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Die rumänische Orthodoxie und das säkulare Europa im Dialog der Werte

von Rev. Dr. Dan Sandu, Fakultät orthodoxe Theologie, Iasi, Rumänien 1

Orthodoxie: verwurzelt in den Heiligen Schriften

Von einem religiösen Standpunkt aus betrachtet ist die Europäische Union seit dem Jahr 2007
durch den Beitritt von Rumänien und Bulgarien „reicher“ und vielfältiger geworden. Die
beiden Länder beheimaten fast 25 Millionen orthodoxe Menschen. Dies stellt eine
Herausforderung sowohl in politischer und sozialer, als auch in religiöser Hinsicht dar. Die
Orthodoxie verkündet ihre Identität als das „ökumenische“ Christentum, welches auf der
ganzen Welt ausgebreitet und verbreitet werden soll und die Lehren Jesu Christi in Theorie
und Praxis treu ausdrückt 2. Sie zieht ihre theologische Berufung aus der Zusammenfassung
des Evangeliums nach Johannes: „Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus
der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem
Namen“ (Johannes 20,31). Ihre Berufung sieht die Orthodoxie im Einhalten des Auftrags, den
Christus selbst verkündet hat, erfüllt: „Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen
zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes,
und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle
Tage bis zum Ende der Welt“ (Matthäus 28,19-20). Die Orthodoxie ist eher dem mystischen
und liturgischen Weg gefolgt und sieht hierin ihre wichtigste Mission. Dies beeinflusste
natürlich auch das soziale Verhalten ihrer AnhängerInnen. Es hallt in der späteren Aussage
von Johannes nach: „Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen
Bruder lieben“ (1. Johannes 4,21). Daher kann man die Orthodoxie weniger als eine Religion,
sondern mehr als eine Art zu leben ansehen. Ein Leben, welches aus der Dreifaltigkeit und
dem ewigen Leben Gottes entspringt und außerordentlich durch Gott und Jesus Christus
verkörpert wird 3.

Das Wort „orthodox“ bedeutet „wahrhaftiges Glauben“, „wahrhaftiges Lobpreisen“ oder


„wahrhaftiges Ehren“. Diese Interpretation der Orthodoxie bildete sich bereits im 4.
Jahrhundert heraus, als Gregor von Nazianz erklärte: „Die drei Dinge erwartet Gott von allen
Getauften: wahren Glauben im Herzen, Wahrheit auf der Zunge, Mäßigung im Körper“
(Ward, 1984). Obwohl der Begriff „orthodox“ heutzutage in der westlichen Welt eher als
Synonym für „traditionalistisch“, „alt“, „akzeptiert“, „konformistisch“, „konventionell“,

1
Übersetzt von Nina Laumann (Soz.Arb./Soz.Päd. B.A.) unter Berücksichtigung der deutschen
Einheitsübersetzung des Alten und Neuen Testaments (Bischöfe Deutschlands und Österreichs und der
Bistümer Bozen-Brixen und Lüttich (Hrsg.): Die Bibel. Altes und Neues Testaments. Einheitsübersetzung; 14.
Auflage, Herder Verlag, 1999
2
„Ökumenisch“ bezieht sich in diesem Punkt auf die weltweite Aufgabe der ungeteilten Kirche der Sieben
Ökumenischen Konzilien, die von 385 bis 787 n. Chr. abgehalten wurden. Diese hatten das Ziel, die
theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen mit dem klassischen Dualismus zu lösen, welcher die
christliche Lehre infiltrierte und verschiedene Änderungen des Glaubens, weithin bekannt als Häresie, auslöste.
3
Johannes der Evangelist steht für ein allumfassendes Konzept der göttlichen Dreifaltigkeit, welches Leben in
sich selbst und Leben für die ganze Welt ist (Kapitel 5 und 6 des Evangeliums nach Johannes).
„lehrmäßig“, „starr“, „offiziell“, „angenommen“, „wahr“ und „etabliert“ gesehen wird 4, wird
von den LeserInnen dieser Ausführungen erwartet, dass sie sich der Orthodoxie als einer
lebendigen Realität nähern, in der ihre Mitglieder das Verlangen nach transzendenter Realität
und das Gefühl der Heiligkeit des Lebens erfahren – im Zusammenhang mit den Prozessen
der Entfremdung von Gottes Willen, Liebe und Fürsorge, die durch die andauernde
Säkularisierung der europäischen Gesellschaften hervorgebracht wurden 5.Eine Kirche und
viele Kirchen

Die institutionelle Organisation der Orthodoxie besteht aus beidem, dem Konzept einer
universellen Kirche und den lokalen eigenständigen Kirchen, mit dem unsichtbaren
Oberhaupt Jesus Christus. Ihre Identität ist keine Pluralität, die unabhängig vom Willen
Christus, dem Kirchengründer, existiert, sondern eine universelle Zeugin des Evangeliums im
jeweiligen geografischen Kontext, bekundet in einer gemeinsamen Verbundenheit. Die
orthodoxe Einheit zwischen den eigenständigen Kirchen wird durch liturgische Treffen und
das Bewahren und Teilen der kulturellen und ethnischen Identität der eigenen Mitglieder
ausgedrückt. Diese Wege des Ausdrückens der Einheit, Apostolizität, Katholizität und
Heiligkeit 6 der Kirche, und die Realität der lokalen Kirchen, stellen die wesentlichen
Elemente der Glaubensauslegung, der liturgischen Praxis und der kanonischen und
missionarischen Organisationen in den frühen christlichen Jahrhunderten dar. Aus diesem
Grund adressiert Johannes seinen Brief der Offenbarung an „die sieben Gemeinden in der
Provinz Asien“ (Offenbarung 1:4) 7.

„Einheit für alle“, die Berufung der Orthodoxie

Da Einheit das Ziel Christi, des Hauptes der Kirche, ist, muss die Einheit der Hauptfokus der
universellen Kirche sein. Von einer momentanen ökumenischen Perspektive aus gesehen,
wird Einheit durch die Taufe, die im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit vollzogen wird,
dargestellt. Der ökumenische Patriarch 8 Bartholomäus I. stellt fest, dass konfessionelle

4
„Orthodox“ bedeutet „wahrhaftige Meinung“ oder „wahrhaftiger Glauben“ (ebenso „wahrhaftiger Lobpreis“ in
der slawischen Übersetzung). Demnach kann jede menschliche Gemeinde, welche selbst auf einem akzeptierten
System der Gedanken, Meinungen und des Glaubens basiert, „orthodox“ für ihre Lehre beanspruchen“ (Lossky,
2002).
5
Zum Verständnis von Säkularisierung in Rumänien erfolgen später im Text Erläuterungen. Eine exzellente
Studie zu den griechischen Wurzeln der Begriffe „Doxologie“, „Theologie“ und „Orthodoxie“ lässt sich finden
bei Scouteris 2005, 45 f.
6
Vgl. McGuckin 2011a, 650-. Um etwaige Missverständnisse von „Katholizität“ als Teil der „katholischen
Kirche“ zu vermeiden, zieht die orthodoxe Kirche es vor, andere Begriffe, wie „konziliarisch“ oder das
slawische „sobornost“ zu nutzen, welches sowohl „universell“ als auch „verschieden voneinander“ bedeuten
kann.
7
Siehe auch Zizioulas 2001, 125 f.
8
Der ökumenische Patriarch, ursprünglich der Erzbischof von Konstantinopel (Istanbul), offizielles Oberhaupt
der orthodoxen Kirche und „erster unter den Gleichen“, welches eine Art der Formulierung von einer
historischen Vorrangstellung ist, obwohl zur selben Zeit seine Ebenbürtigkeit in sakramentalen Angelegenheiten
mit allen anderen Oberhäuptern der orthodoxen Kirche ausgedrückt wird.
Einheit ein Zeichen von aufrichtigem Engagement auf dem Weg hin zu einer symphonischen
und ökumenischen Einheit innerhalb des Christentums ist: „Wer auch immer die Einheit der
Orthodoxie nicht unterstützt, kann keine ernsthafte und konstruktive Partizipation im
ökumenischen Dialog beanspruchen“ (Toma 2007, 7). Die Mitglieder der wahren orthodoxen
Gemeinden beten täglich „für den Frieden auf der ganzen Welt, für die Stabilität der heiligen
Kirchen Gottes und für die Einheit von allen“ (Lithurghierul 1995, 118). Der Friede und die
Einheit der orthodoxen Eucharistie wurden bereits im 4. Jahrhundert zu den Idealen der
ökumenischen Christenheit auf der ganzen Welt und eines der wesentlichen Anliegen der
ökumenischen Bewegung im beginnenden 20. Jahrhundert 9.

Generell musste die Orthodoxie im frühen 1. Jahrhundert des Christentums eine lange und
schmerzliche Erfahrung der Verfolgung durchmachen. Darauf folgten die aggressive
Herrschaft des heidnischen Persischen Reichs, die muslimisch-arabische Herrschaft durch die
Expansion der Osmanen und schließlich den Kommunismus. Heute ist ihre größte
Herausforderung die Säkularisierung der Moderne und Postmoderne, welche definiert wurde
als „ein Verhalten als ob Gott nicht existieren würde“ (Daniel, 2009). Die heutige säkulare
Politik Europas wurde von den führenden orthodoxen Theologen und Kirchenvorständen
lediglich mit einem gewissen Widerwillen angenommen, da die Politik der europäischen
Einigung dazu neige, ihre religiösen Werte abzustreifen. Mit den Worten des rumänischen
Patriarchs: „Die Europäische Union ist ein Gebiet der religiösen Gleichgültigkeit und
Säkularisierung, welche als Leben ohne persönliches oder gemeinschaftliches Gebet
verstanden wird. […] Die europäische Ausdehnung macht die Globalisierung zu einem nicht
mehr rückgängig zu machenden Prozess, welche mit dem Anpassen von ethnischen,
kulturellen und religiösen Identitäten verbunden wird. Es hat viele positive Effekte, aber
neben diesen gibt es ein verdächtiges Fehlen von Leidenschaft für bestimmte menschliche
Probleme und für die menschliche Gemeinschaft im Generellen, welches die Ziele der
kirchlichen Geistlichkeit sind“ (Rus 2006, 33). Säkularisierung wird in der rumänischen
Kultur als ein Prozess gesehen, in dem Gott zweitrangig wird oder unnütz, während das
menschliche Wesen das Maß aller Dinge wird, was die orthodoxe Theologie unakzeptabel
findet. Während Adam der erste Mensch war, der nein zu Gott sagte, war Christus, der neue
Adam, derjenige, der zu Gott ja sagte – nicht nur für sich, sondern für alle, die sich seine
Nachfolger und Schüler nennen.

Das Eindringen neuer religiöser Bewegungen und die Erfahrung mit Synkretismus, der auf
rumänischen Fernsehkanälen Verbreitung findet, haben zu einem defensiven Trend in der
rumänischen Orthodoxie geführt, und an theologischen Fakultäten lassen sich jeweils zwei

9
Im Jahr 1920 adressierte der ökumenische Patriarch Germanos einen enzyklischen Brief an „die Kirchen
Christi überall“, welcher sein Thema in der Inschrift vom 1. Brief Petrus verkündete: „Der Wahrheit gehorsam,
habt ihr euer Herz rein gemacht für eine aufrichtige Bruderliebe; darum hört nicht auf, einander von Herzen zu
lieben“ (1. Petrus 1:22). Diese Enzyklika wird als Grundstein der ökumenischen Bewegung angesehen, weil es
die Idee darlegt, ein „Bündnis“ oder eine Kameradschaft der Kirchen zu kreieren. Sie spricht über die „gesegnete
Einheit“ der Kirchen, die die Gläubigen erwartet und alle verschiedenen Traditionen dazu auffordert, sich an
gemeinsamen Studien der zentralen Themen des Konzepts der Wiedervereinigung zu beteiligen. Der Brief
schlägt als ersten Schritt zur Wiedervereinigung vor, dass die Pflege der Kontakte zwischen den Kirchen von
größter Wichtigkeit sei. Siehe auch McGuckin 2011a, 209.
Gruppen unterscheiden: diejenigen, die den „traditionellen“ Glauben verteildigen, den sie mit
Nationalismus und traditionellen rumänischen Werten gleichsetzen, und denen, die offen und
bereit sind zum Gespräch mit der Gesellschaft und auch mit den anderen christlichen Kirchen
und Gemeinschaften. Die Haltung der traditionellen Orthodoxie, sich einzumauern, kann zu
einem bedrohlichen liturgischen Formalismus und Traditionalismus führen (vgl. Sandu 2012,
123).

Die Orthodoxie in ihrer rumänischen Form

In der rumänischen post-kommunistischen Gesellschaft verlässt sich die Orthodoxie auf drei
Säulen, die die „ecclesia domestica“ (die Hauskirche) darstellen: die Familie, die Schule und
die Gemeinde. In diesen Institutionen findet religiöse Erziehung statt, und ihr heutiger
rückläufiger Status ist nicht nur eine soziologische und kulturelle, sondern auch eine vitale
religiöse Sorge. Das orthodoxe Leben macht es deshalb nötig, dass die Menschen das Licht
der Taufe brennen lassen, das durch das Anzünden der Kerze im Gottesdienst in jeder Kirche
symbolisiert wird 10. Auf der Ebene der Kirche zeigt sich dies in der Befolgung der
Grundsätze, Werte und Lehren des Glaubens und in der Einhaltung der Tradition.

Die ununterbrochene Tradition des Glaubens ist eine der wertvollen Besonderheiten, die die
östliche Orthodoxie generell bewahrt hat. Die heilige Tradition ist die Weiterführung des
jüdischen Erbes und seine Verjüngung durch Christus. 11 Tradition besteht in dem Erbe der
Führung, dem Gottesdienst und dem spirituellen Leben der Kirche, wie es von den Gläubigen
durch die Geschichte gelebt wird und in den ökumenischen Konzilen verankert wurde. 12 In
Glaubensangelegenheiten ist die Tradition genauso wichtig wie die Schriften, weil die
Tradition das Milieu und die Ausdrucksweisen anspricht, durch die der Heilige Geist zur Welt
spricht und die Lehren des Heilands gläubig bis zum Ende der Zeit überliefert.

In der Orthodoxie gibt es eine klare Trennung der Heiligen Tradition, der Quelle der
Offenbarung einerseits, welche bis zum 8. Jahrhundert, genauer gesagt bis zum 7.

10
In jedem orthodoxen Gottesdienst ist es verpflichtend, eine Öllampe oder Kerze angezündet zu haben. Feuer
ist mehr als ein Licht im religiösen Leben der Menschen: Es ist das Leben. Die Kerze wird auch bei den
wichtigsten Momenten im persönlichen Leben benutzt: beim Beten, beim Erhalten der ersten Heiligen
Kommunion, zu Ostern, zur Taufe und zur Beerdigung also in allem, welches einen auf den Eingang in das
Licht der Auferstehung vorbereitet.
11
Die Tradition der antiken Kirche brachte die Menschen dazu, die Orthodoxie als eine altmodische Religion zu
sehen, konservativ im Sinne von Ritualen, Anbetung und Liturgie, radikal in den Lehren des Glaubens,
maximalistisch im Sinne von Askese und Spiritualität, patriarchal im Sinne von kirchlichen Organisationen und
den Rechten von Laien. Dennoch gibt es eine strikte Trennung zwischen „Tradition“ und „Traditionalismus“.
„Das Evangelium kann nicht vollständig verstanden werden, wenn es von seinen jüdischen, alttestamentarischen
Quellen getrennt wird; es ist ebenso untrennbar von der Welt, in welcher die guten Neuigkeiten als Erstes
verkündet wurden“ (Schmemann 1977, 23).
12
In dieser Beziehung waren die sieben ökumenischen Konzile besonders wichtig, da in ihnen die
grundlegenden Formeln des Glaubens artikuliert wurden, welche durch die Jahrhunderte hindurch in den
Kirchen der orthodoxen Welt gültig geblieben sind. Ein exzellentes Buch über Traditionen, wie sie im
orthodoxen Milieu gesehen werden: Andrei Kuraev, Moştenirea lui Hristos [Christus Vermächtnis], Sofia,
Bukarest, 2009.
Ökumenischen Konzil im Jahre 787, reicht, und der dynamischen Tradition andererseits mit
den darauf folgenden theologischen Formulierungen und Weiterentwicklungen, die den
Gläubigen helfen, eine wahrhafte Erfahrung des Evangeliums zu machen. Tradition wird in
der Gottesdienstfeier ausgedrückt, der sichtbaren Form der wunderschönen Erfahrung des
Evangeliums durch Gesänge und Kommunion, Ikonografie und kirchlicher Architektur, weil
der Gottesdienst ein Vorgeschmack des Königreichs Gottes ist.

Das Menschsein ist ein weiterer Fokus der orthodoxen theologischen Werte. „Die Frage nach
der Person Christi war ein dominantes Thema während der gesamten Geschichte des sowohl
östlichen als auch westlichen Christentums. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, dass die
Person Christi der Fokus und das ultimative Ende des christlichen Lebens ist“ (Scouteris
2005, 165). Jesus als göttliche und menschliche Person spricht, heilt und hilft jedem, der
entlang der Jahrhunderte nach Seiner Unterstützung gefragt hat. Dies muss die antreibende
Überzeugung der Menschen in Europa sein, weil sie Hoffnung und Mut mit sich bringt
weiterzumachen und das Leben in all seinen Formen zu schätzen. In den traditionellen
orthodoxen Milieus ist das persönliche Leben nicht unabhängig vom Glauben, und man hat
nicht nur ein gelegentliches Interesse an kirchlichen Zeremonien; man erfährt das Geschenk
des Glaubens in der Gemeinschaft mit anderen Menschen auf einer permanenten Basis. Wie
der amerikanische Theologe John Anthony McGuckin erwähnt: „Das vorrangige Prinzip oder
der ‚ethische Kompass‘ der Orthodoxie ist eine Ethik der Liebe, die das menschliche Leben
und die Würde feiert, und sich, in diesem wie auch in jedem vorherigem Zeitalter, gegen die
Zwänge des säkularen Humanismus, welcher den Mensch als Maßstab und Meister seiner
eigenen Zukunft ansieht, sträubt“ (McGuckin 2010, 416). Deshalb ist der Mensch in der
orthodoxen Kultur jeden Tag in Theologie und religiöse Rituale integriert, was sein Leben
sehr wertvoll macht. Religiosität äußert sich in allen Momenten der Existenz. Deshalb ist die
Teilnahme am Gottesdienst zuerst ein ontologisches Bedürfnis, dann ein kultureller Akt,
welcher keiner besonderen Fähigkeiten auf der Seite des Gläubigen bedarf: Jeder ist
willkommen, so wie er ist, ungeachtet seines sozialen Standes, seiner moralischen Gestalt
oder seines Alters. Gottesdienst informiert, formt und verändert den Menschen, der
eingeladen ist, die Präsenz Christi inmitten von vielen Menschen zu verewigen, wie es nach
dem biblischen Modell getan wird. 13

Nah verwandt mit dem Thema der Menschlichkeit ist der Fokus der Schönheit der Schöpfung,
welche gesegnet und gepflegt werden sollte. Das wird heute als Achtsamkeit für die Umwelt
beschrieben. Seit der frühesten Zeit hat die Orthodoxie die individuelle philokalia (die Liebe
zur Schönheit) (St. Nikodemos 1979) und die gemeinschaftliche rigorose Askese 14 im
Gegensatz zur angeborenen menschlichen Gier betont. Die Aufgabe, eine Lebensdisziplin zu

13
Lesenswert ist hier die exzellente Studie von John Zizioulas: Communion and Otherness: Further Studies in
Personhood and the Church (Zizioulas 2006).
14
Askese ist der Weg, sich mit der eigenen Kraft von materiellen Dingen zu lösen, sie zu schätzen, aber sie nicht
abgöttisch zu lieben. Durch die Askese können die Menschen realisieren, dass Gottes Liebe wichtiger ist als
Materielles. Viele orthodoxe Heilige waren gute Asketen, die das Materielle nicht hassten, sondern es von
Sünden reinigten und es als Geschenk für die Liturgie anboten, sodass es als kostbarstes Geschenk des
Abendmahls umgestaltet und wiederhergestellt werden konnte. Für weitere Lektüre Miles 1981.
befolgen, ist nicht auf bestimmte Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft oder eines
religiösen Ordens beschränkt. Den orthodoxen Christen wird bewusst gemacht, dass Gott
ihnen einen Platz mitten in der Schöpfung gab und ihnen bestimmte Aufgaben aufgetragen
hat. Die wichtigste Aufgabe ist hierbei die Umgestaltung und das Zurückbringen der
Schöpfung zum Schöpfer. 15 Die Disziplin, die durch das Fasten und die Barmherzigkeit
erreicht wird, soll eines jeden Willen testen, um übermäßigen Genuss beim Essen und
körperliche Befriedigung zurückzuweisen und um die sorgfältige Nutzung der
lebenswichtigen Ressourcen der Schöpfung zu gewährleisten.

Die Kirchenväter unterstreichen diesen Ansatz, dessen Ziel die Integration der natürlichen
Umwelt in den spirituellen Prozess der Erlösung ist. Die Orthodoxie sieht die Schöpfung als
eine kosmische Liturgie an, die durch die Gedichte und die Ikonografie der Kirche reflektiert
wird und die Erde und ebenso den Himmel als Beteiligte in Gottes großartiger Rettung feiert.

Die Sphäre der orthodoxen Welt beinhaltet auch die Heiligen- und Ikonenverehrung, die in
einer bestimmten Anthropologie gründen: Der Mensch ist das Abbild Christi (eikona),
welcher das Abbild Gottes ist (Philipper 2:6-11). Beim Betreten eines orthodoxen Tempels
wird der Besucher von der Vielzahl der Ikonen und Fresken überrascht sein, die die Wände
bedecken und den Eindruck einer Welt unabhängig von Raum und Zeit erwecken. Dies ist
tatsächlich eine Eigenschaft der Orthodoxie: die Verflechtung des Guten und des Schönen, die
zur Umgestaltung der Materie führt. Die Ikone repräsentiert das Vorbild oder ein erlösendes
Ereignis, ebenso wie den Ort einer realen Präsenz einer heiligen Person, die mit den
Gläubigen vertraut ist und sich ihrem Gebet und ihrer Anbetung zu Gott anschließt. Die
Gemälde in den Kirchengebäuden haben eine theologische, moralische und spirituelle
Botschaft, eine didaktische Rolle und schließlich ästhetischen Wert. Zu diesem Punkt bemerkt
der amerikanische orthodoxe Schüler John Anthony McGuckin: „Wenn die Orthodoxen vor
eine Ikone Christi treten, dann verbeugen sie sich, damit sie die Hingabe ihres Herzens zu
Gott selbst ausdrücken können. Das fundamentale theologische Prinzip der orthodoxen
Heiligenverehrung ist deshalb jenes, welches Basilius der Große bereits im vierten
Jahrhundert formulierte: ‚Die Ehre, die dem Abbild gegeben wird, geht direkt zum Original
über.‘ In anderen Worten kann man sagen, dass wenn ein Orthodoxer eine Ikone verehrt, (sie
beten die Ikone nie an), verbeugt er sich nicht vor dem Abbild, sondern vor Christus selbst,
der im Abbild repräsentiert ist.“ (McGuckin 2010, 355).

Die bereits erwähnten Aspekte gehören zu den Eigenschaften der orthodoxen kirchlichen
Tradition. Im 21. Jahrhundert gibt es eine Bewegung hin zur Wiederentdeckung der wahren
Tradition (und Traditionen), welche in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch viele

15
Das Ideal der Orthodoxie für den Menschen ist die theosis (Vergöttlichung), zum Beispiel die Partizipation an
Gott durch die „nicht erzeugten göttlichen Energien“, die aus den drei Personen der Dreifaltigkeit fließen.
Dennoch enthält die Partizipation kein vollkommenes Wissen oder die Partizipation in das „Wesen“ Gottes. Die
Partizipation des Menschen im heiligen Leben der Dreifaltigkeit, so wie die adoptierten Söhne und Töchter
durch den Sohn des Glaubens, wird von den Orthodoxen in einem berühmten Sprichwort verkündet: „Gott
wurde zum Menschen, damit der Mensch Gott werden kann“, St. Athanasius: De Incarnatione or On the
Incarnation 54:3, PG 25:192B, zitiert in: Meyendorff 1979, 33.
Ereignisse unterdrückt und verzerrt wurden, und die häufig Gegenstand sarkastischer oder
sogar verunglimpfender Kommentare waren (Bria 2002, 5).

Rumänische Orthodoxie – Ein Glaube des Dialogs

Der orthodoxe Glaube in seiner rumänischen Form ist ein Glaube des Dialogs, wie ebenfalls
von Dumitru Stăniloae, einem herausragenden rumänischen Theologen, der 1993 starb,
hervorgehoben wird. Er stellt fest, dass die Orthodoxie drei wichtige Eigenschaften hat: die
Treue zu Christus, die sich in der Heiligen Schrift und der Heiligen Tradition ausdrückt und
dauerhaft in der Kirche durch den Heiligen Geist erfahren wird; die Verantwortung gegenüber
den Gläubigen in einer bestimmten Zeit, in der die Theologie verfolgt wurde; und die
Offenheit für die eschatologische Zukunft, z. B. die Vollendung der Gläubigen und der
Einsatz für die Vergötterung der Materie.

Mit ihrem interkonfessionellen Engagement hat die Orthodoxie in Rumänien belegt, dass sie
die entscheidenden Elemente für den Dialog mit den anderen historischen christlichen
Kirchen mitbringt, solange der Dialog im Geist der Ehrlichkeit, der Demut und der Liebe zu
Gott geführt wird.

Im Dialog mit der römisch-katholischen Kirche lassen sich Annäherungspunkte finden, die zu
den theologischen Erfahrungen des ersten Jahrtausends, zur Synodenkirche und zur
gemeinsamen Geschichte zurückgehen. Diese Annäherungspunkte beziehen sich auf die
patristische Tradition der sieben ökumenischen Synoden, die sakramentale Lehre und
Ausübung, die apostolische Nachfolge des Episkopats und des Priestertums, die Existenz
gemeinsamer Märtyrer, ekklesiologische Annäherungspunkte und die Aufhebung des
Kirchenbanns 1054. Es lohnt sich, sich an diesem Punkt an eine Aussage des Kardinals
Christoph Schönborn zu Wien zu erinnern: „Der Glaube ist generell der Gleiche. Was
unterschiedlich ist, ist der Platz des Papstes zu Rom in der Hierarchie des Christentums“
(Coman).

Die Dialogversuche mit der römisch-katholischen Kirche nach der Kirchenspaltung mit den
berühmten Konzilen von Lyon (1274) und Ferrara-Florenz (1438 – 1439) scheiterten, weil sie
nicht die Einheit des Christentums im Blick hatten, sondern auf politische und militärische
Motive ausgerichtet waren, wie in der Geschichte schmerzhaft erfahren wurde. Die zwei
Kirchen entwickelten sich parallel und entfernten sich immer weiter voneinander, sodass die
Erfahrung der Teilung sehr stark im 20. Jahrhundert gefühlt wurde, als der Kirchenbann
gegenseitig gelöst wurde. 16 Die wichtigsten Hindernisse der Ökumene beinhalteten die
Kreuzzüge, das Ansiedeln von lateinischen Patriarchaten im Osten und eine bestimmte Form
des „Ökumenismus“, die in Rom praktiziert wurde und zu sozialen und religiösen Tumulten
und zum Entstehen der unierten und griechisch-katholischen Kirche führte. Der russische
orthodoxe Bischof Hilarion Alfeyev (2002) argumentiert, dass der Stillstand im Dialog mit

16
Am 07. Dezember 1965 stimmten Papst Paul VI und der ökumenische Patriarch Athenagoras I zu
Konstantinopel der gemeinsamen Katholisch-Orthodoxen Deklaration bezüglich des Katholisch-Orthodoxen
Austauschs der Exkommunikation im Jahre 1054 zu und veröffentlichten diese. An dem gleichen Tag wurde die
gegenseitige Exkommunikation in gleichzeitigen Zeremonien, die im Vatikan und in Konstantinopel stattfanden,
aufgehoben. Siehe Dyrness 2008, 91.
dem Vatikan durch die Förderung der Bewegung der unierten Kirchen durch den Vatikan
hervorgerufen wird. Obwohl es viele theologische Schnittpunkte gibt, ist der Dialog mit den
Katholiken schwierig, weil Hindernisse im Verstehen der auseinandergehenden theologischen
Perspektiven bestehen bleiben, die „historisch angehäuft und politisch manipuliert wurden“
(Tătaru Cazaban 2005, 189).

In Beziehung zu den protestantischen Kirchen bekundete die Orthodoxie bereits seit dem 17.
Jahrhundert durch die berühmte Korrespondenz zwischen dem Patriarch Jeremias von
Konstantinopel (1572 – 1595) und protestantischen Theologen aus Tübingen eine Offenheit.
Es gibt Elemente, die gemeinsam von den Kirchen erforscht werden können. Dies erklärt die
Entscheidung der orthodoxen Kirchen, an der mehrheitlich protestantischen Weltkonferenz
der Kirchen 1961, bei der dritten Hauptversammlung in Neu Delhi, teilzunehmen.
Schnittpunkte mit dem Protestantismus sind die Theologie des Heiligen Geistes, das Konzept
der lokalen Kirchen, die Beziehung zwischen dem Evangelium und der Kultur und die Suche
nach sichtbarer Einheit in theologischer Pluralität (Bria 1995, 155-156). Der Dialog mit den
reformierten Kirchen scheint daher einfacher zu sein, weil es viele Aspekte gibt, die
wiederentdeckt und gemeinsam geteilt werden müssen (Tătaru Cazaban 2005, 189).

Neben diesen generellen Aspekten gibt es bestimmte Hindernisse in der modernen Welt, die
einen produktiven ökumenischen Dialog verhindert haben. In Anlehnung an Murphy
O´Connor sind dies Misstrauen, Apathie und Ungeduld (Giordano 2007, 20). Misstrauen
resultiert aus Ignoranz. Sie wird von der Angst vor Ansteckung geschürt und durch radikalen
Konfessionalismus gefördert. Somit werden die Gelegenheiten für einen Dialog verpasst und
die andere Glaubensgemeinschaft wird in ihren Unterschieden zu der eigenen dargestellt.
Nach Ion Bria kann ein ehrlicher Dialog zwischen dem Westen und dem Osten nur dann
möglich sein, wenn „provokative und exklusivistische Darstellungen“ überwunden werden
(Bria 2002, 122).

Dialogmüdigkeit wird dadurch hervorgerufen, dass jeder für sich dazu neigt, den Glauben
bezüglich seines eigenen spirituellen Bedürfnisses, entsprechend marktwirtschaftlicher
Mentalität zu benutzen. Dialogmüdigkeit kommt von der Frustration, die entsteht, wenn
Versuche scheitern, bestimmte Probleme im Dialog zu lösen. Diese ökumenische Pilgerfahrt
besteht bereits seit fast einem Jahrhundert. Nach der Hauptversammlung in Porto Alegre gab
es viele Gespräche über eine „ökumenische Spiritualität“, die als Anstoß für das
Zusammenkommen der Kirchen und gegen eine generelle ökumenische Müdigkeit
beabsichtigt war. Obwohl biblisch, hat die ökumenische Spiritualität Defizite wegen
fehlenden Interesses an der Heiligen Schrift und wegen eines verstärkten einseitigen
Interesses an politischen und sozialen Themen, in denen der ökumenische Dialog häufig
Zuflucht sucht. Es ist zu beobachten, dass der Fokus auf die Theologie, die Gemeinsamkeit
und das Verstehen von Gottes Plan in der Geschichte abnimmt.

Ungeduld ist eine Eigenart der Enthusiasten, die die Einheit durch die beiläufige
Überwindung von spezifischen Differenzen gelöst sehen wollen. Diese Haltung kann zu mehr
Problemen als zu Lösungen führen. Die ökumenische Pilgerfahrt ist lang, anstrengend und sie
beinhaltet das gründliche Verstehen des Mysteriums Christi. Vermehrte Schwierigkeiten
werden durch diplomatische und ekklesiologische Kompromisse herbeigeführt, weshalb ein
ehrlicher und offener Dialog bevorzugt werden muss. Von der orthodoxen Perspektive aus
soll die ökumenische Bewegung keine neue Kirche oder eine „Superkirche“ ans Licht
bringen, sondern eine erfolgreiche Umgebung für theologischen Dialog und Austausch
zwischen Kulturen, Gemeinschaften und Menschen schaffen (Rus 2006, 32). Aus der Sicht
des Ostens besteht die ökumenische Bewegung auf der nationalen und internationalen,
offiziellen und klerikalen Ebene leider lediglich aus Fakten, Papieren und offiziellen
Beziehungen, was an der Basis als wenig interessante Alltagnachricht wahrgenommen wird.

Ich möchte aber mit einer optimistischeren Bemerkung diesen Abschnitt beschließen und auf
eine Bemerkung Bezug nehmen, die besagt, dass die Alternative zur bestehenden Ökumene
nicht Anti-Ökumene ist, sondern bessere Ökumene. Rumänien ist für den ökumenischen
Dialog offener als viele andere orthodoxe Länder. Es hat mehr Erfahrung in der praktischen
Ökumene als im interkonfessionellen kirchenamtlichen Dialog. Vielleicht ist das auch das
Zentrale in der ökumenischen Kooperation: die Menschen in Gefängnissen, Krankenhäusern,
Waisenheimen und auf den Straßen zu unterstützen, so wie Christus ihnen begegnet ist. Auf
diesem Weg kann auch ein Traditionalist seine Aufgabe in einer multikulturellen Welt finden,
und moderne Menschen können über ein solches Engagement von Christen die Jahrtausende
alte Tradition der Kirche verstehen und Teil von ihr werden (vgl. Sandu 2012, 88).

Orthodox zu sein und im Einklang mit der eigenen Tradition zu stehen, bedeutet nicht nur
Ehrlichkeit zum Glauben der frühen, ersten Kirche („primitive church“: Walker 2000, 1-3) zu
zeigen und Interpretationen, dogmatische Lehren und kritische Kommentare zum
patristischen, theologischen Erbe beizutragen, sondern auch die Botschaft des Evangeliums
im Kontext der Eucharistie und der post-eucharistischen Liturgie auszuleben und zu
meditieren. Im Geist der Tradition zu sein, meint das Übertragen der theologischen Aussagen
auf neue kirchliche Erfahrungen. Dies soll jedoch nicht heißen, dass der moderne Mensch den
vorkonstantinischen Dynamismus des transkulturellen Erfassens aufgeben soll. Br. Dumitru
Staniloae argumentiert, dass der Platz „des Theologen dort ist, wo die göttliche Offenbarung
die menschliche Geschichte trifft und die Veränderung der Welt auftritt. Im Geiste der
Tradition müssen die Teile des transkulturellen Erbes, die durch politische und soziale
Restriktionen, nicht nur durch den Kommunismus, sondern auch durch die Aufklärung und
Rationalisierung, nicht ausgedrückt werden konnten, neu definiert werden. Es bedeutet eine
Rückkehr zu den Wurzeln oder ein erneutes Wiederauftauchen des Religiösen (Bria 2002,
1415).

Voneinander lernen im 21. Jahrhundert

Christen, sowohl Geistliche als auch Laien, müssen danach streben, die Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts und die konsum- und marktorientierten Gesellschaften anzusprechen,
indem sie den Einfluss der einzigartigen Vorzüge und Gaben darstellen, die der Glaube den
Menschen und Gemeinden bringt. Ein einflussreicher amerikanischer Soziologe hat gesagt,
dass „das Schicksal unserer Zeiten von Rationalisierung, Intellektualisierung und vor allem
von der ‚Ernüchterung der Welt‘ charakterisiert ist. Genauer gesagt, die endgültigen und
erhabensten Werte ziehen sich vom öffentlichen Leben entweder in den transzendenten
Bereich des mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit der direkten und persönlichen
menschlichen Beziehungen zurück“ (Wuthnow 1995, 167). In diesem Kontext können die
orthodoxen, katholischen und protestantischen Kirchen in Europa die Rolle des Glaubens in
der Heilung und der Wiederherstellung der säkularisierten zivilen Gesellschaften und der
ausgedehnten menschlichen Gemeinden geltend machen. Während dieses Prozesses müssen
sie „den Wunsch fördern, einander zu respektieren: fortfahren voneinander zu lernen;
fortfahren bereit zu sein, einander anzuhören ohne den entschuldigenden Wunsch zu haben,
korrigieren und umgestalten zu wollen“ (McGuckin 2011, 57).

Dieses gegenseitige Lernen könnte Verschiedenes beinhalten. Die Orthodoxie könnte, wenn
sie angemessen gelebt wird, für die nicht-orthodoxe „säkulare Kultur“ Impulse geben.
Orthodoxe Ordenskommunitäten und andere Gemeinschaften könnten nachhaltige
Landwirtschaft betreiben und organische Nahrung herstellen. Das Pilgern könnte gefördert
werden, und Touristen würden beim Pilgern lernen, ihre Mentalität zu ändern und mit
größerer Sorgfalt die religiösen, kulturellen und Naturschätze anzuschauen, zu pflegen und in
ihnen die göttliche Gegenwart zu spüren (vgl. Sandu 2012, 216).

Weiter könnten religiöse Menschen im säkularen Westen von der Orthodoxie des Ostens
lernen:

- Ausdauer und Belastbarkeit in harten Zeiten;

- einen Sinn dafür zu haben, alte Werte der Tradition und neue Kommunikationsformen
(internetbasierte religiöse Bildung und Predigten über das iPad) miteinander zu
verbinden;

- den immensen Wert zu sehen, der der „Person“ zukommt, als Ausdruck der Beziehung
und der zukünftigen Vergöttlichung als christlichem Ideal, wenn der Mensch durch
Gottes Gnade wie Gott wird;

- die Schöpfung in besonderer Weise wertzuschätzen, was bedeutet, sie zu segnen, sie
heilig zu halten, zu transformieren und sorgsam mit ihr umzugehen. Die Schöpfung ist
ein Subjekt der Segnung, des aszetischen Umgangs gegen Gier, ein Zeichen der
Heiligkeit des Lebens, das sich bei Heiligen und ihren Reliquien ausdrückt;

- einen Sinn für transzendentale Schönheit zu entwickeln, die sich in Ikonen,


geschmückten Kirchen und wunderschönen Gesängen ausdrückt.

Im gegenseitigen Lernprozess könnte wiederum die Orthodoxie von engagierten Menschen


und Gruppen im Westen lernen:

- einen Sinn für soziales Engagement mit Disziplin und langem Atem für Menschen in
Not zu entwickeln;

- Bestimmungen und Regeln zum Wohle aller Gemeindemitglieder einzuhalten;

- einen Sinn für öffentliche Verantwortung zu fördern, der durch die kommunistische
Propaganda und Verdächtigung nahezu ausgelöscht wurde;
- Vertrauen, Zuversicht und Solidarität unter Gemeindemitgliedern zu stärken;

- Raum zu schaffen für Menschen unterschiedlicher Kultur und Religion, um


miteinander ohne Vorurteile und Kritizismus zu leben.

Patriarch Daniel aus Rumänien stellte fest, dass „die Kirchen im Prozess der europäischen
Konstruktion sowohl die Isolation und die Auflösung als auch die Assimilierung vermeiden
müssen. Dies bedeutet, dass sie ihren spezifischen und unverwechselbaren Beitrag finden,
zum Ausdruck bringen und realisieren müssen. Dies wird nur dann ein Gegenmittel für den
Liberalismus der gegenwärtigen Modernisierung sein, wenn die Kirchen ihr liturgisches und
spirituelles Leben erneuern und stärken“ (Patriarch Daniel 2005, 172).

In diesem Kontext können östliche und westliche Kirchen ein klares Zeugnis für die Welt und
für die säkularisierte Gesellschaft, auf der Basis eines gemeinsamen Nenners, nämlich des
Glaubens an den dreieinigen Gott und an die rettende Tat des Herrn Jesu Christi, geben. Dies
wird es nötig machen, die Heilung von Beziehungen, von sozialen Konflikten und ethnischen
Spannungen in den Blick zu nehmen. Dies ruft nach einer ganzheitlich verstandenen
Belebung der biblischen Vision des Friedens und der Errettung und einer vollkommenen
trinitarischen Theologie der Kirche und der Mission“ („Believing without belonging?“).
Kirchen im säkularen Europa müssen ihre eigenen Traditionen stärken und sich auf ihre
gemeinsamen christlichen Werte beziehen, um einen aussagekräftigen und inklusiven Dialog
inmitten ihrer eigenen Gemeinschaften und darüber hinaus zu fördern und auch diejenigen
einzubeziehen, „die niemals sichtbare Mitglieder irgendeiner kirchlichen Gemeinde waren“
(Ware 1996, 86).

Literaturhinweise:

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exegeza şi transmiterea Traditiei [Um der Erfüllung des Evangeliums Willen. Über die
Verteidigung der Orthodoxie hinaus: Exegese und das Weitergeben von Traditionen];
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New Europe. Ecumenical Experience and Perspectives; gehalten auf der Konferenz der Marc
Bloch University, in Straßburg, Frankreich, am 27. Mai 2005, in: Dancă, Wilhelm: Truth and
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şi rolul ei în mişcarea ecumenică [Internationales Symposium: Die rumänische Orthodoxie
und seine Rolle in der ökumenischen Bewegung], Vasiliana 98, Constanţa

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