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Das neue Abenteuer 324

Ulrich Waldner: Der goldene Ring


Verlag Neues Leben, Berlin

V 1.0 Scan by Dumme Pute & Klesen by Sokrates

Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1973


Lizenz Nr. 303 (305/64/73)
ES 9 A
Umschlag und Illustrationen: Jürgen Pansow
Typografie: Walter Leipold
Schrift: 8 p. Excelsior
Gesamtherstellung: Druckerei Neues Deutschland
Bestell-Nr. 641 710 0
EVP 0,25
Hauptmann Reinhardt schloß den Schreibtisch ab, holte sei-
nen Staubmantel und eine prall gefüllte Einkaufstasche aus
dem Schrank. Seppel Beck griff nach der Tasche, sagte „Mo-
ment“ und begann ihren Inhalt zu überprüfen: Tapetenkleister,
Leimfarbe für die Decke, Abtönpaste, Latex-weiß und kirsch-
rote Plakatfarbe.
„Hoffentlich reicht das Rot! Hättest ruhig zwei Becher mehr
kaufen können. Das gibt Bonbonrosa, aber mehr nicht!“
„Macht keine Witzchen mit mir“, verteidigte sich Reinhardt.
„Wer hat mich denn überredet, den Flur mit Latex zu bepin-
seln? Wer hat mir aufgeschrieben, was ich kaufen soll? Viel-
leicht wirfst du mir noch Knausrigkeit vor! Mein Bier trinken,
meine Bockwurst essen – Ihr seid sowieso teurer als jede Ma-
lerbrigade!“
„Hör nicht auf diesen Menschen“, sagte Oberleutnant Kalu-
weit grinsend. Er stand vor der Schrankwand und kniffte einen
Spitzhelm aus Zeitungspapier. „Im Zweifelsfalle frage Kalle!
Vertrauen Sie sich dem Fachmann an! – In letzter Zeit soll da
so ein Feierabendbrigant die Leute betrügen. Kann kaum den
Pinsel halten, von Farben versteht er soviel wie die Kuh vom
Filetstricken – Beck soll er heißen, Seppel Beck! glaub ich! Vor
diesem Menschen wird dringend gewarnt!“
Kalle stülpte Seppel Beck den Papierhelm auf den Kopf.
„Hier hast du deine Arbeitsschutzbekleidung! Geh vorsichtig
damit um, Papier ist ein wichtiger Rohstoff!“
Walter Reinhardt verriegelte die Fenster, Seppel Beck besah
sich im Spiegel, rückte den Helm zurecht und fand sich schön.
„Das Rot reicht“, sagte Kalle. „Die alte Flurtapete ist ja hell –
da klatsch ich dir ein leuchtendes Kirschrot drauf, ein strahlen-
des, lachendes Rot, sag ich dir! Die Flurgarderobe und der
Kuchentellerspiegel – das silberne Blattwerk, das wirkt doch
nur vor einer klaren, einfarbig-hellen Fläche! Deine Frau wird
begeistert sein.“
Kalle trat an Reinhardt heran, fragte „gestatten?“ und setzte
ihm den zweiten Papierhelm auf. Mit dem dritten behelmte er
sich selbst.
„Mensch“, sagte Seppel Beck und prustete los, „wenn wir so
aus dem Haus gingen! Unten am Posten vorbei! – Die Gesich-
ter! Stellt euch mal vor: die Gesichter!“
Bevor die anderen von seinem Lachen angesteckt wurden,
ging die Tür auf. Der Chef trat ins Zimmer. In seinem dunklen
tadellos sitzenden Anzug und dem sorgfältig frisierten grauen
Haar stand er da und blickte etwas verwundert auf seine drei
Mitarbeiter, die sich beeilten, die Papiertüten vom Kopf zu
reißen.
„Das ist nur, wir wollten“, setzte Walter Reinhardt leicht ver-
legen mit einer Erklärung an. Der Major unterbrach ihn lä-
chelnd: „Meine Wohnung hätt‛s auch mal nötig“, sagte er.
„Vielleicht merkt ihr mich mal vor. Aber heute – es tut mir leid,
ich hab hier was für euch. – Gold!“ Er gab Reinhardt einen
Zettel, auf dem eine anonyme Anzeige formlos notiert war.
Reinhardt las, daß ein gewisser Hans Siebenhaar wieder an-
finge – diesmal mit Gold. Man wollte ihn am besten gleich
verhaften, heute abend noch, im D-Zug nach Leipzig, Abfahrt
22.35 Uhr.
„Überprüft mal die Sache“, sagte der Major, „vielleicht guckt
was raus!“ Er nickte ihnen zu, wünschte Toi, toi, toi und ging
dann.
„Mist verdammter!“ Kalle knüllte seinen Arbeitsschutzhelm
zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Zusammen mit
Beck überflog er den Text der Anzeige. „Eine Frau, die ihren
Namen nicht nennen will – sie meint es nur gut mit Herrn
Siebenhaar – , möchte verhindern, daß er sich tiefer in Schuld
verstrickt!“
„Ekelhaft“, kommentierte Kalle. „Diese enttäuschten Weiber!
Die will ihrem Hänschen eins auswischen! Vielleicht fährt der
mit ‛ner Mieze nach Leipzig, und wir sollen ihm die Tour
vermasseln! Ich hab sie genascht, diese anonymen Damen und
Herren! Seitdem mir das damals mit dem vermeintlichen Mör-
der passiert ist …“
Reinhardt bremste ihn. „Ja doch“, sagte er, „ist ja gut! – Laßt
uns mal überlegen!“ Er setzte sich an den Schreibtisch und las
noch einmal die Anzeige durch. „Wenn sie schreibt, ,er fängt
wieder an – diesmal mit Gold‛, dann heißt das doch, daß er
schon mal angefangen und höchstwahrscheinlich bei uns ein-
gesessen hat!“ Er telefonierte, und fünf Minuten später wußten
sie, daß Hans Siebenhaar, Jahrgang fünfundzwanzig, kaufmän-
nischer Angestellter, vor einem halben Jahr aus dem Strafvoll-
zug entlassen wurde: dreieinhalb Jahre wegen Optikschiebung
und Urkundenfälschung.
„Na bitte“, sagte Reinhardt voller Genugtuung, „nun sieht der
Fall schon etwas freundlicher aus. Was meinst du – immer
noch ein Windei?“ Er sah Kalle fragend an.
„Schon gut, ich fahre!“ Begeistert war Oberleutnant Kaluweit
nicht.
„Ihr fahrt beide“, entschied Reinhardt. „Die Decken wasch
ich alleine ab. Mehr hätten wir heute sowieso nicht geschafft.“
„Das Flurstreichen überläßt du mir“, forderte Kalle katego-
risch, „dazu habe ich mich verpflichtet!“
„Hast du was, worauf du dich freuen kannst!“ Reinhardt
stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. Draußen auf dem
Gang waren Schritte zu hören. Ein Bote kam und brachte die
angeforderten Unterlagen des Hans Siebenhaar.
Die Fotos zeigten einen etwas faden blassen jungen Mann. Er
sah nicht aus wie Anfang Dreißig, er sah eher aus wie ein
durchs Abitur gefallener Oberschüler.
„Nehmen wir an, er sitzt im Zug – was dann“ fragte Seppel.
Visitieren wir ihn, oder lassen wir ihn laufen und sehen zu, wo
er uns hinführt?“
„Lohnt doch nicht“, warf Kalle ein. „Der hat in Leipzig einen
Juwelier kennengelernt, und nun bringt er ihm aus Westberlin
prima DEGUSSA-Goldblech! Kleiner Fisch – brauchst ihn dir
bloß anzusehen. Da steht der Aufwand in keinem Verhältnis
zum möglichen Erfolg.“
„Kleiner Fisch stimmt“, sagte Beck und blätterte in der Akte,
in der er gelesen hatte, „deshalb hat er auch nur in der Gruppe
gearbeitet. Das ist kein Einzelgänger, der fühlt sich in der
Clique wohl. Ich denke, wir sollten nicht zupacken, wir sollten
ihn beobachten. Was meinst du, Walter? – Daß es in Leipzig
einen Schieberring gibt, steht fest. Nur über den Umfang wis-
sen wir nichts – und auf welche Weise sie sich das Rohgold
beschaffen. Dieser Siebenhaar könnte ein Pilotfisch sein.“
„Durchaus möglich“, sagte Reinhardt abwägend. Er legte die
Hände auf den Rücken und sah zum Fenster hinaus. Der Sep-
tembertag war warm und sonnig gewesen, Abendrot färbte den
Himmel über den Dächern. „Ich habe das Gefühl, daß uns
dieser Bursche ganz nützlich sein könnte – und trotzdem“, er
wandte sich Seppel Beck zu, „ihr werdet ihn visitieren, und
wenn ihr was findet, nehmt ihr ihn fest.“
„Und warum“, fragte Seppel erstaunt.
„Weil Frauen konsequenter sind als Männer! Was meint ihr,
was passiert, wenn wir die anonyme Anruferin enttäuschen? –
Ich wäre sonst auch für Observation, aber mit einer liebenden,
besorgten – was weiß ich, auf welche Weise engagierten Frau
im Nacken …“ Reinhardt schüttelte den Kopf.
Kalle brubbelte etwas vor sich hin, das so klang, wie „Hut ab
vor deiner Weisheit, Chef“. Es war alles klar. Sie mußten die
Transportpolizei verständigen und sich mit der Persönlichkeit
des Herrn Siebenhaar vertraut machen. Die Akten lagen ja auf
dem Tisch.
Walter Reinhardt nahm seine Einkaufstasche mit den Maler-
utensilien auf und verabschiedete sich. „Ruft mich zu Hause
an, wenn ihr in Leipzig seid!“ Sie versprachen es und sahen
ihm nach wie der Landmann, dem es die Petersilie verhagelt
hat.
Hans Siebenhaar fuhr erster Klasse. Das ist immer gut, hatte
er sich gesagt, das wirkt seriös: Geschäfts- oder Dienstreisen-
der! Aktentasche im Gepäcknetz, Trenchcoat am Haken und
auf dem leeren Sitz neben ihm das aufgeschlagene ND. – Er
unterhielt sich mit seiner Nachbarin zur Linken sehr angeregt
über den volkswirtschaftlichen Wert des Exportartikels Mode.
Die Dame war weder jung noch schön, aber sie besaß einen
Modesalon und war entsprechend scheußlich gekleidet: in
glitzerndes Lila! Um den Hals ein schwarzes Samtband mit
Medaillon. Egal, wie die Dame war, Hans Siebenhaar wollte
unbefangen, fröhlich plauschen, wenn die Transportpolizei kam
und die Ausweise kontrollierte. Er achtete nicht auf die beiden
Herren – den schmalen dunkelhaarigen im Nylonmantel und
den etwas jüngeren, der blond war und breitschultrig und einen
marineblauen Übergangsmantel über dem Arm trug. Die beiden
hatten einen Blick ins Abteil geworfen, standen nun auf dem
Gang und sahen aus dem Fenster, vor dem gemächlich nacht-
dunkle Felder und tiefschwarze Waldstücke vorbeizogen.
Die Transportpolizei betrat den Wagen. Abteiltüren wurden
aufgezogen. „Bitte die Ausweise zur Kontrolle!“
Oberleutnant Beck nickte den Genossen zu.
Hans Siebenhaar wunderte sich, daß man ihm seinen Ausweis
nicht zurückgab. „Kommen Sie bitte mit zur Kontrolle“, for-
derte man ihn auf. „Ist das Ihr Gepäck – und Ihr Mantel?“
„Ja, aber ich verstehe nicht …“ Ob er verstand oder nicht, der
Transportpolizist blieb unerbittlich, und so faltete Hans Sie-
benhaar das ND zusammen, nahm seinen Trenchcoat über den
Arm und die schweinslederne Aktentasche aus dem Gepäck-
netz. Er hob die Schultern, warf seiner ältlichen Reisebegleite-
rin einen Blick zu, der besagte: Na ja, was will man da machen,
dieser Unverstand! und verließ das Abteil.
Die Besitzerin des Modesalons war empört. Sie zeigte den
Blauuniformierten durch Haltung, Blicke und Ausdruck, was
sie von ihnen hielt.
Paul Lüdecke stand fünf Abteile weiter auf dem D-Zug-Gang.
Er hatte aus Westberlin den Auftrag mitgenommen, den Neu-
ling Siebenhaar unauffällig zu überwachen. Als er ihn jetzt in
Begleitung eines Transportpolizisten und der beiden Männer in
Zivil sah – die beiden waren ihm gleich nicht koscher erschie-
nen! – als er Siebenhaar so eskortiert den Gang auf sich zu-
kommen sah, packte ihn das blanke Entsetzen. Ruhe bewahren,
nicht durchdrehen, sagte er sich, dieser dämliche Anfänger
kennt mich nicht, die Bullen kennen mich auch nicht! Also
dumm stellen und vorbeilassen!
Er ließ sie vorbei, zog den Bauch und den Brustkorb ein. Paul
Lüdecke war ein Mann von zwei Zentnern Lebendgewicht;
sein eleganter, maßgeschneiderter Anzug, das teure Hemd, die
teure Krawatte, der schwere Siegelring und das glatt gestriegel-
te schwarze Haar ließen ihn bedeutsamer und intelligenter
erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Paul Lüdecke wußte, daß
sein Chef gelegentlich von ihm als dem Gorilla sprach, und er
setzte alles daran, seinem Äußeren den Anschein zivilisierten
Menschseins zu geben.
Etwas schwach in den Knien, zog er sich in die Toilette zu-
rück. Tür zu, Riegel herumgedreht. Aufatmend lehnte er sich
gegen die Tür. Zwei, drei Sekunden verharrte er so. Dann kam
Leben in ihn. Aus den dicksohligen Schuhen holte er Einlagen
hervor, schwere, goldglänzende Einlagen. Er ließ sie in einem
der eingebauten Schränkchen verschwinden, zog die Schuhe
wieder an, knüpfte die Senkel zu. Ein Blick in den Spiegel, das
Haar glatt gestrichen, tief durchatmen – auch „Gorillas“ haben
Nerven! – auf die Spülung gedrückt, das Wasser rauscht. Noch
einmal rauschen lassen, das Wasser am Handwaschbecken
durch Fußdruck zum Fließen bringen und die schweißnassen
Hände kühlen. Abtrocknen, die Tür aufmachen und dem drau-
ßen wartenden Transportpolizisten erstaunt ins Auge blicken.
„Ausweiskontrolle? – Aber sofort, bitte!“ Paul Lüdecke war
Herr der Situation.
Der Zug, der hinter Jüterbog das Tempo aus unerfindlichen
Gründen verlangsamt hatte, nahm wieder Fahrt auf. Das Ratata
der Schienenstöße erfolgte immer schneller, verschmolz zu
dem gewohnten jagenden Rhythmus. Das Fenster des
Dienstabteils war verhängt. Hans Siebenhaar saß Oberleutnant
Beck gegenüber und beteuerte seine Unschuld. „Es ist das
erstemal! Sie können mir glauben, ich hatte keine Ahnung …“
„Sie wollen uns doch nicht weismachen, daß man Sie in
Westberlin mit dieser Ladung – die unter Brüdern ein paar
Tausend wert ist – so einfach losschickt! Ins Ungewisse, als
Versuchsballon!“
Seppel Beck zeigte auf die meterlangen Goldblechstreifen,
die sie aus dem Trenchcoatgürtel des Herrn Siebenhaar heraus-
getrennt hatten. „Doch! Das heißt, nicht gerade als Ballon!“
Der blasse, blonde Siebenhaar ringt in echter Verzweiflung die
Hände. „Ich hatte nur den Auftrag, zu diesem Juwelier zu
fahren. ,Tag, Herr Graf, sollte ich sagen und fragen, ob der
Ring für Herrn Wittig fertig ist. Ein Siegelring mit den Initialen
O.W. Und er sollte antworten: ,Ich habe ihn gerade in Arbeit.
Kommen Sie mit.‛ – Das war alles.“
Kalle saß auf derselben Bank wie Siebenhaar an der Türseite,
er protokollierte. Zwischendurch sah er den zu Vernehmenden
mit wachsendem Interesse von der Seite an. Er beugte sich
auch vor, sah ihn von vorn an, und dann riß er einen Zettel von
seinem Block, schrieb etwas darauf und reichte es Seppel.
Der las, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Nun er-
zählen sie uns mal mehr über diesen Herrn Wittig“, forderte er
Siebenhaar auf. Und der erzählte alles: daß er in einer Westber-
liner Kneipe, einem sogenannten Künstlerlokal, verkehrt, dort
mächtig auf den Putz gehauen und vorgegeben habe, aus politi-
schen Gründen inhaftiert worden zu sein. Bei seinem fünften
Besuch hatte Wittig sich seiner angenommen und ihm diese
todsichere Sache verschafft. Er könnte sich Geld für eine neue
Existenz im Westen verdienen. „Wie ich den Wittig beschrei-
ben soll? – Nun ja, ‛n Geschäftsmann in den Fünfzigern, groß,
schlank, graue Schläfen – wie eben einer aussieht, der Geld wie
Heu hat. Fährt ‛n dicken Chevrolet, der Herr, innen mit
Schlangenleder ausgeschlagen. Ja, wirklich: echtes Schlangen-
leder!“
Hans Siebenhaar schwor bei allem, was ihm heilig war, daß
es sein erster Auftrag war und daß er den Leipziger Juwelier
Graf, dem er das Gold bringen sollte, noch nie gesehen hätte.
Tränen der Reue liefen ihm übers blasse Gesicht. Bemerkens-
wert war, daß er schon eine Ahnung davon hatte, wer ihn so
schnell dem zielgerichteten Griff der Polizei ausgeliefert hatte:
Elsbeth, seine Verlobte. Sie hatte ihn gewarnt, hatte ihn zu-
rückhalten wollen, sogar gedroht hatte sie ihm: nicht untätig
zusehen würde sie, wie er erneut in sein Verderben renne! Hans
Siebenhaar war ihr so dankbar!
Bestätigt wurde ihm seine Vermutung nicht. Kalle dachte nur:
Du alter Schwede! Hätt‛s geklappt, würdest du jetzt nicht
heulen, sondern jubilieren und leben wie der Graf von Luxem-
burg – oder der aus Leipzig! Er schrieb wieder etwas auf einen
Zettel und reichte es Seppel Beck. Seppel las, warf Kalle einen
rügenden Blick zu, unterbrach jedoch die Vernehmung. Ein
Transportpolizist blieb bei Siebenhaar, sie gingen ins Nachbar-
abteil.
„Was hast du dagegen einzuwenden?“ fragte Kalle und ent-
wickelte sofort eine beängstigende Aktivität. „Das ist eine
Chance, in den Ring einzusteigen. Der Junge schwindelt nicht,
der hat viel zuviel Dampf in den Hosen!“
„Du bist Kriminalist und kein Privatdetektiv!‛‛
„Entscheidungsfreudig warst du nie!“
„Entschuldige mal.“ Seppel brauste auf. „Wir haben einen
klaren Auftrag! Du hast ihn genauso akzeptiert wie ich!“
„Ein Kriminalist muß sich veränderten Situationen anpassen
können“, konterte Kalle. Er war zu laut und zu erregt, er
dämpfte seine Stimme. „Ich habe gedacht, der Siebenhaar wäre
ein ganz kleiner Fisch – so auf privater Ebene, klein, klein! – ,
du hast das Wort Pilotfisch geprägt. Ich korrigiere mich: Du
hast recht. Er dirigiert uns direkt an die Beute – wenn wir mal
Hai spielen wollen! Von diesem O.W. in Westberlin zu diesem
Graf in Leipzig! Das sind die beiden Pole. Wir können Walter
nicht fragen, er sitzt in Berlin, wäscht seine Zimmerdecke ab,
aber wenn er hier wäre …“ Seppel unterbrach ihn mit einer
Handbewegung. „Was guckt raus“, fragte er.
„ … auf die einfachste Weise zu erfahren, wer alles drinhängt
in diesem Ring. Das kann uns monatelange Arbeit ersparen!“
„Zugegeben! Immer vorausgesetzt, daß Siebenhaar die Wahr-
heit sagte. Aber es gibt eine Telefonverbindung von Leipzig
nach Westberlin.“
„Na und?“
„Es wäre doch denkbar, daß O. W. aus Westberlin seinem
Kompagnon in Leipzig eine genaue Personenbeschreibung
durchgegeben hat. Du hast zwar die Größe, auch das blonde
Haar, aber sonst …“
„Der eine legt‛s so aus, der andere so“, sagte Kalle. „Nehmen
wir an, O. W. hat einen bläßlichen Typ avisiert – nun komme
ich …“
Seppel Beck grinste gemein. Kalle war alles andere als bläß-
lich.
„Kennst du den Juwelier Graf? Vielleicht findet er mich blaß!
Hauptsache, die äußeren Merkmale stimmen – und die stim-
men überein.“
Seppel dachte nach. Er kratzte sich das Schläfenhaar, sah
Kalle an, sah auf die Fotografie des Siebenhaar. „Mensch,
Junge“, sagte er schließlich, „du wärst doch nur ein kleiner
Kurier. Meinst du, die lassen sich von so einer Funktionsfigur
in die Karten gucken?“
„Das laß mal meine Sorge sein!“ Kalle war voller Zuversicht.
„Ich werde mich hüten, so trottlig aufzutreten wie dieser Sie-
benhaar.“
„Mag sein – und trotzdem …“ Seppel zögerte immer noch.
„Die Sache ist nicht ungefährlich“, sagte er. „Wir müssen dich
absichern.“
„Das hoff ich“, sagte Kalle, und diesmal war er ganz ernst.
„Du wirst Walter anrufen und wirst auch in Leipzig alles Nöti-
ge in die Wege leiten.“

Der D-Zug hatte die Bummeleien auf der Strecke aufgeholt


und lief pünktlich auf dem Leipziger Hauptbahnhof ein. Türen
wurden aufgestoßen, Leute stiegen aus, schleppten Koffer,
wurden empfangen, umarmt, ein Strom von Menschen bewegte
sich vor zur Sperre.
Paul Lüdecke war als einer der ersten vorausgeeilt. Am Zei-
tungskiosk faßte er Posten und beobachtete, wer alles den Zug
verließ. Siebenhaar war nicht dabei. Aber der dort, der Dunkel-
haarige, Schmale, das war einer der Kriminalisten, die Sieben-
haar abgeführt hatten – und da, in einigem Abstand, kam auch
der zweite, der Blonde, der aussah wie ein Sportsmann!
Pauls Herz begann einen wilden Wirbel zu schlagen. Dieser
Kriminalpolizist steckte in Siebenhaars Trenchcoat! Kein
Zweifel, das war der Trenchcoat, das war der breite gesteppte,
mit Goldblech gefütterte Gürtel!
Warum hatte O. W. einen Neuen einstellen müssen?! Schon
der Name hatte Paul mißfallen: Siebenhaar! So pflaumenweich
wie der ganze Kerl! ,Er sieht so schön harmlos aus‛, hatte O.
W. gemeint, ,genau das, was wir brauchen! Außerdem ist er
sehr formbar!‛ Formbar! Gesungen hatte der Bursche, gesun-
gen wie ein ganzer Knabenchor!
Paul setzte sich in Bewegung. Er mußte Graf warnen, mußte
ihm sagen, daß alles aus war, daß ihm ein Kuckucksei ins Nest
gelegt werden sollte.
Die Telefonzellen waren besetzt. Auf dem Bahnhofsvorplatz
erwischte er ein freies Taxi. Er nannte als Fahrtziel das Juwe-
liergeschäft Graf, verbesserte sich aber schnell: „Drei Häuser
davor.“
Als der Wagen in die Straße einbog, sah Paul schon von wei-
tem, daß vor dem Laden ein anderes Taxi stand. Der Fahrer
schaltete auf „frei“ und fuhr an. Ein Mann im Trenchcoat lief
über den Bürgersteig, betrachtete die Auslagen im hellerleuch-
teten Schaufenster, schlenderte weiter zur Haustür und drückte
auf den Klingelknopf. „Moment mal“, Paul klopfte seinem
Fahrer auf die Schulter, „ich hab‛s mir anders überlegt!“
Der Fahrer fuhr langsamer. Ihm war es einerlei, wohin er den
piekfein angezogenen Ochsentreiber kutschierte. (Der Taxifah-
rer klassifizierte seine Fahrgäste auf die ihm eigene Weise und
zählte dennoch zu einem der höflichsten in ganz Leipzig!) Ihm
fiel auf, daß es im Wagen plötzlich intensiv nach Schweiß roch.
Er kurbelte das Fenster herunter und steckte sich eine Zigarette
an.
So rollten sie fast im Schrittempo am Juweliergeschäft des
Gunnar Graf vorbei. Paul Lüdecke sah, wie der blonde Krimi-
nalist das vornehme alte Haus betrat, und wußte, daß alles, was
er jetzt unternehmen würde, sinnlos war. Gunnar Graf und die
„tolle Lola“ – seine Frau Madeleine – waren nicht mehr zu
retten. Pauls Gedanken bewegten sich wie ein Hamster in der
Trommel. Alles um ihn drehte sich rasend, aber er kam nicht
voran. Der Taxifahrer wurde ungeduldig. „Na, wohin nun,
Meister?“
„Stopp mal!“ Paul hielt den unökonomischen Gedankenkreis-
lauf an. In den Brusttaschen seines Jacketts steckten die schwe-
ren goldenen Einlegesohlen. Das war etwas. Und wenn schon
alles krachen ging, dann hatte er dies, und dann hatte er noch
eine andere Möglichkeit, sich mit Gewinn aus der Affäre zu
ziehen. Er griff in die linke Brusttasche, wo sich in traulicher
Nachbarschaft mit dem Edelmetall die Brieftasche befand,
entnahm letzterer einen größeren Geldschein, reichte ihn dem
Fahrer und nannte als neues Fahrziel eine Wochenendsiedlung
weit außerhalb der Stadt.
Der Juwelier Graf empfing seinen Besucher mit vornehmer
Zurückhaltung. „Sie wünschen?“ fragte er ganz so, als ob er in
seinem Geschäft stünde und einen Kunden bediente.
Kalle hatte beschlossen, forsch aufzutreten. Er musterte den
Juwelier, einen ziemlich klapprigen Endfünfziger im kaffee-
braunen Morgenmantel, mit unverhohlener Neugier. „Ist der
Siegelring mit den Initialen O. W. fertig?“ fragte er.
„Ich habe ihn gerade in Arbeit, kommen Sie mit!“
Das klappte ja, die Parole stimmte. Kalle folgte dem würde-
voll voranschreitenden Hausherrn über den Flur und durfte ins
Wohnzimmer treten.
Chippendale, stellte Kalle fest. Sehr teuer, sehr geschmack-
voll. Altes Porzellan in der Vitrine – China oder Meißen – , wer
konnte das entscheiden auf den ersten Bück!
„Guten Morgen“, sagte eine angenehm dunkle Frauenstimme.
Kalle drehte sich um und sah sich einer Frau gegenüber, deren
verblüffende Ähnlichkeit mit Sophia Loren ihn zu einem er-
staunten und bewundernden „Oh“ veranlaßten. Die in einen
weißen Morgenmantel gehüllte Dame war keineswegs pikiert.
Im Gegenteil, sie lächelte, erhob sich aus ihrem Sessel in der
Ofenecke und reichte ihm die Hand zur Begrüßung. „Ich bin
entzückt“, sagte Kalle und beugte sich über ihre schlanke,
wohlgeformte Hand. Sie raucht zuviel, stellte er fest, die Finger
sind braun! Und sicher trinkt sie auch zuviel! Er sah, daß die
Kognakflasche auf dem Tischchen unter der Stehlampe zu
Dreivierteln geleert war.
„Das ist Herr – na ja, du weißt schon, der Neue von O. W.“,
sagte der Hausherr hinter Kalles Rücken. Das war keine form-
vollendete Vorstellung.
Kalle fühlte sehr wohl, daß der alternde Juwelier ihn deklas-
sieren und so schnell wie möglich aus dem Haus haben wollte.
Aber dies konnte er doch nicht mit ihm tun! „Siebenhaar“,
stellte er sich vor. „Fragen Sie mich nicht, gnädige Frau, wie
ich zu diesem Namen komme! Ich weiß es nicht! Jedenfalls
dürfen Sie froh sein, mich so frisch und munter und vollständig
in allen Teilen“ – er wandte sich auch an den Ehemann – , „ja,
mein Lieber, Sie können froh sein …“
Graf war überfordert. Er wußte mit diesem jungen, energi-
schen, impertinent auftretenden Siebenhaar nichts anzufangen.
Die schmalen Lippen in seinem runzligen Aristokratengesicht
preßten sich noch fester zusammen. Ein Blick von oben herab,
ein verächtliches Naserümpfen. „Mein lieber Freund“, sagte er,
jedes Wort betonend. Kalle kümmerte sich den Teufel daran, ob
dieser Mann ihn auf diskrete Weise rügen wollte oder nicht. Er
blieb bei seinem Vorhaben. Die Dame des Hauses, die minde-
stens fünfundzwanzig Jahre jünger war als ihr Gemahl, schien
so viel Alkohol geschluckt zu haben, daß ihr an Form nichts
mehr gelegen war. Sie sah ihn, einen jungen, kräftigen Kerl,
vor sich, und sie erwartete etwas. Wahrscheinlich etwas, das ihr
Herr Gunnar Graf nicht mehr zu geben imstande war.
Oberleutnant Kaluweit ging aufs Ganze. Er räusperte sich,
warf der Dame einen auffordernden, ja geradezu frechen Blick
zu und sagte, sich langsam wieder zu ihrem Gemahl umwen-
dend: „Der Tod des Handlungsreisenden von Arthur Miller ist
ja bekannt!“ Er lachte unbefangen. „Und so tot wäre ich, und
so tot wäret Ihr auch, meine beiden Hübschen! Da guckt Ihr
dumm aus der Wäsche …“
In der Tat: Nicht nur Gunnar, auch seine jüngere Frau Made-
leine sah etwas verwundert drein.
„Man hatte mich am Wickel! Man soll die Ost-Trapo nicht
unterschätzen! ‛Kommen Sie mal mit ins Dienstabteil!‛“
Gunnar Grafs dunkel umschattete Augen weiteten sich vor
Schreck. „Jaja“, beteuerte Kalle, „man hat heute aus jedem
Abteil einen mitgenommen, es war schlimm! Aber man muß
der Sache gewachsen sein, sehen Sie: So …!“ Er öffnete den
Trenchcoatgürtel, ließ die schweren Enden nach unten fallen,
schlug geschickt den Mantel auseinander, präsentierte sich wie
zu einer Leibesvisitation. „Und dann faßt man sich ans Herz,
an die Brusttasche – reine Reflexbewegung! – , und schon hat
man die Herren abgelenkt. Sie wollen die Brieftasche sehen! –
Ja, und da hat man da zwei Fotos drin. Ich mach mir nicht sehr
viel daraus – aus den Fotos!“ Kalle bemerkte, daß Frau Graf
immer interessierter wurde, „aber diese Fotos, französische
wohlbemerkt, müssen konfisziert werden. Paragraph sowieso,
sowieso – und schon hat man so viel Ärger damit, daß es gar
nicht auffällt, wenn man zum Schluß wutentbrannt mit offenem
Mantel aus dem Dienstabteil stürzt.“
Kalle machte auch das vor. Sophia Loren lachte vor Vergnü-
gen. Ihr weißer Morgenmantel öffnete sich ein wenig. Viel-
leicht war es Absicht.
„Ja“, sagte Kalle, zog den Gürtel mit einem Ruck aus den
Schlaufen und knallte ihn auf den Wohnzimmertisch, „ich bin
zwar neu in Ihrem Kreis, aber ich glaube, einen Kognak habe
ich mir verdient.“
Er zog den Mantel aus, warf ihn auf die Couch, setzte sich
und trennte geschickt die Innennaht des Gürtels auf. Er zog die
weichen, schmiegsamen Goldblechstreifen heraus, stand auf
und präsentierte sie dem Juwelier.
„Sie sind ja ein Held“, sagte die schöne Frau und reichte ihm
leicht schwankend ein reichlich gefülltes Glas.
„Vielen Dank!“ Kalle verbeugte sich, sah ihr tief in die Au-
gen. Dem Hausherrn und Ehemann mißfiel das Benehmen
seiner Frau. Sobald sie getrunken hatte, vergaß sie allzu leicht,
wer sie war. Gunnar Graf räusperte sich. „Dann mal zum Ge-
schäftlichen“, sagte er und klappte seine Brieftasche auf.
„Das hat Zeit bis morgen!“ Kalle tat ganz unbekümmert. Er
nippte mit Kennermiene an dem Kognak.
„Bitte setzen Sie sich doch – und erzählen Sie“, forderte Ma-
deleine ihn auf. „Wie geht‛s O. W.? Wie haben Sie ihn kennen-
gelernt? Ich bin neugierig.“
„Er fährt noch immer Schlangenleder. Ehrlich gesagt, mir
war‛s zu kühl, ich bevorzuge die Haut vollblütiger Geschöpfe!“
Er lächelte ihr zu, trank seinen Kognak aus und verabschiedete
sich. Der Juwelier atmete auf, seine Frau verzog enttäuscht das
Gesicht. „Wir können ihn doch nicht einfach so gehen lassen“,
warf sie ihm vor. Und zu Kalle gewandt: ,,Wissen Sie denn
überhaupt, wo Sie heute nacht unterkommen? Haben Sie ein
Hotelzimmer?“
„Ja, gnädige Frau, vielen Dank!“
„Er könnte doch bei uns schlafen! Wir haben Platz genug,
Gunnar! Ich verstehe dich nicht!“
„Madeleine …“, der Hausherr zog tadelnd die Brauen hoch,
„Herr Siebenhaar zieht es vor, im Hotel zu übernachten. Du
hast es eben gehört. Wir können ihm doch nicht vorschreiben
…“
„ …wirklich, sehr liebenswürdig Ihr Angebot“, sagte Kalle
und schaute auf die Uhr, „aber ich habe noch eine wichtige
Verabredung. Mit O. W.‛s Blechjob allein schaff ich nicht das,
was ich mir vorgenommen habe – Sie verstehen …“
Der mürrische, wortkarge Juwelier brachte ihn die Treppe
hinunter und ließ ihn aus dem Haus. „Morgen vormittag um
zehn, wenn‛s recht ist“, sagte Kalle.
„Bist du wahnsinnig! Wie kannst du diesen Kerl einladen, bei
uns zu übernachten!“ Wieder in seiner Wohnung, begann Gun-
nar Graf erregt hin- und herzulaufen und heftig zu schimpfen.
„Wir haben mit diesem Menschen nichts zu tun! Verstehst du!
Keine Kontakte! Überhaupt: Ich muß O. W. anrufen! Er hat uns
einen blassen, schüchternen jungen Mann angekündigt, sehr
formbar – einen, den wir gut in der Hand haben, weil er hüben
und drüben Dreck am Stecken hat! Das Letztere mag stimmen,
aber blaß, schüchtern und formbar? Da stimmt was nicht!“
Graf lief zum Telefon. Seine Frau saß lässig auf der Couch,
hatte die Beine übereinandergeschlagen und sah ihm belustigt
zu. Als er den Hörer abhob, sägte sie: „Ich habe das Gespräch
nach Westberlin bereits angemeldet!“
„Was hast du?“ Er drehte sich um, sah sie verblüfft an.
„Du bist und bleibst ein Schaf“, sagte sie und trank von ihrem
Kognak. „Was meinst du denn, warum ich ihn hierbehalten
wollte? Um ihn besser unter Kontrolle zu haben -~ aber du, du
denkst ja nur, ich …“ Das Telefon klingelte. Mitten im Satz
sprang sie auf und nahm ihrem Mann den Hörer aus der Hand.
– O. W. war am Apparat. Man nannte die Dinge nicht beim
Namen, und dennoch verstand man sich. Als das Gespräch
beendet war, standen die beiden Grafs dicht nebeneinander am
Telefon und sahen sich fragend an. Gunnar hatte mitgehört, er
zweifelte noch immer am meisten. „Ist er‛s nun oder ist er‛s
nicht? Das Signalement stimmt – nur sein Auftreten! Trat der
wie ein armer Schlucker auf? War er nur aufs Geld scharf? Und
überhaupt …“
„In drei Tagen kommt O. W.! So lange müssen wir diesen
Siebenhaar festhalten. Und das überläßt du mir!“ Sie faßte
ihren Gunnar an der Nase, dann zog sie ihn am Ohr. „Daß du
mir nicht wieder dazwischen funkst mit deiner blöden Eifer-
sucht! Du überläßt ihn mir – hast du verstanden?“
„Ja doch, ja doch!“ Er legte seine Arme um sie. „Nur trink
nicht soviel!“
„Ich habe noch nichts mit den Nieren! Also laß mich trinken
– ein kleines Vergnügen braucht der Mensch, nicht wahr?“
Es war ihm äußerst peinlich, wenn sie ihn an seine Krankhei-
ten und sein Alter erinnerte. Er straffte sich nur, reckte sich in
den schmalen Schultern und begann, während sie sich den Rest
Kognak einschenkte, im Zimmer auf und ab zu wandern. „Mir
ist nicht ganz wohl bei dieser Sache – beziehe das bitte nicht
auf dich! – Ich meine nur – überhaupt …“
Sie saß wieder auf der Couch und beobachtete ihn. Überlegen
und distanziert. „Das eigentliche Problem liegt ganz woan-
ders“, sagte sie und vermerkte voller Genugtuung, daß er ge-
nauso reagierte, wie sie es erwartet hatte: Er blieb stehen, sah
sie verwirrt an und mühte sich vergeblich zu erfassen, was sie
wohl meinte. „Paul ist im selben Zug mit ihm gefahren“, sagte
sie über den Rand des Glases hinweg. „Er müßte längst hier
sein. Er ist etwas blöd, aber zuverlässig. Zumindest war er es –
bis heute jedenfalls …“
„Mein Gott, du willst doch nicht etwa andeuten, daß unser
guter Gorilla mit diesem Siebenhaar …“, der Juwelier konnte
vor Aufregung nicht weitersprechen.
Madeleine stand auf und holte sich aus dem Schrank eine
neue Flasche. „Nimm eine Tablette und geh schlafen, Gunnar“,
riet sie ihrem Mann im Ton einer alten erfahrenen Oberschwe-
ster, „Einen Gallen- oder Nierenanfall können wir uns im Au-
genblick nicht leisten. Ich bleibe noch auf und warte auf Paul.“

Paul Lüdecke hatte den Taxifahrer nach Hause geschickt und


war die letzten zweihundert Meter zu Fuß gegangen. Es war
eine dunkle, sternklare Nacht. Paul blieb vor einem Grundstück
stehen, das von hohen Schilfmatten umgeben war. Er kletterte
über das Gartentor, lief den Plattenweg entlang, umkreiste wie
ein Fuchs, der einen Durchschlupf in den Hühnerstall sucht,
das ziemlich große, massiv gebaute Wochenendhaus, rüttelte an
der Klinke, faßte dann einen der geschlossenen Fensterläden,
zerrte daran mit aller Kraft, warf sich zwei-, dreimal wuchtig
zurück – ein Knacken und Splittern, die Fensterläden flogen
auf und schlugen klatschend links und rechts gegen die Haus-
wand.
Paul störte sich nicht weiter um den Lärm. Er zog eine seiner
goldenen Einlegesohlen aus der Brusttasche, schlug ein Loch
in die Scheibe, wirbelte den Riegel auf, stieg ein, schloß die
Läden, knipste Licht an und begann in Kästen und Schränken
zu wühlen. Er fand nicht, was er suchte, geriet in Schweiß,
warf fluchend die Betten durcheinander, schlitzte die Polster
der Sessel auf, zerrte den Teppich beiseite, untersuchte die
Dielenbretter, klopfte die Wände ab. Ohne Erfolg. In Hemds-
ärmeln stand er inmitten der Verwüstung, ein behaarter Koloß,
der sich schnaufend vor Wut umsah. Irgendwo mußten sie doch
das Gold versteckt haben! Das zu Schmuck verarbeitete Gold,
die massiven Ringe und Armreifen, die schweren Ketten! Aber
wo?
Er sah sich um, hilflos und verzweifelt. Morgen war das Gold
nur noch einen Pfifferling wert. Der falsche Siebenhaar saß bei
Grafs in der Wohnung – die waren sowieso verloren, denen
half keiner mehr! – aber ihm, wenn er den Schmuck fand, ihm
konnte er noch nützlich sein!
Die Gerätelaube, durchzuckte ihn ein Gedanke. Er löschte
das Licht, stieg aus dem Fenster. Mit voller Wucht warf er
seine zwei Zentner gegen die Tür des Schuppens. Das Schloß
brach gleich beim ersten Ansturm aus der Verschraubung –
doch als es nach Stunden zu dämmern begann und das Innere
des Wochenendhauses und das Innere des Geräteschuppens
aussahen, als sei ein Tornado hindurchgefegt, hatte Paul Lü-
decke noch immer nichts gefunden, nicht einen einzigen Ring.
Er starrte sich in einem heil gebliebenen Spiegel an, knirschte
mit den Zähnen. Dann spuckte er auf die Trümmer und begann,
sein Äußeres einigermaßen herzurichten. Was ihm jetzt blieb,
war nur noch die Flucht! So schnell wie möglich nach Berlin,
nach Westberlin zu O. W.

Oberleutnant Kaluweit hatte ein Zimmer im Hotel „Zum Lö-


wen“ bestellt. Er ließ sich um sieben Uhr wecken, begann den
Tag wie immer mit zehn Minuten intensivem Krafttraining,
ging ins Bad, drehte die Dusche auf, und unter den sprühenden,
dampfenden Strahlen sich wohlig reckend und drehend, über-
legte er, wie die Sache heute wohl weiter laufen würde. Ange-
fangen hatte sie ganz gut. In der Nacht noch hatte er mit Seppel
Beck hier im Hotelzimmer gesprochen. Seppel hatte es zu-
nächst sehr spannend gemacht. Klar, Kalle konnte sich denken,
wie Walter Reinhardt reagierte, als er von ihrer im D-Zug
gefaßten Entscheidung erfuhr. Ein Mordsdonnerwetter ließ er
vom Stapel, und die Malerbürste hat er in die Ecke geworfen,
aber dann, nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, gab er
seinen Segen. ,,Ich heiße also Hans Siebenhaar“, murmelte
Kalle vergnügt vor sich hin und wiederholte alle Daten und
Fakten, die er als Siebenhaar wissen mußte. Viel mehr war im
Augenblick nicht zu tun. Er hatte sich ein Programm zurecht-
gelegt, wie er bei Madeleine und Gunnar Graf vorgehen wollte,
aber dieses Programm trug mehr hypothetischen Charakter. Er
war gezwungen, sich auf die Gegenseite einzustellen, mußte
sich also weitgehend auf seine Intuition verlassen. Seppel Beck
und zwei Genossen der Leipziger Bezirksbehörde schirmten
ihn ab.
Kalle hielt das für überflüssig. Was war von diesen sich vor-
nehm gebärdenden Spießbürgern schon zu erwarten? Gefähr-
lich wurden die nicht! Aber wie es so ist: Es gibt Vorschriften
und Bestimmungen, die beachtet werden müssen.
Nach Beendigung seiner Morgentoilette fuhr Kalle mit dem
Lift ins Restaurant hinunter, frühstückte ausgiebig, telefonierte
mit Seppel, ließ sich die Daumen drücken und war pünktlich
um zehn Uhr vor dem Juweliergeschäft.
Die Ladenglocke hörte sich an wie ein gedämpftes indisches
Glockenspiel. „Guten Morgen“, sagte Kalle und setzte sein
strahlendstes Lächeln auf. Madeleine kam um den Ladentisch
herum und begrüßte ihn nicht weniger strahlend. Sie war allein
und trug ein tiefausgeschnittenes resedafarbenes Kleid. Ein
wenig zu tief ausgeschnitten fast, Kalle glaubte wieder, Sophia
Loren sei auf direktem Wege von Rom nach Leipzig geeilt, um
sich ihm in all ihrer sündigen Schönheit zu präsentieren.
Doch diese Gedanken mal beiseite geschoben: Seine Rech-
nung schien, aufzugehen! Madeleine war der Schlüssel, an sie
mußte er sich halten. Sie war eine Frau, die noch etwas vom
Leben erwartete. Ihr Mann besaß viel Geld, hatte aber sonst
nicht viel zu bieten. Kein Wunder also, daß sie sich an jüngere
hielt.
Kalle beschloß, sich gleich kräftig ins Zeug zu legen. „Sie
sind so schön“, sagte er und musterte sie dabei eindringlich,
frech und ungeniert, „eine solche Schönheit sollte man verbie-
ten, gnädige Frau! Sie richtet nur Unheil an!“ Und im gleichen
Atemzuge: „Wann haben Sie Zeit für mich? Lassen Sie sich
etwas einfallen. Heute abend! Ich muß mit Ihnen sprechen, ich
muß allein sein mit Ihnen!“
Natürlich fiel sie ihm nicht gleich um den Hals, aber offen-
sichtlich tat es ihr wohl, so gefordert zu werden. Sie überlegte,
sah ihn ihrerseits prüfend an, wandte sich lächelnd ab und
entnahm der Ladenkasse ein weißes Briefkuvert. „Ihr Geld“,
sagte sie.
Er steckte es, ohne hinzusehen, in die Tasche, das war ihm
jetzt nebensächlich, er wartete auf eine Antwort.
„Warum haben Sie mein Angebot nicht angenommen?“ fragte
sie mit leichtern Vorwürfe. „Wir hätten uns sehr gut unterhalten
können. Mein Mann fühlte sich nicht, er ging zu Bett – ich saß
ganz allein»
„Unmöglich“, sagte er. „Sie werden getrennte Schlafzimmer
haben – aber trotzdem: Es wäre unmöglich gewesen.“
„Und mit wem waren Sie mitten in der Nacht so dringend
verabredet?“
„Ein häßlicher Mensch – den ich, ohne zu zögern, hätte war-
ten lassen, wenn … na ja!“ Er winkte ab.
„Ein Mann?“
„Ja. Ich bin nicht nur in Sachen Goldblech nach Leipzig ge-
kommen. O. W. nimmt das an. Er hält mich für einen beschei-
denen Jüngling, der dankbar ist für den kleinsten Job und die
paar Kröten, die dabei herausspringen.“
Sie zog verwundert die Brauen hoch. „Aha! Sie sind mal so
und mal so! Für sehr bescheiden halte ich Sie nicht …“
„Reizt Sie das nicht?“
Sie legte den Kopf schief und zog die Nase kraus, als wüßte
sie es nicht recht.
Vor dem Schaufenster standen einige Kauflustige. „Sie ent-
schuldigen“, sagte Kalle zu Madeleine. Seelenruhig ging er zur
Ladentür, schloß ab und drehte das Schild mit den Ladenöff-
nungszeiten herum, so daß die Rückseite nach außen kam, und
nun „Vorübergehend geschlossen!“ anzeigte.
Daß er ihrer Kundschaft die Tür vor der Nase zuschloß, ließ
Madeleine nicht gerade in Entzückensrufe ausbrechen, doch
schien ihr auch diese Frechheit zu imponieren. Jedenfalls hob
sie Kalles Maßnahme nicht auf. „Gehen Sie immer so ran?“
fragte sie.
„Nur wenn es sich lohnt!“
Sie sah ihn lange prüfend an, dann sagte sie: „Kommen Sie“,
und ohne eine weitere Erklärung ging sie ihm voran durch das
Hinterzimmer, an das sich die Goldschmiedewerkstatt an-
schloß.

Eine Viertelstunde später saß Oberleutnant Kaluweit alias


Hans Siebenhaar in einem dunkelroten Mercedes ziemlich
neuen Baujahrs und ließ sich einem unbekannten Ziel entge-
gensteuern. „Sie werden schon sehen, wo wir landen“, hatte die
dunkelhaarige Schöne geheimnisvoll gesagt.
Sie fuhr sehr sicher durch den Stadtverkehr. Hoffentlich be-
merkt sie nicht, daß wir verfolgt werden, dachte Kalle. Wenn er
sich verstohlen umsah, fiel ihm der graue Wartburg Seppel
Becks auf. So etwas Dummes, fluchte er im stillen, wie unge-
schickt er das macht! Sie hat ihn doch ständig im Rückspiegel!
Als er sich wieder umsah, war der Wartburg verschwunden.
Gott sei Dank! Kalle atmete auf. Wozu diese Absicherung? Er
saß neben keinem Gewaltverbrecher, er saß neben einer attrak-
tiven Frau. Und von der war wohl nichts zu befürchten, außer –
ja, ein sehr unangenehmer Gedanke verdrängte allmählich alle
anderen: Die Frau, die er sozusagen im Sturm erobert hatte, die
ihren kränkelnden alten Ehemann unter einem Vorwand von
seinem Schmerzenslager weg hinter den Ladentisch zitiert und
sich heimlich mit ihm ins Auto gesetzt hatte, diese Frau erwar-
tete etwas von ihm: ein Erlebnis, ein Abenteuer! Aber zum
Teufel, darauf durfte er sich nicht einlassen! Er, Oberleutnant
Kaluweit, hatte einen einfachen Kriminalfall zu klären: Auf-
decken eines Goldschieberringes!
Madeleine Graf, im tiefausgeschnittenen resedafarbenen
Kleid, sprach nicht mit ihm. Wer weiß, wo sie mit ihren Ge-
danken schon war? Das Verkehrsgewühl der Innenstadt hatten
sie hinter sich, die Ausfallstraße nach dem Norden war frei.
Aber die Dame sprach immer noch nicht mit ihm. Ihr Blick war
träumerisch, das schien Kalle nicht gerade sehr angenehm:
Eine träumerische Dame am Steuer eines mit hundert Stunden-
kilometern dahinsausenden Wagens! – Sie sah ihn auch noch
nicht an, als sich ihre Hand vom Steuer löste und nach seiner
tastete. Himmel und Hölle, Kalle sah die Kurve! Dennoch
erwiderte er den Druck ihrer Hand.
Wie konnte er sich aus der Affäre ziehen? Er war aufs Ganze
gegangen, aber doch nur in der Annahme, daß bestenfalls der
Besuch einer Bar mit Tanz und viel Alkohol, gelösten Zungen,
Vertrauen, Geständnissen herausguckte. – Was er ihr sagen
wollte, stand fest. Seine Siebenhaar-Legende war überzeugend
gewesen, sie war es auch noch.
Wieder eine Kurve, und noch immer hielten sie ihre Hände
ineinander!
Sie hat‛s geschafft! Sie ist gut! Sie könnte die Wartburg-
Ralley mitfahren! – Kalle schenkte ihr ein bewunderndes Lä-
cheln. –
Das Landschaftsbild wurde aufgelockert. Felder und Wiesen,
einige Industriebetriebe. Madeleine Graf drückte aufs Gaspe-
dal! Einhundertzehn, einhundertfünfundzwanzig. Sie hielt das
Lenkrad mit beiden Händen. Dübener Heide, Wochenendhäu-
ser. Tempo runter, rechts einbiegen, nochmals, nochmals ein-
biegen – Halt vor einem mit Schilfmatten umschirmten Grund-
stück.
„Da wären wir“, sagte sie und stieg aus. Oberleutnant Kalu-
weit sah hinter Büschen versteckt ein todschickes Wochenend-
haus.
Madeleine hakte ihn unter und sah ihm tief in die Augen.
„Na“, sagte sie aufmunternd.
Weeß Knöppchen, dachte Kalle auf sächsisch, ich hab mich
da auf was eingelassen! Weeß Knöppchen, wie ich da jemals
wieder heil rauskommen soll!
Als sie den Kalkplattenweg zum Haus Arm in Arm bis zur
Hälfte zurückgelegt hatten, hörte Kalle auf der Straße Moto-
rengeräusch.
Das war ein Zweitakter! Kein Trabant – ein Wartburg! So
unbefangen wie möglich schaute er zurück – er sah einen
grauen Wartburg. Und er sah einen dunkelhaarigen Herrn am
Steuer – Seppel Beck! Also war er doch besser, als er gedacht
hatte! Er hatte die Spur nicht verloren. Seppel war ein guter
Verfolger!
Kalle nahm alles zurück. Jetzt war er froh, daß Seppel seine
Fährte gehalten hatte und irgendwo in der Nähe in Bereitschaft
stand.
Madeleine hatte den Wartburg nicht wahrgenommen, drückte
seinen Arm, daß es fast schmerzte, und als sie hinter der Jas-
minhecke standen, fiel sie ihm um den Hals und küßte ihn so
vehement, daß ihm der Atem ausblieb. „Ich habe gewartet auf
dich“, flüsterte sie, „du mußt bei mir bleiben, immer bei mir
bleiben, hörst du!“
„Ja“, flüsterte Kalle, „ja!“ – Herrgottsakrament, jetzt mußte
ihm etwas einfallen! Aber was? Er konnte doch nicht einen von
seinen Gefühlen überwältigten Mann markieren – oder den
Schluckauf bekommen! Das wirkte albern, das war Schmieren-
theater! Er verwünschte den Augenblick, in dem er beschlossen
hatte, forsch wie Casanova an diese Dame heranzugehen. Das
hatte er nun davon!
„Hier sind wir ungestört“, sagte Madeleine und zog ihn zum
Haus. „Da, was ist das“, sagte Kalle und zeigte auf die Glas-
scherben unter dem Fenster.
Madeleine blieb stehen. Sie war wie verwandelt. Kein biß-
chen Liebe mehr. Der Anblick dieser paar Scherben hatte ihre
zärtlichen Gefühle ausgelöscht. Sie kümmerte sich nicht mehr
um Kalle, rannte los, klappte die Läden auf, die nur angelehnt
und nicht mehr von innen zu verschließen waren und starrte
fassungslos durch das zerbrochene Fenster auf das Tohuwabo-
hu im Haus. „So was kommt vor“, versuchte Kalle sie zu trö-
sten. „Am besten, wir verständigen die Polizei.“ Sie warf ihm
nur einen verächtlichen Blick zu. Von der Polizei hielt sie nicht
viel.
„Weißt du“, sagte Kalle, als sie die Verwüstungen in Haus
und Schuppen besichtigt hatten, „das sieht so aus, als ob einer
was gesucht hat. Gestohlen wurde nichts, nur alles durch-
wühlt.“ Er steckte die Hände in die Manteltaschen, zog die
Augenbrauen zusammen und dachte nach; er gab sich das
bedeutende Aussehen eines Filmdetektivs. „Irgend jemand hat
gehofft, hier etwas Besonderes zu finden, und was das war“ –
er sah Madeleine an, die mit schmal gewordenen Lippen und
verbissener Miene vor ihm stand – , „nun, das kannst du dir an
drei Fingern abzählen. Ich jedenfalls würde die Sache nicht auf
die leichte Schulter nehmen. Derjenige, welcher, muß aus
euren engsten Kreisen kommen. Einer, der bestens Bescheid
weiß. Wenn du mir die Sache übertragen wolltest – ich garan-
tiere dir, daß ich ihn finde.“
Mit ihrer verwunderten, fast erschrockenen Reaktion hatte er
gerechnet. „Du? Du willst ihn finden?“
„Ich habe schon ganz andere Sachen übernommen und bin
damit fertig geworden. Es ist jetzt bloß nicht die Zeit, darüber
zu plauschen.“
„Du bist verrückt“, sagte sie und lächelte gezwungen. „Hier
draußen kann keiner was Besonderes vermuten! Hier gibt‛s
auch nichts!“ Sie schaute noch einmal über die Trümmerstätte
und sagte fest und bestimmt: „Das ist reinster Vandalismus!
Nichts weiter! Ein paar Halbstarke, die sich austoben mußten.
Ich werde Leute rausschicken, die das aufräumen und die
Fensterläden sichern – mit eisernen Stangen!“
„Bitte“, sagte Kalle gleichmütig und hob die Schultern. Auf
der Rückfahrt sprach die schöne Frau kein Wort mit ihm. Kalle
drängte sich nicht auf, er hätte nur zu gern gewußt, womit sie
sich in Gedanken beschäftigte. Mit Liebesabenteuern bestimmt
nicht. Das war ihm klar.
Vor seinem Hotel setzte sie ihn ab. „Es tut mir leid“, ent-
schuldigte sie sich mit einem schwachen Lächeln, „aber das hat
mir restlos die Stimmung verdorben. Ruf mich doch an.“
Er blickte spöttisch, ein bißchen von oben herab. „Vielleicht“,
sagte er, nickte ihr zu und ging.
Von der Hotelhalle aus rief er Seppel an. Es war dreizehn
Uhr, eine der festgelegten Zeiten zu eventuell nötiger Kontakt-
aufnahme. Seppel kam zum Brühl. Kalle stieg zu ihm in den
Wagen. Sie fuhren ein Stück raus ins Rosenthal, fanden einen
einsamen Parkplatz. Die Septembersonne schien, aber sie hatte
keine rechte Kraft mehr. Der Himmel hatte schon die durch-
sichtige Bläue des Herbstes. Es war kühl. Der Polarluftein-
bruch trieb die Leute von den Bänken.
„Setzen wir uns“, sagte Seppel, „und mach nicht so ein mie-
sepetriges Gesicht! Noch ist Polen nicht verloren! Was ver-
langst du denn? Soll sie dir am ersten Tag gleich alles erzäh-
len? Du bist rangeklotzt wie ein Stier – ich hätt‛s anders ge-
macht, aber schön …“
„Ich weiß“, sagte Kalle, „du hättest alles anders gemacht! Du
überlegst jeden Schritt dreimal – bevor du einen Fuß vor den
anderen setzt! Möchte mal wissen, was du mit dieser Frau
angefangen hättest!“
Sie hatten sich eine Parkbank ausgesucht, die in der vollen
Mittagssonne lag. Auf dem Weg liefen Schulkinder vorbei.
Schüler der ersten Klassen, die nur fünf Stunden hatten. Sie
jagten sich, spielten Ball, warfen mit Steinen nach den ersten
Kastanien.
„Das Ding ist schiefgelaufen“, sagte Kalle. „Ich wollte groß
rauskommen, als Verehrer – na ja, und so weiter und so weiter!
Daß die Ehe mit ihrem alten Gunnar nicht mehr stimmt, das
sah ich sofort, deshalb bin ich eingestiegen! Sie hat mich ani-
miert. Aber ich sage dir, das ist alles Heuchelei!“
„Du bist enttäuscht!“
„Quatsch!“ Kalle fuhr hoch.
„Mensch, kannst du dir vorstellen, in welcher Situation ich
mich befand? Dieser Einbruch im Wochenendhaus, das war
meine Rettung!“
„Du rufst sie an“, sagte Seppel sehr ruhig und sehr sachlich.
„Ja, du mußt dich wieder mit ihr treffen“, fuhr er fort. „Was du
mir im Auto alles erzählt hast, Junge, ja, da kann was dran sein:
Bitte schön, sie mag dir mißtrauen! Soll sie versuchen, dich
aufs Glatteis zu führen oder sonstwohin – du weißt doch, wor-
an du bist, und du weißt doch, was wir wollen.“
„Ja, das weiß ich! Aber ob sie mir noch was sagt …“
„Was ist los?“ fragte Seppel. Meldest du Bankrott an, oder
was ist? Nee, mein Lieber, aussteigen gibt‛s nicht mehr! Nicht
zu diesem Zeitpunkt! Kennst du denn die Mentalität dieser
Frau? Sie hat einen alten reichen Zausel zum Mann, sie wird
nicht zum erstenmal eine Abwechslung gesucht haben – daß
ich ausgerechnet dir eine Lektion über die Psyche verwöhnter
Frauen halten muß!“ Seppel rang in komischer Verzweiflung
die Hände. Kalle rang auch die Hände, aber seine Verzweiflung
war weniger komisch. Ihm war es ziemlich ernst, als er sagte:
„Na gut! Wenn du unbedingt sehen willst, wie ich sang- und
klanglos untergehe …! Ich rufe sie an, und ich werde mich mit
ihr treffen.“
Seppel Beck fing einen Ball auf, den fußballspielende Jungen
in seine Richtung geschossen hatten. „Hallo“, rief er und kickte
ihn zurück. „Was seid ihr für Schlumpschützen! Nicht noch
mal solchen Fehlpaß!“

Über Mittag blieb das Juweliergeschäft geschlossen. Gunnar


Graf saß in der Werkstatt an seinem Arbeitstisch und setzte ein
schweres goldenes Gliederarmband zusammen. Hunger hatte er
nicht. Was Madeleine ihm berichtet hatte, war ihm auf den
Magen geschlagen. Er arbeitete, um sich abzulenken bezie-
hungsweise durch Konzentration auf die Arbeit die nervöse
Unruhe einzudämmen, die ihn in letzter Zeit immer häufiger
befiel. Überall witterte er Gefahr, fühlte sich auf Schritt und
Tritt bedroht. Schon seit langem wagte er es nicht mehr, zur
Staatlichen Münze zu fahren. Madeleine verkaufte den Gold-
schmuck und kassierte die Prämien; er war sich seiner nicht
sicher.
Das Alter und das aufreibende Leben machten sich bemerk-
bar. Und nun gar dieser Schock! „Paul ein Verräter“, wieder-
holte er zum drittenmal. „Unfaßbar! Aber du hast recht, Made-
leine: Wer sonst wußte davon, daß wir draußen einiges depo-
niert haben.“
„Er hat das Versteck nicht gefunden.“ Madeleine saß auf dem
Arbeitstisch, hatte die Beine übereinandergeschlagen und
rauchte gierig eine Zigarette.
„Nicht gefunden! Ein schwacher Trost!“ Gunnar warf ihr ei-
nen tadelnden Blick zu. Seine langen schlanken Hände hielten
das in der blassen Septembersonne glänzende weißgoldene
Armband. Es war bewundernswert, wie er mit diesen zitternden
Händen die feinen Scharniere einzog und befestigte. „Wenn
nicht mal mehr auf Paul Verlaß ist – das ist wie ein Menete-
kel!“
„Menetekel! Menetekel!“ fauchte Madeleine ihn wütend an.
Vielleicht siehst du schon die Flammenschrift wie dieser
Dingsda, dieser komische König, na, wie heißt er gleich – ,und
noch in selbiger Nacht!‛ – du weißt, wen ich meine …“
„Nebukadnezar“, half ihr Gunnar aus. „Dein Vergleich ehrt
mich, mein Kind! Aber ich bin nicht so groß wie Nebukadne-
zar, und ich verlache das Menetekel nicht, wie er es getan hat!“
Er warf das fast fertige Armband auf den Tisch zwischen die
Zangen, Pinzetten und Stichel, besann sich auf seine Mannes-
würde und erhob sich. Sehr straff, sehr gefaßt stand er vor
seiner auf dem Tisch sitzenden, Zigarettenrauch ausblasenden
Frau. Sie hätte gut seine Tochter sein können. Eine bildschöne,
aufregende Tochter. Das resedafarbene Kleid hatte sich über
die Knie geschoben – er sah es sehr wohl, er sah ihre schön
geformten Beine, sah den tiefen Ausschnitt …, und ihn über-
kam das Gefühl der Schwäche und Hilflosigkeit. Ja, sie war
seine Frau, aber wenn er sie behalten wollte (für den Rest
seines Lebens), dann mußte er diese Verhältnisse hier ändern.
Er durfte sich nicht mehr aufregen, keine Angst mehr, keine
Nervosität! Ruhe und Ausgeglichenheit, das war es, was er
brauchte.
„Ich hebe unser Konto ab. Du fährst morgen zur Staatlichen
Münze und setzt das um, was wir draußen deponiert haben!“ Er
gab seine Befehle wie ein Feldherr vor der Schlacht. „Wir
brechen unsere Zelte ab, sind morgen nacht in Berlin, bei O.W.
in Westberlin.“ So weit hatte er sich noch in der Gewalt, doch
nun brach es aus ihm heraus. Er zitterte am ganzen Körper, sein
faltiges Gesicht verzerrte sich. „Ich habe es satt“, schrie er, „ich
will nicht mehr, ich kann nicht mehr! Wir haben genug! Das
Westkonto ernährt uns, wir haben genug rübergeschafft! Was
wollen wir hier noch! – Paul ist abtrünnig geworden, er verrät
uns! Das Menetekel!“
Madeleine warf die Zigarette auf den Boden, sprang vom
Tisch, trat die Zigarette aus, duckte sich und krallte wie ein
Raubtier die Hände. „Reiß dich zusammen! Mach mich nicht
auch noch verrückt! Was bist du denn schon? Ein alter Trottel,
ein Waschlappen, ein Hasenfuß!“
Auch in der Werkstatt gab es ein Schränkchen, in dem Ko-
gnak stand. Sie holte sich die Flasche, goß ein und trank. Der
Juwelier stand starr wie ein vertrockneter Weihnachtsbaum.
„Dreh doch nicht durch“, sagte Madeleine, nachdem Kognak
milder gestimmt. „Hals über Kopf ist nie gut!“ Sie trank noch
ein Glas. „Paul ist der Versuchung erlegen.
Zweitausend Gramm Gold hatte er bei sich. Er hoffte auf un-
sere Reserve im Wochenendhaus. Er ist schwach geworden.
Das ist alles.“
Gunnar trank auch ein Glas. Er wurde unnatürlich ruhig. Er
brachte es sogar fertig zu lächeln. „Was hätte Paul mit all dem
Gold und dem Schmuck anfangen sollen?“ fragte er sanft. „Zur
Staatlichen Münze kann er‛s nie bringen, da fehlen ihm die
Quittungen. Und nur durch die Aufkaufprämie wird die Sache
lukrativ. Das Zeug zurück nach Westberlin bringen? Das hieße
Eulen nach Athen tragen. Was verdient er schon? Nichts! Gar
nichts! Er riskiert nur etwas. Glatter Nonsens! Nein, mein
Kind“, Gunnar Graf zog seinen weißen Kittel aus und warf ihn
über den Stuhl, „der Fall liegt anders. Von allein wäre Paul nie
darauf gekommen, da hängt dieser Siebenhaar mit drin. Dieser
Kerl ist ein Filou. Ohne ihn wäre Paul nie auf diese Gedanken
gekommen – der Siebenhaar …“
„Das ist doch dummes Zeug!“ Madeleine warf voller Wut ihr
Kognakglas in die Ecke. Es klirrte, die Scherben spritzten
durch die Werkstatt. „Aus dir spricht wieder mal die Eifersucht
– und macht dich blind! Wenn Paul mit Siebenhaar unter einer
Decke steckte – warum hat sich Siebenhaar dann bei uns einge-
führt? Das wäre doch blöd! Er kann sich nichts erhoffen, er
wäre verloren! Ich will dir sagen, was dieser Siebenhaar für ein
Mann ist: ein Großsprecher, ein Angeber, mit allen Wassern
gewaschen – so denkt er jedenfalls. – Ein Würstchen ist dieser
Siebenhaar, ein ganz kleines Würstchen!“
Das Telefon klingelte. Madeleine stand ihm am nächsten,
aber diesmal war Gunnar schneller. Er fühlte, daß die Ent-
scheidung bevorstand, und wenigstens da wollte er beweisen,
daß er ein Mann war. Er nahm den Hörer ab und meldete sich.
„Hier Paul“, hörte er eine rauhe Stimme, „Gunnar, hörst du,
Gunnar, bist du‛s?“
Der Juwelier nahm den Hörer vom Ohr, schaute Madeleine
an, die neben ihm stand und mitgehört hatte. Sie schauten sich
an, schüttelten verwundert den Kopf. Wenn das Paul war – und
der Stimme nach war er es – schien er nicht normal, wenigstens
nicht ganz nüchtern zu sein.
„Paul, hör mal zu“, sagte der Juwelier, und sein linkes Au-
genlid begann zu zucken, „von wo sprichst du denn? Wir haben
dich vermißt, nun pack mal aus, aber schnell! Was ist passiert?“
„Gunnar – seid ihr allein, oder ist die Polizei da?“ fragte
Pauls rauhe Stimme.
Madeleine entriß ihrem Mann den Telefonhörer. „Wenn du
besoffen bist, Paul, dann ruf uns noch mal an – was soll das
dumme Gerede!“
„Madeleine“, Paul schnaufte, und für eine ganze Weile war
nur sein Schnaufen zu hören, „Madeleine, – der Siebenhaar, der
gekommen ist, das ist ein falscher! Das ist einer von der Kripo!
Den richtigen Siebenhaar haben sie im Zug weggefangen! Ich
wollte euch warnen, aber es war zu spät!“
Madeleine hatte richtig verstanden. Auch Gunnar hatte richtig
verstanden. Sie sahen sich an, waren beide sehr blaß. Madelei-
ne hielt den Hörer mit abgespreiztem Arm. Pauls Stimme quäk-
te aus der Membrane.
„Einer von der Kripo.“ Gunnar stöhnte. „Ich hab‛s geahnt!
Ich hatte es im Gefühl! Ich sagte dir immer …“
„Hör auf zu flennen“, unterbrach ihn Madeleine hart und bru-
tal. Sie nahm den Hörer ans Ohr. „Paul“, schrie sie in den
Apparat, „du bist ein Riesenrindvieh! Warum rufst du erst jetzt
an? Wir lassen dich hochgehen wie einen Luftballon, du Ka-
naille! Bist du in Leipzig?“
„Ja“, kam das quäkige Echo. „Ich will nicht zu euch kom-
men, ihr werdet beobachtet. Aber wenn Ihr die Verfolger ab-
schüttelt – ich würde sagen – ganz simpel. In Auerbachs Kel-
ler! Ich warte auf euch!“

Der Juwelier Graf war bekannt in Auerbachs Keller. Er be-


kam einen Separattisch – selbstredend! Sie saßen mit dem
grobschlächtigen, elegant gekleideten Paul Lüdecke zusam-
men, aßen Wildschweinbraten und Fasan und dachten, sie
hätten durch geschickte Manöver jeden Verfolger abgeschüttelt.
In dem jungen langhaarigen, lederbejackten Mann am Neben-
tisch, der saure Flecke aß, hätten sie nie einen Kriminalisten
vermutet. Sie unterhielten sich ziemlich ungeniert, dabei aber
doch so leise, daß Leutnant Schröder von der Bezirksinspekti-
on Leipzig kein Wort verstehen konnte.
„Ich wollte euch anrufen“, sagte Paul Lüdecke, „aber die Te-
lefonzelle war besetzt, und als ich aus der Taxe stieg, war er
schon bei euch an der Haustür.“ Er stopfte sich ein Riesenstück
Wildschweinbraten in den Mund. „Er ist von der Kripo, ein-
wandfrei“, fuhr er kauend fort. „Ich hab sein Gesicht gesehen –
wie sie den richtigen Siebenhaar abgeführt haben. Ich täusch
mich nicht, ich mache kein Schmus! Und nun wollt ihr sicher
wissen, warum ich nicht gleich angerufen habe? Ja – ich war
im Krankenhaus, ambulante Behandlung! So ‛n Wolgafahrer
hat mich erwischt, wie ich zum nächsten Telefon rennen wollte.
Ist weitergefahren, und ich lag auf der Fahrbahn. Warum hink
ich denn? Warum ist denn mein linker Arm bandagiert! – Ja,
das sind so Schicksalsschläge!“
Paul schaufelte mit seiner gesunden Rechten Rotkohl in sich
hinein. Er verschwieg, daß er nach der vergeblichen Durchsu-
chung des Wochenendhauses von panischer Angst gepackt
nach Westberlin zurückgefahren war, daß er sogar vor der Villa
von O.W. gestanden und daß ihn zum Schluß der Mut verlassen
hatte, auf die Klingel zu drücken. Was wollte er denn? Eine
Belohnung hatte er nicht zu erwarten, gar nichts hatte er zu
erwarten! Paul Lüdecke machte kehrt und fuhr wieder zurück
nach Leipzig. Vielleicht war das dumm von ihm, vielleicht
wurde er von der Polizei geschnappt – eines jedoch stand fest:
Seinen Anteil konnten ihm nur die Grafs auszahlen.
Paul war nicht sehr schnell im Denken, aber im D-Zug hatte
er Zeit genug. Man hat die Grafs nicht gleich verhaftet, sagte er
sich, das war doch sehr merkwürdig. Und je länger er darüber
nachdachte und grübelte, um so klarer wurde ihm, daß dieser
falsche Siebenhaar wie ein Kuckuck ins fremde Nest gesetzt
wurde, um einiges auszuspionieren. Ganz klar! Nur so und
nicht anders verhielt sich das!
Paul kam sich groß und bedeutend vor. Er hatte Gunnar und
Madeleine, er hatte sie alle an Intelligenz und Scharfsinn über-
boten. Und wenn er es geschickt anfing, konnte er sie warnen,
ja vielleicht gelang es ihm sogar, ihnen zur Flucht zu verhelfen
– und das erst würde sich voll auszahlen für ihn!
Seinen Besuch im Wochenendhaus verschwieg er. Als Made-
leine ihn beim Kaffee danach fragte, leugnete er. Nun gut,
mochten sie ihm glauben oder nicht – Madeleine sah ihn an,
wie man einen Übeltäter ansieht, dem man schon verzeiht –
und das war sehr vernünftig. Es gab Wichtigeres zu tun, als
über einmal begangene Dummheiten zu rechten. „Wir müssen
weg“, sagte Madeleine leichthin, als ob es sich um einen Wo-
chenendausflug handelte. „Lächelt“, forderte sie die beiden
Männer auf, „gebt euch ungezwungen und heiter!“
„Du hast Nerven!“ Gunnar Grafs linkes Augenlid begann zu
zucken. „Weg, weg“, echote er, „wie denkst du dir das! Einfach
ins Auto setzen und losfahren? Spätestens in Berlin nehmen sie
uns fest, wahrscheinlich aber schon in Düben. – Und wer holt
das Geld vom Konto?“
„Niemand“, sagte Madeleine mit bewundernswerter Ruhe.
„Das Konto schreiben wir ab. Wir haben unser Westkonto, und
das reicht, denke ich. Aber das Gold nehmen wir mit, den
Schmuck und die Steine, die Uhren …“
Diese Sicherheit war selbst Paul zuviel. Er starrte Madeleine
aus großen Augen an, machte den Mund auf, klappte ihn wie-
der zu, stotterte schließlich: „Ja, aber – das – das ist doch, du
tust gerade so, als wäre das alles ‛n Klacks! Ganz einfach!“
„Leider steht uns kein Hubschrauber zur Verfügung“, be-
merkte Gunnar bissig. „Wie kann man nur so oberflächlich
sein, so leichtfertig! Du verkennst den Ernst der Lage, in der
wir uns befinden! Das Gold und den Schmuck! – Ja, natürlich,
aber wie? Ich zermartere mir das Hirn, aber ich sehe keinen
Weg, keine Möglichkeit.“
„Du vergißt Herrn Siebenhaar“, sagte Madeleine hoheitsvoll
und freute sich über die verblüfften Gesichter der beiden. „Ja,
ihr habt richtig gehört! Solange dieser aufgeblasene Bursche
bei uns ein- und ausgeht, sind wir sicher. Wir müssen nur dafür
sorgen, daß er sich wohl fühlt – und selbstredend muß er etwas
erfahren!“ Sie beugte sich vor. „Deshalb ist er doch gekom-
men“, sagte sie leise und eindringlich. „Das ist sein Auftrag,
seine Aufgabe! Nun gut, er wird etwas erfahren – alles, was er
wissen möchte! Wohldosiert, jeden Tag ein Bröckchen mehr.
Wir müssen Zeit gewinnen – und kommt Zeit, kommt Rat!“

„Nein, das wirst du nicht tun“, herrschte Gunnar seine Frau


an, als sie allein in ihrer Wohnung waren. Er war aufgeregt, lief
auf und ab, blieb an dem Tisch stehen an dem sie saß und ihn
kühl beobachtete und schlug mit der Faust auf die Platte, daß
die Gläser klirrten. „Das verbiete ich dir! Es sind unsere
Freunde! Nenn ihm falsche Namen, erfinde irgend etwas, aber
du kannst doch nicht …“ Er hatte sich zu sehr erregt, holte tief
Luft und sagte dann mit einer untermalenden Handbewegung:
„So was nennt man: über die Klinge springen lassen!“
„Ja“, sagte Madeleine trocken. „Hätte man uns verhaftet,
müßten sie jetzt auch über die Klinge springen. Vielleicht
hätten sich zwei oder drei noch rechtzeitig absetzen können –
aber die anderen …? Also, was tut‛s? Ich sehe da keinen Unter-
schied: Ob wir die Namen jetzt nennen oder später, wenn wir
im Gefängnis sitzen, es läuft aufs selbe hinaus.“
Er sah sie an, als hätte er sie erst jetzt, in dieser Sekunde rich-
tig kennengelernt. Auf seinem zerfurchten Gesicht lag ein
Ausdruck von Furcht und Bewunderung. „Du kannst einem
Angst einflößen“, sagte er mit Abscheu in der Stimme. „Diese
Kälte! Genausogut wärst du fähig …“
„Halt deinen Mund!“ schrie sie ihn an und sprang auf. „Du
bist nicht fähig, logisch zu denken! Überlaß das mir, und ver-
schone mich mit deiner Moral und deiner Gefühlsduselei!
Wenn du unbedingt hinter Gitter willst …“
„Ja doch, ja doch“, lenkte er ein, „du hast ja recht! Es bleibt
uns ja nichts anderes – sie mögen es uns verzeihen!“ Sein
Widerstand war gebrochen. Mit zitternder Hand schenkte er
zwei Gläser Kognak ein.

Oberleutnant Kaluweit war leichter und schneller zu seinem


Barbesuch gekommen, als er erhofft hatte. Die schöne Frau
Graf hatte sich für ihre Unfreundlichkeit am Vormittag ent-
schuldigt und entschädigte ihn nun, indem sie besonders lie-
benswürdig und nett zu ihm war. Sie tanzten, tranken Sekt,
Madeleine sah bezaubernd aus in ihrem eng anliegenden blau-
schillernden Kleid. Sie fing an zu erzählen. Über ihren Mann
beklagte sie sich. Es wäre kein Leben mehr für sie an der Seite
dieses alten, ständig mehr verkalkenden Juweliers. Man müßte
ganz neu anfangen – am besten drüben.
Na wunderbar! Genau das wollte Kalle auch! Er stand im
Begriff, sich eine Existenz im Westen aufzubauen. Seine Le-
gende, die er Madaleine auftischte, klang durchaus glaubwür-
dig, jedenfalls wurde sie nicht beanstandet. Ja, mehr noch,
Madeleine begeisterte sich an dem Gedanken, ihm bei der
Beseitigung der Anfangsschwierigkeiten behilflich zu sein. Der
Goldschmuggel und -handel war ausbaufähig. Warum nur
Leipzig? Rostock, Magdeburg, Erfurt, Schwerin, überall gab es
Absatzmärkte, man mußte sie nur erschließen, eine Organisati-
on aufbauen, aber dafür war Gunnar Graf schon zu alt und
zittrig.
Kalle begann sich für diesen Gedanken zu erwärmen, und als
er sich gegen drei Uhr morgens von Madeleine vor ihrer Haus-
tür verabschiedete, wußte er bereits eine ganze Menge über das
Wesen einer solchen Organisation.
Er schlief sich aus, rief Madeleine an, erkundigte sich nach
ihrem Befinden und war sehr erfreut, daß sie Sehnsucht nach
ihm hatte. „Bis heute abend“, flüsterte sie zum Schluß.

„Ich weiß nicht, das ist mir zuviel Liebe – das geht alles zu
schnell! Eins, zwei, drei, blättert sie mir die Namen auf den
Tisch!“ Kalle war unzufrieden. „Was meint ihr? Irgend etwas
ist faul an der Geschichte!“
Hauptmann Reinhardt war nach Leipzig gekommen. Sie sa-
ßen in einem Dienstzimmer der Inspektion. „Ja“, Reinhard
wiegte den Kopf, blickte Seppel an, schaute in den drei Seiten
langen Bericht, den Kalle auf der Maschine getippt hatte, und
hob ratlos die Schultern. „Merkwürdig ist das, in der Tat! Die
Dame hat dir einen sehr tiefen Einblick gewährt – ich meine in
den Schieberring!“
Reinhardt lächelte. „Jetzt wissen wir endlich, wie die Sache
funktioniert. Da gibt es den Westberliner Chef O. W. da gibt es
Kuriere, die das Rohgeld per Auto oder Bahn nach Leipzig,
Halle, Merseburg schaffen, und dort gibt es Juweliere, die es zu
schwerem Schmuck verarbeiten und es gegen Quittungen an
die Staatliche Münze verkaufen. Der Staat braucht Gold und
zahlt eine hübsche Aufkaufprämie. Das ist sozusagen der Rein-
gewinn für diese Brüder. Ja – gar nicht schlecht ausgeknobelt.
Ich möchte nicht wissen, wieviel Hunderttausend die ganze
Bande schon verdient hat. Wenn die Mengen stimmen, die sie
dir genannt hat – und das in einem Monat! – mein lieber
Freund!“
Reinhard rieb sich nachdenklich das Kinn.
„Das ist es ja eben! Stimmt es oder stimmt es nicht? Warum
erzählt sie mir das alles? Einfach so, aus freien Stücken, ich
brauchte sie nicht mal zu drängen!“
Seppel grinste. „Vielleicht will sie sich wirklich zusammen
mit dir eine Existenz aufbauen!“
„Quatsch!“ Kalle war nicht nach Scherzen zumute. „Sie
nennt mir den Namen des Mannes, den sie bestochen haben,
damit er sich die gefälschten Quittungen nicht so genau an-
sieht, sie nennt mir die verschiedenen Tricks ihrer Kuriere –
Paul Lüdecke, mit dem sie gestern zusammen Mittag gegessen
haben. Seine Spezialität: Goldblech unter den Einlegesohlen!
Das sind Interna, das sind Geheimnisse, die sie niemals, unter
keinen Umständen preisgeben …“
„Moment mal!“ Kalle stutzte, sein frisches Jungengesicht
hellte sich auf. „Doch“, sagte er, „es gibt einen Grund: Sie
haben erfahren, daß ich von der Kripo bin!“ Er wartete nicht,
bis Walter und Seppel sich dazu geäußert hatten, er entwickelte
sofort seine Version: „Sie wußten von Anfang an Bescheid,
spätestens aber seit meinem Barbesuch gestern nacht. Viel-
leicht hatten sie ein Foto vom echten Siebenhaar, vielleicht ist
uns ein zweiter Mann nachgefahren, der Siebenhaar kannte und
sie gewarnt hat – im Augenblick ist es müßig, sich darüber den
Kopf zu zerbrechen! Sie wissen, daß ich von der Kripo bin und
daß es ihnen und der ganzen Schieber binde ans Leder geht.
Und was machen sie da? Sie opfern die anderen, um Zeit zu
gewinnen. Sie werfen uns das hier zum Fraß vor“, er schlug
mit der Hand auf seinen Bericht, „und während wir begeistert
schlucken und arbeiten, bereiten sie den großen Coup vor: Ihre
Flucht nach Westberlin!“
„Klingt sehr überzeugend“, sagte Walter Reinhardt. Kalle war
noch immer voller Eifer: „Also beenden wir die Vorstellung“,
schlug er vor. „Wir haben letzten Endes erreicht, war wir errei-
chen wollten. Wir kennen die Verbindungen, kennen den Ring
– wir könnten mit einem Schlag die ganze Bande hochgehen
lassen …!“
„Das werden wir nicht tun“, sagte Reinhard sehr entschieden.
„Die Vorstellung läuft weiter – unter doppelter Absicherung!“
„Wie denn? Ich soll noch mal …?“ fragte Kalle enttäuscht.
„Ja, du spielst weiter wie bisher! Wir wollen doch mal sehen,
wie sie ihre Flucht in Szene setzen und wer ihnen dabei hilft.
Außerdem werden sie eine Menge Wertsachen beiseite ge-
schafft haben, die sie mitnehmen wollen. Das machen sie alle
so. Entweder haben sie das bei Freunden deponiert oder – na
ja, jedenfalls haben sie‛s nicht auf der Sparkasse oder im Tre-
sor. Und ich denke, das sollten wir auch mitnehmen. Also, laßt
uns mal einige Varianten durchspielen: Was könnte alles pas-
sieren, worauf müssen wir achten?“

Oberleutnant Kaluweit, der sich nur ungern in seine Rolle


fügte – er kam sich zu dumm oder zu albern vor mit einemmal
– , wurde beim Abendessen, das er mit Madeleine einnahm, zu
seiner größten Überraschung mit einer Variante vertraut ge-
macht, die er mittags mit Walter und Seppel nicht durchgespielt
hatte. Sie war völlig neu, und sie kam für ihn so unerwartet,
daß er sich um ein Haar verschluckt hätte – und er aß Forelle
auf Müllerinnen Art!
„Heute kommt O. W.“, hatte ihm Madeleine eröffnet. „Er hat
einen westdeutschen Ausweis und kann sich frei bewegen. Du
kommst doch mit? Ich möchte, daß Ihr beide euch näher ken-
nenlernt. O.W. hat viele Verbindungen und kann uns sehr nütz-
lich sein.“
„Ausgezeichnet!“ Kalle nahm mit spitzen Fingern die Gräte
aus dem Mund, die ihm beinahe zum Verhängnis geworden
war, spülte die Kehle mit einem Schluck „Traminer“, und
danach gelang es ihm, richtig begeistert auszusehen. Wo man
sich treffen wollte? ,, … das wird nicht verraten! Nur soviel sag
ich: Du wirst staunen!“ Madeleine lächelte verheißungsvoll.
Kalle streichelte ihre Hand und dachte im stillen: Verdamm-
tes Luder, was du dir da ausgeheckt hast! O. W. in Leipzig, das
wäre zu schön, um wahr zu sein, man hätte den Westberliner
Chef auch gleich im Sack! Doch daran war den beiden Grafs
bestimmt nicht gelegen. Also diente O. W. nur als Köder, um
ihn irgendwohin zu locken und auszuschalten. Sicher, das
war‛s!
Bevor sie zahlten, mußte Kalle noch einmal telefonieren. Ihm
fiel auf, daß Madeleine nicht den geringsten Argwohn hatte.
Sie fragte nicht, sie folgte ihm nicht heimlich – sie hatte sogar
schon die Zeche bezahlt, als er zurückkam. Und sie drängte auf
Eile.
Der Mercedes stand auf einem kleinen unbewachten Park-
platz, auf dem es stockfinster war. Sie stiegen ein und fuhren
los.
Ein paar Autoscheinwerfer hängte sich hinter sie. Andere
schoben sich dazwischen, nach einiger Zeit jedoch fiel auf, daß
ein Paar nicht abzuschütteln war. „Ich mag es nicht, wenn man
mich verfolgt“, sagte Madeleine böse und trat aufs Gaspedal.
Kalle verwünschte alle ungeschickten Abschirmgenossen,
verwünschte die Frau, die mit ihrem schweren Wagen rück-
sichtslos Amok zu fahren begann. „Wer zum Teufel soll uns
verfolgen?“ fragte er sie gereizt und hatte Mühe, seiner Stimme
einen festen Klang zu geben. „Na, wer schon? Mein Mann
natürlich! Es wäre nicht das erstemal. Er nimmt sich ein Taxi
und zahlt sehr gut. Entschuldige, aber ich schätze das nicht!“
Sie überholte verkehrswidrig eine haltende Straßenbahn, jagte
in halsbrecherischem Tempo durch einige Kurven und Seiten-
straßen, und plötzlich hielten sie in einer abgelegenen Straße.
„Uff“, sagte Madeleine und bediente sich eines nach Lavendel
duftenden Erfrischungstüchleins. Weit und breit war kein Fahr-
zeug zu sehen. „Das hätten wir geschafft – nun können wir uns
Zeit lassen!“ Sie gab Kalle einen flüchtigen Kuß, und dann
fuhr sie los.
Es war die Strecke nach Düben. „Etwa zum Wochenend-
haus?“ fragte Kalle. Sie lächelte. „Du hast es erraten. O. W.
kommt nicht allein – du mußt nicht eifersüchtig werden. Es
wird ein bildschöner Abend, verlaß dich drauf!“
Daß der Abend, besser gesagt die Nacht sehr munter und auf-
regend werden würde, davon war Kalle überzeugt. Die Vor-
freude wurde nur dadurch getrübt, daß seit einer Viertelstunde
kein Scheinwerferpaar zu sichten war, das ihnen folgte. Nun
schön, dann eben allein, sagte er sich und tastete nach seiner
Pistole.
In das Motorengeräusch mischten sich plötzlich laute, häm-
mernde Schläge. Was war das? Hinterräder, Antrieb, Kardan? –
Ein abgerissener Auspuff scheppert anders! – Das knallte ja,
wie wenn jemand mit einem Hammer auf Metall schlägt! Ma-
deleine neben ihm hörte es doch auch! Warum bremste sie
nicht, warum hielt sie nicht an? Sie erhöhte sogar die Ge-
schwindigkeit, saß mit verbissenem Gesicht am Steuer. „Das
hat er manchmal“, warf sie ihm als Erklärung hin. „Fehlzün-
dungen. In der Werkstatt sagten sie, dann soll ich ihn ordentlich
hochjagen.“
Die Schläge hörten auf. Doch dann setzten sie wieder ein,
schlimmer als vorher, und diesmal wurden sie von dumpfen
Gebrüll einer menschlichen Stimme begleitet. „Anhalten“,
glaubte Kalle zu verstehen. Ein langgezogenes Heulen. „Aan-
halten!“
Das kam aus dem Kofferraum. Kalle besann sich nicht lange.
Er legte Madeleine seine Hand auf den Arm. „Schluß jetzt“,
befahl er, „stoppen Sie sofort!“
Sie befanden sich auf freier Chaussee. Felder links und
rechts. Ein Hinterhalt kam nicht in Frage. Das Geheul aus dem
Kofferraum wurde lauter. „Ich bin von der Kriminalpolizei“,
sagte Kalle ganz ruhig. „Ich fordere Sie auf, den Wagen zu
stoppen! Es ist doch sinnlos, Frau Graf. Wozu diese Raserei?
Einmal müssen Sie ja doch halten, nicht wahr?“
Sie sagte nichts, aber sie ging mit dem Tempo herunter und
hielt vorschriftsmäßig auf dem Sommerweg. „Bitte!“ Sie lehnte
sich zurück. „Sind Sie zufrieden?“
Kalle zeigte ihr seinen Ausweis. „Oh ja“, sagte sie verbind-
lich.
Gunnar Graf wurde aus seinem Versteck im Kofferraum be-
freit. Er torkelte wie ein Betrunkener an den nächsten Baum,
Madeleine mußte ihn stützen. „Ich hielt‛s nicht mehr aus“,
stöhnte er, „ich wäre gestorben! Es war entsetzlich!“ Und dann
übergab er sich.
Madeleine trat zu Oberleutnant Kaluweit. „Sie wissen ja al-
les“, sagte sie, „wozu noch viele Worte. Was noch zu gestehen
ist, gestehe ich ganz freimütig: O.W. kommt tatsächlich ins
Wochenendhaus! Ich hatte geplant, Sie dort einzusperren; wir
wären dann mit O. W.‛s Wagen nach Berlin gefahren. Schwie-
rig war nur eins bei diesem Unternehmen: Ich mußte Ihre
Genossen abschütteln – und Sie sehen, das ist mir gelungen!“
Auf der nachtdunklen Chaussee war außer einigen entgegen-
kommenden Fahrzeugen und einen Lkw aus Richtung Leipzig
in der Tat nichts von Verfolgern zu sehen. „Ja, so ist das! Hätte
ich dieses Wrack nicht im Kofferraum mitgeschleift …“ Sie
sah Kalle vielsagend an und lächelte spöttisch – „man kann
sich eben von altem Inventar schwer trennen, nicht wahr?“
Gunnar Graf schwankte heran. Er war ungefährlich. Eine
Waffe besaß er nicht, Kalle hatte ihn abgetastet – außerdem
kostete es ihn Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Aber
schimpfen konnte er, so viel Kraft besaß er noch. Er schrie und
tobte. Er hätte sich längst zur Ruhe gesetzt, aber auf ihn hatte
sie nie gehört. Sie war zu geldgierig, und die Gefahr lockte –
den Nervenkitzel brauchte sie! Und daß die Bekannten und
Freunde und zum Schluß noch O. W. in den allgemeinen Un-
tergang mit reinreißen mußte, das verzieh er ihr nicht.
„Na, dann steigen Sie man ein“, forderte Oberleutnant Kalu-
weit ihn auf.
Das Wochenendhaus war wieder hergerichtet. Im Schein der
schmiedeisernen Ampel über der Tür erkannte Kalle, daß sogar
die eisernen Stangen, von denen Madeleine gesprochen hatte,
zur Sicherung der Fensterläden angebracht waren. (Wo sie nur
die Handwerker hernahm?)
„Bitte, schließen Sie auf“, sagte Kalle. Er stand hinter den
beiden Grafs und behielt sie im Auge. Den Mercedes hatte er
direkt vor dem Grundstück geparkt – unübersehbar für O.W.
falls er kommen sollte.
Und er kam auch schon! Scheinwerferlicht schwankte über
Büsche und Zäune, das leise Brummen eines Motors wurde
hörbar. Und dann hielt ein schwerer Schlitten, ein Chevrolet –
irgendein Amerikaner – hinter dem Mercedes.
„Schnell, schließen Sie auf!“ befahl Kaluweit.
Madeleine öffnete die Tür zum Wochenendhaus. „Das ist er“,
sagte sie, „das ist O.W.!“ Sie trat ein, Kalle schob Gunnar Graf
ins Haus. Licht wurde angeknipst, und als es aufflammte, sah
Kalle, daß Madeleine einen Blick hinter die Tür warf – so, als
ob sie sich mit jemandem verständigen wollte. Aha, dachte er,
also doch!
Er zog die Pistole. Er durfte nicht viel Aufsehen erregen; kei-
nen Schuß, kein Geschrei, das O.W. warnen könnte. – Wenn
Walter oder Seppel jetzt hier wären! Noch nie hatte er sie so
vermißt!
Draußen klappte eine Wagentür. O. W. ging jetzt auf das Gar-
tentor zu. Er mußte ins Haus kommen, er durfte ihn nicht ent-
wischen lassen.
Kalle stieß mit aller Kraft die Tür auf, spürte einen menschli-
chen Widerstand, hörte einen unterdrückten Schrei. In der
nächsten Sekunde stand er im Flur und richtete die Pistole auf
Paul Lüdecke. „Kein Wort“, drohte er .ihm, „ganz ruhig und
die Hände hoch!“
Paul hob seine gewaltigen Tatzen. Kalle schob die Tür sacht
zu. Auf dem Gartenweg waren Schritte zu hören. „Polizei“,
kreischte Madeleine, „hau ab! Polizei!“
Kalle fuhr herum, riß Madeleine von der Tür zurück, sah ei-
nen großen schlanken Mann im hellen Mantel auf dem Weg,
sah, wie er erschrocken stehenblieb. „Polizei“, schrie Madelei-
ne. Sie wehrte sich gegen Kalles Griff, kratzte, biß ihn ins
Handgelenk.
Der Mann machte kehrt und rannte zurück zur Straße.
Paul Lüdecke schlug zu. Er benutzte einen Knüppel als
Schlaginstrument und traf die rechte Schulter. Kalles Arm war
gelähmt, die Pistole fiel ihm aus der Hand, Paul bückte sich
nach ihr. Kalle stieß die Pistole mit dem Fuß in die Ecke. Er
verbiß den rasenden Schmerz in der Schulter, schlug mit der
Linken zu, einmal, zweimal. Die Tür schlug krachend ins
Schloß, von draußen wurde der Schlüssel herumgedreht.

Das war das Letzte, was ihm passieren konnte! Beide Grafs
und O. W. durch die Lappen – und er hier mit diesem Totschlä-
ger eingesperrt! Der Idiot schien nicht einmal begriffen zu
haben, daß man ihn aufsitzen ließ, daß man ihn abgeschrieben
hatte. „He, willst du nicht mit?“ schrie er ihn an und zeigte auf
die Tür.
Paul glotzte verwirrt und verständnislos. Dann packte ihn die
Wut. Er nahm Anlauf und warf sich gegen die Tür. In seiner
Aufregung hatte er vergessen, daß er ja auch Schlüssel besaß.
Madeleine hatte sie ihm ausgehändigt – wie hätte er sonst ins
Haus kommen sollen! Doch nun war es zu spät, sich daran zu
erinnern: Kalle hatte ihn, als er von der festgezimmerten Tür
zurückprallte, mit einem der sonst verbotenen, nur in äußerster
Gefahr anzuwendenden Jiu-Jitsu-Schläge außer Gefecht ge-
setzt. Paul hatte tief aufgegrunzt und war zu Boden gestürzt.
Wo hatte er die Schlüssel? Kalle durchwühlte seine Taschen,
lauschte dabei nach draußen. Zwei Autos standen draußen –
und kein Motorengeräusch! Sollten sie so schnell gestartet
sein?
In der Gesäßtasche fand er das Schlüsselbund. Die rechte
Hand war noch immer nicht zu gebrauchen. Mit der Linken
schloß er auf. Was er sah, ließ ihn alle Schmerzen und alle
selbstanklägerischen Vorwürfe vergessen: Die Scheinwerfer
eines dritten Wagens tauchten das ganze Grundstück in blen-
dende Helligkeit, und in diesem gleißenden Licht sah er Walter
Reinhardt mit gezogener Pistole auf das Haus zu laufen. Als
Walter ihn in der Tür entdeckte, blieb er wie angewurzelt ste-
hen. „Kalle“, rief er, als wollte er sich vergewissern, daß er es
mit keiner Erscheinung zu tun hatte.
„Hier liegt der vierte Mann“, sagte Kalle und wies mit dem
gesunden linken Arm auf den hingestreckten Paul Lüdecke.
„Junge, Junge“, sagte Walter kopfschüttelnd, „was drehst du
bloß für Dinger! Das verstößt gegen jede Vorschrift! Hätte
Seppel nicht so eine Ahnung gehabt – vielmehr: Hätte er nicht
mit seinem Scharfsinn erfaßt, daß die Dame dich hierher lok-
ken könnte – wie wäre das bloß ausgegangen?“
„Ich hatte auch so ‛ne Ahnung, daß ihr so ‛ne Ahnung haben
könntet“, sagte Kalle, faßte nach seinem Arm und lächelte
schmerzlich.
Das Ehepaar Graf und der sehr distinguierte, graumelierte
Herr im hellen Mantel trugen ihre Handschellen mit Würde.
„Bitte!“ Seppel Beck, der sie begleitete, forderte sie auf ins
Haus zu treten.
Das Versteck, nach dem Paul Lüdecke so verzweifelt gesucht
hatte, fanden Hauptmann Reinhardt und Seppel Beck am näch-
sten Morgen: Auf den trüben Wassern der Sickergrube
schwammen in einem verlöteten Blechbehälter fünf Kilo-
gramm noch nicht an die Münze verkaufter Schmuck.
Heft 325

Herbert Friedrich
Der verlorene Vater

Hannelore, die Tochter des Gastwirts Lehnert, sah, wie Bür-


germeister Hahndorf ihrem Vater auf die Schulter schlug und
sagte: „Ehe wir uns besaufen, mein Lieber, mal das Geschäftli-
che!“ Der Vater schrak auf. „Das Geschäftliche?“ fragte er,
aber Hahndorf fuhr schon fort: „Du hast mir 387 Mark Zinsen
nicht bezahlt. Daraufhin kann ich dir die ganze Hypothek
kündigen.“ Der Gastwirt starrte auf die Tischplatte, er hatte die
Hände gefaltet und drehte nervös die Daumen. „Aber ich will
dir helfen, von Mensch zu Mensch, hör zu: Dein Haus und
mein Geld, das bleibt in der Familie. Ich heirate dein Mädel,
und du überschreibst uns die Kneipe.“ Hannelore sah noch, wie
der Vater aschgrau wurde.

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