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Verbirgt sich im menschlichen Gehirn tatsächlich eine Die erste Version von Chomskys Theorie, die er Mitte
vorprogrammierte mentale Schablone zum Erlernen des 20. Jahrhunderts formulierte, passte gut zu zwei
von Grammatik? Mit dieser Idee prägte der amerika- damals aufkommenden Trends des westlichen Denkens.
nische Linguist Noam Chomsky vom Massachusetts Zum einen behauptete Chomsky, die Alltagssprache
Institute of Technology in Cambridge fast ein halbes verhalte sich wie die mathematischen Algorithmen der
Jahrhundert lang die gesamte Sprachwissenschaft. Nun Informatik. Er suchte nach der grundlegenden Sprach-
aber verwerfen viele Kognitionswissenschaftler und Lin- struktur, als wäre sie ein Computerprogramm, und formu-
guisten Chomskys Theorie der Universalgrammatik, denn lierte eine Reihe von Verarbeitungsschritten, aus denen
neue Untersuchungen der verschiedensten Sprachen »wohlgeformte« Sätzen hervorgehen. Sein damals revolu-
sowie der Art und Weise, wie Kleinkinder in Gemeinschaft tionärer Ansatz besagte: Ein computerähnliches Pro-
kommunizieren, schüren starke Zweifel an Chomskys gramm kann Sätze hervorbringen, die den Menschen als
Behauptungen. grammatisch korrekt erscheinen – und dieses Programm
Vielmehr setzt sich eine radikal neue Sichtweise durch, erklärt angeblich, wie Menschen tatsächlich Sätze bilden.
der zufolge das Erlernen der Muttersprache kein angebore- So ein Sprachmodell gefiel jenen zahlreichen Forschern,
nes Grammatikmodul voraussetzt. Offenbar nutzen Klein- die im Computer ein Paradigma für alles und jedes sahen.
kinder mehrere verschiedene Denkweisen, die gar nicht Außerdem behauptete Chomsky, seine vom Computer
sprachspezifisch sein müssen – etwa die Fähigkeit, die Welt inspirierte Theorie sei biologisch fundiert. In der zweiten
in Kategorien (wie Mensch oder Sache) einzuteilen oder Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass
Beziehungen zwischen Dingen zu begreifen. Hinzu kommt die menschliche Evolutionsgeschichte viele Aspekte unse-
IMAGE SOURCE / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
die einzigartige Gabe, intuitiv zu erfassen, was uns andere rer einzigartigen Psychologie erklärt; Chomskys Theorie
mitteilen möchten; erst so kann Sprache entstehen. Somit stand damit in Einklang. Er präsentierte seine Universal-
reicht Chomskys Theorie längst nicht aus, um den grammatik als angeborene Komponente des menschlichen
menschlichen Spracherwerb zu erklären. Geistes – als die biologische Grundlage der mehr als 6000
Diese Schlussfolgerung wirkt sich nicht bloß auf die Sprachen auf der Welt. Da die mächtigsten und oft zu-
Linguistik aus, sondern auf ganz unterschiedliche Be- gleich schönsten wissenschaftlichen Theorien eine unter
reiche, in denen Sprache eine zentrale Rolle spielt, von der oberflächlicher Vielfalt verborgene Einheit enthüllen, ver-
Poesie bis zur künstlichen Intelligenz. Da außerdem Men- lieh dieses Versprechen Chomskys Ansatz großen Charme.
schen Sprache auf eine Weise gebrauchen, wie es kein Doch unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse stirbt die
Tier vermag, dürften wir auch die menschliche Natur ein Universalgrammatik seit Jahren einen langsamen Tod.
wenig besser begreifen, wenn wir das Wesen der Sprache Sie verabschiedet sich allerdings nur schleppend, denn
verstehen. wie der Physiker Max Planck einst bemerkte: »Eine neue
Bücher«, aber nicht: »Sie verschenkte der Bibliothek einige Bybee, J.: Language, usage and cognition. Cambridge University
Bücher.« Wie neue Forschungen zeigen, gibt es verschie- Press, 2010
dene Mechanismen, mit denen Kinder solche unpas- Goldberg, A.: Constructions at work: the nature of generalization in
senden Analogien eingrenzen. Zum Beispiel meiden sie language. Oxford University Press, 2006
solche, die überhaupt keinen Sinn ergeben. So würden Tomasello, M.: Constructing a language: a usage-based theory of
Kinder niemals versucht sein zu sagen: »Sie aß der Biblio- language acquisition. Harvard University Press, 2003
thek einige Bücher.« Hören sie außerdem sehr oft »Sie
verschenkte einige Bücher an die Bibliothek«, dann hemmt LITERATURTIPP
dies den Impuls zu sagen: »Sie verschenkte der Bibliothek Stix, G.: Gute Zusammenarbeit. Spektrum der Wissenschaft 5/2015,
einige Bücher.« S. 52–59
Solche Eingrenzungsmechanismen reduzieren die mög- Michael Tomasellos Erforschung des Denkvermögens von Klein-
lichen Analogien, die ein Kind bilden könnte, während es kindern und Schimpansen