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Schwerpunkt: Gewalt – Originalie

Psychotherapeut 2010 · 55:98–105 Annette Streeck-Fischer


DOI 10.1007/s00278-010-0730-2 Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn, Rosdorf
Online publiziert: 5. März 2010
© Springer-Verlag 2010

Angriffe auf Körper


Redaktion
M. Cierpka, Heidelberg 
V. Kast, St. Gallen
und Seele
Gewalt in der kindlichen Entwicklung

Es war fürchterlich kalt und schneite. lastende Faktoren aufseiten der Eltern) len (American Professional Society on
Das kleine Mädchen wagte nicht erfragt. Die Arbeitsgruppe konnte deut- Abuse of Children/APSAC 1995).
nach Hause zu gehen. Sie hatte keine lich machen, dass sich mehr als vier der Offiziellen Statistiken zufolge wer-
Zündhölzer verkauft. Ihr Vater würde genannten belastenden Lebensereignisse den jedes Jahr zwischen 4 und 16 von
sie schlagen. Sie strich ein Zündholz ungünstig auf die soziale, emotionale und 100 Kindern körperlich misshandelt, ver-
nach dem anderen an. Nun stirbt je- kognitive Entwicklung eines Kindes aus- nachlässigt oder emotional missbraucht.
mand, sagte die Kleine und rief: wirken, gesundheitsschädliche Verhal- Es werden 5–10% der Mädchen und über
„Großmutter nimm mich mit“. (Hans tensweisen zur Folge haben und dass es 5% der Jungen sexuell durch Penetrati-
Christian Andersen, Das kleine Mäd- bei solchen mehrfach Traumatisierten im on missbraucht, und mehr als dreimal so
chen mit den Zündhölzern). höheren Alter gehäuft zu Krankheiten, so- viele Kinder sind anderen Formen sexu-
Aus Angst vor elterlicher Gewalt zialen Problemen und frühem Tod kommt ellen Missbrauchs ausgesetzt (Gilbert et
bleibt das Kind aus Andersens Mär- (Felitti et al. 1998). al. 2009). Annähernd 3 von 4 Erwachse-
chen in Eiseskälte allein und stirbt nen haben in ihrer Kindheit Gewalter-
mit dem Ruf nach der Großmutter, Definitionen fahrungen gemacht (Jahrgänge 1932 bis
einem guten beschützenden Objekt. 1975), davon waren 10% Opfer elterlicher
Kindesvernachlässigung meint andau- Misshandlung, 40 von 100 wurden häu-
Körperliche sowie psychische Misshand- erndes oder wiederholtes Unterlassen figer körperlich gezüchtigt und 5% wur-
lung und Vernachlässigung führen im fürsorglichen Handelns von Eltern oder den häufiger misshandelt (Wetzels 1997).
schlimmsten Fall zum Tod, hinterlassen anderer Sorgeberechtigter, das ein ho- Gegenüber diesen epidemiologischen Da-
aber immer tiefe Spuren in Körper und hes Risiko von Beeinträchtigungen der ten zu frühen Vernachlässigungen, Miss-
Seele und haben nicht selten schwerwie- physischen und/oder psychischen Ent- handlungen oder Missbrauch von Kin-
gende Krankheiten zur Folge. wicklung des Kindes nach sich zieht dern ist angesichts einer hohen Dunkel-
Gewalt an Kindern, ausgeübt durch (s. Deutsches Jugendinstitut). Unter kör- ziffer allerdings Zurückhaltung geboten;
Eltern oder andere für das Kind wichtige perlicher Kindesmisshandlung können al- die tatsächliche Häufigkeit liegt wahr-
Pflegepersonen, ist in unserer Gesellschaft le Handlungen von Eltern und anderen scheinlich weit höher.
erschreckend häufig. Dabei sind extreme Bezugspersonen verstanden werden, die Obwohl Vernachlässigung von Kin-
Fälle von Misshandlung, über die in den durch Anwendung von körperlichem dern mindestens ebenso schwerwiegende
Medien berichtet wird, nur der Gipfel ei- Zwang bzw. Gewalt ein hohes Risiko von Folgen hat wie Misshandlung und sexu-
ner Problematik, die sich tagtäglich in un- physischen oder psychischen Beeinträch- eller Missbrauch, wurde dieser Problema-
serer Mitte ereignet. Die epidemiologische tigungen des Kindes und seiner Entwick- tik bislang am wenigsten wissenschaft-
Studie zu frühen Traumatisierungen von lung bergen (Kindler 2006). Emotionale liches und öffentliches Interesse entge-
Felitti et al. (1998) aus den USA, die sich Misshandlung meint ein Verhalten, das gengebracht.
auf Daten von 17.000 Personen stützt, lässt Kindern zu verstehen gibt, dass sie wert-
die weit reichenden Folgen von frühen los, voller Fehler, ungeliebt, ungewollt und Folgen von Misshandlungen
belastenden Lebensereignissen zumin- in Gefahr sind oder nur dazu nütze, die
dest erahnen. Anhand von anonymisier- Bedürfnisse anderer Menschen zu erfül- In welchem Ausmaß traumatische Er-
ten Fragebögen wurden Art und Häufig- fahrungen wie Misshandlung die weitere
keit der Traumatisierung (z. B. Misshand- Überarbeitete Fassung eines Vortrags anlässlich der
lung, Vernachlässigung, Missbrauch, be- Lindauer Psychotherapiewochen 2009.  Im Folgenden als Oberbegriff verwendet.

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Entwicklung prägen, hängt vom Entwick-
lungsstand des Kindes, von den bisherigen
Entwicklungsbedingungen, der Konstitu-
tion, der genetischen Ausstattung, den
Ressourcen, von der sozialen Umwelt des
Kindes und vor allem von der Verfüg-
barkeit einer Vertrauensperson ab. Pro-
spektive und retrospektive Studien zeigen,
dass misshandelte Kinder und Jugendli-
che massive Verhaltensprobleme haben,
durch posttraumatische Stressstörungen,
Depressionen, Suizidversuche, Drogen-
missbrauch und Alkoholprobleme belas-
tet sind und zu späterem kriminellen Ver-
halten, zu Fettsucht, Prostitution und Pro-
miskuität neigen (Gilbert et al. 2009). Die
Wahrscheinlichkeit, dass ein Jugendlicher
inhaftiert wird, liegt bei Misshandelten
doppelt so hoch wie bei Jugendlichen ins-
gesamt (Gilbert et al. 2009). Weiter zieht
Kindesmisshandlung ausgeprägte Defi-
zite im Erwerb schulischer Fertigkeiten
nach sich. Heranwachsende mit Miss-
handlungserfahrungen haben niedrigere
Schulabschlüsse als andere Gleichaltrige.
Ein Viertel der Kinder und Jugendlichen
braucht eine spezielle Beschulung; bei
Nichtmisshandelten sind es lediglich 14%.
Immerhin erreichen 42% der misshandel-
ten Kinder das Abitur; bei einer Kontroll-
gruppe sind es allerdings etwa 70%. Leis- tät und süchtiges Verhalten. Eine frühe lichkeitsstörung erfasst werden, Symp-
tungsabfall und Schulverweigerung sind Bereitschaft zu körperlicher Gewalt prä- tome wie Erregungszustände, Flashbacks
unmittelbar mit dem Zeitpunkt der Miss- destiniert in der weiteren Entwicklung zu und Reinszenierungen, die der Diagno-
handlung verbunden und wirken sich einer Gewaltkarriere (Farrington u. Loe- se der posttraumatischen Belastungsstö-
kumulativ aus. Insofern hat Misshand- ber 2000). rung (PTBS) zugeordnet werden kön-
lung nicht zuletzt auch erhebliche ökono- nen, sowie zumeist vielfältige ausgeprägte
mische Folgen für die Gesellschaft (Gil- Trauma und Entwicklung Entwicklungsdefizite, die am ehesten in
bert et al. 2009). der Diagnose einer multiplen und kom-
Die World Health Organization Kinder und Jugendliche, die Opfer elter- plexen Entwicklungsstörung („multi-
(WHO) hat Gewalt als einen tödlichen licher Gewalt geworden sind, haben in der ple and complex develomental disorder“,
„rite de passage“ für Jugendliche bezeich- Regel nicht nur einmalige Gewalterfah- MCDD) aufgegriffen werden. Die Kom-
net. Der Rite de passage meint die Über- rungen gemacht, sondern multiple Trau- plexität der vorliegenden Störungen die-
gangszeit des jungen Menschen von der matisierungen erlitten. Als Spuren dieser ser Kinder und Jugendlichen wird bis-
Kindheit in das Erwachsenenalter. Wer- Angriffe finden wir eine Vielfalt von Stö- lang in keinem Klassifikationssystem der
den in dieser Zeit ausgeprägte Erfah- rungen: Beeinträchtigungen in den Ob- International Statistical Classification of
rungen mit Gewalt gemacht, ob als Op- jektbeziehungen, wie sie am ehesten in Diseases and Related Health Problems-
fer oder Täter, kann dies langfristige psy- der Diagnose einer Borderline-Persön- (ICD-)10 and des Diagnostic and Statisti-
chobiologische Störungen bei Stressbelas- cal Manual of Mental Disorders- (DSM-)
tungen nach sich ziehen; davon sind vor  Im Film Good Will Hunting wird ein solcher IV ausreichend erfasst. Bestrebungen, die
allem männliche Jugendliche betroffen. Jugendlicher dargestellt. Will Hunting wurde Diagnose einer Entwicklungstraumastö-
Je größer das Ausmaß von erlittener Ge- als Kind von seinen leiblichen Eltern und häu- rung (van der Kolk 2009: „developmental
walt, desto massiver sind die konsekutiven fig wechselnden Pflegeeltern schwer misshan- trauma disorder“) in den DSM-V einzu-
psychosozialen Probleme wie Kriminali- delt – mit gravierenden Folgen. Will neigt selber bringen, hatten bislang keinen Erfolg. Bei
zu Gewalttätigkeit und wurde bereits vielfach
wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. diesem Vorschlag, der sich auf Daten von
 Vgl. die Großmutter im Andersen-Märchen, Das Besondere an ihm ist, dass er mathematisch
nach der das kleine Mädchen ruft. hochbegabt ist.  Nur im amerikanischen Schrifttum.
Schwerpunkt: Gewalt – Originalie

ca. 8000 Kindern bezieht, werden neben gen kann Bastian in heftige Erregungszu- des Gesprächs erheblich; er ist zittrig, un-
der chronischen Traumaexposition in der stände geraten, gibt ungebremst Geld aus ruhig und in gebremster Anspannung,
Entwicklung multiple Dysregulationen, und hat sich bereits hoch verschuldet. wohl weil er sich in einem Hochstresszu-
funktionelle Beeinträchtigungen sowie In der 30. Behandlungsstunde, die erst- stand befindet. Das aber versucht er aus-
anhaltend veränderte Attributionen und malig auf Video aufgenommen wird, be- zublenden und bemüht sich, gut zu arbei-
Erwartungen genannt. zieht sich Bastian auf ein gemeinsames ten. Er ist wie abgetrennt von seinem Kör-
Es gibt mittlerweile eine überwälti- Gespräch vom Vortag mit Betreuern sei- per und hat auch zu seinen Gefühlen kei-
gende Datenlage, die verdeutlicht, dass ner Wohngruppe; hier hielt er sich vor der nen Zugang. Er verwendet kognitive Er-
frühe Traumatisierungen für gravierende stationären Behandlung auf. In dem Ge- klärungen, vermutlich weil er davon aus-
Verhaltensprobleme und psychiatrische spräch waren für ihn unangenehme und geht, damit gut anzukommen. Man kann
Erkrankungen bei Kindern und Jugend- beschämende Themen zur Sprache ge- annehmen, dass er sich hier mit dem Ag-
lichen verantwortlich sind (Cierpka et al. kommen. Im Anschluss hatte er heftig mit gressor identifiziert, als den er den The-
2007). Sie wirken sich insbesondere un- der Faust gegen die Wand geschlagen und rapeuten erlebt. Seine Erklärung „Ich ha-
günstig auf die Hirnentwicklung aus, Stö- sich dabei verletzt. Bastian erklärt im Ge- be mich selbst misshandelt“ mag man ihm
rungen, bei denen heute noch nicht sicher spräch mit dem Therapeuten, dass er sich nicht abnehmen, denn nichts spricht da-
gesagt werden kann, ob und inwieweit sie mit seinem Schlag gegen die Wand selbst für, dass Bastian seine Gefühle und inne-
zumindest partiell korrigierbar sind. Die misshandelt hat – also sich selbst auf ei- ren Befindlichkeiten bereits so gut zu dif-
therapeutische Arbeit mit diesen Kindern ne Weise behandelt hat, wie er das einst ferenzieren vermag. Indem er ganz schnell
und Jugendlichen, um die es im Weiteren durch andere hat erleiden müssen. „‚richtig“ oder „Das kann man sich so
gehen soll, scheitert nicht selten daran, Die Videoaufnahme ist eine Ausnah- denken“ sagt, scheint er den Therapeuten
dass die ursprünglichen traumatischen mesituation für beide, für Bastian und abzuwehren und sich einem offenen Dia-
Beziehungserfahrungen mit dem Thera- den Therapeuten. Dennoch zeigen sich in log verschließen zu wollen. Meinte er mit
peuten reinszeniert werden und sich kein der Sequenz charakteristische Aspekte der seinem Gewaltakt, als er mit der Faust
Ausweg finden lässt. Die Tendenz zur Beziehungsgestaltung, wie sie in der Ar- auf die Wand einschlug, sich selbst oder
Wiederholung und Fortführung trauma- beit mit solchen Jugendlichen immer wie- den beschämenden Anderen? Auffallend
tischer Beziehungserfahrungen zeigt sich der vorkommen. Der Therapeut ist zuge- ist, dass er plötzlich das Gesicht verzieht,
oft sehr früh, wird aber häufig in ihrer Be- wandt und unterstützend, sodass Basti- als er die Erklärung anbietet, als erwarte
deutung verkannt oder unterschätzt. Wie an sich auf das Gespräch durchaus ein- er Spott oder befürchte, entlarvt und be-
sich diese Problematik in der Beziehung lassen kann. Dem ersten Eindruck nach schämt zu werden.
herstellt, soll zunächst an einem Fallbei- ist er ein bemühter Patient, der eine gute Ausgehend von dieser kurzen Sequenz
spiel veranschaulicht werden. Therapie macht. Genau das sollte wach- mit Bastian soll auf folgende Aspekte ein-
sam machen. Denn bei Jugendlichen wie gegangen werden:
Kasuistik bei Bastian besteht die Gefahr, dass sie mit F Folgen von Traumatisierungen für die
dem vordergründig bemühten Verhalten Bindungsentwicklung,
Der 18-jährige Bastian hatte in seiner in Beziehungsmustern verhaftet bleiben, F Verlust von Selbstkohärenz als Folge
Kindheit schwerste Misshandlungen und die Lernen aus Erfahrung (Bion 1962) er- früher Traumatisierung,
Vernachlässigungen erfahren. Während schweren, wenn nicht gar verunmöglichen F Mentalisierungsstörungen, trauma-
der Schwangerschaft war die Mutter an und dann von der Therapie tatsächlich tische Reinszenierungen oder „mi-
Krebs erkrankt. Nach der Geburt des Kin- wenig profitieren. Bei der Untersuchung mikry“ sowie
des hatte sie sich vom Vater getrennt. Sie mit der Skala zur Messung selbstrefle- F Störungen in der Selbst-, Affekt- und
starb, als Bastian noch ein Säugling war. xiver Funktionen (Self-Reflective Func- Impulsregulation.
Zunächst wurde er von einer Tante und tion Scale), die die Fähigkeit der Mentali-
den Großeltern versorgt. Dann nahm ihn sierung bzw. Selbstreflexivität erfasst, zeigt Traumatisierung in der
der Vater zu sich, der ihn schwer misshan- sich bei Bastian, dass er sich nach acht- Bindungsentwicklung
delte und vernachlässigte. Bastian wurde monatiger Therapie zwar in seiner Um-
im Weiteren in wechselnden Pflegefami- welt besser zurechtfinden kann und we- Ein Kind, das Misshandlungen durch Per-
lien untergebracht. niger Symptome hat, jedoch ausgeprägte sonen ausgesetzt ist, die für seine Entwick-
Als Bastian zur Behandlung kommt, Defizite der Selbstreflexion kaum über- lung wichtig sind, erfährt mit seinem noch
neigt er zu aggressiven Impulsdurchbrü- winden konnte. rudimentären Ich traumatische Überwäl-
chen mit Sachzerstörungen und Selbstver- Bastians Gesicht hat einen tief trau- tigungen im Aufbau einer Bindungsbe-
letzungen, seine Stimmung kann extrem rigen Ausdruck – es lässt an den Blick ziehung, die es mit massiver Bedrohung,
schwanken, er hat multiple Ängste, neigt von Kindern mit einer anaklitischen De- Schmerz und Panik konfrontieren. Trau-
zum Lügen und trinkt zeitweilig erheb- pression denken, die Spitz (1965) bei früh matische Belastungen und Bindungswün-
liche Mengen an Alkohol. Unter Belastun- verlassenen Kindern beschrieben hat. sche konfligieren miteinander. Die Folge
Es ist hypomimisch, ohne jeglichen Ge- ist ein Bindungstrauma.
 Der Name wurde verändert. fühlsausdruck. Bastian schwitzt während

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Zusammenfassung · Abstract

Frühe Traumatisierungen in der Ent- nen, jede seiner Wunschregungen zu er- Psychotherapeut 2010 · 55:98–105
wicklung aktivieren das Bindungssys- raten und zu befolgen, sich ganz selbst- DOI 10.1007/s00278-010-0730-2
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tem. Gerät das Kind in „distress“ auf- vergessen mit dem Angreifer zu identi-
grund von Panik bei Schmerz oder Ge- fizieren. Durch die Identifizierung mit Annette Streeck-Fischer
fahr, sucht es normalerweise die kör- dem Angreifer – besser Introjektion, ver- Angriffe auf Körper und Seele.
perliche Nähe der frühen Pflegeperson. schwindet dieser als äußere Realität und Gewalt in der kindlichen
In diesem Zustand stehen Bedürfnisse wird intrapsychisch, aber unterliegt einem Entwicklung
nach Sicherheit und neuropsychobiolo- traumhaften Zustand, wie die trauma-
gischer Regulation im Vordergrund. Un- tische Trance einer ist. Jedenfalls hört der Zusammenfassung
Erfahrungen von Misshandlung und Ver-
tersuchungen mit bildgebenden Verfah- Angriff als die starre äußere Realität zu
nachlässigung in der frühen Entwicklung ge-
ren (Bartels u. Zeki 2000) lassen vermu- existieren auf, und in der traumatischen hen zumeist mit vielfältigen ungünstigen Fol-
ten, dass frühe Bindungssuche – wie übri- Trance gelingt es dem Kind, die frühere geerscheinungen einher, die sich von Stö-
gens auch die romantische Liebe – mit ei- Zärtlichkeitssituation aufrechtzuerhal- rungen bei Traumatisierungen zu einem spä-
ner Unterdrückung der Hirnregionen ver- ten.“ So beschreibt schon Ferenzci (Feren- teren Zeitpunkt abheben und die Diagnose
bunden sind, die mit sozialer Beurteilung czi 1933, S. 399), was geschieht, wenn ein einer Entwicklungstraumastörung begrün-
den. Sie führen zu einer Traumatisierung in
und Mentalisierung – das heißt der Fähig- Kind Schmerzerfahrungen durch einen
der Bindung mit charakteristischen Bezie-
keit, sich Vorstellungen über sich und an- Elternteil ausgesetzt ist. Durch Introjek- hungsgestaltungen, in denen das „Bindungs-
dere bilden zu können – einhergehen. Ein tion der Täter-Opfer-Erfahrung kommt trauma“ wiederholt wird. Für die therapeu-
intensiver emotionaler Zustand hemmt es zu einer Fixierung an den Moment des tische Arbeit ist es bedeutsam, diese Reinsze-
die Fähigkeit zu mentalisieren und ver- traumatischen Geschehens. Das ganze nierungen zu erkennen, da es ansonsten zu
hindert, das Bindungsobjekt als Person traumatische Geschehen wird verinner- Verstrickungen auf dem Niveau des Äquiva-
lenzmodus oder infolge von Pseudomentali-
in ihrer eigenen Realität wahrzunehmen licht. Das Kind bleibt in einer Gut-böse- sierung kommt, die therapeutisches Arbeiten
(Fonagy 2008). Ein frühes, sicheres Bin- Konfusion an den Täter als dem bedeut- verhindern. In diesen Fällen ist der Raum der
dungsangebot dagegen fördert die Ausbil- samen Objekt gebunden, dem es sich per Kommunikation, die Fähigkeit zu Symbolisie-
dung der Fähigkeit zum Mentalisieren. Si- Mimikry, per Anpassung und Anglei- rung in Sprache und Spiel kollabiert.
cherheit und Verlässlichkeit bilden dann chung unterwirft. Eine derartige trauma-
Schlüsselwörter
gleichsam den Rahmen oder den Behäl- tisch bedingte Objektbeziehung ginge bei
Misshandlung · Frühe Entwicklung · Traumati-
ter (Green 1975) innerhalb dessen Menta- Bastian damit einher, dass er vom Thera- sierung · Bindung · Symbolisierung
lisierung stattfinden kann. peuten potenziell Peinigung oder aber die
Kommt es zu Traumatisierungen in- Befriedigung von Zärtlichkeitswünschen
nerhalb der Bindungsbeziehung, wird ei- erwartet. Er ist fixiert an das Trauma, ob Attacks against body and soul.
nerseits die Bindung gesucht, andererseits verbunden mit einer Traumaphobie oder Violence in child development
jedoch ist die Fähigkeit, sich vor Trauma- einer Traumaphilie, einer Neigung, das
Abstract
tisierungen zu schützen, verstellt. Das als Trauma im Denken, Fühlen und Handeln Experiences of abuse and neglect in early
Sicherheit gesuchte Bindungsobjekt ist das zu wiederholen (Blum 1996). Er identifi- childhood generate mostly manifold adverse
traumatisierende Objekt. Das hat beson- ziert sich mit dem Therapeuten/Aggres- consequences differing from disturbances
ders schwerwiegende Folgen für Kinder sor/Täter und ist bemüht, es recht zu ma- due to traumatizations in later developmen-
bzw. Jugendliche. Sie sind in einem Bin- chen, ein guter Junge zu sein und die ihm tal phases. They justify the diagnosis of devel-
opmental trauma disturbance. They lead to
dungstrauma aktivierenden Bindungssys- früh versagte Anerkennung zu finden traumatization in the attachment with char-
tem, das mit Suchtneigungen verbunden bzw. den Therapeuten/Täter zumindest acteristic relationship configurations repeat-
ist, gefangen (Insel 2003; Schore 2002). Es zu beschwichtigen. Zugleich verbleibt er ing the “attachment trauma”. For therapeu-
handelt sich dabei um einen biologischen in einem hochgradigen Stresszustand, in tic work it is important to recognize these re-
Teufelskreis. Die bindungverursachende einer Habachtstellung abgetrennt von sei- enactments, otherwise it may come to en-
tanglements at the level of the equivalence
Hemmung der Mentalisierung ist mit ei- nen Gefühls- und Körperempfindungen –
mode or because of pseudomentalization,
ner traumaverursachenden Hyperakti- letztlich misshandelt. thus preventing therapeutic work. In these
vierung des Bindungssystems kombiniert Wurde ein Kind in seiner frühen Ent- cases the space for communication, the abili-
(Fonagy 2008). Dieser Sog, der vom Bin- wicklung misshandelt, vernachlässigt oder ty of symbolization in language and play col-
dungstrauma ausgeht, erklärt, warum es missbraucht, dann war es überwältigender lapses.
mitunter zu malignen Entwicklungen un- Angst und unerträglichem Schmerz aus-
Keywords
ter der Therapie misshandelter Kinder gesetzt, einem Zustand von tiefer Hilflo-
Abuse · Early development · Traumatization ·
und Jugendlicher kommt. sigkeit und Einsamkeit ohne Resonanz Attachment · Symbolization
„Diese Angst zwingt automatisch, sich und Mitgefühl. Diesen Zustand konnte es
dem Willen des Angreifers unterzuord- durch nichts, auch nicht durch Schreien
verändern, es gab keine Mittel, ihn zu be-
 Dies könnte erklären, warum so viele Süchtige enden oder auch nur zu mildern. Die kör-
eine Traumakarriere haben. perlichen und psychischen Schmerzerfah-

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Schwerpunkt: Gewalt – Originalie

rungen treffen das Kind in seiner Ganz- renz des Selbst zerbricht. Es kommt zu 2005) werden unter frühen traumatischen
heit und schlagen sich nicht nur psy- einer Verdoppelung der Persönlichkeit, Belastungen wie auseinandergerissen. Af-
chisch, sondern auch biologisch, senso- zur Aufspaltung in verschiedene Selbst- fekte, die nicht repräsentiert wurden, tau-
motorisch und affektiv-kognitiv nieder. zustände im affektiven Erleben, in den chen wie isoliert auf, scheinbar jenseits ir-
Diese totale Abhängigkeit scheint durch- kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten gendwelcher Zusammenhänge, manch-
aus mit Erfahrungen von Gefolterten ver- und der somatosensorischen Integrati- mal in befremdenden, unverständlichen
gleichbar zu sein, die – wie Amati (Ama- on. Dieser Verlust des Einheiterlebens körperlichen Gebärden. Gefühlssensa-
ti S 1990) beschrieben hat – ihr Überleben als Folge früher traumatischer Übergriffe tionen verbleiben unerkannt im körper-
dadurch zu sichern versuchen, dass sie auf geht über die Aufspaltung in Teilobjektbe- lichen Ausdrucksverhalten, während der
einen nichtintegrierten Zustand regredie- ziehungen wie bei Borderline-Störungen Verstand – abgetrennt von Emotionen –
ren, der mit einem Verlust der Einheit von weit hinaus. eine Notreifung im Sinne einer vorder-
Psyche und Soma sowie dem Verlust des Frühe Traumata verhindern die nor- gründigen Anpassung, einem Mimikry,
Realitätssinns einhergeht. Der Gefolterte male Entwicklung der Fähigkeit zu sym- macht (Ferenczi 1933). So sind auch Ver-
kehrt zu einem Zustand zurück – Ama- bolisieren oder zerstören sie. Die symbo- suche, frühe Traumatisierungen symbo-
ti spricht von Doppeldeutigkeit (den am- lische Funktion beinhaltet die Fähigkeit, lisch zu fassen, in Wirklichkeit nachträg-
biguiden Kern) –, indem er sich in völ- biologisch organisierte Verhaltens- und liche Überarbeitungen und der Gefahr
liger Abhängigkeit, Symbiose und Hörig- Gefühlszustände in mentale Vorstellun- der Psychologisierung ausgesetzt (Bono-
keit an den Folterer bindet (Amati 1977). gen zu transformieren und damit kom- mi 2003; Bonomi 2004). Wenn man das
Winnicott (1978) nannte diesen Zustand munizierbar zu machen. Die Symbol- misshandelte Kind fragt: „Und wie ist es
„primäre Agonie“. Auch das Stockholm- bildung ist von der Differenzierung von Dir in dieser Situation ergangen?“, kann
Phänomen (Julich 2005) scheint damit Selbst und Objekten abhängig. Erst eine es sein, dass dann die Antwort kommt:
verwandt zu sein: Die traumatisierte Per- „Grenzschicht zur Realität“ – so Winni- „Ich weiß nicht“, das Kind dabei aber ei-
son – unfähig zu fliehen und isoliert von cott (1978) – versetzt das Kind in die La- ne Körperbewegung macht, als versuche
Mitmenschen – nimmt den bedrohlichen ge, zwischen der symbolisierten Sache es sich vor Prügeln zu ducken. Das kön-
Täter als Versorger und Beschützer wahr, und dem Symbol sicher zu unterschei- nen Botschaften vergangener, oft auch
besser gesagt: muss ihn zwangsläufig so den. Indem frühe Traumata die Gren- noch aktueller Erfahrungen sein, die als
wahrnehmen. ze zwischen Ich und Nicht-Ich auflösen, Erinnerungsfragmente in körperlichen
Bei einem Bindungstrauma ist aller- kann auch zwischen Symbol und symbo- Reaktionen auftauchen und im prozedu-
dings – anders als im Erwachsenenalter – lisiertem Objekt nicht differenziert wer- ralen Gedächtnis aufgehoben sind. Sol-
die gesamte Persönlichkeit davon erfasst. den. Bei frühen Traumatisierungen wird che Prägungen im prozeduralen Gedächt-
Der Therapeut sucht hier auch keine trau- das Symbol mit dem symbolisierten Ob- nis („primings“) und Konditionierungen
matischen Erinnerungen, sondern wird in jekt gleichgesetzt, z. B. „ist das Tuch ein werden durch angstauslösende Stimuli ge-
traumatische Beziehungskonstellationen Gespenst“, das heißt, es repräsentiert nicht setzt (Luethi et al. 2009).
hineingezogen (Davies 1997), die durch – wie im Spiel – das Gespenst. Indem wir „Ich weiß nicht“ als Antwort des Kin-
angstauslösende Situationen immer wie- Vorstellungen von etwas entwickeln, ge- des auf die Frage nach seinem Erleben
der aktiviert werden. lingt es, mit sich, seinem Körper und der ist möglicherweise die beste Lösung, um
äußeren Welt zu kommunizieren, Emoti- Kontrolle über die Situation zu behalten
Verlust von Selbstkohärenz onen und Repräsentationen von Vergan- und den anderen zu beschwichtigen. Da-
genheit und Zukunft zusammenzubrin- bei können „eigenartige Loyalitäten“ ei-
Konfrontiert mit solcher existenziellen gen und zu denken (Bonomi 2004). Ent- ne Rolle (Fairbairn 1952) spielen, die Fair-
Not und Konfusion regrediert das Kind wickelt sich die Persönlichkeit unter trau- bairn mit dem Bedürfnis solcher Kinder
in einen Trancezustand: Weil Angriff oder matischen Belastungen, wird die verbin- erklärt hat, innere Objekte zu haben, auch
Flucht nicht möglich sind, ist Dissoziation dende Funktion der Symbolisierung zer- wenn es sich um schädigende Objekte
die einzige Rettung (Ferenczi 1933). Dabei stört. Es gibt dann abgespaltene Teile ne- handelt. Würden auch diese verloren ge-
geht die Einheit des Selbst verloren. Inte- beneinander her, die nicht kommunizie- hen, bliebe nur eine leere innere Welt.
grationsfähigkeiten, über die der Säugling rend miteinander verbunden werden kön- Körperliche Ausdruckssequenzen wie
von Geburt an verfügt, wie z. B die sen- nen (Boulanger 2002). So ist Bastian im ein verzerrtes Gesicht, das Bastian für ei-
somotorische Integration oder die Ver- Gespräch schweißnass, zittrig und vol- nen kleinen Moment zeigt, oder eine un-
bindung von Körper und Psyche, brechen ler Angst, kann dies aber nicht mitteilen. motiviert erscheinende Abwehrbewe-
unter derartigen traumatischen Belastun- Gefühl und Verstand, Körper und Seele gung können „reenactments“ von Trau-
gen zusammen (Dornes 1993). Die Kohä- (Ferenczi 1933; Mc Dougall 1998; Ogden
 Dies ist in der Therapie von früh sowie kom-
plex traumatisierten Kindern und Jugendlichen
 Stern (1985) hat sie auf das körperliche Ganze ein besonders wichtiger Aspekt, der sich mit
als Handlungszentrum bezogen; Jaspers (1913) der Frage verknüpft, welcher Teil der elterlichen
definiert sie umfassender als Einheit der Identi- Objekte Bestand haben kann, weil er nicht böse,
tät und des Ich. betrügerisch, missbrauchend usw. ist.

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mata sein. Es sind unartikulierte und un- Als-ob, das in der Entwicklung später be- Von jugendlichen Borderline-Patienten
integrierte mentale Zustände. Der Körper deutsam wird, spiegeln die Eltern die Af- ist bekannt, dass sie Misshandlungserfah-
wird gleichsam zum Kanal unverarbei- fekte zurück: Angesichts des Tuches, das rungen der Vergangenheit unmittelbar im
teter mentaler Zustände. Deutlich treten im Spiel ein Gespenst repräsentiert – sagt Hier und Jetzt reinszenieren – mit wech-
unintegrierte Zustände bei Kindern mit die Mutter etwa: „Oh, bist Du ein liebes selnden Rollen als Opfer und Täter. Sie
desorganisierten Bindungen (Cicchetti u. oder ein böses Gespenst? Wenn Du böse verstricken ihr Gegenüber leicht in ma-
Carlson 1989) zutage, bei denen es sich zu bist, möchte ich Dich lieber im Schrank ligne Überwältigungs- oder Vergewalti-
80% um Kinder mit frühen traumatischen einsperren“. Durch solche Spiegelungen gungsszenarien, etwa indem sie Ärzte da-
Belastungserfahrungen handelt. In be- und Metabolisierungen von Affekten ent- zu bringen, von ihnen zu fordern, sich zur
drohlichen Situationen können sie weder wickeln sich beim Kind Repräsentationen Leibesvisitation nackt auszuziehen, um
ihre emotionalen Zustände regulieren, des Selbst und der Objekte, die es in die versteckte Schneidewerkzeuge zu finden,
noch sind sie in der Lage, sich auf ande- Lage versetzen, sich in Sprache oder Spiel oder dazu, sie körperlich zu überwältigen,
re zu verlassen, die ihnen helfen könnten. symbolisch mitzuteilen. etwa, um sie in eine geschlossene Einrich-
Die Pflegeperson ist beides gleichzeitig, Misshandelte und vernachlässigte Kin- tung zu verlegen.
Quelle von Wohlbefinden und von Be- der zeigen in der Regel Mentalisierungs- Traumatische Ereignisse werden
drohung. Das führt zu widersprüchlichen störungen; vor allem Störungen im Mo- durchlebt, werden aber nicht als Teil der
Reaktionen, zu Flucht („flight“) vor der dus psychischer Äquivalenz und im Als- eigenen Person erfahren. Sie werden nicht
und zur Annäherung an die Pflegeper- ob-Modus (Fonagy et al. 2004): mentalisiert, sondern konkretisiert. Freud
son, mit einem Erleben von Furcht ohne F Wenn die innere Realität im Mo- hat an traumatischen Neurosen beschrie-
Lösung und einem Kollaps von Verhal- dus psychischer Äquivalenz wahrge- ben, dass bei Wiederholungsinszenie-
tensstrategien. Im Alter von 5 bis 7 Jah- nommen wird, werden innere Ver- rungen eine Fixierung an den Moment
ren werden solche desorganisierten Mus- fassungen mit der aktuellen Situati- des traumatischen Unfalls vorliege: als ob
ter durch die Fähigkeit des Kindes erwei- on verbunden, und die innere Reali- die Betroffenen „mit der traumatischen
tert, die Beziehung zu kontrollieren – im tät des Kindes oder Jugendlichen ent- Situation nicht fertig geworden wären, als
Sinne von Notreifung. Dabei wird Kon- spricht ganz der äußeren (z. B. ist der ob diese noch als unbezwungene Aufgabe
trolle vor allem mithilfe angepassten oder Therapeut in einem solchen Fall das vor ihnen stände“ (Freud 1969, S. 284). Er
aggressiven Verhaltens ausgeübt. Bastian misshandelnde Objekt). Die bereits sah in der Wiederholung das Bemühen,
hat den Weg gewählt, Kontrolle dadurch erwähnte symbolische Gleichsetzung die Situation unter Kontrolle zu bekom-
zu erreichen, dass er sich vordergründig kann als eine Folge der Entwicklungs- men. Andere gehen davon aus, dass der
an die Erwartungen des anderen anpasst. arretierung psychischer Realität ver- Wiederholungszwang biologisch veran-
standen werden. kert ist, z. B. dass der mit der Retraumati-
Mentalisierungsstörungen F b) Wenn sich eine Tendenz entwi- sierung verbundene Schmerz analgetische
mit der Folge von Mimikry ckelt, in den Als-ob-Modus zu verfal- Reaktionen hervorruft, die eine Erleichte-
und Reinszenierung len, werden Teile des Erlebens (z. B. rung verschaffen (Orlandini 2004).
die Affekte) oder der Realität abge- Verzerrte Wahrnehmungen von Kin-
Je reichhaltiger und flexibler die Bilder spalten, und ein dissoziationsähn- dern oder Jugendlichen, die sich bedroht
sind, die eine Person sich von sich und licher Prozess kommt zum Tragen. oder misshandelt fühlen, ohne real be-
anderen macht, desto eher kann sie über droht oder misshandelt zu werden, brin-
die eigenen sowie die Gedanken und Ge- Äquivalenzmodus gen die Gefahr mit sich, dass immer glei-
fühle anderer nachdenken. Damit diese Im Äquivalenzmodus sind die Grenzen che bedrohte/bedrohliche oder schmerz-
Fähigkeit des „Mentalisierens“ erworben zwischen Innen und Außen, zwischen in- hafte Situationen, wie sie sie ursprünglich
werden kann, müssen dem Kind in frü- nerer und äußerer Realität aufgelöst. In- erfahren haben, hergestellt werden und
hen Pflegesituationen seine Affekte ge- nere Realität ist der äußeren Realität äqui- dass sie die Realität immer wieder gleich
spiegelt, markiert und gekippt worden valent – gleich. Traumatische Vergangen- beängstigend wahrnehmen, ganz so, wie
sein. Der Erwerb der Mentalisierungefä- heit bricht fortlaufend in die Gegenwart es ihren ursprünglichen Erfahrungen
higkeit wird mit der Fast-wie-ich-aber- ein, so als würde sie im Moment gesche- entspricht. Wenn Bastian heftig mit der
nicht-genau-wie-ich-Hypothese (soziale hen. Auch Vergangenheit und Gegenwart Faust gegen die Wand schlägt, kann das
Biofeedbacktheorie von Gergely u. Wat- sind nicht unterschieden. dahin gehend verstanden werden, dass
son 1996) erklärt. Indem etwas fast ge- aufgrund von Beschämungen in der Hel-
nauso zurückgespiegelt wird, ermöglicht  Ein gutes Beispiel dafür findet sich in dem ferkonferenz mit den Betreuern frühere
es zwischen Ich und Nicht-Ich zu diffe- Film Good Will Hunting: In der Erstbegegnung Misshandlungen schmerzhaft aktualisiert
renzieren. So wird beispielsweise Beängs- bringt Will Hunting den Therapeuten innerhalb wurden, die er – sich an der Wand verlet-
tigendes, Unerträgliches von der Pflege- von 5 Minuten dazu, dass dieser ihn würgt und zend – durch täter- und opferhaftes Ver-
Morddrohungen ausstößt. Dies gelingt ihm,
person aufgenommen, gespiegelt und in indem er diffamierende Äußerungen über die halten konkretisiert hat. Wird die trauma-
veränderter und damit erträglicher Form (gerade verstorbene) Ehefrau des Therapeuten tische Szene in dieser Weise reaktiviert,
zurückgegeben. Auch im spielerischen macht. dann wird nicht mentalisiert – es gibt kei-

Psychotherapeut 2 · 2010  | 103


Schwerpunkt: Gewalt – Originalie

ne Vorstellung von dem Geschehen, son- Pseudodialoge sind in der Therapie sol- pulsives, riskantes und süchtiges Verhal-
dern es wird blind wiederholt bzw. kon- cher Kinder und Jugendlichen nicht sel- ten – Bastian verletzte sich selbst – hat
kret gehandelt. ten. Auch Bastian zeigt entsprechende Be- dann eine Ventilfunktion für solche un-
reitschaften. Seine Antworten wie „rich- erträglichen Zustände. Es handelt sich da-
Als-ob-Modus oder Mimikry tig“ oder „So kann man sich das denken“ bei um eine Art Selbsthilfemaßnahme, die
Wenn der Als-ob-Modus persistiert, wer- deuten dies an – ebenso wie die zusam- ermöglicht, den inneren katastrophischen
den Teile des Erlebens oder der Realität menfassenden Wiederholungen des The- Zustand zu überwinden.
abgespalten. Bei Abspaltung von Emotio- rapeuten, die keinen neuen Erkenntnis- Ergebnisse aus der Tierforschung las-
nalität stehen kognitive Bewältigungen im wert haben. sen vermuten, dass die mütterliche Über-
Vordergrund, die Pseudomentalisierung nahme von Regulationen in der frühen
zur Folge haben. Dabei wird das Verhal- Störungen in der Selbst-, Pflege, wie etwa die Wärmezufuhr oder
ten mithilfe von gelerntem Wissen nach- Affekt- und Impulsregulierung die Verdauungsregulation durch Lecken,
träglich erklärt, ohne den Kern der ur- eine zentrale Rolle spielen (Hofer 1996).
sprünglichen Erfahrung zu treffen. Statt Als weitere Folge früher existenzieller Be- Der Übergang von einer „vorgebundenen
im Reden innerlich mit sich in Verbin- drohung in der Entwicklung kommt es Phase“ – vor der Entwicklung einer Bin-
dung sein zu können, sprechen betrof- zu chronischen psychobiologischen Dys- dung – hin zu einer gebundenen Phase
fene Kinder und Jugendliche vordergrün- regulationen, die mit Störungen in der wird als Übergang von versteckten physi-
dig angepasst über ihre Erfahrungen, als Selbst-, Affekt- und Impulsregulierung ologischen Regulationen, die durch müt-
Ausdruck einer Notreifung mit gleich- einhergehen. Den Kindern und Jugend- terliches Pflegeverhalten mitreguliert wer-
zeitiger Seelenblindheit. Sie reden über lichen fehlt die Fähigkeit, Spannungszu- den, verstanden. Dieser Übergang geht
sich, ohne sich mitzuteilen. Beim Gegen- stände, Affekte und Impulse zu regulieren. mit spezifischen neuronalen Verschal-
über stellen sich leicht Gefühle von Lan- Sie sind unruhig, hyperaktiv, überdreht tungen im Zentralnervensystem einher.
geweile, Gleichgültigkeit oder Misstrauen und suchen nach Sofortlösungen sowie Misslingen solche Regulationen, wie di-
ein, selbst dann, wenn inhaltlich brisante Ersatzbefriedigungen, um sich zu entlas- es bei frühen Traumatisierungen der Fall
Themen zur Sprache kommen. Die Kin- ten oder sich unangenehmer Gefühle zu ist, gerät das Kind bereits unter geringfü-
der und Jugendlichen haben es gelernt, entledigen, oder sie reagieren starr, wie gigen Belastungen in Stresszustände. We-
ihr Leben an die sie umgebende, für sie eingefroren, sind gefühlskalt und kaum ge mit reflexhaften Antwortmustern wie
bedrohliche Realität oberflächlich anzu- erreichbar. Sie vermeiden Blickkontakt Flucht, Dissoziation, Erstarrung oder An-
passen, ein Verhalten, das ihnen hilft, ei- und neigen zu heimlichen destruktiven griff sind gleichsam wie Autobahnen im
nen totalen Zusammenbruch ihrer Bezie- Attacken gegen sich und andere. Gehirn vorgeprägt. Solche reflexhaften
hungen und bedrohliche Gefühle zu ver- Bastian kann sich in strukturierten Si- Bahnungen liegen dem Bindungstrauma
meiden. Menschen sind für sie vor allem tuationen ausreichend gut regulieren. Er zugrunde und erschweren oder verhin-
potenzielle Schmerzquellen. Ihr Deck- ist dann gleichsam von der Regulierung dern gar jedes Lernen aus Erfahrung.
verhalten ist ein kognitives Coping und der anderen strukturanbietenden Person,
macht es ihnen möglich, Kontakt zu er- an die er sich anpasst, mit abgestützt. So- Fazit für die Praxis
tragen. Oftmals erfährt man von den da- bald er aber allein ist oder in Stress gerät,
hinter liegenden traumatischen Implanta- z. B in Situationen, in denen er sich be- Der Therapeut gerät als bedeutsames
tionen allenfalls beiläufig – vielleicht kann droht oder misshandelt fühlt, ist er über- Objekt in die psychotoxische Übertra-
sich das Kind in stressvollen Situationen fordert. Das Gespräch mit den Betreu- gung der traumatisierten Bindung hin-
nicht steuern oder zeigt eine Tendenz, ern der früheren Wohngemeinschaft, die ein und aktiviert damit einen Zustand,
Tiere zu quälen, etwa dann, wenn das un- ihn bloßstellten, hatte eine solche Bedeu- in dem Arbeiten – anders gesagt Men-
berechenbar Triebhafte eines Tieres Zu- tung. Bastian geriet in einen diffusen Aus- talisieren oder Dezentrieren nicht mehr
stände aktiviert, die ansonsten im Verbor- nahmezustand von Erregung und Erstar- möglich ist – was maligne Entwicklun-
genen gehalten werden. Manchmal spre- rung. In einem solchen Zustand sind bei- gen aktiviert. Besonders in der Adoles-
chen Kinder und Jugendliche in Identifi- de Komponenten des autonomen Nerven- zenz begegnen wir dem Problem, dass
kation mit dem Aggressor nur nach, was systems aktiviert, die sympathikotone – Jugendliche darin gefangen bleiben und
der andere zuvor gesagt hat. Unter Bedro- Energie erzeugende – und die parasympa- Schritte der Entwicklung der altersspe- 
hung kann das zu einem Papageiendialog thikotone – Energie bewahrende – Kom- zifischen Ablösung vermeiden; dies  
(Balzer 1990) werden, in dem wörtlich ponente. Das bedeutet zugleich einen Zu- ist am Ende mit der Gefahr verbunden,
wiederholt wird, was zuvor gesagt wurde.10 stand der Übererregung und der massiven eine traumatische Identität zu entwi-
Bremsung, der mit einer Erstarrungsre- ckeln. Der Raum der Kommunikation,
aktion einhergeht. Es ist ein Zustand, den die Fähigkeit zur Symbolisierung in Spra-
10 Eine extreme Variante kommt in
Schore (2002, S. 231) mit dem Bild ver- che und Spiel ist bei traumatischen Bin-
dem Film „Clockwork Orange“ von Stanley Kub-
rick vor. Dort ahmt der Jugendliche unter mas- glichen hat, als Autofahrer „gleichzei- dungserfahrungen kollabiert. Es gibt kei-
siver Bedrohung das Reden des vermeintlich tig auf das Gas und die Bremse zu tre- nen Raum der Betrachtung. Eine diffe-
Stärkeren papageienhaft nach. ten“. Fremd- und selbstdestruktives, im- renzierte Betrachtung von innerer und

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Fachnachrichten

äußerer Realität ist nicht möglich, die Felitti VJ, Anda RF, Nordernberg D et al (1998) Relati- Deutsche Depressionsliga
onship of childhood abuse and household dys-
Grenze zwischen beidem verschwimmt, function to many of the leading causes of death in gegründet
ob im Als-ob- oder im Äquivalenzmodus. adults. The Adverse Childhood Experiences (ACE)
Im Äquivalenzmodus wird das Gefühl der Study. Am J Prev Med 14:245–258 Die erste bundesweite Selbsthilfeorgani- 
Ferenczi S (1933) Sprachverwirrung zwischen den Er-
Bösartigkeit oder der ersehnten Liebe di- wachsenen mit dem Kind. Die Sprache der Zärt- sation und Interessenvertretung für Depres-
rekt in reale Erfahrungen von Bösartig- lichkeit und der Leidenschaft. In: Ferenczi S (Hrsg) sive wurde gegründet: Die Deutsche Depres-
keit oder sexueller Überwältigung um- Bausteine der Psychoanalyse, Bd 3. Fischer, Frank- sionsLiga. Das Besondere: Der gemeinnützige
furt a.M., S 511–525 (1984)
gewandelt. Traumatische Erfahrungen Fonagy P, Gergeley G, Jurist EJ, Target M (2004) Affekt- Verein besteht ausschließlich aus Betroffenen
werden wiederhergestellt und führen regulierung, Mentalisierung und die Entwicklung und deren Angehörigen und arbeitet voll-
zu Selbstzerstörung. Gelingt es dem Be- des Selbst. Klett-Cotta, Stuttgart kommen unabhängig von Politik, Medizin
Fonagy P (2008) Psychoanalyse und Bindungstrauma
handler nicht, diese malignen Inszenie- unter neurobiologischen Aspekten. In: Leuzinger- und Pharmaindustrie.
rungen zu erkennen und sich davon zu Bohleber M, Roth G, Buchheim A (Hrsg)  
distanzieren, wird er in seinen therapeu- Psychoanalyse – Neurobiologie – Trauma. Die Deutsche DepressionsLiga will die Erfah-
Schattauer, Stuttgart
tischen Bemühungen scheitern. Freud S (1969) Studienausgabe: Vorlesungen zur Ein- rungen ihrer Mitglieder mit der Krankheitsbe-
führung in die Psychoanalyse. 1916/1917, Bd I.   wältigung, die Kompetenz der Betroffenen,
Korrespondenzadresse Fischer, Frankfurt a.M., S 34–445 für alle zugänglich machen. Sie will anderen
Gergely G, Watson J (1996) The social biofeedback-mo-
Prof. Dr. med. Annette Streeck-Fischer del of parental affect-mirroring. Int J Psychanal Depressiven helfen, den Weg aus der Iso-
Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn 77:1181–1212 lation zu finden und die Behandlung ihrer
37124 Rosdorf Gilbert R, Spatz Widom C, Browne K et al (2009) Bur- Erkrankung zu optimieren. Sie will gegensei-
annette.streeck@t-online.de den and consequences of child maltreatment in
high-income countries. Lancet 373(9657):68–81 tige Unterstützung und Austausch anbieten
Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor Green F (1975) Analytiker, Symbolisierung und Abwe- und den Dialog fördern, um das Tabu der psy-
gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. senheit im Rahmen der psychoanalytischen Situa- chischen Erkrankung endlich zu brechen.
tion. Psyche – Z Psychoanal 29:503–540
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Literatur new understanding of attachment and separation dem auch in Fachkreisen sehr beachteten
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clinical perspectives. Analytic Press, Hillsdale New Leiden Depression“ bereits den ersten Grund-
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