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„Ich weiß nicht, das ist mir zuviel Liebe – das geht alles zu
schnell! Eins, zwei, drei, blättert sie mir die Namen auf den
Tisch!“ Kalle war unzufrieden. „Was meint ihr? Irgend etwas
ist faul an der Geschichte!“
Hauptmann Reinhardt war nach Leipzig gekommen. Sie sa-
ßen in einem Dienstzimmer der Inspektion. „Ja“, Reinhard
wiegte den Kopf, blickte Seppel an, schaute in den drei Seiten
langen Bericht, den Kalle auf der Maschine getippt hatte, und
hob ratlos die Schultern. „Merkwürdig ist das, in der Tat! Die
Dame hat dir einen sehr tiefen Einblick gewährt – ich meine in
den Schieberring!“
Reinhardt lächelte. „Jetzt wissen wir endlich, wie die Sache
funktioniert. Da gibt es den Westberliner Chef O. W. da gibt es
Kuriere, die das Rohgeld per Auto oder Bahn nach Leipzig,
Halle, Merseburg schaffen, und dort gibt es Juweliere, die es zu
schwerem Schmuck verarbeiten und es gegen Quittungen an
die Staatliche Münze verkaufen. Der Staat braucht Gold und
zahlt eine hübsche Aufkaufprämie. Das ist sozusagen der Rein-
gewinn für diese Brüder. Ja – gar nicht schlecht ausgeknobelt.
Ich möchte nicht wissen, wieviel Hunderttausend die ganze
Bande schon verdient hat. Wenn die Mengen stimmen, die sie
dir genannt hat – und das in einem Monat! – mein lieber
Freund!“
Reinhard rieb sich nachdenklich das Kinn.
„Das ist es ja eben! Stimmt es oder stimmt es nicht? Warum
erzählt sie mir das alles? Einfach so, aus freien Stücken, ich
brauchte sie nicht mal zu drängen!“
Seppel grinste. „Vielleicht will sie sich wirklich zusammen
mit dir eine Existenz aufbauen!“
„Quatsch!“ Kalle war nicht nach Scherzen zumute. „Sie
nennt mir den Namen des Mannes, den sie bestochen haben,
damit er sich die gefälschten Quittungen nicht so genau an-
sieht, sie nennt mir die verschiedenen Tricks ihrer Kuriere –
Paul Lüdecke, mit dem sie gestern zusammen Mittag gegessen
haben. Seine Spezialität: Goldblech unter den Einlegesohlen!
Das sind Interna, das sind Geheimnisse, die sie niemals, unter
keinen Umständen preisgeben …“
„Moment mal!“ Kalle stutzte, sein frisches Jungengesicht
hellte sich auf. „Doch“, sagte er, „es gibt einen Grund: Sie
haben erfahren, daß ich von der Kripo bin!“ Er wartete nicht,
bis Walter und Seppel sich dazu geäußert hatten, er entwickelte
sofort seine Version: „Sie wußten von Anfang an Bescheid,
spätestens aber seit meinem Barbesuch gestern nacht. Viel-
leicht hatten sie ein Foto vom echten Siebenhaar, vielleicht ist
uns ein zweiter Mann nachgefahren, der Siebenhaar kannte und
sie gewarnt hat – im Augenblick ist es müßig, sich darüber den
Kopf zu zerbrechen! Sie wissen, daß ich von der Kripo bin und
daß es ihnen und der ganzen Schieber binde ans Leder geht.
Und was machen sie da? Sie opfern die anderen, um Zeit zu
gewinnen. Sie werfen uns das hier zum Fraß vor“, er schlug
mit der Hand auf seinen Bericht, „und während wir begeistert
schlucken und arbeiten, bereiten sie den großen Coup vor: Ihre
Flucht nach Westberlin!“
„Klingt sehr überzeugend“, sagte Walter Reinhardt. Kalle war
noch immer voller Eifer: „Also beenden wir die Vorstellung“,
schlug er vor. „Wir haben letzten Endes erreicht, war wir errei-
chen wollten. Wir kennen die Verbindungen, kennen den Ring
– wir könnten mit einem Schlag die ganze Bande hochgehen
lassen …!“
„Das werden wir nicht tun“, sagte Reinhard sehr entschieden.
„Die Vorstellung läuft weiter – unter doppelter Absicherung!“
„Wie denn? Ich soll noch mal …?“ fragte Kalle enttäuscht.
„Ja, du spielst weiter wie bisher! Wir wollen doch mal sehen,
wie sie ihre Flucht in Szene setzen und wer ihnen dabei hilft.
Außerdem werden sie eine Menge Wertsachen beiseite ge-
schafft haben, die sie mitnehmen wollen. Das machen sie alle
so. Entweder haben sie das bei Freunden deponiert oder – na
ja, jedenfalls haben sie‛s nicht auf der Sparkasse oder im Tre-
sor. Und ich denke, das sollten wir auch mitnehmen. Also, laßt
uns mal einige Varianten durchspielen: Was könnte alles pas-
sieren, worauf müssen wir achten?“
Das war das Letzte, was ihm passieren konnte! Beide Grafs
und O. W. durch die Lappen – und er hier mit diesem Totschlä-
ger eingesperrt! Der Idiot schien nicht einmal begriffen zu
haben, daß man ihn aufsitzen ließ, daß man ihn abgeschrieben
hatte. „He, willst du nicht mit?“ schrie er ihn an und zeigte auf
die Tür.
Paul glotzte verwirrt und verständnislos. Dann packte ihn die
Wut. Er nahm Anlauf und warf sich gegen die Tür. In seiner
Aufregung hatte er vergessen, daß er ja auch Schlüssel besaß.
Madeleine hatte sie ihm ausgehändigt – wie hätte er sonst ins
Haus kommen sollen! Doch nun war es zu spät, sich daran zu
erinnern: Kalle hatte ihn, als er von der festgezimmerten Tür
zurückprallte, mit einem der sonst verbotenen, nur in äußerster
Gefahr anzuwendenden Jiu-Jitsu-Schläge außer Gefecht ge-
setzt. Paul hatte tief aufgegrunzt und war zu Boden gestürzt.
Wo hatte er die Schlüssel? Kalle durchwühlte seine Taschen,
lauschte dabei nach draußen. Zwei Autos standen draußen –
und kein Motorengeräusch! Sollten sie so schnell gestartet
sein?
In der Gesäßtasche fand er das Schlüsselbund. Die rechte
Hand war noch immer nicht zu gebrauchen. Mit der Linken
schloß er auf. Was er sah, ließ ihn alle Schmerzen und alle
selbstanklägerischen Vorwürfe vergessen: Die Scheinwerfer
eines dritten Wagens tauchten das ganze Grundstück in blen-
dende Helligkeit, und in diesem gleißenden Licht sah er Walter
Reinhardt mit gezogener Pistole auf das Haus zu laufen. Als
Walter ihn in der Tür entdeckte, blieb er wie angewurzelt ste-
hen. „Kalle“, rief er, als wollte er sich vergewissern, daß er es
mit keiner Erscheinung zu tun hatte.
„Hier liegt der vierte Mann“, sagte Kalle und wies mit dem
gesunden linken Arm auf den hingestreckten Paul Lüdecke.
„Junge, Junge“, sagte Walter kopfschüttelnd, „was drehst du
bloß für Dinger! Das verstößt gegen jede Vorschrift! Hätte
Seppel nicht so eine Ahnung gehabt – vielmehr: Hätte er nicht
mit seinem Scharfsinn erfaßt, daß die Dame dich hierher lok-
ken könnte – wie wäre das bloß ausgegangen?“
„Ich hatte auch so ‛ne Ahnung, daß ihr so ‛ne Ahnung haben
könntet“, sagte Kalle, faßte nach seinem Arm und lächelte
schmerzlich.
Das Ehepaar Graf und der sehr distinguierte, graumelierte
Herr im hellen Mantel trugen ihre Handschellen mit Würde.
„Bitte!“ Seppel Beck, der sie begleitete, forderte sie auf ins
Haus zu treten.
Das Versteck, nach dem Paul Lüdecke so verzweifelt gesucht
hatte, fanden Hauptmann Reinhardt und Seppel Beck am näch-
sten Morgen: Auf den trüben Wassern der Sickergrube
schwammen in einem verlöteten Blechbehälter fünf Kilo-
gramm noch nicht an die Münze verkaufter Schmuck.
Heft 325
Herbert Friedrich
Der verlorene Vater