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Gründerzeit
Um 1870 gab es in Deutschland und Österreich einen
starken wirtschaftlichen Aufschwung. Gab es vor 1870 in
Deutschland nur 235 Aktiengesellschaften, so entstanden
allein in den Jahren des „Gründerbooms“ mehr als 900
neue Aktiengesellschaften. Auch neue Wohnviertel wurden
überall gebaut. Häuser aus dieser Zeit nennt man „Gründer-
zeithäuser“.
Unser Haus ist auch schon alt. Nicht ganz so alt. Aber auch alt.
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Geräusche
Als unser Haus gebaut wurde, hieß mein Viertel noch „Franzö-
sisches Viertel“. Die Straßen trugen damals noch die Namen von
französischen Kriegsschauplätzen1. Sedanstraße, Wörthstraße,
Belfortstraße. Elsaßstraße, Lothringenstraße, Metzstraße. Unsere
Meyerbeer hieß Straßburger Straße. Die Straßen wurden damals
so benannt, weil Preußen 1870/71 den sogenannten „Deutsch-
Französischen Krieg“ gewonnen hatte. Erst 1951 bekamen die
Straßen ihre heutigen Namen. Man wählte berühmte Kompo-
nisten. Musik statt Krieg. So entstand unser Komponistenviertel.
Auch vor der Renovierung habe ich schon viel auf Geräusche
gehört. Ich habe überhaupt schon immer viel gehört. Zugehört.
Aber ich habe die Geräusche unseres Hauses und seiner Mieter
damals noch nicht systematisch gesammelt. Nicht so, wie ich es
heute mache. Das systematische Sammeln von Geräuschen hat
erst nach der Renovierung angefangen.
1 der Kriegsschauplatz: ein Ort, an dem ein bestimmtes Ereignis in einem Krieg
stattfand (Waterloo, Stalingrad)
2 der Putz: eine Mischung zum Bauen aus Sand und Wasser; Putz wird an die Wände
Doch wie groß war mein Erstaunen! Die Geräusche hatten sich
komplett verändert! Ich hörte kein Knacken1 des Holzes mehr. Ich
hörte kein Knarren der alten Fußböden mehr. All die herrlichen
Geräusche unseres alten Hauses waren durch die Renovierung
verloren gegangen!
Zum Beispiel: der Wind. Bei starkem Wind gab es damals die
merkwürdigsten Geräusche in unserem Haus. Lose Dachziegel2
etwa. Sie klopften ganz leise aneinander: klack klack. So machten
diese Dachziegel. Klack klack.
Und die alten Klingeln! Ding dong! Ding dong! Jetzt schrillen die
neuen Klingeln einfach alle gleich: Trrrrr, trrrrr. Das Ding dong
von damals war viel schöner. Ich konnte am Klang der einzelnen
Klingeln immer unterscheiden, welcher unserer Mieter gerade
Besuch bekam. Außer bei mir selbst, denn meine Klingel war bis
zur Renovierung zwei Jahre lang kaputt. Sie gab nur ein leises
hhhhh hhhhh von sich3.
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Geräusche
fragen sollte. Doch von meinem eigenen Beruf kann ich auch
nicht leben. An diesem Abend fand ich es nicht mehr sinnvoll,
dass es keine Geräuschesammler geben sollte. Ich fand es nicht
sinnvoll, dass niemand Geräusche sammelte. Nur, weil man
davon nicht leben kann? Denn die Geräusche sind doch voller
Leben! Sie zeigen etwas über die Menschen.
Geräusche entstehen, leben und sterben.
Sie haben eine Geschichte.
Ich höre zu und zeichne sie auf.