergebnisse · 151
Das gilt auch für künstlerische Bereiche, deren dekodierbare Zeichensysteme nicht
abstrakt sind, sondern immer auch individuell vermittelt werden müssen. Wenn
Merleau-Ponty Kunstwerke personifiziert, will er hiermit hervorheben, dass sie
zwar auf einer materiellen Basis beruhen und im Bewusstsein existieren, aber vor
allem dazu dienen, von einem Subjekt wahrgenommen und für Andere dargestellt
zu werden. Sie sind Bindeglieder zwischen Menschen, da sie zwischenleiblich
reagieren. Während die Malerei und Literatur auf dem passiven Betrachten oder
Lesen basieren, zeigt sich besonders in der Musik der Verweis auf die leibliche
Darstellung, da hier ein Werk eines fremden Komponisten erst über den eigenen
Leib zum Erscheinen und Erklingen gelangt und über die Interkorporalität als
Zwischenleiblichkeit anderen verständlich gemacht werden kann, denn dem Voll-
zug von Intersubjektivität entspringen die Möglichkeiten musikalischer Gestal-
tungsarbeit. Gerade die vielfältigen Wahrnehmungsformen der Kunst des 20. Jahr-
hunderts verdeutlichen, dass sich die Ästhetik vom Werkbegriff befreit hat und
Handlungen selbst Teile des musikalischen Kunstwerks sind. Die Beherrschung
allgemein gültiger Spieltechniken ist kein Garant mehr, um individuellen Aus-
152 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
3.3 Expressivität
Der Ausdruck des phänomenologischen Leibbegriffs verweist auf den Bereich der
künstlerischen Gestaltung. Das Subjekt drückt seine Wahrnehmungen individuell
aus und verleiht ihnen darstellend einen dazugehörigen ästhetischen Sinn. Diese
‚Ausdrucksfähigkeit’ des Leibes wird als ‚Expressivität’ verstanden. Der Begriff
verdeutlicht, dass Ausdruck nicht nur willkürlich in der alltäglichen Kommunika-
tion mit Anderen zur Geltung gelangt, sondern dass dem Menschen eine grundle-
gende Fähigkeit zukommt, seinen Leib ästhetisch zu fundieren. Gerade in alltägli-
chen Situationen wird dieses Potenzial deutlich. Ein Mensch bewegt sich mit einer
gewissen Geschwindigkeit in einem bestimmten Rhythmus, nimmt den Raum ein,
stellt sich zu seinem Gegenüber und positioniert sich. Diese Darstellungsprozesse
sind unbewusst und werden präreflexiv ausgeführt.
Der Leib bewegt sich demnach immer schon in ästhetischen Strukturen und hin-
terfragt nicht, wie diese konstituiert worden sind. Die jeweiligen Positionierungen,
seine Perspektive und Akustik sowie die dazugehörigen Stimmungen begründen
eine unhintergehbare Expressivität. Sie beinhaltet ein überhöhtes Moment des
Ausdrucks, da bewusst gestalterische Mittel eingesetzt werden, um nicht nur ein
Können, sondern einen emotionalen Bezug zur Darstellung aufzuweisen. Daher
kommen gerade in künstlerischen Darstellungen diese präreflexiven ästhetischen
Bewegungsqualitäten wieder auf einer Metaebene zur Geltung. Es entsteht ein
‚Ausdrucksraum’, in dem ein unmittelbarer Bezug zwischen Leib und Kunstwerk
herrscht. Bewegungstempo, -dynamik oder -rhythmus können auf musikalische
oder malerische Ebenen transformiert werden. Ästhetische Expressivität greift auf
einen Bereich vor, der im Zur-Welt-Sein fundiert ist, aber im künstlerischen Voll-
zug zur vollen Bedeutung gelangt. Expressivität ist weniger die Darstellung von
‚abstrakten Ideen’, sondern vielmehr das Pulsieren gegenwärtiger Lebensvollzüge,
die bewusst, d.i. in einer bestimmten Situation, mit einer Intention zum Einsatz
gelangen. Hier wird deutlich, dass der Leib in ästhetischen Produktionsprozessen
auf elementare Ausdrucksformen zurückgreift und diese in die Darstellung integ-
riert. Nur über das gestaltende Tun mit allen verständlichen und missverständli-
chen Vollzügen offenbart sich eine individuelle Expressivität, die gerade in ästhe-
Ergebnisse · 153
tischen Akten evoziert wird und auch zur Überschreitung alltäglicher Sinnhorizon-
te auffordert. Expressivität fußt auf dem Gegebenen, um es ästhetisch zu entheben.
3.4 Extension
Die Erweiterung des leiblichen Handlungsspielraums lässt sich im Bereich des
Instrumentalspiels verdeutlichen. Zum einen erhält hierbei der Leib durch die
Hinzunahme eines Klangkörpers eine Vergrößerung seiner gewohnten Motorik.
Zum anderen wird auch sein Ausdrucksvermögen erweitert. Dieses spezielle äs-
thetische Phänomen wird als ‚Extension’ gefasst.176 Im Instrumentalspiel erhalten
Gebärden einen neuen Sinn, da Vorstellungen und Bedeutungen auf einen Ge-
genstand übertragen werden können. Das Instrument ist direkt mit dem Spieler
‚verbunden’, so dass die motorischen Gesten sowohl den jeweiligen Klang erzeu-
gen als auch die individuelle künstlerische Gestaltung bedingen. Hierdurch wird
eine Dualität von hervorbringendem Menschen und benutztem Material umgan-
gen. Das Instrumentarium ist dem ästhetisch Gestaltenden ‚auf den Leib geschrie-
ben‘ und permanenter Bestandteil der künstlerischen Gestaltung. Musizieren ist
somit ein ‚Handwerk’, weil es auf seine leibliche Produktion verweist, durch die
sich ein Subjekt ausdrückt.
Der Leib ‚weiß’ beim Musizieren schon im Vorfeld um die jeweiligen Bewe-
gungsabläufe Bescheid und prägt sie sich nicht jedes Mal neu ein. Der Griff einer
Oktave kann auch auf einer ‚stummen Klaviatur’ oder einem Tisch simuliert wer-
den, so wie eine Partitur vom ‚inneren Ohr’ gehört werden kann. Dennoch ist der
Leib keine Maschine, die per Knopfdruck die nötigen physischen Reflexe bereit-
stellt, wie es eine rein technisch virtuose Spielweise verlangt, und besitzt auch
keine angeborene Mechanik, die im Vorfeld bereitsteht und nur aktiviert werden
muss. Vielmehr bedingen sich Gewohnheit und Ausdruck. Über Übungen eignet
sich der Musiker ein Bewegungsrepertoire an, das gleichzeitig als kreativer Ent-
wurf immer neuer Ausdruckspotenziale und Darstellungsmodi dient. Beide Mo-
______________
176
„Das Instrument ist ein Körper – Erweiterung und Verlängerung menschlicher Organe“
(Rüdiger 21999, 9). Der Gedanke einer Extension des Leibes im Instrumentalspiel findet sich
in verschiedenen Instrumental- und Gesangsdidaktiken. Problematisch ist hierbei die Tendenz
einer einseitigen Ausrichtung auf den Bereich des Ausdrucks sowie eine Aufhebung der bei-
den konstitutiven Seiten (Technik und Ausdruck) zu Gunsten einer ganzheitlichen Musik-
wahrnehmung. Vielmehr müssen beide Seiten berücksichtigt werden, da sie sich jeweils über-
lagern und so ihre eigentliche Einheit im Sinne einer Ambiguität des Leibes bilden.
154 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
mente werden durch die Expressivität und die Extension des Leibes im Musizieren
allererst möglich.
Die Verbindung zwischen physischer Produktion und individueller Gestaltung
zeigt sich besonders deutlich im Gesang, da hier der Atem gleichzeitig den Ton
hervorbringt und das Mittel zum musikalischen Ausdruck ist. Ein Ton wird so-
wohl innerlich produziert als auch äußerlich hörbar erfahren. Auch im Atmen der
Bläser wird dieser doppelseitige Prozess deutlich. Selbst Pianisten oder Streicher
verwenden den Leib als ein Medium, um sich auf dem jeweiligen Instrument aus-
drücken zu können und ihre Vorstellungen dorthin zu übertragen.177 Die Verlänge-
rung des Leibes und Verflechtung von Ausdruck und Gewohnheit findet die deut-
lichste Umsetzungsmöglichkeit im Bereich der Improvisation, die dem Musiker
den nötigen Freiraum lässt, um kreative Prozesse im leiblichen Umsetzen musika-
lischer Gedanken zu gestalten.
Der Leib und das Kunstwerk besitzen sowohl eine physische Materialität, die sie
auf eine ontologische Ebene reduziert, als auch ein transzendentes Sein, das über
das rein faktische Erscheinen hinausgeht. Ein Musikstück besteht gewöhnlich aus
einem sichtbaren Notenbild, der Partitur, die sich innerhalb der musikalischen
Gestaltung immaterialisiert. Gleichermaßen lassen sich Bewegungen in motori-
sche Einzelheiten gliedern und sind so sichtbarer Bestandteil einer komplexen
physiologischen Mechanik. In der Darstellung und der Verbindung einzelner Ges-
ten zu einer Tätigkeit werden Bewegungen deutbar. Durch diese Konnotationen
wird das Kunstwerk zu einer Form der individuellen Existenz und ferner der Leib
selbst zu einem Kunstwerk. Durch die Extension bedingen sich gegenseitig eine
Technik, die über Gewohnheit und Üben erreicht wird, und ein ständiger kreativer
Ausdruck im Entwerfen von Sinn über die Expressivität. Im Musizieren sind beide
Bereiche konstitutiv und prägen neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten.
Gerade die Ambiguität und Negativität im Entwerfen und Gestalten von Sinn
werden durch die permanente Unfassbarkeit und Unabgeschlossenheit von Exten-
sionen allererst erfahrbar.
______________
177
Eine Sonderstellung nimmt der Dirigent ein, der im Akt des Dirigierens die Extension als
stumme Hervorbringung von Gesten verdeutlicht. Dieter Schnebel thematisiert in vielen sei-
ner Kompositionen diese musikalisch-gestische Aktionsform. Die Komposition ‚visible mu-
sic II, nostalgie (=Modelle-Ausarbeitungen 1) ist z. B. ein ‚Solo für ein Dirigenten’ und wird
ohne Orchester aufgeführt. Die Darstellung der Gestik wird zur Musik ohne Klang. Ausführ-
lich hierzu vgl. Kap. V.3.2.3
Bewährung · 155
V BEWÄHRUNG
______________
178
‚Ausweisung’ deutet auch auf die begriffsgeschichtliche Nähe zu ‚Ausweis’ und ‚Beweis’
hin.
Bewährung · 157
ästhetischen Erfahrung von Kindern Aspekte der Responsivität auf, die auch in
den Untersuchungen von Waldenfels und Vogt eine schwerpunktmäßige Berück-
sichtigung finden. Richter sieht hingegen im Begriff der ‚Verkörperung’, den er
der philosophischen Anthropologie Plessners entlehnt, eine Erweiterung der ‚Di-
daktischen Interpretation von Musik’. Ähnlich wie Richter geht es auch Christoph
Khittl um eine Kritik an der Entsinnlichung des Musikunterrichts, da sinnliche
Erlebnisse nicht ausreichend beachtet werden. Im Rahmen einer ‚leibbezogenen
Didaktik’ konzentriert er sich auf die Unterrichtspraxis, um den Menschen zwi-
schen musikalischer Produktion und Rezeption als Körper/Geist-Einheit zu begrei-
fen.
In diesen Andeutungen wird bereits ersichtlich, dass die in der Bewährung aufge-
nommenen Konzeptionen entweder durch eine eher theoretisch-wissenschaftliche
oder praktisch-didaktische Fundierung motiviert sind. Waldenfels und Vogt orien-
tieren sich weitestgehend auf abstrakter streng wissenschaftlicher und kritischer
Basis, während Khittl und Richter sich dagegen mit praktischen Fragen zum Ver-
hältnis von Musik und Bewegung beschäftigen und bemüht sind, den Körper als
Teilbereich musikalischer Erfahrung in den Unterricht zu integrieren. Klaus Mol-
lenhauer untersucht auf empirischer Basis die künstlerische ‚Tätigkeitskomponen-
te’ von Kindern und die damit verbundenen ästhetischen Erfahrungen während
musikalischer Improvisationen.
Alle Autoren haben sich unterschiedlich intensiv mit dem Thema Leib/Körper und
Musik auseinander gesetzt. Während sich v. a. Richter in zahlreichen Einzelbei-
trägen immer wieder mit dem Verhältnis von Musik und Bewegung beschäftigte,
thematisiert Mollenhauer schwerpunktmäßig ‚Grundfragen ästhetisch-
musikalischer Bildung’.182 Vogt geht es wie Waldenfels dabei auch um eine Neu-
etablierung des Hörens. Khittls Untersuchung muss eher als eine Skizze angese-
hen werden, die jedoch ansatzweise neue Integrationsmöglichkeiten von Bewe-
gung im Musikunterricht thematisiert. Der vielversprechende Untertitel einer
‚leibbezogenen Didaktik der Musik’ wird den Ansprüchen einer wissenschaftlich
fundierten Theoriebildung nur in Ansätzen gerecht.
______________
182
Vgl. Selle 1990
Bewährung · 159
Allen hier vorgestellten Modellen ist gemeinsam, dass sie implizit oder explizit
eine Bezugnahme auf die Leiblichkeit sowie deren Transformation in musikpäda-
gogische Bereiche ermöglichen. Die Forschungsansätze werden im folgenden
Kapitel ausführlich dargestellt und kritisch mit hier vorliegenden Ergebnissen
verglichen. Aus unterschiedlicher Perspektive wird so der Frage nachgegangen, ob
und wie Leiblichkeit eine eigenständige Konzeption musikalischen Lernens, Er-
fahrens und Verstehens bildet.
auch die ‚Welt der Töne’ ist. In diesen Sonderwelten ergeben sich verschiedene
musikalische, historische, kulturelle oder funktionale Auffassungen von Musik,
die aber als Netz alle miteinander verflochten sind, wie z. B. Musik zum Tanzen,
Musik im Konzertsaal, Musik in Afrika oder Musik in der Kirche. Ihre Ordnungen
sind nicht determiniert oder vorstrukturiert, sondern beginnen allererst mit prärati-
onalen unkritischen Wahrnehmungen. Der Mensch lebt so in einem Feld von
Klängen, die er sich durch individuelle Erfahrungen aneignet.
Der Ansatz beim Lebensweltbegriff setzt auch die Bedingung einer Krise voraus,
in welche die Musik durch die schwindende Lebensbedeutsamkeit und die Auf-
wertung der Vernunft geraten ist. Ganz im Sinne Ehrenforths bezieht sich Walden-
fels hier auf den „grammatikalischen Fundamentalismus“ (Ehrenforth 1993, 14)
und konstatiert drei Bereiche, in denen sich die Krise verorten lässt. Die ‚Techni-
sierung’ beschränkt sich auf eine bloße funktionale Musiktechnik, eine ‚Pragmati-
sierung’ läuft auf eine einseitige Handlungsorientierung im Sinne eines ‚Do it
yourself’ hinaus und die ‚Kulturalisierung’ verwandelt Musik in ein Konzept, das
sich weitestgehend an der Vergangenheit orientiert. Im Unterricht verdrängt die
Hervorhebung rationaler Lerninhalte das Vor- und Übermusikalische und konzent-
riert sich einzig auf Klassifikationen des Übermusikalischen.
Den Zusammenhang aller drei Ebenen fasst Waldenfels unter dem Begriff ‚Hör-
welt’ zusammen. Sie reicht weiter „als die spezifische Welt der Klänge und Töne“
(Waldenfels 1999, 190). Durch sie sollen v. a. die lebensweltlich begegnenden
Klänge aufgewertet und als gleichberechtigter Zugang für ästhetische Wahrneh-
mungen in den Unterricht integriert werden. Die Hörwelt besteht nicht nur aus
festgelegten ‚künstlichen’ Tönen, sondern kann durch Geräusche, Klänge und
Laute ergänzt werden. Als Beispiele können hier die aleatorischen Verfahren und
der weite musikalische Materialbegriff von Cage angeführt werden. Auch die sog.
‚soundscapes’, die das musikalische Ereignis in die Natur verlegen und im Sinne
von Klanglandschaften die atmosphärische Akustik einer Stadt oder einer be-
stimmten Umwelt ausdrücken, verdeutlichen die Ausweitung der Töne in den
Bereich der Lebenswelt. Auch für die Instrumentalpraxis eröffnen sich über die
Entwicklung neuer Spieltechniken, die Entfremdung gewöhnlicher Klangerzeuger
und die Hinzunahme von Alltagsgegenständen vielfältige Möglichkeiten, um die
Klanglichkeit der ‚Hörwelt’ in die musikalische Gestaltung zu integrieren.
Innerhalb des Musizierens wird der ‚musizierende Leib’, der „mit Hand, Fuß und
Stimme an der Tonerzeugung beteiligt ist“, bedeutsam (Waldenfels 1999, 192):
Bewährung · 161
Der Leib, der als Leibkörper selbst der Natur angehört, bildet – mit den
Worten Husserls gesprochen – eine ‚Umschlagstelle’, wo Natur in Kultur
und Kultur in Natur übergeht. Auch die Musikinstrumente sind keine blo-
ßen Werkzeuge, die kulturell erzeugt und eingesetzt werden, sondern sie
zehren von einer Musikalität der Dinge (Waldenfels 1999, 192).
Der Begriff ‚Umschlagstelle’ verdeutlicht, dass durch die Präsenz des Leibes auch
der Musik ein Ereignischarakter zugesprochen wird.185 Neben der ontologischen
Fundierung, die musikalische Prozesse hierbei erhalten, lassen sich Aspekte der
Leiblichkeit erkennen, die zunächst auf die Qualität der ‚Extension’ hinweisen.
Wenn Musikinstrumente ‚keine bloßen Werkzeuge’ sind, dann wird der Leib, der
das Ausdrucksvermögen und den Produktionsspielraum des Instrumentalisten
erweitert, angesprochen. Auch Waldenfels sieht den Leib als Medium, als unver-
zichtbaren konkreten Bestandteil der Lebenswelt, der in Form von erscheinenden
‚Tonereignissen’ selbst in das praktische Geschehen integriert ist. Erst durch des-
sen Hinzunahme begründet sich das konkret faktische Geschehen der Musik. Im
Sinne einer Verflechtung zwischen Hören und Handeln wird die Musik somit zu
einer Substanz, die durch das Medium der Leiblichkeit den Dualismus von Kör-
per/Geist aufhebt.
öffnen soll. Leiblichkeit konzentriert sich dagegen auch auf optische Vollzugs-
formen und versteht jegliche Musizier- und Wahrnehmungsvorgänge als grund-
sätzlich leiblich fundiert. Um die von Waldenfels thematisierte ‚Umschlagstelle’
des Leibes zu verdeutlichen, ließe sich im Sinne des ‚Zwischen’ sowohl das ‚Pri-
mat des Hörens’ als auch das ‚Primat des gestaltenden Tuns’ anführen. Die Ziel-
perspektive, die Waldenfels innerhalb der verschiedenen Facetten von akustischen
Erscheinungen in der Hörwelt anvisiert, führt zu einer notwendigen „Rehabilitati-
on des Gehörs“ (Waldenfels 1999, 195), die sich auch fremden Klängen nicht
verschließen will, sondern offen auf Neues reagiert. Demnach ist das Musizieren
auf ein ‚Sich-Singen-Hören’ oder ein ‚Sich-Spielen-Hören’ angewiesen und kon-
zentriert sich auf eine verbale Ebene, wo das Sprechen nur dann möglich ist, wenn
das Gesprochene auch gehört wird. Gleichermaßen lässt sich auch im Sinne der
Leiblichkeit von offenen Reaktionen sprechen, die mechanische Bewegungen
negieren und nach neuen Formen von Expressivität suchen, in denen sich der
Musiker jeweils mitteilt und ausdrückt.
Antworten bedeutet dagegen ein Eingehen auf einen Anspruch, der sich er-
hebt und von anderswoher kommt. Das Antworten nutzt Möglichkeiten, die
ihm angeboten werden und auf bestimmte Weise abverlangt werden (Wal-
denfels 1994, 188).
theorie verstanden, die hierfür den Begriff der ‚Response’ verwendet. Das Ver-
meiden eindeutiger Ableitungsverhältnisse durch ein offenes Reiz-Reaktions-
Muster will die Verflechtungen von Handlungsspielräumen herausstellen. Respon-
sivität versteht sich so als ein Dialog, der durch den Aufforderungscharakter von
Dingen und Situationen mit einer Frage entsteht und durch eine Vielzahl von
Handlungen ‚beantwortet’ werden kann.
Bedeutsam für die Qualitäten der Leiblichkeit ist die Hervorhebung von „Zwi-
schenereignissen“ (Waldenfels 1994, 242), die im Sinne eines dritten Weges die
Kontingenz von Verstehensprozessen ermöglichen. Demnach ist ein Handeln
immer auch von einer ‚responsiven Differenz’ her bestimmt, die andersartige
Deutungen mit einschließt. Waldenfels benennt verschiedene Topoi:
- Das Moment des ‚Hiatus’ verweist im Sinne von „Riß, Spalt, Sprung“
(Waldenfels 1994, 334) auf die Offenheit zwischen Anspruch und Ant-
wort.
- Die ‚Irreprozität’ besagt, „dass wir antwortend nicht auf beiden Sei-
ten des Grabens zugleich stehen“ (Waldenfels 1994, 335). Die Rollen-
verteilung ist nicht beliebig umkehrbar. Nur ein außenstehender Drit-
ter kann den jeweiligen Wechsel von Anspruch und Antwort feststellen.
- Die ‚Diastase’ bezeichnet ein Auseinandertreten von Instanzen. Das
Wechselspiel von Anspruch und Antwort liegt weder als zwei abge-
trennte Teile noch als zusammenhängende Einheit vor.
- Der ‚Überschuss’ im antwortenden Sagen hebt die Mehrdimensionali-
tät des rein Faktischen hervor.
- Die ‚Nachträglichkeit’ benennt den kreativen Aspekt der Antwort, die
im Prozess des verzögernden Dialogs erst entsteht.
- Die ‚Unausweichlichkeit’ der Antwort zeigt eine latente Anlage zur
ethischen Verpflichtung und deutet die stets vorhandene Abhängigkeit
von Frage und Antwort an, so dass sich selbst durch Weghören
responsive Zusammenhänge ergeben.
Der responsive Ansatz lässt sich auch für die Musik im Bereich des Hörens veran-
schaulichen, da durch die Wahrnehmung von Klängen und Geräuschen in der
bestehenden Lebenswelt zahlreiche Antworten bereitgestellt werden. Nach Wal-
164 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
denfels finden sich gerade in der Neuen Musik Tendenzen, die durch eine Aufhe-
bung einer reinen Werkästhetik auch Störendes und Außerordentliches als frem-
den Anspruch in die Musik transportieren und somit als ‚Unerhörtes’ und ‚Mitge-
hörtes’ über das rein ‚Übermusikalische’ hinausweisen.187
Waldenfels differenziert zwischen drei Formen eines responsiven Charakters des
Gehörs, die mit einer latenten Gesellschaftskritik einhergehen. Die erste Form, das
‚Unhörbare im Hörbaren,‘ betrifft das Moment der Stille, von der sich jeder Klang
absetzen muss. Das zweite Motiv thematisiert ‚das Unerhörte’ im Sinne neuer
Möglichkeiten musikalischer Erfahrung. Daran gekoppelt ist eine Kritik des Tradi-
tionalismus, der sich jedem Ungewöhnlichem verschließt. Drittens deutet das ‚Zu-
Hörende’ auf das Fremde, das den Menschen auffordert, auf das Andere der Mu-
sik hin zu hören, um nicht technischer Virtuosität zu verfallen.
Alles, was wir früher dem Ereignis des Sagens zuschrieben, würde sich al-
so mutatis mutandis in der Sphäre der Leiblichkeit wiederholen. Die
Responsivität würde auch hier darüber befinden, was responsive Leiblich-
keit besagen kann (Waldenfels 1994, 479).
Sprache wird selbst zur Vollzugsform, die sich einer traditionell verankerten De-
termination von ‚Musik machen’ und ‚über Musik sprechen’ entzieht. Wenn die
Stimme allein schon durch den zwiefachen Aspekt des ‚Sprechens’ und ‚Sich-
selber-Hörens’ die Aufhebung traditioneller Dualismen suggeriert, dann verweist
die gleichursprüngliche Annahme von musikalischer Produktion und Rezeption
immer auch auf einen Zwischenbereich, der gerade in Form der Leiblichkeit aus-
gewiesen wird. Dass Waldenfels ähnliche Aspekte im Bereich musikalisch-
ästhetischer Erfahrung sieht, mag abschließend das folgende Zitat aus dem Artikel
‚Lebenswelt als Hörwelt’ verdeutlichen: „Musik gleicht vielmehr der Sprache
darin, dass sie als multifunktionales und multivalentes Phänomen auftritt. Weltbe-
zug, Selbstbezug und Fremdbezug sind unlöslich miteinander verbunden […]“
(Waldenfels 1999, 191).
Durch eine verstärkte Bezugnahme auf das Spätwerk von Merleau-Ponty themati-
siert Vogt zunächst nicht explizit die leiblichen Potenziale existenzieller Hand-
lungsvollzüge, sondern konzentriert sich auf ein Verständnis von Lebenswelt als
‚stumme Erfahrung’, in welcher der Leib als Vehikel des Zur-Welt-Seins aller-
dings im Verborgenen mitgegenwärtig bleibt. Die subjektzentrierte Phänomenolo-
gie Husserls wird hier deutlich verworfen und eine dialektische Sichtweise konzi-
piert, die die Lebenswelt von reduktiven Verfahren freisetzt und gerade die Wahr-
nehmung als offenes Erfahrungsfeld begreift, das in Form der Verflechtung sub-
jektiver und objektiver Sinnstrukturen allererst erschlossen werden kann. In die-
sem Sinne ist der Leib innerhalb seiner Ambiguität die Voraussetzung einer so
verstandenen nicht-identischen Struktur der Lebenswelt, zumal diese sich „als das
______________
188
Der Grund für dieses normative Vakuum der (Musik)Pädagogik liegt in der Annahme eines
‚naturalistischen Fehlschlusses’, der aus der reinen Beschreibung eines Sachverhalts für das
Handeln bestimmte Folgerungen ableitet.
189
Vogt greift hier auf H. Schnädelbachs Struktur der Philosophiegeschichte als Folge von
ontologischen, mentalistischen oder linguistischen Paradigmenwechseln zurück. Vgl. Schnä-
delbach 1991
190
Dieser Ansatz erinnert stark an Adornos ‚Negative Dialektik’, in welcher der Wahrheitsan-
spruch der Kunst durch das Erschließen des Nicht-Identischen erreicht werden soll.
Bewährung · 167
Geordnete und Ungeordnete, als das Normierte und das Unnormierte, als das Em-
pirische und das Transzendentale zugleich erweist“ (SBL 116).191 Begriffe wie
‚Scharnier’, ‚Konstellation’ und ‚Zwischen’ verdeutlichen diese prärationale
Struktur des wilden Seins, die zur Aufhebung der Gegensätze von Sein und Be-
wusstsein führt und den schwankenden Boden der Lebenswelt begründet. Um eine
dualistische Subjekt/Objekt-Spaltung zu umgehen, gilt es also, ganz im Sinne der
Leiblichkeit, nach einer dritten Dimension zu fragen, die eine determinierte vorge-
fertigte Ordnung umgeht.
Ein solches Verständnis von Handeln in Form der Bereitstellung vielfältiger Ant-
worten beinhaltet die Distanz von Reiz/Reaktionsmechanismen und hebt einen
______________
191
Zu Vogts Kritik an der ‚Didaktischen Interpretation von Musik’ vgl. Kap. V.1.2
192
Vgl. Waldenfels 1994; SBL 126 ff.
168 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
„passive[n] Charakter“ hervor (SBL 127). Dieser verdeutlicht, dass das Subjekt
weniger ein Objekt ist, das vorgefertigte Befehle ausführt, sondern ein Subjekt
verkörpert, das seine eigene Antwort auf eine Frage, sprich auf den Anspruch
eines spezifischen Wahrnehmungsfeldes hin, bildet. Wie im Zur-Welt-Sein richtet
sich Intentionalität hier nicht nur einseitig auf Gegenstände und konstituiert sie,
sondern fungiert gerade im Leib als Weltvermittelnden. Vogt ist sich in diesem
Zusammenhang der Nähe zum Leibbegriff Merleau-Pontys bewusst, wenn er auf
das offene Verhältnis zwischen Fragen und Antworten als „Austausch zwischen
mir und der Welt, zwischen dem phänomenalen Leib und dem objektiven Körper“
verweist (Merleau-Ponty 21994a, 274). Wie bereits oben erwähnt, geht es Vogt
weniger um die Etablierung einer eigenständigen Leibdefinition, die vielfältige
Vollzugsformen in der Lebenswelt ermöglicht, sondern um die Gewinnung eines
„phänomenologischen Handlungsbegriffs“ (SBL 128).
Handeln ist demnach weder als reine Aktion anzusehen, die von einem au-
tonomen Subjekt initiiert und gesteuert wird, noch als reine Passion, als
purer Reflex auf heteronome Außenreize, sondern als Resultat einer Ver-
schränkung von Innen und Außen, von Autonomie und Heteronomie (SBL
128).
Der Leib, so könnte ergänzend hinzugefügt werden, ist die Bedingung der Mög-
lichkeit responsiven Handelns, da er die Offenheit des Aufforderungscharakters
von Dingen und Situationen allererst gewährleistet. In der Annahme einer trans-
zendentalen Bewusstseinsphilosophie würde ein Dialog zwischen Subjekt und
Objekt, zwischen Ich und Gegenstand nicht möglich sein.
keit, die wiederum auf die Doppelstruktur der Leiblichkeit zwischen Vollzugs-
und Wahrnehmungssinn zurückzuführen ist.
In Form eines Exkurses zur Ästhetik Merleau-Pontys wird nun auch dessen Leib-
begriff terminologisch aufgegriffen. In Bezug auf die Maltheorie von Cézanne ist
„die chiasmische Verflechtung von Leib und Welt“ (SBL 201) hervorzuheben, die
das Zur-Welt-Sein der künstlerischen Tätigkeit auszeichnet. Und auch die Musik
zeigt gleichsam innerhalb ihrer transzendenten Erscheinung als Idee die Gebun-
denheit an leibliche Erfahrungen. So verflochten wie das Verhältnis von Leib und
Welt sein mag, so undurchdringlich zeigt sich die Struktur des Kunstwerks als
Gegenstand und als Idee. Musik beinhaltet eine grundsätzliche Negativität im
Sinne einer Anwesenheit, die abwesend ist.193
Einen wichtigen Schritt bezüglich der konstitutiven Rolle des Leibes zur Bildung
ästhetischer Erfahrungen vollzieht Vogt innerhalb eines Rekurses auf die philoso-
phische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, der die historische Vermittlung
ästhetischer Erfahrungen betont und somit entgegen einer einseitigen Subjektivie-
rung der Ästhetik die fundamentale Gemeinsamkeit von Subjekt und Objekt her-
vorhebt. In Opposition zur Rezeption Gadamers versteht Vogt ästhetische Erfah-
rung als ‚negative Erfahrung’, die durchweg zweideutig und offen bleibt. In der
vielzitierten Metapher des ‚Gesprächs’ wird deutlich, dass die Frage sowohl vom
Subjekt als auch vom Objekt ausgehen muss und somit „ein komplexes Beispiel
für einen Chiasmus, eine Verschränkung und Verflechtung im Sinne Merleau-
Pontys“ ist, in dem „die Pole Subjekt-Objekt als Polaritäten ins Schwanken gera-
ten“ (SBL 213). Allerdings ist innerhalb Gadamers Dialogkonzeption trotz der
„logischen Struktur der Offenheit“ eine „Vorgängigkeit der Frage“ zu erkennen
(Gadamer 61990, 369), die vom historischen Kunstwerk an den Rezipienten ge-
stellt wird. Obwohl Hermeneutik ein Spiel zwischen Fremdheit und Vertrautheit
etabliert, kommt dem Kunstwerk ein ontologischer Vorsprung zu, der die ästheti-
sche Erfahrung fundiert.
Eine Lösung aus der Dominanz der Frage bietet die responsive Theorie, welche
die Offenheit der Antwort sucht und die Frage als einen vom Subjekt zu beantwor-
______________
193
Vogt sieht in diesem Zusammenhang ganz im Sinne der oben angedeuteten Darstellung einer
objekt- oder subjektgebundenen Ästhetik die Gefahr, dass der Gegenstandscharakter von Mu-
sik entweder zum bloßen Klangereignis degradiert wird oder „den Referentenbezug überbie-
tungstheoretisch hintergeht und übersteigt“ (SBL 203), so dass letztlich ein wie auch immer
gefasster Bezug zum wahrnehmenden Subjekt nur schwer zu gewährleisten ist.
Bewährung · 171
Das Hören versteht sich im Sinne der Responsivität als eine „auditive oder audito-
rische Differenz“ (SBL 220), die das Kunstwerk in einem Zwischenbereich positi-
oniert, der niemals vollständig erklärt werden kann und sich auf eine Subjekt- oder
Objektzentrierung hin verlagert. Wie schon Waldenfels bestimmt auch Vogt das
Hören als einen responsiven Akt, der als Differenz „zwischen Hören und Gehör-
te[m]“ (SBL 220) die Basis für die ästhetisch-responsiven Erfahrungen bildet. Das
„leibliche Register des Hörens“ führt zur „Geburt der Musik der Lebenswelt als
Hörwelt“ (SBL 231). Der deutliche Bezug zu Waldenfels findet sich durch das
Primat des Hörens gekennzeichnet, das eine offene Welt der Töne ermöglicht.
172 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Vogts Hinzunahme des leiblichen Registers verdeutlicht die Vorstellung von ei-
nem Subjekt, das hörend ‚zur Welt’ ist und sich den Klangereignissen offen zu-
wendet. Im Sinne der Leiblichkeit sei ergänzend hinzugefügt, dass solche ästheti-
sche Erfahrungen über den Vollzugssinn eines agierenden Subjekts ermöglicht
werden. Vogts Auffassung vom antwortenden Hören bricht mit den traditionell in
der Kunstmusik verankerten Hörerwartungen und verlangt grundsätzlich eine noch
vor dem eigentlichen ästhetischen Akt eingenommene Haltung. In Bezug zu Ga-
damer lässt sich sagen, dass die vom Kunstwerk gestellte Frage ohne die entspre-
chende vorgängige Höreinstellung nicht wahrgenommen werden kann.
Die Stimme gilt als das ausgezeichnete „leibliche Medium“ (SBL 237), das die
Verankerung des Subjekts zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit gewährleistet.
Sie etabliert sich als paradoxe „Indifferenz zwischen Subjekt und Objekt, zwi-
schen Ich und Welt“ (SBL 245), da sie innerhalb der Darstellung des ‚Sich-
sprechen-Hörens’ auf eine wechselseitige Verschränkung angewiesen bleibt, die
der objektiven Darlegung eines inneren Ausdrucks nahe kommt.194 Während ein
‚Phonozentrismus’ nur die Selbstbezüglichkeit des eigenen ‚Sich-Hörens’ berück-
sichtigt, gelangt eine „stimmliche Verleiblichung“ (SBL 237) zu einem untrennba-
ren Korrelat von Stimme und Gehör, aus dem durch die gleichsam subjektiven wie
objektiven Bestandteile eine „Leiblichkeit des Denkens, eine Verflechtung von
Physis und Psyche“ resultiert (SBL 239).
Die Fremderfahrung der eigenen Stimme deutet auf das Hören der Stimme des
Anderen, die zwar meiner ähnlich erscheint, aber doch eine Undurchdringlichkeit
beinhaltet, die niemals vollständig überwunden werden kann. Diese Undurch-
dringlichkeit stiftet aber eine intersubjektive Lebenswelt, die sich gerade durch
ihre Vielzahl unterschiedlicher Stimmen auszeichnet und auf das Paradox des
______________
194
Bereits Hegel begriff das Hören im Sinne einer „physischen Idealität“ (Hegel 1986, 101),
welche „die reine Innerlichkeit des Körperlichen“ wahrnimmt (Hegel 1986, 104).
Bewährung · 173
Fremden im Eigenen verweist. Die andere Stimme ‚zeigt’ sich nicht unmittelbar,
sie ähnelt zwar der eigenen, aber ist sie nicht. In Bezug auf ästhetische Wahrneh-
mungsformen kann auch auf die Expressivität der Leiblichkeit aufmerksam ge-
macht werden, die der Stimme ein Ausdrucksvermögen verleiht, durch die sich ein
Ego expressiv mitteilen kann. Eine rein transzendental konstituierte Welt, in der
alle Stimmen gleich klängen, würde keine Fremdwahrnehmung ermöglichen und
eine intersubjektiv fundierte Hörwelt negieren. Erst das stimmlich/leibliche Zur-
Welt-Sein in der Aufforderung, das Andere verstehend nachzufragen, ermöglicht
eine intersubjektive ästhetische Erfahrung. Die Offenheit der musikalischen Le-
benswelt zeigt sich zwischen Selbst- und Fremderfahrung und damit zusammen-
hängend auch im ‚Zwischen’ der Leiblichkeit, d.i. in den zahlreichen musikali-
schen Interaktionsformen, also in konkreten Formen des Gestaltens, sich Ausdrü-
ckens und Experimentierens. Demnach ist ästhetische Erfahrung in einer leiblich-
intersubjektiven Hörwelt angesiedelt, die gleichsam allererst auf den aktiven Voll-
zugsformen der Leiblichkeit im praktischen Handeln der Hörwelt beruht.
Im Sinne der ‚Interkorporalität’ plädiert auch Vogt dafür, Intersubjektivität „als
eine Form der Zwischen-Leiblichkeit aufzufassen, die in erster Linie auf dem
Hören als leibliches Register ästhetischer Erfahrung basiert“ (SBL 252). Das Sub-
jekt befindet sich, wie die Stimme zeigt, in der „Dopplung von Selbst- und
Fremdbezug“ (SBL 252), so dass ästhetische Bildung erst in einem intersubjekti-
ven Rahmen etabliert wird, der zwar auch durch vielschichtige Hörerfahrungen
fundiert erscheint, aber erst durch die faktische Leiblichkeit als grundlegende
Basis aller Vollzugsformen gewährleistet sein kann. Zur handlungstheoretischen
Fundierung der responsiven Theorie sind leibliche Wahrnehmungen als Basis
ästhetischer Erfahrungen nötig, wobei ‚Hören’ bzw. ‚sich Hören‘ zentrale Kom-
ponenten darstellen. Musik ist in ästhetische Produktionsformen eingebunden, die
letztlich das Hören erst ermöglichen.
Leiblichkeit widmet sich dem intersubjektiven Feld des Handelns und Produzie-
rens in der Vorstellung, dass Formen des Hörens durch Vollzüge entstanden sind.
So ergänzt sich hier das Konzept des antwortenden Hörens mit der Leiblichkeit,
da Prozesse des antwortenden Hörens auf dem leiblichen Register aufbauen. Al-
lerdings versteht Leiblichkeit Formen ästhetischer Erfahrung in einem größeren
Kontext, der deutlich die Form des Hörens übersteigt und die vielfältigen Arten
ästhetischer Wahrnehmung aufgreift, worunter das ganze Subjekt in seiner Sinn-
lichkeit zu begreifen ist. Vogt konzentriert sich dagegen durch den Bezug auf
Gadamers Gesprächshermeneutik auf das antwortende Hören und einer damit
verbundenen Aufwertung der Stimme zwischen Selbst und Fremdbezug.
174 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Vogt ist bemüht, die These des Hörens als leibliches Register der Wahrnehmung
von Musik auch für die Kernfragen musikalischer Bildung auszudifferenzieren.
Deren Potenziale liegen demnach zwischen Selbst- und Fremderfahrungen. Diese
latente Negativität der Erfahrung eröffnet aber auch neue Erfahrungs- und Hand-
lungsmöglichkeiten, die die Produktivität musikalischen Lernens gerade „als Um-
strukturierung von Erfahrungshorizonten“ (SBL 143) begreift und Sinnverstehen
weniger als linearen Prozess, sondern als Umlernen versteht, so dass traditionelle
Hörerwartungen durch Formen des antwortenden Hörens revidiert und nicht als
statisch Gesichertes beibehalten werden. Für den Unterricht schließt nach Vogt
das antwortende Hören neben Hörpraxis und Diskurs auch die „Produktion von
(potentiell ästhetischen) musikalischen Objekten“ ein (SBL 252), welche auf äs-
thetische Formen der Interaktion verweisen und wiederum erst auf der Basis eines
ästhetisch fundierten leiblichen Registers ermöglicht werden.
Bedingt durch Vogts Intention, einen Beitrag zu einer ‚Philosophie der Musikpä-
dagogik’ zu leisten, geht es ihm weniger um Praxisbezüge noch anschauliche
Musikbeispiele, sondern ganz im Sinne von Abel-Struth um die grundlegenden
„Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten des Musik-Lernens“ (Abel-
Struth 1975, 18).
eine Differenz, die zeigt, dass ein Kunstwerk gerade im Hinblick auf eine
kunstwerkorientierte Didaktik niemals völlig konstituiert werden kann, sondern
auf eine Fragilität angewiesen bleibt, wonach „Frage und Antwort gleichsam aufs
Spiel gesetzt werden“ (SBL 220). Diese Differenz verweist auch auf die in der
Leiblichkeit enthaltene Überschneidung von Produktion und Rezeption innerhalb
musikalischer Vollzüge. Die in der Leiblichkeit auftauchende Qualität der Expres-
sivität findet sich in einer Hörwelt, die in Form eines Aufforderungscharakters zur
Erkundung des Neuen und Ungewohnten als potenzielle ästhetische Wahrneh-
mungen auffordert. Responsive Erfahrung liegt, wie bereits Waldenfels angedeutet
hat, im Bereich der Neuen Musik speziell im erweiterten Kunstwerkbegriff von
Cage erschlossen, da hier das Schweigen und Lauschen als eigenständiger ästheti-
scher Prozess hervorgehoben werden. Die ästhetische Darstellung erhält durch den
Bezug zum musikalischen Theater oder zu Performances eine enorme Aufwer-
tung. Das derzeitige ‚postmoderne’ Kunstwerkverständnis hat sich von seiner
Immanenz des interesselosen Wohlgefallens und einer rein auf akustische Reize
beschränkten ästhetischen Wahrnehmung befreit. Längst ist das Bühnengeschehen
selbst zu einer Aktionsform geworden, die eine leibliche Beteiligung des Künst-
lers mit einschließt. Hier ließe sich überlegen, ob eine Orientierung der responsi-
ven Erfahrung am ‚Primat des Gehörs’ nicht zu kurz greift und um eine Leiblich-
keit als umfassender und unabdingbarer Bestandteil musikalisch ästhetischer Er-
fahrungs- und Produktionsprozesse erweitert werden muss.195
______________
195
Ausführlich hierzu vgl. Kap. V.2 und V.3
196
Ausführlich hierzu vgl. Rolle 1999
176 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
ven für die Musizierpraxis.197 Mollenhauer setzt dazu im Bereich der elementaren
Musik an und analysiert ästhetische Erfahrungen, die Kinder im Prozess des Im-
provisierens machen. Hierbei werden systematisch sowohl die musikalisch klang-
lichen Ergebnisse als auch die Bedingungen ihrer Hervorbringung untersucht. In
den musikalischen Improvisationen finden sich einerseits Spielfiguren, die frei
erfunden sind und sich nur schwer unter einer musiktheoretischen Analyse subsu-
mieren lassen. Gleichermaßen werden in die Gestaltung immer wieder themati-
sche Gestalten und musikalische Ideen integriert, die in sich ‚geschlossen’ sind
und formale Kriterien, wie z. B. rhythmische oder melodische Motivik, beinhal-
ten.198 Improvisationen werden „erfunden und gleichzeitig aufgeführt“ (GäB 237),
so dass die musikalischen Ideen im Spielen entstehen und gleichzeitig realisiert
werden. Eine einseitige Beschränkung auf das Beziehungsgefüge der Töne und
Motive ist unzureichend, weil auch der Bewegungsvorgang zur Analyse der im-
provisatorischen Muster herangezogen werden muss.
Wie auch das Zwischen der Leiblichkeit darauf verweist, dass ästhetische Erfah-
rungen in der wechselseitigen Bedingung von Wahrnehmung und Produktion
entstehen, so ist Mollenhauer um eine gleichursprüngliche Verzahnung von musi-
kalischer Erfindung und Produktion im Bereich improvisatorischer Prozesse be-
müht. Mollenhauer kritisiert demzufolge, dass die Vermittlungsinstanz von ‚Kör-
per sein’ und ‚Körper haben’ in der musikpädagogischen Diskussion nur unzurei-
chend aufgegriffen wurde und sich dagegen ein idealistisches Wunschdenken
einer Einheit von Körper und Geist durchsetzt, das der an rationalen Lerninhalten
______________
197
Mollenhauer, K.: Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde
zur ästhetischen Erfahrung von Kindern, Weinheim und München 1996; im Folgenden zit. als
‚GäB’; der vollständige Titel lautet ‚Tönend bewegte Formen – Annotationen zur Leiblich-
keit kindlich-musikalischer Gestaltung’.; Mollenhauer geht es in Anlehnung an das Zitat von
E. Hanslick weniger um eine Differenzierung zwischen Inhalts- und Formalästhetik als viel-
mehr um die symbolische Bezugnahme im Sinne der Hervorbringung musikalischer Formen
durch Bewegungen. Vgl. auch Seewald 2000
198
Der aus der Gestaltpsychologie stammende Begriff der ‚Geschlossenheit’ verdeutlicht, dass
sich die musikalische Figur äußerlich hörbar durch Pausen, Veränderung der Klangfarbe oder
des Tempos zusammensetzt und innerlich eine syntaktische Auseinandersetzung mit Phrasen-
länge, Grundtonbezug oder Wiederholung entsteht.
Bewährung · 177
Bei der bewussten Beobachtung von Bewegungen während der Improvisation fällt
auf, dass der Spieler, um eine Melodie zu erzeugen, in einem konstanten Metrum
auf einem Schlaginstrument ungleichmäßige Armbewegungen von unterschiedli-
cher Schnelligkeit, Intensität und Größe ausführt. Die Entfernungen zwischen
Armbewegung und Instrument müssen asymmetrisch sein, um die Gleichmäßig-
keit des Rhythmus zu gewährleisten. Die vollzogenen Körperbewegungen und die
______________
199
Hier ist ein deutlicher Bezug zur Theorie der ‚Exzentrischen Positionalität’ von Plessner
gegeben.
178 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Zwischen der Bewegungs- und der Hörempfindung muss also ein Wider-
spruch, zumindest eine Verschiedenheit bestehen (GäB 247).
Während des Instrumentalspiels sind also Bewegungen erforderlich, die mit der
Gleichförmigkeit des klanglichen Resultats nicht übereinstimmen und abweichen.
Das Kind vollzieht nahezu selbstverständlich solche komplexen Bewegungsvor-
gänge, ohne sich ausschließlich auf die Komplexität der motorischen Vorgänge zu
konzentrieren.
Die elementare Erfahrung, dass musikalische Produktionsprozesse nicht als eine
bloße Vermehrung der bereits durch Gewöhnung bereitgestellten Fähigkeiten
aufzufassen sind, sondern geradezu eine „leibhafte Gegenläufigkeit von Körper-
impuls und ästhetischer Tätigkeit“ evozieren (GäB 255), greift gleichsam auf die
Extension der Leiblichkeit hinaus, die gerade im Umgang mit Instrumenten die
motorische und perzeptive Erweiterung des gewohnten Handlungsspektrums sieht.
Auch Mollenhauer beruft sich ähnlich wie Waldenfels auf „Zwischenereignisse
zwischen dem Begrifflichen und Vorbegrifflichen“, um zu verdeutlichen, dass
„Objekt und Subjekt […] hier noch nahe beieinander, syntaktisch noch nicht ge-
trennt sind, wie in den affirmativen Routinen des ästhetischen Marktes“ (GäB
260).
Dieses paradoxe Verhältnis von Produktion und Rezeption verweist auch auf den
Aspekt der Selbst- und Fremderfahrung musikalischer Tätigkeit, wie sie Walden-
fels und Vogt thematisieren. Hier ergeben sich deutliche Bezüge zur „responsiven
Differenz“ (Waldenfels 1994, 334), die vielfältige Antworten auf einen Aufforde-
rungscharakter berücksichtigt und auch für das Handeln begründet. Auch Mollen-
hauer spricht von „Differenzerfahrung“ (GäB 243). Das Zur-Welt-Sein bei Mer-
leau-Ponty hebt dagegen einseitige intentionale Strukturen auf. Ästhetische Erfah-
rungen müssen korrelativ betrachtet werden, so dass das ‚Was’ und ‚Wie’ unab-
dingbare Bestandteile musikalischer Gestaltungen sind, aber in ihrer gegenseitigen
Angewiesenheit niemals vollständig zur Deckung gelangen können. Von hier aus
ist es nur ein kleiner Schritt zu den Topoi des responsiven Handelns, wie sie Wal-
denfels hervorgehoben hat. Übertragen auf den Bereich der ästhetischen Erfahrung
______________
200
Hier ergeben sich deutliche Bezüge zur „responsiven Differenz“ (Waldenfels 1994, 334), die
vielfältige Antworten auf einen Aufforderungscharakter berücksichtigt und auch für das Han-
deln begründet. Mollenhauer spricht auch von „Differenzerfahrung“ (GäB, 243).
Bewährung · 179
ließe sich der offene Dialog zwischen Anspruch und Antwort im Sinne einer frei-
en Gestaltung zwischen Wahrnehmung und Produktion anführen. Hierbei zeigt
sich besonders der ‚Hiatus, der das Verhältnis von ‚Anspruch und Antwort’ als
offen und gebrochen kennzeichnet und das asymmetrische Verhältnis zwischen
dem Erklingenden und der Erzeugung begründet. Auch die ‚Diastase’ deutet an,
dass Anspruch und Antworten nicht vorgefertigt vorliegen, sondern eine Differenz
im Prozess des Dialogs erfolgt, also im Akt der Hervorbringung.
Der Leib, der solche Figuren spielt, hat sich in gesteigerter Weise von den
klanglichen Impulsen zu entfernen, um sie in der beschriebenen luxuriösen
Art zu überbieten (GäB 250).
deuten. Aber auch der Hinweis auf die gleichförmigen akustischen Impulse und
ungleichmäßigen Körperbewegungen deutet die Expressivität des Leibes an, die
nicht erst speziell erlernt werden muss, sondern im Zur-Welt-Sein immer schon
bereitgestellt ist. Diese Asymmetrie innerhalb musikalischer Vollzugsformen
gewährleistet v. a. eine produktionsorientierte Auseinandersetzung mit Musik, wo
die Andersartigkeit von Hören und Bewegen auf den vorhandenen leiblichen Um-
gang mit Klängen hindeutet und auch zu einer Neubewertung für das Verständnis
ästhetischer Erfahrungen geführt hat.
Wie bereits oben angedeutet, ist demnach in Bezug auf die Konzeptionen von
Waldenfels und Vogt eine Verlagerung von einem ‚Primat des Hörens’ hin zu
einer „ästhetische[n] Produktivität“ als eine „tätige Weise der Weltzuwendung“
(GäB 254) im Sinne der Leiblichkeit zu erkennen.203
Ausgehend von einer Differenzierung von ‚Körper haben‘ und ‚Leib sein‘ wird
zwischen zwei musikalischen Erlebnisweisen unterschieden. Die erste thematisiert
vorästhetische Erfahrungen wie Tanzen oder Singen, die primär leiblich empfun-
den werden. Die zweite hebt das musikalische Kunstwerk auf kultureller Ebene als
ein Artefakt hervor, das sich rational über festgelegte Formgesetze definiert. Nach
Khittl bezieht sich derzeitiger Musikunterricht zum größten Teil auf die zweite
Bestimmung und vernachlässigt die ‚leibliche Ebene’. Die Differenzierung spie-
gelt sich auch in den zwei Begriffen ‚Produktion’ und ‚Rezeption’. Während ‚Pro-
duktion‘ die kreative Auseinandersetzung mit musikalischen Erlebnissen bedeutet
und aktiv erfahren wird, betont die ‚Rezeption‘ das passive Hören der Musik und
ihr artifiziell historisches Erscheinen. Beide Begriffe ergänzen sich aber wechsel-
seitig, so dass auch das Aufnehmen von Musik mit allen Sinnen als ein aktiver
Prozess der Aneignung verstanden werden kann. Reflexion findet demnach auch
statt, wenn etwas produziert wird, wie z. B. im Zeichnen, Malen oder Modellieren
zur Musik. Im Oberbegriff des ‚musikalischen Handelns’ fasst Khittl sowohl die
produktive wie rezeptive Verhaltensweise in der Musikwahrnehmung zusammen.
In dieser Phase wird der leibhaftige Bezug zwischen Mensch und Musik
hergestellt. Was hier zumeist unreflektiert haften bleibt, ist eine solide, af-
fektiv und emotional abgesicherte Basis für spätere begriffliche Arbeit
(Khittl 1997, 35).
den sich in die Stimmung der Musik zu begeben, um dann symmetrisches Zeich-
nen durchzuführen. Während Gegenbewegungen der Hände beim Malen den Kör-
per zentrieren, führen Parallelbewegungen zum Schwingen und Pendeln des Kör-
pers. Eine dieser beiden Zeichenarten soll durchgehend beibehalten werden, um
„Zugänge zu den psychischen Tiefenschichten, die sonst verschlossen bleiben“ zu
ermöglichen (Khittl 1997, 35).
Im Anschluss an das musikgeleitete Malen soll bei erneutem Erklingen der Musik
eine möglichst musiknahe Graphik angefertigt werden. Rhythmus oder Melodik
sowie subjektive Klangeindrücke lassen sich anschließend auf die Bildstruktur
übertragen. Zu dem entstandenen Werk fertigen Schüler assoziativ Texte an, die
die Stimmung des Bildes und der Musik widerspiegeln. Khittl betont, dass es in
dieser Verlaufsplanung nicht allein um die Ebene des Erlebens geht, sondern dass
das „Aktivieren der musikalischen Erfahrung“ das Ziel eines leibbetonten Unter-
richts sei und daher den Ausgang von einer „assoziativ-globalen Repräsentation
von Musik“ rechtfertigt (Khittl 1997, 35). Erst in einem zweiten Schritt der Ver-
mittlung soll die Musik dann als strukturiertes Gebilde wahrgenommen werden.
phänomenologischen Leibbegriff, der sich gerade durch die Ambiguität der sinnli-
chen Wahrnehmung bestimmt, finden sich somit keine Relationen.
Des weiteren sind die Überlegungen Khittls stark von psychologisch-
medizinischen Ansätzen geprägt. Leibliches Musikerleben bestimmt sich durch
eine Korrespondenz zwischen „organischen Rhythmen und Gehirnschwingungen“
(Khittl 1997, 34).206 Durch Erschließung emotionaler Tiefenschichten wird die
Musikwahrnehmung auf eine psychologische Ebene gehoben. Durch die starke
Hervorhebung subjektiver Musikerlebnisse können Verdrängungen hervorgerufen
werden, die dann nicht nur in die Intimsphäre Jugendlicher eingreifen, sondern zu
tief greifenden Störungen im Klassenverband führen. Das betrifft dann auch die
bioenergetischen Übungen, wie das Schütteln des Körpers, da durch ekstatische
Körperbewegungen intensive Erlebnisse bei den Schülern entstehen und Trance-
zustände hervorgerufen werden können. Gleichermaßen spielen Momente wie
Scham oder Schüchternheit eine große Rolle, die eine Realisierung im Unterricht
erschweren. Hinzu tritt die Problematik, dass der Musikunterricht durch meditati-
ve Vorübungen, Konzentrationsversuche und einen nach innen gerichteten Spür-
sinn den passiven Entspannungszustand im Musikhören betont. Von einer leibbe-
tonten Didaktik kann daher durch die Verlagerung der Musik in die innerliche
Befindlichkeit des Schülers keine Rede sein. Auch das Malen mit verbundenen
Augen hebt eher die passiven Stimmungen hervor, die während des Zeichnens
gemacht werden und bezieht nur die Armgesten in die Bewegung mit ein. Ein
wirklich leiblicher Vollzug tritt durch die meditativ spirituelle Orientierung nicht
ein. Die Musikbeispiele in den methodischen Überlegungen werden von der Ste-
reoanlage wiedergegeben und reflexiv von den Schülern gehört. Es bleibt zu über-
legen, ob sich eine leibbezogene Didaktik der Musik nicht auch mit Formen der
musikalischen Gestaltung auseinander zu setzen hätte.
Der Ansatz bei der voraussetzungsfreien musikalischen Erfahrung und den Spür-
erlebnissen ist allerdings nicht alleiniges Ziel des Musikunterrichts. Khittl will
diese Wahrnehmungen nutzen, um darauf aufbauend „musikalische Begriffe und
kognitive Schemata zu entwickeln“ (Khittl 1997, 34). Im Zentrum des Unterrichts
stehen demnach die Musiktheorie und das rationale Erfassen formal musikalischer
Kriterien, was auf die Vorurteilshaftigkeit im Sinne eines Imperativs musikkritisch
______________
206
Khittl bezieht sich hierbei auf die musikalischen Untersuchungen des Strukturalisten Claude
Lévi-Strauss. Vgl. Lévi-Strauss 2004
186 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Nicht um das Ziel einer friedlich harmonischen Ganzheit oder eines gesun-
den Ausgleichs geht es, wenn hier versuchsweise die volle Möglichkeit
menschlicher Vermögen und Verhaltensweisen im Umgang mit Musik erör-
tert wird (ÜaV 78).
______________
207
Der ‚ganze Mensch’ ist nach Richter ein „Phantom“ oder eine „hypertrophe Vorstellung“
(ÜaV 78).
Bewährung · 187
Die menschliche Existenz basiert auf diversen ‚Kräften’ und ‚Vermögen’, die
‚unstet’ und ‚disparat’ wirken. Richter spricht von einer ‚konstitutiven
Wurzellosigkeit’ des Subjekts, um das Verstehen als offenen unabschließbaren
Prozess zu deuten, der immer auch die Vielfältigkeit und Andersartigkeit
ästhetischer Erfahrungen mit einschließt.
Um diese Beziehungen zu verdeutlichen, bezieht sich Richter auch auf den Leib,
der als „ein beseelter Körper aus der Menge der übrigen Körper herausgehoben
wird“ (ÜaV 93).208 Dennoch ist es nicht Richters Ziel, Körper und Leib im Sinne
ihrer divergenten Begriffsgeschichte und konträren terminologischen Bedeutung
voneinander zu unterscheiden.209 Vielmehr geht es ihm um ein Verständnis der
menschlichen Seinsweise, die sich vom Körper als physisch vorhandenes, mate-
rielles Ding absetzt und seine ‚beseelten’ Eigenschaften hervorhebt. Die Gleich-
setzung führt dazu, dass auch im Begriff der Verkörperung Aspekte der obigen
Leibauffassung enthalten sind.210 Richter selbst setzt übrigens die Begriffserklä-
rung in Parenthese, was nochmals unterstreicht, dass eine strenge Differenzierung
im Verlauf der Arbeit nicht beibehalten wird und für das Verständnis der Argu-
mentation nicht zwingend nötig erscheint. Diese fehlende Trennschärfe ist also
kein Mangel, da die Argumentation nicht auf einer ausführlichen Begriffsdifferen-
zierung aufbaut. Das Hauptinteresse liegt vielmehr auf einer grundsätzlichen Neu-
bewertung von Bewegungserfahrungen, die dann im Terminus ‚Verkörperung’
festgemacht werden.
Richter schreibt dem Körper zwei Grundfunktionen zu: „Bewegung und Bewegt-
heit“ (Richter 1995, 5). Während die Bewegung den Menschen als ein physisch
sinnliches Wesen bestimmt, veranschaulich die Bewegtheit sein subjektives Aus-
drucksvermögen. Schon im alltäglichen Wortgebrauch besitzt der Terminus Be-
wegung sowohl eine transitive als auch eine reflexive Bedeutung. Ein Mensch
kann eine bestimmte Rolle annehmen und eine fremde Person darstellen. Gleich-
______________
208
Richter bezieht sich hier auf die Definition aus dem ‚Historischen Wörterbuch der Philoso-
phie’. Vgl. Ritter/Gründer 1980, Bd. 5, Sp. 173-185
209
An einigen Stellen werden sie sogar synonym verwendet. So spricht Richter z. B. von den
„gegenseitigen Beziehungen zwischen Körper (Leib), Seele und Geist“ (ÜaV 92).
210
In der folgenden Darstellung wird der Körperbegriff beibehalten, obwohl sicherlich ‚Leib’
bzw. ‚Verleiblichung’ den Gedanken Richters eher gerecht würden. Allerdings verfällt Rich-
ter auch nicht in ein einseitig vorurteilshaftes Leibverständnis. Wie bereits in Kap. II.3.1 er-
wähnt, lehnt er diese Begriffe v. a. aus Gründen der ‚Klanglichkeit’ ab.
188 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
zeitig ist es möglich, seine eigenen Stimmungen zum Ausdruck zu bringen. Dieses
‚Doppelspiel’ wird als „Verkörperung“ bezeichnet (Richter 1995, 5).211
Als ideales Beispiel für die zweifache Auffassungsmöglichkeit des Körpers dient
die Tätigkeit eines Schauspielers, der jeweils eine bestimmte Rolle verkörpert und
darin gleichzeitig seine individuelle Persönlichkeit darstellen kann. Er agiert ei-
nerseits in einer vorgegebenen Rolle und andererseits als eigenständiger Regis-
seur. Der Körper ist dabei sowohl eine „Maske“ oder ein „Kunstmittel“ (ÜaV 95)
als auch Bestandteil der je individuell mitgebrachten Bewegungseigenschaften.
Aus der Intensität der Darstellung kann darauf gefolgert werden, ob der Schau-
spieler sich auf die Anforderungen der Rolle einlässt und in ihr ‚aufgeht‘. Je viel-
fältiger das Deutungspotenzial des Körpers ist, umso treffender kann ein fremder
Charakter dargestellt werden, und umso wahrscheinlicher ist die ‚Glaubhaftigkeit’
der Handlungen für die Zuschauer. Niemals aber, und das ist die Pointe der Ver-
körperung, kann ein Schauspieler eine fremde Rolle vollständig annehmen, da er
immer auch sich selbst spielt. Es ist eine Grunderfahrung des Menschen, dass er
als ‚Doppelgänger’ je nach Situation verschiedene Rollen annimmt, die seine
Identität ausmachen, so dass er „aus sich in ständigem Vollzug erst [eine] ‚Per-
son’“ wird (ÜaV 96). Es ist also wesentlich der Körper als Medium, der zum Ent-
wurf einer eigener Rolle und Etablierung eines eigenen Wesens dient.
______________
211
Richter bezeichnet die Verkörperung auch als „Gemischtes Doppel“ (Richter 1994, 38) oder
als „den notwendigen Vollzug menschlicher Existenz“ (ÜaV 111).
212
Vgl. Plessner 1980b
Bewährung · 189
Die Art und Weise wie der Mensch die Polarität von Körper und Geist unterläuft,
ist seine ‚Positionalität’. Er kann aus sich heraustreten und sein Handeln wie ein
Außenstehender betrachten und objektivieren. Gleichzeitig ist die Möglichkeit
gegeben, in Distanz zu seiner äußeren Erscheinung zu treten, um das Verhalten zu
kontrollieren, zu gestalten und zu reflektieren. Der Mensch steht in einem kreati-
ven Umgang mit Dingen und Menschen, wo er ‚aus einer Mitte heraus’ handelt
und versteht. Diese Möglichkeit bezeichnet Plessner als ‚exzentrische Positionali-
tät’.213 Die Existenz kann in drei unterschiedlichen Weisen gedeutet werden. Ers-
tens besteht eine rein objektive Außenwelt, wo der Körper als Körperding er-
scheint. Zweitens existiert eine Innenwelt, wo sich das Subjekt in der Außenper-
spektive betrachten kann. Aus der gegenseitigen Beeinflussung von Außen- und
Innenwelt erschließt sich drittens eine Mitwelt, in der die Gesten anderer Men-
schen verstanden und gleichermaßen subjektive Befindlichkeiten nach außen
verkörpert werden. Verkörperung als Vollzug der ‚exzentrischen Positionalität’
definiert Richter wie folgt:
______________
213213
Vgl. Plessner 1980b, 405-410
190 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Verkörperung als eine den Menschen auszeichnende aktive und für den Le-
bensvollzug notwendige Leistung kann als der Prozess verstanden werden,
in welchem die dreifach bestimmte Positionalität des Menschen verwirk-
licht wird: das Körpersein, das Im-Körper-Sein und die Fähigkeit, diesen
Doppelaspekt des Lebens betrachten zu können und bewusst vollziehen zu
müssen (ÜaV 100).214
Der Mensch verkörpert sich auch in und durch Musik. Bereits das Zwischen der
Leiblichkeit verweist darauf, dass jede Form der musikalischen Darstellung aller-
erst über den Körper vollzogen wird, der über Bewegungen die Musik produziert.
Angefangen von der instrumentalen ‚Fingerfertigkeit’ auf einem Instrument oder
den Bewegungen beim Tanzen bis hin zur ‚Körpersprache' im Zusammenspiel
stellt er das Potenzial zur Verfügung, mit dem die Vorstellungen sichtbar, hörbar
und verstehbar realisiert werden. Der Körper besitzt neben der physischen Voraus-
setzung zur Spielfähigkeit auch die Fähigkeit, sich seiner Gestaltung bewusst zu
werden und seine eigenen Vorstellungen von der Musik zum Ausdruck zu brin-
gen. Für jede Form der Interpretation muss die Bereitschaft gegeben sein, die
Bewegungsformen nachzuvollziehen und Bereiche seines eigenen subjektiven
Verständnisses in die Musik hineinzulegen, um sich „als Körper zu erleben“ (ÜaV
106). Diese Möglichkeit besteht nach Richter nicht nur für den ausführenden In-
strumentalisten, sondern auch für den Hörer und Tänzer. Es werden aber keine
Angaben darüber gemacht, wie sich dort die Verkörperung vollzieht. Besonders
Sänger erfahren den Doppelaspekt im Musizieren, weil „sie selbst das ‚Instru-
ment’ der Verkörperung und von sich selbst“ sind (ÜaV 106).
Richter verwendet für dieses wechselseitige Doppelspiel auch die zwei Begriffe
‚Greifen’ und ‚Begreifen’ und kritisiert eine in der Instrumentalpädagogik vor-
herrschende Ausrichtung auf technische Perfektion, die nur die Motorik berück-
sichtigt.215 Dagegen hebt Richter das Verstehen musikalischer Sinnzusammenhän-
ge durch Bewegungen hervor. Übertragen auf den Bereich des Musikunterrichts
zeigt sich, dass z. B. Ensemblearbeit, Tanz, Szenische Interpretation oder Formen
des Klassenmusizierens unter schwerpunktmäßiger Berücksichtigung körperlicher
______________
214
Ganz im Sinne des Zur-Welt-Seins versteht Richter Verkörperung als „Vollzug menschlicher
Existenz“ (ÜaV 109).
215
Vgl. Richter 1994; das Chiasma von ‚Greifen und Begreifen’ verweist auf die Doppelempfin-
dung des Leibes. Vgl. Kap. III.1.2.2
Bewährung · 191
______________
216
Vgl. Kap. V.1.3
Bewährung · 193
______________
217
Vgl. v. a. Richter 1994; 1995
194 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
zesses. Im Vordergrund steht jetzt die „Erfahrung von der Machart der Musik“
(Richter 1995, 9).
Wir müssen die Musik genau hören und sie eventuell auch lesen und unter-
suchen, kurz: sie in Nuancen kennenlernen, um die klangliche Verwirkli-
chung der Charaktere ins Verhältnis zu setzen zu unserer körperlichen
Darstellung (Richter 1995, 12).
Die Verkörperungstheorie geht wie auch die Leiblichkeit von der Voraussetzung
aus, dass tänzerische Bewegungen den Rückschluss auf die Darstellung von Emo-
tionen ermöglichen. Ferner ist sicher, dass Bewegungen zur Musik konkrete Zu-
gänge zur alltäglichen Erfahrungswelt der Kinder bereitstellen. Fraglich bleibt
allerdings, ob die Bereitschaft gegeben ist, klassische Musik zu verkörpern. Letzt-
lich konkurriert das primäre Bedürfnis nach expressiven Bewegungen deutlich mit
den Anforderungen im Schulalltag und den Vorbehalten der Schüler, sich vor den
Mitschülern zu ‚offenbaren’. Verkörperung und Leiblichkeit lassen sich in der
Praxis nur unter idealisierten Bedingungen umsetzen. Das betrifft die Lerngruppe,
die Räumlichkeiten, die Unterrichtszeiten etc. Gleichsam ist die Thematisierung
der menschlichen exzentrischen Positionalität ganz im Sinne des Zwischen des
______________
218
Vgl. Jank 1996
196 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Ein Bezug zur Leiblichkeit findet sich auch in der Verkörperung zwischen Bewe-
gung und Bewegtheit, wo deutlich vorurteilsbestimmte Subjekt-Objekt-Dualismen
und Formen einer Ganzheitlichkeit umgangen werden. So wie es eine Auszeich-
nung des Zwischen der Leiblichkeit ist, sich immer schon auf Dinge zu zu bewe-
gen und sie als Teil des eigenen Zur-Welt-Seins zu erfassen, so liegt auch die
Verkörperung zwischen „aktivem Handeln und Geschehenlassen“ und im „grenz-
überschreitenden Hin und Her zwischen Selbstvergessenheit, Freude am Körper-
sein und Körperhaben, Aufmerksamkeit für den Körper und die Musik“ (ÜaV
109). Leiblichkeit erhält mittels der Verkörperung im Musikunterricht eine
„merkwürdige Stellung zwischen Gegenständlichkeit und Zuständlichkeit“ (Pless-
ner 1980a, 186). Sie setzt ganz im Sinne der frühen Ausführungen zur Verkörpe-
rungstheorie an der individuellen Gestaltung von Selbst- und Fremderfahrungen
Bewährung · 197
logie der Musik‘ plädiert Plessner zwar für eine ‚Einheit der Sinne‘, in der auch
Übereinstimmungen von Hören, Sehen und Berühren thematisiert werden. Letzt-
lich besitzt aber jeder sinnliche Modus eine gesonderte Wahrnehmungsweise und
eigenständige Aufgabenbereiche.
Der Tanz ist zwar eine selbständige Kunstform, in der Verstehen, Sinnlichkeit und
Motorik zusammenwirken, aber sich dennoch eine Diskrepanz zwischen real ver-
körperndem Ausdruck und der abstrakten symbolischen musikalischen Form ab-
zeichnet. Eine Bewegung, die den Gehalt der Musik imitiert, „vergröbert den
Sinngehalt“ (Plessner 1980a, 196). Die „angleichend-ausdeutende Bewegung“
(Plessner 1980a, 196) im Tanz zur Musik wird daher als ‚peinlich’ bezeichnet.
Obwohl der in der Musik verankerte formale Gehalt als Geste erfassbar ist, besitzt
der körperliche Ausdruckswert von Klanggesten nur „eine begrenzt berechtigte
Zugangsweise“ (Plessner 1980a, 197). Plessner bewegt sich argumentativ auf der
Ebene einer Formalästhetik, die nur der musikalisch bewegten Form ästhetische
Relevanz zuspricht und sich von jeglichen Inhalten loslöst. So hebt er ganz im
Sinne Hanslicks die „tönenden Liniengewebe“ und die „Objektivität der Klang-
welt“ hervor, die sich von „den Grenzen und Klangfarben der menschlichen
Stimme“ (Plessner 1980a, 197) befreit haben. Die motorische Imitation der musi-
kalischen Struktur über Tempo, Tonhöhe oder Lautstärke ist nicht in der Lage, die
seelische oder geistige Intention des klanglichen Kunstwerks wiederzugeben und
reduziert die in der Musik liegende Spannung. Da die Eigengesetzlichkeit der
tönenden Form einer Umsetzung der Musik in körperliche Bewegung wider-
spricht, fordert Plessner konsequent eine körperliche Passivität während des Hö-
rens.
Die tönende Linienführung schöpft aus der Unterbindung der durch sie
angeregten Motorik den Charakter des Zu-Bedeuten-Habens, des Zu-
Verstehen-Gebens (Plessner 1980a, 199).
Die Tendenz zur Verinnerlichung findet sich auch in Plessners Definition von
Musik:
Bewährung · 199
Musik bedeutet, dem Leib seine von ihr geweckte und angesprochene Mo-
torik zu unterlassen und die Lösung der durch sie gesetzten dynamischen
(bisweilen emotional-expressiven) Spannungen den Klanggebilden selbst
zu überlassen (Plessner 1980a, 198).
Diese These beinhaltet eine enorme Aufwertung des Gehörs. Der Hörer versteht
das Erklingende und assoziiert das eigengesetzliche musikalische Spiel von An-
stoßung und Abstoßung bzw. Nähe und Ferne mit dem menschlichen Verhalten.
Hierdurch ergeben sich wiederum Bezüge zur Responsivität und zu einem ‚Primat
des Gehörs’. Es ist letztlich Richters Verdienst, gezeigt zu haben, dass musikali-
sche Erfahrungen immer schon von Verkörperungen durchzogen sind, sei es im
Instrumentalspiel, im Singen, im Tanz oder in der Szenischen Interpretation. Rich-
ters Versuch, die Verkörperung von einer rein darstellenden hin zu einer zwischen
Musik und Bewegung vermittelnden Kunstform zu transformieren, zeigt sich
paradigmatisch im Spiel von Selbst- und Fremdverkörperung und trifft demnach
vornehmlich für den Bereich ästhetischer Erfahrung zu.
200 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Der bisherige Verlauf der Arbeit stellte ausgehend vom konkurrierenden Körper-
interesse in der derzeitigen Musikkultur Jugendlicher eine Vorurteilshaftigkeit
fest, die durch den phänomenologischen Leibbegriff unterlaufen werden konnte.
Dieser enthält spezifische Qualitäten, die unter ‚Leiblichkeit’ terminologisch fest-
gehalten wurden. Um die Vollständigkeit des thematischen Untersuchungsfeldes
zu gewährleisten und das in der Bestandsaufnahme dargestellte Körperinteresse in
seiner ganzen Spannbreite zu beleuchten, wird in der ‚Ausweisung’ exemplarisch
die Rolle des Körpers in der ‚Neuen Musik‘ thematisiert, um auch hier praxisrele-
vante Bezüge zur Leiblichkeit zu ermöglichen und Wege für Neue Musik als
Vollzug von Leiblichkeit im Unterricht ‚freizulegen’.
2.1 Hinführung
Um sich dem Körperverständnis in der Neuen Musik anzunähern, wird zunächst
der Frage nachgegangen, wie das ‚Neue’ zu bestimmen ist und welche Kriterien
nötig sind, dass sich der Status des Abstrakten und Ungewöhnlichen bis heute
erhalten hat. Eine erste Annäherung an diese Fragestellung ermöglicht die Funkti-
on der ‚Atonalität’. Sie ist nicht, wie oftmals vermutet, als teleologisches Prinzip
der Musikgeschichte zu verstehen, sondern verweist v. a. auf den Rezipienten, der
einen radikalen Bruch mit traditionellen gesellschaftlichen Vorstellungen von
Musik und damit zusammenhängenden Hörgewohnheiten vollzieht. Durch diese
Bezugnahme auf das sinnliche Individuum lassen sich damit verbundene neue
202 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Wahrnehmungsarten von Raum, Zeit und Klang sowie Rückschlüsse auf eine
Bedeutung des Körpers im Prozess der Musikrezeption und -produktion ableiten.
______________
220
Vgl. Nimczik 1998a, 3. Zur Orientierung sei hier kurz ein historischer Abriss des Begriffs
‚Neue Musik gegeben. Er erscheint erstmals 1919 in einem Vortrag des Musikkritikers Paul
Bekker im Sinne einer „grundlegenden psychischen Erneuerung und Erweiterung unseres
Musikempfindens“ (Bekker 1923, 87), die er durch Arnold Schönberg gewährleistet sah.
1925 definierte Paul Stefan ‚Neue Musik’ als „terminus technicus zur Bezeichnung der Musik
des 20. Jahrhunderts“ (Stefan 1925, 74). In den zwanziger Jahren gewann dann der Begriff
eine umfassende Festlegung für eine progressive Struktur von Musikwerken, die sich dem
Prinzip des Schönklangs und der Hörerwartung des Publikums bewusst widersetzten. Die po-
lemische Kritik, die sich bis heute erhalten hat, richtete sich v. a. gegen die ‚Methode der
Kompositionen mit zwölf aufeinanderfolgenden Tönen’, der sog. ‚Zwölftonkomposition’
Schönbergs, die in letzter Konsequenz das tonalharmonische Prinzip überwindet.
221
Ausführlich hierzu vgl. Blumröder 1981
222
Ausführlich zur Kritik vgl. Brenk 1999
Bewährung · 203
Dieses Neue lässt sich nur durch eine verstärkte Berücksichtigung des individuell
wahrnehmenden Subjekts als Teil des musikgeschichtlichen Prozesses begreifen,
das Geschichtsschreibung immer auch mitbestimmt und vermeintlich teleologi-
sche Prozesse beeinflussen kann. Durch die Bewusstwerdung der Möglichkeit von
Brüchen und Korrekturen findet sich eine verstärkte Involvierung des verstehen-
den Rezipienten in die Musikgeschichtsschreibung, der speziell im Bereich der
Neuen Musik auf Veränderungen gesellschaftlicher Ordnungen reagiert und sich
hierbei mit ‚Neuen Hörgewohnheiten’ konfrontiert sieht.
1.) Neue Musik ist ein fester Bestandteil gesellschaftlich-historischer Prozesse, die
Querverweise zur derzeitigen Lebenssituation des Menschen als Folie sozialer
sich wandelnder Prozesse beinhaltet. Sie besitzt keine Außenseiterrolle, die sich
mit weltfremden Sachverhalten, Methoden oder Problemen auseinander setzt und
den Menschen nichts mehr angeht, weil sie keine Inhalte vermitteln kann oder
will, sondern versteht sich als informationsästhetisches Prinzip, das auf bestehen-
de gesellschaftliche Situationen reagiert. Ulrich Dibelius bezeichnet z. B. die Mu-
sik der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts als eine ‚Verklammerung’ und ‚Symbiose’
mit politisch-sozialen Situationen:
Da selbst Musik als die artifiziellste der Künste ihre Zeit nicht spiegelt –
das würde sie ja zu einem grausam exterritorialen Zellendasein verdam-
men –, sondern in ihrer Zeit und mit ihr lebt, wirkt, agiert, sind ihr die all-
gemeinen politisch-sozialen Determinanten der jeweiligen Gegenwart
nichts Äußerliches, vielmehr Basis und zugewiesene Bedingung ihrer Exis-
tenz (Dibelius 1998, 392).
Neue Musik repräsentiert die politisch-sozialen Bedingungen der Zeit selbst. Das
„informationsästhetische Prinzip der Musikgeschichte“ (Eggebrecht 1991, 757)
besagt somit, dass sich nicht nur die komponierte Musik, die Wahl ihrer musikali-
schen Mittel und ihre Geschichte beständig erneuern, sondern dass auch die Men-
schen geschichtlich gebunden sind und die komponierte Musik „beständig etwas
Neues sagen will, weil die Menschen dies auch von ihr erwarten“ (Eggebrecht
1991, 757). Der Begriff der ‚Avantgarde’ veranschaulicht diese engagierte Grund-
haltung, die sich einem kontinuierlich entwickelnden Geschichtsbild widersetzt
und somit auch als Antwort auf eine gesellschaftlich-soziale Situation zu verste-
204 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
hen ist.223 Das neue Lebensgefühl im 20. Jahrhundert lässt sich als neue geistig
kreative Kraft verstehen, der man durch die politischen Erschütterungen und rapi-
den technischen Entwicklungen gleichzeitig kritisch und skeptisch gegenübertrat.
Gerade im Hinblick auf die Situation der Nachkriegszeit bleiben spekulative Er-
neuerungsversuche zunächst auf einen kleinen Kreis beschränkt, der die „Notwen-
digkeit einer Avantgarde für das Neue“ forderte (Blumröder 1981, 46). Hieraus
erwächst das Verständnis einer vermeintlichen Randerscheinung der Neuen Mu-
sik, in der ‚vorkämpferische’ Versuche, auf populistische Tendenzen der Kon-
sumgesellschaft zu reagieren, missachtet werden.
dass das Neue nicht nur etwas ist, das die künstlerische Produktion allein
tangiert, wie radikal auch immer, sondern dass es ganz entscheidend auch
auf die Rezeption, die Wahrnehmungsweise des Rezipienten ankommt, ob
er/sie etwas als neu oder alt erlebt oder erfährt (Rautmann/Schalz 1998,
1125).
Die neue klanglich sinnliche Erfahrung von Musik negiert traditionelle Rituale
eines populistisch ausgeprägten Musikmarkts und fordert den Rezipienten dazu
auf, über seine Erwartungen zu reflektieren. ‚Neues Hören’ wird als Kampfansage
gegenüber den kalkulierbaren Vorlieben der breiten Masse und deren interesselo-
sem Wohlgefallen im Wahrnehmen verstanden.224 Entgegen einer passiv verinner-
lichenden Hörweise von Musik betäubte der akustische Schock der Atonalität
nicht nur die Ohren, sondern sensibilisierte den Rezipienten für seine eigenen
______________
223
Das aus dem französischen entlehnte Wort ‚avant-garde’ (Vorhut) erscheint im Dreißigjähri-
gen Krieg als militärischer Terminus und bezeichnet heute im übertragenen Sinne die Vorrei-
ter einer bestimmten Idee. Als musikalische Hauptvertreter gelten Pierre Boulez und Karl-
heinz Stockhausen.
224
Eva-Maria Houben hat sich intensiv mit dem Phänomen des ‚Neuen Hörens’ in der zeitge-
nössischen Musik auseinandergesetzt. Vgl. Houben 1996
Bewährung · 205
Sinne. Das Neue der Neuen Musik trifft das Subjekt dort, wo es am empfindlich-
sten ist, in seiner individuellen Unantastbarkeit der Sinnlichkeit von Musik.
Das Interesse an der Wahrnehmungsweise des Subjekts findet sich auch in einem
neuen Raum- und Zeit-Empfinden wieder. Diese zwei Wahrnehmungsarten gelten
im Bereich der zeitgenössischen Musik nicht mehr als empirisch festgelegte Grö-
ßen, sondern als relative und von der Eigenwahrnehmung des Subjets abhängige
Befindlichkeiten. In der Kunst des 20. Jahrhunderts führte das zu einer Aufwer-
tung subjektiver Erlebnisse.225
Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren,
was sie seit jeher gewesen sind. Man muß sich darauf gefaßt machen, daß
so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch
die Invention selbst beeinflussen und schließlich dazu gelangen werden,
den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern (Ben-
jamin 1977, 136).
Wir haben heute drei Dimensionen in der Musik: horizontale, vertikale und
dynamische Zu- und Abnahmen. Ich möchte eine vierte hinzufügen: Klang-
projektion (Varèse 1978, 12).
Das acht Minuten dauernde Werk wurde im Rahmen der Weltausstellung 1958 in
Brüssel für den Phillips-Pavillon komponiert, in dem über 350 Lautsprecher im
Raum verteilt waren und sich die Höreindrücke je nach Positionierung zu den
Schallquellen ergaben. Das von Xenakis entworfene und von Le Corbusier mit
Licht und Bild ergänzte Gebäude war so angelegt, dass Raum, Musik und Bilder
eine synästhetische Einheit bilden sollten. Der von den gesampelten Klang- und
Lichteindrücken umschlossene Zuhörer wurde als integrativer Bestandteil des
kompositorisch-architektonischen Werks gesehen. Die zentrale Hörerperspektive
wurde aufgegeben, um eine Räumlichkeit der Musik zu gestalten, die vom Rezi-
pienten an jeder Stelle unterschiedlich wahrgenommen werden sollte. Die Konse-
quenz, mit der Varèse zielgerichtet und abseits zeitgenössischer Prinzipien die
Klangfarbe zu einem selbständigen die Form determinierenden Gestaltungsele-
ment entwickelte, um „die räumliche Dimension der Zeitkunst Musik nutzbar zu
machen, musste für die Klangforscher um Boulez, Stockhausen, Nono, Ligeti und
Lachenmann eine Vorbildfunktion haben“ (Sommer 1997, 339).
______________
227
Zum weitgefächerten Begriff der ‚Klangkunst’ vgl. de la Motte-Haber 1999; zu Varèse vgl.
Kap. V.2.2.2
Bewährung · 207
Wie kaum ein anderer hat sich Karlheinz Stockhausen in seinem gesamten Oeuvre
mit der Bewegung von Klängen im Raum beschäftigt und hierbei den Grundstein
für die Dimension der Klangbewegung gelegt. ‚Der Gesang der Jünglinge’ (1956)
ist für fünf Lautsprechergruppen komponiert, die rings um die Hörer im Raum
verteilt sind. Das Prinzip der neu erschlossenen Raumperspektive wird dann in
den ‚Gruppen für drei Orchester’ (1955/57) weiter ausdifferenziert. Der Titel
spielt auf die formale Idee der Komposition an. Drei Orchester sind vorn, links
und rechts um die Zuhörer aufgestellt und lassen durch ihr vielfarbiges Wechsel-
spiel und das damit verbundene Hin- und Herwandern der Klänge die Räumlich-
keit des musikalischen Geschehens bewusst werden.231 Die drei Gruppen werden
durch eine netzartige Verflechtung von Klangbewegungen als organisches System
innerer Verstrebungen, Gegensätze und ungeahnter Prozesse zusammengehalten
______________
228
Xenakis ist sowohl Komponist als auch Architekt.
229
Der sog. ‚Modulor’ ermöglichte, „den menschlichen Körper und die Raummaße der Archi-
tektur durch den goldenen Schnitt in Einklang“ (de la Motte-Haber 1999, 248) zu bringen.
230
Vgl. hierzu die Installationen von James Turrell, die von einem sich im Raum bewegenden
Betrachter ausgehen.
231
In ‚Carré’ für vier Orchester und Chöre (1959/60) erweitert Stockhausen das kompositori-
sche Prinzip auch für Chöre.
208 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
______________
233
Bedeutende Zusammenarbeiten von Künstlern aus verschiedenen Bereichen sind z. B. Yves
Klein und Pierre Henry sowie Robert Rauschenberg und John Cage.
234
Vgl. Peter Handtkes ‚Publikumsbeschimpfungen’ oder Yves Kleins Mal-Performances
210 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Der Zuhörer ist in seiner physischen Präsenz ein wichtiger Bestandteil während
der Aufführung.235 Er ist nicht nur passiver Konzertbesucher, sondern ein aktiv am
Geschehen (Performance, Happening) Beteiligter, der durch seine Reaktionen den
Verlauf des Werks beeinflussen kann.
______________
237
Hartmut von Hentig spricht in diesem Zusammenhang von der ‚Einübung in der aisthesis’.
Vgl. Hentig 1978
238
Im Folgenden wird weitestgehend auf die Darstellung der Aisthetik Böhmes zurückgegriffen.
Vgl. Böhme 2001
239
Vgl. auch Seel 1991
212 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
11), weil sie erzeugbar und wiederholbar sind.240 ‚Bedrohung’ oder ‚Kälte’ sind
zwei Beispiele, die zwischen einem konkreten Gegenstandsbezug liegen und sich
durch das Spüren von Anwesenheit kennzeichnen lassen. Auch in der Musik
spricht man von Konzertatmosphären. Hörspiele werden mit einer ‚Atmo’ unter-
legt, und in Warenhäusern wird spezielle Muzak-Musik gespielt, die den Besucher
zum Kauf animieren soll. Besonders deutlich können Atmosphären in Räumen
oder auch Landschaften erlebt werden, weil man in die Stimmungen, wie z. B.
Festlichkeit oder Dämmerung, ‚hineingeraten’ kann und sich ihnen ‚aussetzt’.
Wenn sowohl die alltägliche Umwelt als auch die individuelle Wahrnehmung für
das Entstehen und Erschaffen von Atmosphären notwendig erscheinen, so ist die
„leibliche Anwesenheit“ (Böhme 2001, 75) die grundlegende Voraussetzung hier-
zu.
Böhme macht immer wieder deutlich, dass in der Leibphilosophie von Hermann
Schmitz bereits eine Ausarbeitung des Atmosphärenbegriffs vorliegt, die sich für
die Aisthetik weiter ausdifferenzieren ließe.241 Sein Anliegen ist, die Beteiligung
des Leibes in den Empfindungen systematisch herauszuarbeiten und an Hand des
Spürens zu konkretisieren. Neben der schon erwähnten Unterscheidung zwischen
dem homerischen und platonischen Körperbildern arbeitet er den Begriff der At-
mosphäre an verschiedenen leiblichen Wahrnehmungen im Raum heraus.242 Dabei
wird die Rehabilitation einer ursprünglich leiblichen Erfahrung gefordert, die
„vom Dogma des psychosomatischen Dualismus allein anerkannten Flügeln des
Menschseins“ verdrängt worden ist (Schmitz 1967, 5). Die Zwischenstellung der
Atmosphäre findet sich demnach auch in der Leibphilosophie von Schmitz. Die
äußeren räumlichen Stimmungen greifen auf den Leib ein und besitzen durch ihre
konkrete Anwesenheit einen substanzähnlichen Charakter. Diese Überwindung
der „ontologischen Ortlosigkeit“ (Böhme 1995, 31) von Befindlichkeiten gelingt
durch den Doppelcharakter des leiblichen Spürens:
______________
240
Böhme weist auch auf die Nähe zum Begriff der Aura von Walter Benjamin hin. Vgl. Benja-
min 1977, 136 ff.
241
Vgl. Schmitz 1965; 1976
242
Vgl. Kap. V.3.1.1
Bewährung · 213
Sich leiblich Spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in einer Umge-
bung befinde, wie mir zumute ist (Böhme 1995, 31).
Jeder Raum, in dem man sich befindet, jede Blümchentapete, jede S-Bahn-
Gestaltung, jede Atmosphäre in Verkaufsräumen etc. ist Ästhetik (Böhme
1995, 15).
Für Wolfgang Welsch ist der Leib wesentlich physiologischer Natur. Die Leibzu-
stände sollen die Reize der Umwelt verarbeiten und über den Nutzen und Schaden
für den Organismus Auskunft geben. Innerhalb des technologischen Zeitalters sind
die „Sinne nicht bloß unzuverlässig, sondern kontraproduktiv – Agenten des Fal-
schen – geworden“ (Welsch 51998, 19). Diese anästhetische Situation gleicht einer
Narkose, die aber keinen Grund zur Forderung einer neuen Sinnlichkeit bietet,
sondern vielmehr Rettungspotenziale bereitstellt. So „wäre eine mediale Simulati-
onsstrategie zur Rettung sämtlicher Sehenswürdigkeiten unserer Welt vor ihrer
drohenden massentouristischen Zerstörung denkbar“ (Welsch 51998, 20). Über
Videopräsentationen können Kultstätten geschont und vor Umweltbelastung durch
Massentourismus geschützt werden. Trotz der befremdlichen Vorstellung und
Kuriosität dieser positiven Nutzung der Anästhetisierung sind solche Tendenzen
in der Computertechnologie (Cyberspace) nicht so abwegig. Die Rolle des Leibes
wird bei Welsch kritisch bestimmt. Sie besitzt keine aktive Aufgabe zur individu-
ellen Sinnentfaltung und ist einseitig auf die Verinnerlichung von Sinneseindrü-
cken beschränkt. Ein Bezug zum phänomenologischen Leibbegriff ist nicht gege-
ben.
Die Aisthetik ist grundsätzlich ein Modell, das viele Parallelen zur phänomenolo-
gischen Leiblichkeit ermöglicht und dabei auch die ästhetische Wahrnehmung
berücksichtigt. Besonders der Zwischencharakter der Atmosphären bei Böhme
und Seel veranschaulicht, wie sich die Ambiguität des Leibes als wesentlicher
Bestandteil von künstlerischen Wahrnehmungen kennzeichnet und hierdurch
gleichsam die Möglichkeit bietet, sich über das Zur-Welt-Sein der alltäglichen
Wahrnehmung zu öffnen und die jeweiligen Stimmungen individuell zu erleben.
So wie die Aisthetik als allgemeine Wahrnehmungslehre weitestgehend ohne
Formalisierung auskommt und Stimmungen bzw. Befindlichkeiten als ästhetisch
fundiert, so ist auch die phänomenologische Leiblichkeit im offenen, mehrdeuti-
gen lebensweltlichen Vollzug verankert, so dass sich über Bewegungen die indi-
viduellen Stimmungen des Subjekts ausdrücken lassen, ohne ein determinierbares
Verhalten anzunehmen.
Bewährung · 215
Das Werk ‚Pression’ für einen Cellisten beinhaltet z. B. schon im Titel den sym-
bolischen Bezug zur Körperlichkeit seiner Musik. Durch das Pressen der Finger
auf die Saiten werden die „Druckverhältnisse“ angesprochen (Lachenmann, Spiel-
anweisungen zu ‚Pression’), denen sich der Spieler während der Aufführung aus-
setzt. In der konkreten Thematisierung der physischen Wahrnehmung von Spiel-
vorgängen geht es „nicht darum, was klingen soll, sondern was der Spieler tun
______________
243
Klassische Vertreter einer französischen ‚musique concrète’ sind v. a. P. Schaeffer, L. Ferrari
und P. Boulez.
244
Lachenmann erweitert z. B. die Bewegungsformen des Bogens bei den Streichern durch
vertikale oder kreisförmige Bewegungen entlang der Saiten.
245
Auch Wolfgang Rihm verwendet den Terminus ‚Abtasten’.
216 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
In der Tagung ‚Am eigenen Leib – Für eine andere Wahrnehmung’ 1993 in Bre-
men plädiert Lachenmann für neue kommunikative Hör- und Spielerfahrungen in
der Neuen Musik:
Wo gibt es eine Form von Kommunikation, die „stimmt“, d. h. mit der wir
eine Erfahrung „am eigenen Leib“ machen, nicht eine Erfahrung, die bloß
„Spiel“ bedeutet, wie dies so oft innerhalb der ins Ghetto getriebenen so-
genannten Neuen Musik der Fall ist (Lachenmann 1993)?
Zu 2:
Das Erfinden neuer Klangmöglichkeiten von Instrumenten, wie z. B. das ‚Präpa-
rierte Klavier’ von John Cage oder das ‚Klavier Integral’ von Nam Jun Paik, dien-
ten einerseits dazu, das musikalische Material zu erweitern, und waren anderer-
seits Versuche, dem Interpreten neue Spieltechniken bereitzustellen und her-
kömmliche physische Gewohnheiten radikal in Frage zu stellen. Verschiedene
Musikinstrumente werden z. B. durch Schläuche miteinander gekoppelt oder mit
Elektronik versehen. Der Spieler nimmt oftmals ungewöhnliche Haltungen an und
muss z. B. in Gegenstände wie Trichter hineinspielen, um den Klang zu filtern,
oder er muss sich in das Klavier legen, um die Saiten abzudämpfen. Durch diese
neuen Spielweisen werden zum Teil theatralische Elemente gewonnen, die den
Musiker in die Rolle eines Schauspielers versetzen. Im Sinne eines musikalischen
______________
246
Für die Einbeziehung des Rolle des Körpers in die Neue Musik seit 1975 lassen sich neben
den hier vorgestellten Komponisten zahlreiche weitere Namen anführen, wie z. B. N. A. Hu-
ber, M. Spahlinger, R. Riehm, M. Levinas, H. Oehring sowie die urban-aboriginale Musik-
performance. Ausführlich hierzu vgl. de la Motte-Haber 2000
247
Im sog ‚Surround-System’, das z. B. in Kinos zur Erzeugung klangräumlichen Effekte dient,
wird deren Nähe oder Ferne oftmals körperlich spürbar. Gleichsam lassen sich extrem laute
oder schrille Frequenzen physisch erspüren ohne gehört zu werden.
248
Ausführlich hierzu vg. Kap. V.3.2.1
218 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Zu 3:
Die Vorschreibung und Forderung radikaler bis unmöglicher Spielweisen lässt
sich exemplarisch anhand der zwei zeitgenössischen Komponisten Volker Heyn
und Hans Joachim Hespos veranschaulichen. Heyn „gehört zu den Komponisten,
die Körperlichkeit in ihr ästhetisches Kalkül einbeziehen und dem Umstand, daß
Musik aus Bewegung gewonnen wird, Rechnung tragen“ (Hilberg 2000, 201). Er
treibt in seinen größtenteils als Performance oder Klanginstallationen angelegten
Kompositionen den Interpreten bewusst durch eine Vielzahl von Spieltechniken
und instrumentalen Klangmöglichkeiten an die Grenze des Physisch-Machbaren.
In dem Stück ‚Did yer hear that’ für suspendiertes Pianoforte, Akteur und Ton-
band wird das Klavier in ein Gerüst eingespannt. Der Pianist hängt neben dem
Flügel an einem Seil und führt alle Aktionen schwebend aus.
Weiter wird von ihm gefordert, dass er „ohne ästhetische Vorurteile und ähnliche
Skrupel in die Gestalt einsteigt (im wahren Wortsinn), die es hier zu verkörpern
gilt […] Er ist sportlich bis schlangenhaft beweglich“. Innerhalb der zu sprechen-
den Textfragmente wird eine radikale körperliche Darstellung gefordert.
Bewährung · 219
Die Hände müssen mehr in den Lüften schweben → ten müssen mehr in
den Lüften schweben als → te müssen mehr an den Händen kleben als →
Schwebenden müssen mehr an den Tasten kleben […] (Heyn, Partitur von
‚Did yer hear that’).
Auch die Werke von Hans-Joachim Hespos sind in den expressiven Ausdrucksge-
setzen radikal ausgeprägt. Durch den Einbezug zahlreicher improvisatorischer
Elemente komponiert er nach seinen Angaben „mit der eigenen Überraschung“
(Hespos 1985, 27).
Ich fange ein Stück immer von vorne an und weiß nicht, wie es im nächsten
Augenblick weiter geht, und das muss ausprobiert, ausgelebt, ausgehört
werden (Hespos 1985, 27).
In dieser ständigen Suche nach dem Anderen betrachtet er den Körper als kompo-
sitorisches Vorbild, der immer neue Bezüge zur Umwelt herstellt und verarbeitet.
Wir müssen immer wieder den Mut haben, das nächste jetzt, das Jetzt-jetzt,
das dann wieder ein neues Jetzt hat, diese Aktualitäten, die wir von unse-
rem Körper her leben, von unserer Konstitution her leben, auch geistig zu
leben“ (Hespos, zit. nach Hilberg 2000, 206).
Zu 4:
In verschiedenen Kompositionen der Neuen Musik wird der Körper als eigenstän-
dige Klangquelle benutzt. Oftmals dient er dabei als Schlagzeug, wenn im Sinne
der Bodyperkussion die Klanglichkeit verschiedener Körperstellen (dumpf oder
spitz) durch unterschiedliche Schlagtechniken (Streichen, Klopfen, Wischen)
rhythmisiert wird.250 Da der Musiker ungewohnte Verrenkungen ausführt und
seinen eigenen Körper bis zur Schmerzhaftigkeit erforscht, entsteht ein theatrali-
scher Effekt, der oftmals dazu dient, Zuschauer zu schockieren. Ziel ist ein Ver-
zicht auf traditionelles Instrumentarium und die totale Reduktion auf klangliche
Mittel, die der Körper selbst hervorzubringen im Stande ist. Oftmals hängt diese
Beschränkung auf die eigene Klanglichkeit neben einem Mangel an Expressivität
in den traditionellen Konzerten auch mit einer Kritik an der Technisierung, Media-
lisierung und Anhäufung von Instrumenten in der Neuen Musik zusammen.
______________
249
Die Vorschreibung nicht zu realisierender Spielvorgänge lässt sich bis in die Romantik zu-
rückverfolgen. So verlangt Robert Schumann in seiner Klaviersonate op. 22 vom Pianisten
zunächst das Tempo ‚prestissimo’, um dann im späteren Verlauf die Anweisung ‚immer
schneller und schneller’ hinzuzufügen. Schumann geht es allerdings weniger um eine Kritik
am Virtuosentum, sondern um einen Appell an den Musiker, über sein Mögliches hinauszu-
gehen. Innerhalb der Neuen Musik greift auch Giörgy Ligeti diesen Gedanken auf, wenn er in
‚Moment – Selbstporträt – Bewegung’ (Drei Stücke für zwei Klaviere; op. 76) den Pianisten
zunächst die Anweisung ‚so schnell wie möglich‘ und anschließend ‚noch schneller‘ vor-
schreibt.
250
So z. B. in der Komposition ‚?corporel’ von Vinko Globokar. Ausführlich hierzu vgl. Kap.
V.3.2.3
Bewährung · 221
Innerhalb der Funktion des Körpers als Instrument erhält auch die Stimme neue
Einsatzmöglichkeiten. Sie wird nicht mehr als rein melodisch gesangliches Ele-
ment, sondern hinsichtlich ihrer Sprach-, Laut- und Geräuschmöglichkeiten einge-
setzt. Hierbei erhält besonders der Atem als eigenständiges musikalisches Gestal-
tungskriterium eine enorme Aufwertung. Schon in einer etymologischen Deutung
findet sich ausgehend vom altindischen Sanskritwort ‚atmán’ und der folgenden
griechischen Bestimmung von ‚pneuma’ eine Verflechtung der Begriffe ‚sinnlich
wahrnehmbarer Hauch’ und ‚Seele bzw. Ich-Selbst’, die sich später im Wechsel-
bezug von Windhauch und Geist, körperlichen, seelischen und göttlich-
kosmischen Kräften weiter ausdifferenzieren. Nach Rüdiger erweist sich der Atem
„als eine Ur-Metapher des Menschen“ (Rüdiger 21999, 72), der im musikalischen
Denken die Verknüpfung von Körper und Seele suggeriert. Er stellt ein Zeichen
der Innerlichkeit durch sinnliche Entäußerung dar.
Die musikalische Behandlung des Atmens bildet ein Kernmotiv des Schaffens von
Lachenmann, der ihn als energetischen Prozess „zwischen Körperlichkeit und
Struktur“ versteht (Hilberg 2000, 178).251 Ein Beispiel für die ‚instrumentale mu-
sique concrète’ unter schwerpunktmäßiger Berücksichtigung des ‚Atmens’ ist das
Stück ‚temA’ für Flöte, Stimme und Violoncello (1968). Der Titel setzt sich aus
den vier Buchstaben des Wortes ‚Atem’ zusammen, worauf auch das großge-
schriebene ‚A’ verweist. Gleichzeitig findet sich ein Bezug zum Begriff ‚Thema’.
Das fehlende ‚h’ verdeutlicht die anagrammatische Umkehrungsmöglichkeit des
Buchstabenmaterials: T(h)ema=Atem. Innerhalb der verschiedenen Einsatzmög-
lichkeiten der Stimme wird Atem zu einer existenziellen Angelegenheit des Men-
schen, der sich über die ureigene Luftigkeit der Stimme zu verstehen gibt. Entge-
gen einer rein mechanisch und virtuos ausgebildeten Stimme erhält der Atem v. a.
in den Kompositionen Lachenmanns die Funktion des Intimen, Spannungsgelade-
nen und Zerbrechlichen, der gerade die Aufführung zum einmaligen Erlebnis
werden lässt und den Interpreten als Gestalter der Komposition und als expressi-
ven Gestalter der momentanen Situation bedeutsam werden lässt.
In ‚temA’ müssen die Instrumentalisten die Atemprozesse einer Sopranistin imi-
tieren. Innerhalb der Vokalstimme findet sich ein weites Feld an unterschiedlichen
Abstufungen zwischen Sprache, Hauch und gesungenem Ton. Der Atem wird
zwischen „Einatmen“, „Ausatmen“, „Pressen“, “Anhalten“, „Schnalzen am Gau-
______________
251
Vgl. Lachenmann 1996
222 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
men“ und „Hin- und Herschnellen der Zunge zwischen den Lippen“ eingesetzt
und verdeutlicht die physische Erzeugung der Geräusche. Zusätzlich finden sich
Vibrato-Effekte durch „Schnarchen“ oder „knatterndes Pressen hinten im Hals“.
Vorgegebene Texte, wie z. B. „wie bitte?“ oder „das darf ja gar nicht wahr sein“,
müssen nicht vom Hörer verstanden werden, sondern „dienen zur charakteristi-
schen Modifikation des Ausatmens“ (Lachenmann, Partitur von ‚temA’). Die
Berücksichtigung körperlicher Tätigkeiten wird in sog. ‚Aktionsfelder’ notiert, die
jeweils detailliert die Tonproduktionen und Klangmaterialien mit den dazugehöri-
gen Gestiken exponieren.252
Besonders deutlich findet sich die Einbeziehung unterschiedlicher Klangaktionen
des Atems in ‚pneuma’ für Bläser, Schlagzeug, Orgel und Radio (1970) von Hol-
liger wieder. Das Stück ist unter dem Eindruck des Todes einer ihm bekannten
Person geschrieben und thematisiert, wie der Begriff ‚pneuma’ in der Übersetzung
von ‚Atmen’ suggeriert, das Luftholen und Ausatmen während des Musizierens.253
Holliger sucht somit einen direkten körperlichen Ausdruck von Klage, „die im
physischen Sinne spürbar wird“ (Wilson 1989, 21). Das Ensemble dient dazu,
einen Filter über den Klang zu setzen, der die Klänge ‚erstickt’. Es stellt somit die
Tätigkeit einer Lunge dar und symbolisiert eine Abbildfunktion zwischen mensch-
lichem Körper und Klangkörper.
Pneuma ist ganz sicher ein Stück über den Körper. Mein Vater war Arzt,
und auch ich interessiere mich stark für biologische, physische Gegeben-
heiten. Als Bläser bin ich eigentlich immer damit konfrontiert (Holliger, zit.
nach Wilson 1989, 21).
In dem Stück ‚Cardiophonie’ für Oboisten und drei Tonbänder verstärkt Holliger
über Mikrophone das Herzgeräusch des Musikers.254 Das gesamte musikalische
Material und die künstlerische Gestaltung stehen dabei in Abhängigkeit zum
Tempo des Herzschlags. Dieses „körperlich-musikalische Feed-back-System“
(Hilberg 2000, 201) endet im körperlichen Zusammenbruch des Instrumentalisten.
______________
252
Das gilt auch für die nachfolgenden Kompositionen wie ‚Pression’, ‚Gran Torso’ oder
‚Klangschatten’.
253
Vgl. die Komposition ‚Psalm’ für sechzehnstimmigen Chor (1971), die sich mit demselben
Gestaltungsmittel beschäftigt.
254
In ‚Tristan’ für Klavier, Tonbänder und Orchester von H. W. Henze werden collageartig
Herzschläge über Verstärker dem Orchesterklang unterlegt.
Bewährung · 223
Der Leib übersteigt das klassisch normierte Bewegungsrepertoire mit der dazuge-
hörigen motorischen Technik und setzt dagegen das engagierte Zur-Welt-Sein des
Musikers. Bewegungen dienen dazu, Klänge sowohl zu produzieren als auch leib-
lich wahrzunehmen und deren Erzeugung als Teil der Darstellung zu thematisie-
ren. Diese Ambiguität ermöglicht, den Klang zu gestalten und sich selbst darin
darzustellen. Dennoch sind die expressiven Darstellungsmodi niemals Selbst-
zweck, sondern dienen immer dazu, einen vom Komponisten vorgeschriebenen
musikalisch-technischen oder szenischen Gehalt umzusetzen. Der gleichzeitige
Anspruch an die Beherrschung des musikalischen Materials und die expressive
Realisierung symbolisieren das Zwischen der Leiblichkeit und unterlaufen so
einseitige Dualismen einer rein festgelegten virtuosen oder frei improvisatorischen
Gestaltung. Der Leib kommt in verschiedenen Facetten der Neuen Musik zwi-
schen physisch-technischen und kreativ-expressiven Bereichen zur Geltung.
Besonders deutlich zeigt sich die Doppelempfindung bei verschiedenen klangli-
chen Einsatzmöglichkeiten der Stimme in der Neuen Musik. Sie wird als physi-
scher Erzeuger von Tönen angesehen, der gleichzeitig dazu dient, Expressivität
und Individualität auszudrücken. Die expressiv klingenden Atemgeräusche sind
kein Selbstzweck, sondern stehen im Kontext kontrollierbarer musikalischer Ge-
staltungen, die vom Sänger ein hohes Maß an Technik verlangen. Der Atem steht
daher zwischen Subjektivität und Objektivität, Innerlichkeit und Äußerlichkeit
sowie Selbst- und Fremderfahrung. Demnach ist er wie „ein Brief, dessen Emp-
fänger identisch mit dem Absender ist und der eine Botschaft enthält, die genau so
zurückkehrt wie sie ausgesandt wurde“ (Wimmer 1984, 122). In dieser Gleichzei-
tigkeit von Produktion und Rezeption deutet auch Jürgen Vogt die Stimme als das
„leibliche Medium, durch dessen Gebrauch der Mensch unmittelbar bei sich selbst
ist, also zum Subjekt wird“ (SBL 237).
224 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
2.2 Durchführung
Die Durchführung setzt sich explizit mit den drei Komponisten Edgar Varèse,
Dieter Schnebel und Vinco Globokar auseinander. Grundsätzlich werden zunächst
ihre Kompositionsansätze unter dem Gesichtspunkt ‚Musik und Körper’ betrach-
tet. Dazu werden verschiedene Werke vorgestellt. Anschließend lassen sich Über-
einstimmungen bzw. Divergenzen zur Leiblichkeit heranziehen, um diese ab-
schließend in Bezug auf den Musikunterricht zu verdeutlichen. Durch diese drei-
teilige Struktur ist die praktische Konkretisierung der Ergebnisse (Qualitäten der
Leiblichkeit) gewährleistet. In den jeweiligen Teilbereichen werden verschiedene
bereits angesprochene Aspekte vertieft und in neue Kontexte eingebunden. An
dieser Stelle sei ausdrücklich hervorgehoben, dass es sich um eine Vertiefung und
Neukontextualisierung bereits gewonnener Ergebnisse handelt. Der erste Teil
stellt Rahmenbedingungen auf, der zweite Teil kontextualisiert sie in Bezug zur
Leiblichkeit und der dritte Teil thematisiert potentielle Umsetzungsmöglichkeiten
im Musikunterricht.
Obwohl die Konstellation dieser drei Komponisten auf den ersten Blick befremd-
lich anmuten mag, ist ihnen neben dem experimentellen Erforschen von Klängen
auch die Berücksichtigung der Wahrnehmung des Rezipienten gemeinsam. Ein
Überblick über ihre Kompositionsprinzipen verdeutlicht ferner einen Wandel in
der ‚Klangforschung’ im 20. Jahrhundert. Ausgehend von musikalisch-
klanglichen Prinzipien und der räumlichen Erfahrung eines ‚son organisé’ bei
Varèse über die Einbeziehung des Sprachklangs und der Gestik bei Schnebel bis
hin zur Erschließung neuer Klangmöglichkeiten und Spieltechniken bei Globokar
verändern sich auch die Spieltechniken und Klangeigenschaften der Instrumente,
bis der Körper selbst zum Musikinstrument avanciert. Basierte die ‚Grundfunktion
der Sinne‘ bei Varèse noch auf der räumlich-akustischen Wahrnehmung der
Klangbewegungen, so wurde sie durch Schnebel in Form von Organbewegungen
und der Integration von Spielvorgängen weiter ausdifferenziert, um schließlich
durch Globokar als eigenständiger Teilbereich musikalischen Engagements in die
Gestaltung inte-griert zu werden. Im Sinne einer individuellen Klangtypik, die zu
physiologischen Grenzsituationen und Vorschriften extremer Spielvorgänge her-
ausfordert, erhält der Körper durch diese drei Komponisten stetig steigende musi-
kalische Relevanz sowie immer größer werdende systemimmanente Verankerun-
gen in der Kompositionsästhetik.
Bewährung · 225
Varèse wandte sich schon früh der Wirkung von Klängen und Geräuschen zu und
konzentrierte sich dabei auf die vielfältigen Klangspektren von Schlaginstrumen-
ten. Er ist einer der ersten, „der Kompositionen ausschließlich für das Schlagzeug
geschrieben hat“, denn „das Schlagzeug hat – was seine Klanglichkeit betrifft –
eine Vitalität, die die anderen Instrumente nicht haben“ (Varèse, zit. nach Weh-
meyer 1977, 116).257 Schon um 1910 komponierte er verschiedene Solostücke
unter dem Schwerpunkt komplexer rhythmisch-metrischer und klanglich-
architektonischer Aspekte.258 Dazu verwendet er eine große Anzahl ungewöhnli-
cher perkussiver Klangerzeuger (Gongs, Bongos oder Röhrenglocken) und hebt
deren klangliche Spannbreite hervor, um die Besetzung des traditionellen Orches-
ters zu erweitern.
Die erste Komposition, die sich mit Schlaginstrumenten als einziger Instrumen-
tengruppe in formaler und zeitlicher Organisation beschäftigt, ist das 1931 ent-
standene Kammermusikwerk ‚Ionisation’ für 13 Perkussionisten auf insgesamt 41
______________
257
Eine weitere Erklärung, warum sich Varèse mit Klangspektren des Schlagzeugs auseinander-
gesetzt hat und Klang als eine Form von Materie definiert, findet sich in seiner Jugend. Schon
als Kind war er von der materialen Beschaffenheit von Steinen, wie z. B. Granit, beeindruckt
und pflegte „die alten Steinschneider zu beobachten, die Präzision bewundernd, mit der sie
arbeiten. Sie benutzten keinen Mörtel und jeder Stein mußte eingepaßt und mit dem anderen
ausbalanciert werden. So war ich immer in Berührung mit Dingen aus Stein und mit dieser
Art von Strukturaler Architektur“ (Varèse, zit. nach de la Motte-Haber 1991, 108). Zeitgleich
beschäftigten sich auch andere Komponisten wie Henry Cowell, John Cage oder Lou Harri-
son mit der solistischen Funktion des Schlagzeugs.
258
Diese Werke sind angeblich von Varèse vernichtet worden.
Bewährung · 227
Form ist bei Varèse „das Ergebnis eines Prozesses“ (Varèse 1978, 18), der erst im
Nachhinein seine ihm zugehörige Struktur zugänglich werden lässt. Die Entste-
hung vollzieht sich auf der Basis einer inneren Keimzelle. Durch verschiedene
Kräfte in Gestalt, Dichte, Richtung und Geschwindigkeit entsteht durch Ausdeh-
nung und Abspaltung eine ständige Veränderung des musikalischen Materials.
Entgegen der Eindeutigkeit linearer musikalischer Formverläufe hebt Varèse die
______________
259
Die Frage, ob sich Varèse von anderen Schlagzeugkompositionen hat beeinflussen lassen,
wird kontrovers diskutiert. Während sein Kompositionsschüler Chou Wen-chung vermutet,
dass ein ostasiatisches Interesse an Gamelanmusik möglich sein könnte, verweist Odile Vi-
vier auf die Musik des brasilianischen Komponisten Villa-Lobos, mit dem sich Varèse in Pa-
ris fast täglich traf. Hierfür sprechen auch die mexikanisch-kubanischen Perkussionsinstru-
mente, wie z. B. Bongos, Maracas, Claves, Cencerro, Guiro. Vgl. Wen-chung 1978, 70 ff.,
Vivier 1973, 104
228 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Beweglichkeit der klanglichen Materie hervor, die sich immer neu organisiert.260
So bezeichnet er seine eigene Musik als eine „Bewegung von Klangmassen“ (Va-
rèse 1978, 12), die beim Hörer „Intensitätszonen“ durch unterschiedliche Timbres,
Farben und Schwingungen hervorrufen. Diese immer neuen Zusammensetzungen
nennt Varèse auch „Beatmung“ (Varèse 1978, 13).261
Varèse definiert Musik als eine „Verkörperlichung der im Klang selbst gelegenen
Intelligenz“ (Varèse 1978, 22). Im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit ist es
lohnenswert, den Begriff der ‚Verkörperlichung’ genauer zu betrachten, da hier
Aspekte der Bewegung und Körperlichkeit von Klängen angesprochen werden.262
Der Grundgedanke dieser Definition, die Varèse vom polnischen Philosophen
Hoëné Wronsky übernahm, lautet, dass Klänge eine ihnen zugehörige Struktur
(‚intelligence’) besitzen, die zwar unsichtbar und immateriell bleibt, aber über den
Schall und die Schwingungen ‚verkörpert’ (‚corporealization’) wird. Grete Weh-
meyer hebt hervor, dass eine andersartige Deutung des Satzes durch eine unter-
schiedliche Betonung auf ‚intelligence’ oder ‚corporealization’ entsteht. Im ersten
Fall „hört man die Intelligenz, die in den Klängen ist“ (Wehmeyer 1977, 30), die
folglich Varèses Musik als ein komplexes rhythmisch-klangliches System defi-
niert. Im zweiten Fall wird „das Körperlichwerden von Klängen überhaupt“ deut-
lich (Wehmeyer 1977, 30), das dann deren Spürbarkeit begründet.
Vorläufig kann festgehalten werden, dass Klänge im Verständnis von Varèse zwei
unterschiedliche ‚Erscheinungsarten’ besitzen. Sie enthalten eine grundlegende
______________
260
N. Slominsky, der die Uraufführung leitete, interpretiert das Werk als Sonatenhauptsatzform
und beschränkt sich somit auf eine rein formale Deutung. Vgl. Slominsky 1953 sowie das
Vorwort der Partitur von Ionisation
261
In seinem Essay ‚Der Gehorsam’ fasst Jean-Francois Lyotard in Anlehnung an Adornos
Begriff der ‚Entfesselung des Materials’ das Kompositionsanliegen von Varèse als ‚Entfesse-
lung des Klangs’ durch Bewegung von Klangmassen zusammen. Diese ermöglicht neue Mu-
sikwahrnehmungen, denen prinzipiell zwei sich nicht ausschließende Wege offen stehen. Die
‚intuitionistische’ Methode kritisiert traditionelle Wahrnehmungsraster und konzentriert sich
auf das ‚Klänge-Sein-lassen’ im Sinne von John Cage. Die ‚axiomatische’ Methode sucht
neue systematische Erschließungsdimensionen der Hörvorgänge und orientiert sich an kogni-
tiven Strukturen, in denen unterschiedliche Dimensionen des Klangs experimentell erschlos-
sen werden. Lyotards Essay lässt sich als Rehabilitierung des Lauschens nach Klängen ver-
stehen, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten abseits traditioneller abendländischer Musiksys-
teme besitzen und ihre Freiheit durch den ‚Gehorsam’ an die Entfesselung des Materials be-
gründen. Vgl. Lyotard 1989, 279-283
262
Im Original spricht Varèse von der Musik als „la corporification de l’intelligence qui est dans
les sons“ oder als „the corporealization of the intelligence in sounds“ bzw. „the corporealiza-
tion of the intelligence that is in sound“ (Varèse, zit. nach Wehmeyer 1977, 30).
Bewährung · 229
komplexe Struktur, die sich auf die Form bezieht, und sie sind gleichzeitig eng an
die Wahrnehmung des Rezipienten gebunden.
Ausgehend von den zwei Erscheinungsarten lässt sich die Musikästhetik Varèses
anhand der drei Begriffe ‚Kristallisation’, ‚Son Organisé’ und ‚Spatiale Musik’
weiter ausdifferenzieren. Sie vertiefen das oben angeführte Formdenken und ver-
deutlichen die dargestellte doppelte Anlage der Kompositionen von Varèse zwi-
schen mathematischer Kalkulation und sinnlichem Erlebnis.
Ähnlich wie ‚Ionisation’ ist ‚Kristallisation’ ein Fachbegriff aus der Physik. Dabei
bezieht sich Varèse in der Beschreibung des Vorgangs auf den Mineralogen Na-
thaniel Arbiter:
Die innere Struktur basiert auf der kristallinen Einheit, welche die kleinste
Atomgruppierung darstellt, die die Anordnung und Zusammensetzung der
Substanz aufweist. Aber trotz der relativ begrenzten Varianz von inneren
Strukturen sind die äußeren Formen von Kristallen unbegrenzt. […] Kris-
tallform ist selbst eine Resultante (Arbiter, zit. nach Varèse 1978, 18).
Ein Kristall besitzt demnach eine im Kern festgelegte, einmalige und nicht zu
verkleinernde Struktur, die allerdings hinsichtlich ihrer äußeren Erscheinungswei-
se nahezu unbegrenzt ist. Diese letztlich paradoxe Vorstellung wird für das Form-
verständnis Varèses bedeutsam. Musikalische Strukturen besitzen eine innere
Keimzelle, die sich stetig verändert, ohne ihren ursprünglichen Aufbau zu verlie-
ren. Form ist das Ergebnis eines Prozesses und somit ein Resultat nicht vorher
festgelegter Konstanten. „Jedes meiner Werke muß seine eigene Form entdecken“
(Varèse 1978, 18), betont Varèse und kritisiert somit den traditionellen Werkbe-
griff, der Form als Ausgangspunkt und als „nachzuzeichnende Schablone, als
auszufüllende Gussform“ (Varèse 1978, 18) begreift. Auch die konstante Entwick-
lung des motivischen Materials, das sich z. B. durch Augmentation und Diminuti-
on stetig verändert und sich in der Sonatenhauptsatzform synthetisiert, ist ein
„starrer Kasten“, in den etwas „hineingestopft“ wird (Varèse 1978, 18). Varèse
sieht daher in der Kristallform, die aus der Interaktion von Anziehungs- und Ab-
stoßungskräften resultiert, die bestmögliche Erklärung, wie sich seine Werke for-
men:
230 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Da ist eine Idee, die Basis einer internen Struktur, die sich aufdehnt und
aufspaltet in verschiedene Formen oder Klanggruppen, die sich beständig
in Gestalt, Richtung und Geschwindigkeit, angezogen oder abgestoßen
durch verschiedene Kräfte, verändern. Die Form des Werks ist die Konse-
quenz dieser Interaktion. Mögliche musikalische Formen sind so unbe-
grenzt wie die äußere Form von Kristallen (Varèse 1983, 360).
Eng mit ‚Kristallisation’ ist der Begriff ‚Son Organisé’ verbunden, den Varèse aus
einer Bestimmung des Komponierens als ‚Organisation disparater Elemente’ von
Brahms ableitet. Im französischen Wort ‚son’ ist die Unterscheidung zwischen
Ton und Klang nicht gegeben. Der Begriff lässt sich am ehesten mit ‚organisierter
Klang’ umschreiben. In Varèses Konzeption ist ‚Son Organisé’ zunächst eine
Absage an den herkömmlichen Begriff ‚Ton’, der auf eine festgelegte Frequenz
reduziert ist und im Tonsystem melodisch determiniert und beliebig wiederholbar
erscheint. Der Klang dagegen ist „ohne psychologische, soziale, ja biologische
Aspekte und quasi menschliche Züge“ nicht denkbar (Zeller 1978, 38).
Der Klang ist das Material der Musik. [...] Seit Musik existiert, ist sie
Klang. Wie auch der Mensch ist Klang etwas, das nur in der Atmosphäre
existieren kann (Wehmeyer 1977, 112).263
Der Begriff ‚Spatiale Musik’ leitet sich aus einer Weiterführung der Definition der
Musik als ‚Verkörperlichung der in den Klängen selbst gelegenen Intelligenz’ ab.
In einer Vorlesung im Sarah Lawrence College definiert Varèse 1959 ‚Spatiale
Musik’ als „Körper intelligenter Klänge, die sich frei im Raum bewegen“ (Varèse
1978, 20).264 Sie umfasst also auch die Projektionsverhältnisse von Musik im
Raum.
Die Verwendung von zwei Sirenen in ‚Ionisation’ ist nicht, wie oftmals argumen-
tiert wird, eine Annäherung an den Bruitismus, der das Geräusch als neues kom-
positorisches Mittel thematisiert, sondern resultiert aus Varèses intensiver Be-
schäftigung mit dem Ethnologen Hermann von Helmholtz und dessen Werk ‚Leh-
re von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der
Musik’, das er 1905 während seines kurzzeitigen Physikstudiums intensiv studier-
______________
263
Zum Begriff der ‚Atmosphäre’ in der Ästhetik vgl. Böhme 1995 sowie Kap. V.3.1.1
264
Im Originaltext wird der Bezug in der Definition von „bodies of intelligent sounds moving
freely in space“ verdeutlicht (Varèse 1998, 107). ‚Body’ verweist dabei auch auf den mensch-
lichen Körper, der die Klänge wahrnimmt.
Bewährung · 231
te.265 In diesem Buch werden Experimente mit Sirenen beschrieben, die paraboli-
sche und hyperbolische Klangkurven erzeugen. Demnach wird die ästhetische
Fundierung von Tonbewegungen auf physikalischem Boden vorweggenommen.
Es ist ein wesentlicher Charakter des Raumes, daß in jeder Stelle die glei-
chen Körperformen Platz finden und die gleichen Bewegungen vor sich ge-
hen können […] Ebenso ist es in der Tonleiter (Helmholtz 91980, 576).
Ferner sieht sich Varèse durch die Lektüre von Busonis ‚Entwurf einer neuen
Ästhetik der Tonkunst’ darin bestätigt, den Klang aus den Beschränkungen des
temperierten Systems zu befreien und den Rhythmus als Stabilisierungselement zu
betrachten, um beziehungsfreie metrische Simultaneität zu erreichen.
Varèse selbst hat Musik als „die körperlichste Kunst“ bezeichnet. Diese zu entwi-
ckeln, so schrieb er an Dallapiccola, „entspreche den Anforderungen der Epoche
in der er lebe“ (Varèse 1983, 125).266 Am eindringlichsten hat Dieter Schnebel die
physische Kraft der Musik Varèses in seinem Essay ‚Sirènes oder der Versuch
einer sinnlichen Musik’ zusammengefasst:
Beim ersten Hören der Musik von Edgard Varèse ist man ebenso bestürzt
wie fasziniert von der Körperlichkeit ihres Klangs. Das was Klang ist,
nämlich vibrierende Luft, wird in Varèses Musik geradezu leiblich erfahr-
bar: man hört die Schwingungen nicht nur, sondern man spürt sie auf der
Haut, so daß man solche Musik eigentlich ohne Kleider vernehmen sollte,
um die Beschallung möglichst allseitig aufzunehmen; in die Klangfülle
nicht nur mit den Ohren, sondern ganz einzutauchen (Schnebel 1977, 71).
Schnebel hebt die physische Intensität der Klänge hervor, die er mit den Meta-
phern des „vulkanischen Feuers“ vergleicht (Schnebel 1978, 6).267 So besitzt sie
eine „eigene Wärme“, als wenn die „schwingende Luft seiner Musik unter Druck
stünde und sich dadurch erhitze“, wobei die Musiker „die Klänge herauspressen,
______________
265
Der Hauptvertreter des Bruitismus ist der Futurist Luigi Russolo, der das Klangtotal mit Hilfe
künstlicher Klangsynthesen forderte.
266
Vgl. hierzu auch de la Motte-Haber 1993, 259; in seinem Studium beschäftigte sich Varèse
mit Aristoteles, Aristoxenos und Leonardo da Vinci, welche alle die physische Konstitution
des Menschen untersuchten. Ferner war Varèse für kurze Zeit Sekretär von Rodin, der in sei-
nen Statuen deutlich die Beschaffenheit des Körpers in seinen jeweiligen emotionalen Zu-
ständen thematisierte.
267
Alle Zitate entstammen aus Schnebel 1978, 6-8
232 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
ja herausschleudern“ müssen. Das Klangergebnis ist dabei ein „Ausdruck als ein
Aus-sich-heraus-drücken“ und verlangt „zugleich physische Kraftleistung wie
physisches Sich-Verausgaben“. Die neue Wahrnehmungsdimension zeigt sich im
„körperlich dreidimensionalen, ja überhaupt mehrdimensionalen Ausdruck“ der
Musik und der menschlichen Existenz. Der Begriff ‚Aus-druck’ symbolisiert wört-
lich die „Veränderungen der Druckverhältnisse, daß der Klang mal massiv auf-
drängend begegnet, man seine Vibrationen förmlich auf der Haut spürt, ja in ihren
extremen Momenten die Musik tatsächlich unter die Haut geht; daß Klänge mal
impulshaft erschüttern oder mehr ziehend bewegen“. Diese „Körperlichkeit des
Klangs“ wird „nicht nur übers Ohr, sondern eben wiederum körperlich wahrge-
nommen, so daß die Aufnahme von Musik unmittelbar zum sinnlichen Erlebnis
wird und durch ihre Schwingungen den Hörer wirklich berührt – und nicht erst
durch das, was sie in ihren Schwingungen vermittelt“. Der Zugang zur Musik
Varèses lässt sich nicht einseitig durch rationale Analyse in „Bedeutungen ent-
schlüsseln“, sondern ist durch die elementare „Sprache des Klangs, der schwin-
genden Luft“ ein „quasi mystischer Akt“ des Aufnehmens. Hierbei wird eine
„archaische Schicht von Musik wieder lebendig, als Klänge noch Wesen bedeute-
ten, welche den Menschen direkt angingen“.
Auch die Schriftstellerin Anaïs Nin war von der Körperlichkeit der Musik Varèses
ergriffen, wenn er Besuchern neue Rhythmen und Klangergebnisse mittels Ton-
bandgeräten vorspielte.
Das Tonbandgerät ist stets auf die […] höchste Lautstärke eingestellt. Er
wünscht, daß der Hörer von den ozeanischen Schwingungen und Rhythmen
gefangen genommen, aufgesogen wird“ (Nin 1978, 183).
Seine Kompositionen scheinen aus „zerschnittenen und gleich einer Collage wie-
der zusammengeleimten Musikfragmenten zu bestehen“ (Nin 1978, 183). Die
Materialität zeigt sich auch in der Formung der Partitur, die Varèse „korrigiert und
nochmals überarbeitet, umgruppiert, auseinander schneidet, zusammenleimt,
nochmals überklebt, mit Nadeln und Klammern zusammenheftet, bis sie schließ-
lich ein riesiges Gebäude darstellen“ (Nin 1978, 183). Viele Kompositionsmate-
rialien sind mit Reißzwecken an Wänden befestigt und „befinden sich alle im
Zustand des Fließens, der Bewegung, der Flexibilität, sie sind stets bereit, sich in
eine neue Metamorphose zu stürzen“ (Nin 1978, 183). Wolfgang Rihm bezeichnet
Varèse in seinen Notizen als eine Art ‚Ingenieur’, der eine „sichtbare, fühlbare
und lautliche Skulptur“ erschafft und ihr „Körper und Gestalt“ gibt (Rihm 1996,
Bewährung · 233
278). Der Klang wird „spürbar montiert, gesetzt, gestemmt“ und „in die Hand
genommen“ (Rihm 1996, 278). Die Formbildungen Varèses sind daher mit „Le-
bewesen, Organen“ vergleichbar, die „ihren Antrieb aus sich selbst erhalten“
(Rihm 1996, 278).268
henden Form als ‚Kristallisation’ verdeutlicht die ‚Innenerfahrung’ und das physi-
sche Spüren der Klänge die ‚Außenerfahrung’. Im Sinne des Zwischen liegt die
Wahrnehmung der Materialität des Klanges jeglicher dualistischer Kategorisie-
rung voraus, so dass Hören und Spüren auf derselben ‚Ebene’ stattfinden. Die
Aufmerksamkeit lässt sich zwar auf vereinzelte Klangeindrücke verlagern, aber
die zweideutige Erscheinungsweise der Klänge bleibt weiterhin erhalten.
Musik lebt von einem Zwischen-Hören. Dass dieses ‚Zwischen’ nun auch in
den Geräuschen außerhalb der Konzertsäle wiederentdeckt wurde, ist hier
von großem Interesse. Die Orientierung unserer Sinnesorgane und ihre in-
terne Hierarchie, die uns als selbstverständlich gegeben erscheinen, sind
nicht statisch verankert (Eichler, P.: Der Aufstand des Ohres
(http://www.brainstar.org/theorie.html, (10.03.2006))
Neben der unbestreitbaren Intensität der Klänge, die auf den Körper einwirken,
bilden sie ein aus einer inneren Keimzelle bestehendes formales Konstrukt (‚son
organisé) und sind nicht ohne Konzept komponiert. Dies betrifft sowohl die Orga-
nisation der Klänge durch die dynamische Strukturierung der Register und einer
damit verbundenen Verschiebung von dunkleren zu helleren Klangfarben als auch
die Entwicklung und Verarbeitung rhythmischer Keimzellen.271
______________
271
Vgl. de la Motte Haber 1991; Wen-chung 1978
Bewährung · 235
Entwicklungsprozesse negiert. Für die Leiblichkeit ergibt sich hieraus die Etablie-
rung mehrdeutiger Verstehenshorizonte zwischen Hören und Spüren, die gerade
für das Verständnis von Ionisation konstitutiv erscheinen.
Ausgehend von der Thematisierung der Materialität des Klanges verändert sich
auch die Raumwahrnehmung des Rezipienten. Durch das Erspüren der Klangbe-
wegungen ist er im Klang ‚eingebunden’.273 Der Raumbegriff löst sich vom objek-
tiven zum erlebten Raum, weil die jeweilige Stellung an einem Ort ausschlagge-
bend für die dazugehörige Klangwirkung ist. Wenn Klänge ihre eigene Nähe und
Weite besitzen, werden selbst objektive Raumgrenzen relativ, und die Faktizität
des Ortes vergrößert sich.274 Die Erweiterung des hörenden zum spürenden Rezi-
pienten und die Erweiterung des gewohnten Hörraums lassen sich in Bezug auf
die Qualitäten der Leiblichkeit als ‚Extensionen’ fassen. Sie begründen auf musi-
kalisch-ästhetischem Boden eine Neubestimmung der menschlichen Sinnlichkeit,
die sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts immer weiter ausweitet und
sich, wie noch in den Kapiteln über Schnebel und Globokar gezeigt wird, von dem
musikalischen Wahrnehmungs- auf den Produktionsvorgang verlagert.
______________
273
Constanze Rora spricht in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf den Wahrneh-
mungstheoretiker James Jerome Gibson vom „objektiven Raum“ und vom „erlebten Raum“
(Rora 2004, 24). Dabei geht sie prinzipiell von einem phänomenologischen Raumbegriff aus,
der sich durch die Gesamtheit des Fühlens und Denkens konstituiert. Vgl. Rora 2004
274
Das gleiche gilt auch für die Zeiterfahrung, da die Klänge ihre jeweiligen Geschwindigkeiten
besitzen und die ‚vulgäre Zeitlichkeit’ überschreiten. Diese auf den ersten Blick ‚mystisch’
andeutenden Raum- und Zeiterfahrungen gründen alle in der wissenschaftlich fundierten
Prämisse, dass Töne über Frequenzen unterschiedliche Intensitätsgrade annehmen können.
Die Räumlichkeit der Klänge in Ionisation wird auch durch die Verteilung der Instrumentalis-
ten im Raum deutlich. Morris Goldenberg stellt einen ‚Besetzungsplan’ vor, in dem die Mu-
siker weit voneinander entfernt sitzen sollen. Vgl. hierzu das Vorwort der Partitur von Ionisa-
tion.
Bewährung · 237
Musikpädagogische Zugänge
Bislang hat sich die Musikpädagogik nur vereinzelt und unter spezifischen Sicht-
weisen mit der Musik von Varèse auseinandergesetzt.275 Der Grund hierfür liegt in
der vermeintlichen Annahme eines komplexen, schwer zugänglichen Kompositi-
onsverfahrens, das am ehesten in der Oberstufe zu vergleichenden Analysetechni-
ken herausfordert. In diesem Zusammenhang existieren folglich keine nennens-
werten Ansätze, die sich explizit mit der sinnlichen Dimension von Varèses Musik
auseinandersetzen.276 Im Mittelpunkt des Unterrichts steht eine Strukturanalyse,
die von dem Verlauf der Klangfarben- und Registermodulationen bestimmt ist.
Günther Wiedemann greift die skeptischen Bemerkungen von Varèse zur musika-
lischen Analyse auf und konzentriert sich auf eine ‚erlebnisorientierte Erarbei-
tung’ von Ionisation im Unterricht. Er kritisiert einen ‚verstehenden Zugang’ zur
Musik des 20. Jahrhunderts, der den Schülern durch Aneignen von musiktheoreti-
______________
275
Wilfried Gruhn hat sich bereits 1974 in einem grundlegenden Beitrag zur den Perspektiven
der Musik Varèses beschäftigt. Obwohl seine assoziative Herangehensweise an das Verfahren
der Ab- und Aufspaltung thematischer Gestalten der Vorstellung von Klangbewegungen sehr
nahe kommt, ist sein Beitrag vor über dreißig Jahre erschienen und muss auch als histori-
schen Dokument seiner Zeit verstanden werden. In aktuellen musikpädagogischen Veröffent-
lichungen zur Neuen Musik finden sich kaum nenneswerte Artikel zu Varèse. Günther Wie-
demann hat sich mit den Möglichkeiten einer Vermittlung von Ionisation im Unterricht aus-
einandergesetzt. Sein Beitrag wird im Verlauf des Kapitels vorgestellt. Vgl. Gruhn 1974;
Wiedemann 2001
276
Als Ausnahme im Bereich der Musikwissenschaft gelten die Arbeiten von Gruhn, Wehmeyer
und de la Motte-Haber. Vgl. Gruhn 1974; Wehmeyer 1977; de la Motte-Haber 1993
277
Vgl. Wen-chung 1978
238 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
schen Fachwissens fremd erscheint. Dagegen soll „versucht werden, die Bereit-
schaft und Freude, sich auf unterschiedliche Erfahrungen, auf Neues einzulassen,
durch subjektive Betroffenheit zu fördern“ (Wiedemann 2001, 29). Eine ähnliche
erlebnisorientierte Annäherungsweise sieht auch Wehmeyer über ein ‚punktuelles
Hören’ gegeben. Der Hörer „wird sich von Schritt zu Schritt vom Raffinement der
Klangunterschiede der einzelnen Instrumente und ihrer Mischungen oder der reiz-
vollen stellenweise mitreißenden Rhythmik affizieren lassen. Das allein ist ein
großer Genuß, und das dürfte auch Varèses Intentionen nicht widersprechen“
(Wehmeyer 1977, 123).
Wiedemann konzipiert ein methodisches Raster, mit dem eine Erarbeitung von
Ionisation erfolgen kann. Unter Berücksichtigung von fünf Erfahrungsfeldern
‚Erleben’, ‚Gestalten’, Analysieren’, Recherchieren’ und ‚Reflektieren’ geht er
davon aus, dass „die Komposition vielfältige didaktische Perspektiven zu entfalten
vermag, die auf Möglichkeiten des Selbstlernens“ abzielen (Wiedemann 2001,
26).
Zunächst hören Schüler die Komposition, notieren ihre Gedanken und reflektieren
sie gemeinsam. Durch die Angabe des Titels entwerfen sie anschließend in Grup-
pen ein auf persönliche Erlebnisse zu beziehendes ‚Hörprotokoll’, das im Diskurs
ausgewertet wird. Die Bilder des Malers Lewin Alcopley, die unter dem Eindruck
von Ionisation entstanden sind, animieren die Schüler dazu, die skizzenhaften
Linien mit einem Instrument zu verklanglichen. Ihre Ergebnisse werden anschlie-
ßend mit der kompositorischen Lösung von Varèse verglichen. Das Erfahrungs-
feld ‚Analysieren’ führt ausgehend von einer selbständigen Analyse des Notentex-
Bewährung · 239
Im Hinblick auf die bisher geleisteten Vorüberlegungen und die Betonung des
Stellenwerts der Musik Varèses muss eine entscheidende veränderte Blickrichtung
eingenommen werden, die aus einer differenzierten Auffassung von ‚Klangbewe-
gung’ resultiert. Wenn Varèse naturwissenschaftliche Aspekte in Klangbewegun-
______________
278
Die ausgewählten Textauszüge stellen ‚konstruktive’ und ‚dekonstruktive’ Analyseverfahren
dar. Während sich Grete Wehmeyer oder Hildegard Krützfeld-Junker auf ein ‚Musiksystem’
beziehen, repräsentieren J. Cage und M. Feldman nach Wiedemann nicht-europäische Per-
spektiven, die eine festelegte musikalische Syntax negieren. Zu hinterfragen bleibt, ob eine
solche Gegenüberstellung verallgemeinerungsfähig ist. Sie verleitet zu ‚Vorurteilen’ oder
‚ideologischen Prämissen’, da die Musikwissenschaft eines ‚teleologischen Musikgeschichts-
denkens’ bezichtigt wird, während sich Komponisten der Neuen Musik auf die Ablehnung
der europäischen Musiktradition berufen. Vgl. Wehmeyer 1977; Krützfeld-Junker 1986
240 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Klangwahrnehmungen
Unter Klangwahrnehmung wird die Arbeit mit der Spürbarkeit und Bewegbarkeit
von Klängen verstanden. Durch vielfältige Experimente mit Alltagsgegenständen
oder Instrumenten werden die Schüler für deren unterschiedliche Intensität sensi-
bilisiert. Ausgehend von Aktionen mit Klängen zum Feld ‚Lärm und Stille’ erfah-
ren sie deren physische Intensität und räumliche Wirkung.
Zunächst wird in elementaren Wahrnehmungsübungen die Bewegung von Klän-
gen aufgegriffen. Die Schüler verteilen sich im Raum und erzeugen laute und leise
Klänge auf diversen Instrumenten und Alltagsgegenständen, so dass ein Klangnetz
aus unterschiedlichen Dichtegraden entsteht. Wichtig ist, dass die Schüler auf ihre
Bewährung · 241
Klangbilder/Klangcollagen
Der zweite Ausgangspunkt ‚Klangbilder/Klangcollagen’ setzt sich mit malerisch-
gestalterischen Zugangsweisen zu Ionisation auseinander. Die Bilder des Malers
Lewin Alcopley, die während verschiedener Aufführungen von ‚Ionisation‘ im
Konzertsaal entstanden sind, bieten eine Grundlage, um die Klangbewegungen in
Körperbewegungen umzusetzen.279 Seine ‚drawn recordings’, die oftmals nur aus
wenigen Linien und Kreisen bestehen, lassen sich als ‚gezeichnetes Echo der
Töne’ parallel zur Musik in Bewegung umsetzen. Varèses Vorstellung von Musik
als „Bewegung im Raum“ oder als „Verkörperlichung von Klängen“ wird also
wörtlich genommen.
Alcopleys Bilder geben für eine tänzerische Umsetzung von Ionisation entschei-
dende visuelle Impulse, da sie die ionisierenden An- und Abstoßungsprozesse
verbildlichen. Dabei wird der exakt in der Partitur zu ermittelnde zeitliche Ablauf
______________
279
Der deutsch-amerikanische Naturwissenschaftler Alfred L. Copley (1910-1992) lebte seit
1937 als Maler unter dem Pseudonym Lewin Alcopley in New York und war ein Freund von
Varèse.
242 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Klanginstallation
Die Arbeit mit Collagen lässt sich in Form der Gestaltung von Klanginstallationen
weiter ausarbeiten. Im Bereich der Klangkunst versteht man hierunter die „(Wie-
der-)Entdeckung der Räumlichkeit des Klanges“ mit dem Ziel, „räumliche Aspek-
te von akustischen Vorgängen zu verfolgen“ (Sanio 1999, 107). Zu jeder Klangin-
stallation gehört eine räumliche Anordnung von Schallquellen, so dass der Raum
selbst zur ästhetischen Basis erklärt wird und folglich der Hörer/Betrachter in das
klanglich-visuelle Geschehen mit einbezogen wird. Der Raum der Rezeption fällt
Bewährung · 243
also mit den musikalischen und visuellen Aktionen zusammen. Zwei verschiedene
Arten von Klanginstallationen lassen sich unterscheiden. Während ‚Klangenviro-
ments’ den Raum und darin vorkommende Gegenstände in den kompositorischen
Prozess mit einbeziehen und von einem sich bewegenden Rezipienten ausgehen,
besitzen ‚Klangskulpturen’ eine eigene Klanglichkeit und gehen oftmals von ei-
nem exakt markierten Platz des Rezipienten aus.
Die konzeptionellen Ideen der Klanginstallationen lassen sich auch im Musikun-
terricht umsetzen, indem z. B. ein ‚Klangparcours’ (Enviroment) oder eine
‚Klangliege’ (Skulptur) entworfen wird. Durch die damit verbundene Aufhebung
einer zentralen Raumperspektive und die sich bewegenden Klänge ergeben sich
Querverweise zu Ionisation.280
______________
280
Ionisation kann als eine der ersten Klanginstallationen gesehen werden. In der Materialität
des Klanges liegt eine Basis für die Entstehung der Klangkunst begründet. Vgl. auch Sanio
1999, 70 ff.
281
Vgl. Sanio 1999, 106
244 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Klangtänze
Tanzen ist die elementarste und intensivste Zugangsmöglichkeit, um Ionisation
spürbar zu erfahren. Obwohl hier deutliche Bezüge zu den ‚Klangfarben’ gegeben
sind, verzichtet diese Aneignungsmöglichkeit im Gegensatz zu den drei vorigen
Ausgangspunkten auf Verweise zur Eigenwahrnehmung, Malerei oder Klang-
kunst. Sie sucht vielmehr die expressive ‚Konfrontation’ mit Ionisation durch den
freien Improvisationstanz, um die Klangbewegung über Körperbewegung darzu-
stellen. Diese Annäherung besitzt für eine schulische Realisation nahezu utopi-
sches Potenzial und kann nur durch eine Lerngruppe erfolgen, die gerade im
Tanzbereich, v. a. im Ausdruckstanz, Erfahrungen gesammelt hat. Dennoch sei
gerade für eine Behandlung von Ionisation in der Unterstufe auf diese direkte und
sinnliche Aneignung hingewiesen. Als Einstieg bietet sich die tänzerische Umset-
zung dynamischer Effekte an. Darauf aufbauend ergeben sich anschließend Dar-
stellungen zum Bereich ‚Rhythmus’. Für die Realisation von Klangbewegung
eröffnet sich die Arbeit mit einem Partner, um Entfernungen anzudeuten. Hierbei
lassen sich auch die physikalischen Bezüge aufgreifen und ‚szenisch’ darstellen.
Die Erarbeitung erfolgt improvisatorisch unter mehrmaligem Wiederholen einzel-
ner musikalischer Sequenzen, so dass die musikalische Bewegung in die Körper-
bewegung übergeht. In der ganzen Gestaltung ist darauf zu achten, Regeln und
choreographische Bezüge ‚auszuklammern’, um das ‚Klänge-Sein’ und ‚Klang-
raum-Sein’ hervorzuheben.
Die Darstellung der vier Ausgangspositionen geht von der Prämisse der Leiblich-
keit aus, dass Hör- und physische Wahrnehmungseindrücke eine nicht zu trennen-
de Einheit bilden. Die vier Ansätze verdeutlichen gerade in Bezug auf die Musik
von Varèse, dass ästhetische Erfahrungen immer auch ästhetische Wahrnehmun-
gen sind, die direkt bei dem Rezipienten als sinnlich-leibliches Subjekt ‚ansetzen’.
______________
282
Die gleiche Aktion kann auch mit technischen Geräten realisiert werden, die um den Liegen-
den herum positioniert werden. Auf ihnen werden Klänge aufgenommen, die zu unterschied-
lichen Zeiten erklingen.
Bewährung · 245
Im Zentrum steht weniger das ‚Primat des Gehörs’, als vielmehr das ‚Primat des
Spürens und Wahrnehmens’. Die in allen vier Ausgangspunkten angelegte Ver-
flechtung von Handeln, Hören und Wahrnehmen geschieht ohne Verweise auf die
formale Anlage der Komposition. Dieser Ansatz resultiert, wie bereits am Beginn
des Kapitels dargestellt wurde, aus Varèses eigener skeptischer Haltung zur Mu-
sikanalyse, aber auch in der Auffassung, dass seine Musik eine ‚spürbare Form’
besitzt, die anstatt verbalisiert vielmehr interkorporal erfahren wird. Ionisation
verdeutlicht, dass Neue Musik eine Neue Wahrnehmung mit allen Sinnen begrün-
det.283 Der Ansatz geht davon aus, dass sich die Erlebnisse nicht als Ergebnisse
formulieren und sich zentrale Merkmale der Partitur nicht erkennen oder verall-
gemeinern lassen. Der Körper besitzt im Rahmen der Qualitäten der Leiblichkeit
eigene Verstehenspotenziale, die hörend und spürend ihre jeweilige Gültigkeit
beanspruchen. So, wie sich in den Prozessen der Kristallisation die Form erst im
Nachhinein zeigt, wird auch in der hier vorgestellten Thematisierung von Ionisati-
on im Unterricht davon ausgegangen, dass es keine vorgefertigten Verstehensmus-
ter gibt. Die Übung im intuitiven sinnlichen Begreifen von Form ist immer auch
Verstehen von Form und demnach ein zentrales musikpädagogisches Lernziel.
Diese hier dargestellten Ausgangspositionen gehen von der Prämisse aus, dass
Erlebnis und Konstruktion, Wahrnehmen und Verstehen ganz im Sinne der
‚aisthesis’ gleichursprünglich fundiert erscheinen und erst auf der Basis der Quali-
täten der Leiblichkeit ihre Verankerung in der Musikpädagogik erhalten.
Eine erste Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Musik und Bewegung
findet sich bereits in Schnebels Klavierausbildung bei Hans von Besele. In dessen
Unterricht wurde großer Wert auf ‚Fingertechnik’ gelegt, wie z. B. die Cortot-
Übungen, in denen ‚überflüssige’ Bewegungen, die den Spielfluss hemmen, zu
vermeiden sind. Die größtmögliche Effizienz wird durch systematisches Training
der Unabhängigkeit einzelner Finger erzielt. Die Übungen konzentrieren sich nicht
wie üblich auf Geschwindigkeit und Geläufigkeit, sondern auf die bewusste Be-
obachtung und Kontrolle von Bewegungen.
Ich glaube, dieser gestische Ansatz hat sich später auf mein Komponieren,
etwa von ‚visible music’, ausgewirkt (Schnebel 1959, 102).285
‚Visible music’ ist ein dreiteiliger Zyklus, der aus einer primär ‚sichtbaren Musik’
von Gesten und Klängen besteht. In den einzelnen Teilen thematisiert Schnebel
das Verhältnis zwischen Dirigent und Interpret auf der Bühne (visible music I), ein
Solo eines Dirigenten ohne Orchester (visible muic II) sowie die Spielbewegungen
eines Pianisten (visible music III). In den oftmals stummen Stücken dient der Mu-
siziervorgang weniger zur Tonerzeugung als vielmehr zur Entstehung szenischer
Ereignisse.
______________
285
Bereits 1955 behandelte Schnebel in seiner Dissertation ‚Studien zur Dynamik Schönbergs’
ausführlich den Begriff der Geste. Vgl. von Besele 1955
Bewährung · 247
In ‚réactions’ (1960-62) wird auch das Publikum als eigenständige sichtbare und
hörbare Klangquelle in die Aufführung mit einbezogen.286 Die zu erwartenden
Reaktionen der Zuhörer/Zuschauer werden durch Zeit-, Tonhöhen- und Lautstär-
kevorschriften festgelegt und Stimmungen, wie z. B. langweilig, interessant und
schockierend, in die Partitur integriert. Schnebel geht es hierbei um eine Kritik am
Künstlertum und an den Ritualen der Konzertbesucher. Der Musiker ist demnach
zur virtuosen Interpretationsmaschine geworden, und das Publikum hat das Inte-
resse für den ‚Menschen auf der Bühne’ verloren. Dieser sozialkritische Ansatz
sowie das Interesse an der körperlichen Hervorbringung von Klängen basiert auf
einer intensiven Auseinandersetzung mit der ‚Fluxusbewegung’ sowie den Kom-
positionsprinzipien von Cage. Während ‚Fluxus’ die Darstellung künstlerischer
Prozesse als Aktionskunst deklarierte, vollzog Cage in seiner Definition von ‚Mu-
sik als Leben‘ eine Integration alltäglicher Handlungen und umweltlicher Geräu-
sche in die musikalisch- künstlerische Gestaltung.287
Musik wird über den Raum verteilt, ziemlich gleichmäßig, aber doch […]
variabel, so daß immer neue […] Gestalten gebildet werden können […]
(Schnebel, zit. nach Nauck 2001, 93).
______________
288
raum-zeit y für eine unbestimmte Anzahl von Instrumenten, die Töne und Geräusche erzeu-
gen und mobil sind (= Projekte I) (1959/61)
289
In Anlehnung an das Modell des Koordinatensystems repräsentiert der im Titel vorkommen-
de Buchstabe y die Raumkonstante. In Bezug zur Zeitkonstante x will Schnebel hiermit die
gleichwertige Behandlung von Raum und Zeit ausdrücken.
Bewährung · 249
______________
290
Auch G. Rühm, E. Jandl und M. Kagel experimentierten in den Sechziger Jahren des 20.
Jahrhunderts mit neuen Ausdrucksformen des Sprachklangs. Die von Adorno diagnostizierte
‚Entfesselung des Materials’ überträgt sich also auch auf eine ‚Entfesselung der Sprache’. Die
Expressivität des Sprachprozesses ist um zwischenmenschliche Kommunikation bemüht und
verweigert sich der Entfremdung und Verdinglichung der Sprache. In der Musik erhält das
Sprechen eine enorme Aufwertung durch die Einbeziehung von Geräuschen. Das alltägliche
Verstehen von Lauten als ein zu dechiffrierendes System von Symbolen wird speziell bei
Schnebel in das Verstehen von Produktionsprozessen der Organe umgedeutet, die sonst nur
als Mittel zum Sprechen dienen.
250 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
ten.291 In der Kombination von ‚Exerzitien’ entstehen auf einer zweiten Ebene
‚Produktionen’, die den Interpreten mögliche grafisch oder verbal-verfasste Form-
verläufe vorgeben. Auf einer dritten Stufe ergeben sich ‚Kommunikativa’, die
über das erarbeitete klangliche Material hinweg Verhaltensmuster und kommuni-
kative Prozesse in die Gestaltung integrieren, um „Kontakte aufzunehmen, das
Erzeugte mitzuteilen, andere Artikulationsprozesse zu beeinflussen oder ihnen zu
antworten“ (Schnebel 1972, 458). Auf einer abschließenden synthetisierenden
Ebene kann aus den ‚Produktionen‘ und ‚Kommunikativa‘ eine Aufführung ent-
stehen, welche über Videoinstallationen, Verstärker und Mikrophone (‚Reproduk-
tionsgeräte‘) die Bewegungen der Stimmorgane auf Leinwände projiziert und dem
Zuschauer/Zuhörer die Hervorbringung der Lautbildung (‚Artikulationsorgane‘)
veranschaulicht. Drei bis acht Vokalisten werden dabei auf Stühlen oder Liegeflä-
chen im Aufführungsraum verteilt und von Scheinwerfern so beleuchtet, dass nur
die Artikulationsorgane sichtbar sind.
Aufgrund der konzeptionellen Freiheit des Werks ist eine abschließende Auffüh-
rung nicht zwingend erforderlich, da die Komposition die individuellen Erfahrun-
gen mit Sprachwerkzeugen hervorhebt. Die ‚Offenheit’ des Werks legt zudem die
Gestaltung in die Hände der Auszuführenden, die sich für neue Formverläufe
individuell entscheiden können. Die Aufhebung einer getreuen Umsetzung des
Notentextes oder einer rein improvisierten Musik verlangt nach einem neuen Ver-
ständnis von Interpretation und nach neuen Einsatzmöglichkeiten physiologischer
Voraussetzungen, da das musikalische Material nicht formgerecht vorgefunden
wird, sondern erst durch die psychische Disposition während der Lauterzeugung
entdeckt werden soll.
Die spezifische Klanglichkeit der ‚Maulwerke’ wirkt zunächst spröde, da die phy-
siologischen Aspekte der Lauterzeugung thematisiert werden. Dennoch liegt der
Reiz gerade im Erlauschen der alltäglichen Sprachklänge. Die ästhetische Fundie-
rung der eigenen Sprachpotenziale und Sprachgrenzen eröffnet auch eine Reflexi-
on über das eigene Sprachverhalten und das damit verbundene expressive Aus-
drucksvermögen. An Stelle der disziplinierten Reproduktion absoluten Materials
tritt somit ein kreatives, engagiertes und ausdrucksvolles Ausgestalten der eigenen
Stimme.
______________
291
Mit dieser Notationsform greift Schnebel einerseits auf experimentelle Aufzeichnungsformen
zurück, die er schon 1959 in den Materialpräparationen zur ‚Glossolalie’ verwendete, und
benutzt andererseits bildliche Beschreibungen aus physiologischen und phonetischen Lehrbü-
chern, welche die Organbewegungen verdeutlichen.
Bewährung · 251
Der Ansatz einer primär sichtbaren Musik zeigt sich bereits in ‚visible music I’
(1960-62). Dort wird das autoritäre Verhalten eines Dirigenten zum Musiker the-
matisiert. Im Laufe der Aufführung ändern sich die Machtverhältnisse und der
Dirigent ‚verwandelt’ sich selbst in eine Art Instrumentalist, „dessen Gesten be-
reits selbst schon die Musik sind und sie nicht erst entstehen lassen“ (Schnebel
1972, 269). Die Komposition gliedert sich in drei Teile. Im ersten stellt ein Diri-
gent über Armbewegungen eine grafische Partitur dar. Der Musiker setzt improvi-
satorisch die Gesten, ohne eine eigene Partitur zu besitzen, in Klänge um. In ei-
nem zweiten Teil gestaltet dagegen der Musiker die grafische Partitur, und der
Dirigent transformiert das akustisch Produzierte spontan in Bewegungen. Im drit-
ten Teil kooperieren die beiden Akteure entweder zusammen, spielen gleichgültig
nebeneinander her oder musizieren gegeneinander. Musik ist auch hier nicht mehr
nur ‚etwas für das Ohr’, sondern eine über Gesten zu deutende sichtbare Hand-
lung.297
In all diesen Bewegungen drücken wir uns bewußt oder unbewußt aus, be-
ginnen die einzelnen Glieder oder der Körper als Ganzes zu sprechen, füh-
ren Selbstgespräche, wenden sich an Gegenstände, an Menschen, über-
haupt an die Umwelt, und es kommt zu vielerlei Formen von Kommunikati-
on (Schnebel, Partitur von ‚Körper-Sprache’).
Die Grundlagen einer solchen Körpermusik sind nach Schnebel der Ausdruck und
der Rhythmus. Über den Ausdruck erhalten Bewegungen eine symbolisch-
metaphorische Fundierung. Der Rhythmus strukturiert die Bewegungen und gibt
ihnen ein Tempo.
______________
299
Der 1961 geborene Komponist Helmut Oehring knüpft an Schnebels Gebärdensemiotik an,
wenn er verschiedene Bewegungen, die mit der Grammatik der Gebärdensprache zu tun ha-
ben, in Musik überträgt.
Bewährung · 255
In diesen Geschichten handelt der Körper von sich selbst, von seinen Fä-
higkeiten als ungegliederte Einheit, von den Möglichkeiten der Arme und
Hände, der Beine und Füße, von seinem Potenzial als in sich strukturierte
Ganzheit (Nauck 2001, 225).
In letzter Radikalität fasst Schnebel somit jegliche Tätigkeit als Musik auf, selbst
wenn das zu Erklingende ausbleibt, bzw. sich auf die Geräusche von Bewegungen
beschränkt. ‚Körper-Sprache’ ist der Endpunkt einer Entwicklung, in der sich die
Relevanz des Körpers im Musiziervorgang immer weiter emanzipiert hat, bis er
selbst zum Instrument wird und die Funktion der Hörbarkeit durch die Sichtbar-
keit ersetzt. Stimmungen werden auf Bewegungen oder umgekehrt die vorge-
schriebenen Gesten auf individuelle Verhaltensweisen übertragen, und es entsteht
eine „stumme Expressivität der Körpersprache“ (Schnebel, Partitur von ‚Körper-
Sprache’).
______________
301
Laut-Gesten-Laute I. Poem für Stimme und Gebärden mit Bildtönen für 1-4 Ausführende
(1981-1985); Zeichen-Sprache. Musik für Gesten und Stimme für vier Ausführende (1986-
89)
Bewährung · 257
Anfang der 1990er Jahre setzt Schnebel seine Arbeit an den Syntheseformen der
Bewegungsmodelle im Rahmen zweier weiterer groß angelegter Zyklen unter
anderem Schwerpunkt fort. Die ‚Museumsstücke I/II’ thematisieren das Wechsel-
verhältnis von Musik und ‚Bildender Kunst’.302 Beide Zyklen wurden komposito-
risch auf die Räume und die darin enthaltenen Kunstwerke zweier Museen ent-
worfen.303 Sie sind „akustische Pendants zu dem, was an den Wänden hängt“
(Schnebel, zit. nach Nauck 2001, S. 301) und verstehen sich als neue Bildlichkeit,
die in einer Kritik an der Bildverehrung in den Medien neue Wege sucht, um Op-
tisches und Akustisches zusammenzuführen.
Während die ‚Museumsstücke I’ grundsätzliche stilistische und historische Berei-
che der Geschichte der Kunst auf musikalischer Basis imitieren, charakterisieren
______________
302
Museumsstücke I für bewegliche Stimmen und Instrumente in polyphonen Räumen (1991);
MoMA. Museumsstücke II für bewegliche Stimmen und Instrumente (1994-95)
303
Die ‚Museumsstücke I’ sind für das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main und
die ‚Museumsstücke II’ als Auftragswerk des WDR für das Museum Ludwig konzipiert wor-
den. Letztere lauten auch ‚MoMA’, wobei der Titel sich aus den Anfangsbuchstaben von
‚Museum of Modern Art’“ zusammensetzt.
258 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
die ‚Museumsstücke II‘ die Arbeiten und Stilistik der modernen Ma-
ler/Malerinnen. Schon der Untertitel ‚für bewegliche Stimmen und Instrumente in
polyphonen Räumen’ der ‚Museumsstücke I’ verweist auf den Raum- und Klang-
aspekt. Ausgehend von einem Zentralraum, in dem sich das Publikum befindet
und Wege zu Fluren, Treppen und Räumen zur Verfügung stehen, werden musika-
lische Aktionen ausgeführt. Die Klangbewegungen entstehen v. a. durch die Auf-
teilung oder Bewegung der Musiker im Raum. So erklingt eine Raumkomposition,
„die sich entfernt, näher kommt, dreht, oder wo die Klänge selbst wandern“
(Schnebel, Partitur von ‚Museumsstücke II’).
______________
304
Genau genommen treten noch zwei weitere Formen hinzu: die ‚Fermate‘ als gehaltener Klang
bei Yves Klein und das ‚Moment‘ als Teilbereich des kurzen Geräuschs, wie bei Kurt Schwit-
ters und Andy Warhol.
Bewährung · 259
______________
305
Der Rückgriff auf traditionelles Instrumentarium versteht sich auch als Hommage an traditio-
nelle Bildvertonungen.
306
Vgl. Nimczik 2003b
260 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
ren einen Teil der Persönlichkeit. Zusätzlich werden dabei unbewusste Vorgänge
bei der Betrachtung von Selbstporträts angesprochen, die mehr sind als nur die
Abbildung eines momentanen äußerlichen Zustands und über die jeweilige Art der
Darstellung auf das Befinden des Malers verweisen. Diesen doppelten Sachverhalt
von innerem Empfinden im sichtbaren Material drückt Schnebel durch das ‚Sich-
Selbst-Beklopfen’ und ‚Sich-selbst-Bestreichen’ aus.
In dem zweiten Teil ‚Porträt(s)‘ für zwei oder drei Spieler wird der referentielle
Bezug in den ‚Selbstporträts‘ auf das Verhältnis zwischen Porträtierten und zu
Porträtierenden erweitert, indem ein Spieler den anderen imitiert. Das Modell (der
zu Porträtierende) nimmt dabei eine bestimmte Position ein, die vom ‚Maler‘ (der
Porträtierende) interpretiert wird. Zur Verfügung stehen dabei lautmalerische
Möglichkeiten, wie „besingen“ oder „bezischen“, die als sprachliche Korrelate zu
den perkussiven Möglichkeiten des Streichens oder Klopfens fungieren. Die
Sprachaktionen teilen sich daher ein in ‚Vokale, Nasal- und Laterallaute mit Ton‘
(=besingen, bestreichen) oder in ‚Frikativ- und Plosivlaute ohne Ton‘ (=bezischen,
beklopfen). Im weiteren Verlauf werden auch gestische Aktionen des Streichens
und Klopfens hinzugezogen. Die Körperkonturen des Modells dienen dabei als
Melodielinien oder Geräuschverläufe. Sie werden dynamisch-klanglich variiert
und bilden eine individuelle Charakter-Auffassung des Gegenübers.
Für ein solches Porträt oder Selbstporträt jeweils einen Charakter wählen;
ein „Charakterstück“ spielen – allegro, moderato, andante, adagio
(Schnebel, Partitur von ‚Museumsstücke I’).
In der Konzeption von ‚Skulpturen und Porträts’ wird deutlich, wie sehr Schnebel
darum bemüht ist, Sprach- und Bewegungsaktionen, die in ‚Körper-Sprache’ oder
‚Maulwerke’ isoliert genutzt werden, als synthetische Form in den Gestaltungs-
prozess mit einzubeziehen.Eine weitere effektive Möglichkeit, Bewegungen für
eine Umsetzung bildnerischer Motive in Musik zu nutzen, zeigt sich in einer Be-
zugnahme auf die Skulptur ‚Nana’ von Niki de Saint Phalle. Der tänzerisch-
komische Ausdruck der bunten Figur wird von Schnebel musikalisch imitiert.
Dazu bewegt sich eine Frau mit hoher Stimme in rascher Bewegung durch den
Raum. Parallel hierzu singt sie kurze musikalischer Zitate aus Oper, Jazz, Rock
und Volksmusik. Diese ‚Koloraturen’ sind nicht ausnotiert, sondern werden spon-
tan erfunden. Schnebel integriert ein Foto der Skulptur in die Partitur und gibt nur
die kurze Anweisung.: „Erfinde eine Musik für sie“! Die Sängerin ist aufgefordert,
während ihrer Tanzbewegungen eine Musik zu gestalten, die dem Ausdruck der
Bewährung · 261
Rahmen ihrer immateriellen Substanz eine „luftige Kunst“ (Schnebel 1993, 39).
Sie sind stärker an die Zeit gebunden als die aus Masse und Materie bestehenden
Körper.308
Der menschliche Körper, der mit oder auf dem Instrument den Klang er-
zeugt, ist mit ihm mannigfach verbunden: der Mund heftet sich an ihm fest,
die Hände greifen daran herum, die Finger springen auf ihnen einher, oder
man tritt sie mit Füßen (Schnebel 1993, 40).
Zu ergänzen ist, dass Schnebel auch den Sprachvorgang als körperlich auffasst.
Um Vokale oder Konsonanten hervorzubringen, ist z. B. eine spezielle Formung
des Mundraums, der Zunge und der Lippen erforderlich. Zusätzlich ermöglichen
Knochen wie Schädel und Nasenbein sowie Zähne eine größere Resonanz zur
Ausbreitung des Klangvolumens. Klänge sind „selbst schon Leben, haben ihre
eigene Sinnlichkeit“. Über die individuelle Art der Klangproduktion und
-wahrnehmung definiert Schnebel Musik als „eine körperliche und materielle
Kunst“ (Schnebel 1993, 43).
Die meisten Klänge, zumal die der Musik, entstehen durch Aktionen. Saiten
werden mit dem Bogen gestrichen, be-griffen oder mit Fingernägeln ange-
rissen. Hände schlagen auf Felle, oder sie benutzen irgendwelche Schlegel.
Finger tanzen auf Tastaturen, Füße treten Pedale. Mundstücke werden an-
geblasen, und zugleich betätigen Finger irgendwelche Klappen. Oder es
wird tief Luft geholt, der Kehlkopf in Gang gesetzt und Zunge und Lippen
verschiedenartig bewegt (Schnebel 1993, 46).
Die Darstellung wird zum „optischen Ton“ (Schnebel 1993, 47), und es entsteht
ein experimentelles Bewegungstheater. Dieser Wandlungsprozess grenzt sich von
der konventionellen Körpersprache ab, da diese v. a. durch die Expressivität ästhe-
tisch fundiert ist. Die Sichtbarkeit der Aktionen etabliert eine „musikalische Meta-
sprache der Gefühle“, die von einer „imaginären Musik durchzogen“ ist, so dass
„alles im menschlichen Leben Musik zu werden vermöchte“ (Schnebel 1993, 48).
Aus der summarischen Darstellung der vier Kapitel werden die vielschichtigen
Erscheinungsformen von Klängen und deren Relation zum menschlichen Körper
deutlich. Klänge besitzen nach Schnebel jeweils zwei verschiedene Eigenschaften
(Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit bzw. Körperlichkeit/Unkörperlichkeit) Diese Ambi-
valenz entsteht durch ihre Stellung zwischen Klangproduktion und Wahrnehmung.
Aus den einzelnen Überschriften wird deutlich, dass Schnebel zwischen ‚körper-
lich’ und ‚Leib’ differenziert. Der ‚Leib’ verweist auf das Subjekt, das musiziert
und Klänge produziert. ‚Körperlich’ beschreibt dagegen die Wahrnehmungen von
Klängen. Ferner korrespondieren die Überschriften I./III. und II./IV. miteinander,
da die Unkörperlichkeit und Unsichtbarkeit ein Hören von schwingender Luft
umschreibt, wobei Körperlichkeit und Sichtbarkeit das Sehen der leiblich erzeug-
ten Klänge verdeutlicht.
Indirekt lassen sich hier Querverweise zu den Bewegungsmodellen Schnebels
ziehen, die sich in unterschiedlicher Intensität mit der Hörbarkeit oder Sichtbarkeit
von Musik auseinandersetzen. Die ‚unsichtbaren Klangbewegungen im Raum’
(=Bewegungsmodell I) verstehen Klänge als schwingende, hörbare, sich ausbrei-
tende Luft, und das ‚Bewegungstheater als stumme Darstellung expressiver Ver-
haltensweisen’ (= Bewegungsmodell V) basiert auf einer rein sichtbaren Musik.
Schnebels Text dient letztlich als Fundierung seiner eigenen Kompositionsästhetik
264 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
und stellt auf theoretischer Ebene die Relevanz von Körper-Klängen in ihrer viel-
schichtigen Dimension dar.
Die von Schnebel in seinem Text ‚Klang und Körper’ aufgestellte Ambivalenz
einer Sichtbarkeit und Körperlichkeit von Klängen legt weitere Verweise zur
Leiblichkeit nahe. Produktion und Rezeption sind keine deutlich zu unterschei-
______________
309
Der Begriff ‚Musikästhetik’ mag in Bezug auf die Kompositionen und Texte Schnebel zu
hoch gegriffen sein, da eine Auseinandersetzung mit traditionellen Aspekten einer Ästhetik
nicht sein Ziel ist. Der Terminus wird im weiten Sinne zur Umschreibung einer bestimmten
‚ästhetischen Auffassung von Musik’ verwendet.
Bewährung · 265
denden ‚Vorgänge’. Der Leib ist vielmehr das ‚a priori’ der künstlerischen Tätig-
keit und stellt neben der sinnlichen Erfahrung auch die Reflexion des Produzierten
bereit. Von grundlegender Bedeutung ist, dass Schnebel in diesem Rahmen einen
Dualismus negiert, der deutlich zwischen einem analytischen und expressiven
Körperverständnis trennt. Dagegen sucht er im Sinne einer ‚guten Ambiguität’
nach neuen Möglichkeiten einer Verflechtung von Produktion und Rezeption. In
den ‚Maulwerken’ werden z. B. im Teil ‚Exerzitien’ zunächst die grundlegenden
Techniken der korporalen Stimmproduktion geübt und in ‚kommunikative Prozes-
se’ eingebunden. Diese Vorgehensweise findet sich auch in den sichtbaren Bewe-
gungsmodellen. In den ‚Übungen’ von ‚Körper-Sprache’ konzentriert sich der
Darsteller zunächst auf die „Bewusstwerdung und Schulung“ der einzelnen Kör-
perteile, um über die darauf aufbauende „virtuose Schulung des ‚Instruments Kör-
per’“ dem Interpreten den Raum für „Selbstentfaltung“ und „Eigenausdruck“ zu
bereiten (aus der Partitur von ‚Körper-Sprache’). In der Erarbeitung muss zu-
nächst das technische Rüstzeug beherrscht, aber auch die eigene Befindlichkeit,
die Eigenwahrnehmung der eigenen Stimmklänge und Körperbewegungen ge-
schult und letztlich die individuellen Ausdrucksformen der ‚Organtätigkeiten’
berücksichtigt werden.
Musiziervorgänge mit Stimme oder mit Instrumenten sind bei Schnebel von einer
grundlegenden ‚Offenheit’ hinsichtlich der klanglichen Erscheinungsweise ge-
kennzeichnet. Diese Offenheit liegt in der Berücksichtigung der individuellen
motorischen Kompetenzen des Subjekts begründet. Bewegungen sind abhängig
von Stimmungen der Aufführenden, von den zwischenmenschlichen Verhältnissen
der Musiker/Darsteller, von den Aufführungsbedingungen und sind folglich nicht
verallgemeinerungsfähig.
Diese ‚Offenheit’ zeigt sich auch in der Anlage der Partitur, die in einem Grenzbe-
reich zwischen Malerei und Musik liegt. Durch verbale und grafische Vorschläge
werden den Interpreten keine fixierten und reproduzierbaren Kompositionen,
sondern Übungen, Vorschläge, Skizzen und Konzepte unterbreitet, die im Rahmen
ihrer Fragmentalität und minimalistischen Form eine improvisatorisch-
experimentelle Gestaltung ermöglichen. Selbst die Materialen zur Klangerzeugung
sind oftmals frei wählbar. Diese gegenseitige Verflechtung von physiologischen
und psychologischen Prozessen während der Aufführung bezeichnet Schnebel
auch als „psychologische Schicht bei der Lauterzeugung“ (Schnebel, zit. nach
Nauck 2001, 148) und entwickelt hierbei ein neues ‚Ausdruckskonzept’. Es basiert
auf dem ‚psychoanalytischen Ansatz musikalischer Gestaltung’ und verdeutlicht,
dass die Organbewegungen das musikalische Material formen und gleichermaßen
266 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Der Interpret befindet sich in einer ständigen Ambiguität zwischen Realisation des
vorgegebenen Materials, das es auch technisch zu bewältigen gilt, und einer indi-
viduellen Auseinandersetzung mit Stimmungen und Gefühlen. Im Sinne der Dop-
pelempfindung Husserls setzt sich die Wahrnehmung nicht isoliert aus einer rein
innerlichen oder äußerlichen Perspektive zusammen, sondern befindet sich in
einem ständigen Wechselverhältnis.311 Die Aufführungen sind von einer vitalen
Expressivität gekennzeichnet, wobei subjektiver Ausdruck und Emotionalität mit
den zu realisierenden Aufgaben aus der Partitur zusammenwachsen. Die Kompo-
sitionen sind folglich keine fertigen Endprodukte, sondern ein ‚work in progress’,
das nach immer neuen stimmlichen und sinnlichen Ausdrucksmöglichkeiten sucht.
Gerade die Summierung vieler Werke unter übergreifenden Werkreihen und The-
menschwerpunkten wie z. B. ‚Versuche’, ‚Räume’, ‚Tradition’ oder ‚Erfahrungen’
veranschaulicht das vielseitige ‚Forschungsprogramm’ von Dieter Schnebel.
______________
310
Schnebel leitet den ‚psychologischen Ansatz musikalischer Gestaltung’, in dem sich mentale
Vorstellungen in die Bewegungen und Musiziervorgänge übertragen, aus dem Freudschen
Realitäts-/Lustprinzip und der in ihm enthaltenen Dependenz von Ich, Es, und Über-Ich ab.
Die angelernten Bewegungsmechanismen repräsentieren das ‚Über-Ich’ als von äußeren Be-
dingungen abhängiges Musizieren, wogegen das ‚Es’ die spontanen, unbewussten Gemütszu-
stände des Spielers symbolisiert. Das Ich überträgt als Korrelat von Es und Über-Ich die Ge-
fühle und Bewegungen in die Organbewegungen und zeigt sich expressiv über das eigene
Verhalten. Von grundlegender Schwierigkeit bleibt dabei die Frage, inwieweit psychische
Formungen der Materialgestaltung wirklich festlegbar sind oder ob das ‚Ich‘ durch Vorschrif-
ten nicht gehemmt wird. Gerade technisch versierte Musiker haben mit den Bewegungsvor-
schriften und expressiven Aufforderungen ihre Probleme gehabt, wogegen Schüler sich spon-
tan mit den neuen Ausdrucksmöglichkeiten auseinander setzten. Die Sängerin Carla Henius
äußert sich zu diesen Schwierigkeiten einer expressiven Darstellung: „Es war doch eher eine
hochnotpeinliche Prozedur, der man unterzogen wurde im guten Glauben, sie freiwillig auf
sich genommen zu haben. Die ganze Sache tat einfach weh, und lange höre ich nur mein ei-
gen Schmerzgekreisch“ (Henius 1993, 137). Ausführlich hierzu vgl. Nauck 2001, 223
311
Das Klopfen und Beklopft-werden in Schnebels ‚Skulpturen und Porträts’ aus den ‚Muse-
umsstücken II’ verdeutlicht die Doppelempfindung als musikalisches Gestaltungsmittel.
Bewährung · 267
______________
312
Vgl. Kap. III.1.2.1
268 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Alle vier Auffassungen verweisen auf die Leiblichkeit, welche die subjektiven
Raumwahrnehmungen begründet. Erst aus der bewussten Eigenwahrnehmung,
also der Position des Rezipienten und Produzenten im Raum, wird deutlich, dass
Entfernungen eingeschätzt oder Sinnhorizonte wie ‚Nicht-mehr-Sichtbares’ oder
‚Noch-nicht-Sichtbares’ synthetisiert werden und von der individuellen Verfas-
sung des Subjekts abhängen.
Neben dem Raum erhält auch die Sprache eine ästhetische Grundierung. Schnebel
versteht Sprache und Bewegung als zwei gleichwertige kompositorische Baustei-
ne, aus denen sich immer neue experimentelle Gestaltungsprozesse ableiten. Be-
reits Titel wie ‚Körper-Sprache’ oder ‚Laut-Gesten-Laute’ verweisen auf deren
wechselseitige Durchdringung und gleichwertige musikalische Behandlung. Spra-
che wird in ihrer ureigenen Klanglichkeit als experimenteller Klangerzeuger ver-
standen und ihr wird die Funktion als Mittlerin eindeutig fixierbarer Bezüge ent-
zogen. Schnebel fokussiert ihr prärationales Ausdruckspotenzial abseits fester
semiotischer Regeln. In den ‚Maulwerken’ wird Sprache von ihrem semantischen
Kontext befreit und durch Laute und Geräusche um eine elementare Ausdrucks-
schicht erweitert. In ‚Körper-Sprache’ wird die Auffassung der Sprache als akus-
tische Äußerung bewusst aufgehoben und durch eine metaphorische Sprachlich-
keit der Bewegung radikalisiert. Die Eindimensionalität eines syntaktisch-
Bewährung · 269
Hierbei ergeben sich konkrete Bezüge zur Leiblichkeit, speziell zur Qualität der
‚Interkorporalität’, denn Schnebel thematisiert über die musikalischen Aktionen
hinaus auch zwischenmenschliche Reaktionen und Verhaltensweisen. Die sichtba-
ren und hörbaren ‚Beziehungen’ der Musiker untereinander etablieren ein musika-
lisches Spiel von Selbst- und Fremderfahrungen, das weniger aus einem möglichst
technisch präzisen Zusammenspiel der Instrumentalisten als vielmehr aus der
Inszenierung sozialer Verhaltensformen resultiert, welche die Akteure über Gesten
und Bewegungen entwickeln.
Der Bezug zur Interkorporalität zeigt sich ferner in der Etablierung vieldeutiger
Kommunikationsformen und der damit verbundenen Aufhebung von Bewegungs-
ritualen. Die weit gefassten verbalen Anweisungen zum Bewegungsverhalten, die
grafischen Notationen unterliegen keinem Schematismus, sondern fördern die
Bereitschaft zur improvisatorischen Arbeit und zu neuen Interaktionsformen.
Schnebel sucht geradezu nach symbolischen Titeln (‚Mundstücke’, ‚Zungenschlä-
ge’, Lippenspiel’) und ist bestrebt, mit mehrdeutigen emotionalen Anweisungen
und Darstellungsformen (‚erspüren’, ‚unterdrücken’, ‚ausdehnen’) immer neue
musikalische Kommunikationsformen zu etablieren.314 Die Entstehung einer
sichtbaren und hörbaren Musik mündet somit letztlich auch in einer interaktiven
Musik, die sich als Ergänzung zum ‚Erweiterten Musikbegriff’ verstehen lässt.
Neben den Alltagsklängen erhalten nun auch zwischenmenschliche Verhaltens-
formen wie ‚Darstellen, Mitmachen, Reagieren, Begegnen’ ihre spezifisch ästhe-
tisch-musikalische Berechtigung und ermöglichen eine konkrete Bezugname auf
die Qualitäten der Leiblichkeit.
______________
313
Vgl. Kamper/Wulf 1984a sowie Kap. I.1.2.1
314
Die Titel und verbalen Anweisungen stammen aus den ‚Maulwerken’.
270 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Musikpädagogische Zugänge
Im Rahmen der Darstellung musikpädagogischer Zugänge werden weniger spezi-
fische Einsatzmöglichkeiten verschiedener Kompositionen für die Praxis noch
Unterrichtsmaterialien oder ein ausführliches musikdidaktisches Konzept vorge-
stellt. Vielmehr wird eine vertiefende Auseinandersetzung mit den unterrichts-
praktischen Horizonten verschiedener Kompositionen Schnebels angestrebt. Dabei
wird auch die praktische Dimension der Leiblichkeit in seinen Bewegungsmodel-
len auf einer Metaebene konkretisiert.
entwerfen oder die Übungen auf anderen Gebieten bzw. mit anderen Materialien
weiter ausdifferenzieren.
In diesem Zusammenhang liegt auch eine fächerübergreifende und gesamtkünstle-
rische Erschließung der Kompositionsverfahren nahe. Der Zusammenschluss von
verschiedenen Künsten, wie z. B. bildende Kunst, Literatur, Musik und Theater,
eröffnet Möglichkeiten der Behandlung einzelner Kompositionselemente in ande-
ren Fächern, in Kunst (Bildinterpretation, z. B. ‚Museumsstücke I/II’), Deutsch
(Phoneme, z. B. ‚Maulwerke’), Theater (szenische Musik, z. B. ‚visible music’) bis
hin zu Sport (Körperbeherrschung, z. B. ‚Körper-Sprache’), Biologie (physische
Grundlagen der Klangerzeugung, z. B. ‚Maulwerke’) und Physik (Räumlichkeit
des Klangs, z. B. ‚raum-zeit y’). Im Musikunterricht ergibt sich die Auseinander-
setzung mit grafischen Notationen, anhand derer die Frage nach der Freiheit bzw.
Festlegung von Kompositionsverfahren in der Neuen Musik (serielle Kompositi-
onstechnik, Improvisation) diskutiert wird. Auch gesellschaftliche Aspekte, wie
die Ritualisierung des Konzertbetriebs und die Reduzierung der Musik auf eine
multimediale Performance, ließen sich weiterverfolgen.
Zum Schluß ein Wort über die Funktion des Musiklehrers. Er hat in solcher
Arbeits-Gemeinschaft nicht so sehr die Rolle des Leiters und des Ein-
Studierenden als die des ‚Animateurs’, der immer wieder für Anregungen
sorgt – und von dem man solche erwartet (Schnebel,1993, 163).
Unter Kritik gerät der ‚traditionelle Musikunterricht’, der oftmals durch Frontalun-
terricht und ‚abfragbarem Wissen’ bestimmt ist. Ferner beanstandet Schnebel eine
elitäre Musikausbildung, die einzig von den technischen Fähigkeiten und der
Anonymität der Interpretation bestimmt wird.319
Ortwin Nimczik und Wolfgang Rüdiger heben innerhalb der Frage nach der Eig-
nung Neuer Musik für die schulische Praxis ausdrücklich hervor, dass in der En-
semblearbeit immer auch vielfältige Zugänge für neue Körpererfahrungen gege-
ben sind.
______________
319
In ‚Blasmusik’ aus Schulmusik soll in der Aufführung „Aggressivität herauskommen: hier
wird auf einige(s) gepfiffen oder einigen(m) der Marsch geblasen“ (Schnebel, Vorwort zu
Blasmusik).
320
Unter dem schillernden und historisch wandelbaren Begriff ‚Ensemble’ wird hier ganz im
Sinne des ‚qualitativen Ensemblebegriffs’ das Zusammenwirken verschiedener Musikerper-
sönlichkeiten verstanden. In Bezug auf die Neue Musik wird auf den emanzipatorischen Mu-
sikbegriff Bezug genommen, der Klänge und Geräusche sowie verschiedene Gestaltungsmög-
lichkeiten in den musikalischen Produktionsprozess integriert. Der utopische Anspruch, der
den Worten Schnebels anhaftet, zeugt von der euphorischen Grundstimmung, mit der sich die
Arbeitsgemeinschaft zeitgenössischen Werken näherte.
276 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Die beiden Autoren weisen auch auf das Wechselverhältnis zwischen Körperlich-
keit der Musik und Musikalität des menschlichen Körpers hin, „der Musik als
offenes fließendes Geschehen immer neu hervorbringt, und die Körperlichkeit der
Musik, die Menschen immer wieder zu verändern vermag, finden ihre höchste
Form der Erfüllung in gemeinsamer musikalischer Gestaltungsarbeit: im En-
semblespiel“ (Nimczik/Rüdiger 1997, 11). Im speziellen Falle der Kompositionen
Schnebels ließen sich gerade hier die Bewegungsmodelle in die Ensemblearbeit
integrieren, denn sie erfüllen durch ihren Schwerpunkt auf Bewegungen, Gestik,
Sprache und Klang die Voraussetzungen für eine Verbindung der Pole ‚Musikali-
tät des Körpers’ und ‚Körperlichkeit der Musik’.
______________
321
Der Begriff ‚Kompositionsästhetik’ wird hier in einem weiten Sinne verwendet und umfasst
die ästhetischen Implikationen der Kompositionen Globokars.
322
Globokar lernte Merleau-Ponty über den Komponisten und Dirigenten René Leibowitz ken-
nen, der ihm Kompositionsunterricht erteilte. Vgl. Leibowitz 1950
Bewährung · 277
Ich habe mich seit langem mit dem sogenannten „musikalischen Engage-
ment“ beschäftigt. Vor vier oder fünf Jahren noch verstand ich darunter
ausschließlich die Verwendung humanistischer oder politischer Texte. […]
Wichtig ist meines Erachtens jedoch die Art wie Musik gemacht wird.
Wenn man Musiker konditioniert, wenn man ihnen erklärt, was sie tun sol-
len, wenn man kontrolliert, was sie tun, […] macht man aus ihnen eine Art
„Töne produzierende Objekte“.323
Der im Zitat deutlich werdende kritische Ansatz ist eng mit Globokars Kindheits-
erfahrungen verbunden, da er als Sohn slowenischer Eltern nach Frankreich emi-
grieren musste. In seiner Erziehung wurde er v.a durch die slowenische Musikkul-
tur, insbesondere durch die traditionelle Volksmusik, geprägt. Die engen sozialen
Verbindungen zwischen den Arbeitern bestimmten sein kulturelles Umfeld und
ließen ihn Musik als existenzielle Form des Aus- und Überlebens erfahren. Im
Anschluss an sein Posaunenstudium am Pariser Konservatorium begann eine in-
tensive Konzerttätigkeit. Parallel hierzu nahm er Kompositionsunterricht bei Luci-
ano Berio, der die „ästhetische und teilweise auch thematische Ausrichtung der
kompositorischen Anfangsphase“ vertiefte (König 1977, 7).324 Vinco Globokar
„gehört somit zu den wenigen ‚Komponisten-Interpreten’, welche die Gegenwart
als produzierender Komponist und zugleich als reproduzierender Komponist mit-
gestalten“ (Nimczik 22003, 281). Diese Doppelbegabung, die am ehesten mit der
des Komponisten und Oboisten Heinz Holliger vergleichbar ist, hat maßgeblich
______________
323
Globokar, V.: Laboratorium. Texte zur Musik 1967-1997, hg. von S. Konrad, Saarbrücken
1998 [=Quellentexte zur Musik des Zwanzigsten Jahrhunderts Bd. 3.1], S. 348; im Folgenden
zit. als ‚LT’
324
In gemeinschaftlicher Arbeit mit Berio entstand zwischen 1964-65 die ‚Sequenza V’ für Po-
saune solo.
278 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
zur Emanzipation der Posaune als Soloinstrument in der Neuen Musik beigetra-
gen. Bedingt durch eine vielfältige Tätigkeit als Interpret und Komponist lässt sich
Globokars Werk nur schwer schematisieren. Seine Arbeit basiert auf Analysen,
Untersuchungen, Experimenten und Voraussetzungen. Er differenziert zwischen
drei grundsätzlichen Untersuchungsfeldern: „1. das Schaffen unterschiedlicher
Beziehungen zwischen Instrument und Körper, 2. die Entwicklung von psycholo-
gischen Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Mitwirkenden, 3. die Bezie-
hungen und Einflüsse zwischen Musiker und elektronischer Apparatur“ (LT 369).
Diese drei grundlegenden Felder unterteilt Dibelius in sieben verschiedene thema-
tische Schwerpunkte. Sie beziehen sich auf das Verhältnis „des Interpreten zu
seiner Spieltechnik, zu ungewohnten gestischen Aktionen, zu fremden Materia-
lien, zu seiner Stimme, zu seinen Mitspielern wie auch zu anderen Einwirkungen
von außen und schließlich zum Publikum“ (Dibelius 1998, 512).325 Eine ähnliche
Strukturierung in sechs ‚Aktionsfelder’ trifft auch Nimczik und unterscheidet
„instrumentale Spiel- und Klangtechniken, Gestik, fremde Klangquellen, Bezie-
hung Stimme-Instrument, reaktives Verhalten der Spieler und Beziehung Musiker-
Publikum“ (Nimczik 22003, 281). Aus den Einteilungen wird bereits ersichtlich,
welchen hohen Stellenwert die instrumentalen Tätigkeiten und die Kommunikati-
on mit anderen Mitspielern erhalten.
Globokars kompositorischer Ansatz lässt sich am ehesten in die Kategorie der
offenen Werkkonzeptionen einordnen, die seit der Jahrhundertmitte des 20. Jahr-
hunderts einen zäsurartigen Umbruch im musikalischen Geschehen markieren.
Die ästhetischen Anschauungen in Umberto Ecos ‚Das offene Kunstwerk’ eröff-
nen zahlreiche Interpretationsansätze, um die vielschichtigen ästhetischen Erfah-
rungs- und Interpretationsgrundlagen in der Moderne aufzudecken.326 Auf infor-
mationstheoretischen Grundlagen wird ein offenes hermeneutisches Modell ent-
wickelt, das die heterogenen Rezeptionsbedingungen zwischen Werk, Künstler
und Konsument als zentralen Bereich ästhetischer Erfahrung hervorhebt.327 In
Anlehnung an die Phänomenologie Husserls, Sartres und Merleau-Pontys be-
stimmt Eco diese Offenheit als „Ambiguität“, die er als Wagnis begreift, „aus der
Konventionalität der gewohnten Erkenntnis herauszutreten, um die Welt in einer
______________
325
Auch Bozić differenziert zwischen sechs Forschungsgebieten, die sie nicht näher expliziert.
Vgl. Bozić 1991
326
Vgl. Eco 1973; Ecos musikästhetische Analysen in ‚Das offenen Kunstwerk’ greifen v. a. die
Kompositionsprinzipien Berios auf, der Globokars Freund und Lehrer war.
327
Eco bezieht sich hierbei auf das Dreiecksverhältnis von ‚Symbol, Referent und Referenz’.
Bewährung · 279
Die ‚Offenheit des Kunstwerks’ findet sich in den freien musikalischen Gestal-
tungs- und Synchronisationsmöglichkeiten seitens der Mitspieler wieder. Bewusst
aufgestellte Gegensätze, Auflösungen und ‚In-Frage-Stellungen’ der interaktiv
verlaufenden Handlungen repräsentieren ein sich ständig weiter entwickelndes
Laboratorium, „in dem in Echtzeit und unter dem Blick von Zeugen eine mehr
oder minder festgelegte Musik geschaffen“ wird (Globokar 1994, 79).
Wie bereits erwähnt, entwickelte sich über den Komponisten René Leibowitz ein
intensiver persönlicher Kontakt zwischen Globokar, Sartre und Merleau-Ponty.
Zentrale Themen dieser Gespräche waren grundlegende musikästhetische Frage-
stellungen, speziell zur Aufgabe der einzelnen Künste sowie der damit verbunde-
nen sozialen Verantwortung des Komponisten.
______________
328
Aus den Schriften Globokars ist nicht zu entnehmen, ob eine Auseinandersetzung mit der
Ästhetik Ecos stattgefunden hat. Durch die Bekanntschaft von Eco und Berio ist eine Beein-
flussung durchaus möglich.
280 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
In diesem Rahmen ist es nicht verwunderlich, dass sich Globokar in seinen Texten
auf Adorno bezieht, der die Eigendynamik des Ästhetischen durch die Kraft der
Negation bestehender Zustände und die damit verbundene Antizipation künftiger
______________
329
Vgl. Sartre 21958
330
Vgl. Leibowitz 1950
331
Vgl. LT 85
332
So lautet der Titel eines Essays von Globokar. Vgl. LT 139 ff.
Bewährung · 281
Praxis ist nicht die Wirkung der Werke, aber verkapselt in ihrem Wahr-
heitsgehalt. Darum vermag Engagement zur ästhetischen Produktivkraft zu
werden. (Adorno 1997c, 367).
Adornos Musikverständnis wendet sich gegen eine Musikindustrie, die ein Estab-
lishment begründet, das durch Kommerzialisierung und Reproduzierbarkeit tona-
ler Musik systematisch zeitgenössische Entwicklungen ‚ausblendet’. Die eigene
Aufgabe der Kunst, v. a. der Musik, ist Aufklärung durch die bewusste Negation
der bestehenden Verhältnisse, wodurch sie sich als Antithese der Gesellschaft
positioniert. Durch ihre Verneinung bleibt aber ein Kunstwerk dennoch gesell-
schaftskritisch fundiert, denn es „kann dem Zusammenhang der Verblendung
nicht ästhetisch entrinnen, dem es gesellschaftlich angehört“ (Adorno 1997a,
54).334
Auch für Globokar sind weniger die Etablierung des schönen Scheins und das
‚interesselose Wohlgefallen’ Zentralfaktoren einer Musikästhetik als vielmehr
direkte Konfrontationen mit zentralen gesellschaftlichen Fragen, durch welche
soziale Verantwortung des Komponisten zum zentralen Gegenstand der Musik
wird. Der Ausgang von der sozialen Dimension bestimmt die Wahl der musikali-
schen Mittel, das Verhalten der Musiker und letztlich die Form der Komposition.
Dabei wird das Engagement umso deutlicher, je präziser sich die Komposition
dem jeweiligen ‚außermusikalischen Themenfeld’ anpasst.
______________
333
Vgl. LT 80 ff.; Konrad 1998, 13
334
Im Gegensatz zu Globokar manifestiert sich für Adorno in der Kunst eine Abstraktion gesell-
schaftlicher Strukturen als ‚l’art pour l’art’, die eine konkrete Antithese gesellschaftlicher Zu-
stände bildet.
282 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Ich suche ein bestimmtes Klangmaterial nicht aus, weil es mir gefällt, son-
dern weil ich es benötige und der Kontext es verlangt. Dies gilt ebenso für
die Musik, denn sie ist nicht präexistent in meinem Kopf, sondern entsteht
als Folge eines vorübergehend auf ein „Sujet“ gerichteten Denkens. […]
Ich kann weitergehen und behaupten, dass jedes in der Natur oder Kultur
präexistente Organisationsmodell als Stimulans und Ausgangspunkt der
Komposition oder des Ingangsetzens eines Prozesses genommen werden
kann“ (LT 13).
In ‚Un jour comme un autre’ (1975) wird z. B. die Haft und Folter einer Türkin
während eines staatlichen Verhörs thematisiert. Tonlängen und -höhen symboli-
sieren körperliche Gesten, welche die Misshandlungen des Opfers darstellen. In
‚Les Emigrés’ (1982-1986) werden Briefe von Auswanderern, Auszüge des Inter-
nationalen Emigrationsrechts, Presseberichte und Poesie auf 15 Sprachen gesun-
gen bzw. gesprochen.
Klangqualität, indem er die „strikte Funktionalität der Mittel fordert, die sich den
Absichten anzubequemen hätten; je nach Notwendigkeit Blockflöte oder […]
Computer“ (Klüppelholz 1994, 13). Die Verwendung der geeigneten Klangerzeu-
gung muss im Zusammenhang mit dem außermusikalischen Themenfeld und der
aktuellen gesellschaftlichen Lage gesehen werden.
______________
337
Der Begriff ‚Klangforschung’ wird letztlich nicht explizit von Globokar erwähnt, verdeutlicht
aber sein Grundanliegen einer ‚Musique Engagée’ und steht im engen Bezug zum Zyklus
‚Laboratorium’.
338
Die damit verbundene Schockwirkung seitens des Publikums ist eine (vom Komponisten
gewünschte) Begleiterscheinung.
Bewährung · 285
‚Misshandelt die Instrumente nicht, laßt sie machen, wofür sie gebaut wor-
den sind!’ Um diese gängige Phrase zu widerlegen, muß man nur begrei-
fen, daß die Orchesterinstrumente in ihren Möglichkeiten keineswegs so
beschränkt sind, wie man gerne glauben möchte […] (Globokar 1994,
131).
Die Mehrzahl der innovativen Entwicklungen und Ideen finden sich im Bereich
der Kompositionen für Blas- und Schlaginstrumente. Bei den ‚Bläsern’ erfolgt die
Tonerzeugung während des Aus- und Einatmens. Die Spielweisen sind anstren-
gend, da kaum Zeit zum Luftholen bleibt. Zusätzlich werden auch Texte in die
Blasinstrumente gesprochen oder gesungen. Im letzten Falle notiert Globokar
zweistimmige Melodieverläufe. Im Rahmen der Präparationsmöglichkeiten bietet
sich die Möglichkeit an, Wasser in Mundstücke zu schütten (Discours II für fünf
Posaunen) oder das Instrument selbst in einen Behälter voll Flüssigkeit zu halten
(Discours IV für drei Klarinetten). In beiden Fällen entstehen kurze dumpfe Ge-
räusche, die den körperlichen Prozess des Atmens deutlich hervortreten lassen. In
vielen Kompositionen schreibt Globokar vor, welche Haltung die Interpreten mit
ihren Instrumenten einnehmen sollen, um neue Klänge durch ungewohnte körper-
liche Spielhaltung zu erzeugen und den Musiker vor neuen physischen Aufgaben
der Tongestaltung zu stellen.
Die systematische Erforschung neuer Klänge führt auch zu diversen ‚Kopplungen’
von Blasinstrumenten. In ‚Vendre le vent‘ werden z. B. neun Musiker mit Schläu-
chen mit einer Tuba verbunden. Trompeter, Hornist und Posaunist spielen mit
ihren Mundstücken auf Schläuchen, die an den Ventilen der Tuba angeschlossen
sind. Oboist, Klarinettist und Saxophonist sind in gleicher Weise mit dem Fagott
verbunden, das per Schlauch mit dem vierten Ventil der Tuba zusammenhängt.
Die Klänge aller Instrumente werden durch den Korpus der Tuba gepresst und
moduliert. Die Verbindungen der Instrumente, die Schwierigkeiten des Atem-
transports durch die Schläuche sowie die komplexen Spielanweisungen und Spiel-
techniken verweisen auf das kollektive Verhalten und die immense physische
Belastung.
Die Erweiterung der Spieltechniken findet sich bei den Schlaginstrumenten. In der
Neuen Musik findet dort eine „Materialhypertrophie“ (LT 359) statt, die auf der
„Freude am Schlagen“, virtuosem Spiel und der „endlosen Anhäufung von Klang-
286 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
In Bezug auf die Weiterentwicklung der Spieltechniken ist auffallend, dass Glo-
bokar Bewegungsvorgänge vorschreibt, die Interpreten überfordern und sie bis an
die Grenze ihrer physischen Fähigkeiten bringen.
Diese bewusste Herausstellung ‚musikalischer Grenzsituationen’ geht auf die
Komponisten der ‚Neuen Komplexität’ oder ‚New Complexity’ zurück, die be-
stimmte Einzelheiten des spielerischen Vollzugs in zuvor nie gekannter Genauig-
keit bestimmten.340 Besonders Werke, die zu einer fortschreitenden Differenzie-
rung einzelner musikalischer Parameter tendieren, beinhalten Übertreibungen
gewöhnlicher spieltechnischer Standards. In seiner praktischen Erfahrung als
Solist geht es Globokar aber weniger um die bewusste Zurschaustellung der Kom-
plexität musikalischen Materials, sondern vielmehr um Offenhalten des Engage-
ments und der dadurch bedingten Erweiterung klanglicher und spieltechnischer
Möglichkeiten des Instruments. Dem Musiker werden unerreichbare Tonhöhen
oder komplexe Rhythmen vorgegeben, um neue Spielerfahrungen auf seinem
______________
339
Vgl. ausführlich hierzu den Text ‚Antibadabum – Für eine neue Ästhetik des Schlagzeugs’
(LT 206 ff.). Globokar lehnt somit eine Klangästhetik im Sinne der Komposition ‚Ionisation’
von Varèse ab.
340
Der Begriff entwickelte sich im Anschluss an ein 1990 in Rotterdam veranstaltetes Symposi-
um mit gleichem Titel. Vgl. Hilberg 2000; als Hauptvertreter einer ‚New Complexity’ dürfte
der Komponist Brian Ferneyhough gelten. Ausführlich zum schillernden Begriff der ‚Neuen
Komplexität’ oder ‚Neuen Einfachheit’ vgl. Bons 1990
Bewährung · 287
______________
341
Vgl. ausführlich hierzu Globokars Essay ‚Plädoyer für eine Infragestellung’, in LT 315 ff.
342
Parallel zu ‚Res/As/Ex/Ins-pirer’ für Posaune komponierte Globokar eine ‚Atemstudie‘ für
Oboe Solo, die sich mit der gleichen Thematik auseinandersetzt und für eine Oboenschule
von H. Holliger geschrieben wurde.
288 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Nach einer gewissen Zeit fängt er zu schwitzen an und ihm wird schwarz
vor Augen. Obwohl es Hilfsmittel gibt, kommt irgendwann der Punkt, an
dem er nicht mehr weiter kann. Und an eben diesem Punkt endet das Stück
(Globokar 1994, 11).
Die physische und psychische musikalische Belastung führt zur Kernthematik der
Musikästhetik Globokars. Einerseits gibt er präzise Angaben vor, wie z. B. Bewe-
gungsabläufe, Interaktionsformen, Textvorlagen, und komponiert auch im traditi-
onellen Notensystem. Gleichfalls lässt er dem Interpreten die Freiheit, die Klang-
erzeuger zu wählen, graphische Darstellungen zu interpretieren, um die Mitwir-
kung bei der Realisation des Werks einzuplanen. Dieses ‚offene Verhältnis’ von
Vorgabe und Freiheit dient dazu, stereotype Interpretationsmechanismen oder eine
auf manuelle Fähigkeiten geschulte Musikausübung zu überwinden. Gleicherma-
ßen ist auch die Chance eines individuellen Engagements ‚vertan’, sobald die
Aufforderung zur Improvisation ohne einen präfixierten Kontext verläuft. Globo-
kar wendet sich folglich gegen die Begriffe ‚Vorschrift’ und ‚Improvisation’, um
eine einseitige Ausrichtung von kontrollierter oder willkürlicher Interpretationen
zu vermeiden.
Kaum ein anderer Komponist der Neuen Musik sucht wie er nach immer neuen
Wegen, das Verhältnis zwischen ‚Freiheit und Verantwortung’ in die musikalische
Gestaltung zu integrieren. Die Grenzen zwischen Komposition, Improvisation und
Interpretation werden ebenso relativiert wie die Rolle zwischen Komponist, Inter-
pret und Publikum. Auch das musikalische Material ist weder völlig frei wählbar
noch total determiniert, sondern bestimmt sich in der Relation zur Verantwortung
aller am Entstehungsprozess Beteiligten. Die Bereiche Instrumentenwahl, Notati-
on und Realisation werden also in den Kompositionen in unterschiedlicher Kon-
Bewährung · 289
ein Buch zum Lesen und Anschauen, eine Sammlung von Konzepten (wo-
möglich sogar utopischen, nicht realisierbaren), eine Folge von aneinan-
der montierbaren Musikstücken, ein pädagogisches Material, Hinweise zur
Technik des Komponierens, eine Einladung zur Improvisation, Überlegun-
gen zum Verhältnis zwischen Musik und Poesie, Mathematik oder Tierpsy-
chologie (Globokar 1994, 80).
Aufgabenbereiche als das traditionelle Singen.345 Bedeutsam ist zunächst die Dif-
ferenzierung in unterschiedliche expressive Geräusche, wie ‚Flüstern, Husten,
Lachen, Murmeln, Pfeifen, Sprechen oder Stöhnen’. Hinzu treten physiologische
Beschreibungen der Tonerzeugung, wie ‚gegen den Gaumen, kehlig, mit aufgebla-
senen Backen, mit geschlossenem Mund, mit verstopfter Nase, zwischen den
Zähnen, Kehlkopfstoß, hecheln oder Zungenstoß’. Diese Geräusche der Stimme
repräsentieren eine emotionale Lautschicht und verdeutlichen die körperliche
Anstrengung der Interpreten auf der Bühne. Ferner dienen die in den Kompositio-
nen aufgeführten Texte v. a. dazu, die mentale Verfassung während der Tonerzeu-
gung zu leiten. Das Mitsprechen der in der Partitur dargestellten Passagen, die zur
Tonerzeugung hinzugefügten Sprachgeräusche oder auskomponierte ‚Text-
Graphiken’ sollen von „von innen her“ (König 1977, 210) die Interpretation beein-
flussen.
Das physische Engagement ist das wichtigste Kriterium zur spezifischen Stilistik
der Werke Globokars. Angefangen von unterschiedlichen Atemtechniken, über
Veränderungen des Resonanzraumes im Mund, bis hin zu verkrümmten, gespann-
ten Körperhaltungen reicht das Register der instrumentalen Aktionen, welche die
Klangwirkung und das Engagement des Interpreten im Kollektiv beeinflussen.
Die zentrale Möglichkeit, das physische Engagement zu fokussieren, liegt in der
bewussten Abkehr traditioneller Spielgewohnheiten, in die der Musiker durch
starre Bewegungsverläufe immer wieder zurückfällt. Daher integriert Globokar in
seine Kompositionen ‚Störfaktoren’, wie z. B. die Einbeziehung ungewöhnlicher
Verhaltensweisen.346 Diese ‚Behinderungen’ zielen darauf ab, Bewegungen her-
vorzurufen, die frei von stereotypen Bewegungsmustern sind. Die resultierende
Musik wirkt allerdings „sehr viel strenger, ernster, direkter, viel weniger ornamen-
tal“ (LT 360).
______________
345
Eine umfangreiche Auflistung von Verhaltensweisen findet sich bei König 1977, 137 ff.
346
Hier ist eine deutliche Nähe zu Hans J. Hespos Kompositionsästhetik zu erkennen. Vgl. Kap.
V.3.1.2
Bewährung · 291
Die Improvisation hat mir die Bedeutung des physischen Engagements des
Instrumentalisten und der in der Gruppe entstehenden psychologischen
Wechselbeziehungen gezeigt (LT 359).
Ich halte mein Instrument, die Posaune, nicht für ein sakrosanktes Objekt,
dem ich mich blind anpasse, sondern für ein musikalisches Hilfsmittel un-
ter so vielen anderen. Beim Spielen betrachte ich es als eine Verlängerung
meines Körpers, als Verstärker nicht allein meiner möglichen vokalen oder
körperlichen Artikulationen, sondern als Möglichkeit der Mitteilung meiner
Gedanken (LT 371).
Anhand von ?corporel lassen sich summierend die verschiedenen Merkmale der
Kompositionsästhetik Globokars zusammenfassen.348
Diese 1985 entstandene Komposition thematisiert das Musizieren eines Schlag-
zeugers auf seinem eigenen Körper. Der Spieler verwendet einzig seine Hände,
Füße und Stimme zur Klangerzeugung. Es entsteht ein Drama, „dessen Subjekt
______________
348
Das Wort ‚corporel’ stammt aus dem Französischen und bedeutet ‚körperlich, leiblich’. Das
Fragezeichen im Titel stellt zur Diskussion, ob es sich um ein Musik- oder Theaterstück han-
delt und ob der menschliche Körper ein Musikinstrument ist. In Bezug auf den Zyklus ‚Labo-
ratorium’ ist es das einzige Werk, das solistisch ausgeführt wird.
Bewährung · 293
und Objekt zugleich der Mensch ist“ (LT 213). ?corporel bezieht als Teilbereich
des Musiktheaters auch szenische Elemente in den Musiziervorgang mit ein. Die
Grundidee, den Körper als eine eigenständige Klangquelle zu behandeln, basiert
auf dem Ansatz, ein Stück zu schreiben, in dem „gar keine Instrumente mehr vor-
kommen, in dem der menschliche Körper zum Instrument wird“ (LT 213).
Durch ungewöhnliche Körperstellungen werden virtuose Spieltechniken und unre-
flektierte Automatismen im Instrumentalspiel in Frage gestellt, und die Eigenver-
antwortlichkeit des Interpreten während der Aufführung wird gefordert. Um die
unterschiedlichen Klänge auf dem Körper zu verdeutlichen erscheint der Schlag-
zeuger „in Leinenhosen gekleidet, Oberkörper frei, barfuß“ (Globokar, Partitur
von ‚?corporel’). Der Musiker verkörpert sich im Klang und „ist durch die Situa-
tion gezwungen, eine Untersuchung seines eigenen Körpers und damit letztlich
seiner eigenen Person“ auszuführen. Der Schlagzeuger „bedient sich seines gan-
zen Körpers, […] und wird schließlich zum Schauspieler“ (LT 213).
Im Rahmen dieser ‚Verwandlung’ liegt das physische und psychische Engagement
begründet, da sich der Schlagzeuger mental in eine Rolle hineinversetzt und diese
einzig über den Klang seines Körpers ausdrückt. Die in der Partitur eingefügten
verbalen Anweisungen (‚wie ein Gefangener’) unterstreichen die mentalen Anfor-
derungen. Ferner wird durch diese Einschübe auch das übergreifende gesell-
schaftskritische Thema der Komposition verdeutlicht, das sich wie viele andere
Werke Globokars auf die Aspekte Folter und Misshandlung konzentriert.
Als Klangflächen dienen weiche oder harte Körperteile. Die weichen Stellen wer-
den mit der Handfläche und die harten mit der Fingerspitze geschlagen. Als zu-
sätzliche Möglichkeit bietet sich das Streichen mit der Handfläche an. Zusätzlich
finden sich ergänzende Angaben wie ‚abwischen’ ‚Hände fest zusammenklat-
schen’, ‚mit den Fingern schnipsen’, ‚die Haare zerzausen’ oder ‚schlagen’.
Neben dem Körper wird auch die Stimme in die Gestaltung integriert. Ihre Funk-
tion liegt darin, die Schlaggeräusche zu imitieren. Daher vermeidet Globokar
Vokallaute und bezieht ausschließlich perkussive Atemgeräusche in die Komposi-
tion mit ein.349 Grundsätzlich stehen die beiden Möglichkeiten des Ein- oder Aus-
atmens zur Verfügung. Mit diesem Material ist es möglich, Atem- und Schlag-
______________
349
Die Reibelaute ‚h, f, s, sch, r‘ symbolisieren flächige Streichgeräusche und werden im Aus-
atmen erzeugt. Die Verschlusslaute ‚t, p, k, d, g‘ verdeutlichen das perkussive Schlagen der
Hände und werden im Einatmen produziert.
294 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
betrachtet wird. Ausgehend von Gabriel Marcel beinhaltet er „ein immer bereits in
einer Situation Involviertsein wie auch sich in einer Situation für etwas einsetzen“
(Hügli/Lübcke 31998, Bd. 1, 434). Merleau-Ponty erweitert diese Definition um
eine entscheidende Perspektive. Das Engagement verweist nicht mehr nur auf die
Teilhabe an einer Situation (être en situation), sondern versteht sich als leibliches
Handeln innerhalb sozialer Verantwortung (être au monde).351 Das Subjekt verhält
sich handelnd immer schon zu Anderen und begründet im ‚Zur-Welt-Sein’ des
Leibes einen Großteil seiner Freiheit.
Einen Leib haben heißt für den Lebenden, sich einem bestimmten Milieu
zugesellen, sich mit bestimmten Vorhaben zu identifizieren und darin be-
ständig sich engagieren (PhW 106).
Die Existenz im modernen Sinne ist die Bewegung, wodurch der Mensch
zur Welt ist und sich in einer natürlichen und sozialen Situation engagiert
(Merleau-Ponty 2000, 97).
Weder bei Varèse noch bei Schnebel lassen sich die Bezüge zu den Qualitäten der
Leiblichkeit so unmittelbar nachweisen wie in der Musik Globokars. Der Ver-
gleich einzelner Aspekte der Musikästhetik Globokars mit den vier Qualitäten der
Leiblichkeit ermöglicht daher genaue Zuordnungen.
In der ‚Musique Engagée’ Globokars nimmt die ‚Expressivität’ den größten Raum
ein, insofern hierunter die Bezugnahme auf das Engagement der Ausführenden
______________
351
Ausführlich hierzu vgl. Hügli/Lübcke 1998, Bd. 1, 438-440
296 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Freiheit durch die Vorgabe von Spiel- und Verhaltensweisen. Wie der Leib sich
selbst durch unabgeschlossene Vollzüge auszeichnet, so ist auch das Engagement
‚endlos’ und in die offenen Werkkonzeptionen als Potenzial eines noch zu gestal-
tenden Prozesses integriert. Die zum großen Teil zwischen Struktur und Offenheit
angelegten Kompositionen streben förmlich nach der Integration disparater Ele-
mente. Schon Überschriften einiger Texte wie ‚Reflexion über Improvisation’
oder ‚Individuum und Kollektiv’ verdeutlichen das Zwischen der Leiblichkeit
zwischen Erfindung und Interpretation.353
Ausgehend von der Verbindung von Freiheit und Verantwortung im instrumenta-
len Aufführungsprozess verweist die wechselseitige Verbindung von physischem
und psychischem Engagement auf die Qualität des ‚Zwischen’. Auch hier verwirft
Globokar bewusst ein musikalisches Denken, das auf festgelegten dualistischen
Deutungen und Klassifikationen beruht. Eine zentrale Rolle erhält hierbei die
Improvisation. In Anlehnung an die phänomenologische Terminologie wird sie
von Globokar als „Ambiguität der Situation […] bezeichnet, in welcher der Inter-
pret sich wie ein Chamäleon zu verhalten hat“ (Globokar 1994, 58). Globokar
lehnt sich bewusst an die von Merleau-Ponty entwickelte Begrifflichkeit an, da er
„zwischen ‚Psychischem’ und ‚Physiologischem’“ (PhW 104) eine Brücke zu
schlagen vermöchte.354
Die Improvisation ist eine Art ‚kontrollierte musikalische Erfindung’, die den
Musiker dazu anspornt, seine Tätigkeiten zu überprüfen und freie Entscheidungen
zu treffen, welche dem musikalischem Material und auch der Verdeutlichung des
übergreifendem Themenfelds dienen. Der Leib erhält dabei die Kontrolle über die
Balance zwischen psychischem und physischem Engagement, da er sowohl die
mentale Situation des Interpreten als auch seine körperliche Beteiligung zum Aus-
druck bringt. Da so Freiheit und Verantwortung in einer ‚guten Ambiguität’ zu-
sammenwirken, verlangt Globokar weder spontane Stegreifimprovisationen noch
virtuose Skalenetüden, sondern vom Körper und Geist gelenkte Reaktionen auf
das Gegenwärtige ästhetischer Situationen. Die Improvisation ist folglich in einem
weitaus größeren Zusammenhang eingebettet, um „ein Gleichgewicht zwischen
individueller Freiheit und einem reflektierten, gemeinsamen Bewusstsein herzu-
stellen“ (Globokar 1994, 58). Sie transportiert eine musikalische Gesamtidee über
______________
353
Vgl. LT 112 ff; LT 215 ff.
354
Vgl. die von R. Boehm zusammengestellten Kapitelüberschriften der Phänomenologie der
Wahrnehmung. Der § 4 aus dem ersten Teil des ersten Abschnitts lautet: ‚Zwischen Physi-
schem und Physiologischem: die Existenz’ (PhW 112 ff.).
298 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
den Leib und begründet eine sich ständig weiterentwickelnde kollektive Musik-
praxis.
Viele Werke Globokars lassen sich nur durch die Bewahrung der Interessen aller
an der Aufführung Beteiligten realisieren. In diesem Zusammenhang gewinnt auch
die dritte Qualität, die ‚Interkorporalität’, eine enorme Relevanz. Sie konstituiert
die musikalische Produktion im Kollektiv durch die ‚Weitergabe’ des eigenen
physischen und psychischen Engagements an andere, wie Mitspieler und Publi-
kum. Der Leib wird hier zum Kommunikationsorgan, das sich über Bewegungen
mitteilt. In Bezug auf die spezifischen Merkmale der Interkorporalität Globokars
sind es v. a. die Kopplungen der Musiker untereinander, in denen das Engagement
‚gebündelt’ wird, da mehrere Musiker auf einem einzigen Musikinstrument spie-
len. Der Begriff Zusammengehörigkeitsgefühl kann wörtlich gefasst werden und
unterstreicht im Sinne der Zwischenleiblichkeit die Untrennbarkeit des Kollektivs.
Im Rahmen der physisch belastenden Aktionen gilt es in jeder Hinsicht Rücksicht
zu nehmen, um die demokratischen Verhältnisse zu bewahren.
Das Verständnis der Interkorporalität in den Werken Globokars bewirkt die Auf-
hebung des transzendentalen Solipsismus, der davon ausgeht, dass der Andere nur
eine Spiegelung des eigenen Leibes ist.355 Da das individuelle Engagement im
Kollektiv ‚verkörpert’ wird, ist der einzelne Mitmusiker immer auch ein Nicht-
Ich, das sich als ‚alter Ego’ von anderen unterscheidet. Das musikalische Kollek-
tiv Globokars ist also im besten Falle eine heterogene Zusammenarbeit mehrerer
an einem Projekt Beteiligter.
Musikpädagogische Zugänge
Ausführlich haben sich in letzter Zeit Andreas Langbehn und Ortwin Nimczik mit
musikpädagogischen Umsetzungsmöglichkeiten der Musik Globokars beschäf-
tigt.356 Als Musterbeispiel ‚Experimenteller Musik’ konzentrieren sich beide auf
die Komposition ‚Individuum↔Collectivum’. Da ihre Ergebnisse Bezüge zu der
‚Musique Engagée’ ergeben sowie die allgemeine Relevanz Neuer Musik und
deren methodische Umsetzungsmöglichkeiten im Unterricht kennzeichnen, wer-
den sie im Folgenden vorgestellt.
______________
356
Vgl. Langbehn 2001; Nimczik 1998b; weitere Konzepte, die Werke Globokars in Form
musikalischer Ensemblearbeit improvisatorisch zu erarbeiten, finden sich bei Nimc-
zik/Rüdiger 1997 und bei Richter 2003. Während Nimczik und Rüdiger sich anhand der
Komposition ‚La Ronde’ unter Erweiterung konventioneller Musizierweisen auf die Verant-
wortung des Interpreten im Kollektiv-Spiel konzentrieren, stellt Richter anhand von ‚Indivi-
duum↔Collectivum’ grundsätzliche Anregungen vor, „eine Musik zu erfinden, zu erproben
und aufzuführen – im Spiel zwischen Einzelnen und Gruppe“ (Richter 2003, 48).
300 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
kar 1994, 86). Die dritte Version ist eine Abstraktion der ursprünglichen Frage-
stellung und ermöglicht die Vertiefung der gesammelten Spielerfahrungen.
Ausgehend von dieser Differenzierung in unterschiedliche Niveaus führt eine
musikpädagogische Beschäftigung mit ‚Individuum↔Collectivum’ zu Experimen-
ten mit den Parametern ‚Dauer, Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe’. Die spiel-
technische Auseinandersetzung mit diesen Bausteinen vollzieht sich auf eine ele-
mentare Art, so dass durch die verbundene Voraussetzungslosigkeit theoretischer
und spieltechnischer Fähigkeiten „Schülern, die nicht nach Noten spielen können,
der Einstieg in musikalische Experimente ermöglicht“ wird (Langbehn 2001, 41).
Die schnell umzusetzenden graphischen Notationen und verbalen Textanweisun-
gen fokussieren das expressive Potenzial der Spieler und gewährleisten schnelle
Erfolgserlebnisse im Klassenverband. So wird durch die Integration ungewöhnli-
cher Klangerzeuger bzw. Alltagsgegenstände, wie Steine, Zweige, Papier, Plastik
oder Teller, auch Laien die Möglichkeit gegeben, ein Musikstück der Neuen Mu-
sik kennen zu lernen und aufzuführen.
Globokar beschreibt auf einem Arbeitsblatt je eine persönliche und gemeinschaft-
liche Erarbeitungsmöglichkeit. Daher hebt Langbehn besonders das individuelle
und kollektive Musizieren, Entdecken und Gestalten hervor, da so die kreativen
Prozesse des Einzelnen als auch das „konzentrierte Musizieren“ (Langbehn 2001,
42) in der Gruppe gefördert werden. Einen hohen Stellenwert erhält hierbei die
‚Klangforschung’ und die damit verbundene ‚Erweiterung der Spieltechniken’.
Die improvisatorischen Elemente fördern die Offenheit für andere Klänge und
Formverläufe. Ferner verlangt die Einbeziehung sozialer Themen von den Schü-
lern Diskussionsbereitschaft.
Da sich Langbehn schwerpunktmäßig auf die ausführliche Darstellung der Para-
meterbehandlung in ‚Individuum↔Collectivum’ konzentriert, nennt er stichpunkt-
artig einige Aspekte, wie eine ‚methodische Vorgehensweise’ verläuft. In der
Erarbeitung werden verschiedene Wege, die alle das ‚Besondere und ‚Allgemeine’
der Musik Globokars in unterschiedlicher Gewichtung konkretisieren, miteinander
kombiniert und die Kommunikations- und Interaktionserlebnisse hervorgehoben.
Langbehn unterteilt seine Vorgehensweise in drei Schritte. Auf einer Grundbasis
wird zunächst das ‚Besondere’ des betreffenden experimentellen Stücks themati-
siert, um z. B. ungewöhnliche Spielpraktiken im Ensemble zu erproben. Die an-
schließende vertiefende Ebene setzt sich mit dem ‚Allgemeinen’ im Sinne eines
Vergleichs mit anderen (klassischen) Werken auseinander. Dieser Ansatz eröffnet
auch Bezüge zu anderen Künsten, wie die bildende Kunst, die Literatur oder der
Film. Der dritte Bereich stellt die gemachten ‚Erfahrungen’ in einen größeren
Bewährung · 301
______________
357
Völlig unklar bleibt allerdings, warum die außermusikalischen Vorerfahrungen zu den Topoi
‚Abschied und Trennung’ dazu beitragen, den „Schluß in der Musik zu verstehen“ (Langbehn
2001, 56).
358
Langbehn und Nimczik stellen beide die Möglichkeit vor, mit der rhythmischen Syntax des
Morsealphabets zu improvisieren.
302 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
______________
359
In seinen Schriften finden sich nur wenige pädagogische Anknüpfungspunkte. Seine Vor-
schläge unterbreitete Globokar dem Verfasser in persönlichen Gesprächen und im Briefwech-
sel zwischen den Jahren 2000 und 2002.
Bewährung · 303
Sowohl in den Artikeln von Langbehn und Nimczik als auch in Globokars eigener
Darstellung von Vermittlungspotentialen seiner Kompositionen ist auffällig, dass
indirekt ein Kerngebiet der Musikästhetik angesprochen wird, ohne letztlich des-
sen Deutlichkeit und Dringlichkeit für den Musikunterricht zu konkretisieren. Im
Rahmen einer musikpädagogischen Auseinandersetzung bietet es sich an, die
Entwicklung eines gesellschaftskritischen Bewusstseins im Hinblick auf die ritua-
lisierte Musikpraxis in den Kern des Unterrichts zu stellen. In einer Erarbeitung
wird oftmals unter den Aspekten der Entfremdung und Verdinglichung auf die
Atonalität als teleologischer Prozess der Musikgeschichte eingegangen. Des Wei-
teren werden die medialen Vermarktungsstrategien thematisiert oder soziologisch
motivierte Hörertypologien analysiert. Die Bezugnahme auf den Leib als Wahr-
nehmungsorgan und folglich sensibles Zentrum von Manipulationsinteressen
bleibt weitestgehend unberücksichtigt. So liegt ein wesentliches didaktisches Ziel
in der Förderung gesellschaftskritischen Engagements durch die grundlegende
Infragestellung instrumentalisierter Tätigkeiten an sich.
Die inhärente Radikalität der Musik Globokars eignet sich dazu, mit den Überfor-
derungen der Spieltätigkeit durch ‚unrealisierbare Vorschriften’ im Unterricht zu
experimentieren. Die konkrete praktische Austarierung der Grenzen des physisch
und psychisch Machbaren führt letztlich zu einer grundlegenden Hinterfragung
des Wahrheitsgehalts der Kunst. Der nicht zu leugnende utopische Anspruch der
Musik Globokars wird folglich zum Kerngebiet der pädagogischen Auseinander-
setzung und führt vom Stellenwert der Improvisation, über die Expressivität der
Musikausübung im Kollektiv, hin zu der Gestaltung eigener offener Werkkonzep-
tionen.
schweigen von der mentalen Belastung, die mit einer Konzentration auf die Leis-
tungsfähigkeit des Körpers einhergeht. Die Skepsis gegenüber der Erarbeitung
physischer Spielgrenzen auf Instrumenten ist allerdings insofern unbegründet, da
ja auch in anderen Fächern, v. a. im Sport, die permanente Steigerung der physi-
schen Leistung thematisiert wird. Wenn daher der Leib unabdingbarer Bestandteil
der musikalischen Produktion von Musik ist, der gleichsam ästhetische Erfahrun-
gen bereitstellt, gilt es auch im Unterricht sein ‚Können’ auszudifferenzieren und
bis an die Leistungsmaximierung zu steigern.
Im Unterschied zum Sportunterricht geht es Globokar allerdings weniger um vir-
tuose Höchstleistungen, Drill und Wettkampf als vielmehr um die Ausdifferenzie-
rung musikalischen Engagements. Der Vorwurf, dass das Spiel mit den Grenzen
des Körpers letztlich zu einem Spiel mit existenziellen Grenzsituationen führt,
trifft nicht den Kern seiner Musikästhetik, da das ‚Spiel mit den eigenen Grenzen’
ein neues Körperbewusstsein bewirkt, das die Einmaligkeit ästhetischer Situatio-
nen sowie die Vieldeutigkeit der resultierenden Klangergebnisse und kollektiven
Aktionsformen herausstellt. Natürlich ist innerhalb einer musikpädagogischen
Auseinandersetzung Vorsicht geboten, den Bereich des Möglichen nicht zu über-
schreiten, damit keine körperlichen Schäden auftreten, aber auch in anderen Fä-
chern wird Wert auf die Einhaltung von Grenzen, Regeln und gegenseitige Rück-
sichtnahme gelegt.
trum der Erarbeitung steht dabei der Körper als expressives Medium und als Ver-
längerung des Instruments. Durch diese Auseinandersetzung mit dem physischen
und psychischen Engagement wird den Schülern der keineswegs selbstverständli-
che Umstand näher gebracht, dass Einstellungen oder Rollen über Bewegungen
zum Ausdruck gebracht werden.360
Erst nach dieser grundsätzlichen Sensibilisierung schließen sich erste Experimente
mit Überforderungen an. Die Schüler experimentieren mit ‚extremer’ Dynamik
(Spiele so lange wie du kannst im Fortissimo!’ ‚Spiele so leise wie möglich!’),
ungewohnten Spieltechniken (‚Singe die Melodie ununterbrochen im Ein- und
Ausatmen!’) oder mentalen Anweisungen (‚Erzeuge einen Klang, der dir Freude
oder Angst macht!’).361
Ein weiterer Aspekt der Auslotung der Grenzen physischer Spielvorgänge ist die
Verfremdung und Präparation gewöhnlicher Klangerzeuger und damit zusammen-
hängender Körperhaltungen. Hierbei werden auch alltägliche Klangerzeuger, wie
Sand, Wasser oder Motoren, hinzugezogen. Ferner bietet es sich an, an ungewöhn-
lichen Naturplätzen oder in Unterrichtsräumen (Kunst-, Chemie- oder Physik-
raum) zu musizieren, da hier einerseits ungewöhnliche Klangerzeuger zu finden
sind, und andererseits die Schüler von den an einen Raum gebundenen Hemmun-
gen ‚befreit’ werden. Es ist auch von besonderem Reiz, mehrere Instrumente oder
Instrumententeile miteinander zu verbinden, um innerhalb der kollektiven Musi-
zierpraxis einen gemeinsamen Ausdruck auf einem Instrument zu realisieren.
In der Klasse wird auf Plakaten ein grundlegendes Raster von Spieltechniken und
Präparationen entworfen und systematisch in Form eines ‚Laboratoriums’ er-
forscht. Im Rahmen dieser kollektiven Musiziertätigkeit werden auch die Sozial-
kompetenz der Klasse und die demokratischen Verhältnisse der Schüler unterein-
ander erweitert. Aus den in den Gruppen entstandenen Präsentationen entwickelt
sich auf diese Weise ein experimentelles Musiktheater, in dem verschiedene Akti-
onen simultan aufgeführt werden.
Die Grundvoraussetzung für die hier vorgestellte Erarbeitung liegt in der Konzent-
ration auf die Entwicklung offener Werkkonzeptionen sowie in der damit verbun-
______________
360
Es ist auch möglich, sich zu verstellen und eine fremde Rolle zu übernehmen.
361
D. Frank und Th. Keens experimentieren in ihrem für die Schule konzipierten Schlagzeug-
lehrwerk ‚Trommeln lernen und mehr’ mit physischen Belastungen im Instrumentalspiel.
Vgl. Frank/Keens 2000
306 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
VI DISKUSSION
Zwischen dem Anbieten einer Vielheit von formalen Welten und dem eines
undifferenzierten Chaos, das keinerlei Möglichkeit zu ästhetischer Erfas-
sung mehr bietet, ist nur ein kleiner Schritt.
(Eco 1973, 130)
Das folgende Kapitel summiert den im Verlauf der Arbeit geleisteten Forschungs-
ertrag auf zwei Weisen. Zunächst werden die Ergebnisse der einzelnen Kapitel auf
einer Metaebene kritisch reflektiert und miteinander verknüpft, um die Argumen-
tationsstringenz zu fokussieren (1). Eine anschließenden Kontextualisierung der
zentralen Positionen der Arbeit verfolgt eine Eingliederung der Leiblichkeit in
bestehende musikpädagogische Forschungsfelder (2). Diese Bezugnahme erfolgt
schwerpunktmäßig durch den Vollzugsaspekt von Leiblichkeit, der in unterschied-
licher Ausprägung auch in der Musikpädagogik gegenwärtig ist. Somit öffnet der
‚Ausblick’ als Bindeglied zwischen ‚Fragestellung’ und ‚Ergebnisproduktion’
gleichsam neue ‚Fenster‘ im Sinne weiterer Perspektiven und Aufgaben für zu-
künftige Untersuchungen zur Körper/Leibthematik.
Die Diskussion dient demnach weniger zum erneuten Aufriss von Problemstellun-
gen und Hypothesen als vielmehr zur grundlegenden Verortung der im Rahmen
einer Gesamtdarstellung aufgeführten Argumentationsgänge. Der Vergleich mit
bestehenden Forschungsfelder versteht sich als potenzielle Fusion mit musikpäda-
gogischen Konzeptionen, deren gemeinsames Ziel darin liegt, die grundlegende
Vorurteilshaftigkeit im Körperverständnis zu unterlaufen.
Diskussion · 309
1 Resümee
Thematisch konzentrierte sich die Arbeit auf die in der ‚Bestandsaufnahme’ for-
mulierte Fragestellung, ob eine spezifische Körper/Leibauffassung existiert, die
sich einer Konkurrenz von Körperbefürwortern oder -kritikern enthält.362 Leib-
lichkeit entspricht nun genau der Möglichkeit, die damit verbundene Vorurteils-
struktur zu unterlaufen und den Menschen zwischen Körper und Geist, Selbst- und
Fremderfahrung bzw. Subjekt- und Objektbezug zu bestimmen, ohne seine Exis-
tenz voreilig dualistisch zu interpretieren. Diese Deutung definiert ‚Musik als
Vollzug von Leiblichkeit’, um Theorie und Praxis im Sinne von passivem Verste-
hen und aktivem Handeln nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als gleichur-
sprünglich zu behandeln.
Im Rahmen eines Resümees lassen sich der methodische Gang der Arbeit und die
damit verbundene Ergebnisproduktion wie folgt zusammenfassen. Die ‚Be-
standsaufnahme’ (I) gewährleistet einen ersten thematischen Überblick über die
Bewertungen des Körpers im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext. Zwei Kristal-
lisationspunkte sind dabei von besonderer Bedeutung. Zum einen existiert eine
Konkurrenz im Körperverständnis der Musikpädagogik, die auf einer divergenten
______________
362
Vgl. Kap. I.3
363
Vgl. Grätzel 1989; Geiger 1998
310 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
Ein weiteres Ergebnis der Arbeit liegt in der Etablierung von Leiblichkeit als
Basis der Wahrnehmung und Produktion von Musik.364 Von hier aus sind die
Aufgaben einer Verflechtung von Handeln/Verstehen, Aktivität/Passivität oder
Rationalität/Emotionalität zu denken. Diesen Sachverhalt greifen implizit auch
alle in der Bewährung aufgenommenen musikpädagogischen Konzeptionen auf.
Leiblichkeit ist das ‚Register’ (Vogt), die ‚Umschlagstelle’ (Waldenfels), die Ent-
kopplung zwischen ‚Werkzeug- und Sinnenleib’ (Mollenhauer) oder die Schnitt-
stelle zwischen ‚Greifen und Begreifen’ (Richter). Musikalische und leibliche
Erfahrungen verweisen wechselseitig aufeinander, sonst wären klangliche Ereig-
nisse und ästhetische Wahrnehmungen nicht gegenwärtig. Musik bedarf immer
eines akustischen Sinnenreizes, der auf die Produktion im Sinne konkreter Hand-
lungsvollzüge angewiesen bleibt. Klänge sind ‚Ereignisse’, die ohne ‚Vollzug’
nicht denkbar wären. Jeder Ton verweist auf einen Urheber, der ihn produziert.
Dies hat Konsequenzen für den Musikunterricht, der als eine aktive Auseinander-
setzung mit leiblich fundierten Wahrnehmungsformen verstanden werden muss.
Leiblichkeit bleibt dabei immer auf eine Aporie angewiesen, die das Hören und
das Tun gleichursprünglich ästhetisch fundiert sieht. Sie versucht vermeintliche
Gegensätze, wie Hören (passiv) und Gestalten (aktiv), zusammen zu denken, um
so musikalisches Verstehen in noch nicht völlig determinierte Sinnhorizonte ein-
zubetten. Solche paradox wirkenden Formulierungen erhalten gerade innerhalb
der Ästhetik ihr Recht, da ihre ‚Gegenstände’ einem prärationalen Zwischenbe-
______________
364
In einer ähnlichen Formulierung weist übrigens auch Chr. Rolle auf die „leibliche Basis
ästhetischer Erfahrungen“ (Rolle 1994, 20) hin und bezieht sich ausdrücklich auf Merleau-
Ponty. Er hebt ferner deutlich die „leibliche Dimension der Intersubjektivität“ (Rolle 1994,
30) hervor. Sein Beitrag konzentriert sich auf den Bereich der Popularmusik und hebt den
‚Groove’ als elementare sinnlich-rhythmische Wahrnehmung hervor.
312 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
reich angehören, der niemals völlig konstituiert werden kann. Gleichsam fungiert
der Leib als Vermittler zwischen objektiver und subjektiver Sinngebung. Aller-
dings bleibt in der aporetischen, zweideutigen Struktur die Schwierigkeit, Leib-
lichkeit fern aller dualistischen Konstruktionen ohne ganzheitliche Ansprüche zu
fassen, da sie wiederum zwei eigenständige ‚Schichten’ von Ich und Welt voraus-
setzt, die Intensitäten von unterschiedlicher Dichte annehmen und auf ihre Rätsel-
haftigkeit angewiesen bleiben.365
‚Musik als Vollzug von Leiblichkeit’ berücksichtigt daher pluralistische Ver-
ständnisse, divergente Anschauungen, heterogene Erfahrungen, die auch nach
einer Legitimierung und Verantwortung engagiert handelnder Subjekte, sprich
Schüler und Lehrer, verlangen. Hierbei wird v. a. das Zulassen des Kontingenten
im Sinne auch anders seiender Wahrnehmungen verstanden. Ziel des Unterrichts
ist die Etablierung von Vieldeutigkeit, Perspektivität und die Akzeptanz von Brü-
chen.366 Leiblichkeit bricht demnach mit festgelegten Sinnhorizonten und will
gerade nach den unzähligen Rissen, Falten, Spalten und Spuren in der Wahrneh-
mung suchen. Dies bedeutet Unvergleichbarkeit und Inkommensurabilität, die
positiv gewendet nach neuen Möglichkeiten des Verstehens im Musikunterricht
fragen. Die Leiblichkeit verdeutlicht somit, dass es der ästhetischen Wahrneh-
mung niemals nur um das Wahrgenommene geht, denn die Verankerung im Zur-
Welt-Sein zeigt die konkrete Verbundenheit zur Lebenswelt als „Logos der ästhe-
tischen Welt“ an (PhW 488).367 Diese fordert innerhalb der intentionalen Struktur
des Leibes zum Verstehen und Entdecken der ‚Hörwelt’ auf.
Welt der Dinge und der dazugehörigen Wahrnehmung thematisiert. ‚Schlecht’ ist
sie, wenn sie vom Streben nach Einsicht und Struktur losgelöst ist und das Subjekt
sie blind über sich ergehen lässt. ‚Gut’ ist sie, wenn die offenen Sinnhorizonte als
Teilbereich gelebter Erfahrungen mitgegenwärtig bleiben und die Vieldeutigkeit
zu Erkenntnis anregt. Demnach kann der Leiblichkeit innerhalb ihrer fundamenta-
len Bodenfunktion zur ästhetischen Erfahrungsbildung nicht a priori ‚Sinn’ oder
‚Unsinn’ zugesprochen werden. Sinn ist durch den Leib in seiner doppelten Struk-
tur und der damit verbundenen Teilhabe an der Welt der Dinge immer schon ge-
geben, nie aber vorgezeichnet. So erhält die Erfahrung eine Negativität, da Ver-
stehensprozesse den Bereich des ‚Zwischen’ als ein ‚Noch-nicht’ oder ‚Weder-
noch’, niemals aber als ein ‚Sowohl-als-auch’ strukturieren, ohne diese Differenz
voreilig zu übernehmen, da sie sonst in eine bloße Mischung von Innerlichkeit und
Äußerlichkeit zurückfallen würde. In dieser latenten Radikalität, die der Leiblich-
keit anhaftet, zeigt sie sich als „Mittelweg zwischen totaler Evidenz und reiner
Absurdität“ (Waldenfels 21998, 175).
Die Grundgestalt der Leiblichkeit ist die erste Qualität, das ‚Zwischen’, die als
konstitutive Größe vermeintliche Gegensätze wie Gestalten und Verstehen als
gleichursprünglich begreift und ihnen eigenständige Aufgabenbereiche zuschreibt,
ohne sie als isolierte funktionalistische Parameter zu begreifen. Leiblichkeit ist
immer schon in ästhetische Erfahrungszusammenhänge eingebunden, von denen
sie sich nicht loslösen kann. Musikalische Gestaltungen sind im Vorfeld nicht
determinierbar, da sie auf immer neue räumlich-zeitliche Zusammenhänge ver-
weisen und vom Subjekt divergent erfahren werden.
Die Zweideutigkeit von Kunstwerken zwischen konkreter faktischer Erscheinung
und subjektiver Bewertung ist erst durch die leibliche menschliche Existenz als
gleichzeitige Innen- und Außenwelt gegeben. Zentral für das ‚Zwischen‘ ist, dass
der Leib innerhalb der ästhetischen Perspektiven wählt und sich so entweder auf
das spontane Gestalten oder bewusste Wahrnehmen richtet. Das gilt für Formen
aktiven Musizierens und für Hörprozesse, die immer auch leiblich fundiert ver-
standen werden müssen. Für den Unterricht bedeutet dies, auf der Basis des ‚Zwi-
schen‘ beruhende ästhetische Erfahrungen den Schülern leiblich ‚bewusst’ zu
machen.
Die zweite Qualität, die ‚Interkorporalität’, konzentriert sich auf die Aufhebung
des Solipsismus, um ästhetische Erfahrung intersubjektiv zu etablieren. Das be-
314 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
trifft v. a. verbale Prozesse, die auf ein Zeichensystem angewiesen sind, das zwar
Allgemeingültigkeit beansprucht, aber durch seine semiotische Struktur den indi-
viduellen Wahrnehmungen nicht gerecht wird. Im Musikunterricht sind Parolen
wie ‚schön’ oder ‚langweilig’ allgegenwärtig, aber eben nicht zu verallgemeinern,
da individuelle Erlebnisse differenziert zu betrachten sind. Interkorporalität sieht
in der Darstellung von Bewegungen zur Musik die Möglichkeit gegeben, ästheti-
sche Erfahrungen Anderen zu präsentieren, so dass der Ausdruck spontan verstan-
den wird. Da Sinn über Bewegungen niemals eindeutig übermittelt werden kann,
trägt das konstitutive Missverstehen zum Verstehen des Anderen bei. Der Leib ist
hier das Medium, das Ähnlichkeit und Fremdheit gleichzeitig evoziert und so die
Appräsentation, also das Entdecken des Eigenen im Fremden, gewährleistet. Die
Interkorporalität ist eine immanent musikalische Erscheinung, da sie sich der
Ausdruckskraft der Musik bedient.
Hiermit wäre die dritte Qualität, die ‚Expressivität’, angesprochen, worunter all-
gemein die Möglichkeit verstanden wird, ‚etwas als etwas’ zum Ausdruck zu
bringen. Der Mensch kann sich darstellen und gleichermaßen eine fremde Rolle
übernehmen und sich verstellen. Die Qualität der Expressivität zeigt, dass sich das
Subjekt äußerlich als Selbst und auch als Anderer darstellen kann, als derjenige,
der er nicht ist, wie er vielleicht gesehen werden möchte oder wie er meint, die
Stimmung einer bestimmten Musik darstellen zu können. Expressivität beinhaltet
dabei weder sportliche Höchstleistungen noch theatralische Fähigkeiten unter der
Prämisse der Selbstoffenbarung und benachteiligt auch keine bewegungsärmeren
Schüler. Vielmehr geht es um die Etablierung eines Registers an Ausdruckspoten-
zialen, das zur Verständigung von Hörerfahrungen dient. Selbst wenn diese Quali-
tät als selbstverständlich erscheint, so wohnt ihr doch eine grundsätzlich musikali-
sche Bedeutsamkeit inne, da Klangereignisse auch nach einem spezifischen ex-
pressiven Akt der Darstellung und Wahrnehmung verlangen, um Anderen ‚etwas
als etwas‘ mitzuteilen. In der Expressivität überschneiden sich daher das Zwischen
und die Interkorporalität.
Die vierte Qualität, die ‚Extension‘, zeigt sich v. a. während des Instrumental-
spiels und wird im Unterricht z. B. während der Ensemblearbeit oder in Formen
des Klassenmusizierens erfahren. Instrumente verlangen nach einer spezifischen
Handhabung, welche die gewohnte Motorik erweitert. Instrument und Bewegung
gehen hier ein wechselseitiges Verhältnis ein, indem die Gesten einen neuen Sinn
erhalten und zum musikalischen Ausdruck beitragen, der auch das Verhalten des
Diskussion · 315
Musikers zu seinen Mitspielern beeinflussen kann. Ziel ist der Austausch von
Ausübung und Lauschen, Machen und Bewerten, was gerade in Improvisations-
prozessen auffällig ist. Hier zeigt sich besonders deutlich, wie dualistische Ebenen
von Rezeption und Produktion überschritten werden. Die Extension erweitert
somit erstens das gewohnte Bewegungsspektrum durch die spieltechnischen An-
forderungen des Instruments und zweitens das eigene Ausdrucksvermögen im
Sinne der Mitteilung von Expressivität.
Ferner wird hier auch die prärationale Struktur der Leiblichkeit deutlich, da Be-
wegungen nicht immer neu ins Bewusstsein gerufen werden, sondern zur Verfü-
gung stehen und dem Ausdrucksakt dienen. Gerade die Gewohnheit ist als positi-
ves Phänomen zu verzeichnen, das der Leiblichkeit das Repertoire an Bewegun-
gen zur Verfügung stellt. Dabei ist bedeutsam, dass das Subjekt durch sein Verhal-
ten ein Repertoire an Verhaltensweisen mitbringt und musikalisch auf das Instru-
ment überträgt.
Es ist das Ziel aller Qualitäten der Leiblichkeit, Sinn im ‚statu nascendi’ zu erfas-
sen, der nicht in Kunstwerken als fertig-objektivierbares Gebilde vorzufinden ist
und auch nicht in den Bewusstseinsstrukturen vorentworfen wird.
2 Ausblick
Die Arbeit unternimmt den Versuch, die phänomenologische Forschungsmethode
wieder verstärkt in den Blickwinkel musikpädagogischer Interessen zu legen.
Dieses Anliegen resultiert aus methodischen Prämissen, die für künftige For-
schungsfragen zur Körper/Leib-Thematik relevant werden. Das wesentliche Krite-
rium phänomenologischer Untersuchungen liegt v. a. im ‚unvoreingenommenen
Blick’, der oftmals durch Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Forschungsinte-
ressen verstellt ist. Das beinhaltet weder Willkür noch Oberflächlichkeit des Den-
kens, da sich Phänomenologie seitens des deskriptiv methodischen Anspruchs
immer auf Formen objektiver Gültigkeit beruft, auch wenn gerade ihre nicht nor-
mative Sprachlichkeit dazu verleitet, Mystizismus oder Unwissenschaftlichkeit zu
vertreten. Dies ist wohl auch der Grund, warum phänomenologische Forschungen
derzeit eher als ‚Raritäten’ zu betrachten sind, da die positivistischen Paradigmen
der qualitativen und quantitativen Theoriebildungen überwiegen. Hier sei noch-
mals hervorgehoben, dass ein empirischer Forschungsansatz nicht dem hier darge-
legten phänomenologischen widerspricht oder entgegensteht. Das gilt gerade für
Husserl und besonders für Merleau-Ponty, die beide um ein Zusammenwirken von
316 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
empirischer Wissenschaft und Philosophie bemüht waren. Eine gewisse Nähe ist
v. a. für qualitative Ansätze gegeben, welche neben der Interpretation individuel-
ler Erfahrungen mittels unterschiedlicher Methoden, wie z. B. das ‚Narrative In-
terview’ oder die ‚Teilnehmende Beobachtung’, immer auch um die Rekonstrukti-
on subjektiven Sinns bemüht sind.
Die Relevanz für methodisch-phänomenologisches Arbeiten ergibt sich durch
zwei Weisen. Es bietet sich an, bestehende Ergebnisse aufzugreifen, wie z. B.
spezifische phänomenologische Ästhetiken, und sie für musikpädagogische Sach-
verhalte zu konkretisieren, oder aber eigene Analysen auf den basierenden Grund-
lagen durchzuführen, wie z. B. Intentionalität oder epoché. Im Rahmen der vorlie-
genden Arbeit wurde die erste Variante gewählt. Die spezifische Qualität beider
Möglichkeiten dürfte nach wie vor der Grundsatz Husserls und Merleau-Pontys
sein: „Es gilt zu beschreiben, nicht zu analysieren“ (PhW 4). Die hiermit verbun-
dene ‚Absage an die Wissenschaft’ negiert aber nicht die Dringlichkeit von syste-
matischen Forschungsmethoden, sondern will zeigen, dass Phänomenologie als
Ganzes auf dem Boden der Lebenswelt gründet und Erfahrungswissenschaft nur
durch den Rückgang auf diese ‚Welterfahrungen’ ermöglicht wird. Das eigentliche
Untersuchungsfeld lässt sich durch die Fundierungsoption, also den Rückgang auf
Erfahrungen ‚von etwas als etwas’, freilegen. Die ‚Triftigkeit’ der Methode liegt
gerade in der Nichtakzeptanz vorurteilshafter Körper- und Leibdualismen, die dem
eigentlichen Phänomen nicht gerecht werden.
Als zweiter Verweis lässt sich exemplarisch die ‚Pädagogik des kommunikativen
Handelns’ von Klaus Schaller als eine ‚Ontologie des Vollzugs’ heranziehen. Er
versteht Inter-Subjektivität gerade als ‚Zwischen-Sein’, durch das „Aktion, Inter-
Aktion, in der wir als wir selbst sind […], erst hervorgebracht werden (Schaller
1987, 218). Nimczik hat darauf verwiesen, dass aus dem „Vollzug von Inter-
Subjektivität […] die Möglichkeiten der musikalischen Gestaltungsarbeit im Mit-
einander und gemeinsamen Handeln entspringen“ (Nimczik 1991, 27). Begründet
wird diese These durch die Gleichursprünglichkeit von ‚In-der-Welt-Sein’ und
‚Mit-Sein’ auf der Basis des „zwischenleiblichen Lebensvollzugs“ (Nimczik 1991,
26). Schaller und Nimczik berufen sich hierbei explizit auf die Phänomenologie
Merleau-Pontys, so dass sich konkrete Verweise zur Leiblichkeit unter besonderer
Berücksichtigung der ‚Interkorporalität‘ ergeben. Die Etablierung von Musik als
eine Vollzugsform verdeutlicht die zahlreichen ‚Spielräume im Musikunterricht’,
welche geradezu die Facetten musikalisch-ästhetischer Erfahrungen hervorheben.
Leiblichkeit ist die musikalische Gelenkstelle zwischen Selbst und Welt. Sie agiert
aus dem unmittelbaren Vollzug des gelebten Lebens, welcher der Differenz von
Welt und Sein voraus liegt. Zur Geltung gelangt hierbei ein prärationales musika-
lisches Wissen, das aus der Fülle, Offenheit und Unabgeschlossenheit menschli-
chen Handelns hervorgeht und Musik als gleichursprüngliches Phänomen zwi-
schen Denken und Handeln begreift.
320 · Musik als Vollzug von Leiblichkeit
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